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German Pages 640 Year 2014
Andreas Franzmann Die Disziplin der Neugierde
Andreas Franzmann (PD Dr. habil.) lehrt Soziologie an den Universitäten Bielefeld und Tübingen. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Wissenschaftssoziologie und die Professionsforschung.
Andreas Franzmann
Die Disziplin der Neugierde Zum professionalisierten Habitus in den Erfahrungswissenschaften
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Inhalt
Vorwort | 7
E INLEITUNG Professionen als Gegenstand der Soziologie | 15
Die „revidierte“ Professionalisierungstheorie | 30 Die Professionalisierung der Wissenschaft | 67 Empirischer Teil | 127
KAPITEL 1. F ORMENVIELFALT DER FORSCHERTYPEN DER FORSCHERHABITUS IN DER NEUROWISSENSCHAFT Das Anatomische Institut | 139 Fall 1: Dr. habil. Hellwein, Mediziner und Neurowissenschaftler | 149 Fall 2: Privatdozentin Dr. Bertram, Neurobiologin und Projektleiterin | 169 Fall 3: Dr. Fendel, Habilitand und Neurowissenschaftler | 181 Fall 4: Privatdozent Dr. Bertram, Neurobiologe und Laborleiter | 193 Fall 5: Herr Schluchter, Doktorand der Biologie | 201 Fall 6: Frau Glasner, Doktorandin der Biologie | 225
Zwischenbetrachtung | 250
KAPITEL 2. URSZENEN DER W ISSENSCHAFT DER FORSCHERHABITUS IN DER EVOLUTIONSBIOLOGIE Fall 7: Prof. Dr. Sattler, Biologe und Forschungsdirektor | 259
Abschnitt I. Entree und Warm up | 261 Abschnitt II. Aufgaben eines Forschungsdirektors | 300 Abschnitt III. Das Forschungsprogramm der Gruppe | 308
Abschnitt IV. Wieder Fragen der institutionellen Wissenschaftspraxis | 331 Abschnitt V. Die Bedeutung des Beobachtens | 365 Fall 8: Prof. Dr. Martens, Proteinforscher und Forschungsdirektor | 435
KAPITEL 3. DIE REIFE P ROFESSION DER FORSCHERHABITUS IN DER ASTROPHYSIK Fall 9: Privatdozent Dr. Arens, Astrophysiker und Nachwuchsgruppenleiter | 501
KAPITEL 4. DIE WISSENSCHAFT ALS PROFESSION ZUSAMMENFASSUNG UND A USBLICK Von der Fallrekonstruktion zur Strukturgeneralisierung | 567
Revue der Fälle | 567 Prüfung der Hypothesen | 598 Ausblick | 606 Sach- und Namenverzeichnis | 611
Namensverzeichnis | 611 Verzeichnis naturwissenschaftlicher Sachbegriffe | 613 Verzeichnis der Schaubilder und Abbildungen | 617
Schaubilder | 617 Abbildungen | 617 Literatur | 619
Lexika | 619 Literatur | 619
Vorwort
Wollte man mit einem Wort ausdrücken, was der Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist, dann wäre dieses Wort: – der Forscherhabitus, die Haltung von Wissenschaftlern in ihrem Beruf. Wie es aber für Habitusformationen generell gilt, wird es dem Leser erst im Laufe der Untersuchung verständlich werden, was genau mit diesem Wort gemeint ist. Der Forscherhabitus ist das Ergebnis eines Bildungsprozesses, doch dieser Prozess ist in der Regel nicht sichtbar. Er ist „geronnen“ und setzt sich aus Schichten vieler Erfahrungen zusammen, die zu einer Disposition verwachsen sind, deren Ursprungskonstellationen man nicht mehr ohne weiteres erkennen und entziffern kann. Er ist nicht einmal den Wissenschaftlern selbst so zugänglich, dass sie reflektierte Auskünfte über ihn geben könnten, obwohl sie mit diesem Habitus „morgens aufstehen“ und er sie „abends wieder ins Bett“ begleitet. Um ihn betrachten zu können, muss man ihn auf Distanz gebracht und zum Gegenstand einer Untersuchung gemacht haben. Dafür fehlt den Wissenschaftlern selbst normalerweise der Anlass. Der Forscherhabitus bezeichnet eine generative Struktur, die das wissenschaftliche Handeln steuert. Sie äußert sich, wenn Wissenschaftler handeln. Im Handeln selbst ist der Habitus aber nicht greifbar, er ist flüchtig und verschwindet in oder hinter einer konkreten Forschungsarbeit, bei der es um die Sache und nicht um Selbsterkenntnis geht. Es bedarf daher geeigneter Protokolle oder Ausdrucksgestalten, an denen der Habitus erschlossen werden kann. Ein geeigneter Pfad ist das Interview. In ihm kann man versuchen, den Forscherhabitus eigens hervorzulocken und zum Sprechen zu bringen. Die empirische Grundlage dieser Arbeit besteht daher in ausführlichen Interviews mit Naturwissenschaftlern. Diesen Interviews lag eine bestimmte Hypothese zugrunde, die es empirisch zu prüfen galt. Die Interviews wurden also nicht naiv, nicht theoretisch unvorbereitet geführt. Es gab eine Vorgeschichte, auf die ich noch ausführlich eingehen werde. Der Hauptzweck dieser Arbeit ist aber, anhand der Interviews konkret aufzuzeigen, wie der professionalisierte Habitus in der Wissenschaftspraxis operiert und ihr Innenleben steuert. Dies erfolgt durch eine sehr geduldige Auslegung der Interviews,
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die realistisch, also unredigiert und ohne nachträgliche Korrekturen den wirklichen Gesprächsverlauf und Rededuktus wiedergeben. Dabei entstehen lebendige Portraits vom Innenleben einiger Disziplinen und Forschungslabors, von den alltäglichen wie außeralltäglichen Herausforderungen der wissenschaftlichen Arbeit sowie einiger wissenschaftlicher Persönlichkeiten. Legt man heute eine empirische Untersuchung über die Professionalisierung der Wissenschaft vor, schwimmt man gegen den Strom der etablierten Wissenschaftsforschung, die längst nicht mehr die Fragen und Annahmen der klassischen Professionssoziologie (Parsons, Marshall, Hughes, Merton, Ben-David) teilt. Mir scheint es daher geboten, die Fragestellung nochmals gründlich herauszuarbeiten und den Ansatz zu begründen. Die ausführliche Einleitung trägt dem Rechnung. Sie ist so angelegt, dass auch ein Leser, dem die professionssoziologischen Debatten bislang nicht vertraut sind, sich zurechtfinden sollte. Es wird in die Grundfragen der klassischen Professionssoziologie eingeführt und ein Überblick über die wichtigsten theoretischen Positionen gegeben. Die Darstellung folgt allerdings dem Interesse an einer systematischen Argumentation und Modellbildung. Eine vertiefende Auseinandersetzung mit konkreten Autoren erfolgt nur, wenn dies dem Zweck der Herauspräparation einer Fraglichkeit und Hypothese dient, die den empirischen Teil vorbereitet. Die Darlegung erfolgt in zwei Schritten: Zunächst in einer allgemeinen Darstellung des professionalisierungstheoretischen Modells. Dabei werden ganz bewusst zunächst nicht die Wissenschaftler, sondern die klassischen Professionen der Ärzte und Juristen herangezogen, um eine Kontrastfolie aufzuspannen. Hierbei kommt es in erster Linie darauf an, die Fragestellung und Hypothese der professionalisierten Praxis als einer stellvertretenden Krisenbewältigung grundlagentheoretisch einzurichten und auszubuchstabieren. Dann wird die Fragestellung für das wissenschaftliche Handeln spezifiziert. Manches bleibt dabei zunächst unausgeführt. Organisationsprobleme des Wissenschaftsbetriebs, das Verhältnis zur Politik, zu den Medien, zur Industrieforschung, zur Philosophie spielen erst in den Interviews eine größere Rolle. Die Interviews wurden im Rahmen eines Forschungsprojektes erhoben, das sich zwischen 1999 und 2004 mit der „Struktur und Genese der professionalisierten Praxis als Ortes stellvertretender Krisenbewältigung“ befasste und von Ulrich Oevermann geleitet wurde, dessen Mitarbeiter ich zwischen 1999 und 2008 war. Das Projekt war dem SFB 435 „Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel“ der Universität Frankfurt beigeordnet und wurde von der DFG finanziert. Neben den Wissenschaftlern waren Ärzte und Therapeuten sowie die rechtspflegerischen Berufe der Anwälte, Staatsanwälte und Richter Gegenstand der Erhebung. Der Rahmen war also von vorneherein weiter gezogen, wovon auch die Untersuchung der Wissenschaftler erheblich profitiert hat. Die vorliegende Arbeit ist die gründlich überarbeitete Version der Habilitationsschrift, die aus diesem Arbeitszusammenhang hervorgegangen war.
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Mit Wissenschaftlern wurden damals insgesamt fünfundzwanzig Interviews und Gruppendiskussionen geführt. Unter den Interviewpartnern waren Chemiker, Mediziner, Physiker, Biologen, Neurowissenschaftler und Historiker. Die Interviews, die hier Aufnahme fanden, kamen aus vier verschiedenen Forschergruppen, die in den Bereichen Neurowissenschaft, Evolutionsbiologie, Proteinforschung und Astrophysik arbeiteten. Es wurden Wissenschaftler unterschiedlichen Alters und sozialer Herkunftsmilieus kontaktiert, Männer wie Frauen. Sie kamen mehrheitlich aus dem Bildungsbürgertum, aber auch Kinder aus Arbeiterhaushalten und aus Migrantenfamilien waren darunter. Einige Forscher stammten aus den USA, aus Kolumbien und aus Südkorea. Es wurden außerdem Wissenschaftler aus verschiedenen Phasen der akademischen Laufbahn befragt: Sieben Doktoranden, die teilweise ihre Manuskripte gerade abschlossen; neun Habilitanden und Postdocs, die an selbständigen Projekten arbeiteten und selbst schon (mehrfach) im Ausland waren; zwei Professoren, die neben ihren Universitätspflichten als Projektleiter tätig waren und Personalund Budgetverantwortung trugen; schließlich zwei Institutsdirektoren und ein Nachwuchsgruppenleiter der Max Planck-Gesellschaft, die größere Abteilungen mit bis zu vierzig Forschern leiteten und neben der Gruppenführung auch in die Institutionsverwaltung und nationale Forschungspolitik eingebunden waren. Ergänzend wurden eine biologisch technische Assistentin (BTA) und einige Einzelwissenschaftler, darunter ein Historiker, der gerade Dekan seiner Fakultät war, interviewt. Die Gespräche dauerten jeweils zwischen eineinhalb und zweieinhalb Stunden. Das Spektrum der gewählten Interviewpartner war bewusst gewählt. Sie sollten verschiedene Fächer und unterschiedliche Kulturen des Forschens repräsentieren. Ich habe mich außerdem sehr bemüht, möglichst hochqualifizierte und ehrgeizige Wissenschaftler als Gesprächspartner zu bekommen. Denn es hatte sich herausgestellt, dass der Forscherhabitus besonders klar und prägnant artikuliert wird, je mehr Erfahrung im Detail ein Wissenschaftler hat, je mehr er sich mit seiner Arbeit identifiziert und von ihr ausgehend in die institutionellen Aufgaben dieses Berufs hineingewachsen ist. Deshalb findet der Leser in den vorgestellten Fällen hauptsächlich Forscher, die im Hinblick auf ihre Karrieren und den Innovationsgrad ihrer Arbeit sicher zur internationalen Spitzengruppe zu rechnen sind. Nicht alle Fälle konnten in die Darstellung aufgenommen werden. Schon die vorgelegten Interviewanalysen sprengen eigentlich den Rahmen. Bei der Auswahl spielten Kriterien der Darstellung und des Kontrastierungsgewinns eine Rolle. Den Leser erwartet im ersten Abschnitt zunächst die Auswertung von sechs Fällen aus einem neurowissenschaftlichen Forschungsprojekt, wobei jeweils der Anfang der Interviews im Zentrum steht. Dabei geht es darum, in der Gegenüberstellung die habituellen Gemeinsamkeiten der Fälle aufzuzeigen. Ein Interview mit einer jungen Doktorandin ragt heraus, weil sie der einzige Fall einer misslungenen Professionalisierung darstellt und daher von besonderem heuristischem Wert ist. Im zweiten Ab-
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schnitt folgt die Analyse eines Interviews mit einem Evolutionsbiologen, der zum Zeitpunkt des Interviews (1999) einerseits noch so jung war, dass er selbst unmittelbar in der Forschung tätig war, anderseits als Direktor einer großen Forschungsabteilung bereits viele Aufgaben der Gruppenleitung und Menschenführung, der Forschungsorganisation und Fachpolitik wahrnahm. Dieses Interview wird im Ganzen wiedergegeben. Ich habe besondere Mühe darauf verwandt, die Lektüre möglichst kurzweilig zu machen. Allerdings wird dem Leser auch etwas abverlangt. Man muss sich auf viele Details der Forschungsinhalte einlassen, und zwar so weit, wie es notwendig ist, um die fachlichen Äußerungen zu verstehen. Das kann nur gelingen, wenn man sich die Mühe macht, die je konkreten Fragestellungen der Evolutionsbiologen nachzuvollziehen. Man lernt aber auch etwas dabei, und zwar nicht nur über den Forscherhabitus, sondern auch über eines der spannendsten Wissenschaftsgebiete, die es gegenwärtig gibt. Diesem Hauptkapitel der Arbeit folgt die Analyse des Interviews mit einem Proteinforscher, der eine ähnliche Stellung wie der Evolutionsbiologe hat, außerdem jedoch in der Industrieforschung tätig war. Auch dieses Interview hätte es verdient, im Ganzen wiedergegeben zu werden, aber das ist aus Umfangsgründen nicht mehr möglich gewesen. Ich habe insbesondere solche Passagen ausgewählt, die mit dem vorangehenden Kapitel direkt kontrastieren. Schließlich, im letzten Abschnitt, folgt das Gespräch mit einem Astrophysiker, der mit Hilfe von Simulationsmodellen im Bereich der Kosmologie zur Entstehung von Galaxien arbeitet. Ein Schlusskapitel fasst die Ergebnisse zusammen und wendet den Blick zurück zum Ausgangspunkt. Was die Auswertung der Interviews angeht, folgt diese den Regeln des sequenzanalytischen Verfahrens der Objektiven Hermeneutik. Am Ende der Einleitung werden die Grundprinzipien dieser Methode kurz erläutert. Der unvoreingenommene Leser mag sich aber auch ohne methodologische Begründung einfach darauf einlassen, den Interviews zu folgen. Das Verfahren soll gerade verhindern, dass bei der Interpretation Lesarten gebildet werden, die theoretisch abgeleitet oder unkontrolliert aus dem Kontextwissen eingeführt sind. Die Lektüre verlangt nur die Bereitschaft, sich radikal darauf einzulassen, das Gesagte und nur das Gesagte dem Wortlaut nach auszulegen, dies aber so weitgehend, wie es die Komplexität des Gesagten erfordert, um vollständig verstanden zu werden. Nur wo dies nicht möglich ist, weil Fachtermini oder Spezialwissen benutzt werden, helfe ich mit kurzen Erläuterungen, die im Stile eines Lexikonartikels verfasst sind. Der methodische Gesamtansatz besteht darin, einige wenige Fälle möglichst detailliert zu rekonstruieren. Der erfahrungswissenschaftliche Habitus ist ein Gebilde, das sich nicht abfragen oder mit standardisierten Verfahren erheben lässt. Man muss ihn wie gesagt erschließen, und das geht nur, wenn man sich auf einzelne Fäl-
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le einlässt und ihren Verästelungen folgt. Man dringt in diese Realität ein, wenn man einigen Fallrekonstruktionen im Vertrauen auf ihren exemplarischen Charakter sehr genau folgt. Je mehr man sich auf die Detailliertheit einlässt, desto prägnanter treten die verallgemeinerungsfähigen Strukturen zu Tage. Mein Dank gilt allen, die an den Interviews und ihrer Auswertung beteiligt waren: den Kollegen des DFG-Projekts „Struktur und Genese professionalisierter Praxis als stellvertretender Krisenbewältigung“ im Frankfurter SFB 435 Eva Daniels, Manuel Franzmann, Matthias Jung, Andreas Müller-Tucholski, Ulrich Oevermann und Ferdinand Zehentreiter. Bertram Ritter, Lanenia Kedi, Anne und Jochen Schäfers, Christian Pawlytta haben die Hauptlast der Verschriftung getragen. Dieses Buch ist auch Protokoll unserer gemeinsamen Projektarbeit, von deren Anregungsreichtum und Fruchtbarkeit ich noch lange profitieren werde. Für seine Beteiligung an den Interviews danke ich ferner Roland Burkholz. Axel Jansen, der an den Interviews mit den Evolutionsbiologen beteiligt war, danke ich für seine freundschaftliche Unterstützung in allen Phasen der Arbeit. Mit ihm und Peter Münte konnte ich die Professionalisierung der Wissenschaften auch in ihren historischen Aspekten immer wieder diskutieren. Für ihre Bereitschaft zu Diskussionen danke ich außerdem Gundula Grebner, Johannes Hätscher, Lorenz Rumpf, Oliver Schmidtke, Peter Scholz, Johannes Süßmann und Barbara Wolbring. Alfons Bora, Dieter Mans und Ulrich Oevermann schulde ich Dank für ihre scharfsinnigen Gutachten im Habilitationsverfahren. Dank sage ich schließlich dem Kolloquium des Forschungskollegs „Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel“ der Universität Frankfurt, namentlich den Professoren Johannes Fried, Lothar Gall, Werner Plumpe sowie dem wissenschaftshistorischen Kolloquium von Moritz Epple. Mein letzter Dank gilt meiner Frau Stefanie, die mich immer auf das Liebevollste unterstützt hat.
Einleitung
Professionen als Gegenstand der Soziologie
Professionen üben Tätigkeiten aus, die so elementar sind, dass man in nahezu allen Kulturen auf sie treffen kann. Spuren von historischen Vorläufern ihrer Praxis lassen sich bis in sehr alte Kulturen zurückverfolgen. Medizin, Recht und Baukunst, Pharmazie und Ingenieurwesen hat es schon in der alten orientalischen Welt Babyloniens, Persiens und in Ägypten, in den antiken Reichen Indiens und Chinas, im antiken Griechenland und Rom, bei den Kelten und in den südamerikanischen Reichen der Maja und Inkas und natürlich im mittelalterlichen Arabien gegeben. Heute gibt es kein Land der Erde, in dem nicht wenigstens rudimentäre Ansätze zum Aufbau dieser Berufe vorhanden wären. Und die Ethnologie lehrt uns seit langem, dass sich hinter vielen Sitten und Praktiken vermeintlich „primitiver“ und archaischer Kulturen Ozeaniens, Afrikas oder des Amazonas-Gebiets ein komplexes Wissen verbirgt, das auf ein heilkundliches Spezialistentum, auf mantische Seher oder Schamanen, auf weise Frauen und Medizinmänner zurückgeht, die den Sternenhimmel deuten oder Wetter- und Meereskunde betreiben, das Verhalten der Tiere studieren und ein Wissen über Pflanzen und ihre Heilkraft oder toxische Wirkung sammeln. Überall zeigen sich Anzeichen eines abgesonderten Spezialistentums, das als Vorläufer der heutigen Professionen angesehen werden kann. Trotzdem hat nicht in allen Kulturen eine Entwicklung stattgefunden, die das hervorgebracht hätte, was wir mit Professionalisierung bezeichnen. Diese setzt die Formierung autonomer Berufsstände voraus. Es setzte voraus, dass es den Berufen gelang, gegenüber der weltlichen und geistlichen Herrschaft eigene Institutionen zu etablieren, rechtlich und materiell, um in ihrem Gehäuse eine Wissenskultur zu entfalten, in der Wissen nicht nur systematisch gesammelt, archiviert oder kanonisiert, sondern ebenso diskutiert, kritisch überprüft und verworfen, frei gelehrt und frei aufgenommen werden kann. Auch wenn es Ansätze zu einer solchen Formierung an vielen Orten gibt, gewinnen die Berufe doch nur im europäischen Kulturraum, auf dem Entfaltungsgebiet der jüdisch-christlichen Religionstradition eine gewisse Autonomie gegenüber der politischen Herrschaft. Nur hier werden die Berufsstände eine selbständige Kraft in der Gestaltung ihrer Berufspraxis. Man hat hier deshalb
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eine eigenständige Ausprägung des okzidentalen Rationalisierungsprozesses vor sich, der seit Max Weber eines der schwierigsten und interessantesten Erklärungsprobleme der Sozialwissenschaften darstellt. Die Professionen sind eine der wichtigsten Antriebsquellen dieser Rationalisierungsdynamik und ihre Geschichte und Soziologie somit Teil dieses Erklärungsproblems. Die Soziologie beginnt sich für die Professionen zu interessieren, als deren Bedeutung für die Rationalisierung moderner Gesellschaften gar nicht mehr übersehen werden kann. Die Professionen waren im 19. Jahrhundert neben dem Wirtschaftsbürgertum, zu dem sie bis heute ein spannungsreiches Verhältnis haben, zum Träger der bürgerlichen Gesellschaft und ihres Leistungsethos aufgestiegen. Über ihre eigentliche Berufspraxis hinaus spielten sie auch bei den politischen und sozialen Umwälzungen des Industriezeitalters eine immense Rolle, sowohl bei den großen Modernisierungsprozessen, als auch bei der Bewältigung vieler ihrer Folgeprobleme. Man denke nur an die Rolle der Ärzte bei den großen sozialpolitischen Reformprojekten: Betrieblicher Unfallschutz, Kriegslazarett- und Sanitätswesen, Humanisierung des Strafvollzugs, Hygienebewegung, sozialer Städte- und Arbeiterwohnungsbau, Kanalisation der Städte, Müllentsorgung und Wasserwirtschaft, Krankenhausbau, Aufbau einer modernen Psychiatrie. Überall sind Ärzte an Reformbewegungen beteiligt. Oder die Juristen: Die großen Projekte des Bürgerlichen Gesetzbuches, die Abschaffung des Inquisitionsverfahrens, die Reformen des Straf-, Ehestands- und Familienrechts, oder der Aufbau der modernen Staatsverwaltungen werden von Juristen und juristisch geschulten Staatsbeamten geleistet. Für einen Soziologen musste schon Anfang des 20. Jahrhunderts klar sein, dass das moderne Gemeinwesen ohne diese Berufe nicht nur nicht funktionieren würde, sondern dass man dessen innere Antriebsquellen nicht versteht, wenn man jene Berufe nicht kennt. Man findet deshalb bei vielen frühen Klassikern der Soziologie interessante theoretische Entwürfe zu ihnen. Bereits in den Werken von Karl Marx oder Lorenz Stein stößt man auf die Frage nach der Leistung der Professionen zur Reproduktion einer Gesellschaft.1 Émile Durkheim interessierte sich im Rahmen seiner Religionssoziologie und in seinen Studien zur gesellschaftlichen Arbeitsteilung für die Sonderethik der Professionen.2 Und Max Webers Berufsaufsätze sind bis heute ein1
Vgl. Stock, Manfred: „Professionen in reproduktionstheoretischer Perspektive: Professionssoziologische Analysen bei Karl Marx“, in: Zeitschrift für Soziologie, Jahrgang 32 Heft 3 Juni 2003, S. 186-205.
2
Durkheim, Émile: „De la division du travail social: Étude sur l’organisation des sociétés supérieures.“ Paris 1893, deutsch: Über die Teilung der sozialen Arbeit. Dt. von Ludwig Schmidts. Frankfurt/M. 1977, dort insbesondere das Vorwort zur zweiten Auflage; ders.: „La morale professionelle“, in: ders., Leçons de sociologie. Physique des mœurs et du droit, Paris 1950, S. 5-51.
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schlägig. Sie haben der Berufssoziologie insgesamt wichtige Zusammenhänge zwischen Beruf und Herrschaftsverband, Beruf und Religion und die Bedeutung der Rationalisierungsdynamik für die Entstehung der Berufe aufgezeigt.3 Von einem eigenständigen professionssoziologischen Diskurs kann allerdings erst seit Mitte der 1930er Jahre gesprochen werden, als Carr-Saunders/Wilson und Parsons ihre wichtigen Aufsätze publizierten.4 In diesen frühen Arbeiten wird erstmals die Frage systematisch behandelt, welche Berufe man genau zu den Professionen rechnen muss. Damit verbindet sich die Beobachtung, dass die Professionen eine Sondergruppe innerhalb der Berufe darstellen. Klassischerweise zählt man die Ärzte und Therapeuten, die Juristen, Architekten und Apotheker, die Theologen und Pädagogen (Lehrer), die Wissenschaftler dazu, manchmal auch die Ingenieure. Heute sind mit den Unternehmens- und Organisationsberatern einschließlich des Coaching, mit den Pflegeberufen und Sozialarbeitern weitere, teilweise recht neue Berufe dazugekommen. Und man kann, das soll hier bereits angemerkt werden, für weitere Berufe durchaus sinnvoll diskutieren, ob sie nicht dazu zu rechnen sind: die Journalisten, das Militär, die Kriminalpolizei, die Mediatoren, die Künstler. Aber welche Merkmale und Kriterien sind dafür ausschlaggebend? Wodurch genau unterscheiden sich diese Berufe von anderen Berufen? Was ist ihre Differentia specifica, was ihr Genus proximum? Diese Fragen stehen gewissermaßen bis heute am Anfang jeder systematisch ansetzenden Professionssoziologie. Folgt man der Frage nach der Differentia specifica, orientiert sich die Mehrheit der Autoren an den institutionellen Merkmalen der Professionen. Das ist im Grunde genommen schon eines der Hauptprobleme der Professionssoziologie, aber es sollen diese Merkmale doch genannt werden, damit man sie als Ausgangspunkt der Argumentation kennt. Man kann sie in zehn Punkten zusammenfassen: (1) Professionen bieten ihre Leistung zwar in sehr unterschiedlichen Institutionen an: In niedergelassenen Praxen, Kliniken, Instituten, Kanzleien, Notariaten, Gerichten, Agenturen, Büros bis hin zu Universitäten. Gemeinsam ist ihnen aber ein hohes Maß an berufsständischer Selbstverwaltung. Die Professionen regeln viele ihrer Angelegenheiten selbst und unterhalten dafür eigene Einrichtungen. Kammern sprechen zum Beispiel eine Zulassung aus (Pflichtmitgliedschaft), führen die Mit3
Weber, Max: Politik als Beruf, in: Gesammelte politische Schriften, Tübingen 1988, S. 505-560; ders.: Wissenschaft als Beruf, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1968, S. 582-613.
4
Carr-Saunders, Alexander M./Wilson P.A.: The Professions (2nd. Imprint), London 1933; Parsons, Talcott: „The Professions and Social Structure“. In: Social Forces 17 (1939), S. 457-467; vgl. auch Feuchtwanger, Sigbert: Der Staat und die freien Berufe. Staatsamt oder Sozialamt? Königsberg 1929.
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gliederregister, regulieren die Fort- und Weiterbildung oder koordinieren die Versorgung der Regionen mit Vertretern einer Profession. Sie kümmern sich um Alters- und Ruhestandsregelungen, haben wichtige Aufgaben im Abrechnungs- und Kontrollwesen oder bei der Organisation der Ausbildung zu einem Facharzt oder Fachanwalt. Sie vertreten außerdem die Belange ihres Berufs bei der Ausgestaltung von Gesetzen und Verordnungen beim Gesetzgeber. Für die Wissenschaftler haben die Hochschulen, Forschungsverbände und Akademien eine ähnliche Funktion. (2) Auch wenn die Einkommenslage und Sozialexistenz der Professionen sehr unterschiedlich ist und von der freiberuflichen Selbständigkeit über den Angestellten bis zum Beamtenstatus reicht, genießen die Professionen insgesamt eine gesetzliche Sonderstellung. Ihre Vergütung ist in einer Honorar- und Gebührenordnung geregelt; bei Richtern oder Wissenschaftlern tritt ein Besoldungsrecht an die Stelle. Sie unterliegen einem eigenen Dienstrecht und genießen einen gesetzlichen Sonderstatus bei der Einkommenssteuer, bei den Sozialabgaben und bei vielen anderen Regelungen (z.B. im Haftungsrecht). Es gibt nur sehr eingeschränkt eine freie Preisbildung. (3) Die Ausübung der Berufstätigkeit ist an die formelle Zugehörigkeit zu einer Profession gebunden. Die Professionen beherrschen also, was manchmal etwas missverständlich als „Monopolisierung“ bezeichnet wird, ihren jeweiligen Berufsmarkt, indem sie die Zulassung zum Beruf an Ausbildungsgänge knüpfen, deren Ausgestaltung weitgehend in ihren eigenen Händen liegt. Der Begriff Monopol ist missverständlich, weil er suggeriert, dass es auch anders geregelt sein könnte. Das ist gerade nicht der Fall, wie weiter unten noch gezeigt werden wird. (4) Auch ist der Markt in anderer Hinsicht reguliert, zum Beispiel durch das (mittlerweile gelockerte) Verbot der Werbung, durch verschiedene Regelungen, die es anderen Berufen verbieten, Leistungen der Professionen anzubieten (z.B. Rechtsberatung, Verschreibung von Medikamenten). Es gibt kehrseitig aber auch Hilfsund Behandlungspflichten. (5) Die Ausbildung ist zumeist akademisch organisiert und erstreckt sich typischerweise über zwei Ausbildungsphasen: ein akademisches Studium und eine zweite Phase, in der Novizen praktische Erfahrungen sammeln und von älteren Vertretern ihres Berufsstandes in die Kunst- und Handlungslehre des Berufs eingeführt werden. Diese zweite Phase ist als Referendariat, Noviziat, Lizentiat und Doktorat organisiert und endet je nach länderspezifischer Tradition mit Examina und dem Erwerb einer Approbation, Zulassung, einem Diplom, Bachelor oder Magister/Master oder einem anderen Befähigungsnachweis. Dazu sind auch die akademischen Titel und Grade zu rechnen.
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(6) Bei erfolgreichem Absolvieren einer Ausbildung wird ein Novize zum Repräsentanten seines Berufsstandes und unterliegt entsprechenden berufsständischen Regeln und Pflichten. Damit ist eine lebenslange Verpflichtung verbunden, den Beruf nach Außen würdig zu vertreten und die Berufsstandards zu erfüllen. Das wird oft in Eiden und Schwüren bekräftigt. Das bekannteste Beispiel ist der Hippokratische Eid der Ärzte; es gibt vergleichbare Eide aber auch bei den Wissenschaftlern und den Juristen. (7) Den Kammern oder Standesorganisationen obliegt die Sanktionierung von Verletzungen berufsständischer Regeln in einer eigenen Ehrgerichtsbarkeit. Die Anwaltskammern unterhalten z.B. Anwaltsgerichte. Die Sanktionen reichen von Verwarnungen über Geldbußen bis zum Entzug einer Zulassung. (8) Professionen haben eine wissenschaftliche Disziplin im Rücken. In einem weitverzweigten Gefüge von Fachverbänden und Vereinigungen organisieren sie den Austausch zwischen Wissenschaft und Berufspraxis. Fachverbände nehmen Einfluss auf die Vergabe von Forschungsmitteln, bestellen Gutachter und organisieren Fachkonferenzen. Zu ihren Aufgaben gehören auch die Kooperation mit Unternehmen und gesellschaftlichen Organisationen, die Berufspolitik und die Aufklärung der Öffentlichkeit. (9) Es gibt viele Erscheinungen eines berufsständischen Gebarens, das die Zugehörigkeit zum Berufsstand kenntlich macht. Das beginnt bei der Kleidung (Talar, Habit, weißer Kittel, Robe), setzt sich im Fachjargon fort („Ärztelatein“, „JuristenDeutsch“, Theoriesprachen) und manifestiert sich auch in vielen typischen Verhaltensregeln, die das Verhältnis zu Klienten, Laien und Kollegen betreffen. Zum Beispiel gilt es als prekär, private Kontakte zu Patienten oder Mandanten aufzunehmen oder Fälle zu übernehmen, bei denen der Klient aus der eigenen Familie stammt. Anwälte übernehmen ungern Fälle aus dem engeren Freundeskreis, Chirurgen vermeiden es, eigene Familienangehörige zu operieren. Für Richter gelten Befangenheitsregeln. Auch nehmen sie ungern private Einladungen von Anwälten an, die am gleichen Gerichtsstand zugelassen sind. (10) Die Professionen pflegen eine ausgeprägte Kollegialkultur. Standesgenossen empfehlen z.B. ihre Kollegen weiter oder überweisen einen Klienten an einen anderen, wenn sie selbst nicht spezialisiert sind. Kollegen werden vor Laien nicht kritisiert, sondern gegen Kritik von außen abgeschirmt. Gleichzeitig gibt es aber eine scharfe Binnenkritik bei Kunstfehlern oder Nachlässigkeiten. Auch wenn es zwischen den Berufen in der konkreten Ausgestaltung dieser Merkmale gewichtige Unterschiede gibt und verschiedene Gesundheits-, Gerichts- und
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Universitätsreformen der letzten Jahre die Berufspraxis der Professionen teils erheblich verändert haben (z.B. „Budgetierung“, „Bologna-Prozess“), gelten jene Merkmale im Kern nach wie vor. Für die Soziologie ist deshalb schon immer von besonderem Interesse gewesen, welche Funktion diese institutionellen Besonderheiten haben. Angesichts verschiedener nationaler Traditionen hat sich auch die Frage gestellt, wie sich die jeweiligen Regelungen historisch ergeben haben. Was ist dem nationalen historischen Kontext geschuldet und was lässt sich als universelles berufstypisches Merkmal immer wieder finden? Klassische Professionssoziologie Die ersten theoretisch anspruchsvollen Aussagen hierzu stammen von T. Parsons, E. Hughes und T.H. Marshall.5 Deren Theorien haben die Diskussion während der beiden Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg beherrscht. Ausgehend von den institutionellen Besonderheiten sind ihre Überlegungen darauf gegründet, dass die Professionen auf der Basis einer wissenschaftlichen Expertise Probleme eines Klienten bearbeiten. Von diesem Klientenbezug leiten die Autoren viele der institutionellen Merkmale ab. Wir werden noch sehen, dass dieses Kriterium (Klientenbezug) noch etwas zu eng gefasst ist, wenn man darunter einen konkreten Klienten versteht, wie er im Verhältnis von Arzt und Patient oder Anwalt und Mandant anschaulich gegeben ist. Die zentralen Argumente lauten, erstens, dass die Beziehung zwischen den Klienten und den Professionen nicht analog zu vertragsrechtlichen Beziehungen gesehen werden kann, weil der Tausch zwischen Leistung und Gegenleistung (Honorar) nicht in allen seinen Komponenten vertraglich fixiert werden kann und auf einer sozialen Asymmetrie beruht, die auch Anteile einer diffusen Sozialbeziehung aufweist, wie Parsons das nannte. Professionsvertreter und ihre Klienten stehen sich
5
Parsons, Talcott: „Education and the Professions“, in: International Journal of Ethics 47 (1937), S. 365-369; ders.: Social structure and dynamic process: The case of modern medical practice, in: ders. The Social System, Glencoe, Illinois 1951, S. 428-479; ders.: A sociologist look at the legal profession, in: Essays in sociological Theory, Glencoe, Illinois, 1954, S. 345-379; ders.: „Professions“, in: International Encyclopedia of the Social Sciences, 12 (1968), S. 536-547; Marschall, Thomas Humphrey: The Recent History of Professionalism in relation to social structure and social policy, in: ders. Sociology at the crossroads and other essays, London 1963; Hughes, Everett C.: „The Social Significance of Professionalization“, in: Vollmer, H.M./Mills, D.L. (Hg.): Professionalization, New Jersey 1966, S. 62-70; Rüschemeyer, Dietrich: „Ärzte und Anwälte: Bemerkungen zur Theorie der Professionen“, in: Luckmann, Thomas/Sprondel, Walter: Berufssoziologie, Köln 1972, S. 168-181; ders.: „Professionalisierung. Theoretische Probleme für die vergleichende Geschichtsforschung“, in: Geschichte und Gesellschaft 6 (3)/1980, S. 311-325.
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nicht nur als Träger von Rollen, sondern darin untrennbar auch als ganze Menschen gegenüber. Diese Besonderheit der Klientenbeziehung muss daher durch spezifische institutionelle Rahmungen abgestützt werden. Das zweite Argument lautet, dass die Professionen, wenn sie Probleme eines Klienten bearbeiten, gesellschaftlich zentrale Werte realisieren und damit einen Beitrag zur Erneuerung des gesellschaftlichen Wertekanons leisten. Diese Werte (Recht und Gerechtigkeit, Heilung und Fürsorge (Gesundheit), Wahrheit und wissenschaftliche Rationalität, und, wenn man die Architekten und Künstler hinzunimmt, auch ästhetische Gestaltstimmigkeit) spielen auch außerhalb der Berufspraxis eine große Rolle, werden aber in ihr gewissermaßen institutionalisiert verfolgt, indem sich die Professionen von Berufs wegen aus einer gesteigerten Bindung an diese Werte für ihre Klienten einsetzen. Die Professionen fungieren somit als intermediäre Instanzen zwischen Individuum und Gemeinschaft. Ihnen kommt in der modernen Gesellschaft eine Rolle zu, welche zuvor lange traditionell die Kirchen und Religionsgemeinschaften hatten, und heute sogar von Parteien und Gewerkschaften, von Sportverbänden und Vereinen kaum mehr ausgefüllt werden können. Man kann damit z.B. auch das überdurchschnittliche Einkommen der Professionen erklären. Mit ihm wird nicht nur eine relativ lange und aufwendige Ausbildungszeit abgegolten, sondern in ihm drückt sich die Wertschätzung der Gesellschaft für diese Werte selbst aus. Professionen müssten daher immer etwas über dem Durchschnitt verdienen, da sonst der Anreiz verloren geht, das Wertegefüge selbst hochzuhalten. Dabei ist das Spezifikum der Professionen die Kopplung einer Wertbindung mit der wissenschaftlichen Rationalität moderner Disziplinen, die der Expertise der Professionen zugrunde liegt und ihren substanziellen Erfolg in der praktischen Problemlösung allererst begründet. In den modernen Professionen hat sich der Werteuniversalismus der jüdisch-christlichen Rationalisierungsdynamik mit dem Fortschritt der modernen Wissenschaften verknüpft. Dass die Fürsorge für Kranke und Sterbende, für von Strafe und Unrecht Bedrohte zu einer lebenspraktischen Aufgabe des Einzelnen werden solle, wird im Christentum, z.B. der Bergpredigt explizit gefordert. Der historische Erfolg des Christentums basiert wahrscheinlich auch auf dieser Hinwendung an die Fürsorge für die alten, kranken und gebrechlichen Mitglieder einer Gemeinschaft.6 Die ärztliche Profession hat diese Programmatik aus der Bewährung von Religionsvirtuosen und Klerikern herausgelöst und einer säkularen Berufsarbeit übertragen, die nicht mehr für Gottes Lohn arbeitet, sondern honoriert werden will. Im Gegenzug haben sich die modernen Professionen daran gebunden, Probleme mit wissenschaftlichen Mitteln zu bearbeiten und fortdauernd nach neuen Möglichkeiten für entsprechende Verfahren, Therapien und Techniken 6
Stark, Rodney: Der Aufstieg des Christentums. Neue Erkenntnisse aus soziologischer Sicht, Weinheim 1997.
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zu suchen. Ihre Berufskultur ist einerseits Ausdruck einer sehr alten Wertetradition der jüdisch-christlichen Gesellschaften; andererseits erneuert sie diese Tradition in die säkulare Moderne hinein.7 Dieser Besonderheit, zentrale gesellschaftliche Werte zu realisieren, könnten die Professionen gar nicht nachkommen, hätten sie nicht eine institutionelle und berufsständische Autonomie, die es ihnen ermöglichte, die Bindung des Nachwuchses an jene Werte und einen wissenschaftlichen Kanon von Generation zu Generation immer wieder zu erneuern. Das dritte Argument lautet, dass das Handeln der Professionen einer professionsethischen Selbstkontrolle bedarf, um die Qualität der Dienstleistung zu gewährleisten. Auf die Gründe dafür kommen wir noch zurück. Das Argument besagt, dass die professionsethische Selbstkontrolle nur in einer Kollegialkultur gewährleistet wird, die auf der Zugehörigkeit zu einem Berufskorps beruhe und die ihrerseits nur möglich ist, wenn es entsprechende berufsständische Institutionen gibt, die in Ausbildung und Selbstverwaltung den Erwerb und die Einhaltung der Professionsethik und Kollegenrolle sicherstellen. Interessentheoretischer und ideologiekritischer Ansatz Diese Auffassung ist im Zuge der Renaissance neomarxistischer Ansätze in den 1960er und 70er Jahren einer breiten Kritik unterzogen worden. Larson und Freidson, aber auch Gouldner, Bourdieu oder Rüschemeyer haben die berufsständische Autonomie als ein strategisches Instrument der Professionen interpretiert, das im Wesentlichen dazu diene, materielle Interessen der Berufe besser verfolgen zu können und das im 19. Jahrhundert erstrittene Berufsmonopol zu erhalten.8 Dieses „Monopol“ wird als historisches Relikt früherer ständischer Privilegien angesehen. Mit seiner Hilfe sicherten sich die Professionen Einkommensquellen und wehrten Ansprüche anderer Berufe ab, ihrerseits Leistungen anbieten zu können, die denen der Professionen vergleichbar sind. In der Tat gibt es Überschneidungen der Kompetenzen zwischen den Ärzten und vielen Gesundheitsberufen, etwa Augenärzten und Augenoptikern, Psychiatern und Psychologen oder Orthopäden und Physiothe-
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Parsons, T: Social structure and dynamic process: The case of modern medical practice, S. 428-479.
8
Freidson, Eliot: Der Ärztestand. Berufs- und wissenssoziologische Durchleuchtung einer Profession, Stuttgart 1979; ders.: Professional Powers. A Study of the Institutionalization of Formal Knowledge, Chicago, London 1986; Larson, Megali S.: The Rise of Professionalism. A Sociological Analysis. Berkeley 1977; Bourdieu, Pierre: Homo academicus, Frankfurt am Main 1988; Rüschemeyer, Dietrich: Lawyers and Their Society: A Comparative Study of the Legal Profession in Germany and the United States, Harvard University Press 1973.
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rapeuten, die regelmäßig zu Konflikten darüber führen, wer berechtigt ist, bestimmte Untersuchungen durchzuführen oder Heilmittel zu verschreiben. Das Argument lautet, dass die Professionen ihren institutionellen Einfluss nutzen, um missliebige Konkurrenten vom Markt fern zu halten. Die berufsständischen Institutionen sind, so der Tenor, kaum mehr als lobbyistische Organisationen, die bei Gesetzgebungsverfahren ihre Macht nutzen, um Regelungen zugunsten eines Berufsmonopols durchzusetzen. Die Juristen haben z.B. viele Jahre tatsächlich erfolgreich verhindert, dass auch andere Ausbildungsberufe oder Juristen ohne zweites Staatsexamen Rechtsberatungen durchführen können. Sie haben außerdem den Katalog der Verwaltungs- und Gerichtsvorgänge, bei denen Juristen (gebührenpflichtig) beteiligt werden müssen, hoch gehalten, und nutzen ihre starke Stellung, um bei Gesetzesvorlagen darauf zu achten, dass Anwälten und Notaren immer wieder neue Zuständigkeiten und Einnahmequellen zukommen. Berufsinstitutionen vertreten aber nicht nur Interessen des Berufs nach Außen, sondern sie spielen auch eine gewichtige Rolle im Interessenkampf zwischen verschiedenen Statusgruppen innerhalb der Berufe. Es gibt ökonomische und finanzielle Interessengegensätze zwischen großen Kanzleien und kleinen Sozietäten, zwischen Gerichtsstandorten, zwischen niedergelassenen Ärzten und Krankenhausärzten, zwischen Chef- und Oberärzten und angestellten Stationsärzten bzw. Berufsanfängern. Der interessentheoretische Ansatz betont eine signifikante Privilegierung bestimmter Statusgruppen, z.B. der Professoren und Chefärzte innerhalb des berufsständischen Systems. Die Kammern, deren Präsidien und Vorstände sich überdurchschnittlich häufig aus diesen Statusgruppen rekrutieren, vertreten die Interessen jener Gruppen nach Außen mehr, als es sein dürfte, so die Behauptung. Der interessentheoretische Ansatz sieht deshalb im Appell an eine gemeinsame berufsständische Professionsethik mehr eine Ideologie, welche die Interessengegensätze verdecken oder pazifizieren soll, und diese Ansicht ist heute durchaus auch innerhalb der Professionen selbst verbreitet. Außerdem wird das berufsständische Gebaren („Halbgötter in Weiß“) als ideologisches Mittel der Abschottung des Berufs gegen eine Außenkritik durch Laien, Klienten und Patientenverbände interpretiert. Die Kritik an ärztlichen Kunstfehlern, schlampiger Verfahrensführung von (Staats-)Anwälten oder Richtern (z.B. bei Fristenversäumnissen) oder an eklatanten Fehlleistungen im Wissenschaftsbetrieb (schlechter Lehre, Mittelverschwendung, Günstlingswirtschaft bei der Vergabe von Stipendien, in Berufungsverfahren oder bei der Begutachtung in Drittmittelverfahren) werde wirksam unterbunden oder abgeblockt. Eine Aufklärung von Missständen und Selbstreinigung von „schwarzen Schafen“ findet deshalb nicht in dem Maße statt, wie es eigentlich sein müsste. Gouldner hat dem ideologiekritischen Ansatz noch ein interessantes Argument hinzugefügt. Gerade wegen der besonderen Gemeinwohldienlichkeit ihres Berufshandelns, der hoch angesehenen Werthaltung könne den Professionen selbst gar
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nicht bewusst werden, wie sehr ihr Handeln auch von partikularen Interessen getragen sei. Die Professionen sind die Hauptprotagonisten derjenigen öffentlichen Diskurse, in denen die Wertschätzung ihrer Leistungen eingefordert wird. Wenn aber mehr Forschungsmittel für den Kampf gegen Krebs oder die Klimakatastrophe, wenn der Ausbau der vorschulischen Bildung und zusätzliche Sprachkurse für Migrantenkinder gefordert werden, oder wenn die finanzielle und personelle Unterausstattung von Schulen und Hochschulen, Krankenhäusern und Gerichten beklagt wird, bedeutet dies zum einen, dass der Anteil am Bruttosozialprodukt, der für Forschung, Gesundheit, Bildung, Rechtspflege ausgegeben wird, sich erhöhen und mehr für Kinder, Kranke, Studenten und den Rechtsfrieden getan werden soll. Und zum anderen bedeutet es, dass in dem Maße, indem diese Forderung umgesetzt wird, der Kuchen, den sich die Professionsangehörigen untereinander aufteilen können, größer wird.9 Die Professionen sind also zugleich Vertreter der universalistischen Werte und Interessenpartei, Fürsprecher und Nutznießer eines Ausbaus von Forschung und Medizin, Bildung und Rechtspflege. Beides fällt untrennbar zusammen. Sie können aus diesem Grunde, so Gouldner, gar kein „Klassenbewusstsein“ entwickeln, wie die Kapitaleigner und die Arbeiterschaft dies haben, denn ein solches Klassenbewusstsein setzt ein Bewusstsein der eigenen partikularen Interessenlage voraus, das sich seinerseits aus der Fähigkeit ergibt, antagonistische Interessenlagen und -Gegner im Interessenkampf (an-)erkennen zu können. Die modernen Professionen kennen einen solchen Gegenspieler nicht und finden ihn allenfalls in den Sozialbürokratien von Krankenkassen, Ministerien oder Universitätsadministrationen, die selbst Interessenten sind. Dass die Professionen immer schon einen Argwohn auf sich gezogen haben, der Gesellschaft die Krisen, an deren Bearbeitung sie dann verdienen, über alles notwendige Maß hinaus einzureden, ist Ausdruck dieser diffusen, intransparenten Interessenlage. Man findet ihn als klassisches Vorurteil gegen Ärzte und Anwälte bei der bäuerlichen Landbevölkerung vor 1900 und ebenso als Ressentiment heute. Die ideologiekritische Auffassung ist heute auch außerhalb der Soziologie weit verbreitet. Man findet sie besonders in Ministerien, bei Krankenkassen, in der Wissenschaftsadministration und in den Medien. Die Administrationen versuchen seit Jahrzehnten die Professionen stärker ihrer administrativen Leistungskontrolle zu unterstellen und Verfahren der externen Evaluation und Steuerung zu implementieren, um „mehr Rationalität in die Systeme“ zu bringen. Die Haltung der Administration ist zumindest teilweise erklärbar. Die Professionen haben sich in den letzten Jahrzehnten immer wieder Reformen widerspenstig verweigert. Manche wurden sogar zum Scheitern gebracht, indem obstruktiv dagegen opponiert wurde. Das hat bei den Administrationen Frustration und Missgunst gegen diese „privilegierten“ 9
Gouldner, Alwin W.: Die Intelligenz als neue Klasse. 16 Thesen zur Zukunft der Intellektuellen und der technischen Intelligenz, Frankfurt 1980.
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Berufsstände erzeugt. Dort hat sich das Deutungsmuster etabliert, dass hinter der Beharrung auf berufsständischer Autonomie nicht sachhaltige Gründe stehen, sondern eine Verweigerungshaltung im Dienste des Status quo.10 Der akademische Erfolg des interessentheoretischen Ansatzes hat aber noch andere Gründe. Er wurde unterstützt von den zeitgeschichtlichen Umbrüchen, die zwanzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges in der gesamten westlichen Welt einsetzten. Mit 1968 ist ja nicht nur eine politische Revolte gegen den VietnamKrieg oder die Notstandsgesetze verbunden, sondern auch eine „Kulturrevolution“, welche die Überbleibsel der Honoratiorenkultur des 19. Jahrhunderts endgültig abtrug. Davon waren die Professionen mehr als irgendwelche anderen Berufsgruppen betroffen. In einer groben Gegenüberstellung kann man sagen, dass vor 1968 den Professionen wie auch sonst allen Amtsträgern noch eine quasi-väterliche Autorität zukam, die man öffentlich nicht antastete und in Frage stellte. Den Professionen leistete man Gefolgschaft und brachte ihnen Vertrauen entgegen, aber diese Gefolgschaft war gepaart mit einem Tabu öffentlicher Kritik an ihrer Arbeit. Das war danach nicht mehr uneingeschränkt der Fall. Mit 1968 beginnt sich das Tabu aufzulösen. Das, was sich mit 68 vor allem verändert hat, war die Art und Weise, wie Ärzte mit ihren Patienten im Untersuchungszimmer zu sprechen pflegen. Vor 1968 war es nicht unüblich, dass Ärzte oder Pfarrer und Lehrer sich auch ungefragt zur Lebensführung ihrer Klienten äußerten und dabei in intimen Fragen zur Sexualität (Verhütung) und Partnerwahl, zur Kindererziehung und Berufswahl sehr weitreichende Ratschläge erteilten. Dies hat sich danach erheblich geändert. Ärzte, Richter, Professoren treten heute anders auf. Sie müssen um Gefolgschaft für ihre Maßnahmen mehr werben, sich mehr erklären und ihre Überlegungen darlegen, auch viel mehr Nachfragen beantworten, und auch damit rechnen, dass ein Klient, der sich schlecht behandelt fühlt, den Gang zum Anwalt oder zum Standesgericht nicht scheut. Dabei sind es die Professionen selbst gewesen, die diesen Kulturwandel mit vollzogen haben. Durch die Studentenbewegung ermutigt hat die damals junge Generation der Ärzte, Juristen oder wissenschaftlichen Assistenten den Reformgeist von 68 von den Universitäten in die Berufspraxis mitgenommen und nicht nur Forderungen nach „Demokratisierung der Medizin“ oder Abschaffung der OrdinarienUniversität, nach Reformen der Prozessordnung erhoben. Sie haben auch neue Kommunikationsformen etabliert und das Auftreten sowohl zwischen Kollegen als auch gegenüber den Klienten verändert. 10 Vgl. Franzmann, Andreas/Münte, Peter: Von der Gelehrtenrepublik zum Dienstleistungsunternehmen. Ausschnitt aus einer Deutungsmusteranalyse zur Erschließung kollektiver Bewusstseinslagen bei Protagonisten der gegenwärtigen Universitätsreform, in: Wolbring, Barbara/Franzmann, Andreas (Hg.): Zwischen Idee und Zweckorientierung. Vorbilder und Motive von Hochschulreformen seit 1945. (= Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel, Band 21), Berlin 2007, S. 215-228.
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Der ideologiekritische Ansatz hat den Protagonisten jener Reformen eine Theoriesprache zur Verfügung gestellt, in der sie ihre Kritik ausdrücken konnten. Paradoxerweise hat er damit einen Anteil daran, dass ihm selbst allmählich die historische Grundlage entzogen wurde. Denn die Professionen begannen nicht zuletzt aufgrund der massiven sozialwissenschaftlichen Aufklärungskritik selbst damit, ihr Erscheinungsbild zu verändern. Die Professionen vermeiden heute eher pathetisches Gebaren einer moralischen Sonderstellung und betonen stattdessen die strukturelle Ähnlichkeit ihrer Berufe mit den Angestellten. Eigene Berufsverbände werden unter dem Gesichtspunkt des Interessenkampfes wahrgenommen, eigene Vertreter von Kammern selbstverständlich auch als Lobbyisten eingestuft. Der ideologiekritische Ansatz hat gleichwohl einige eklatante Schwächen. Er hält sich empirisch an Materialien und Quellen, die seiner Ausgangsthese von vorneherein wenig Widerstand entgegensetzen. Er wertet offizielle Dokumente und Reden aus und hebt darauf ab, die darin sichtbar werdenden Selbstbilder der Berufe mit Ereignissen oder Daten zu konfrontieren, die jene Selbstbilder als Illusion oder Täuschung entlarven. Dabei bedient er sich insbesondere solcher Quellen, die Protokolle des Handelns von offiziellen Repräsentanten der Berufsstände sind, also Quellen, bei denen es eigentlich gar nicht verwundern muss, dass oftmals tatsächlich strategisch argumentiert wird. Das öffentliche Handeln von Verbandsfunktionären, z.B. von Kammerpräsidenten oder Vertretern der Hochschulrektorenkonferenz findet oft vor dem Hintergrund politischer Interessenkämpfe und schwebender Entscheidungsprozesse statt, und natürlich versuchen diese Professionsvertreter Einfluss auf solche Prozesse zu nehmen, indem sie Parolen vorgeben oder berufliche Selbstbilder mobilisieren, auch um interne Konflikte nach außen zu verdecken. Der ideologiekritische Ansatz übergeneralisiert, wenn er daraus gezogene Schlüsse auf die Berufspraxis insgesamt ausweitet. Seine Schwäche besteht darin, dass er sich nicht weiter dafür interessiert, welche strukturellen Besonderheiten diese Berufspraxis dort kennzeichnet, wo wirklich substanzielle Problemlösungen für Klienten erarbeitet werden, und wie man dieses Handeln jenseits der Selbstbilder und strategisch öffentlichen Inszenierungen empirisch untersuchen könnte. Da er sich primär für Interessenkonflikte interessiert, lässt er die Frage nach der spezifischen Leistung der Professionen unbeantwortet, fragt darum auch nicht nach möglichen strukturellen Zusammenhängen zwischen dem Berufshandeln und den institutionellen Besonderheiten oder der Professionsethik. Er ist ein Ansatz, der in der methodisch-empirischen Erschließung der Berufswirklichkeit der Professionen auf das institutionelle Handeln fixiert bleibt.
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Kurzer Blick auf die historische Professionsforschung Der interessentheoretische und institutionelle Ansatz ist nicht nur in der Soziologie, sondern auch in der historischen Forschung zu den Professionen führend geworden. Der institutionengeschichtliche Zugang setzt primär an der Frage an, wie die Professionen ihre im 19. Jahrhundert durchgesetzte berufsständische Autonomie institutionell befestigt und gesetzlich abgesichert haben. Dabei interessiert z.B. für die Medizin die Frage, wie nicht akademische Zweige wie die Wundärzte, Quacksalber oder Salbader oder Dentisten verdrängt wurden, in dem zugunsten ihres Berufsmonopols durchgesetzt wurde, dass die gesetzliche Zulassung an ein akademisches Studium gebunden wurde, das jene nicht hatten.11 Die Historiker unterscheiden zwischen einer „Professionalisierung von Oben“ („top down“), die in Deutschland, Frankreich oder partiell in Italien stattgefunden habe, einerseits, und einer „Professionalisierung von Unten“ („bottom-up“), die für Großbritannien und die angelsächsischen Länder insgesamt typisch sei.12 Dabei geht es um die Frage, von wem die Initiative bei der Regelung wichtiger berufsständischer Angelegenheiten ausging. Für Deutschland kann zum Beispiel gezeigt werden, dass es das (preußische) Beamtentum war, das die institutionelle Welt der Ärzte und Anwälte wesentlich geschaffen hat. Beide, Staatsbeamte und (juristische) Professionen, waren ohnehin eng miteinander verbunden. Sie entstammten denselben Schichten, haben dieselben Universitäten besucht und bei denselben Professoren Vorlesungen gehört; sie waren in denselben Burschenschaften und Verbindungen und haben untereinander sogar oftmals verwandtschaftliche Bindungen gehabt oder durch Verehelichung von Söhnen mit Töchtern hergestellt.13 Die Beamten haben das Berufsmonopol der Ärzte in Gesetzen rechtlich festgeschrieben;14 sie haben durchgesetzt, dass alle Juristen, also auch die Anwälte zum Richteramt ausgebildet sein müssen, und damit auch die Anwaltschaft – ganz anders als in der angelsächsischen Welt – eng an den Staat ge-
11 Huerkamp, Claudia: Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahrhundert. in: Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 68, Göttingen 1985. 12 Siegrist, Hannes (Hg.): Bürgerliche Berufe. Zur Sozialgeschichte der freien und akademischen Berufe im internationalen Vergleich, Göttingen 1988. 13 Siegrist, Hannes: Advokat, Bürger und Staat. Sozialgeschichte der Rechtsanwälte in Deutschland, Italien und der Schweiz (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt am Main 1996. 14 Frevert, Ute/Haupt, Heinz-Gerhard (Hg.): Der Mensch des 19. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 1999; Cocks, Geoffrey/Jarausch, Konrad (Hg.): German Professions, 1800-1950. New York und Oxford 1990; Jarausch, Konrad: „Die unfreien Professionen. Überlegungen zu den Wandlungsprozessen im deutschen Bildungsbürgertum 1800-1855“, in: Kocka, J. (Hg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert. Wirtschaftsbürger und Bildungsbürger, Bd.2, Göttingen 1995, S. 200-222.
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bunden. Zudem haben sie eine zentrale Rolle beim Ausbau der Universitäten15 und des Schulwesens gespielt.16 Minister haben immer wieder in universitäre Berufungsverfahren eingegriffen, aber auch Fächer und einzelne Wissenschaftler entscheidend gefördert. Dagegen haben die Professionen in Großbritannien und den USA eine größere Eigenständigkeit gepflegt und Eingriffe der Regierung mehrmals erfolgreich abgewehrt.17 Eine Vielzahl an Regelungen haben sie selber und ohne Gesetze des Staates herbeigeführt, so dass sie nach der englischen Rechtstradition ohne Acts geregelt sind. Die Berufsmonopole blieben daher durchlässiger; Ausbildungswege so wie die angelsächsischen Bachelor- und Mastergrade weniger einheitlich standardisiert; noch heute kann im Prinzip ohne Studium Anwalt werden, wer bei einem anderen Anwalt in die Lehre geht. Die Gründung lokaler Verbände und nationaler Vereinigungen erfolgte nicht auf Initiative und unter Ägide des Staates, sondern aus einer freien Assoziation heraus. Das deutsche System der Kammern ist weitgehend unbekannt geblieben. Die Unterscheidung einer Professionalisierung von Oben und von Unten bleibt allerdings irreführend, solange sie verdeckt, dass die historische Professionalisierung wahrscheinlich immer auch von Unten, also von der professionalisierten Praxis selbst aus angeschoben war, selbst in Deutschland, wo die öffentlich-rechtlichen Rahmenbedingungen zweifelsohne durch den Gesetzgeber gestaltet worden sind. Ich gebe zwei Beispiele aus dem Bereich der Rechtsgeschichte. Ein Erlass Napoleons, der Code d'instruction criminelle von 1808 leitete in Europa die Abschaffung des Inquisitionsverfahrens ein. Napoleons Erlass führte das sogenannte Anklageverfahren ein, dem die Trennung von Staatsanwaltschaft, Verteidigung und Richteramt sowie die Mündlichkeit des Verfahrens zugrunde lagen. Die alte Praxis des Inquisi15 Rüegg, Walter (Hg.): Geschichte der Universität in Europa, Bd.2: Vom 19. Jahrhundert zum Zweiten Weltkrieg (1800-1945), München 2004; Stichweh, Rudolf: Der frühmoderne Staat und die europäische Universität. Frankfurt a.M. 1991; ders.: Wissenschaft, Universität, Professionen. Frankfurt a.M. 1994. 16 Lundgreen, Peter: „Berufskonstruktion und Professionalisierung in historischer Perspektive“, in: Apel, Hans Jürgen/Horn, Klaus-Peter/Lundgreen, Peter/Sandfuchs, Uwe (Hg.): Professionalisierung pädagogischer Berufe im historischen Prozess, Bad Heilbrunn 1999, S. 19-34; Lundgreen, Peter: Techniker in Preußen während der frühen Industrialisierung. Ausbildung und Berufsfeld einer entstehenden sozialen Gruppe, Berlin (1975); ders.: Sozialgeschichte der deutschen Schule im Überblick 1770-1918; 1918-1980, Köln/Frankfurt am Main 1980; McClelland, Charles E.: The German Experience of Professionalization. Modern Learned Professions and Their Organizations from the Early Nineteenth Century to the Hitler Era, Cambridge University Press 1991. 17 Corfield, P.J.: Power and the Professions in Britain, 1700-1850, London 1995; Göbel, Th.: „Ärzte und Rechtsanwälte in den USA, 1800-1920. Der schwierige Weg zur Professionalisierung“, in: Geschichte und Gesellschaft 16 (3) (1990), S. 318-342.
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tionsverfahrens, dass ein Richter, der zugleich die Anklage vertrat, über einen anhängigen Fall ohne Anhörung schriftlich verhandelte und alleine entschied, wurde abgeschafft. Napoleons Erlass galt auch für weite Teile des westlichen Deutschlands und wurde vor allem in den Rheinlanden im Kern übernommen. Nicht jedoch im preußischen Kernland. Hier holte das Ministerium Gutachten von Gerichtspräsidenten für die preußische Justizverwaltung ein, um die Ansichten der Richter zu erfragen. Der Gerichtspräsident aus Insterburg in Ostpreußen plädierte für die Abschaffung und argumentierte ausschließlich von der Vernünftigkeit der Prozessführung her. Er sah in der Trennung von Anklage, Verteidigung und richterlichem Urteilsspruch sowie in der Mündlichkeit der Verhandlung eine Stärkung des Richteramtes selbst.18 Er vermied Bezüge auf die „Menschenrechte“, weil er wohl richtig vorausahnte, dass das Ministerium gegen solche „französisch“ klingenden revolutionären Argumente eingestellt war. Vielleicht waren sie ihm auch selber suspekt. Entscheidend ist an diesem Beispiel, dass die Trennung von Anwalt, Anklage und Richter als ein Schritt der Professionalisierung hergeleitet wurde. Das Richteramt würde gestärkt, die Verfahrensführung entlastet; der Prozess insgesamt transparenter und weniger fehleranfällig. Dagegen argumentierte die preußische Justizverwaltung noch bis 1848 defensiv für die Beibehaltung der Schriftlichkeit und die Prozessführung „in einer Hand“, also gegen das moderne Anklageverfahren, bis es dann unter dem Druck der Verhältnisse während der 1848er Revolution wiederum von dieser Verwaltung selbst eingeführt wurde.19 Der Professionalisierungsschritt erfolgte zwar „von Oben“, er war aber von Unten längst vorbereitet und wurde dort erwartet, während die institutionelle Sphäre der Politik die geforderte Entwicklung jahrzehntelang gebremst hatte. – Ganz ähnlich gelagert ist die Reform des Ehescheidungsrechts in Deutschland im Jahre 1977, die das Schuldprinzip durch das Zerrüttungsprinzip ablöste. Schon in den 1920er Jahren finden sich Belege in Schriften von Anwälten und Richtern, die auf die verfahrensrechtlich unsinnigen Konsequenzen des Schuldprinzips hinweisen, das Eheleuten, die sich scheiden lassen wollten, dazu zwang, dem Richter selbst dann ein schuldhaftes Verhalten eines der Eheleute „vorzuspielen“, wenn beide dies gar nicht annahmen und eine beidseitige Einsicht in das Scheitern der Ehe vorlag. Die Anwälte hatten Routinen dafür entwickelt, den Eheleuten die richtigen Sätze einüben zu lassen und die Richter wussten dies natürlich. Trotzdem wurde diese Regelung erst 1977 geändert. Die Unterscheidung einer Professionalisierung von Oben und einer Professionalisierung von Unten macht also Sinn, wenn man die Etablierung von Rahmen18 Ich beziehe mich auf eine bislang unveröffentlichte Analyse, die Andreas Müller-Tucholski im Kolloquium des SFB 435 im Jahre 2002 vorgetragen hatte. 19 Ebert, Ina: „Die preußische Justizreform im Umfeld der Revolution von 1848/49“, in: Saar, Stefan/Roth, Andreas/Hattenhauer, Christian (Hg.): Recht als Erbe und Aufgabe. Berlin 2005, S. 189 ff.
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bedingungen der Berufspraxis institutionengeschichtlich beschreibt und einige typische Entwicklungslinien gegeneinander absetzen will. Die Geschichte der Professionen würde aber vermutlich etwas anders geschrieben werden müssen, wenn man mehr über die wiederkehrenden Handlungsprobleme wüsste, die den Alltag der Professionen beherrschen. Dann würde man vermutlich häufiger sehen, dass Entwürfe zu einer Verbesserung institutioneller und struktureller Rahmenbedingungen professionalisierter Praxis wohl immer etwas früher bei Vertretern der Berufspraxis vorliegen, als bei den offiziellen Repräsentanten des Berufsstandes oder im politischen Personal von Ministerien.
D IE „ REVIDIERTE “ P ROFESSIONALISIERUNGSTHEORIE Wir kommen damit auf die grundlagentheoretische Frage zurück, worin die Leistung der Professionen für die Gesellschaft besteht. Parsons, Marshall und Hughes hatten die Antwort in der Realisation gesellschaftlicher Werte und wissenschaftlicher Problemlösungen gesehen; der ideologiekritische Ansatz hatte dies verworfen, ohne ein alternatives Modell anzubieten. Es soll daher erneut versucht angesetzt werden, die Professionen von anderen Berufen abzugrenzen. Allerdings werden wir uns nicht mehr primär an den institutionellen Merkmalen orientieren, sondern die berufliche Praxis selbst ins Zentrum der Analyse rücken. Dabei nähern wir uns in einer einkreisenden Bewegung der Antwort allmählich an. Markt und Administrationen Ein erster, sehr einfacher, aber höchst folgenreicher Befund verbirgt sich hinter der Beobachtung, dass Professionen Berufe sind, die bei genauer Betrachtung keinen wirtschaftlich gewerblichen Erfolg zum Zweck ihres Berufshandelns haben. Sie tragen weder etwas zur Versorgung der Bevölkerung mit Gütern bei, noch bieten sie gewerbliche Dienstleistungen im Sinne standardisierbarer Routinen an. Sie produzieren nichts, vertreiben nichts und handeln auch nicht mit Gütern. Damit unterscheiden sie sich von den meisten Wirtschaftsberufen in Industrie, Landwirtschaft, produzierendem oder verarbeitendem Gewerbe, aber auch vom Handwerk, vom Kredit- und Bankgewerbe, vom Versicherungswesen oder vom Einzel-, Groß- und Außenhandel. Professionen stellen keine Investitionsgüter bereit, – weder Maschinen, noch Software oder anders geartete standardisierbare Problemlösungen. Noch stellen sie Genuss- und Konsumgüter her. Ihre Tätigkeit dient auf der anderen Seite aber auch nicht der Administration und Verwaltung in Unternehmen, Betrieben oder im Staat. Ihre Aufgabe liegt weder in der Registratur oder Buchhaltung, noch in der Geschäftsführung, weder in der strategischen Planung, noch in der Kon-
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trolle des Vollzugs einer Verwaltungsvorschrift. Zwar ist den Professionen überall eine Berichts- und Dokumentationspflicht auferlegt, ist ihr Handeln auf vielfältige Weise in bürokratische Abläufe eingebunden, und spielen wirtschaftliche Aspekte wie in allen Berufen eine erhebliche Rolle. Doch diese Tätigkeitskomponenten sind für ihre Praxis nicht konstitutiv. Man kann die Professionen daher kategorial weder zu den gewerblichen, gewinnorientierten Wirtschaftsberufen, noch zu den Verwaltungsberufen rechnen. Die soziologischen Handlungsmodelle des homo oeconomicus oder der Organisationssoziologie sind daher weitgehend unbrauchbar, wenn es darum geht, das Handeln der Professionen zu beschreiben. Sie erfassen immer nur Randaspekte. Eine wichtige Konsequenz aus dieser Beobachtung ist zum Beispiel, dass die Mechanismen, die normalerweise in Wirtschaft und Verwaltung darauf hinwirken, dass Akteure, also Angestellte und Unternehmer eine durchschnittlich hochstehende Qualität ihrer Arbeitsleistung zu erbringen bestrebt sein müssen, in der professionalisierten Praxis nicht im gleichen Umfang zum Tragen kommt. „Die professionalisierte Praxis kann weder durch den Markt, noch durch eine staatliche Administration erfolgreich kontrolliert werden.“20 Um sich diese Behauptung klar zu machen, ist es sinnvoll, kurz auf die Funktionsweisen von Märkten und staatlichen Administrationen einzugehen. Der Markt übt einen wirkungsvollen Anreiz aus vermittelt über den Wettbewerb zwischen mehreren Anbietern. Konkurrenz hält Akteure dazu an, sich mit erfolgreichen Produkten oder Dienstleistungen um Kunden und Marktanteile zu bemühen und dabei am realen Marktgeschehen zu orientieren. Ein Unternehmen ist gehalten, seine Produkte am Bedarf der Kunden auszurichten; eine zufriedenstellende Qualität zu liefern, im Preis-Leistungs-Verhältnis mit den Angeboten von Mitwettbewerbern mitzuhalten und über eine Kostendeckung hinaus Gewinne zu erwirtschaften. Dies ist nur möglich, wenn alle Kostenfaktoren einer ständigen Wirtschaftlichkeitsprüfung unterzogen bleiben und Potentiale einer technologischen und organisatorischen Rationalisierung des Arbeitsprozesses konsequent ausgeschöpft werden. Da sich alle Unternehmen an diesen Geboten mehr oder weniger orientieren, kommt es darauf an, mit seinen Produkten der Erste, der Beste, der Günstigste zu sein oder irgendeinen von vielen denkbaren Vorteilen auszunutzen. In keinem Fall darf ein Unternehmen bei den branchenspezifischen Rationalisierungsprozessen dauerhaft zurückstehen. Nur wer rechtzeitig investiert, hat die Aussicht auf eine Stabilisierung von Marktanteilen. Wer hingegen mit falschen Produkten am realen Bedarf vorbei operiert und zu spät auf Rationalisierungsprozesse reagiert, droht vom Markt zu verschwinden. Diese unbarmherzige Logik des Marktes kommt insofern dem Ge20 Oevermann, Ulrich: „Skizze einer revidierten Theorie professionalisierten Handelns“, in: Combe, Arno/Helsper, Werner (Hg.): Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns, Frankfurt/Main 1996, S. 70 ff.
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meinwohl zugute, als sie dazu anhält, die einem Unternehmen anvertrauten Ressourcen an Kapital, Menschen und natürlichen Gütern im Sinne wirtschaftlich erfolgreicher Problemlösungen bedarfsgerecht einzusetzen. Der Anreiz, der vom Markt ausgeht, ist ganz einfach: Erfolg erhöht die Aussichten auf monetäre Gewinne, (deren „gerechte“ Verteilung dann zwischen Eigentümern und Angestellten/Arbeitern ausgehandelt werden kann), Misserfolg bedroht ein Unternehmen mit der Existenzkrise. Dieses ordnungstheoretische Argument der klassischen Politischen Ökonomie setzt natürlich viele Dinge voraus, die keineswegs immer gegeben sind: Rechtssicherheit, öffentliche Infrastruktur (z.B. Verkehrswege), eine öffentliche „Legitimität des Marktes“, ungefähr gleichstarke Marktteilnehmer (fehlender Verdrängungswettbewerb), gewisse moralische Bindungen der Marktteilnehmer (Vertragstreue, Kaufmannsehre), Tariffrieden zwischen Arbeitnehmer und -Geber, eine hinreichende Versorgung mit Investitionskapital (Krediten), und einiges mehr. Es gibt allerdings noch eine Bedingung ganz grundsätzlicher Art, die in ihrer Elementarität nicht immer genügend beachtet wird, aber für die soziologische Modellbildung überaus wichtig ist. Sie besteht darin, dass ein Markt sich überhaupt nur für solche Produkte oder Dienstleistungen entwickeln kann, die Gegenstand eines gebrauchswert-differenten Äquivalententauschs werden können. Das ist keineswegs bei allen Tauschhandlungen der Fall. Der Äquivalententausch, sei er nun geldwirtschaftlich entwickelt oder im Naturalientausch archaisch organisiert, setzt voraus, dass der Gegenstand des Tausches von konkreten Umständen und Personen seiner Erzeugung und seines Gebrauchs (Verzehrs) abgelöst und im Prinzip auf unzählig viele Bedarfslagen übertragen werden kann. Nur so kann er warenförmig werden. Ein Objekt kann warenförmig werden, wenn ihm eine Problemlösungsqualität innewohnt, die nicht an eine konkrete Lebenspraxis gebunden ist, sondern für viele Lebenspraxen als Problemlösung in Frage kommt. Eine solche Qualität kann in stofflichen Eigenschaften eines Materials, z.B. im Nährwert eines Apfels oder im Brennwert von Holz liegen; es kann das Resultat einer komplexen technischen Problemlösung sein, die in einem Werkzeug, Apparat oder einer Software repräsentiert ist, oder in sonst irgendeiner Qualität, die einem Objekt die Eigenschaft verleiht, für die Lösung irgendeines Problems einsetzbar zu sein. Entscheidend ist, dass die Problemlösungsqualität unabhängig von fallspezifischen Umständen des Auftretens eines Problems betrachtet werden kann. Und das kann sie nur, wenn das Problem selbst seiner Art nach gesellschaftlich verallgemeinerbar ist. Es entspricht einem wiederkehrenden Muster oder Schema. Im Winter haben z.B. alle Haushalte das Problem, die Wohnräume heizen und ausreichend Brennstoffe für die Heizungsanlagen vorhalten zu müssen. Es gibt verschiedene Lösungswege, Brennstoffe und Heizungstypen, doch das Grundproblem bleibt sich gleich. Gefordert ist immer die Umwandlung/Gewinnung von stofflich gespeicherter Energie in Wärme. Dabei gibt es hochgradig individuelle Bedarfslagen, die mit der Größe, Bauart oder Dämmung
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von Gebäuden zusammenhängen. Doch die Grundform einer Problemlösung wird dadurch nicht berührt. Nur einzelne Variablen (z.B. die Menge des Brennstoffs) müssen angepasst werden. Das gleiche gilt für Werkzeuge oder Software. Ein Schraubenzieher kann z.B. in verschiedenen Größen für verschiedene Schrauben entworfen werden: Es bleibt die Grundidee eines mechanischen Drehens einer schmalen Metallkante an der Spitze eines Metallstiels in einem Widerstand bietenden Schlitz oder Kreuzschlitz eines entsprechenden Gegenstücks der Schraube, die der Befestigung eines Objekts durch Eindrehen dient. Es gibt tausende Spezialschlüssel und Millionen Anwendungsfelder, aber die zugrundeliegende Idee wird bloß variiert. Nur Objekte, die einem solchen Problemlösungsmuster entsprechen, können warenförmig getauscht werden. Und nur wenn die Bedarfslage gesellschaftlicher Natur ist, kann sich ein Markt bilden. Man macht sich dies vielleicht besser klar, wenn man sich vor Augen führt, dass es Tauschhandlungen gibt, die nicht warenförmig sind. Das sind solche Leistungen, deren Vollzug an eine konkrete Person gebunden ist. Die Grußhandlung, der Austausch von Gruß und Grußerwiderung ist der elementarste Fall. Aber auch die Gabe, das Geschenk, das Präsent folgen nicht der Logik des zweckrationalen Tauschs von Nutzgütern, sondern der Bekräftigung einer Vergemeinschaftung.21 Auch hier gibt es einen Äquivalententausch. Doch dieser Tausch orientiert sich nicht an der Logik eines verhandelbaren Gegenwerts. Jede Gabe erfährt eine Erwiderung im Dank. Geschenkt wird nicht mit dem Ziel, ein Gegengeschenk zu erhalten, das einem konkreten Gebrauchswert hat. Schenken folgt einem Gebot der individuellen Angemessenheit, bei dem ein Geld- oder Sachwert zwar symbolisch auch wichtig sein kann, aber niemals entscheidend ist und oft sogar störend oder entwertend sein kann. Wichtig ist, dass man etwas von sich schenkt, zeigt, dass man sich Mühe gegeben hat, Wünsche des Anderen zu erahnen. Im Schenken wird eine zweckfreie Reziprozität und Vergemeinschaftung um ihrer selbst willen bekräftigt. Ein Ehepartner, der seinem Partner Geldgeschenke machen würde, hat aufgegeben, gibt zu erkennen, dass er aufgehört hat, sich um den Partner als individuiertem Gegenüber zu bemühen. Das Schenken ist zur Routine abgesunken, die Partnerschaft faktisch gescheitert. Denn in einem Präsent ist ausgedrückt, was einem die Sozialbeziehung selbst wert ist. Dies lässt sich aber gerade nicht im standardisierten Äquivalent „Geldwert“ ausdrücken. Man muss demnach zwischen gebrauchswert-differentem und gebrauchswertindifferentem Äquivalententausch unterscheiden. Mit der warenförmigen Veräußerbarkeit einer dinglich verkörperten Problemlösung hängen nun einige Merk21 Vgl. Mauss, Marcel: Die Gabe. Die Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. Vorwort von E.E. Evans-Pritchard. Übersetzt von Moldenhauer, Eva, Frankfurt am Main 1968, (Nachdruck zuletzt 2009).
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male zusammen, die für unsere Argumentation wichtig sind. Zunächst erwächst daraus ein wichtiges Kriterium für den soziologischen Begriff der Arbeit. Arbeit ist die Anstrengung, die notwendig ist, damit Problemlösungen bereitgestellt werden können. Sie ist daran gebunden, dass das Resultat der Anstrengung veräußerungsfähig ist und von einer konkreten Lebenspraxis abgelöst werden kann. Arbeit ist demnach ein Beitrag zu gesellschaftlich verallgemeinerbaren Problemlösungsprozessen und daran gebunden, dass ein Produkt oder eine Dienstleistung, die eine Problemlösung darstellen, an einem Markt nachgefragt wird. Für Arbeit kann eine Entlohnung erzielt werden, weil sie Quelle von Werten ist. Es ist daher wenig sinnvoll, von Beziehungsarbeit, Trauerarbeit oder Erziehungsarbeit zu sprechen, wie dies im Zusammenhang mit dem Bemühen einer Aufwertung häuslicher und familiärer Tätigkeiten oft vorkommt. Dieser Sprachgebrauch verwischt, dass Arbeit einen marktförmigen, gebrauchswert-differenten Äquivalententausch voraussetzt, der in diffusen Sozialbeziehungen gerade nicht vorliegt. Die Erziehung von Kindern, das Pflegen von Angehörigen oder die Bewältigung von Lebenskrisen ist eine notwendige und selbstverständlich anstrengende Tätigkeit, die elementar ist. Man wertet sie jedoch nicht dadurch auf, dass man sie dem Begriff der Arbeit subsumiert und ihren nicht veräußerbaren Charakter damit begrifflich unkenntlich macht. Man sollte also darauf verzichten. Ist jedoch eine dingliche Problemlösung warenförmig veräußerbar, gelten eine Reihe an Bedingungen, die für einen Markt konstitutiv sind. Sie kann von vielen verschiedenen Akteuren angeboten werden. Man kann sie standardisieren und normieren. Ihre Bereitstellung ist eine Routine, die erlernt werden kann. Man kann sich auf diese Bereitstellung beruflich spezialisieren. Das Anbieten und Nachfragen wird rollenförmig und bringt den „Unternehmer“ und den „Kunden“ hervor. Die Bereitstellung lässt sich betriebsförmig organisieren. Ist ein Problem verallgemeinerbar, kann man nach alternativen Problemlösungsroutinen suchen und jede der Komponenten auf Möglichkeiten einer Optimierung hin absuchen. Für unser Argument vor allem zentral ist der Umstand, dass man für bekannte Problemlösungsroutinen den Arbeits- und Kostenaufwand wirtschaftlich kalkulieren kann. Man kann errechnen, wie viel Zeit man für Herstellung, Vorbereitung und Ausführung benötigt, was Rohmaterialien kosten, wie viel Personal eingesetzt werden muss oder welches Fachwissen es benötigt. Erst diese Kalkulierbarkeit ermöglicht es, dass sich für ein bestimmtes Produkt ein Markt mit einem lebendigen Wettbewerb und einer Preisbildung entwickelt, dass Kunden verschiedene Angebote eines vergleichbaren Problemlösungsprodukts einholen, dass das Preis-Leistungs-Verhältnis dieser Angebote sachlich verglichen und nach einem Kauf die Qualität der Leistung im Hinblick auf die nachgesuchte und zugesicherte Problemlösung bewertet werden kann. Nur ein Äquivalententausch von Gütern und Dienstleistungen, die dinglich geronnene Problemlösungen verkörpern, ist vertragsförmig und kann in den Bedingungen der Transaktion (Preis, Menge, Qualität, Liefertermin, etc.) ausgehandelt werden, was
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es erlaubt, dass bei Nichterfüllung ein Käufer nachträglich Regressansprüche stellen oder von Vertragspflichten zurücktreten und ein Richter im Zivilprozess über strittige Fragen urteilen kann. Der Markt als Mechanismus eines Anreizes zur Leistungskontrolle kann also nur dann strukturell greifen, wenn Güter und Dienstleistungen diesem Typus von Problemlösungsroutinen entsprechen. Das ist für die höhere Wirtschaftstheorie trivial, für die soziologischen Grundlagen des Wirtschaftslebens aber elementar. Wie noch gezeigt werden wird, sind die Professionen Berufe, in denen dieser Mechanismus gerade nicht greift, weil die wichtigsten strukturellen Voraussetzungen eines Marktes gar nicht gegeben sind. Ähnlich verhält es sich übrigens mit der administrativen Kontrolle, die eine sachangemessene Arbeitsleistung im Verwaltungshandeln gewährleistet. Verwaltungsstäbe und Behörden sind Arbeitseinheiten, deren Aufgabe in der Ausführung von Arbeitsprogrammen beruht, die Problemlösungsschemata darstellen und ihnen von einem Geschäftsführer oder einem politischen Souverän (Ministerium) im Rahmen einer übergeordneten Praxis übertragen werden, die für die Bewältigung bestimmter Aufgaben verantwortlich ist. Mitarbeiter einer Behörde entscheiden daher nicht selbst, welche Problemlösung für ihren Aufgabengebiet die beste wäre. Sie führen nur aus, was der Gesetzgeber oder eine Eigentümerversammlung schon entschieden hat, und prüfen, ob Kriterien erfüllt sind, die aufgestellt wurden, damit Mittel eines Programms zur Anwendung kommen. Sie subsumieren Ereignisse, Daten und Fälle, von denen sie Kenntnis bekommen, vorgegebenen Kriterien, und entwerfen nicht umgekehrt aus der Kenntnis eines Falles ad hoc geeignete Maßnahmen für dessen Bearbeitung. Ihre Zuständigkeit bewegt sich immer im Rahmen des Auftrags. Charakteristisch ist, dass besondere Umstände eines Falles, die nicht in der Schablone vorhergesehen sind, von Verwaltungsangestellten auch nicht berücksichtigt werden können. Kommen sie mit Fällen in Berührung, die sie nicht unter gegebene Kriterien subsumieren können, sind sie gehalten, nicht eigenmächtig über ihre Kompetenzen hinauszugehen, sondern die Entscheidung über das Verfahren an eine nächsthöhere Instanz zurück zu delegieren. Dieses formalrationale Prinzip des Verwaltungshandelns gilt sogar noch für Ermessensspielräume. Diese ergeben sich ja daraus, dass konkrete Umstände und Besonderheiten von Fällen nicht vorhergesehen und daher immer nur allgemeine Lösungsmittel beschrieben werden können. In Grenzfällen muss die Verwaltung daher den Willen eines Auftragsgebers interpretieren. Wie der Begriff des Ermessensspielraums aber schon sagt, ist dieser Spielraum von Optionen klar umrissen und stellt eine Ausnahmeregelung dar. Was im Ermessen eines Verwaltungsangestellten liegt und wie groß die Spannweite seiner Optionen ist, ist selbst noch nach formalrationalen Kriterien bestimmt. Das Verwaltungshandeln beruht also auf Schablone, die auf Fälle angewandt werden, um herauszubekommen, welchem Problemlösungsmuster er entspricht. Die Schablone ist eine (manchmal hochkomplexe)
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Konfiguration von Parametern, die in ihren Wertebelegungen variieren kann, aber nicht in der Konfiguration selbst und in der Beziehung der Parameter zueinander. Daher steht das Ergebnis einer Antragsprüfung oder einer Steuererklärung oder einer Reklamation sachlich im Prinzip immer schon vorher fest, auch wenn dieses Ergebnis manchmal mühevoll erarbeitet werden muss. Aus diesem Grund folgt der Mechanismus der Leistungskontrolle im Verwaltungshandeln einer eigenen Logik und orientiert sich an der korrekten Ausführung der Auftragsroutine. Das administrative Kontrollhandeln gehört zu dieser Routine wie selbstverständlich hinzu. Sie entspricht einer Fehlersuche, die darauf aufbaut, die korrekte Anwendung einer Schablone auf einen Fall nachzuprüfen. Diese Prüfung operiert mit derselben Schablone wie die Fallbearbeitung selbst, sie dient der Nachkorrektur und wendet die gleichen Algorithmen an. Dabei sind es in erster Linie die Verwaltungsstellen selbst, welche die meisten Kontrollen durchführen. Mitarbeiter und Vorgesetzte rechnen gewohnheitsmäßig nach, zeichnen gegen oder führen Revisionen durch und legen in Berichten Rechenschaft ab. Eine externe Fremdkontrolle durch Agenturen, Rechnungshöfe oder Revisionsabteilungen ist nur eine zusätzliche Maßnahme, die den korrekten Vollzug des betriebseigenen Kontrollhandelns kontrollieren soll. Schon deren Ankündigung ist hochgradig wirksam. Der Anreiz zu einer sachlich angemessenen Arbeitsleistung geht im Verwaltungshandeln also davon aus, dass die Erwartung einer umsichtigen, effizienten und regelkonformen Erfüllung des Auftrags zu einer Beförderung und Sondervergütung führt, während die Nichterfüllung rechenschaftspflichtig ist und im Extremfall zu einer Sanktion und Degradierung führen kann. Auch hier lautet das Argument, dass der Mechanismus der Leistungskontrolle nur greift, wenn es sich bei der Leistung um die Ausführung von Routinen handelt, die als Schemata von einer Lebenspraxis abgelöst werden können, so dass sie unabhängig von Personen, die sie ausführen, und unabhängig von Personen, auf die sie angewandt werden, operieren können. Krisentheoretische Grundlage Es sind diese beiden Kontrollmechanismen des Marktes und der Administration, von denen behauptet wird, dass sie in der Berufspraxis der Professionen nicht zur vollen Wirksamkeit gelangen können. Um zu verstehen, warum dies so ist, muss man sich erneut der Frage zuzuwenden, was die Leistung der Professionen für den Erhalt einer Kultur ist. Auch sie sind daran beteiligt, Problemlösungsroutinen bereitzuhalten, aber es gibt einen strukturellen Unterschied zu den gewerblichen Berufen und zum Verwaltungshandeln. Um diesem Unterschied auf die Spur zu kommen, muss man sich der Praxis selbst zuwenden und die Frage beantworten, welche Art von wiederkehrenden Problemlagen hier eigentlich bearbeitet wird. Dabei wird man auf folgende strukturelle Gemeinsamkeit aller Professionen gestoßen: Profes-
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sionen haben sich darauf spezialisiert, stellvertretend für einen Klienten Krisen zu bewältigen. Das Ziel ihrer Praxis ist die Bewahrung und Wiederherstellung einer lebenspraktischen Autonomie, die durch Krisen bedroht oder schon beeinträchtigt ist und von der Lebenspraxis aus eigenen Mitteln nicht wiedererlangt werden kann. Professionen übernehmen es, die Ursachen einer Krise zu klären, entwerfen Pläne und geeignete Maßnahmen, die aus ihr herausführen sollen, übernehmen die Durchführung solcher Maßnahmen und leiten Klienten darin an, solche Maßnahmen selbstständig zu bewerkstelligen. Dafür halten sie ein Expertenwissen bereit, das sie seit Jahrhunderten weiterentwickeln. Der Begriff der Krise, wie er hier gebraucht wird, geht über die umgangssprachliche Bedeutung des Wortes weit hinaus. Er leitet sich aus einem grundlagentheoretischen Modell ab, das die Lebenspraxis als spannungsreichen Gegensatz von Krise und Routine konstruiert.22 Krisen liegen vor, wenn eine Lebenspraxis mit Umständen oder Situationen konfrontiert ist, die es ihr unmöglich machen, ihre alltäglichen Routinen und Handlungspläne fortzusetzen. Für Krisen gilt, dass man sie nicht folgenlos ignorieren kann. Eine Krise zu missachten würde diese nicht beseitigen, sondern folgenreich verschlimmern oder gar dramatisch zuspitzen. Eine Krise beeinträchtigt folgenreich die Selbständigkeit einer Lebenspraxis, und zwar unabhängig davon, ob sie manifest und bewusst ist oder noch verdrängt wird. Ursprüngliche Handlungspläne lassen sich daher erst wieder aufnehmen, wenn Schritte einer Überwindung der Krise eingeleitet sind. Insofern bezeichnen Krisen immer eine Außeralltäglichkeit. Damit ist schon gesagt, dass Krisen untrennbar mit einer je konkreten Lebenspraxis verknüpft sind. Es ist immer ein Mensch, ein Paar, eine Gemeinschaft, die Krisen haben, und darin unterscheiden sich Krisen von „Problemen“ oder „Aufgaben“, die abgelöst von je konkreten Lebenspraxen betrachtet und im Prinzip von jedem gelöst werden können. Krisen können hingegen nur von derjenigen Lebenspraxis bewältigt werden, die von ihr betroffen ist. Darin, dass sie 22 Die nachfolgende Argumentation hält sich an das von Oevermann ausgearbeitete Modell der Lebenspraxis als widersprüchlicher Einheit von Krise und Routine. Eine ausführlichere Begründung des Modells findet sich in: Oevermann, Ulrich: „Sozialisation als Prozess der Krisenbewältigung“, in: Geulen, Dieter/Veith, Hermann (Hg.): Sozialisationstheorie interdisziplinär – Aktuelle Perspektiven, Stuttgart 2004, S. 155-181; ders.: „Die objektive Hermeneutik als unverzichtbare methodologische Grundlage für die Analyse von Subjektivität. Zugleich eine Kritik der Tiefenhermeneutik“, in: Jung, Thomas/ Müller-Doohm, Stefan (Hg.): „Wirklichkeit“ im Deutungsprozess: Verstehen und Methoden in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Frankfurt am Main 1993, S. 106-189. Ferner und bislang m.E. am klarsten ausgeführt, aber leider noch unveröffentlicht in: ders.: „Krise und Routine“ als analytisches Paradigma in den Sozialwissenschaften (Frankfurter Abschiedsvorlesung
2008)
http://www.ihsk.de/publikationen/Ulrich-Oevermann_Ab
schiedsvorlesung_Universitaet-Frankfurt.pdf.
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dies schafft, begründet sich ihre Autonomie. Autonomie ist hier keine ethische Kategorie, sondern eine in einer je konkreten Bildungsgeschichte gewachsene Befähigung, das Leben angesichts je konkreter Gegebenheiten bewältigen zu können. Autonom ist eine Lebenspraxis, wenn sie die sich ihr stellenden Krisen aus eigener Kraft bewältigt oder wenn sie sich Hilfen sucht, nachdem sie sich eingestanden hat, dass sie es nicht aus eigener Kraft schafft. Autonom ist also nicht gleichbedeutend mit autark, sondern steht in Relation zu den je gegebenen Lebenslagen und Belastungen einer Lebenspraxis. Der Begriff der Krise muss immer im Gegensatz zum Begriff der Routine gesehen werden. Krisen manifestieren ein Ungenügen und Zusammenbruch von Routinen. Sie offenbaren, dass eine Lebenspraxis mit etwas konfrontiert ist, für dessen Bewältigung sie keine Routinen (mehr) zur Verfügung hat. Routinen gehen ihrerseits immer aus erfolgreichen Krisenbewältigungsprozessen hervor. Sie sind nichts anderes als Krisenlösungen, die sich bewährt haben. Sie bewähren sich, wenn sie erfolgreich darin sind, eine ursprüngliche Krise überwinden zu helfen und nicht wieder aufkommen zu lassen. Gelingt dies einem Handeln, wird die eingeschlagene Lösung ins Handlungsrepertoire aufgenommen. Sie veralltäglicht sich, verliert ihren krisenhaften Charakter und wird irgendwann mehr oder weniger automatisch ausgeführt, bis sie irgendwann überhaupt nicht eigens wahrgenommen und hinterfragt werden kann. Damit ist zum einen die schwierige Aufgabe einer soziologischen Untersuchung von Krisenlösungsprozessen aufgeworfen. Zum anderen geht damit eine methodische Umkehrung des Verhältnisses von Krise und Routine einher, das normalerweise in der Praxis vorherrscht. Während nämlich in der Praxis die Krise der Ausnahmefall ist, den es zu vermeiden und zu überwinden gilt, und die Routine der anzustrebende Normalfall, verhält es sich in der Wissenschaft genau umgekehrt und ist die Routine der abgeleitete Grenzfall und die Krise der Normallfall, für den man sich eigentlich interessiert.23 Da die Krise kausalanalytisch allen Routinen vorausgeht, setzt die Erklärung des Erfolgs oder Misserfolgs von Routinen die Rekonstruktion und deutende Bestimmung der einst ihrer Entstehung zugrundeliegenden Krisenkonstellationen voraus. Man wird in dieser Perspektivenumkehr dazu angeregt, hinter jeder Routine die ursprüngliche Krise zu suchen, für die jene sich als Lösung anbot und ergeben hat. Auf diese Weise lässt sich kontrastiv entwerfen, für welche Krisenkonstellationen eine Routine geeignet ist und warum eine Routine gegebenenfalls in einer neuen Situation als Krisenlösung nicht mehr ausreicht oder eine neue Krise selbst sogar hervortreibt. Mit diesem rekonstruktionsmethodischen Ansatz lässt sich außerdem die Frage aufwerfen, welche Optionen einer Lebens-
23 Oevermann, Ulrich: Künstlerische Produktion aus soziologischer Perspektive, in: RhodeDachser, Christa (Hg.): Unaussprechliches gestalten. Über Psychoanalyse und Kreativität, Göttingen 2003, S. 128-157, dort S. 129.
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praxis je konkret gegeben waren bzw. sind, um eine Krise zu bewältigen, und warum sie diese und nicht jene anderen Optionen gewählt hat. Man erhält so ein Modell von Lebenspraxis, das in der Lage ist, die Lebenspraxis zu beschreiben als eine Instanz der Krisenbewältigung, die auf eine Geschichte von bereits erfolgten Krisenbewältigungsprozessen aufbaut. Diese Geschichte ist immer je fallspezifisch konkret und stellt sich als eine Abfolge des Gelingens und Misslingens, als erfolgreiche Ablösung und Traumatisierung dar. In ihr zeigt sich die Lebenspraxis als eine Lebensmitte, die sich angesichts neuer Lebenslagen und Herausforderungen immer so viel Autonomie erhält, wie sie auf der Basis ihrer vorangegangenen Lebensgeschichte maximal erreichen kann. Für die Professionssoziologie ist nun wichtig, dass es verschiedene Typen von Krisen gibt. Als paradigmatisch für die Modellbildung kann die Entscheidungskrise gelten. Sie ist konstituiert durch die Dialektik von Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung. Entscheidungskrisen liegen vor, wenn in eine offene Zukunft hinein entschieden werden muss und ein Handlungssubjekt zwischen verschiedenen Handlungsoptionen wählen muss, ohne vorausberechnen zu können, welche der Optionen richtig sein wird. Die Richtigkeit seiner Wahl lässt sich erst im Nachhinein herausfinden, wenn sich zeigt, ob sich eine gefundene Lösung bewährt und die Krise auflöst. Das Entscheidungssubjekt hat also keine Kalküls oder Präferenzsysteme zur Verfügung, aus denen es seine Entscheidung ableiten könnte. Krisenhaft ist eine Entscheidungssituation immer dann, wenn nicht abgewartet werden kann, bis sich die Situation auflöst. Das ist der Fall, wenn ein Nicht-Entscheiden den Verlust von Handlungsoptionen zur Folge hätte. Dann wäre ein Nicht-Entscheiden auch eine Entscheidung und würde die Autonomie noch weiter beeinträchtigen. In Entscheidungskrisen herrscht also ein zeitlicher Vollzugsdruck. Ein Entscheidungszwang besteht nun insofern, als man sich auf eine Option festlegen und andere Optionen fallen lassen muss. Dies ist die Bedingung dafür, dass die gewählte Option überhaupt eine Chance erhält, in der Praxis zeigen zu können, ob sie sich bewähren wird oder nicht. Die Entscheidung erfolgt jedoch in dem Bewusstsein, dass das Entscheidungssubjekt nie herausfinden wird, ob auch andere Optionen sich bewährt haben würden, besser gewesen wären oder wie ein Lebensverlauf ausgesehen hätte. Obwohl in eine offene Zukunft hinein entschieden wird und sich im Moment einer Entscheidung rationale Gründe für eine Option gar nicht angeben lassen, weil diese Begründung erst im Nachhinein gegeben werden kann, wenn sich zeigt, ob sich eine Entscheidung bewährt oder nicht, nimmt ein Entscheidungssubjekt dennoch im Moment der Entscheidung bereits in Anspruch, dass die getroffene Wahl begründbar sein wird. Diese paradoxe Inanspruchnahme einer Begründbarkeit ist für die Entscheidung selbst konstitutiv, denn ein Handlungssubjekt kann sich nur dann auf eine Entscheidungsoption einlassen, wenn es daran glaubt, dass sie sich bewähren wird. Nur so kann es sich auf das Risiko eines Scheiterns einlassen und sich an seine eigene Entscheidung gebunden fühlen. Es ist die Vo-
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raussetzung dafür, dass es alles dafür tun wird, damit die getroffene Entscheidung tatsächlich erfolgreich sein kann. Davon ist der Erfolg selbst abhängig. Wenn sich zum Beispiel ein Paar entscheidet zu heiraten, versprechen sich beide Partner, auch über den glücklichen Tag der Hochzeit hinaus alles in ihrer Kraft liegende zu unternehmen, um gemeinsam in die Zukunft gehen zu können. Dabei können sie die Konsequenzen ihrer Entscheidung in dem Moment, da sie getroffen wird, natürlich gar nicht überblicken. Was an Herausforderungen und Belastungen vor ihnen liegt, kann niemand vorhersehen. Sie müssen sich aber an den „Schwur“ binden, alles zu tun, damit das Wagnis gelingt, also die Suche nach anderen Partnern aufgeben, verletzendes Streiten oder einseitige Belastungen vermeiden. Jede Entscheidungskrise hat also etwas von einer kontrainduzierten Self fulfilling prophecy.24 Es ist ein Handeln in eine offene Zukunft, das aber ein erfolgreiches Gelingen antezipieren muss und von diesem Ende aus gedacht einen Bewährungsmut aufbringt, der möglich wird, weil ein Entscheidungssubjekt im Moment seiner Entscheidung an die Richtigkeit seiner Entscheidung glaubt und ein Selbstvertrauen in seine Fähigkeiten mobilisiert, der getroffenen Wahl zum Gelingen zu verhelfen. Ohne eine solche Selbstcharismatisierung würde keine Entscheidungskrise bewältigt werden können. Der Begriff der Selbstcharismatisierung ist bewusst in Anlehnung an Max Weber gewählt. Dessen Typus charismatischer Herrschaft stellt nur einen Sonderfall der Entscheidungskrise dar. Man darf nur nicht in das von einigen Weber-Exegeten25 vorgetragene Missverständnis des Charisma als einer irrationalen, magischen Quelle der Herrschaft verfallen, die in der Ausstrahlungskraft der Person alleine begründet sei. Der Kern des Charisma ist nicht eine irrationale Eigenschaft der Person, sondern der Inhalt eines Krisenlösungsversprechens, das allerdings in der Krise untrennbar mit der Person verbunden ist und insofern auch noch nicht rational genannt werden kann, als es sich erst in der Zukunft herausstellen wird, ob das Versprechen eingelöst werden kann. Man stößt hier auf Grenzen des Rationalitätsbegriffs als Grundbegriff der Soziologie, denn materiale Rationalität lässt sich immer erst an Krisenlösungen ablesen, die sich bereits bewährt haben. Ist die Krise selbst jedoch virulent bzw. akut, ist das Versprechen auf die Bewältigung einer Krise noch etwas, das weder rational noch irrational genannt werden kann, weil darüber noch gar kein Urteil zu fällen ist. Es ist etwas Drittes, das den Keim einer zukünftigen Rationalität in sich tragen, und ebenso sich als Keim einer zukünftigen Irrationalität entpuppen kann. 24 Vgl. Merton, Robert K.: „The self-fulfilling prophecy“, in: Antioch Review, Jg. 8, 1948, S. 193-210; Merton, Robert K.: „Die Eigendynamik gesellschaftlicher Voraussagen“, in: Topitsch, Ernst (Hg.): Logik der Sozialwissenschaften. Köln Berlin 1965. 25 Vgl. Mommsen, Wolfgang: Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920. 3. Aufl. Tübingen 2003.
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Eine andere Konsequenz des Modells ist darin zu sehen, dass für Entscheidungskrisen die Rational-Choice Modelle weitgehend ungeeignet sind. Diese haben ihren Gegenstand dort, wo es der Sache nach prinzipiell die Möglichkeit gibt, eine rationale Wahl für den Moment der Entscheidung zu konstruieren. Dies ist jedoch nur für sehr eingeschränkte Bereiche des Handelns der Fall. In der Ökonomie oder in den Ingenieurwissenschaften lassen sich Vorgänge unter dem Gesichtspunkt eines Nutzen-maximierenden bzw. Kosten-minimierenden Kalküls beschreiben, wenn es sich um dinglich ablösbare Problemlösungen handelt, die warenförmig getauscht werden können. Von diesem ersten Krisentypus der Entscheidung lässt sich ein zweiter Krisentyp abgrenzen. Krisen entstehen auch, wenn eine Lebenspraxis durch von außen hereinbrechende Ereignisse gezwungen wird, ihre bisherigen Handlungspläne zu unterbrechen, wie dies durch Unfälle, Erdbeben, Lawinen oder Tsunamis, Krankheiten jeder Art oder andere dramatische Veränderungen der Lebenssituation (z.B. Hausbrände) geschehen kann. Besonders extreme Beispiele sind Eisenbahnunglücke oder Sprengstoffanschläge. Immer bricht ein Ereignis wie ein rohes Faktum („Brut fact“) in das Leben herein und unterbricht seinen Alltag. Diese Krise ist akut und verlangt nach einer unmittelbaren Überwindung. Oft schließt sich eine Entscheidungskrise unmittelbar an, manchmal ist jedoch eine Traumatisierung eingetreten, die erst überwunden werden muss. Der dritte Krisentypus ist eine Krise, die im Modus der ästhetischen Erfahrung entsteht, wenn die Praxis gerade von allen jenen Bedingungen entlastet ist, die sonst für die ersten beiden Krisentypen konstitutiv sind. Auf diese Krise durch Muße gehen wir gleich ausführlich ein. Es gibt nun Krisenbewältigungsprozesse, die von jeder autonomen Lebenspraxis selbständig bewältigt werden müssen und nicht delegiert werden können. Dazu gehören zum Beispiel die sozialisatorischen Ablösungskrisen, in denen Kinder sich vom Elternhaus lösen. Die letzte dieser Ablösungskrisen ist die Adoleszenz. In ihr muss sich der Jugendliche unausweichlich den krisenhaft bleibenden Bewährungsdimensionen des Erwachsenenalters stellen. Davon kann man nun solche Krisen unterscheiden, deren Bewältigung delegiert werden kann und für die sich deshalb bestimmte Experten entwickeln konnten. Zu diesen Krisen gehören auch jene, auf die sich die professionalisierten Berufe spezialisiert haben. Für die Professionalisierungstheorie ist allerdings wichtig geworden, von den Professionen drei Formen einer stellvertretenden Krisenbewältigung abzugrenzen, die grundsätzlich nicht professionalisiert werden können. Gemeint sind der Politiker, der Unternehmer und der Intellektuelle. Gemeinsam ist allen drei Praxisformen, dass erfolgreiche Krisenlösungsprozesse an die Glaubwürdigkeit einer charismatischen Person gebunden sind. Die Tätigkeit kann nur ausgeführt werden, wenn die Personen selbst daran glauben, dass sie es sind, die eine Krise lösen müssen und dass letztlich nur sie dies können. Sie beruht auf dem Glauben an eine persönliche „Mis-
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sion“ und Erwähltheit, auf dem Gefühl einer einzigartigen Verantwortung, der man sich nicht entziehen darf, und auf der Überzeugung, dass sich das eigene Schicksal damit verbindet, ob eine gemeinschaftliche Krise bewältigt werden wird oder nicht. Dieser Einzigartigkeitsglaube beruht darauf, dass eine Person untrennbar mit einer politischen Gerechtigkeitsprogrammatik, einer unternehmerischen Produktidee oder einer öffentlichen Krisendiagnose exponiert ist und eine Gefolgschaft findet. Dies kennzeichnet den Politiker, den Unternehmer und den Intellektuelle gleichermaßen, auch wenn sie sonst nicht viel gemein haben. Diese drei zentralen Akteure der gesellschaftlichen Problemlösung können nicht zu den Professionen gerechnet werden, und es stellt sich streng genommen sogar die Frage, ob sie überhaupt Berufe darstellen. Es gibt weder Ausbildungen, noch Abschlüsse, es gibt keinen Berufsmarkt, und man kann Politiker, Unternehmer, Intellektueller auch nicht studieren. Es gibt keine Wissenschaft, die entsprechende politische, unternehmerische oder intellektuelle Krisenlösungen systematisch erzeugen könnte. Professionalisierte Berufe erbringen ihre Dienstleistung hingegen auf der Basis eines wissenschaftlichen Expertenwissens. Auch Professionen benötigen für ihre Arbeit Gefolgschaft: Patienten müssen ihrem Arzt darin folgen, was er ihnen verschreibt und prognostiziert, Mandanten ihren Anwälten, was die ihnen vor Gericht raten. Doch diese praktische Gefolgschaft im Handeln begründet sich nicht aus einem Glauben an die konkrete Person, sondern ihre wissenschaftliche Expertise und Erfahrung, an eine fachkundige Fundiertheit und methodische Erprobtheit von Vorgehensweisen. Charismatisch ist hier also die Berufsrolle des Arzte, Richters, Anwalts selbst. Hinter ihr tritt die konkrete Persönlichkeit zurück. Denn die Berufsrolle verpflichtet Professionsvertreter darauf, ihr Handeln gemäß einer wissenschaftlich diskutierten Lehrmeinung heraus zu gestalten, nicht missionarischen Eifer für noch ungesicherte Theorien zu entwickeln. Das Expertenwissen der Professionen setzt sich aus zwei verschiedenen Wissenskomponenten zusammen, die systematisch auseinandergehalten werden müssen. Zum einen aus einem wissenschaftlichen Grundlagenwissen und einer wissenschaftlichen Handlungslehre; dazu gehören allgemeine und spezielle Gegenstandstheorien, Fachkenntnisse über diagnostische und therapeutische Verfahren, Krankheits- und Behandlungslehren, Grundlagen des Rechts, spezielles Recht, Verfahrens- und Prozessrecht, wissenschaftliche Erhebungsmethoden und Auswertungsverfahren und deren methodologische Begründung, Lehrmeinungen und Theorien, Berufsfeldkunde. Zum anderen setzt es sich aus einem handlungslogischen Wissen zusammen, das sich in der Praxis selbst bildet. Dieses praktische Wissen ist seinerseits zu unterteilen in ein ingenieuriales Applikationswissen, das im Beherrschen von Apparaten, Techniken und Technologien besteht, die bei Maßnahmen zur Überwindung einer Krise eingesetzt werden, einerseits; und in ein interventionspraktisches und die Interaktion steuerndes Erfahrungswissen, das nicht in Kursen
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oder Lehrbüchern erlernt, sondern nur in der Praxis selbst erworben werden kann, andererseits. Die entscheidende Besonderheit des professionalisierten Handelns ist, dass wesentliche Komponenten seines Expertenwissens grundsätzlich nicht standardisierbar sind. Das Nicht-Standardisierbarkeits-Argument Standardisierbar sind alle Wissenskomponenten, die im weitesten Sinne auf Techniken, Apparate, Technologien, Verfahren übertragen werden können. Professionen machen sich eine Vielzahl solcher Komponenten zunutze. Dazu gehören ihre Spezialwerkzeuge, Arzneimittel und Software; ebenso methodische oder diagnostische Verfahren, Operationstechniken und Therapien; gerichtliche Verfahren der Prozessführung, der Berufung bzw. Revision eines Urteils; wissenschaftliche Verfahren der Kontrolle von Datenerhebungen und ihrer Auswertung. Sobald sich irgendwo im Arbeitsgebiet der Professionen eine Möglichkeit zeigt, durch den Einsatz neuer Technologien oder Methoden eine Tätigkeiten zu vereinfachen, zu beschleunigen oder überhaupt erst möglich zu machen, werden sie mit dem Ziel ihrer standardmäßigen Verfügbarkeit entwickelt. Es haben sich für diese Erprobung selbst standardisierte Testverfahren etabliert, die eine Anwendbarkeit oder Sicherheit von Problemlösungen im Massenbetrieb sicherstellen sollen, z.B. der Geräte-TÜH, die Arzneimittelverordnung usw. Auf dem Fortschritt im technologischen Bereich beruht im Wesentlichen der enorme Erfolg der Professionen. Gleichwohl ist das professionalisierte Handeln in zentralen Anteilen nicht-standardisierbar. Diese Nicht-Standardisierbarkeit stellt sich in jeder Profession etwas anders dar und man hat sich ihre Ausprägung immer je konkret zu verdeutlichen. Sie wird uns daher beim wissenschaftlichen Handeln noch eingehend beschäftigen. Man kann sich das Argument aber vielleicht am schnellsten klar machen, wenn wir es exemplarisch am ärztlichen Handeln erläutern. Man hat hier einen paradigmatischen Fall und kann diesen später zur Kontrastierung gut nutzen. Das ärztliche Handeln ist in drei Hinsichten nicht standardisierbar. (1) Wenn ein Mensch zu einem Arzt in die Praxis kommt, hat dieser immer einen konkreten Fall vor sich. Dieser Fall präsentiert sich ihm als eine Totalität mit je unverwechselbaren Besonderheiten. Um herauszufinden, wie er seinem Patienten helfen kann, muss der Mediziner zwei gegenläufige methodische Operationen verbinden: Er muss einerseits das Leiden als Ausdruck eines allgemeinen Krankheitstypus erkennen und seine Symptome unter die ihm bekannte Krankheitslehre subsumieren. Dabei geht er methodisch hypothesengeleitet vor und versucht durch Befunde und Gegentests eine möglichst eindeutige Diagnose zu stellen, indem er die Symptome in einen richtigen Zusammenhang zu bringen versucht und konkurrie-
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rende Erklärungsmodelle der Reihe nach ausschließt. Er nutzt dazu naturwissenschaftliche Erklärungsmodelle, die er aus der Grundlagenforschung bezieht und am Patienten gar nicht selbst überprüft, sondern als feststehendes Wissen an seinen Fall heranträgt, weil es der akademisch vorherrschenden Lehrmeinung entspricht. Andererseits hat er stets im Blick zu behalten, dass die Erkrankung immer in eine konkrete Fallgeschichte eingelagert ist, die für sich genommen verstanden werden muss, um spezifische Ursachen und Begleitumstände oder auch Selbstheilungspotentiale richtig einschätzen zu können. Ein Patient entspricht nie abstrakt einem in der medizinischen Krankheitslehre beschriebenen Krankheitsbild. Es gibt immer fallspezifische Hintergründe zu berücksichtigen, die mehr oder weniger wichtig sein können: Vorerkrankungen, psychosomatische Motivierungen, ein bestimmtes Ernährungs- und Hygieneverhalten, psychosoziale Begleitumstände (z.B. Stress, Einsamkeit, familiäre Konflikte), die individuelle Art, auf Krankheit und ärztliche Maßnahmen zu reagieren, und vieles mehr. Auch die Symptomatik einer organmedizinischen Erkrankung selbst kann individuell sehr verschieden ausfallen. Ärzte müssen daher einen Fall immer aus sich heraus typisieren und seine spezifische Fallstruktur rekonstruieren. Sie folgen dabei einer naturwüchsig hermeneutischen Methodik, die den Fall – in wie abgekürzter Form auch immer – in seinem Gewordensein zu bestimmen sucht und eine Erkrankung nicht bloß klassifikatorisch als das Gegenteil von Gesundheit begreift, die dann für sich in Standards einer Normerfüllung von Befunden und Messwerten des Körpers bestünde, sondern als je individueller Ausdruck dessen, was unter den je gegebenen Möglichkeiten eines Lebens vor dem Hintergrund seiner Traumatisierungsgeschichte als maximale Form von Gesundheit erreichbar war. Mit anderen Worten: Auch der Organmediziner deutet Erkrankungen nicht bloß kausalanalytisch, sondern in einem Gesamtzusammenhang von Äußerungen des Lebens. Ärzte bilden also Fallhypothesen, die über das nomothetisch naturwissenschaftliche Wissen hinausgehen. Diese Hypothesen gewinnen sie, indem sie von irgendwelchen Äußerungen des Patienten, die ihnen auffallen, auf dessen Fallstruktur schließen. Dies erfolgt häufig sehr abgekürzt. Selbst Notärzte, die unter großem Zeitdruck z.B. eine Wohnung betreten, in der ein Mensch mit Herzproblemen auf der Coach liegt, dem sie mit einer gezielten Erstversorgung, die sich ausschließlich auf Stabilisierung der Herz-Kreislaufs-Systems und der Atmung konzentriert, das Leben retten müssen, verschaffen sich einen raschen Eindruck, mit wem sie es zu tun haben und wie diese Person lebt, indem sie beim Hereineilen mal schnell den Blick nach rechts und links werfen und wie nebenbei in die verschiedenen Zimmer schauen, um nach signifikanten Dingen Ausschau zu halten, die ihnen Auskunft darüber geben, auf welche „Fallstruktur“ sie treffen werden. Sie wissen sicher nur grob, welche hygienischen Bedingungen vorliegen, welche Ordnung vorherrscht, wie alt der Wohnungsinhaber sein mag. Sie wissen dann aber zugleich, ob und wie gut der Patient sich im Alltag selbst versorgen kann, ob Alkohol im Spiel ist, ob hygienische Grundbelastungen vorherrschen, usw.
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Würde ein Mediziner diese fallrekonstruktive Komponente vollständig aufgeben und den Körper von Patienten ausschließlich als eine Art Organ-Maschine betrachten, die defekte Teile hat, welche repariert oder ausgetauscht oder notfalls entfernt werden müssen, würde er wie ein Gesundheitsingenieur handeln und darin gerade scheitern. Denn würde er den Patienten auf seinen Körper reduzieren und ihn nicht mehr als hilfsbedürftiges Subjekt, als Träger von Leid und Schmerzen wahrnehmen, könnte er ihn auch nicht mehr als Subjekt von Selbstheilungskräften adressieren, auf die er im Heilungsprozess angewiesen bleibt. Die medizinische Diagnostik kann daher nur in Teilen mit einer standardisierten Fehlerprüfung verglichen werden, wie sie etwa bei einer Flugzeuginspektion oder beim TÜH stattfindet. Sie schließt immer beides ein: einen wissenschaftliche Distanz herstellenden nomothetisch-naturwissenschaftlichen Erklärungsansatz und eine Nähe zur Person und seinem Leiden, beides zusammengeführt in einer methodischen Operation des Fallverstehens und der Fallrekonstruktion. (2) Das ärztliche Handeln ist auch insofern nicht standardisierbar, als es immer die Interaktion mit dem Patienten beinhaltet. Auch dabei haben sich die Ärzte auf die fallspezifischen Gegebenheiten einzulassen. Sie müssen z.B. auf Patienten eingehen, um an wichtige Informationen heranzukommen, auch wenn diese eher verschlossen oder wortkarg, vergesslich oder verwirrt sind. Sie müssen mit verschiedenen Herkunftsmilieus umgehen können. Sie müssen sich auf die kognitiven Fähigkeiten und Bildungsgrade ihrer Patienten einlassen, ihre Diagnosen und Verordnungen in deren Sprache übersetzen, damit sie verstanden werden. In Gesprächen haben sie oft auf Befindlichkeiten Rücksicht zu nehmen, die medizinisch gar nicht relevant sind, aber auch nicht ausgeklammert werden können. Wenn sie einem Patienten eine schwerwiegende Diagnose gestellt haben, können sie ihn in seinem Schock nicht alleine lassen. Auch können sie sich nicht aus einer Behandlung zurückziehen, wenn sie mit ihren medizinischen Instrumentarien nicht mehr weiter wissen und den Tod eines Patienten nicht mehr aufhalten können. Ärzte haben ihren Patienten dann trotzdem beizustehen und der ärztliche Habitus erweist sich gerade darin, dass das Helfen-Wollen sich nicht auf die ingenieuriale Seite des medizinisch Machbaren zurückzieht, sondern auch dann noch etwas versucht wird, wenn der Naturwissenschaftler im Arzt weiß, dass es eigentlich keinen Grund zur Hoffnung mehr gibt. Die Nicht-Standardisierbarkeit der ärztlichen Interaktion kann man sich auch daran klar machen, dass eine funktionierende Arzt-Patienten-Interaktion auf einem Vertrauensverhältnis beruht, weshalb ja auch die freie Arztwahl unabdingbar ist. Vertrauen ist aber etwas, das sich nicht beliebig herstellen lässt. Es ist das Resultat einer gelungenen Annäherung und Reziprozität zwischen Arzt und Patient, in der es allerdings eine strukturelle Asymmetrie gibt, weil der Patient in einer Krise sich befindet und sich in seiner Intimität sehr weitgehend öffnen muss, während der Arzt
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dies gerade zu vermeiden hat. Vertrauen ist also nicht nur eine Frage, ob man einer Kompetenz traut, sondern auch eine persönliche Frage, ob man die intime Nähe eines Arztes zulassen kann. Umgekehrt hat jeder Arzt die Aufgabe, in der Interaktion mit Patienten die Intimität immer strikte auf den Zweck der Behandlung zu konzentrieren und jede Form der Zweideutigkeit zurückzuweisen. Ob Patienten Ärzten vertrauen, hängt natürlich auch von individuellen Dispositionen ab, auf die der Arzt keinen Einfluss hat: Manche Patienten bevorzugen den jungen Universitätsabgänger, der mit dem neustens Universitätswissen seines Faches an neuwertigen Geräten arbeitet, andere fühlen sich bei einem älteren, erfahrenen Arzt, dessen Praxis aber vielleicht zuletzt vor dreißig Jahren eingerichtet wurde, mehr wohl. Letztlich ist die Vertrauensbildung das Resultat einer je individuellen Entscheidung des Patienten und davon abhängig, dass er sich in der Gesamtheit seiner Persönlichkeit vom Arzt ernst genommen fühlt und kompetent aufgehoben weiß. Damit müssen Ärzte umgehen können. (3) Schließlich ist die ärztliche Behandlungspraxis insofern nicht standardisierbar, als sie eine strukturelle Dynamik aufweist, die durch Aufnahme der Behandlung selbst ausgelöst wird und paradoxerweise störend auf diese zurückwirken kann. Wenn Patienten zum Arzt gehen, bedeutet dies nicht nur, dass sie sich professionelle Hilfe suchen, sondern zunächst das Eingeständnis, mit einem Leiden selbst nicht mehr fertig zu werden. Die Krise der lebenspraktischen Autonomie wird damit anerkannt; zugleich stellt sich ein Patient dem Ausmaß und der Art seiner Krankheit. Dies kann auch damit verbunden sein, dass Ängste der Ungewissheit und Abwehr gegen befürchtete Einschnitte überwunden werden mussten. Die Entscheidung, zum Arzt zu gehen, ist also in sich Ausdruck einer lebenspraktischen Vernunft, sie geht von den noch gesunden Anteilen einer Persönlichkeit aus und stellt einen ersten Schritt zur Rückgewinnung der lebenspraktischen Autonomie dar. Paradoxerweise wird diese Autonomie aber erst einmal noch weiter geschwächt, wenn ein Patient zum Arzt geht. Denn es bedeutet, dass er sich dem Urteil eines Experten unterwirft und die Führung des Heilungsprozesses an eine fremde Person delegiert. Dieser Schritt bedeutet für Patienten eine enorme Entlastung. Schon der Gang zum Arzt, das Sitzen im Wartezimmer und erste Gespräche mit ihm bringen oftmals eine Besserung des subjektiven Befindens mit sich, weil Patienten sich in kompetente Hände gegeben wissen und rasche Besserung erwarten. Aus diesem Gefühl der Entlastung heraus gibt es eine naturwüchsige Neigung, die Behandlung einer Krankheit vollständig an den Arzt „abzutreten“ und von ihm zu erwarten, dass er die Ursachen durch Eingriffe entfernt, ohne dem Patienten einen schmerzhaften Eigenbeitrag abzufordern. Ohne eine Eigenleistung der Patienten ist jedoch so gut wie keine Erkrankung zu heilen. Dies beginnt schon bei einer simplen Grippe. Viele Erkrankungen verlangen zumindest zeitweilig einschneidende Maßnahmen, die disziplinierte Beachtung eines Diät- und Medikationsplanes, das Befolgen orthopädi-
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scher Verordnungen, mehr Bewegung und Sport, den Verzicht auf liebgewordene Genussmittel (Alkohol, Nikotin), Umstellung der Ernährung, physiotherapeutische Übungen, usw. Die Schwierigkeit besteht also darin, dass eine Krankheit vom Patienten eine gewissenhafte Umstellung seiner Lebensgewohnheiten verlangt, die viel weiter reicht, als bloß die regelmäßige Einnahme verordneter Pillen. Die Behandlung kann deshalb anstrengend und in sich schmerzhaft sein. Gegen diese Umstellung entwickeln sich Widerstände, mit denen ein Arzt regelmäßig konfrontiert ist. Die Paradoxie besteht darin, dass die Selbstheilungskräfte des Patienten zunächst noch weiter geschwächt werden, wenn die Behandlung aufgenommen wird. Dem müssen Ärzte von Anfang an entgegenwirken und an die Eigenverantwortung appellieren bzw. dem Patienten die selbständige Durchführung von Maßnahmen abverlangen. Wenn die Selbstheilungskräfte z.B. nach einer OP oder einer Depression schon ernsthaft geschwächt sind, müssen sie diese wieder reaktivieren, indem Hilfestellungen angeboten werden, die aber so angelegt sind, dass sie in eine Eigenverantwortlichkeit hinüberführen sollen. Es geht immer darum, dass eine lebenspraktische Autonomie zurückgewonnen wird, was auch implizieren kann, dass jemand mit bleibenden Schädigungen oder Behinderungen leben lernt, eine Schädigung akzeptiert (z.B. eine Lähmung) und Hilfsmittel (z.B. Prothesen) in sein Leben integriert. Da die Ärzte auf die Mitarbeit ihrer Patienten angewiesen sind, ziehen sie sich nicht einfach aus der Behandlung zurück, wenn ein Patient ihren Verordnungen nicht folgt oder Termine nicht einhält. Sie rechnen vielmehr schon mit Widerständen oder mangelnder Disziplin und deuten sie als Ausdruck einer normalen Abwehr und Teil des Krankseins selbst. Sie wissen aus Erfahrung, dass auch eine illusionäre Überschätzung ärztlicher Allmacht Ausdruck eines Widerstandes gegen schmerzhafte Selbstheilungsanstrengungen sein kann. Daher ziehen sie sich nicht einfach auf das Argument zurück, dass eine vertragliche Vereinbarung nicht eingehalten wurde. Im Gegenteil. Aus dem Beschriebenen beziehen Mediziner die Aufgabe, auch noch für diese Problematik eine Verantwortung zu übernehmen. Das ärztliche Handeln schließt also eine interventionspraktische Steuerung der Behandlungsdynamik selbst mit ein. Da die Widerstände individuell sehr unterschiedlich ausfallen, kommt ihnen auch die Aufgabe zu, angemessen darauf zu reagieren. Dies kann beinhalten, dass ein Arzt seinem Patienten die Folgen seiner Undiszipliniertheit drastisch vor Augen führt und konfrontativ auftritt. Es gibt Facharztgruppen wie die Orthopäden, die für ihre rustikalen Ansprachen berüchtigt sind, was natürlich damit zusammenhängt, dass Krankheiten der Muskeln und Knochen häufig auf körperliche Haltungsfehler und mangelnde Bewegung zurückzuführen sind. Sie können nur sehr schwer behandelt werden, wenn Patienten nicht bereit sind, ihre Sitz- und Bewegungsgewohnheit dauerhaft zu ändern. Der Arzt muss durch Krusten der habituellen Gewohnheit hindurch dringen, und dies drückt sich
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manchmal auch in einem typischen Kommunikationsgebaren aus. Im Prinzip hat jede Facharztgruppe ihre eigene Problematik dieser Art. Kinderärzte haben z.B. die besondere Schwierigkeit, mit den kleinen Patienten so sprechen zu müssen, dass sie ihnen keine Angst machen, aber zugleich möglichst viel aus ihnen herausholen, was sie wissen müssen. Wo tut es weh? Was für ein Schmerz ist es genau? Aus dieser interventionspraktischen Komponente des ärztlichen Handelns erwächst der soziologischen Modellbildung die Notwendigkeit, das Verhältnis zwischen Arzt und Patient als ein Arbeitsbündnis zu konzipieren, das nur in eingeschränkter Hinsicht vertragsförmig ist. Die Freiwilligkeit ist dabei zentral, denn nur sie gewährleistet, dass der Patient sich an das Ziel einer Rückgewinnung lebenspraktischer Autonomie einschränkungslos gebunden fühlt, denn es war seine Leidens- und Krankheitseinsicht und seine Entscheidung, die ihn in die therapeutische Praxis geführt hat, so dass der Arzt jederzeit strukturell an die Selbstverantwortung des Patienten für den Heilungsprozess appellieren kann und selbst nicht für Fehlschläge verantwortlich zu machen ist, die aus einer fortgesetzten Missachtung der Arbeitsbündnislogik durch den Patienten resultieren. Der Mediziner trägt also nicht die alleinige Gewähr für eine Heilung, er ist daher auch nur insofern regresspflichtig, als er für die sachgemäße Durchführung von medizinisch-fachlichen Maßnahmen verantwortlich gemacht werden kann, deren Qualität und Ausführung standardisiert werden kann. Diese drei Aspekte verdeutlichen, warum die ärztliche Praxis im Ganzen nicht standardisierbar ist. Sie benötigt immer beide Komponenten des Wissens und bewegt sich spannungsreich zwischen ihnen wie zwischen zwei widerstreitenden Prinzipien des Handelns, ohne ihren Gegensatz einseitig auflösen zu können. Es ist eine „widersprüchliche Einheit“ (Oevermann) zwischen dem ingenieurialen Anteil des ärztlichen Handelns, wie er sich in standardisierten Methoden der Diagnostik und Therapie ausdrückt, deren handwerklich fachgerechte Ausführung die ärztliche Berufsehre ausmacht, einerseits, und dem interventionspraktischen Anteil, der auf einer Rekonstruktion des einzelnen Falles aufruht, dem mit wissenschaftlicher Empathie für seine spezifischen Leiden und konkreten Besonderheiten entgegengetreten wird, andererseits. Dieser nicht auflösbare Widerstreit ist für die professionalisierte Praxis typisch und charakterisiert ihre Berufskultur. Das Argument der Nicht-Standardisierbarkeit des professionalisierten Handelns gilt auf die eine oder andere Weise für alle Berufe, in denen es um die Bewältigung von Krisen auf der Grundlage einer wissenschaftlichen Expertise geht. Dies muss gleichwohl je konkret herausgearbeitet werden. Bevor wir dies für das wissenschaftliche Handeln leisten, müssen wir noch einige weitere Konsequenzen ausbuchstabieren. Wenn es zutrifft, dass eine wirksame Kontrolle des Berufshandelns durch den Markt oder eine staatliche Administration nicht geleistet werden kann, dann muss man zu der Frage zurückkehren, was eigentlich das berufliche Handeln in seiner Qualität steuert und reguliert. Da das professionalisierte Handeln über die
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Anwendung ingenieurialer Lösungskomponenten hinausgeht, ist es darauf angewiesen, dass die Akteure die Qualität und Angemessenheit ihrer Arbeit selbst gewährleisten. Man kommt hier wieder auf die These einer professionsethischen Selbstkontrolle zurück. Ohne diese Annahme könnte man gar nicht erklären, dass die Professionen im Durchschnitt doch unbestreitbar erfolgreich arbeiten. Allerdings muss man über Parsons heute hinausgehen. Die Annahme einer besonderen Bindung an gesellschaftlich zentrale Werte und eine wissenschaftliche Expertise reicht bei weitem nicht aus, um die professionsethische Selbstkontrolle zu erklären. Erst mit dem krisentheoretischen Ansatz lässt sich dies differenzierter ausdrücken. Die Selbstkontrolle wird von einem professionalisierten Habitus geleistet, der das Handeln steuert und reguliert. Exkurs zum soziologischen Begriff des Habitus Der Begriff der Habitusformation ist einer der komplexesten Begriffe in der Soziologie überhaupt, und wenn seine theoretischen Probleme auch mittlerweile geklärt scheinen, ist seine empirische Differenziertheit bei weitem noch nicht ausgeleuchtet. Die Soziologie hat sich anfangs für den Begriff interessiert, um aufzuklären, wie sich die soziale Ungleichheit von Milieus in den Verhaltensdispositionen niederschlägt. Dabei stand ihr eine bestimmte Art von Phänomenen vor Augen, z.B. eine bestimmte Form der verinnerlichten Etikette, der Manieren oder der Kleidung, oder spezifische Gesten, ein körperliches oder sprachliches Ausdrucksverhalten, mit denen Angehörige sozialer Statusgruppen sich und anderen zeigen, zu wem sie sich zugehörig fühlen und von wem sie sich abgrenzen. Dabei bewegte sich die Soziologie aber noch an der Oberfläche des Phänomens. Denn ein Habitus ist wesentlich mehr als ein ständisches Gebaren, als Attitüde oder Lifestyle.26 Man kann ihn auch nicht auf die bei Historikern verbreitete Formel reduzieren, dass ein Habitus gleichzusetzen sei mit einer „verinnerlichten Institution“, auch wenn es natürlich richtig ist, dass Menschen einen spezifischen Habitus ausbilden, sobald sie in eine Institu-
26 Der Begriff hat in die Soziologie wohl Eingang gefunden durch Norbert Elias, der im Zusammenhang mit seiner Zivilisationstheorie von „sozialer Persönlichkeit“ sprach, und natürlich durch Pierre Bourdieu. Bei David Riesman ist er konzeptionell im Begriff des Sozialcharakters vorbereitet. Der Sache nach findet er sich aber schon früher, z.B. bei den Pragmatisten William James („Habits of belief“) und Georg Herbert Mead („attitude“), bei Thorsten Veblen im Begriff der „Conspicious consumption“ (The Theory Of The Leisure Class, 1899), bei Max Weber, der bereits vom Gesamthabitus sprach. Auch bei Durkheim findet er sich im Begriff des „innere Milieus“. Anklänge findet man auch bei den noch viel älteren Schulen der Milieutheorie, bei Gabriel Tarde oder Hippolyte Taine („Mentalitäten“).
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tion hineinwachsen, deren Zwecke, Interessen und Gepflogenheiten sie sich zu eigen machen und deren Schicksal sich untrennbar mit ihrem eigenen Leben verbindet. Beides sind Erscheinungsformen des Habituellen, doch grundbegrifflich dringen diese Beobachtungen noch nicht tief genug. Man muss viel allgemeiner ansetzen. Eine Habitusformation ist eine Formation von Routinen, eine Erzeugungsgesetzlichkeit, welche hinter den Handlungsvollzügen steht, die mehr oder weniger automatisch ablaufen. Diese Erzeugungsgesetzlichkeit geht selbst aus etwas hervor, ist von einem Handlungssubjekt im Laufe seiner Lebensgeschichte verinnerlicht worden. Sie steuert sein Handeln, ohne dass ihm dies eigens bewusst würde. Eine Habitusformation bildet sich, wenn eine Lebenspraxis damit konfrontiert ist, eine Problemlage bewältigen zu müssen, der sie aus welchen Gründen auch immer nicht ausweichen kann. Da sie ihren krisenhaften Charakter überwinden muss, sucht sie nach einer Lösung, die sie davon entlastet, jedes Mal von neuem eine Strategie entwickeln zu müssen, wenn sich die Handlungsproblematik wieder äußert. Wie diese Lösung gefunden wird, ist sehr unterschiedlich und letztlich individuell. Sie kann selbst erschlossen, durch Hilfestellungen erworben oder schlicht durch Nachahmung angeeignet werden. Wenn sich erst einmal praktisch erprobte Lösungen zu bewähren beginnen, werden sie immer wieder abgerufen und zu einer Routine. Mit der Zeit gehen sie „in Fleisch und Blut“ über, so dass sie irgendwann gar nicht mehr bewusst wahrgenommen werden. Sie sinken ins habituell Unbewusste ab, bleiben dort aber als ein lebendiges Potential erhalten. Das heißt, einmal verinnerlichte Routinen lösen sich von ihrem ursprünglichen Entstehungszusammenhang ab und verselbständigen sich zu einer Disposition, die zukünftige Problemlagen im Sinne der einmal gefundenen Routine anzugehen versucht. Diese Disposition äußert sich nicht nur in einem besonderen Stil, Probleme zu handhaben, nicht nur in einer Art und Weise oder Methodik der Lebensführung, sondern sie stellt eine generative Struktur dar, welche die Lebenspraxis insgesamt im Sinne der einmal verinnerlichten Routinen fortführt. Das heißt, sie hält diese bereit und ruft sie ab, sobald sich eine entsprechende Handlungsproblematik äußert. Und dieses Potential liegt allen weiteren, darauf aufbauenden Krisenbewältigungsprozessen zugrunde. Habituelle Routinen bedeuten also, dass sich ein Subjekt gegenüber einem Krisentypus strukturell positioniert und zu einer eigenen Lösung oder Lösungsmethodik gefunden hat, die es ihm ermöglicht, sich diesem Typus auch in anderen Situationen und unter anderen Umständen immer wieder stellen zu können. Es hat sie in seine Verhaltensdispositionen integriert und veralltäglicht. Das kann sogar bedeuten, dass ein Subjekt in seiner Lebensführung von sich aus Bedingungen herbeiführt, die es erlauben, sich mit seinen habituellen Routinen neuen Herausforderungen stellen zu können und sie im Sinne einer Bildungsdynamik weiter zu vertiefen. Es kann aber auch umgekehrt bedeuten, dass bestimmte Problemlagen gemieden werden, weil schon einmal die Erfahrung gemacht werden musste, dass sie
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nicht oder nur sehr mühevoll zu bewältigen waren. Es ist habituell, wenn in Entscheidungssituationen immer bestimmte Optionen gewählt werden, während andere von vorneherein gar nicht erst in Betracht gezogen werden. Oder es ist habituell, wenn Subjekte in Krisen einer bestimmten Lebensmethodik folgen, um zu Antworten zu kommen, weil sich dies in vorangehenden Situationen so eingespielt hatte. Der Habitus ist also eine Erzeugungsgesetzlichkeit, die das Handeln danach ausrichtet, was sich bewährt hat. Er ist zugleich ein lebendiges Organ, das sich neuen Gegebenheiten anpasst, sogar bestimmten Krisen als Herausforderungen sich immer wieder zuwendet und auch neue Routinen aufnimmt. Wir verwenden den Begriff des Habitus, wie er auch bei Bourdieu in seinen früheren Schriften gebraucht wurde.27 Er ist das „Werk“ oder „Produkt“ von milieuspezifischen Gegebenheiten einer Praxis und nimmt deren partikulare Besonderheiten in sich auf („Opus operatum“).28 Zugleich ist der Habitus aber generative Struktur, die eine spezifische Form der Praxis auf Dauer stellt und perpetuiert („Modus operandi“). Bourdieu sagt manchmal auch, der Habitus sei eine „strukturierte und strukturierende Struktur“.29 Allerdings ist bei Bourdieu nicht immer klar, wovon jene Strukturierung eigentlich genau ausgeht und woraufhin sie erfolgt. Bourdieu legt seinem interessentheoretischen Grundkonzept gemäß nahe, dass im Habitus in letzter Konsequenz die jeweils partikularen Interessenlagen operieren, die sich – vergleichbar dem ökonomischen Kapitalbegriff von Karl Marx – „im Rücken der Subjekte“ selbst zu erhalten streben. Diese Selbsterhaltung hat Bourdieu bis in die „feinen Unterscheide“ der Kleidung, Accessoires oder Freizeitaktivitäten hinein verfolgt. Er hat die Logik der Selbsterhaltung auf die Sphäre der Kultur übertragen und den ökonomischen Kapitalbegriff um ein soziales, symbolisches und kulturelles Kapital (Status, Etikette, Bildungsgüter) erweitert, um aufzuzeigen, wie Subjekte ihre Lebenskapitalien einsetzen und zwischen diesen Sphären transferieren. Meines Erachtens bleibt dies aber metaphorisch und interessentheoretisch verengt. Die Lebenspraxis wird auf eine Reproduktionsgesetzlichkeit reduziert und Handlungssubjekte wie „Gesamtkapitalisten“ betrachtet, deren Habitus im Wesentlichen jener Selbstverwertungslogik dient.30 27 Bourdieu, Pierre: „Der Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis“, in: ders.: Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt 1974. 28 Panofsky, Erwin: Gothic Architecture and Scholasticism, Latrobe 1951. 29 Bourdieu, Pierre: „Entwurf einer Theorie der Praxis“, in: ders.: Entwurf einer Theorie der Praxis. Frankfurt 1976, S. 137-388. 30 Bourdieu unterscheidet außerdem zu wenig zwischen Habitus und Lifestyle. Ein Lifestyle geht daraus hervor, dass ein Subjekt sich mit Accessoires einer irgendwie herausgehobenen Praxis, in der es um die Bewältigung von Krisen geht, lediglich äußerlich ausstaffiert, weil es damit den Eindruck erwecken kann, in seiner Lebenspraxis im Sinne dieser Bewährung irgendwie herausgehoben zu sein, obwohl es dies faktisch nicht ist, einerseits,
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Verbindet man den Begriff der Habitusformation jedoch mit einer krisentheoretischen Grundbegrifflichkeit, kann das Modell allgemeiner formuliert werden und es sind nicht mehr alleine Interessen (obwohl auch solche), die in einem Habitus operieren. Eine Habitusformation verweist vielmehr auf tief sitzende Überzeugungen, die sich im Vollzug erfolgreicher Krisenbewältigungsprozesse gebildet haben und die oft so elementar sind, dass sie von einem Handlungssubjekt nicht mehr weiter begründet werden können. Sie gehen nicht auf Prägung oder Konditionierung zurück, sondern stellen gewissermaßen das Kondensat der logischen Prämissen dar, welche den befolgten Routinen innewohnen. Diese Überzeugungen erhalten ihre bekräftigende Dignität daher, dass der Habitus selbst daran beteiligt ist, diejenige Welt hervorzubringen, in der er sich bewähren kann. Diese Dignität ist daher an die Perspektive und Gegenwärtigkeit einer je konkreten Lebenspraxis gebunden. Sie speist sich aus Lebenserfahrungen, die im Geiste dieser Überzeugungen gemacht wurden und diese bekräftigt haben. Daher sind diese Prämissen mit der Persönlichkeit eines Menschen auf das Engste verbunden, sie liegen seiner personalen Identität zugrunde und sind viel elementarer als das Selbstbild, das ein Mensch von sich hat. Normalerweise treten tiefer liegende Überzeugungen aber selbst nicht zutage, sie operieren im Handeln als stillschweigendes, hintergründiges Wissen, das überhaupt nur dann bemerkbar wird, wenn eine Lebenspraxis in die Krise gerät und das Handeln neu ausgerichtet werden muss. Man hat im Habitus das klassische soziologische Thema vor sich, dass die Menschen strukturiert handeln, aber „ohne Wissen und Bewusstsein“. Die Menschen können gerade diejenigen Verhaltensweisen, die ihnen besonders in Fleisch und Blut übergegangen sind, selbst nur sehr schwer beschreiben oder erklären. In der Regel können sie auch nicht angeben, auf welche Erfahrungen sie zurückgehen. Sie und Habitusformationen und Deutungsmustern, die eine Bewährung in einer Praxis und darin gewonnene Überzeugzungen wirklich authentisch ausdrücken, andererseits. Besitzer von großräumigen, Militärfahrzeugen nachempfundenen Geländewagen („Jeeps“), die in einer Großstadt gefahren werden, folgen z.B. einem Lifestyle. Sie kaufen sich den Anschein einer Herausgehobenheit lediglich teuer ein, ohne ihn praktisch zu erfüllen. Sie müssen vielmehr am Wochenende aufs Land fahren, um ihr Fahrzeug off road richtig ausleben zu können. Hinter solchen Lifestyle-Phänomenen steht zwar auch ein Habitus, allerdings einer, der ausdrückt, dass Ansprüche auf Exklusivität und Krisenambitioniertheit von der dahinter stehenden realen Lebenspraxis gerade nicht selbst erfüllt werden können und die vorgetäuschte Fremdbewährung auch einer Selbsttäuschung gleichkommt. Das als langweilig und wenig exklusiv empfundene wirkliche Leben kann gerade nicht authentisch eingestanden werden. Personen, die für Lifestyle-Moden empfänglich sind, werden daher immer darauf achten, was gerade „in“ ist und die Außenwirkung einer Exklusivität erzeugen hilft. Hier berührt sich der Habitus mit dem Begriff des außengeleiteten Sozialcharakters, wie er bei David Riesman beschrieben ist.
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erinnern sich nicht, wann und wie sie zu einer habituellen Routine gekommen sind. Es gehört zu ihrer zweiten Natur. Man muss vor diesem Hintergrund den Habitusbegriff nach zwei Seiten hin abgrenzen. Der Habitus unterscheidet sich zum einen von Mechanismen, welche die Verhaltensbiologen bei Tieren untersuchen. Eine Habitusformation ist kein biogenes Verhaltensprogramm. Das Verhalten bei Tieren folgt einem feststehenden Stimulus-Response-Schema, das in der genetischen Ausstattung einer Gattung verankert ist und unweigerlich abgerufen wird, sobald bestimmte Reizschwellen überschritten werden. Eine Habitusformation ist hingegen weder angeboren, noch wird sie in frühen Prägungsprozessen oder kriterialen Phasen festgelegt. Sie ist das Ergebnis eines sozialen Gewordenseins und immer Ausdruck eines Prozesses der Individuierung. Zum anderen ist der Habitus, obwohl etwas Unbewusstes, nicht mit dem triebdynamischen Unbewussten gleichzusetzen, das die Psychoanalyse thematisiert.31 Freud analysierte eine im Unbewussten fortlebende Triebdynamik, die als Quelle eines innerpsychischen Leidens aufgedeckt werden soll, welches aus einem nicht durchgearbeiteten Konflikt zwischen unerfüllten Wünschen und Abwehrformationen gegen sie resultiert. Die habitualisierten Handlungsroutinen sind ihrem Ursprung nach aber nicht unbedingt auf Triebe zurückzuführen, sondern verkörpern Sedimente der Praxis, die gerade auf eine erfolgreiche Bewältigung von Krisen zurückgehen und nicht innerpsychische Konflikte erzeugen. Auch sie können wie diese Triebdynamiken bis ins Körpergedächtnis eingesunken sein und sich zum Beispiel in einer unverwechselbaren Körperhaltung, Verhaltensweisen oder in spezifischer Mimik ausdrücken. Der Habitus ist aber kein Symptom. Er unterliegt auch nicht einem Verdrängungswiderstand, sondern kann durchaus bewusst gemacht werden. Dass dies in der Regel nicht geschieht, hat meist eher pragmatische Gründe. Der Habitus ist ein „soziales Unbewusstes“ (Oevermann), in dem Routinen weiterleben, die mit triebhaften Anteilen in Verbindung stehen können, aber nicht müssen, und wenn sie es tun, dann wurden die triebhaften Komponenten erfolgreich sublimiert und einem gesunden Handeln einverleibt.32
31 Oevermann, Ulrich: „Die Struktur sozialer Deutungsmuster – Versuch einer Aktualisierung“, in: Sozialer Sinn, Heft 1 (2001), S. 35-82. 32 Fasst man einen Begriff der Gesamtpersönlichkeit ins Auge, so muss man neben den originär soziologischen Strukturelementen der Persönlichkeitsentwicklung natürlich auch die hereditär biologischen und psychologischen Anteile berücksichtigen, die sich in körperlichen und geistigen Begabungen, Talenten oder auch Defekten, Antriebsmotivationen und ihrer je individuellen Intensität ausdrücken. Diese sind manchmal schwer von habituellen Gewohnheiten zu unterscheiden. Sie stellen jedoch eher Konditionen einer individuellen Bildungsgeschichte dar, nicht deren Resultante, und müssen analytisch von jenen getrennt werden, weil sie anderen Ursprungs sind.
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Es ist nicht immer leicht, den Habitus von anderen Bewusstseinsformationen abzugrenzen. Gerade der Übergang zu einem Deutungsmuster ist eher fließend.33 Wie elementar der Prozess der Habitusbildung ist, kann man sich am ehesten veranschaulichen, wenn man sich klar macht, wann er einsetzt. Je elementarer eine Krisenbewältigung ist, desto folgenreicher ihr konkreter Verlauf für die Lebenspraxis und ihre weitere Entwicklung. Die elementarste Schicht des Habitus eines Menschen bildet sich mit der Geburt, mit der Ablösung aus der uteralen Symbiose mit der Mutter. In einer nicht oder nur geringfügig von Komplikationen gestörten Geburt machen Kind und Mutter die Erfahrung, diesen ersten, schwierigen Weg der Ablösung gemeinsam geschafft zu haben. Es bildet sich darin beim Kinde so etwas wie ein erster Bewährungsmut, der allen weiteren Krisen zugrunde liegen wird. Dieser „strukturelle Optimismus“ (Oevermann) verfährt nach der Maxime: „Im Zweifelsfall wird es gut gehen!“ Ohne ihn könnte ein Handlungssubjekt sich von sich aus nicht auf Krisen einlassen mit der Erwartung, diese irgendwie schon bewältigen zu können. Diese Grundhaltung ist so elementar, dass man sie normalerweise nicht direkt identifizieren kann. Sie erschließt sich aber indirekt, wenn man Fallgeschichten untersucht, in denen Traumatisierungen zur Störung dieses strukturellen Bewährungsmutes geführt haben, z.B. bei extremen Frühgeburten.34 Eine Traumatisierung, die den strukturellen Optimismus stört oder einschränkt, kann im Prinzip noch zu jedem späteren Zeitpunkt des Lebens eintreten. Erfolgt sie jedoch sehr früh, schon bei der Geburt, dann wird sich die daraus resultierende gegenteilige Haltung, die der Maxime folgt: „Im Zweifelsfall wird es schiefgehen!“ auch sehr elementar auf alle weiteren Krisenbewältigungsprozesse auswirken. Menschen, die traumatisierende Erfahrungen des Misslingens und Scheiterns gemacht haben, entwickeln eine Strategie des ängstlichen Ausweichens vor Krisen. Sie meiden Herausforderungen oder erzwingen Konstellationen, in denen ihnen eine selbständige Krisenbewältigung abgenommen wird. Unter diesen Vorzeichen kann sich ein früh traumatisierter Bewährungsmut strukturell kaum weiter entwickeln und mit 33 Vgl. Oevermann, U.: „Die Struktur sozialer Deutungsmuster“, S. 52 ff. 34 Familien mit einer traumatischen Geburtserfahrung zensieren die Erinnerung an diese Geburt; die Kinder können deshalb nicht auf positive Erzählungen ihrer Geburt zurückgreifen. Daher können auch Phantasien über die Geburt und die Ursachen ihrer Komplikation, die sich im Kinde nachträglich bilden, nicht ausgeräumt werden und beginnen auch alle späteren Ablösungskrisen zu beeinträchtigen. Vgl. Schlick, Brigitte: Frühgeburtlichkeit als Trauma. Zwei exemplarische Fallanalysen von Frühgeborenen. Unveröffentlichte Diplomarbeit, Frankfurt 2006; Oevermann, Ulrich: „Die Soziologie der Generationenbeziehungen und der historischen Generationen aus strukturalistischer Sicht und ihre Bedeutung für die Schulpädagogik“, in: Kramer, Rolf Thorsten/Helsper, Werner/Busse, Susann (Hg.): Pädagogische Generationsbeziehungen, Opladen 2001, S. 78128., dort speziell S. 106.
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materialer Erfahrung anreichern. Ein Habitus ist also eine Struktur, die man sich am ehesten im Rahmen von Rekonstruktionen konkreter Fallgeschichten erschließt. Gleichwohl sind Habitusformationen nicht nur Ausdruck eines Conscience individuelle, sondern haben immer Anteile eines Conscience collective (Durkheim). Da sich Habitusformationen an wiederkehrenden Handlungsproblemen bilden, gibt es auch milieuspezifische Habitusformationen, denn jedes Milieu kennt seine eigenen Handlungsprobleme, während andere Probleme für es ganz und gar fremd bleiben. Es gibt viele Parameter, die bestimmen, welche Typen von Handlungsproblemen milieuspezifisch bewältigt werden müssen. Wichtige makrosoziologische Parameter sind Bildungsgrade („bildungsnah – bildungsfern“) und die ökonomische Klassenlage, die Sesshaftigkeit (Nomadisch, Migrationshintergrund), wichtig sind aber auch wirtschaftsgeographische Merkmale einer Region. Das Leben in einer Küstenregion wirft ganz andere Lebensprobleme auf, als das Leben in Gebirgstälern oder auf einer Insel. Ob ein Milieu dominant agrarisch, handwerklich oder industriell, großstädtisch oder kleinstädtisch, dörflich oder von Einzelgehöften geprägt, strukturschwach oder fluktuierend ist, drückt sich im Habitus einer Bevölkerung ebenso aus, wie das tradierte Verwandtschaftssystem, die Erbrechtstradition oder die Geschichte des politischen Herrschaftsverbandes, und natürlich die religiösen und konfessionellen Verhältnisse. Max Webers Religionssoziologie ist eigentlich nichts anderes als der großangelegte Versuch, kollektive religiöse Habitusformationen mit Blick auf ihre Auswirkungen auf die Wirtschaftsethik zu rekonstruieren. Auch die Generationenlage findet ihren Niederschlag im Habitus. Und ohne Zweifel gibt es auch Habitusformationen, die über mehrere Generationen hinweg sich reproduzieren und eher epochenspezifisch sind, weil sie sich von den Grundproblemen einer Zeit her ergeben. Schließlich bringen berufliche Milieus wiederkehrende Handlungsprobleme auf, die bewältigt werden müssen und daher einen beruflichen Habitus bei denen hervorbringen, die sich auf diese Praxis dauerhaft einlassen. Damit kommen wir wieder zum Thema zurück. Der professionalisierte Habitus Die Vertreter einer Profession verinnerlichen die Strukturlogik der professionalisierten Praxis, wenn sie als Novizen in diese Handlungslogik durch praktische Erfahrung hineinwachsen. In der Erfahrung mit konkreten Fällen werden sie mit den typischen Handlungsproblemen konfrontiert und entwickeln habituelle Routinen, die ihnen in Fleisch und Blut übergehen. Daher sind die ersten Fälle, in denen sich Probleme das erste Mal stellen, so wichtig und werden oft ein Leben lang erinnert. Es geht in ihnen stets um eine erste, in sich noch krisenhafte Bewährung vor den Erfordernissen eines Falles, für dessen Gelingen man nun erstmals die persönliche Verantwortung trägt. Die Routine bildet sich, wenn ein Novize die Grundformen
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der typischen Handlungsprobleme seines Berufs auch in wechselnden Konstellationen wiederzuerkennen lernt und die dahinter stehende Logik des Handelns allmählich begreift. Der Habitus geht also aus einer Amplifikation von Fallerfahrungen hervor, denen gegenüber er sich irgendwann verselbständigt. Sein Erfahrungswissen wird nur selten reflektiert oder dazu gezwungen, sich explizit zu erklären. Es ist in einem Fallgedächtnis aufbewahrt, das ein kasuistisches Erfahrungswissen über typische Konstellationen und Situationen heranbildet. Professionsvertreter entwickeln auf dieser Basis ein Gespür dafür, was der Fall ist und worauf es bei ihm ankommt, welche typischen Verläufe zu erwarten sind, worauf sie zu achten haben und auf welche möglichen Komplikationen sie sich einstellen sollten. Sie entwickeln also Vorahnungen und verfolgen auf dieser Grundlage einer Strategie der abgekürzten Erschließung der Fälle.35 Sie sehen hinter den konkreten Gegebenheiten eine generalisierbare Konfiguration. Ärzte, Juristen oder Wissenschaftler haben dafür verschiedene Ausdrücke: Sie erkennen „Symptombilder“, die „Gestalt“ eines Falles oder einen „typischen Fall“. Zugleich bleiben sie aber in der Lage, auf die Details des aktuellen Falles zu achten und zu erkennen, was anders oder neu im Vergleich zu früheren Fällen ist, weil sie gelernt haben, ihre Aufmerksamkeit darauf zu lenken. Sie wissen aus Erfahrung, dass jeder Fall unverwechselbar ist und überraschende Eigenheiten oder Verläufe zeigen kann. Diese methodische Vorsicht ist selbst Routine und gepaart mit einem Blick für Unscheinbarkeiten oder Nebensächlichkeiten, für die Details, die für einen Fall zentral werden können. Die abkürzende Erschließungsmethode ist davon abhängig, dass im Studium die Erfahrung einer methodisch expliziten Vorgehensweise des Fallverstehens gemacht wurde, so dass jederzeit zu ihr zurückgekehrt werden kann. Dies ist davon abhängig, dass Ausdrucksgestalten von Fällen unter Bedingungen der Praxisentlastetheit Gegenstand einer gründlichen Rekonstruktion und analytisch umfassenden Auslegung waren, und auch eigene Handlungsweisen Gegenstand einer nachträglichen supervisorischen Auswertung und Nachbesprechung geworden sind. Erst auf dieser Grundlage können Vertreter von Professionen in der Praxis Fallhypothesen in dem bleibenden Bewusstsein bilden, dass sie vorläufig sind und scheitern können. Scheitert eine Fallhypothese, kann zu einem Verfahren zurückgekehrt werden, das sich daran ausrichtet, alle Möglichkeiten der Deutung eines Falls zu explizieren. Der professionalisierte Habitus operiert wie ein Tacit knowledge und ist der sprachlichen Logik von Performanz und Kompetenz vergleichbar, wie sie in der Linguistik und Theorie des Geistes seit Chomsky diskutiert wird. Im Habitus operiert ein Angemessenheitsurteil, das sich in der Ausdeutung der Ausdrucksgestalten eines Falles bildet und auf der Basis einer Fallhypothese den Entwurf eines angemessenen Handelns hervorbringt, das an dem Ziel einer Überwindung und Lösung 35 Vgl. Wernet, Andreas: Hermeneutik – Kasuistik – Fallverstehen. Eine Einführung. Stuttgart 2006.
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der je fallspezifischen Krise ausgerichtet ist. Dieses Angemessenheitsurteil bringt dieses Handeln hervor und kontrolliert zugleich seine Ausführung. Mit jeder neuen Ausdruckgestalt überprüft es die ursprüngliche Fallhypothese und Angemessenheit des Handlungsplans. Die Urteilsbildung steuert das Handeln also rekursiv und sorgt dafür, dass die Fallhypothese gegebenenfalls revidiert und der Handlungsentwurf einem unerwarteten Verlauf angepasst wird. Der professionalisierte Habitus ist insofern nichts anderes, als eine generative Urteilsinstanz, die eine Angemessenheit der Problemlösungssuche gegenüber dem Fall gewährleistet. Zweiphasige Ausbildung der Professionen Der professionalisierte Habitus bezieht sein Urteilsvermögen aus beiden Komponenten des Wissens, die wir oben expliziert haben: Aus dem kodifizierten Grundlagenwissen und aus dem kasuistischen Erfahrungswissen. Die Ausbildung der Professionen trägt dem in mehrfacher Hinsicht Rechnung. Zum einen gliedert sich das Studium in der Regel in zwei Ausbildungsphasen. Im Grundstudium dominiert der Erwerb des Grundlagenwissens, das Studium ist geprägt von intensiven Lernphasen und der Bewältigung einer immensen Stofffülle. Es endet mit Prüfungen und Examina und dies stellt für viele Kandidaten schon für sich eine schwierige Hürde dar. Wer nicht bereit ist, sich in die Lehrbücher sozusagen hineinzuknien und in den Prüfungsphasen auch extremere Zustände von Besorgnis, Lerneifer und Schlafmangel durchzustehen, wird notgedrungen scheitern. Diese selektiven Prüfungsphasen sind aber wichtig, um die Ernsthaftigkeit der Studenten auf die Probe zu stellen. Die zweite Ausbildungsphase ist davon beherrscht, dass auf der Grundlage des erworbenen Fachwissens Novizen in die Handlungslogik eingeführt werden. Sie kommen mit konkreten Fällen in Berührung und werden immer näher an die typischen Handlungsprobleme der Krisenbewältigung herangeführt. Sie müssen aber nicht alle Routinen selbst entwickeln. Die Ausbildung ist eingebettet in SchülerMeister-Verhältnisse, in denen Novizen von erfahrenen Berufsvertretern betreut werden. Sie machen Novizen auf typische Handlungsprobleme gezielt aufmerksam, zeigen ihnen klassische Irrtümer auf, geben ihnen Beispiele eines gelingenden Handelns und zugleich Hilfestellungen und Ratschläge. Im Rahmen dieser Ausbildungs-Arbeitsbündnisse beziehen Professionsvertreter Novizen in ihre eigene Arbeit mit ein und übertragen ihnen bereits erste Teilhandlungen, deren Ausführung zwar noch kontrolliert wird, doch in der Absicht, die Selbständigkeit sukzessive auszuweiten, bis einem Novizen die Verantwortung für den Beruf insgesamt übertragen werden kann. Auch die supervisorischen Anteile dieser Arbeitsbündnisse sind hoch, wenn auch noch wenig gut untersucht. Für die Ausbildung ist charakteristisch, dass das Studium meist von Anfang an in die Logik der Krisenbewältigung hineinführt. Der praktischen Ausbildung geht
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voraus, dass Studenten schon in den ersten Semestern in Prozesse einer simulatorischen Krisenbewältigung einbezogen werden. Dies ist für die Bildung eines professionalisierten Habitus zentral. Man kann sich diesen Zusammenhang an einer Unterscheidung verdeutlichen, die auch in der rezenten Debatte zur empirischen Unterrichts- und Bildungsforschung und zum Begriff des „Lebenslangen Lernens“ bedeutsam geworden ist. Man muss nämlich Lernprozesse und Bildungsprozesse begrifflich klar auseinanderhalten.36 Lernen ist ein Prozess der erfolgreichen Verinnerlichung bereitstehender und an sich nicht weiter problematischer Routinen des Wissens und Handelns. Der Lerninhalt steht nicht in Abhängigkeit zur lernenden Person und kann von allen Personen aufgenommen werden, die über die nötigen kognitiven und psycho- und sensomotorischen Voraussetzungen verfügen. Lernen vollzieht sich durch Übung, Training, Memorisierung und Repetition, kann didaktisch unterstützt und sein Erfolg geprüft, gemessen und benotet werden. Lernprozesse sind deshalb planbar und können in einem Curriculum verbindlich vorgeschrieben werden. Das Lehrpersonal des Unterrichts ist tendenziell austauschbar und das Lernen selbst kann durch Technologien (z.B. im „E-Learning“) unterstützt werden. Durch Lernen erwirbt der Mensch eine Kompetenz in der Anwendung eines Fachwissens auf passende Problemstellungen. Bildung beruht hingegen auf Prozessen der Krisenbewältigung und vollzieht sich im Hervorbringen und Erproben von Lösungen, deren Inhalt gerade nicht von vorneherein feststeht. Es sind Prozesse, in deren Verlauf sich eine gewählte Problemlösung allererst bewähren muss, bevor sie zu einer Routine werden kann. Bildungsprozesse vollziehen sich also in eine offene Zukunft hinein; ihr Resultat kann nicht vorhergesagt werden. Ihr Verlauf ist immer an eine je konkrete Bildungsgeschichte gebunden, ihr Gelingen hängt nicht nur von Intelligenz, Disziplin oder Lerneifer ab, sondern auch davon, ob ein Handlungssubjekt aus eigenen Potentialen eine Krisenlösung entwickeln und etwas mobilisieren kann, das es ihm gestattet, die selbst noch krisenhafte Erprobung einer Problemlösung in der Praxis auch durchzuhalten. In Bildungsprozessen erweitert also eine Person ihre Kapazitäten, sich auf Krisen und Problemfelder einlassen zu können. Dem Begriff der Kompetenz wäre der Begriff der Kapazität gegenüberzustellen. Während Lernprozesse sich ein Leben lang vollziehen, gilt das für Bildungsprozesse normalerweise nicht. Sie sind an die sozialisatorischen Ablösungskrisen und Individuierungsprozesse gebunden, die sich in der Kindheit und Jugend ereignen, und enden mit dem Erwerb eines Erwachsenenstatus und der Pflicht zu einer beruflichen Erwerbsarbeit. Das Universitätsstudium erlaubt allerdings als eine Form des Moratoriums der Adoleszenz, dass Studenten nicht nur erweiterte Lernprozesse durchlaufen können, die sie im Hinblick auf einen Beruf benötigen, sondern auch 36 Vgl. Oevermann, U.: „Die elementare Problematik der Datenlage in der quantifizierenden Bildungs- und Sozialforschung“, in: Sozialer Sinn, Jg. 5 (2004) Heft 3, S. 413-476.
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Bildungsprozesse fortsetzen, die sie in eine beruflich spezialisierte Praxis der Krisenbewältigung hineinführen. Das Universitätsstudium ist in diesem Sinne einerseits Fachstudium, in dem Studenten bereitstehende Routinen des Fachwissens und Handelns sich aneignen, andererseits ist es Bildungsstudium, in dem eine Persönlichkeit in den professionalisierten Habitus hineinwächst und dabei ihre habituelle Eignung für die Praxis der stellvertretenden Krisenbewältigung auf die Probe stellt. Universitäre Bildungsprozesse sind insofern immer Reproduktion und Transformation in einem. In ihnen reproduziert sich eine habituelle Disposition, insofern Talente, Motivationen und Begabungen, die vielleicht sogar schon zur Wahl des Studienfachs geführt hatten, weiter gefördert und spezifiziert werden; sie transformiert sich aber auch insofern, als mit jeder erfolgreichen oder misslingenden Bewältigung von Handlungsproblemen das Erfahrungswissen über die Strukturlogik der professionalisierten Praxis wächst und zugleich ein Handlungssubjekt erfährt, wo seine Stärken und Schwächen liegen. Sowohl die Lernprozesse als auch die Bildungsprozesse können unabhängig voneinander scheitern. Wahrscheinlich beinhalten Bildungsprozesse immer auch Lernprozesse und werden umgekehrt Lernprozesse immer von Bildungsprozessen getragen und motiviert. Dennoch ist ihre analytische Unterscheidung außerordentlich wichtig. Bezogen auf die Ausbildung der Mediziner ist der Anatomiekurs ein anschauliches Beispiel, an dem man sich die Fruchtbarkeit der Analytik klarmachen kann. Der Anatomiekurs wird in den Interviews noch eine Rolle spielen, deshalb wird er hier als Beispiel herangezogen. Beispiel: Der Anatomiekurs Im Anatomiekurs vertiefen Medizinstudenten das anhand von Büchern, Vorlesungen und Modellen bzw. Schaubildern gewonnene und erlernte anatomische Wissen. Sie sezieren zum einen unter Anleitung präparierte menschliche Leichname und studieren dabei den inneren Aufbau des menschlichen Körpers, die Lage einzelner Muskeln, Nervenbahnen oder Knochen; zum anderen führen sie histologische Untersuchungen der Gewebe unter dem Mikroskop durch. Dabei machen sie noch eine Reihe weiterer wichtiger Erfahrungen. Im Anatomiekurs erfahren sie z.B. sinnlich konkret den Unterschied zwischen dem Leib als dem Sitz der immer je individuellen, lebendigen Spontaneität und „Lebensmitte“ eines Menschen, einerseits, und dem Körper als einem organischen Funktionszusammenhang, der zwar Substrat jenes Leibes, aber als solcher nicht individuell, vielmehr gattungsspezifisch universell ist, andererseits.37 Ärzte müssen in der Lage sein, von der konkreten Leiblich-
37 Vgl. Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin 1975.
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keit eines Menschen abstrahieren zu können, um sich in der Behandlung auf den Körper konzentrieren zu können, zum Beispiel, um in ihn chirurgisch oder medikamentös eingreifen zu können. Für den Laien fällt beides, Körper und Leib, noch ungeschieden zusammen und der Medizinstudent muss deshalb jene Realabstraktion als Routine erst erwerben. Das beginnt mit einer Transformation von Wahrnehmungsroutinen, die außerordentlich elementar ist, wie man sich an Folgendem klar machen kann: Die leibliche Spontaneität eines Menschen wird normalerweise in der face-to-face-Kommunikation erfahren. In ihr bilden sich Wahrnehmungsmuster, die mit einer lebendigen Mimik und Gestik rechnen, besonders in Bezug auf das Augenspiel. Sich mit jemandem unterhalten, bedeutet ja, ihm ins Gesicht und Auge zu schauen. In den Augen spiegelt sich die Individualität eines Menschen, zugleich sind sie das Organ der sozialen Reziprozität und müssen in der visuellen Kommunikation Nähe und Distanz zu einem anderen Menschen am meisten regulieren, weshalb die Augenpartien ja auch besonders feingliedrig mit Nerven und Muskeln ausgestattet sind. Die Routinen der Mimik und Deutung des Augenspiels sind ontogenetisch sehr früh verwurzelt. Sie bilden sich in den Wochen nach der Geburt in der Interaktion mit der Mutter, wenn der Säugling den Blickkontakt aufnimmt und ihr Augenspiel verfolgt. An ihm lernt es die Bedeutung der verschiedenen mimischen Ausdrucksformen allmählich kennen und verstehen. Das ist vergleichbar mit den elementaren Intonationskonturen im auditiven Sinnesbereich. Das Antlitz der Eltern, der Mutter voran, ist darum auch besonders elementar. Dass es diese Wahrnehmungsroutinen überhaupt gibt, tritt normalerweise gar nicht ins Bewusstsein. Erst in der krisenhaften Situation des Todes eines nahen Verwandten macht ein Mensch die Erfahrung, dass der Leib aufgehört hat, Sitz einer lebendigen Spontaneität zu sein und nur noch Körper ist, der als solcher „seelenlos“ zerfällt. Das wird allerdings erst für die Sinne gewiss, wenn der aufgebarte Leichnam am Grab oder wo immer gesehen wird, wenn die Wahrnehmungsroutinen am erstarrten Gesicht das Augenspiel nicht mehr wiederfinden können. Ärzte durchlaufen im Anatomiekurs im Prinzip genau dieselbe Transformation von elementaren Wahrnehmungs- und Wissensroutinen; sie ist aber ganz anders eingebettet. Die Medizinstudenten kennen den Toten nicht, sind nicht mit ihrer privaten Existenz involviert. Sie müssen nicht trauern. Gleichwohl ist der Kurs in sich eine Phase des verdichteten Übergangs, in dem zwischen konkreter Leiblichkeit und Körper zu abstrahieren gelernt wird. Das ist immer auch eine persönliche Krise des Medizinstudenten, auch wenn dies subjektiv unterschiedlich dramatisch erlebt wird.38 Wenn die Studenten gegen Ende der Sektion mit dem Skalpell durch den 38 Vgl. Egbert, Susanne: Aspekte der Sozialisation zum Arzt. Eine empirische Studie über Auswirkungen der praktischen Makroanatomie auf Medizinstudierende und deren Einstellung zu Sterben und Tod. Dissertation Gießen 2005. http://deposit.ddb.de/cgi-bin/dok serv?idn=978048970&dok_var=d1&dok_ext=pdf&filename=978048970.pdf.
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Körper hindurch geschnitten haben und auf dem Metallboden des Seziertisches angelangt sind, hält dieser Moment für viele Mediziner die Erfahrung bereit, dass es „wirklich keine Seele in diesem Körper mehr gibt“; viele Studenten realisieren erst jetzt, dass sie, obwohl sie es als Naturwissenschaftler eigentlich schon längst wussten, immer noch den Rest einer Erwartung in sich hatten, auf die individuierte Lebensmitte dieses vergangenen Lebens treffen zu können, die es nun aber nicht mehr gibt. Der Absolvent des Anatomiekursus schaut durch den menschlichen Leib hindurch auf den Körper, und kann beides fortan abstrahieren.39 Es gibt erhebliche Unterschiede, wie die Kurse organisiert sind. Manche Dozenten beginnen mit dem Sezieren am Kopf und Gesicht als der am meisten an die Individualität des Menschen erinnernden Partie, bei vielen Anatomen steht der Kopf am Ende der Sektion. Viele Dozenten legen Wert darauf, dass die Studenten den Leichnam gleich bei der ersten Sitzung berühren und eigenhändig umdrehen, um ihn auch von seiner Rückseite inspizieren und abtasten (Palpation) zu können. Damit wird auf die spätere Praxis des Arztes vorgegriffen, der ja auch Totenscheine ausstellen muss und dabei Tote im Hinblick auf ungewöhnliche Todesursachen in Augenschein zu nehmen hat. Von Anfang an wird eine Haltung erworben, die den Mediziner gewohnheitsmäßig den Körper in seiner Totalität betrachten lässt. Das setzt sich fort, wenn das Sezieren weiter ins Innere voranschreitet. Im Kursus wird die Erfahrung gemacht, dass einzelne Gewebe, Organe und Gefäße im Körper nicht als trennscharfe Einzelgebilde vorliegen, sondern ineinander und miteinander in einer organischen Totalität verwachsen sind. Sie sind manchmal nur schwer abgrenzbar und müssen aus dem Ganzen herausgelöst werden.40 Das scheint für die spätere chirurgische Tätigkeit außerordentlich wichtig zu sein.41 39 Kehrseitig ist es aber deshalb auch so wichtig, dass der menschlichen Hülle der Spender nach Abschluss des Kurses die Würde ihres ja gelebten individuellen Lebens wiedergegeben und der Leichnam bestattet wird. Die Bestattungsfeiern, die von den Instituten ausgerichtet werden, sind für Dozenten wie für Medizinstudenten deshalb außerordentlich wichtig. 40 Vgl. Korf, Horst-Werner/Wicht, Helmut/Snipes; Robert L./Timmermans; Jean-Pierre/ Paulsen, Friedrich/Rune; Gabriele/Baumgart-Vogt, Eveline: „The dissection course – necessary and indispensable for teaching anatomy to medical students“, in: Annals of Anatomy, 190 (2008), S. 16-22. 41 In den USA wird der Anatomiekurs seit einigen Jahren eingeschränkt praktiziert, in England ist er ganz abgeschafft worden. Auch in Deutschland wird in den Fachgesellschaften darüber diskutiert, ob der Einsatz von präparierten Leichnamen durch Plastinate ersetzt werden sollte, die sich wiederverwenden lassen. Dabei wird von Gegnern dieses Vorschlags ins Feld geführt, dass sich, wie in England wohl schon zu erkennen, die chirurgischen Kunstfehler häufen würden, wenn der Kurs abgeschafft würde. Vgl. Korf et al. „The dissection course“, S. 18 ff.
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Während des Kursus werden außerdem die Medizinerarbeit störende Affekte, Abscheu, Horror, magische Vorstellungen, voyeuristische Neugierde oder plötzlich auftretende Lust am Hineinschneiden durchgearbeitet und sollen einem nüchternen, in den Dienst des methodischen Verstehens gestellten Interesse am Körper weichen. Viele Studenten träumen während der Kursphase viel. Bei manchen löst der Kurs religiöse Empfindungen aus, bei vielen auch Gefühle der Hinfälligkeit und Vergeblichkeit des Lebens. Es sind dies alles Anzeichen eines verdichteten Übergangs. Der Erfolg der dabei ablaufenden Bildungsprozesse hängt wesentlich auch von der Gabe der Kursleiter ab, die Erfahrungen der Medizinstudenten aufzufangen und Hemmungen, Übelkeit, Ohnmacht oder Scham über sadistische Lust oder Voyeurismus als normale Episoden annehmbar zu machen und gegen triebhaft-prekäre Äußerungen das Sachhaltigkeitsprinzip einzuklagen. Wir wissen noch viel zu wenig darüber, was in solchen transformatorischen Prozessen genau geschieht und wie sie in die sozialen Interaktionsdynamiken der Kurse eingebettet sind. Vergleichbare Bildungsprozesse gibt es während des gesamten Studiums und in allen Disziplinen. Der internistische „Klopf“-Kurs wäre ein weiteres Beispiel für die Ärzte. Auch hier werden Lernprozesse gemacht, aber zugleich kommt diesem Kurs die Bedeutung zu, das erste Mal einen konkreten „Fall“ vor sich zu haben, bei dem ein Kranker ein wirkliches Leiden hat. Der Kurs führt am Patienten an die ärztliche Kunst der hypothetischen Erschließung eines Krankheitsbildes heran. Wichtig ist auch, dass er während einer Phase intensiver Lerntätigkeit stattfindet, in der der Erwerb naturwissenschaftlichen Grundlagenwissens eigentlich alles beherrscht. In ihm werden die für die Berufswahl vieler Mediziner ausschlaggebenden kurativen Motive des Helfens und Heilens wieder konkretisiert, aber zugleich mit der Erfahrung gekoppelt, dass ohne ein Grundlagenwissen die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten des Laien nicht sehr weit reichen würden. Zwei Bedeutungen von Professionalisierung Professionalisierung bedeutet also zusammengefasst das Beherrschen einer Praxis, in der wissenschaftsbasiert je fallspezifische Lösungen für in die Krise geratene Lebenspraxen erarbeitet werden; das Beherrschen der Strukturlogik dieses Handelns, die in der Sache begründet ist und eine unvermeidliche Dynamik der Interaktion aus sich hervorbringt, die nur unter Kontrolle zu halten ist, wenn für die daraus sich ergebenden typischen Handlungsprobleme Handlungsroutinen bereitgehalten werden; sowie die Erzeugung und Gewährleistung der fachlichen wie habituellen Voraussetzungen einer solchen Praxis in Institutionen und Bildungsgängen. Man kann von daher zwei Stränge der Professionalisierung unterscheiden. Zum einen ist damit der sozialisatorische Prozess gemeint, in dessen Verlauf eine Person die Berufsrolle und Fachexpertise erwirbt; also die Professionalisierung der Einzelpersönlichkeit in
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einer Ausbildung: – der Erwerb des State of the Art sowie eines selbstkontrollierenden Berufshabitus. Dieser Vorgang muss von jedem Einzelindividuum und von jeder Generation immer wieder von neuem persönlich durchlaufen werden. Zum anderen meint Professionalisierung den historischen Prozess der institutionellen Formierung der Professionen, wie er sich in verschiedenen Phasen der Geschichte Europas und Nordamerikas seit dem 13. Jahrhundert vollzogen hat und immer noch vollzieht. Diese Formierung muss nicht oder nur sehr bedingt von jeder Generation neu durchlaufen werden; weil sie bereits Institutionen vorfinden, die in ihren Ausbildungs- und Berufsregelungen ein Kanon an Routinen bereits verkörpern. Dabei ist der Aufbau berufsständischer Institutionen und Regelwerke nur ein Teil dieser Berufsgeschichte. Ein anderer Teil ist die Schaffung einer spezifischen Wissenskultur und ihre Institutionalisierung in Bildungseinrichtungen, in denen die Professionen ihr Fachwissen nicht nur in Gestalt verschiedener Disziplinen fortschreiben und erneuern, sondern in Schüler-Meister-Verhältnissen weitergeben. Der Präparationskursus im Medizinstudium ist nur ein einzelnes Beispiel dieser Wissenskultur, die typische Krisenerfahrungen für den Studierenden bereithält. Rückt man wie hier vorgestellt die Handlungslogik der professionalisierten Praxis ins Zentrum, dann gelangt man zu einer Sichtweise, die sich nicht mehr an klassifikatorischen Merkmalen der Professionen orientieren und dabei die Institutionen der klassischen Professionen ins Zentrum stellen muss. Man kann vielmehr die Perspektive umdrehen und danach fragen, bei welchen Berufstätigkeiten eigentlich eine Professionalisierung strukturell geboten wäre, weil es um die Bewältigung von lebenspraktischen Krisen geht, die mit Hilfe einer professionalisierten Fachexpertise zu bearbeiten wäre. Es wird möglich, analytisch zwischen einer Professionalisierungsbedürftigkeit von Berufen und ihrer faktischen Professionalisiertheit zu unterscheiden. Professionalisierungsbedürftig sind demnach auch Berufe, die bislang nicht zu den klassischen Professionen gerechnet wurden, z.B. die Unternehmens- und Organisationsberater, die ambulante Pflege, der Journalismus, oder auch das Militär. Man kann unterscheiden zwischen Berufen, die professionalisierungsbedürftig und faktisch professionalisiert sind, wie die Ärzte, Juristen, Architekten oder auch die Wissenschaftler, einerseits, und Berufen, die zwar professionalisierungsbedürftig wären, aber aus irgendwelchen Gründen noch keine Professionalisiertheit erreicht haben. Zu dieser zweiten Gruppe gehören zum Beispiel die Sozialarbeiter oder die Lehrer und viele Beraterberufe.42 Demgegenüber lässt sich die42 Oevermann, U.: Der professionalisierungstheoretische Ansatz des Teilprojekts „Struktur und Genese professionalisierter Praxis als Ortes der stellvertretenden Krisenbewältigung“. Seine Stellung im Rahmenthema des Forschungskollegs und sein Verhältnis zur historischen Forschung über die Entstehung der Professionen im 19. und 20. Jahrhundert. unveröffentlichtes Manuskript, Frankfurt 1998; ders.: Struktur und Genese professionalisierter Praxis als gesellschaftlichen Ortes der stellvertretenden Krisenbewältigung, Lang-
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jenige Gruppe von Berufen absetzen, die zwar auf der institutionellen Ebene alle Merkmale einer Professionen zeigen, also Kammern, Honorarordnungen oder akademische Ausbildungs- und Zulassungsbedingungen aufweisen, deren Tätigkeit aber keine Aufgabenstellung innewohnt, die man analytisch als eine Krisenbewältigung beschreiben könnte, so dass von ihr auch gar keine entsprechende Handlungsproblematik bearbeitet werden muss. Dazu gehören zum Beispiel die Ingenieure, die Wirtschaftsprüfer oder die Steuerberater. Bei diesen Berufen könnte man diskutieren, inwiefern hier nicht tatsächlich interessenpolitische Gründe der Statussicherung im Spiele sind. Drei Foci der professionalisierten Praxis43 Blickt man auf die Gesamtheit aller Berufe, für die sich eine Strukturlogik des professionalisierten Handelns aufzeigen lässt, kommt man zu einer gar nicht so geringen Anzahl. Betrachtet man jedoch ihre Handlungslogik, stößt man auf überraschend klar wiederkehrende Grundprobleme und Ähnlichkeiten, die man zusammenfassen kann. Die Professionalisierungstheorie unterscheidet heute drei verschiedene Typen („Foci“) einer stellvertretenden Krisenbewältigung, denen sich jene Berufe aufschlussreich zuordnen lassen.44 (1) Im ersten Fokus geht es um die Bewahrung und Wiederherstellung einer somato-psycho-sozialen Integrität und die Bearbeitung von Krisen, welche diese Integrität akut einschränken. In diesem Fokus geht es immer um die Krise einer partikularen Lebenspraxis: Einer konkreten Person, eines Paares, einer Familie als Sozialisationsinstanz, einer Institution (Behörde oder Unternehmen). Es handelt sich um Krisen, die wie von außen in die Routinen des Alltags hereinbrechen und eine Selb-
fassung des Antrages des Projektes im SFB/FK 435 „Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel“ der Univ. Frankfurt a.M. unveröffentlichtes Manuskript, Frankfurt 1998, S. 12-19. 43 Es wurde bewusst auf eine einheitliche Schreibweise des Wortes Fokus/Focus verzichtet. Der lateinische Plural Foci ist in der Professionalisierungstheorie längst zum Terminus technicus avanciert und der eingedeutschte Plural „Fokusse“ stellt in meinen Augen eine eher unschöne Sprachschöpfung dar. 44 Oevermann, U.: Theoretische Skizze einer revidierten Theorie, S. 25 ff.; ders.: Der professionalisierungstheoretische Ansatz des Teilprojekts, S. 20 ff.; vgl. auch Oevermann, Ulrich: „Kodifiziertes theoretisches Wissen und persönliche Erfahrung in der stellvertretenden Krisenbewältigung professionalisierter Praxis“, in: Fried, Johannes/Kailer, Thomas (Hg.): Wissenskulturen – Beiträge zu einem forschungsstrategischen Konzept, (=Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel, Bd. 1), Berlin 2003, S. 195-210.
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ständigkeit und Lebensfähigkeit bedrohen. Das Spezifische daran ist die Unabweisbarkeit und Vordringlichkeit dieser „Akutkrisen“. Es sind erstens Krisen der körperlich-organischen und seelischen Gesundheit, auf die sich die ärztliche Praxis spezialisiert hat; alle therapeutischen Berufe gehören hierzu. Zweitens sind es die Krisen der sozialisatorischen Entwicklung eines Kindes, die vom elterlichen Herkunftsmilieu nicht (mehr) aufgefangen werden können und für die sich die schulund heilpädagogischen Berufe entwickelt haben. Drittens gehören alle sozialarbeitenden Berufe hinzu, sofern sie einem Menschen helfen, Krisen einer sozialen Selbständigkeit und Befähigung aufzufangen, persönliche Angelegenheiten im Kontakt zu Behörden, Vermietern oder Schuldnern zu regeln. Viertens alle Krisen der Entscheidungsfähigkeit eines Unternehmens, einer Behörde oder eines Verbandes, die mit einer Fehlentwicklung im eigenen Hause konfrontiert sind, aber nicht wissen, woran es liegt oder wie sie aus ihr herauskommen können. Für diesen Typ haben sich die Unternehmens- und Organisationsberater entwickelt. Dem in diesem Fokus der professionalisierten Praxis bearbeiteten Krisentypus entspricht ein spezifischer Arbeitsmodus. Da ein konkretes Klientenverhältnis Voraussetzung einer gelingenden Krisenbewältigung ist, vollzieht sich diese immer im Rahmen eines Arbeitsbündnisses mit den entsprechenden Auswirkungen auf die Dominanz interventionspraktischer Handlungsprobleme in diesem Fokus. (2) Im zweiten Fokus werden Krisen einer Rechtsgemeinschaft und des in ihr geltenden Rechts bearbeitet, auf die sich die rechtspflegerischen Berufe und – ganz anders gelagert – das Militär spezialisiert haben. Krisen des Rechts sind vor allem Geltungskrisen und gehen aus einem Handeln (oder schuldhaft unterlassenen Handeln) hervor, das einen Konflikt zwischen Rechtssubjekten nach sich zieht. Es sind Krisen des gesetzlich geregelten, fixierten Rechts, als auch Krisen der Sittlichkeit und der Regeln der sozialen Kooperation. Auch die Kooperation zwischen Völkern gehört dazu. Kommt es zu einem Gesetzesbruch oder zum Streit über die Geltung von Verträgen oder fühlt sich ein Rechtssubjekt in seinen Autonomierechten missachtet und können die streitenden Parteien sich mit ihren lebenspraktischen Einigungspotentialen nicht mehr auf einen Konsens und Frieden verständigen, dann hält die Rechtsgemeinschaft im Inneren ein mediatives Verfahren bereit, in dem bestehende Normen, Verträge, Verbote oder Vorschriften inhaltlich ausgelegt und ihre Geltung verbindlich restituiert werden können. Juristen haben sich auf die verschiedenen Positionen dieses Verfahrens spezialisiert. Ihr Klient ist nicht eine partikulare Lebenspraxis, sondern die Rechtsgemeinschaft insgesamt. Sie ist mit dem Herrschaftsverband eines politisch souveränen Gesetzgebers identisch und wird von der einzelnen Lebenspraxis als eine Schutzgemeinschaft vorausgesetzt. Die Krise einer gestörten Sozialbeziehung zwischen Rechtssubjekten ist in dem Moment, in dem sie öffentlich angezeigt wird, eine Sache, die die Rechtsgemeinschaft insgesamt bedroht. Denn damit ist automatisch die zukünftige Rechtsauffassung problematisch.
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Eine Rechtsgemeinschaft muss daher jede Krise des Rechts um ihrer selbst willen bearbeiten; andernfalls würde sie den Anspruch auf die Durchsetzung eines von ihr für alle verbindlich geltenden Rechts aufgeben. In der Rechtspflege steht also weniger das Arbeitsbündnis (zwischen Anwalt und Mandant) im Zentrum. Der dominierende Arbeitsmodus ist das Verfahren. Es unterwirft die Konfliktbewältigung einer formalisierten Ordnung, in deren Rahmen der gesetzlich artikulierte Wille eines Gesetzgebers im Lichte konkreter Umstände eines Einzelfalls für diesen verbindlich rekonstruiert werden kann. Richter und Anwälte nehmen darin entgegengesetzte Aufgaben wahr, die jedoch dynamisch und korrektiv aufeinander bezogen bleiben. Anwälte sind Spezialisten einer formalrationalen Prozessführung und haben die Aufgabe, Vorschriften der Beweisaufnahme, Fristen, Antragsrechte usw. im Sinne einer maximalistischen Interessenwahrung ihres Mandanten zu nutzen. Von Wahrheitsfragen und materieller Bewertung sind sie methodisch entlastet. Den Richtern obliegt die materialrationale Prozessführung und (je nach Rechtssystem auch den Geschworenen) die Urteilsfindung.45 Richter, Anwälte und Staatsanwälte können ihre Aufgaben im Verfahren nur dann gut ausüben, wenn sie sich darauf verlassen können, dass die anderen Positionen jeweils professionell wahrgenommen werden. Richter, Anwälte und Staatsanwälte sind also einerseits getrennte Berufsgruppen, andererseits leisten sie nur in der Einheit als Organe der Rechtspflege eine Wiederherstellung von Recht und Gerechtigkeit, weil sie nur zusammen das Verfahren garantieren. 3) Im dritten Fokus stehen in Muße erzeugte Krisen der Geltung von Wissen und Wahrnehmungsroutinen, für deren Bearbeitung sich in Wissenschaft und Kunst eine Praxis der „methodisierten Geltungsüberprüfung“ etabliert hat, welche diese Krisen von sich aus herbeiführen, um zugleich Lösungen für sie zu erarbeiten. In diesem Fokus bewegen sich das wissenschaftliche Handeln als Modus der begrifflichen Erkenntnis und das künstlerische Handeln als Modus der sinnlichen Erkenntnis. Die Systematik dieses dritten Fokus wird gleich in einem neuen Anlauf genau ausgeführt, wobei wir uns auf die Erfahrungswissenschaften beziehen. – In Schaubild 1 ist die Systematik des Modells nochmals zusammengefasst.
45 Wernet, Andreas: Professioneller Habitus im Recht. Untersuchungen zur Professionalisierungsbedürftigkeit der Strafrechtspflege und zum Professionshabitus von Strafverteidigern, Berlin 1997.
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Schaubild 1: „Die drei Foci des professionalisierten Handelns“ !"#$ % &' % ( ) * !.#/ , & 0 !3# 0 ' ',
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Leicht abgewandelte Version von Oevermann, Ulrich: Wissenschaft als Beruf, 2003.
D IE P ROFESSIONALISIERUNG DER W ISSENSCHAFT 46 Dass die Wissenschaften erhebliche Unterschiede zu den praktischen Professionen aufweisen, liegt auf der Hand. Wissenschaftler behandeln keine Akutkrisen; sie wehren weder Gefahren ab, noch helfen sie jemandem dabei, eine verlorengegangene Sittlichkeit oder Rechtsposition wiederzugewinnen. Sie haben außerdem keinen konkreten Klienten. Wenn sie als Berater oder Gutachter auftreten, sind sie in diesem Moment gerade nicht Forscher, die sich auf Neuland vorwagen, sondern Sachverständige, Experten, die aus einem schon bewährten Wissen einen Fall einschätzen oder mit einer bewährten Metho-
46 Vgl. für die folgende Argumentation insgesamt: Oevermann, Ulrich: Wissenschaft als Beruf, Einführungsvortrag auf einem Symposium der Studienstiftung des Deutschen Volkes und der Hochschulrektorenkonferenz in Bonn am 31.1.2003, gekürzte Fassung in: Studienstiftung des Deutschen Volkes (Hg.), Jahresbericht 2002 – Fakten und Analysen, 2003, S. 20-38; ders.: Wissenschaft als Beruf – Die Professionalisierung wissenschaftlichen Handelns und die gegenwärtige Universitätsentwicklung, in: Stock, Manfred/Wernet, Andreas (Hg.): Hochschule und Professionen, Die Hochschule – Journal für Wissenschaft und Bildung, Jg, 14 (2005), S. 15-49; ders.: „Die Entstehung der hermeneutisch verfahrenden Psychoanalyse aus dem Geist naturwissenschaftlicher Forschung und der Logik ärztlichen Handelns – eine etwas andere Wissenssoziologie“, in: Arni, Caroline/ Glauser, Andreas/Müller, Charlotte/Rychner, Marianne/Schallberger, Peter (Hg.): Der Eigensinn des Materials. Erkundungen sozialer Wirklichkeit. Festschrift für Claudia Honegger zum 60. Geburtstag. Frankfurt am Main/Basel 2008, S. 169-190.
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de einen Sachverhalt aufklären. Sie interagieren deshalb auch nicht mit der Lebenspraxis, um dieser aus einer Krise herauszuhelfen, und kennen daher weder eine Interventionspraxis, noch ein Arbeitsbündnis, das mit dem der Ärzte vergleichbar wäre. Es gibt zwar funktionale Äquivalente innerhalb der Wissenschaften; wenn sich Wissenschaftler z.B. gegenseitig kritisieren, ist dies auch eine Form der Intervention, und die Lehre im akademischen Studium ist durchaus als Arbeitsbündnis anzusehen. Doch haben beide Aspekte einen anderen Charakter. Sie dienen nicht der Bewältigung eines praktischen Problems und führen aus der Logik pragmatischer Krisenlösungen gerade heraus. Selbst wenn man auf die institutionelle Ebene schaut, scheint es mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten zu geben. Wissenschaftler haben keine niedergelassene Praxis, sind in aller Regel nicht freiberuflich tätig; sie erhalten für ihre Leistungen keine oder nur in Ausnahmefällen (bei Gutachten) Honorare. Sie sind überwiegend in Universitäten oder Instituten angestellt, oft sogar auf Lebenszeit verbeamtet. Es gibt nur wenige Grundlagenfächer, die mit einer Industrie verbunden sind und auch für einen klar definierten Berufsmarkt außerhalb der Universitäten ausbilden. Der Chemie ist diese Verknüpfung schon im 19. Jahrhundert gelungen, heute gibt es vergleichbare Entwicklungen aber eigentlich nur in den Lebenswissenschaften, wenn man an Bioengineering, Gentechnologie und moderne Pharmazeutik denkt. Zwar haben auch Absolventen der Physik, Geologie oder Mathematik, der Soziologie, Geschichte oder Volkswirtschaftslehre Zugang zu Arbeitsmärkten außerhalb der Forschung. Es gibt Stellen für Physiker im Ingenieurwesen oder in der Baubranche, für Geologen im Bergbau und der Rohstoffförderung, für Mathematiker in Versicherungen oder statistischen Behörden, für Soziologen in Verbänden, Medien oder im Beraterwesen, für Volkswirte in Stabsabteilungen von Unternehmen oder beim Staat (Finanzverwaltung), usw.; aber einen Beruf des Physikers oder Mathematikers, einen Beruf des Soziologen oder Volkswirten gibt es genau genommen nicht. Es handelt sich um akademische Fächer, denen keine Berufspraxis entspricht, weil ihre Wissenschaft nicht entlang typischer Praxisprobleme entstanden ist, so dass der Übergang vom akademischen Studium in eine praktische Tätigkeit immer auch einen Bruch mit der Wissenschaftslaufbahn bedeutet und je individuell gestaltet werden muss. Dies bedeutet aber keineswegs, dass die Physik oder Soziologie nicht verberuflicht wären. Die Wissenschaft selbst stellt diesen Beruf dar. Dieser Beruf ist insofern außergewöhnlich, als ihm keine Praxisprobleme aufgetragen sind, sondern eine Beschäftigung mit Erfahrungen und Wissen, die gerade eine Distanz zur Praxis gebietet. Der Beruf des Wissenschaftlers hält dazu an, Problemstellungen nachzugehen, die aus Erkenntnisstreben selbst hervorgebracht werden und die mit praktischen Interessen und Bedürfnissen oft nur entfernt zu tun haben. Forschung und Lehre ist der Selbstzweck dieses Berufs, sein hauptsächlicher Inhalt. Das akademische Studium einer Einzelwissenschaft ist der klassische Ort, an dem für die Wissenschaft ausgebildet wird und sich ihr Nachwuchs rekrutiert. Das akademische Studium qualifiziert in erster Linie für die Wissenschaft selbst.
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Aus allen diesen Gründen liegt es nicht unbedingt nahe, die Wissenschaftler in ein und demselben theoretischen Bezugsrahmen zu behandeln, wie die praktischen Professionen. Die Wissenschaftler teilen mit den Ärzten, Juristen oder Pharmazeuten das akademische Studium, doch sonst scheinen sie diesen Berufen in jeder Hinsicht entgegengesetzt zu sein. Von daher überrascht es nicht, dass es in der gegenwärtigen Soziologie nicht üblich ist, die Wissenschaft aus professionssoziologischer Perspektive zu betrachten. Obwohl viele Klassiker der Wissenschaftssoziologie47 die Wissenschaft noch wie selbstverständlich als Profession betrachteten, wird dieser rahmentheoretische Ansatz schon seit den 1970er Jahren kaum mehr verfolgt.48 Dafür gibt es viele Gründe, denen wir hier nicht weiter nachgehen können.49 Unsere Aufgabe besteht darin, den spezifischen Ansatz der Professionalisierungstheorie für die Wissenschaften darzulegen und den Nachweis zu führen, dass sich von der Handlungslogik der Wissenschaft aus gedacht eine Professionalisierungsbedürftigkeit im Sinne einer notwendig zu unterstellenden professionsethischen Selbstkontrolle ergibt. Dies setzt voraus, die Handlungslogik selbst zu bestimmen. Versucht man zu einem Strukturmodell des wissenschaftlichen Handelns zu gelangen, muss man zunächst das Forschen ins Zentrum rücken. Es interessiert uns im Folgenden also weniger, was Wissenschaft auch ist: Das professionelle Verwalten eines bewährten Wissens, seine Archivierung und Systematisierung, seine Kanonisierung und curriculare Präsentation zum Zwecke der Lehre. Auch diese 47 Vgl. Weber, Max: Wissenschaft als Beruf, GAW, S. 582-613; Merton, Robert K.: On the shoulders of giants, Chicago 1963, dtsch.: Auf den Schultern von Riesen. Ein Leitfaden durch das Labyrinth der Gelehrsamkeit, Frankfurt 1980; Ben-David, Joseph: „The Profession of Science and its powers“, in: Minerva, 10, 3 (1972), S. 362-383; Parsons, Talcott/Platt, Gerald M.: The American University, Harvard University Press 1973. 48 Als wichtige Ausnahmen wären zu nennen. Stichweh, Rudolf: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Frankfurt 1984; ders.: Wissenschaft, Universität, Professionen. Frankfurt a.M. 1994; ders.: „Professions in Modern Society“, in: International Review of Sociology 7, 1997, S. 95-102. Auch zugänglich unter: http:// www.unilu.ch/files/stw_professions-in-modern-society-1997.pdf. Vgl. auch Enders, Jürgen: „Crisis? – What Crisis? The Academic Professions in the Knowledge Society“, in: Higher Education, 38 (1999), 1, S. 71-81; Kurtz, Thomas: „Die Form Profession“, in: ders., Die Berufsform der Gesellschaft, Weilerswist 2005, S. 135-186; Schimank, Uwe: „Die akademische Profession und die Universitäten: “New Public Management“ und eine drohende Entprofessionalisierung“, in: Klatetzki, Thomas/Tacke, Veronika (Hg.): Organisation und Profession. Wiesbaden 2005, S. 143-164. 49 Für die deutsche Debatte markiert Helmuth Schelskys Buch über die deutsche Universität von 1963 sicher eine wichtige Zäsur. Schelsky, Helmuth: Einsamkeit und Freiheit. Die deutsche Universität und ihre Reformen, Hamburg 1963.
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Dimensionen der Wissensbearbeitung werden angesichts der heutigen Intensität der Forschungsaktivitäten immer wichtiger. Uns interessiert aber zunächst die Wissenschaft als das Erschließen von Unbekanntem. Als solche verstehe ich Forschung als Prozess der Krisenbewältigung. Das Erschließen von Unbekanntem setzt voraus, dass etwas Unbekanntes in das Wahrnehmungsfeld eines Erfahrungssubjekts getreten ist und damit vorhandenes Wissen entweder in Zweifel gezogen oder zerstört wurde oder als Illusion sich herausgestellt hat und ein Bewusstsein manifesten Nichtwissens entstanden ist. Was uns aus soziologischer Perspektive interessieren muss, ist, wie es überhaupt dazu kommt, dass eine solche Krise des Wissens entsteht, und wie es dazu kommt, dass im wissenschaftlichen Handeln das Erschließen von Unbekanntem zu einer systematischen Tätigkeit erhoben wird, die es jenseits einer sporadisch zufälligen Tätigkeit auf Dauer stellt und strukturelle Bedingungen vorfindet, die ein Auftreten solcher Krisen begünstigen und ihre erfolgreiche Bearbeitung erlauben. Nähert man sich diesen Fragen an, bietet es sich an, erneut auf das Modell der Lebenspraxis zurückzukommen und danach zu fragen, wie sich das wissenschaftliche Handeln zu den Prozessen der Krisenbewältigung der Lebenspraxis verhält. Es zeigt sich dann, dass es in diesen Prozessen gewissermaßen strukturell bereits angelegt ist und die Wissenschaft sich die Krisenbewältigungsprozesse der Lebenspraxis zum Vorbild nimmt. Gleichzeitig ist das wissenschaftliche Handeln der Lebenspraxis auch entgegengesetzt und handlungslogisch durch einen tiefen Graben von ihr getrennt. Dieser elementare Unterschied von Wissenschaft und Lebenspraxis erschließt sich einem, wenn man sich die unterschiedlichen Perspektiven verdeutlicht, die beide auf Krisen und Routinen einnehmen. Das Argument wurde schon vorbereitet. Für die Praxis stellen Krisen immer einen zu vermeidenden, außeralltäglichen Grenzfall des Handelns dar, der möglichst rasch überwunden werden muss; Krisen sind eine Zeit des Herausgetretenseins aus den Routinen des Alltags, sie können von der Praxis nicht auf Dauer gestellt werden, ohne das Leben selbst zu gefährden. Denn jede Praxis ist dazu angehalten, Handlungspläne auszuführen, die bereits mehr oder weniger feststehen, die einfach durchgeführt werden müssen, um Aufgaben zu bewältigen, die sich aus der Notwenigkeit ergeben, die Lebensnot bewältigen zu müssen. Fünfundneunzig Prozent aller Handlungen im Alltag vollziehen sich in Routinen, die dieser Notwendigkeit folgen. Sie werden den Handlungssubjekten daher auch gar nicht bewusst, weil sie verinnerlichten Abläufen entsprechen, die nicht hinterfragt werden. Für die Lebenspraxis ist in diesem Sinne die Routine der Normalfall. Im wissenschaftlichen Handeln verhält es sich genau anders herum. Die Wissenschaften interessieren sich gerade dafür, wie diese Routinen entstanden sind und auf welche ursprünglichen Probleme sie eine Antwort geben. Sie versuchen bewusst aus der Alltagsperspektive des Vollzugs von Routinen herauszutreten und diese zum Gegenstand eines Hinterfragens zu machen, um ihre Ursprünge zu rekonstruieren. Und diese Ursprünge sind nie selbst Routinen,
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sondern immer krisenhafte Entstehungszusammenhänge, die mehr oder weniger unbekannt sind. Auch die Wissenschaften haben natürlich Routinen und kämen ohne solche nicht aus. Für die Wissenschaft sind Krisen aber der Ausgangspunkt ihrer Praxis, ist die Krise der Normalfall und die Routine der Grenzfall. Damit ist eine Differenz benannt, der man immer wieder begegnet und die verschiedene erkenntnislogische und handlungslogische Dimensionen hat. Folgen wir zunächst der handlungslogischen Differenz, weil sie die führende ist. Damit der Unterschied zwischen Wissenschaft und Praxis im Handeln selbst zu greifen beginnt, muss es dazu kommen, dass eine Haltung eingenommen wird, die aus der Lebenspraxis herausführt und ihr gegenüber jenen Perspektivenwechsel vollzieht. Dies muss schon in der Lebenspraxis selbst angelegt sein, ist aber darauf angewiesen, dass der Vollzug von Handlungen ausgesetzt werden kann. Man kann sich diesen Vorgang dort am besten exemplarisch verdeutlichen, wo er zugleich am Elementarsten ist: am Wahrnehmungshandeln. Wahrnehmungshandeln und ästhetische Erfahrung Das Wahrnehmen ist für sich genommen interessant als Grenzfall des Handelns.50 Sinnliche Wahrnehmung ist einerseits bei jedem Handeln beteiligt. Ohne Wahrnehmung der äußeren Umgebung könnte keine motorische Aktivität ausgeführt werden. Die Wahrnehmung ist darin zugleich immer ein Mittel zum Zweck, Diener des Vollzugs von Handlungsroutinen. Ein Beispiel: Ein Fußgänger sieht auf der anderen Straßenseite einen Freund. Er will ihn begrüßen und muss dazu die Straße überqueren. Er tritt an die Bordsteinkante heran. Das Sehorgan achtet auf Passanten, Autos, den Bordstein gegenüber; die Ohren hören auf herannahende Motorengeräusche. Das Körperempfinden achtet auf die Standfestigkeit der Füße. Die Straße ist frei, er geht los! Im Gehen nehmen die Sinne jede Veränderung wahr; alle Sinne spielen ineinander. Der Kanaldeckel, näherkommende Geräusche, ein Passant, der den Weg kreuzt. Alles das vollzieht sich in Sekunden, ist Routine. Die Wahrnehmung dient hier dem Gelingen einer Handlung, wie sie an jedem Tage millionenfach vorkommt, und ist ihm untergeordnet. Handlungsroutinen sind also mit Wahrnehmungsroutinen verknüpft und diese sind hochselektiv am Erfolg der Handlungen ausgerichtet. Der Wahrnehmungsapparat nimmt jedoch immer mehr wahr, als für den Vollzug einer aktuellen Handlung relevant ist; er rezipiert eine Totalität von Eindrücken. Der Apparat subsumiert
50 Oevermann, Ulrich: Krise und Muße: Struktureigenschaften ästhetischer Erfahrung aus soziologischer Sicht; unveröffentlichtes Manuskript Frankfurt 1996. http://publikationen. ub ... .de/volltexte/2005/535/; ders.: Künstlerische Produktion aus soziologischer Perspektive, S. 128-157.
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daher normalerweise möglichst schnell alle Sinnesdaten seinen Handlungsschemata und filtert weg, was nicht relevant ist bzw. hat Aufmerksamkeitspotentiale für anderes gar nicht aktiviert. Dies ist Ausdruck einer lebenspraktischen Vernunft, eine notwendige Verdrängung. Alle Stimuli, die den Vollzug einer Handlung stören könnten, werden abgewehrt. Das Wahrnehmen kann andererseits jedoch auch zu einer eigenständigen Handlung werden. Ein solches selbstgenügsames Wahrnehmen beginnt z.B. damit, dass jemand seine Handlungsvollzüge unterbricht, um sich einen Gegenstand genauer zu betrachten, der in sein Wahrnehmungsfeld getreten war und aus irgendeinem Grunde seine Neugierde geweckt hat. Das Wahrnehmungshandeln wird hier gewissermaßen zum Selbstzweck. Es dient nicht bestimmten Zielen, sondern macht die Perzeption zum Inhalt des Handelns, erfolgt um seiner selbst willen. Dieses autonome Wahrnehmen wird nicht von den Gegebenheiten eines Handlungsplans strukturiert, sondern davon, dass es den Gegenstand genauer erkunden will. Dieses Wahrnehmungshandeln ist aktiv, es lenkt alle Sinne auf den Gegenstand und schafft sich Bedingungen, die es ihm erleichtern, den Gegenstand besser untersuchen zu können. Es legt ein Objekt zum Beispiel auf einen Tisch, holt eine Lampe herbei und schaut es sich von allen Seiten an. Es dreht das Ding um, studiert seine Details, betrachtet es aus der Nähe und aus der Ferne. Dieses Wahrnehmen strebt danach, den Gegenstand besser kennenzulernen und sich mit ihm vertraut zu machen. Es lässt sich von der Eigenqualität des Gegenstandes leiten und ist eine Wahrnehmungsoperation, die sich den Details des Objekts überlässt. Insofern ist es ein Handeln in eine unbekannte Zukunft hinein, eine Praxis mit offenem Ausgang. Das autonome Wahrnehmen eröffnet eine Praxis, die hinsichtlich ihrer Dauer ins Ungewisse führt. Die autonome Wahrnehmungshandlung setzt daher immer schon voraus, dass der Vollzug von Handlungsroutinen, die für die Bewältigung der Lebensnot notwendig sind, zumindest vorübergehend ausgesetzt werden kann. Das Wahrnehmungssubjekt muss davon entlastet sein, Handlungen ausführen zu müssen, die unmittelbar den Zweck verfolgen, irgendwelche Gefahren abzuwenden oder praktische Probleme zu bewältigen. Wäre diese Bedingung nicht gewährleistet, könnte ein selbstgenügsames Wahrnehmen schnell selbst gefährlich werden. Würde z.B. unser Fußgänger plötzlich auf der Straße stehenbleiben, weil ein architektonisches Detail an der Hausfassade gegenüber seine Aufmerksamkeit erregt hatte, würde er riskieren, von einem Auto überfahren zu werden. Außerdem würde er seinen Freund brüskieren, weil ihm die Hausfassade wichtiger zu sein scheint, als dieser. Er muss also erst von der Straße herunter, sich einen Platz suchen, von dem aus er das Haus bequem studieren kann; und er muss sich vorher seines Freundes versichern und ihn vielleicht dazu einladen, sich der Betrachtung des Hauses gemeinsam zuzuwenden. Ein selbstgenügsames neugieriges Wahrnehmungshandeln ist darauf angewiesen, dass es von normalen Bedingungen der Praxis entlastet ist. Ist dies aber erfüllt, entsteht eine Praxis, die den Routinen der Lebenspraxis handlungs-
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logisch entgegengesetzt ist. Sie dient gerade nicht dem Gelingen von Routinen, die schon feststehen, sondern ist umgekehrt darauf angelegt, etwas kennenzulernen, was ihr noch unbekannt ist. Sie wendet sich damit einer Krisenhaftigkeit von Wahrnehmungen zu, die potentiell immer gegeben ist, auch wenn sie nur unter Bedingungen einer praxisentlasteten Wahrnehmung Gegenstand eines eigenen Handelns werden kann. Jedes Gebilde kann Gegenstand einer selbstgenügsamen Wahrnehmung werden. Ist ein Gebilde erst einmal Gegenstand geworden, ist es dem Effekt einer Verfremdung ausgesetzt. Der Gegenstand selbst bleibt derselbe, aber der Modus seiner Wahrnehmung ändert sich ums Ganze. Er tritt aus den an ihm gebildeten Wahrnehmungsroutinen heraus und wird zu einer Totalität von Qualitäten, Eigenschaften und Zusammenhängen, die für sich genommen noch nicht thematisch waren. Er wird Gegenstand einer Wahrnehmung, für die noch keine Muster zur Verfügung stehen. Das Wahrnehmungshandeln eröffnet somit die Möglichkeit, ungewohnte, neue Aspekte an ihm zu entdecken und selbst ungewöhnliche Sichtweisen an ihn heranzutragen. Folgt ein Erfahrungssubjekt erst einmal der Betrachtung eines Objekts um seiner selbst willen, ist damit eine günstige Voraussetzung geschaffen dafür, dass an ihm etwas wahrgenommen wird, das bislang noch nicht so gesehen wurde oder das ganz unbekannt war. Es tritt eine potentielle Krisenhaftigkeit hervor, die sonst latent geblieben wäre. Es ist nun klar, dass dieser Typus der Krise sich grundlegend unterscheidet von dem der ärztlichen oder dem der rechtspflegerischen Praxis. Es handelt sich um Krisen, die die bewährten Routinen der Wahrnehmung und des Wissens betreffen, Wissen verstanden als bewährte Prädikationen von Gebilden der erfahrbaren Welt. Damit ist ausgesprochen, dass der Erfahrungsmodus, von dem das wissenschaftliche Handeln seinen Ausgang nimmt, ein ästhetischer ist, wobei unter „ästhetisch“ nicht in erster Linie oder ausschließlich sinnliche Wahrnehmung verstanden werden soll, sondern der Umstand, dass ein Gebilde Gegenstand einer Betrachtung in Muße wird. Die Wissenschaft bearbeitet Krisen, die durch Muße entstehen. Bevor das wissenschaftliche Handeln weiter bestimmt werden kann, muss man daher zunächst weiter aufklären, welche strukturellen Bedingungen Muße begünstigen, und wie sich gesellschaftliche Milieus bilden können, in denen ästhetische Erfahrungen unter der Bedingung einer Praxisentlastetheit bearbeitet werden können. Exkurs zur Muße Schon die Griechen haben die Erfahrung eines Unbekannten wie selbstverständlich als Moment der Muße verstanden und neue Erfahrung als Folge einer Haltung beschrieben, die angesichts eines Überraschenden, Unerwarteten innehält, um das
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Neue auf sich wirken zu lassen. In der durch Muße erzeugten Krise wird ein Nachdenken darüber angeregt, was das Neue sein könnte und wie es zum Bekannten sich verhält. Die Philosophen haben dieses Anfangsmoment oft als ein „Staunen“, ( – thaumázein, lat. admiratio) beschrieben und darin den Beginn aller wissenschaftlichen Haltung erblickt. Aristoteles sah den Beginn der Forschung in der „Verwunderung“ darüber, „dass sich etwas so verhält, wie es sich verhält!“ „Alle Menschen streben von Natur nach Wissen. Dies beweist die Liebe zu den Sinneswahrnehmungen; denn auch ohne den Nutzen werden sie an sich geliebt und vor allen anderen die Wahrnehmungen mittels der Augen. Nicht nämlich nur zum Zweck des Handelns, sondern auch, wenn wir nicht zu handeln beabsichtigen, ziehen wir das Sehen so gut wie allen andern vor. Ursache davon ist, dass dieser Sinn uns am meisten Erkenntnis gibt und viele Unterschiede aufdeckt. […] Nach allem eben Gesagten fällt also die gesuchte Benennung derselben Wissenschaft zu: Sie muss nämlich eine auf die ersten Prinzipien und Ursachen gehende, theoretische sein; denn auch das Gute und das Weswegen ist eine der Ursachen. Dass sie aber keine hervorbringende (poietische) ist, beweisen schon die ältesten Philosophen. Denn Verwunderung war den Menschen jetzt wie vormals der Anfang des Philosophierens, indem sie sich anfangs über das unmittelbare Auffällige verwunderten, dann allmählich fortschritten und auch über Größeres sich in Zweifel einließen, z.B. über die Erscheinungen an dem Mond und der Sonne und den Gestirnen und über die Entstehung des Alls. Wer aber in Zweifel und Verwunderung über eine Sache ist, der glaubt sie nicht zu kennen. […] Wenn sie daher philosophierten, um der Unwissenheit zu entgehen, so suchten sie das Erkennen offenbar des Wissens wegen, nicht um irgendeines Nutzens willen.“51
Wenn man aber diese Krise durch Muße soziologisch bestimmen will, benötigt man ein Modell, das Muße handlungslogisch beschreiben kann. Man versteht unter Muße in der Antike eine innere Freiheit von den Forderungen des Alltags, die zu einer bemessenen, distanzierten Anteilnahme an den Dingen befähigt. Muße haben, sich die Muße bewahren können, ist Ziel verschiedener ethischer Lebenslehren der antiken Philosophensekten. Andererseits und der Wortbedeutung nach ursprünglich ist mit Muße eine bestimmte Praxiszeit gemeint, eine Zeit, die zur freien Verfügung steht und in der ein Handlungssubjekt sich einer selbst gewählten Tätigkeit zuwenden kann. Das Wort „Muße“ stammt vom mittelhochdeutschen Wort muoze, althochdeutsch muoza, ab und ist verwandt mit „müssen“; es meint laut Duden „sich etwas zugemessen haben, Zeit, Raum, Gelegenheit haben, um etwas tun zu kön-
51 Aristoteles: Metaphysik. Buch I, 1-2. In der Übersetzung von Hermann Bonitz, hrsg. von Horst Seidl. Erster Halbband: Bücher I (A)-VI (E). Philosophische Bibliothek Band Nr. 307. 2., verbess. Auflage, Hamburg 1982, S. 3-17 (980a-983a).
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nen“.52 Die Zeit der Muße steht einer Zeit der fremdbestimmten Tätigkeiten gegenüber, die zur Bewältigung der Lebensnot notwendig sind.53 Diese Arbeitszeit gehört der materiellen Versorgung, dem Beruf, der Kindererziehung und Pflege der Alten, der Landesverteidigung und dem Erhalt der Institutionen, der Traditionen, und nicht zuletzt der notwendigen Rekreation. Die Muße ist demgegenüber eine Zeit, in der ein Mensch tun kann, was ihm beliebt. Sie ist eine freie Zeit, d.i. eine reelle Option, etwas zu tun, für das sonst keine Zeit bleibt, und diese Option entsteht, wenn alle notwendigen Aufgaben des Tages erledigt sind. Typische Zeiten der Muße sind deshalb die Abendstunden, die Wochenenden, das Ende einer Saison oder die Jahreswenden, also Zeitspannen, die eintreten, wenn eine Arbeit verrichtet ist und ein Zyklus zu seinem Abschluss kommt. Muße ist immer die Frucht einer getanen Arbeit. Sie ist eine Zeit der Möglichkeiten und der Selbstverwirklichung. Bereits Karl Marx orientierte sich an diesem Zeitmodell, wenn er dem „Reich der Notwendigkeit“ das „Reich der Freiheit“ gegenüberstellte. „Der wirkliche Reichtum der Gesellschaft und die Möglichkeit beständiger Erweiterung ihres Reproduktionsprozesses hängt ... nicht ab von der Länge der Mehrarbeit, sondern von ihrer Produktivität und von der mehr oder minder reichhaltigen Produktionsbedingungen, worin sie sich vollzieht. Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. Wie der Wilde mit der Natur ringen muss, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so muss es der Zivilisierte, und er muss es in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen. Mit seiner Entwicklung erweitert sich dies Reich der Naturnotwendigkeit, weil die Bedürfnisse wachsen; aber zugleich erweitern sich die Produktivkräfte, die diese befriedigen. Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehen, dass der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehen. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit,
52 Vgl. Duden. Deutsches Universal-Wörterbuch. 5. überarbeitete Auflage. Mannheim 2003, S. 1110. 53 Dem entspricht auch der antike Sprachgebrauch. Das altgriechische (scholé), eigentlich: das Innehalten bei der Arbeit, das im Lateinischen schola dann die Bedeutung von Unterricht, Lehrstätte annimmt, ist dem griechischen pónos, Mühe, Beschwernis entgegengesetzt. Dem entspricht der Gegensatz zwischen dem Lateinischen otium, Muße, Ruhe, auch Müßiggang, und dem Lateinischen negotium, Arbeit.
76 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühen kann. Die Verkürzung des Arbeitstags ist die Grundbedingung.“ 54
Muße ist ökonomisch davon abhängig, dass ein Subjekt damit rechnen kann, von den notwendigen Arbeiten des Lebens entlastet zu sein. In sozialgeschichtlicher Hinsicht ist eine Mußehaltung deshalb erst in den ständisch privilegierten Milieus der Aristokratien kultivierbar gewesen, deren rechtlich abgesicherte Grundvermögen es ihnen erlaubten, andere für sich arbeiten zu lassen, um so Zeit für Dinge zu haben, denen sich der Bauer und Knecht nicht zuwenden konnte. Bereits die griechischen aristoi setzten ein in Muße geführtes Leben über alle anderen Lebensformen. Die griechischen Adeligen sahen darin die Möglichkeit zur Vollendung eines Ideals des schönen, erhabenen Lebens, das den Göttern ähnlich ist. Gewerbliche, vor allem körperliche Arbeit war für sie eine Sache der Sklaven; überhaupt Tätigkeiten, die von äußeren Zwecken und Zielen beherrscht werden, standen unterhalb ihrer Würde. Doch die Mußekultur des Adels warf auch das Problem auf, wofür die freie Zeit sinnvoll verwendet werden sollte. Damit ist zugleich ein zentrales Gerechtigkeitsproblem verbunden, denn nur wenn die freie Zeit sinnvoll auch für das Gemeinwesen genutzt wird, kann die Ungerechtigkeit des sozialen Privilegs in eine Gerechtigkeit verwandelt und Anspruch darauf erhoben werden, das Privileg zu rechtfertigen. Der griechische Adel konnte auf dieses Bewährungsproblem noch keine ständische, das Heldentum Einzelner überschreitende Antwort geben, die die Muße mit einer produktiven und zugleich gemeinwohldienlichen Lebensführung jenseits der körperlichen Arbeit verbunden hätte. Er sucht eine solche in außeralltäglichen Feiern, im ekstatischen Rausch, in dionysischen Festen, auch im kriegerischen Heldenmut. Die griechischen Philosophenschulen, die das Problem zwar formulieren, können jedoch ihre ethischen Lebenslehren nicht verbindlich durchsetzen, erleiden Verfolgung oder propagieren eine weltabgewandte, am individuellen Seelenheil orientierte stoische Lebensführung. Erst die römische Senatsaristokratie der republikanischen Ära hat die privilegierte Existenz der großen Grundbesitztümer mit einer Kultur verbunden, die den Aristokraten darauf verpflichtete, die freie Mußezeit für produktive Tätigkeiten zu verwenden, die auch dem Gemeinwohl zugutekommen.55 Deswegen haben sich die römischen Eliten viel systematischer als Stand 54 Zitiert nach Marx, Karl: Das Kapital, Bd. 3, Siebenter Abschnitt „Die Revenuen und ihre Quellen“, 48. Kapitel „Die trinitarische Formel“, in: Marx, Karl/Engels, Friedrich Werke, Band 25, Berlin 1983, S. 828. 55 Vgl. Schönberger, Otto (Hg.): Marcus Porcius Cato Censorius, genannt Cato der Ältere: De agri cultura. Fragmente. Alle erhaltenen Schriften. München, 1980; vgl. auch Schmitz, Winfried: „Verpasste Chancen. Adel und Aristokratie im archaischen und klassischen Griechenland“. In: Beck, Hans/Scholz, Peter/Walter, Uwe (Hg.): Die Macht der
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auf die Techniken der Herrschaft vorbereitet und schon ihre Jugendlichen die Kriegskunst, Diplomatie, Rhetorik, Literatur oder Staatsgeschäfte studieren lassen. Gleichzeitig haben die römischen Patrizierfamilien ihre Bindung zu den Landgütern und zu einer landwirtschaftlichen Kultur der Nutzbarmachung des Bodens nie ganz aufgegeben und sich eine produzentenethische Lebenshaltung bewahrt, welche die Frucht des Bodens ehrt, auch wenn die Familien vorwiegend in der Stadt lebten und sich mit Staatsgeschäften beschäftigten. Das hat ihnen letztlich auch eine ökonomische Unabhängigkeit bewahrt, die ihnen erlaubte, Staatsgeschäfte mit innerer Distanz und Bemessenheit und einer gewissen Unbestechlichkeit anzugehen. Folgt man Max Weber, dann stehen viele der westeuropäischen Aristokratien in Italien Frankreich, England oder Österreich in dieser Tradition bzw. haben vergleichbare Haltungen zur Mußekultur hervorgebracht. Diese Kultur band die Aristokraten an ein gemeinwohldienliches Leben im Dienste der Herrschaft oder der Religion. Ökonomische Grundsicherung, innere Freiheit von Zwängen des Broterwerbs und Abkömmlichkeit der Person von der Verwaltung des eigenen Großvermögens waren die strukturellen Voraussetzungen dieser aristokratischen Mußekultur.56 Im Mittelalter hat sich diese Kultur zuerst in den Klöstern und Domkapiteln, dann seit dem 12. Jahrhundert auch in den Universitäten Orte geschaffen, in denen einer der Muße geweihten Lebensführung nachgegangen werden konnte. In der Renaissance trat der weltliche Fürstenhof hinzu, an dem die Privilegien der großen Grundvermögen für weltmännische Lebensführung, Mäzenatentum und Kunstsinnigkeit großen Stils verwandt werden konnten. In dieser Mußekultur entstanden die Bibliotheken und Schausammlungen, die zoologischen und botanischen Gärten, die Observatorien und Kabinette. Auch die experimentelle Naturforschung konnte sich als eine eigenständige geistige Betätigung von England und Italien ausgehend in diesen Milieus langsam entfalten. Das Wirtschaftsbürgertum der frühkapitalistischen Zeit hat sich bekanntlich in vielem als Antipode der aristokratischen Mußekultur gesehen. Es hat diese als Ausdruck eines illegitimen Schmarotzertums bekämpft, so wie später die sozialistische Arbeiterschaft das sogenannte Lumpenproletariat (das heutige „Prekariat“) als die noch schlimmere Variante eines nichtsnutzigen Müßiggangs verdammt hat.57 Gleichwohl haben Bürgertum und Arbeiterschaft die Kultur der Muße nie ganz aufgegeben und sie vielmehr unter anderen, wenngleich immer ambivalent bleibenden Vorzeichen neu begründet. Einrichtungen wie Schausammlungen, zoologische GärWenigen. Aristokratische Herrschaftspraxis, Kommunikation und edler Lebensstil in Antike und Früher Neuzeit, in: Historische Zeitschrift. Beihefte. Band 47, 2008, S. 35-70. 56 Vgl. Weber, Max: „Wahlrecht und Demokratie in Deutschland“, in: Gesammelte politische Schriften, Tübingen 1988, S. 245-291; dort besonders S. 270-285. 57 Vgl. Marx, Karl: „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“, in: Marx-Engels Werke (MEW), Bd. 8, S. 160 f.
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ten, botanische Anlagen wurden aus der Obhut der privilegierten Aristokratie herausgelöst und als öffentliche Einrichtungen weiterbetrieben, die Mußekultur ist gewissermaßen als Stätte der Bildung und der Rekreation sozial universalisiert worden. Die Parks wurden geöffnet, neue Stätten der Muße traten hinzu, vor allem das Museum. Es ist eine Stätte der Mußekultur par excellence. Jedes Museum lädt dazu ein, ein ausgestelltes Objekt herausgelöst aus seinem praktischen Zusammenhang zeitlich unbegrenzt und entlastet von allen störenden Einflüssen der Umgebung zu betrachten. Museen sind eingehegte, abgeschirmte Räume, die eingerichtet wurden, um Objekte als Exponate zu präsentieren.58 Diese Einrichtung ermöglicht es, im Prinzip jedes Kulturobjekt und jedes Gebrauchsding, vom Gemälde bis zum antiken Ausgrabungsstück, vom historisch gewordenen Küchengerät bis zum Fetisch fremder Kulturen zum Gegenstand einer Betrachtung zu machen. Das Prinzip ist längst soweit ausgeweitet worden, dass auch stillgelegte Industrieanlagen, Bergwerke, UBoote oder Ausgrabungsstätten, ganze Hafen- oder Stadtanlagen als Museum eingerichtet worden sind. Die Mußekultur ist also noch erheblich ausgeweitet worden, und das gilt erst recht, wenn man sich klar macht, dass natürlich auch die Schulen und Universitäten Stätten der Muße sind und mit der Schulpflicht und den verlängerten Ausbildungszeiten eines Studiums auch die Zeiten verlängert wurden, in denen heute in einer Normalbiographie Phasen einer Muße nachgegangen werden kann. Dies geschieht allerdings wie gesagt unter gewandelten Vorzeichen. Das Bürgertum hat die Mußekultur, die selbst nicht bürgerlichen Ursprungs ist, mit der modernen Leistungsethik verbunden, sie mit ihr verheiratet, ihr damit jenen Geist der Rationalisierung und Nutzbarmachung eingehaucht, der schon römischen Patriziern nicht fremd war, nun aber auf erweiterter Stufe einen ganz neuen Inhalt und eine bislang unbekannte Systematisierung erfährt. Die religiösen Wurzeln der Leistungsethik sind von Max Weber hinreichend klar als Ausdruck des jüdischchristlichen Rationalisierungsstrangs herausgearbeitet worden; sie lassen sich rückblickend über den Protestantismus hinweg bis zu den asketischen Lebens- und Arbeitslehren der Ordensgeistlichkeit des späten Mittelalters zurückverfolgen, von denen aus sie sich bis zu Luthers Berufslehre immer weiter radikalisiert und universalisiert hatten. Von dieser am Ergebnis, am sichtbaren Ertrag bewerteten Leistungsethik aus steht die Mußekultur bis heute immer tendenziell unter dem Verdacht des Müßiggangs. Muße muss etwas hervorbringen, das nützlich, verwertbar, dem Menschen dienlich ist. Nur wenn es eine Verbindung zwischen Mußekultur und säkularer Leistungsethik gibt, wird sie akzeptiert.
58 Loer, Thomas: Halbbildung und Autonomie. Über Struktureigenschaften der Rezeption bildender Kunst, Opladen 1996; Hansert, Andreas: Bürgerkultur und Kulturpolitik in Frankfurt am Main. Eine historisch-soziologische Rekonstruktion. Frankfurt 1992.
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Die modernen Erfahrungswissenschaften sind das Kind dieser Vereinigung. Sie nehmen ihren Ausgang in der Mußekultur, aber zugleich verbinden sie Muße mit einem Bestreben, Neues zu entdecken, das menschliche Wissen systematisch zu erweitern und zu erhärten. Beides geht Hand in Hand. Wissenschaftler überwinden widrigste Bedingungen, die einer ungestörten Betrachtung eines Objekts ihrer Neugierde im Wege stehen. Sie bauen sich in weit abgelegenen Gebieten Beobachtungsposten, um seltene Tiere in freier Wildbahn beobachten zu können. Sie errichten Teleskope auf hohen Bergen, weil dort die Lichtverhältnisse besser sind, richten Stationen im Weltall oder an den Polkappen ein, um dort Experimente durchführen zu können. Oder sie sammeln mit riesigem Aufwand unzählige Daten, Quellen oder Schriften, graben jahrelang in der Erde die Hinterlassenschaften vergangener Kulturen aus, nur, um anschließend alles in Ruhe auswerten zu können. Fortwährend perfektionieren sie dabei die Hilfsmittel, die Gerätschaften, die Ausrüstung, wenn es darum geht, ein Objekt in Muße betrachten zu können. Sie machen es haltbar, präparieren es, entwickeln Protokollierungstechnologien. Alle Orte, die eingerichtet sind, damit in Muße ein Gegenstand erforscht werden kann, Laboratorien, Bibliotheken, Seminarräume, persönliche Arbeitszimmer, sind zugleich Stätten des Arbeitseifers und Stätten der Muße, asketisch und zweckmäßig eingerichtete Werkstätten, und zugleich Ruhezonen, die so eingerichtet sind, dass eine ungestörte Hinwendung an einen Gegenstand erfolgen kann. Schon die Auswahl der Lage ihrer Institute und Hochschulen, Laboratorien und Wohnungen folgt diesem Gedanken. Labors und Universitäten liegen oft am Rande zu den städtischen Zentren, oder wenn sie in Innenstadtnähe angesiedelt sind, sind sie wie abgeschirmte Klosterbezirke gestaltet, einen Campus umschließend, dem Verkehr und Geschäftsleben abgewandt. Alles ist schon baulich und stadtplanerisch darauf ausgerichtet, eine Krise durch Muße zu ermöglichen. Das Argument kann nun zusammengefasst werden. Ist Muße erst einmal kultiviert, entsteht eine Praxis außerhalb der Praxis; eine Handlungssphäre, in der die Betrachtung eines Gegenstandes immer weiter vertieft werden kann und man dazu eingeladen ist, seine Sinne für ihn zu öffnen. Es ist dies eine Kultur, die auf die Erzeugung von Mußekrisen angelegt ist. Sie fordert regelrecht dazu auf, einen Gegenstand nicht als selbstverständliche Gegebenheit zu nehmen, sondern ihn unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Fremdheit und Rätselhaftigkeit zu betrachten. Hat man sich erst einmal darauf eingelassen, wird man fast zwangsläufig darauf gestoßen, nach den Anfängen und Ursprüngen eines Gebildes zu fragen; danach, was es am Leben erhält und in welchem Zusammenhang es zu anderen Gebilden steht. Man beginnt über es nachzudenken und auch unter ungewöhnlichen Betrachtungswinkeln zu sehen. Die Mußepraxis ist also einerseits eine exzentrische Aussteigerkultur, andererseits eine Schule der Wahrnehmung, die dazu anhält, viel genauer auf die Dinge zu schauen, als dies in der Praxis je möglich sein kann. Sie erzieht die Sinne dazu, nicht das Bekannte im Unbekannten zu bestätigen, sondern umgekehrt
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das Unbekannte im Bekannten zu suchen. Und die leistungsethische Motivation des modernen Menschen macht daraus eine Leidenschaft, einen Wettbewerb. Den ästhetischen Erfahrungsmodus teilt das wissenschaftliche Handeln mit dem künstlerischen Handeln. Beide sind Formen einer Krisenbewältigung, die von ästhetischen Erfahrungen ausgehen. Während das künstlerische Handeln es jedoch unternimmt, seine Erfahrungen in einer Ausdrucksmaterialität, die selbst sinnlicher Natur ist, auszudrücken und sie in eine autonome Werkgestalt zu bringen versucht, geht die Wissenschaft insbesondere solchen Mußekrisen nach, die das bewährte Wissen über einen Gegenstand berühren.59 Es sind Mußekrisen, die Ausgangspunkt für eine Überprüfung und Hinterfragung des Wissens werden, weil sie etwas aufdecken, das noch nicht erklärt, noch nicht verstanden ist und dem bewährten Wissen über einen Gegenstand nicht entspricht. Die Wissenschaftler interessieren sich also für Wahrnehmungen nicht so wie die Künstler um ihrer selbst willen und als Materialität einer suggestiven Gestaltung, sondern weil und insofern in ihnen eine Geltungskrise des Wissens aufscheint, etwas, das man nicht erklären kann und nicht versteht. Dass solche Krisen des Wissens manifest werden, ist ein Übergang, eine allmähliche Verdichtung einer Rätselhaftigkeit, die mit einer interessanten, irritierenden Wahrnehmung beginnt und mit einer sprachlich expliziten Frage abschließt. In ihr wird ein Scheitern von Routinen der Interpretation des Wahrgenommenen im Modus der begrifflichen Erkenntnis deutlich. Dies fällt den Wissenschaftlern nicht einfach zu, es ist das Ergebnis einer Anstrengung, eines Klärungsprozesses und der Prüfung ihrer Wahrnehmungen im Lichte des vorhandenen Wissens und Diskurses. Was exemplarisch für das Wahrnehmungshandeln ausbuchstabiert wurde, kann nun auch für das Wissen selbst ausgeführt werden. Wissen ist natürlich keineswegs ein Gebilde, das nur in der Wissenschaft erzeugt und weitergegeben wird. Es ist ein konstitutives Vermögen der Praxis selbst und zwar nicht nur der beruflichen Praxis, die in der „Wissensgesellschaft“ wissensbasierte Produkte und Dienstleistungen anbietet, sondern jeder Lebenspraxis. Es gibt gar kein Handeln, dem nicht ein Wissen über die Welt innewohnt. Das allermeiste Wissen ist vorwissenschaftlich, ohnedies meist unbewusst und keineswegs Gegenstand einer systematischen Überprüfung oder reflexiven Betrachtung. Dass es überhaupt vorhanden ist, drückt sich eher implizit an Handlungsroutinen der Praxis aus, es wird an Ausdrucksgestalten der Praxis indirekt erschließbar. Dass Wissen in eine Krise gerät, ist also bei weitem keine Besonderheit der Wissenschaft. Jedes Scheitern der Praxis offenbart auch ein Unvermögen vorhandenen Wissens über die Welt. Jedes Flugzeugunglück, jeder Einsturz eines Hauses oder einer Brücke, jeder Tsunami, der eine Küstenregion heimsucht, jede schwerer 59 Vgl. zum Unterschied zwischen sinnlicher und begrifflicher Erkenntnis: Fiedler, Conrad: „Über den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit“, in: Schriften zur Kunst. Herausgegeben von Gottfried Boehm, München 1971.
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verlaufende Grippeepidemie und jede Konjunkturkrise, die Unternehmen in die Insolvenz treibt, werfen die Frage auf, wie man die Krise hätte vermeiden oder mildern können, was ihre Ursachen sind und wie man diese abstellen kann. Die Wissenschaft nimmt ihren Ausgang aber gerade nicht bei Problemen der Praxis, die ihr angesichts akuter Missstände, Katastrophen oder Bedürfnisse angetragen werden, wenngleich sie sich von solchen auch anregen lassen kann. Ihre Autonomie beginnt damit, dass sie ihre Fragen selbst aufwirft und ihnen auch und gerade dann folgt, wenn diese in elementare theoretische Probleme hineinführen und eine Relevanz für die Praxis nicht erkennbar ist. Indem die Wissenschaft auf diese Weise auch solches Wissen hinterfragt, welche von der Praxis gar nicht angezweifelt wird, entwickelt sie gerade ihren eigentlichen und größten Nutzen für die Praxis. Denn sie simuliert Geltungskrisen des Wissens und erspart so der Praxis ein leidvolles und kostenreiches Scheitern in der Zukunft. Sie nimmt ein Scheitern vorweg, ohne dass die Praxis die Erfahrung opferreich selbst machen müsste. Diese Praxis simulatorischen Krisenbewältigens, die wir noch näher betrachten werden, ist der lebenspraktischen Krisenbewältigung selbst nachempfunden, sie vollzieht zwar ein reales Scheitern, doch ist dies ein Scheitern von abstrakten Propositionen, von Überzeugungen und Hypothesen, nicht von ganzen Menschen aus Fleisch und Blut.60 Dieser Nutzen der autonomen Wissenschaft bleibt normalerweise verborgen, er ist unsichtbar und erschließt sich nicht nur dem Laien, sondern auch Wissenschaftlern selbst nur selten ohne Umstände in seiner ganzen Komplexität. Er ist oft, vielleicht sogar in der Mehrzahl der Fälle, das Ergebnis einer ungeplanten Aktivität. Ein Beispiel: Dass heute Hochhäuser gebaut werden, verdankt sich u.a. dem Umstand, dass Bauingenieure Überlegungen der theoretischen Mechanik und Festkörperphysik zur Anwendung bringen. Im modernen Hochhausbau spielt die Steifigkeit von Tragelementen eine große Rolle. Sie ist ein Zusammenspiel zwischen Materialeigenschaften und Abmessung, also Dimensionen der Größe und Masse der Betonfundamente, Stahlträger und Verkleidungselemente. Die Bauingenieure machen sich für ihre Stabilitätsberechnungen den Energieerhaltungssatz nutzbar, denn bei langsamer Bewegung des Baukörpers werden Belastungen wie zusätzliches Gewicht durch Personen oder Möbel, Wind oder Bodenerschütterungen innerhalb des elastischen Systems in potentieller Energie gespeichert. Mit anderen Worten: Ein Hochhaus schwingt hin und her und entwickelt eine Dynamik, die bei der Materialauswahl beachtet werden müssen. Zusätzliche Belastungen müssen in allen denkbaren, auch extremen Parameterkonfigurationen berücksichtigt werden. Der Energieerhaltungssatz ist aber in seiner von Helmholz 1842 formulierten Fassung gar nicht Resultat der Bauphysik, sondern geht auf physiologische Forschungen über Gärungen, Fäulnis und die Wärmeproduktion von Lebewesen zurück. Weder 60 Vgl. Oevermann, U.: Wissenschaft als Beruf, S. 29 ff.
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Helmholz noch andere Physiker, die sich mit dem Thema damals befassten, hatten daran gedacht, dass ihre Arbeit auch für den Hausbau folgenreich werden würde. Man denke nur, wie viele Menschenleben seine korrekte Anwendung jeden Tag bewahren hilft, (und die Physiker haben der Versicherungs- und Immobilienbranche dafür nie eine Honorarrechnung präsentiert). Gerade in solchen unvorhersehbaren Folgen wissenschaftlicher Entdeckungen liegt oft ihr größter Nutzen. Ein legitimatorisches Strukturproblem der Wissenschaftsprofession ersten Ranges ist es aber, dass der Nutzen immer nur im Nachhinein festzumachen ist. In der Gegenwart kann niemand, können auch die Wissenschaftler nicht mit letzter Gewissheit wissen, ob und inwiefern die Praxis irgendwann einmal von ihrer Arbeit profitieren wird. Sie wissen nicht, ob ihre Forschung überhaupt erfolgreich sein wird; sie können den möglichen Folgenreichtum ihrer Forschungen gar nicht überblicken; und sie wissen nicht, ob ihre Arbeit, die vielleicht in einem ganz randständigen Forschungsgebiet beheimatet ist, durch unvorhersehbare Entwicklungen der theoretischen Wissenschaften oder der Praxis selbst urplötzlich relevant werden. Aus diesem Punkt ergibt sich eine nicht stillstellbare Polarität und Spannung im Verhältnis von Wissenschaft und Praxis. Die Wissenschaft ist darauf angewiesen, dass sie von der Praxis für ihre Forschungen alimentiert wird. Das bedeutet für diese, dass ein erhebliches Quantum vom verfügbaren volkswirtschaftlichen Sozialprodukt (momentan zwischen 2,8 und 3 % des BIP) dem Konsum vorenthalten und dem Budget der Wissenschaft gewissermaßen als blinde Investition in die Zukunft zur Verfügung gestellt wird. Gleichzeitig beansprucht die Wissenschaft genau dafür alimentiert zu werden, dass sie auch und gerade solchen Fragen nachgeht, die über den Horizont aktueller Problemstellungen hinausgehen und deren Ertrag für die Praxis nie ganz sicher und vorhersehbar sein wird. Sie will dafür alimentiert werden, dass sie Sachverhalte zum Gegenstand ihrer Untersuchung macht, die für die Praxis selbst tabu sind oder mit Scham besetzt bleiben, die mit narzisstischen Kränkungen verbunden sind oder der Praxis vollkommen irrelevant und nebensächlich erscheinen. Deshalb bleibt die autonome Wissenschaft immer ein Opponent der Praxis und hat ihr gegenüber eine Freiheit in der Wahl ihrer Themen und Methoden stets zu behaupten und gegen ungeduldige Einsprachen und Vorschriften zu verteidigen. Das war schon immer so und wird immer so bleiben. Immer wieder haben die Wissenschaften die Erschließung eines neuen Gegenstandes im Konflikt mit der Öffentlichkeit gegen die Tabuisierung bestimmter Themen durchsetzen müssen. Einige dieser Konflikte sind mit weitreichenden Transformationen des Weltbildes verbunden. Ob berechtigt oder nicht, hat sich dieser Widerstand manchmal sogar gegen eine Person, einem einzelnen Werk formiert. Gegen Galilei, der für das heliozentrische Weltbild stand, gegen Darwin, der für die Abstammung des Menschen „vom Affen“ steht, gegen Marx, weil der soziale Klassenunterschiede als Tatsache in das Denken eingeführt hat, gegen Freud, der für das Skandalon einer Thematisierung der (kindlichen) Sexualität steht.
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Dies führt uns zurück zu der Frage, wer eigentlich der Klient der Wissenschaften ist. Dieser Klient ist gar nicht konkret zu bestimmen. Er bleibt abstrakt und ist nicht eine gegenwärtige Praxis, sondern die zukünftige Menschheit. Sie allein wird Nutznießerin sein und auf die Ergebnisse der Forschungen einer Gegenwart zurückgreifen können. Warum die ganze Menschheit? Weil Erkenntnis und Wissen universal zugänglich und verwertbar sind und sich die Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeit weder von Staaten und ihrem Patentrecht, noch von Unternehmen und ihrem Panzerschrank dauerhaft zurückhalten lassen. Es wird letztlich immer einer universalistischen Öffentlichkeit zugänglich bleiben. Hieraus erwächst den Wissenschaftlern eine typische Paradoxie. Auf der einen Seite sind die Wissenschaftler in letzter Konsequenz nur der zukünftigen Menschheit als ihrem Klienten verantwortlich, wenn es darum geht, den Einsatz ihrer Ressourcen für die Erschließung neuer Forschungsgegenstände abzuwägen. Gleichzeitig sind sie jedoch darauf angewiesen, dass sie von einer konkreten Vergemeinschaftung in der Gegenwart alimentiert werden, und diese Vergemeinschaft ist immer partikular. In der Moderne sind dies die Nationalstaaten. Die Beziehung dieser nationalen Geldgeber und der Wissenschaft ist somit einigermaßen komplex. Die materielle Förderung von Wissenschaft findet im Rahmen eines ganz eigenen Generationenvertrages statt. Die Nationalstaaten zweigen aus dem Bruttoinlandsprodukt ihrer Volkswirtschaften Mittel ab, um sie in eine ungewisse Zukunft zu investieren, und verzichten damit auf die Möglichkeit, diese Mittel für den Konsum auszugeben. Dies ist gerechtfertigt, denn die Höhe des BIP und damit auch die Chancen auf Konsum in der Gegenwart verdanken sich wesentlich der Investition früherer Generationen in die Wissenschaft. Die Gegenwart ist selbst eine ehemals zukünftige Menschheit, die von den Arbeiten und Entdeckungen der internationalen Forschergemeinschaft der Vergangenheit profitiert. Ein Nationalstaat, der die Wissenschaften fördert, leistet dies also nicht nur aus Eigennutz. Er bindet sich an eine Praxis, deren Entscheidungen über die Vergabe der Mittel und die Wahl neuer Forschungsfelder er in letzter Konsequenz nicht selbst treffen kann und den Wissenschaftlern als den einzig dafür kompetenten Experten überlassen muss. Diese wiederum sind in erster Linie nicht den Interessen der Gegenwart an der Heilung von Krankheiten oder neuen Produktideen verpflichtet, sondern einer Kultur der Innovativität und Risikobereitschaft, deren unbedingte Einhaltung sie ihrem Klienten schulden und von der sie nie mit letzter Gewissheit wissen können, wohin sie sie führen wird. Wissenschaftsförderung lohnt sich natürlich auch volkswirtschaftlich, weil es viele Vorteile mit sich bringt, wenn es einer Wissenschaftsnation gelingt, innovative Entwicklungen mit attraktiven Forschungsbedingungen auf ihrem Boden und an ihren Universitäten und Instituten zu unterstützen. Es erleichtert das frühzeitige Erkennen anwendungsnaher Forschungsergebnisse und deren industrielle Abschöpfung; es zieht fachliche Kompetenzen ins eigene Land; es führt junge Wissenschaftler an dynamische Forschungsgebiete heran. Alle Wissenschaftsnationen
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wetteifern darum, den Wissenschaften die besten Bedingungen ihrer Entfaltung bereitzustellen. Doch ein Staat, der seine Forschungsförderung darauf verengte, nur dort zu fördern, wo Anwendungsnähe und Nutzen bereits erkennbar sind und der sich aus der Grundlagenforschung zurückzieht bzw. dessen Förderungsrichtlinien (z.B. im Antragswesen) eine solche erschwert, verengt sein Potential zukünftiger Entwicklungschancen und schneidet sich von diesen über kurz oder lang ab. Die beste Wissenschaftsförderung ist die, welche es der Wissenschaftsprofession gestattet, ihrerseits dem Generationenvertrag gerecht zu werden und ihr Budget zu nutzen, um konsequent immer wieder neue Krisen des bewährten Wissens aufzuwerfen. Dies muss sie gegen jede Beauftragung und Vorgabe durch die Praxis genau dort unternehmen, wo der größte Erkenntnisgewinn für die autonome Wissenschaft zu erwarten ist. Differenz des wissenschaftlichen und des ingenieurialen Handelns Mit dieser Argumentation ist schon impliziert, dass das wissenschaftliche Handeln vom ingenieurialen Handeln, Science und Technology, analytisch klar getrennt werden müssen. Ingenieure teilen zwar mit Wissenschaftlern heute die naturwissenschaftliche Grundlagenausbildung und sind institutionell oft sehr eng mit ihnen verflochten. Doch professionalisierungstheoretisch betrachtet – und das heißt in erster Linie bezüglich der Handlungslogik – folgt das ingenieuriale Handeln einer ganz anderen Strukturlogik, nehmen beide eine völlig verschiedene Haltung zur Praxis ein, haben beide ein grundlegend anderes Verhältnis zu Theorie und Wissen. Ingenieure nehmen zwar oft Katastrophen, militärische Niederlagen oder Unglücke zum Anlass für die Entwicklung neuer Technologien. Auch sind sie nicht selten in akuten Bedrohungslagen gefordert, wenn es z.B. darum geht, das Leck einer havarierten Bohrinsel, aus der in Tausend Metern Tiefe täglich Millionen Liter Rohöl in die Tiefsee entweichen, wieder zu schließen. Doch ist ihr Handeln im Normalfall gerade nicht eine Praxis der Krisenbewältigung. Das ingenieuriale Handeln ist dadurch konstituiert, dass aus einer Routine, die es schon gibt, einzelne Handlungskomponenten herausgelöst werden, um diese durch technische Innovationen zu rationalisieren. Der Ingenieur betrachtet überhaupt nur solche Handlungskomponenten, denen eine klare Zweck-Mittel-Relation zugrunde liegt. Er setzt die Gegebenheit von Zwecken immer schon voraus und konzentriert sich auf die Optimierung der Mittel. Auch der Ingenieur ist also ein Analytiker der Praxis, doch er sieht von der Krisenförmigkeit einer Praxis gerade ab und zieht sich die technischen Herausforderungen heraus. Er interpretiert das Handeln lediglich unter dem Gesichtspunkt, wie bestimmte Tätigkeiten durch technische Konstruktionen besser vollzogen werden könnten.
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Durch diese Zweckgebundenheit ist die Welt der Ingenieure von vorneherein durch Rationalität strukturiert. Ingenieure folgen dabei einem Kalkül, das sich basal daran orientiert, die relativen Leistungsgrenzen des psychophysischen Apparats des Menschen bzw. der schon zur Verfügung stehenden Maschinen und Apparate zu überschreiten. Ihre Erfindungen sollen zweckrationale Handlungen einfacher, schneller, effizienter, präziser, mit geringerem Kraft- und Energieaufwand, mit größerer Verlässlichkeit und geringerem Verschleiß ausführbar machen. Sie entwickeln dazu Werkzeuge, Apparate, Maschinen und Verfahren, die den Menschen bei Tätigkeiten unterstützen sollen oder die ganze Handlungsabläufe selbst übernehmen, wie z.B. bei vollautomatisierten Fertigungsanlagen. Das Ziel ist immer, die Lebenspraxis bei der Bewältigung notwendiger Arbeiten zu entlasten und Tätigkeiten zu ermöglichen, die ohne technische Hilfen gar nicht denkbar wären. Allein zu diesem Zweck studieren Ingenieure die Natur. Ihr Studium der theoretischen Naturwissenschaften ist nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck. Sie interessieren sich dafür, wie die Natur bestimmte Lösungen für Probleme entwickelt hat und ahmen sie nach oder übertragen sie auf andere Handlungskomponenten. Dabei spielt es eine untergeordnete Rolle, ob der Ingenieur zuerst auf ein technisches Problem stößt, für das er dann einen Lösungsansatz sucht; oder ob er umgekehrt zuerst die Idee für eine technische Erfindung hat, für die er sich dann eine praktische Problemstellung sucht, auf die er sie anwenden kann. In beiden Fällen erfindet der Ingenieur etwas Neues, indem er ein schon vorhandenes Wissen über Problemlösungen auf einen Bereich überträgt, für den dies noch nie versucht worden ist. Unter diesem Gesichtspunkt hält er fortwährend Ausschau nach Mechanismen, Effekten oder Materialeigenschaften, die sich für irgendetwas nutzbar machen lassen. Dabei gehen Ingenieure heute natürlich systematisch, planvoll und methodisch kontrolliert vor. Im Gegensatz zu den Wissenschaftlern interessieren sie sich jedoch in erster Linie nicht für ein theoretisches Verstehen der Welt. Es geht ihnen im Zweifelsfall immer darum, dass eine Problemlösung funktioniert, nicht um die Frage, warum sie funktioniert. Obwohl heute die meisten technologischen Entwicklungen ohne die theoretischen Grundlagenwissenschaften gar nicht denkbar wären, ist es erstaunlich, wie viele hochkomplexe Technologien in der Entwicklung sind, ohne dass theoretisch genau verstanden würde, warum sie überhaupt möglich sind. Die Ingenieurswissenschaften sind hier eher Lieferanten von Fragestellungen, als Instanzen ihrer Klärung, womit natürlich nicht unterschlagen werden soll, dass Ingenieure immer wieder bahnbrechende Beiträge auch zur theoretischen Wissenschaftsentwicklung geleistet haben. Entsprechend folgt das ingenieuriale Handeln ganz anderen Motiven, als das wissenschaftliche. Im ingenieurialen Handeln kommen zwei gegensätzliche Motive zu einer Einheit: Zum einen das Motiv einer Überwindung des Ausgeliefertseins des Menschen vor der Natur. Die Natur wird nicht primär als Quelle ästhetischer
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Erfahrung erfahren, sondern als übermenschliche Gewalt, an der die menschliche Praxis sich immer wieder aufreibt und zerbricht. Die Tätigkeit des Ingenieurs ist wohl vor allem geschult an Erfahrungen der Mühsal und kräftezehrenden Anstrengung, des leidvollen Scheiterns. Die technische Rationalität steht daher im Dienste einer Emanzipation von der Natur als einer Quelle von Fremdbestimmung. Dies ist das andere Motiv: die Befreiung der menschlichen Praxis durch Technik. Darin ist im Wesentlichen das gesellschaftlich hohe Prestige der Ingenieure begründet, das sie seit dem 19. Jahrhundert genießen. Wenn man überhaupt von Fortschritten der Praxis sprechen kann, dann sind es am ehesten die durch Ingenieure hervorgebrachten Leistungen, die das Los der Menschen vereinfachen und seiner Praxis immer mehr Möglichkeiten eröffnen. Das Handeln der Ingenieure geht aber in diesen beiden Motiven nicht auf, sondern folgt noch einem dritten, nämlich dem Spaß am kreativen Tüfteln und Ausprobieren, am Konstruieren und Basteln, das schon dem kindlichen Spiel innewohnt und dieses in gewisser Weise fortsetzt. Dieser Spaß ist einigermaßen rätselhaft. Er wurzelt nicht in einem Bestreben, sich von der Natur zu befreien, sondern eher in einem Trieb zur Erprobung der eigenen Intelligenz und Nachahmung von raffinierten Problemlösungen und ist wohl eng verwandt mit einem Trieb zur Bemächtigung der Natur, die sich deren Kraft und Eigenlogik zunutze macht, indem sie von ihr lernt und sich ihre Kraft einverleibt. Damit beinhaltet das ingenieuriale Handeln auch das Streben der Optimierung der Natur im Dienste des Menschen, und dieses kreative Schöpfertum, das sich die Erde untertan macht, tritt in gewisser Weise in Konkurrenz zur Schöpfung selbst. Die Erfahrungswissenschaft geht demgegenüber weder auf einen Ethos der praktischen Verbesserung der Welt, noch auf ein emanzipatorisches Streben der Menschheit durch Wissen und Erkenntnis zurück. Ihr Ausgangsmodus bleibt ein ästhetischer, ist auf Erkenntnis um ihrer selbst willen ausgerichtet. Es ist deshalb ganz falsch, die Naturwissenschaften zum Formenkreis des instrumentellen Handelns zu rechnen, wie Habermas dies in „Erkenntnis und Interesse“ getan hat.61 Trotz ihrer grundlegenden strukturellen und habituellen Differenzen werden Wissenschaft und Technologie aber immer wieder zusammengeworfen. Louis Wolpert behandelt dies als einen der zentralen Irrtümer über die Wissenschaft.62 Er hängt wohl damit zu61 Habermas, Jürgen: Erkenntnis und Interesse, Frankfurt 1968, S. 99 ff. 62 Lewis Wolpert weist z.B. auch auf den Umstand hin, dass Technologie und Ingenieurswesen historisch viel älter sind als die wissenschaftliche Forschung. Technologie gibt es bereits im Neolithikum, wissenschaftlich-spekulative Naturerkundung setzt erst mit den antiken griechischen Philosophen um 500 v. Chr. ein und verschwindet mit ihnen auch wieder für einige Jahrhunderte, ehe sie im Schoße der frühneuzeitlichen Akademien wieder auflebt. Technologie geht immer einher mit wirtschaftlichen Unternehmungen, ist eingebettet in Schifffahrt, Heerwesen, Ackerbau, Wasserwirtschaft oder Bauwesen. Na-
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sammen, dass Naturwissenschaftler und Ingenieure natürlich oft in enger Symbiose arbeiten. Sie teilen in Hochschulen dieselben Einrichtungen, ihr Bedarf an Apparaturen und Geräten ist verwandt, organisatorisch sind sie nicht selten in denselben Einheiten zusammengelegt, und es gibt nicht nur in der Industrieforschung viele Projekte, in denen Wissenschaftler und Ingenieure Seite an Seite an denselben Programmen arbeiten. Eine strikte institutionelle Trennung zwischen der reinen Grundlagenforschung in alimentierten Einrichtungen, einerseits, und der Industrieforschung in Unternehmen der chemischen, pharmazeutischen oder biotechnologischen Industrie, andererseits, gibt es nicht und wahrscheinlich schon immer eine falsche Vorstellung. Es stimmt nicht, dass in den Industrielabors keine Grundlagenforschung betrieben würde, und es stimmt auch nicht, dass Institute der Grundlagenforschung keine Anstrengungen unternähmen, um marktförmige Folgeprodukte ihrer Forschungen zu entwickeln. Dennoch gibt es eine habituelle Differenz zwischen beiden Praxisformen. Charakteristisch ist gerade, dass Wissenschaftler die praktisch verwertbaren Ergebnisse ihrer Arbeit oft gar nicht selbst erkennen; sie interessieren sich für den praktischen Nutzen ihrer Arbeit nicht in dem Maße, wie es notwendig wäre, um mit entsprechender Aufmerksamkeit und Energie ihre Weiterentwicklung bis zur Praxistauglichkeit voranzutreiben. Dies wird anderen überlassen. Selbst berühmte Beispiele von Wissenschaftlern wie Louis Pasteur oder Justus v. Liebig, die aufgrund ihrer anwendungsnahen Forschung für die Medizinhygiene und Impftherapie, für Agrarwirtschaft und Industriechemie im 19. Jahrhundert populär waren, haben ihre Untersuchungen aus einem nie aufgegebenen grundlagentheoretischen Interesse heraus betrieben und auf dem grundlegenden Unterschied zwischen beidem immer bestanden.63 – Gleichwohl ist hier ein interessanter Punkt. Wie genau lässt sich die habituelle Differenz zwischen Erfahrungswissenturwissenschaften sind in vielen ihrer Zweige nicht mit einer Industrie verbunden. Die Entwicklung und der Gebrauch neuer Technologien findet sich weltweit, in China und Indien ebenso, wie in Arabien und Afrika. Die Entstehung von Forschung scheint jedoch bis Mitte des 20. Jahrhunderts auf Europa und die USA beschränkt zu sein. Vgl. Wolpert, Lewis: The Unnatural Nature of Science, London 1992, S. 25 ff., deutsch: Unglaubliche Wissenschaft, Frankfurt 2004. 63 „Non, mille fois non, il n'existe pas une catégorie de sciences auxquelles on puisse donner le nom de sciences appliquées. Il y a la science et les applications de la science, liées entre elles comme le fruit à l’arbre qui l’a porté.» „Nein, tausendmal nein, es existiert keine Kategorie irgendeiner Wissenschaft, der man den Namen der angewandten Wissenschaft geben könnte. Es gibt die Wissenschaft und die Anwendungen der Wissenschaft, verbunden zwischen ihnen wie die Frucht mit dem Baum, der sie getragen hat.“ Louis Pasteur: „Pourquoi la France n’a pas trouvé d’hommes supérieures au moment du péril.», in: Oeuvres de Pasteur, réunies par Pasteur Vallery-Radot, Band VII, Mélanges scientifiques et littéraires. Paris 1939, S. 211-221.
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schaftlern und Industrieforschern fassen? Welche Bedeutung hat die immens gewachsene Industrieforschung für die Professionalisierung der Erfahrungswissenschaften? Und kann man überhaupt noch von einer Differenz sprechen? Diese Fragen werden uns in den Interviewanalysen noch eingehend beschäftigen. Neugierde als Antriebsfeder des wissenschaftlichen Handelns So wie Wissenschaftler die Problemstellung, die sie bearbeiten, in der Muße ästhetischer Erfahrung selbst hervorbringen, wird ihnen auch das Lösen aufgeworfener Rätsel zum Selbstzweck. Ihre wichtigste Antriebsquelle ist dabei die Neugierde, die Wissbegierde. Sie ist etwas, das Wissenschaftler mit Kindern gemein haben. Auch Kinder lassen sich in ihrem Handeln von ihrer Neugierde leiten. Sie ist bei ihnen eine Art Dauerzustand zumindest bis zum Abschluss der Ontogenese. Spielerisches Experimentieren, Versuchen und Probieren sind Ausdruck eines explorativen Verhaltens, das für ihre ontogenetische Entwicklung unverzichtbar ist. Die Neugierde selbst wurde lange nicht als ein primärer Trieb aufgefasst, da man nicht glaubte, dass ihr ein organisches Bedürfnis vergleichbar dem Hunger oder Sexualtrieb entspreche. Heute schätzt man dies anders ein. Die Neugierde hat auch eine verhaltensbiologische und neuroevolutionäre Grundlage.64 Neugierde wird den Kindern nicht durch erzieherische Maßnahmen beigebracht, ist nicht sozial erzeugt, sondern als ein biogenes Antriebssystem immer schon vorhanden. Ein neugieriges Erkundungsverhalten ist außerdem keine exklusive Besonderheit der Humangattung, sondern kommt bei vielen Tierarten vor, vor allem bei Säugetieren und Vögeln. Für eine soziologische Betrachtung ist aber von Bedeutung, dass Neugierde zwar konstitutiv für die Kindheit und Jugend ist, dann aber sich nicht in jedem Lebenslauf gleichmäßig entwickelt, sondern oft nachlässt, und auch, wenn sie sich erhält, auf sehr verschiedene Objektbereiche fokussiert. In bestimmten Lebensbiographien allerdings, in bestimmten Berufsmilieus erhält sie sich auf erstaunliche Weise lange auf einem überdurchschnittlichen Niveau der Intensität und der Breite der Interessen. Der interessante Befund am Anfang einer Soziologie der Neugierde ist also, dass sie sowohl eine biologisch universelle Tatsache ist, als auch sozial ungleich verteilt, wenn man Lebensgeschichten vergleichend betrachtet. Die Ursachen für diese ungleiche Verteilung sind zumindest nicht ausschließlich hereditärer Natur, angeborene Dispositionen, sondern hängen damit zusammen, dass es Praxisformen gibt, die aufgrund ihrer Handlungslogiken die Neugierde immer wieder anregen, sie
64 Lorenz, Konrad: „Die angeborenen Formen möglicher Erfahrung“, in: Zeitschrift für Tierpsychologie 5 (2) (1943), S. 235-409; Hüther, Gerald: Das Geheimnis der ersten neun Monate. Unsere frühesten Prägungen, Düsseldorf 2005; Singer, Wolf: Der Beobachter im Gehirn, Frankfurt 2002.
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honorieren und zu einer fortgesetzten Betätigung einladen. Es gibt sozusagen Tätigkeiten, in denen Neugierde zum Beruf gehört und von Berufs wegen gefördert wird. Das wissenschaftliche Handeln gehört ohne Zweifel dazu. Damit ist ein entscheidender Unterschied zwischen der kindlichen Neugierde und der Neugierde der Wissenschaftler benannt. Diese ist einer strengen und formenden Disziplin unterworfen, ist von der Ernsthaftigkeit eines Berufs gesteuert und stellt sich in den Dienst einer Sache, die über die Person des Wissenschaftlers hinaus für die gesamte Scientific Community von Bedeutung ist. Mit dieser Verbindung der Neugierde mit einer Disziplin beginnt die Professionalisierung der Wissenschaft. Das Wort Disziplin ist in dem doppelten Sinne gemeint: als individuelle Unterwerfung unter Regeln eines Handelns, und als Kollektiv oder Schule einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten, die sich in der Achtung von Regeln gegenseitig stützen und kontrollieren. Die Disziplin der Neugierde entwickelt sich von dem ernsthaften Versuch her, wissenschaftliche Rätsel erfolgreich zu lösen. In diesem Streben bewegen sich Wissenschaftler in einer spannungsreichen Polarität. Sie beginnen mögliche Lösungen zu entwerfen und machen sich ungehemmt spekulative Gedanken über das Unverstandene. Zugleich geben sich aber Erfahrungswissenschaftler nicht mit spekulativen Gedanken zufrieden. Einem habitualisierten Misstrauen gegen ungeprüfte Wahrheiten folgend ist alles Entwerfen und Konstruieren von Lösungsmöglichkeiten von Anfang an darauf ausgerichtet, am Ende einer empirischen Überprüfung unterzogen zu werden. Die Disziplin der Forschung besteht folglich darin, dass das wissenschaftliche Handeln einer Logik der Forschung folgt, die das Entwerfen und Konstruieren einer methodischen Geltungsüberprüfung aussetzt. Wir werden noch darauf zurückkommen, wie das genau zu verstehen ist. Die Logik der Forschung besteht jedenfalls nicht darin, dass ein wissenschaftstheoretisches Modell in der Praxis deduktiv appliziert wird. Es ist vielmehr so, dass die Erkenntnislogik sich aus der Handlungslogik ergibt und nicht umgekehrt, dass aber ein Forscher, der über eine richtige Rekonstruktion der Handlungslogik verfügt, zugleich sein Handeln im Lichte der Erkenntnislogik der Forschung anleiten und kritisch befragen kann, so dass wir zu einem Begriff des Forscherhabitus gelangen, der auf einer verinnerlichten Kenntnis der Logik der Forschung beruht, die aus Rekonstruktionen seiner eigenen Praxiserfahrungen in Forschungsprozessen hervorgeht. Der Forscherhabitus enthält also die impliziten Theorien der Forscher über den Forscherprozess. Und zugleich ist er Teil oder Organ dieser Praxis, weil er das Handeln mit seinem impliziten Wissen anleitet. Denn letztlich muss die Handlungslogik jedes Mal von neuem erschlossen werden. Wenn also von der Logik der Forschung die Rede ist, dann müssen analytisch drei Aspekte oder „Logiken“ klar auseinandergehalten werden. Der Forschungsprozess folgt (1) der Logik einer Erschließung des inneren Zusammenhangs oder der Struktur eines Datums oder einer rätselhaften Beobachtung und Erfahrung und
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ihrer Deutung in einer hypothetischen Konstruktion, die weder durch eine Deduktion, noch durch eine Induktion aufgedeckt werden kann, sondern nur in einer Abduktion aufgeschlossen werden kann. Das wissenschaftliche Handeln folgt (2) einer Logik der streng falsifikatorischen Hypothesenprüfung in der Konstruktion von möglichen Bedingungen des Scheiterns einer Hypothese sowie der Suche nach empirischen Bestätigungen für dieses Scheitern. Schließlich bewegt es sich (3) in einer logisch nicht eindeutig vorherbestimmbaren Operation der Erschließung von nächsten Schritten bei der Umsetzung der Logiken (1) und (2) im konkreten Forschungsprozess, und dieser ist immer je konkret und fallspezifisch. Die Handlungslogik der Forschung (1) Logik des hypothetischen Erschließens Zunächst kommt alles darauf an, eine mögliche Lösung zu finden. Man macht sich darüber viele falsche Vorstellungen. Die Lösung wissenschaftlicher Rätsel ist nur selten das Resultat eines plötzlichen Einfalls, der scheinbar vorbereitungslos wie ein genialer Gedankenblitz ins Bewusstsein eines begnadeten Wissenschaftlers tritt und mit einem Schlage das Rätsel löst. Es ist in Wirklichkeit so, dass das Rätsellösen selbst dort, wo ein solches Heureka! -Erlebnis vorkommt, das Ergebnis oft jahrelanger mühsamer Arbeit am Detail ist.65 Es ist das Resultat sowohl einer gedanklich theoretischen Durchdringung eines wissenschaftlichen Problems, als auch einer intimen Vertrautheit mit den methodisch empirischen Details, die nur zustande kommt, wenn ein Wissenschaftler alle Optionen eines Lösungsansatzes durchgespielt hat und die zahlreichen Irrwege genau kennt. Popper hat in seiner Schrift über die „Logik der Forschung“ argumentiert, dass die Frage, wie Wissenschaftler auf ihre Hypothesen kommen, für das Verständnis der Logik der Forschung selbst unerheblich sei und als eine Sache der empirischen Psychologie betrachtet werden könne.66 Wie sie auf gute Einfälle kommen, ob sie dazu viele Bücher lesen oder sich in die Berge zurückziehen, sei nicht entscheidend. Es kam für ihn darauf an, wie eine wissenschaftliche Aussage ihre Geltung und Begründung erfährt, nicht wie neue Ideen geboren werden. Diese Position ist aber wenig befriedigend. Die Frage, wie in den Wissenschaften Neues entsteht, ist nicht nur eine Frage der methodischen Geltungsüberprüfung. Sie ist auch eine Frage des Entdeckens neuer Zusammenhänge. Die Frage, wie das wissenschaftliche Handeln zu neuen Erkenntnissen gelangt, hat dabei nicht nur eine psychologische Seite, sondern auch
65 Diese Argumentation findet sich in hinreichender Ausführlichkeit bei Wolpert, L:, 2. Kapitel S. 25 ff. 66 Vgl. Popper, Karl: Logik der Forschung, 11. Auflage München 2005, S. 13.
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eine schluss- oder erkenntnislogische Seite. Wie entstehen eigentlich Hypothesen und gute Vorahnungen, die ihnen vorausgehen? Diese Frage wird im Modell des abduktiven Schließens von Peirce diskutiert. Peirce machte zum Ausgangspunkt seiner Überlegung, dass weder das deduktive Schließen, noch das induktive Schließen wirklich etwas Neues hervorbringen, und daher ein dritter Typus des Schließens angenommen werden müsse, den er abduktives Schließen nannte. Die Abduktion wird von der Deduktion und der Induktion unterschieden, zugleich sind alle drei Schlussmodi Phasen eines dynamischen Erschließungsprozesses und dürfen nicht klassifikatorisch gegenüber- und stillgestellt werden. Die Deduktion ist ein Schluss von einer allgemeinen Regel auf das Einzelne mittels eines gegebenen Mit ! " # $ %&' (& &nes Gebilde zu einer Klasse von Gebilden gezählt werden kann, für die schon bekannt ist, welche Regel gilt. Es ist die Feststellung, ob etwas der Fall ist, und die Subsumtion dieses Falles unter ein allgemeines Schema. Die Induktion ist hingegen der Schluss von den vielen Einzelerfahrungen auf eine allgemeine Regel [x1P; x2P; x3P…" xYP " xP]; diese allgemeine Regel liegt allerdings der gebildeten Erfahrungsreihe schon zugrunde und fügt der Erkenntnis daher inhaltlich ebenfalls nichts Neues hinzu. Nur die Abduktion fügt der Erkenntnis etwas Neues hinzu. Die Abduktion ist der Schluss von einem konkreten Einzeldatum auf eine erklärende Regel mittels einer hypothetischen Zusatzannahme. Peirce gibt ein Beispiel: „Die überraschende Tatsache C wird beobachtet; aber wenn A wahr wäre, würde C eine Selbstverständlichkeit sein; folglich besteht Grund zu vermuten, dass A wahr ist“.67 Um jedoch herauszufinden, ob A tatsächlich wahr ist, muss dafür eine Erfahrungsquelle oder Evidenz gefunden werden. Dies vollzieht sich in mehreren Schritten. Es wird in einem ersten Schritt die Gegebenheit von C und A hypothetisch unterstellt und wie in einer Deduktion darauf geschlossen, welche Vorhersagen oder Erwartungen sich daraus ergeben würden [Wenn C gegeben ist und A gilt, dann müsste q; r; s…daraus folgen]. Mit diesen Vorhersagen hat man eine Möglichkeit, die Geltung der Annahmen zu prüfen. Denn in einem zweiten Schritt wird nun nach Fakten gesucht, die diese Vorhersagen bestätigen oder widerlegen können. Dies eröffnet bereits eine Induktion und Erfahrungsreihe. In ihr wird nach Daten, Wahrnehmungen, Beobachtungen gesucht, die im Sinne der Prämisse interpretiert werden können. Der abduktive Schluss auf A ist wahr, wenn sich die Vorhersagen bestätigen. „Wahrheit“ ist also eine rekursive Funktion und das Resultat einer nachlaufenden Bestätigung. Der abduktive Schluss ist wahr, wenn aus ihm etwas erfolgt, das ihn bestätigt.
67 Peirce, Charles Sanders: Collected Papers, Bände I-VI hg. von Hartshorne, Charles/ Weiss, Paul 1931–1935, Harvard, Cambridge/Mass. 1958, Band 5, S. 189.
92 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE „Nachdem die Abduktion uns eine Theorie eingegeben hat, benützen wir die Deduktion, um von jener idealen Theorie eine gemischte Vielfalt von Konsequenzen unter dem Gesichtspunkt abzuleiten, dass wir, wenn wir gewisse Handlungen ausführen, uns mit gewissen Erfahrungen konfrontiert sehen werden. Wir gehen dann dazu über, diese Experimente auszuprobieren, und wenn die Voraussagen der Theorie verifiziert werden, haben wir ein verhältnismäßiges Vertrauen, dass die übrigen Experimente, die noch auszuprobieren sind, die Theorie bestätigen werden. Ich sage, diese drei sind die einzigen Schlussmodi, die es gibt. Ich bin davon sowohl a priori als auch a posteriori überzeugt“.68
Diese Formulierung weist schon die Nähe zum späteren Fallibilismus auf. Die Frage ist allerdings immer noch nicht beantwortet, wie das Erkenntnissubjekt zu einer neuen Proposition kommt. Wie erkennt es in einem einzelnen Wahrnehmungsdatum eine generalisierbare Regel? Wie erkennt es einen bislang unbekannten Zusammenhang? Wie erkennt es, dass ein Wahrnehmungsdatum überhaupt diese Bedeutung hat? Und wie kommt es auf die zusätzliche Annahme A, die, wenn sie wahr wäre, C als Selbstverständlichkeit erscheinen lassen würde? Diese Fragen lassen sich letztlich nicht mehr abstrakt beantworten. In der Wahrnehmung der überraschenden Tatsache C muss so etwas wie eine Vorahnung sich rühren, welche Tatsache A das Phänomen C erklären würde. Das Bewusstsein für A muss noch gar nicht formiert, der Gedanke noch nicht klar sein, aber es muss ein Gespür bereits aktiviert sein dafür, wo gesucht und wonach Ausschau gehalten werden sollte. Worin könnte eine solche Vorahnung begründet sein? Es könnte eine Gestaltähnlichkeit zwischen C und einem ganz anderen Gebilde P sein, für das ein Zusammenhang bereits geklärt ist. Eine Vorahnung sagt dem Erkenntnissubjekt, dass es sich bei der überraschenden Tatsache C um etwas Ähnliches handeln könnte, wie bei jenem Gebilde P. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass es seine Vorahnung an C heranträgt und nach weiteren Anhaltspunkten für eine Gestaltähnlichkeit sucht. Dabei muss es zwischen C und P gar keinen sachlichen oder kausalen Zusammenhang geben. A muss nicht auch die Erklärung für P sein, es kann auch a oder ¬A oder ¬ a sein. Es genügt eine vermeintliche Ähnlichkeit ihrer Strukturen als Anregung für ein Herantragen der bekannten Gestalt an die unbekannte Gestalt und der Versuch ihrer Übersetzbarkeit. Diese Operation kann jederzeit erlahmen oder so irritiert werden, dass sie wieder fallengelassen wird. Hilft sie aber, die überraschende Tatsache C besser kennenzulernen und in sie hineinzukommen, bleibt sie virulent. Oftmals müssen Wissenschaftler neue Phänomene auf viele solcher Gestaltähnlichkeiten durchprüfen, bevor sie auf einen Zusammenhang stoßen, den sie als aufschlussreich und als wirklichen Durchbruch empfinden. Ein solcher Durchbruch liegt vor, wenn sie einen kausalen Zusammenhang A klar formulieren können. Vor-
68 Peirce, Ch. S.: Collected Papers, Band 8, S. 209.
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her bleibt vieles im Nebel und das Erkennen scheint sich in einem Unbewussten zu vollziehen. Verfestigt sich aber eine Vorahnung und kommt es zu einer Klärung des Gedankens, dann wird aus der Vorahnung irgendwann vielleicht eine Überzeugung, dass A tatsächlich eine Erklärung sein könnte. Dass ein Gedanke zu einer Überzeugung herangereift ist, erkennt man daran, dass ein Wissenschaftler nicht mehr anders kann, als von der Richtigkeit seines Erklärungsansatzes auszugehen. Es gibt hier viele Übergänge. Viele Wissenschaftler scheuen sehr lange den Moment, ehe sie anfangen, sich mit einer Überzeugung im öffentlichen Diskurs zu exponieren. Beherrschen sie jedoch ihr Denken, sind sie als Erfahrungswissenschaftler irgendwann gehalten, die Überzeugung einem ernsthaften empirischen Test auszusetzen. Diese Forderung ergibt sich aber nicht mehr aus der Logik der hypothetischen Erschließung, sondern aus der Logik der fallibilistischen Hypothesenüberprüfung, der wir uns nun zuwenden wollen.69 (2) Logik der methodischen Geltungsüberprüfung Das wissenschaftliche Handeln vollzieht ab einem bestimmten Moment einen Perspektivenwechsel um 180°. Aus der Proposition, die einer Überzeugung zugrunde liegt, wird eine Hypothese, sobald sie einem ernsthaften Falsifikationsversuch ausgesetzt wird. Dieser Versuch folgt einer Handlungslogik, die den Krisenbewältigungsprozessen der Lebenspraxis nachempfunden ist und nichts anderes vollzieht als diese, nur mit dem Unterschied, dass der gesamte Prozess einer planvollen methodischen Kontrolle unterworfen wird und nicht eine konkrete Lebenspraxis aus Fleisch und Blut einem möglichen Scheitern ausgesetzt wird, sondern eine Hypothese, also die von einer konkreten Person abgelöste Proposition ihrer Überzeugung. Wissenschaftler gehen fallibilistisch vor, indem sie sich überlegen, welche Bedingungen gegeben sein müssten, damit ihre Hypothesen unhaltbar wären. Sie warten nicht darauf, dass sie in der Praxis selbst scheitern, sondern versuchen dieses Scheitern selbst künstlich herbeizuführen. Dabei überlassen sie es nicht dem Zufall, sondern versuchen, die Bedingungen gezielt herbeizuführen, die ein Scheitern bewirken würden. Greifen wir nochmals auf das Beispiel von Peirce zurück. Ein überraschender, rätselhafter Sachverhalt C wird beobachtet. Er wäre erklärbar, wenn A wahr wäre. Also ist es nicht unplausibel, dass A wahr sein könnte; A wird zu einer Hypothese. Nun überlegt man, wie man diese Annahme prüfen kann. Die Hypothese A kann nur wahr sein, wenn bestimmte Bedingungen (p1, p2, " pi) erfüllt sind. A wäre demnach nicht wahr, wenn sich zeigen ließe, dass diese Bedingungen nicht er-
69 Vgl. dazu auch Oevermann, Ulrich: „Die Philosophie von Charles Sanders Peirce als Philosophie der Krise“, in: Wagner, Hans-Josef: Objektive Hermeneutik und Bildung des Subjekts, Weilerswist 2001, S. 209-246.
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füllt sind. Es geht stets um die Negation der ersten Prämisse einer Deduktion, des erklärenden All-Satzes, aus der sich der Falsifikator als Existenzsatz ergibt, für den dann Entsprechungen in der Realität gesucht werden müssen. Folglich muss man nach Sachverhalten suchen, die diesen Bedingungen direkt widersprechen würden. Diese Suche erfolgt im Rahmen eines Experiments oder Tests oder irgendeiner anderen Form der Datenerhebung. Wenn sie gelingt, ist die Hypothese gescheitert, wenn nicht, muss man nach weiteren Falsifikatoren suchen. Finden sich aber keine, ist man irgendwann soweit, bis auf weiteres von der Richtigkeit der Hypothese A auszugehen. Der Falsifikationstest kann selbst als gescheitert angesehen werden und der Wissenschaftler fasst, wie Peirce sagt, Vertrauen in die Hypothese und beginnt weitergehende Schlussfolgerungen aus ihr zu ziehen. Es gibt ein berüchtigtes Beispiel. Wenn die Bedingung lautet: Alle Schwäne sind weiß, wäre der Sachverhalt, der aufgezeigt werden müsste, ein nicht-weißer Schwan. Es geht also um die Negation des All-Satzes. Diesen Sachverhalt versucht der Erfahrungswissenschaftler gezielt nachzuweisen, indem er nach dem schwarzen Schwan sucht. Natürlich sind wirkliche wissenschaftliche Erkenntnisprozesse viel komplexer, als in Poppers Beispiel vom weißen Schwan. Das Schwanen-Beispiel verdeutlicht aber, worauf es ankommt. Wissenschaftler setzen Hypothesen von sich aus einer Belastungsprobe aus, und sie versuchen ernsthaft, diese zu kippen. Belastungstests erfolgen, um die Geltung einer Annahme auf indirektem Wege zu erweisen. Wenn sich der widersprechende Sachverhalt herbeiführen lässt, dann ist die Hypothese widerlegt und ausgeschieden. Wenn sie sich aber trotz wiederholten Bemühens nicht herbeiführen lässt, geht der Wissenschaftler irgendwann dazu über, seine Annahme bis auf weiteres als ein bewährtes Wissen zu betrachten. Er beginnt, die Richtigkeit der Hypothese zu unterstellen und komplexere Schlüsse aus ihr zu ziehen. Die Hypothese hört dann auf, eine Hypothese zu sein und geht allmählich in die Routine des Denkens und Wissen über. Je mehr sie zur Prämisse für weitere Experimente wird, ohne dass sich etwas Widersprechendes ereignet, desto stärker wird ihre Geltung. Sie bleibt dennoch stets fallibel, kann jederzeit selbst wieder in eine Krise zurückfallen. Ihre Bewährung bleibt vorläufig; der Abbruch des Falsifikationstests hat in erster Linie pragmatische Ursachen. Diese fallibilistische Logik zwingt dem wissenschaftlichen Handeln bestimmte Regeln auf, ohne deren Beachtung es nicht methodisch kontrolliert verliefe und irrtumsanfällig wäre. (1) Es müssen zum Beispiel wirklich alle antezipierbaren Falsifikatoren von p1 " pi getestet werden, dabei insbesondere die harten, Widerstand bietenden Falsifikatoren, auch wenn diese aufwendige Experimente und Untersuchungsreihen erforderlich machen. Wissenschaftler dürfen (2) nicht zu früh in ihrem Bemühen nachlassen, ihre Überzeugungen auf die Probe zu stellen, auch und gerade weil es ihre Überzeugungen sind und es das naturwüchsige Bestreben einer jeden Praxis ist, voranzukommen. Dagegen hat das wissenschaftliche Handeln trotzig an der Logik der Gegenprobe festzuhalten. Wissenschaftler dürfen (3) auch spä-
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ter, wenn sich eine Hypothese längst hundertfach bewährt hat, niemals vergessen, dass deren Wahrheit vorläufig sein kann, denn es können immer neue falsifizierende Bedingungen auftreten, an die zuvor niemand gedacht hatte. Sie zu erkennen, wird immer schwieriger, je komplexer die Schlussfolgerungen sind, die auf ihr aufbauen. Anders als aprioristische Wahrheitstheorien, die „Wahrheit“ an die Erfüllung verschiedener Kriterien knüpfen, ist „Wahrheit“ hier an den Vollzug einer Handlungslogik geknüpft. Diese Handlungslogik kommt immer nur vorläufig zum Abschluss und kann jederzeit wieder aufgenommen werden. Entsprechend bleibt jede erfahrungsgesättigte Wahrheit vorläufig und erlaubt nicht den Schluss auf eine ontologische, letzte Wahrheit. Das wissenschaftliche Handeln gibt den Wahrheitsbegriff aber keineswegs auf. Es bleibt unterstellt, dass es eine Realität gibt, die außerhalb der Erkenntnissubjekte existiert und nach eigenen Gesetzlichkeiten operiert; diese Realität ist unabhängig davon, was ein Erkenntnissubjekt über sie aussagt oder denkt, aber diese Realität kann erschlossen werden, auch wenn dies irrtumsanfällig bleibt. „Veritas consistit in adaequatione intellectus et rei“.70 Doch gleichzeitig gilt auch, dass die Wahrheit nur über Ausdrucksgestalten der Realität erschlossen werden kann und daher einer Abfolge von Annäherungen an sie in der Interpretation von Ausdrucksgestalten unterliegt: „Recte enim veritas temporis filia dicitur, non auctoritas“ (Francis Bacon).71 Die regulative Idee der Wahrheit ist nicht mehr Ausdruck eines unumstößlichen Glaubens an die Möglichkeit, eine letzte, für alle Zeiten geltende Wahrheit zu finden. Sie ist eine regulative Idee, die das erfahrungswissenschaftliche Handeln dazu anhält, jeder wissenschaftlichen Überzeugung erkenntnisskeptisch zu begegnen und mit Respekt vor der Unabhängigkeit der Realität nur zu vertrauen, wenn eine methodische Geltungsüberprüfung stattgefunden hat.72 Die Regeln der methodischen Geltungsüberprüfung sind gar nicht zuerst von der Wissenschaftstheorie thematisiert worden. Die Grundgedanken des Fallibilismus sind historisch viel älter.73 Dennoch kommt der Wissenschaftstheorie das Ver70 Thomas von Aquin: Summa theologiae I, q.21 a.2. 71 Bacon, Francis: Neues Organon. Lateinisch-deutsch. Hg. von Wolfgang Krohn. 2 Bde., Philosophische Bibliothek, Band 400a und 400b. Hamburg 1990. 72 Popper spricht deshalb auch von „Approximation“. Popper, K.: Logik der Forschung, S. 17 ff. Auch der Objektivitätsbegriff ist nicht ontologisch, sondern methodologisch aufzufassen, das heißt als objektiv kann dasjenige gelten, was intersubjektiv nachprüfbar an einer Ausdrucksgestalt der Realität interpretiert werden kann. Dies setzt allerdings das Protokoll eines Ereignisses der Realität voraus. Erst durch es wird eine Aussage über die Realität intersubjektv überprüfbar. 73 Direkte Vorformen eines theoretischen Fallibilismus finden sich bei Peirce, Fries, auch bei den antiken Philosophen Arkesilaos und Karneades. Popper selbst hat sich oft auf So-
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dienst zu, die Logik der Forschung zum Gegenstand eines eigenständigen Klärungsversuchs gemacht zu haben. Diese Logik ist aber keine „Erfindung“ der Wissenschaftstheorie, sondern eine reale Strukturgesetzlichkeit, die unabhängig von theoretischen Positionen in der Lebenspraxis als Krisenbewältigungsprozess existiert. Die wissenschaftstheoretischen Modelle stellen lediglich Versuche einer Rekonstruktion dar und sind deshalb selbst fallibel und kritisierbar. Wie jeder andere Wissenschaftszweig hat auch dieser Diskurs verschiedene Grundpositionen, die erst in Konkurrenz zueinander ihre Argumentationen schärfen. Popper kommt sicher das Verdienst zu, dass er den Gedanken des Fallibilismus am deutlichsten herausgearbeitet hat. So wie seine Argumentation an der Kritik zeitgenössischer Positionen, insbesondere des sogenannten logische Empirismus entwickelt ist, ist seine Position in vielen Details selbst jedoch kritisierbar und kritisiert worden.74 Auch aus der Sicht der Professionalisierungstheorie muss man Poppers Modell kritisch reinterpretieren. Vor allem hat er zwischen der Logik der Erschließung und der Logik der methodischen Geltungsüberprüfung nicht hinreichend genug unterschieden. Poppers Argumentation wurde bekanntlich von Kuhn vorgehalten, dass es als Tatsachenbehauptung historisch unzutreffend sei. Die Realität der Forschung entspreche bei genauerem Hinsehen keineswegs immer dem Schema „Hypothese – Negation des All-Satzes – Suche nach Falsifikatoren“, sondern halte viel länger an ihren Paradigmen fest, die mit Hilfshypothesen solange gestützt werden, bis sie gegen eine erdrückende Gegenbeweislage nicht mehr zu halten sind und das Paradigma in einer Krise zusammenbreche. Man darf natürlich nicht vergessen, dass Poppers Modell eine Realabstraktion darstellt, die vornehmlich auf den Begründungszusammenhang von wissenschaftlichen Aussagen abhebt. Es sieht von operativen Schwierigkeiten des Forschungsalltags ebenso ab, wie von den je konkreten historischen Kontexten eines Forschungsprozesses. Das wissenschaftliche Handeln erscheint darum nicht in seiner Totalität behandelt. Sein Modell kommt ohne engekrates bezogen. Elemente der Idee des Fallibilismus lassen sich jedoch auch bei Kant, Hume oder Bacon, sogar bei Hegel, den Popper stets heftig kritisiert, bei modernen Wissenschaftstheoretikern und Logikern wie Frege, Wittgenstein, Tarski, Lakatos, Toulmin, Kuhn oder Laudan, die teilweise Popper wieder kritisierten oder von ihm kritisiert wurden, finden. 74 Vgl. zu Th. Kuhn)s Anomalieargument: Kuhn, Th. S.: The Structure of Scientific Revolutions (dt. Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen), Chicago 1962, 2. erw. Ausg. 1970; vgl. auch die Versuche einer Vermittlung durch Lakatos, Lakatos I./Musgrave (Hg.): Kritik und Erkenntnisfortschritt, London 1970. Radikaler in seiner Kritik war Paul Feyerabend, der die Wissenschaftstheorie insgesamt als schädlich verwarf, weil sie den Forschern ein methodisches Regelwerk vorzuschreiben versuche, das ihre Kreativität ersticke. Dagegen wird ein Methodenpluralismus (Anything goes) zur Geltung gebracht. Vgl. Feyerabend, Paul: Wider den Methodenzwang, Frankfurt 1975.
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ren Bezug zu historischen Einzelfallstudien aus, was viel zu dem Missverständnis beigetragen hat, es handele sich um eine dogmatische Metatheorie, die selbst nicht empirisch überprüft werden könne.75 (3) Die Logik des Entdeckens (Logic of Discovery) In der Tat muss eine dritte Logik von jenen beiden vorangehenden unterschieden bzw. ihnen hinzugefügt werden. Es ist die logisch nicht mehr abstrakt ableitbare Logik der Erkundung und wie sich ein Wissenschaftler angesichts einer konkreten Forschungslage und Alternanz von Optionen die nächsten Schritte erschließt. Diese Logic of Discovery vollzieht in gewisser Weise nur, was die Logiken (1) und (2) vorschreiben, aber zugleich ist diese Logic of Discovery die führende und alles umfassende, weil sie die konkreten Schritte ins Offene hinein realisiert und dabei mit den konkreten Handlungsproblemen konfrontiert ist, die sich angesichts eines Forschungsrätsels stellen und für die Lösungen gefunden werden müssen, die in jenen Logiken (1) und (2) nicht angedeutet sind. Diese Probleme setzen z.B. damit ein, wie sich eine interessante Initialfrage ergibt, mit der eine Forschung begonnen werden kann, wobei diese Frage natürlich mit dem Stand der Literatur und der dort schon gegebenen Antworten abgeglichen worden sein muss. Wie kann ich angesichts eines je konkreten Forschungsrätsels zu einer ersten Vorahnung und Hypothese gelangen, die es wirklich lohnt, auf den Prüfstand gestellt zu werden, was voraussetzt, dass sich eine gewisse Überzeugtheit schon ernsthaft eingestellt hat, weil die vermeintliche Antwort schon viele Male im Datenmaterial wiederentdeckt werden konnte und eine gewisse Plausibilität für sich beanspruchen kann? Wie komme ich zu den wirklich harten Falsifikatoren, die die Logik der methodischen Geltungsüberprüfung abstrakt-programmatisch vorschreiben, wenn ich die theoretische Bedeutung und Dimension einer möglichen hypothetischen Lösung noch kaum intellektuell vollends durchdrungen haben kann? Und wie kann ich eine Hypothese so zuschneiden, dass ich sie angesichts verfügbarer Methoden in einem Experiment so angehen kann, dass dieses Experiment wirklich eine scharfe Klinge ist? Dies bedeutet ja, dass ich einen technischen Ansatz und intellektuellen Kniff benötige, einen Hebel, wie man einem Gegenstand genau diejenigen Daten und Ausdrucksgestalten entlocken kann, die man für eine experimentelle Überprüfung benötigt. Und wie schaffe ich es, eine sich abzeichnende Lösung für ein Rätsel in hinreichendem Maße zu stabilisieren und mit Argumenten und Beobachtungen aus anderen Zusammenhängen zusammen zu bringen, ohne mich zu früh festzulegen oder ver75 Popper selbst hat zu diesem Missverständnis beigetragen, als er in seiner Entgegnung auf Kuhn davon sprach, die Wissenschaftstheorie sei keine empirische Gegenstandstheorie, sondern formuliere die Rationalität des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses. Vgl. Popper, Karl: „Die Normalwissenschaft und ihre Gefahren“, in: Lakatos, I./Musgrave, A. (Hg.): Kritik und Erkenntnisfortschritt, London (1970), S. 51-57.
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unsichern zu lassen? Der Forschungsprozess ist hier eine Verkettung von Schritten und jeder dieser Schritte ist ein Gang ins Unbekannte, was handlungslogisch so viel heißt, als dass jedem Schritt Optionen offenstehen, von denen nicht klar ist, welche die richtigen sein werden. Es kommt darauf an, die Offenheit der Optionen immer weiter einzuengen, bis sich die Offenheit ganz schließt und nur noch eine Option als bewährtes Wissen übrig bleibt. Doch dies bedeutet, jeden der gemachten Schritte gründlich daraufhin zu bedenken, welcher der bereits erprobten Optionen begründet ausgeschieden werden konnten und welche möglichen nächsten Schritte einer Lösung näherbringen könnten. Auch hier benötigt der professionalisierte Forscher gute Vorahnungen, die sich nicht aus der Logik der Forschung deduzieren lassen. Zugleich verlangt die Logic of Discovery, sich nicht auf seine Vorahnungen alleine zu verlassen, sondern mit hinreichender Distanz zu ihnen immer den Gesamtprozess zu überblicken und zu wissen, welches die Optionen sind, die schon begründet ausgeschieden werden konnten und an welche man auch gegen seine Vorahnungen gegebenenfalls zurücksteigen müsste, wenn sich der gegenwärtig beschrittene Pfad als Irrweg und Sackgasse herausstellen sollte. Die Logic of Discovery ist also eine sich ins Offene vollziehende sequenzielle Abarbeitung von hypothetischen Lösungsentwürfen und deren methodischer Überprüfung, von Experimenten und ausscheidenden Falsifikatoren, von Deutungsoptionen der in den Experimenten hervorgebrachten Messdaten und Ausdrucksgestalten und ihrer explizit theoretischen Ausdeutung, bis diese Theorie jene Strukturgesetzlichkeit auszudrücken weiß, die auf der Seite des Gegenstandes ihre Ausdrucksgestalten erklärt und hinreichend zu interpretieren erlaubt. Dieser Gang ins Offene bedarf auf der Seite der Wissenschaftler einer Haltung, die in der Lage ist, jeden Schritt methodisch kontrolliert zu gehen. In Wirklichkeit ist kein Forschungsprozess geradlinig und entspricht keine Wissenschaftsgeschichte dem Idealmodell der Logik der Forschung. Die strukturelle Besonderheit des wissenschaftlichen Handelns besteht gleichwohl darin, dass es einen Forscherhabitus gibt, der schon im Vollzug der ins Offene gehenden Krisenbewältigung bestrebt ist, allen drei Logiken möglichst gerecht zu werden und in einem Chaos von Möglichkeiten methodisch vorzugehen. Oder, wie Oevermann gerne ein Zitat Heisenbergs abwandelt: „Wissenschaft ist der Versuch, mit einem dreckigen Lappen in dreckigem Wasser dreckiges Geschirr sauber zu bekommen.“ Der erfahrungswissenschaftliche Forscherhabitus Die überwiegende Mehrheit der Wissenschaftler liest weder wissenschaftstheoretische Bücher, noch besucht sie philosophische Seminare. Die universitäre Ausbildung von Studenten in den methodologischen Grundlagen ihres Fachs kann weder dem Umfang, noch ihrer Intensität nach erklären, dass Erfahrungswissenschaftler
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im Durchschnitt sehr erfolgreiche und kompetente Methodiker sind. Erfahrungswissenschaftler erwerben ihre methodischen Grundkenntnisse also woanders. Doch wo geschieht dies? Die Antwort muss natürlich lauten: Sie lernen sie in der Praxis selbst! Sie erschließen sich die Logik der Forschung in konkreten Projekten, Learning by doing, ohne dass die Unterweisung in methodischen Vorgängen durch Projektleiter lückenlos oder manchmal auch nur gegeben wäre. Diese Unterweisung durch einen „Meister“ kann gut und hilfreich sein und sehr viele Irrwege abkürzen, aber sie erklärt nicht, warum ein Novize in die Methodik seines Faches überhaupt hineinfindet. Eine Disposition muss bereits angelegt sein, und die methodische Kompetenz ergibt sich aus der Rekonstruktion dessen, was einer beobachtet und selbst tut. Hier kann ich auf die schon ausgeführte Argumentation der Professionalisierungstheorie verweisen. In jedem Forschungsprozess sind Wissenschaftler mit einer inhaltlichen Fragestellung befasst, bei deren Bearbeitung sie zugleich mit typischen Handlungsproblemen des Forschungsprozesses als solchen konfrontiert werden. Da Wissenschaftler diese Probleme überwinden müssen, wenn sie erfolgreich sein wollen, erproben sie Lösungen und wenn sich eine solche Lösung bewährt, halten sie an ihr fest. Für wiederkehrende Handlungsprobleme entwickeln sich daher typische Handlungsroutinen, die dann auf weitere Forschungsprozesse übertragen werden. Dies verhält sich analog zum ärztlichen oder rechtspflegerischen Habitus. Die Routinen werden mit wachsender Erfahrung virtuos gehandhabt und lagern sich im Habitus ab. Irgendwann sind sie so sehr verinnerlicht, dass sie wie automatisch ausgeführt werden, ohne dass die elementaren Regeln und Erfahrungsgründe, die hinter ihnen stehen, noch zu Bewusstsein kämen. Sie sind den Forschern in Fleisch und Blut übergegangen. Gleichwohl kann man festhalten, dass der Forscherhabitus immer nur je exemplarisch erworben werden kann. Jeder Wissenschaftler muss sich auf bildungsgeschichtlich einzigartige, konkrete Gegebenheiten und Details seiner Disziplin, seines Fachgebiets und seines konkreten Detailprojekts einlassen, um in die Forschung hineinzufinden. Davon, dass er sich wirklich auf ein konkretes Forschungsgebiet voll und ganz einlässt, hängt im Übrigen auch ab, wie gut er sein wird. Denn die Tugenden der wissenschaftlichen Methode werden nur erworben, wenn man einen Forschungsprozess mit allen seinen Besonderheiten durchsteht. Ist ein Wissenschaftler schon in frühen Forschungsprojekten risikofreudig und inspiriert, zugleich präzise und fleißig, und vor allem gewissenhaft in der Umsetzung der Forderung methodischer Kontrolliertheit, dann wird er die dabei gemachten Erfahrungen viel besser auswerten, als andere, und dies wird sich über mehrere Projekte kumulieren, ihn weiter tragen und bei der Wahl der anzugehenden Fragen erlauben, sich an Themen heranzuwagen, die dem Schwierigkeitsgrad nach nicht jeder angehen kann. Der Erwerb des Forscherhabitus ist also untrennbar mit einer individuellen Bildungsgeschichte verbunden, und daher geht der Beruf des Wissenschaftlers auch
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nie ganz in der Berufsrolle des Wissenschaftlers auf, sondern bleibt in einem gewissen Maße an die Persönlichkeit, ihre Begabungen und ihre Erfahrungen gebunden. Zugleich erwerben Novizen das Erfahrungswissen nur, wenn sie der wissenschaftlichen Praxis immer schon mit einer entsprechenden Haltung gegenübertreten und ihren Problemen mit Ernsthaftigkeit, Energie und Lösungswillen sich zuwenden. Diese Disposition zum Forscherhabitus muss schon da sein. Der Forscherhabitus setzt also Begabungen und Qualifikationen wie auch eine ausgeprägte Neugierde voraus, ohne die niemand in die Logic of Discovery hineinkommen würde. Damit sind die bildungsgeschichtlichen Wurzeln des Forscherhabitus in der Einzelbiographie angerissen, die uns noch beschäftigen werden. Der methodenkritische Geltungsdiskurs Der inneren Disziplin eines Einzelnen tritt das Fach als äußere Disziplin, als wissenschaftliche Schule und Gemeinschaft von Forschern gegenüber. Diese äußere Disziplin manifestiert sich in den verbindlich gewordenen Normen des wissenschaftlichen Verhaltens, und es sind die Institutionen der Wissenschaften, Universitäten, Fachgesellschaften und Assoziationen, in denen die Normen verbindlich gemacht werden können. Doch analytisch muss man die Welt wissenschaftlicher Institutionen von dem Geltungsdiskurs unterscheiden, in denen die Normen real zu Wirkung gelangen. Wissenschaftler sind in vielfacher Hinsicht darauf angewiesen, dass es eine autonome Fachöffentlichkeit gibt, in der ihre Grundlagenprobleme und empirischen Operationen methodenkritisch behandelt werden können. Diese Fachöffentlichkeit unterscheidet sich strukturell von der staatsbürgerlichen Öffentlichkeit und ihren politischen Diskursen und folgt ganz eigenen Regeln. Die Wissenschaftler begegnen sich darin primär als Träger von Beobachtungen, Erfahrungen und Argumenten. Von Bedeutung ist, was gesagt wird und ob es Geltung beanspruchen kann, nicht wer etwas sagt und an wen es adressiert ist.76 Methodische Kritik unterscheidet sich grundlegend von praktischer Kritik, wie sie für die politische und intellektuelle Öffentlichkeit konstitutiv ist. Die praktische Kritik greift im Namen eines utopischen Gerechtigkeitsentwurfs Missstände des Zusammenlebens auf und ist immer wertgebunden. Sie bezieht sich auf Werte des Gemeinwesens und beansprucht diese glaubwürdig zu verkörpern. Praktische Kritik ist insofern stets auf eine Veränderung der Wirklichkeit aus. Für die wissenschaftliche Methodenkritik ist demgegenüber praktische Veränderung überhaupt kein Ziel und gerade die Werturteilsfreiheit eine konstitutive Bedingung.
76 Vgl. für das folgende Oevermann, U.: Skizze einer revidierten Theorie professionalisierten Handelns, S. 37 ff.
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Gegenstand einer Methodenkritik können im Prinzip alle Aussagen über die erfahrbare Welt werden. Methodische Kritik zielt stets auf die Verlässlichkeit und Geltung einer Aussage und auf die Modi bzw. Geltungsgründe ihres Zustandekommens. Ihr Modus operandi ist das Hinterfragen von Quellen und Primärdaten im Hinblick auf die Berechtigung eines Wissenschaftlern, aus ihnen bestimmte Schlussfolgerungen ziehen zu können. Sind die Daten wirklich korrekt zustande gekommen und geben sie das her, was aus ihnen hergeleitet wird? Geben sie einen Sachverhalt richtig wieder oder verzerren sie das Gesamtbild, das man haben sollte? Konstitutiv für eine methodische Kritik ist eine Quelle der Geltung, auf die eine Aussage gestützt wird, und deren Qualität und Aussagenreichweite, deren Zustandekommen und Überprüfbarkeit Gegenstand eines kritischen Hinterfragens werden kann. Gegenstand einer Methodenkritik können also nicht Beobachtungen, wohl aber die Protokollsätze über Beobachtungen werden, nicht die Messdaten, wohl aber die Messverfahren, mit denen sie gewonnen wurden, nicht die Textquellen, wohl aber die Interpretation der Texte und ihre Zuordnung zu einer bestimmten Epoche, einem Autor. Methodische Kritik heißt, dass die Geltungsgründe angezweifelt werden, mit denen jemand eine Aussage über die Welt begründet hatte, und da diese Kritik selbst begründet werden muss, muss sie irgendeinen Fehler oder Irrtum, irgendeine Falschheit und Inauthentizität, irgendeine Inkonsistenz und Widersprüchlichkeit aufzeigen. Die Hingabe an die Methodenkritik ist das wichtigste Merkmal der Berufsrolle des Wissenschaftlers. Diese Berufsrolle fordert unvoreingenommen und werturteilsfrei zu bleiben. Sie konstituiert zugleich eine Kollegenrolle, welche die wissenschaftliche Fachöffentlichkeit von jeder Laienöffentlichkeit unterscheidet. Die Kollegenrolle hält dazu an, nicht vor persönlicher Autorität halt zu machen und sachhaltige Methodenkritik, wenn es sein muss auch scharf und zugespitzt zu üben, aber auch umgekehrt harsche Kritik von Kontrahenten auszuhalten, wenn sie sachhaltig ist. Eine Voraussetzung dafür ist kehrseitig, dass die Fachdiskurse ihre Autonomie gegen Ansprüche, Mitsprachewünsche und Kontrollen seitens der Laienöffentlichkeit schützen und sich gegen eine unsachgemäße Außenkritik abschirmen, um gerade ihre Binnenkritik radikal ausüben zu können. Dies ist insbesondere in solchen prekären Phasen wichtig, in denen sich eine Forschung im Status nascendi befindet und Wissenschaftler ihre Hypothesen und Argumente in einer noch ungesicherten Befundlage tastend erproben müssen, ohne schon genau wissen zu können, ob sie richtig liegen. Es ist dies eine Phase, in der Wissenschaftler sich riskant exponieren und deshalb sind sie darauf angewiesen, dass sie in der Kritik, die sie provozieren und notwendig auf sich ziehen, eine an die Regeln der Sachhaltigkeit gewöhnte Kollegenschaft antreffen, welche die Situation aus eigener Erfahrung einschätzen kann. Erst die Hingabe an die Berufsrolle schafft eine Voraussetzung dafür, dass die für die Fachöffentlichkeit konstitutive und folgenreiche Polarität von Opponenten
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und Proponenten entstehen kann. Tagungen, Fachkongresse, Seminare leben davon, dass Wissenschaftler ihre Meinungen äußern, dass sie sich vorwagen und mit Argumenten für ihre Behauptungen streiten. Erst auf dieser Basis kann eine Logik des besseren Arguments in Gang kommen, die ein dynamisch aufstufendes Wechselspiel von Argumentation und Kritik entfaltet. Diese Logik des besseren Arguments sorgt wie in einer Spirale dafür, dass anfechtbare Schwächen von Geltungsgründen freigelegt werden, worauf dann das Argument entweder als unhaltbar fallengelassen werden muss, so dass die Behauptung verstummt, oder reagiert werden kann und die Behauptung durch Mobilisieren neuer Geltungsgründe, die eine vorangehende Kritik ausräumen, verbessert und daher mit größerer Argumentationskraft als vorher gerettet werden kann. Diese Logik des besseren Arguments kann nur in Gang kommen, wenn die Akteure des Diskurses ihren Gegensatz möglichst befreit von Motiven eines Interessenkonflikts oder persönlicher Fehde betrachten können und im Dialog allein auf die Sache abheben können. In dieser Form ist der wissenschaftliche Diskurs eine zweckfreie Kooperation und kann mit dem Spiel verglichen werden. Auch das Spiel stellt ja eine Praxis dar, welche ihren Sinn alleine in sich selbst findet. Es wird durch Regeln konstituiert, die eine Handlungssphäre begründen, welche nur im Spiel existiert, und ist der Sphäre der realen Praxis gegenübergestellt. Dies erlaubt es den Spielenden, Elemente des wirklichen Handelns wie Wettkampf, Strategie, Allianz und Gegnerschaft, Zufall, Geschick oder Rollen wie unter einer Glasglocke spielerisch zu simulieren, das heißt, sie müssen keine ernsthaften Konsequenz eines Scheiterns und einer Niederlage befürchten und können riskant oder verspielt Neues versuchen. Aus dieser fehlenden Ernsthaftigkeit bezieht das Spiel ein Gutteil seines Reizes. Dies schließt jedoch nicht aus, dass es auch im Spiel einen „heiligen Ernst“ gibt, der darin besteht, dass seine Regeln unbedingt eingehalten werden müssen. Die Kooperationsfähigkeit der Spielenden zeigt sich daran, ob Mitspieler die Regeln verstehen und einhalten kann. Er muss sie anerkannt haben, Verstöße müssen kritisiert und zurückgenommen werden, in unklaren Fällen müssen Regeln rekonstruiert oder nachträglich festgelegt und andere Grundregeln der Aufrechterhaltung der Kooperation beachtet werden. Dem Spiel wohnt strukturell inne, dass, bevor auch nur ein Spielzug gemacht wird, schon eine Kooperationsleistung erbracht sein muss. Das Spiel setzt also zweckfreie Kooperation voraus. Der wissenschaftliche Diskurs ähnelt dem Spiel in ihrer vollständigen Praxisentlastetheit. Allerdings stellt er insofern kein Spiel dar, als nicht Spaß und Freude am Forschen oberster Grund ihrer Praxis sein kann, sondern das Bewältigen von simulatorischen Krisen, das letztlich doch immer im Dienste eines Wahrheitsdiskurses steht und ihm zugutekommen soll, so dass ein sittlicher Ernst des Wissenschaftlerberufs und eine Ehrfrucht vor der regulativen Idee der Wahrheit trotz aller historisch erfolgten Entzauberung des Wissenschaftsbetriebs, wie sie in der Kritik an den Grenzen und Unzulänglichkeiten der menschlichen Erkenntnisfähigkeit er-
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folgt ist, doch untilgbar erhalten bleibt. Ohne jenes regulative Ideal der Wahrheit würde sich die Community of scientists sehr schnell auflösen. Eine weitere Voraussetzung der wissenschaftlichen Fachöffentlichkeit besteht deshalb darin, dass ihre Diskurse versachlicht sind und „die Sache“, um die es geht, eine stabile Einrichtung erfahren hat, an die sich alle halten, so dass einer natürlich immer möglichen und realistisch gesehen nicht so seltenen Abweichung durch Hereinbrechen sachfremder Motive in den Diskurs sofort entgegengetreten werden kann. Störquellen eines Diskurses wie emotionale Erregtheit, persönliches Geltungsstreben, kompetitiver Übereifer und narzisstische Kränkung, oder auch schlichte intellektuelle Ermüdung, Konfusion, ideologische Verblendung oder Sympathien oder Antipathien für einen Sprecher sind ja auch Wissenschaftlern nicht fremd und können nur aufgefangen werden, wenn „die Sache“ allen vor Auge steht und zu ihr zurückgekehrt werden kann, sollten sich jene Störquellen einmal schädlich äußern. Für wissenschaftliche Diskurse ist charakteristisch, dass sonst übliche Friktionen, wie z.B. dass das Gesprächsthema unwillkürlich wechselt, unbemerkte Perspektivenwechsel erleidet oder sprunghafte Assoziationen sich aneinanderreihen, seltener vorkommen. Viele Wissenschaftler haben ein geradezu ästhetisches Empfinden für die geforderte Reinheit eines versachlichten Diskurses und reagieren allergisch gegen Störungen, während sie besonders gekonnte Vorträge gerne honorieren, wenn diese virulente Punkte eines Gesprächs zu bündeln, auf den Punkt zu bringen und in seinen wesentlichen Strängen zusammenzuführen vermögen, selbst wenn der Referent „in der Sache“ eine Auffassung vertritt, die man selbst nicht teilt. Denn für einen wissenschaftlichen Fachdiskurs ist konstitutiv, dass eine von kontinuierlicher Aufmerksamkeit stabil gehaltene, mit sich identisch bleibende und logisch konsistente Gegenständlichkeit eingerichtet bleibt. Ein wissenschaftlicher Diskurs beginnt immer mit konstitutionstheoretischen Überlegungen darüber, worin genau der Gegenstand besteht, über den verhandelt wird. Logisch-begriffliche Überlegungen zur Gemeinsamkeit und Differenz mit anderen Gebilden, zum Genus proximum und zur Differentia specifica, zum Tertium comparationis gehören hier her, und ebenso die wichtigsten Erklärungsprobleme: Was bringt den Gegenstand hervor? Welche Gesetzlichkeiten beherrschen sein Dasein? In welchen Kausalbeziehungen steht er zu anderen Gegenständen? Diese Konstitutionstheorie ist selbst noch keine von Empirie gesättigte Gegenstandstheorie, sondern ein Vorgriff auf diese, ein Entwurf, der das Gegenstandsfeld strukturiert. Obwohl keine Konstitutionstheorie ohne Vorwissen auskommt, ist sie immer darauf ausgelegt, die empirische Forschung zum Gegenstand zu eröffnen. Deshalb mündet jede Konstitutionstheorie automatisch in methodologische Überlegungen darüber, wie sich ein Gegenstand der Erfahrung präsentiert und welche Konsequenzen daraus für das methodische Vorgehen erwachsen. An welchen Ausdrucksgestalten lässt sich der Gegenstand erfahren? Welche Methoden der Datenerhebung sind gefordert, um einem Gegenstand aufschlussreiche Ausdrucksgestalten zu entlo-
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cken? Und welche Methoden gewährleisten eine adäquate Auswertung dieser Daten? Die Erfahrungswissenschaften haben hierbei einige Regeln hervorgebracht, die übergreifend gelten und insofern Bausteine einer Wissenschaftsmethodologie ausmachen. Die Methodologie der modernen Erfahrungswissenschaften beginnt mit der Forderung, dass jedes Ereignis, jede Manifestation von Erfahrungstatsachen, auf der eine Behauptung begründet werden soll, irgendwie überprüfbar sein muss und sich für jedermann nachvollziehbar äußert. Sie scheidet bestimmte Geltungsquellen von vorneherein aus, Geltungsquellen wie das subjektive Erleben, die Introspektion, wie Offenbarung und Erleuchtung, Hörensagen oder Autorität. Daraus folgt die Notwendigkeit, dass eine Erfahrung protokollierbar sein muss. Erst ein Protokoll macht ein Ereignis zu einem überprüfbaren Datum. Nur in einem Protokoll kann ein Ereignis Gegenstand einer methodenkritischen Diskussion werden. Die Logik des Protokollierens ist so zentral, dass wir ihr kurz nachgehen sollten. Ein Protokoll hält ein Ereignis fest, es konserviert es, stellt es still und entreißt es gewissermaßen seiner Flüchtigkeit im raum-zeitlichen Kontinuum. Dies macht es möglich, dass das Ereignis Gegenstand einer Betrachtung in Muße werden kann. Ein Protokoll kann immer wieder hervorgeholt und erneuter Betrachtung unterzogen werden. Es kann von verschiedenen Personen, die an der Protokollierung gar nicht beteiligt gewesen sein müssen, ausgewertet werden. Seine Deutung kann Gegenstand einer kritischen Überprüfung und Diskussion werden, wenn jemand eine Deutung nicht nachvollziehen kann. Widerstreitende Positionen werden so gezwungen, am Protokoll selbst zu zeigen, warum eine bestimmte Beschreibung oder Auslegung richtig sein soll und eine andere nicht. Erst im Protokoll wird ein Datum also intersubjektiv überprüfbar, werden Auslegungskontroversen durch einen jederzeit möglichen Rückbezug auf das Protokoll als eines unbestechlichen Primärdatums im Prinzip entscheidungsfähig. Auch dies trägt zu einer Versachlichung der Diskurse bei. Am Beginn einer jeden Erfahrungswissenschaft steht daher die Entwicklung von Routinen und Techniken der Protokollierung. Die vieldiskutierten und oft überbetonten Unterschiede zwischen den Naturwissenschaften und den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften liegen in erster Linie darin begründet, dass sie unterschiedliche Techniken der Protokollierung entwickeln müssen, weil dies von der Natur ihrer Gegenstände her gefordert ist. Es ist m.E. ganz falsch, den Unterschied der Fachkulturen in prinzipiell unterschiedlich zu konstruierenden Methodologien zu sehen. Die Naturwissenschaften sind ebenso wenig reine Beobachtungswissenschaften, wie die Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften ausschließlich hermeneutische Wissenschaften sind. Vor allen Unterschieden ist beiden Fachkulturen die Konstituiertheit ihres Gegenstandes in einem Protokoll gemeinsam, in dem sich Erfahrungstatsachen manifestieren. Beiden Fachkulturen erwächst daraus gleichermaßen die Aufgabe einer angemessenen Interpretation der Proto-
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kolle. Diese, die Interpretation, ist in den Naturwissenschaften selbstverständlich genauso eine hermeneutische, sinnverstehende Operation, wie in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften. Allerdings muss sie sich in den verschiedenen Fächern an denkbar anders gearteten Materialitäten von Protokollen bewähren. Dem Beobachten als einer methodischen Operation wird angesichts dessen ein oft falscher Stellenwert eingeräumt. Im Beobachten als einer Wahrnehmungsoperation unter Mußebedingungen eröffnen sich dem Wissenschaftler lediglich Gelegenheiten zur Entdeckung unbekannter Phänomene und Zusammenhänge, die für sich genommen erst Bedeutung erlangen, wenn sie interpretiert und erschließend behandelt werden können. Hierfür ist ihre Protokollierung zentral. Das Beobachten, von dem viele Wissenschaftler sprechen, ist immer schon ein interpretierendes, erschließendes, sich dem Unbekannten bewusst zuwendendes Wahrnehmungshandeln, das aber, wenn es Erfolg haben will, seine Entdeckungen auch vorzeigen muss, was der Wissenschaftler ohne Protokoll nicht geleistet bekommt. Die berühmte Forderung nach Wiederholbarkeit (Reproduzierbarkeit) einer Beobachtungstatsache, eines im Experiment erzielten Effekts oder Messwerts (als Voraussetzung seiner Objektivität, Reliabilität) oder einer im Feld beobachteten Tatsache ist in erster Linie dann von Bedeutung, wenn das Protokollieren aus technischen oder sonstigen Gründen schwierig oder unmöglich ist und die persönliche Anwesenheit der Erfahrungssubjekte beim Ereignis für die intersubjektive Kontrollierbarkeit der Schlussfolgerungen gefordert ist. (Natürlich hat eine Reproduzierbarkeit auch die Bedeutung, auszuschließen, dass es sich um einmalige Effekte mit zufälligem Charakter handelt.) Sobald aber Techniken der Protokollierung auch seltene Beobachtungen oder nur schwer zu erzeugende experimentelle Effekte festhalten können, nimmt die Bedeutung dieser Forderungen ab.77 Aus der Handlung des Protokollierens folgt eine weitere, allen Wissenschaftsdisziplinen gemeinsame Dimension der Methodenkritik. Denn in ein Protokoll geht immer zugleich die Handlung des Protokollierens selbst mit ein, das Protokoll gibt nur dasjenige an einem Ereignis wieder, was durch die Technik der Protokollierung bzw. die Perspektive des Protokollanten tatsächlich eingefangen wird. Daraus erwächst aber eine Diskrepanz zwischen dem Protokoll und dem Protokollierten, das 77 Umgekehrt gilt für den Sozialwissenschaftler, dass seine methodische Operation nicht im Interpretieren von Texten am Schreibtisch aufgehen kann, sondern eine geduldige und geübte Beobachtung der Praxis in den Milieus ihres Geschehens voraussetzt. Es ist daher eigentlich schon verkehrt, daraus einen eigenständigen Ansatz zu machen und zum Beispiel die „Teilnehmende Beobachtung“ als eigene Methode auszuweisen, denn was damit gemeint ist, sollte ohnehin selbstverständlich sein. Zu einem eigenständigen Ansatz gemacht, wird damit eher verschleiert, dass das teilnehmende Beobachten selbst weder eine Methode der Datenerhebung, noch eine der Datenauswertung ist. Sie hilft nur dabei, die Datenerhebung zielsicherer durchzuführen.
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im Protokoll immer nur angenähert oder unvollständig erfasst werden kann. Mit dem Protokollbegriff entsteht also zugleich ein methodischer Begriff der Totalität eines Gegenstandes, die im Protokoll nur ausschnitthaft und um den Preis eines Stillstellens seiner Lebendigkeit erfasst ist. Deshalb stellen sich mit jedem Protokoll die Fragen nach der erlaubten Reichweite seiner Auslegung. Daraus erwächst ein anhaltender Druck, durch innovative Entwicklungen der Protokollierungstechniken die Qualität, Präzision, Tiefenschärfe und Reichweite der Protokolle immer weiter zu verbessern. Es gibt genau in diesen Dimensionen einen technologisch vermittelten Fortschritt, der die Leistungsfähigkeit der Wissenschaften immens gesteigert hat. Man kann verschiedene Techniken und Methoden unterscheiden. Es gibt die Techniken der Aufzeichnung, wie sie früher im Zeichenheft und Skizzenbuch, in der Notiz und Beschreibung aufgefangen wurde und heute etwa in den Fotoplatten, Audiorekordern oder Videokameras verkörpert sind. Sie beruhen darauf, physikalische Manifestationen eines Ereignisses, z.B. seine Licht-, Schall- oder elektronmagnetischen Wellen auf einem Datenträger festzuhalten. Von diesen Techniken der Aufzeichnung zu unterscheiden sind Techniken, welche der Erweiterung des menschlichen Wahrnehmungsapparates dienen, dessen Reichweite begrenzt ist. Die Forscher sehen und hören nur, was ihnen ihre Augen und Ohren vermitteln. Was ihre Erschließungsprozesse angeht, bleiben sie auf ihre Sinne, vor allem die Augen unbedingt angewiesen, was für sich genommen eine interessante Tatsache ist, denn offensichtlich ist das Erschließen vieler Sachverhalte auf die Wahrnehmung der sinnlich visueller Gestalt angewiesen. Die Forscher können aber mit Hilfe von Instrumenten und optischen Geräten das Spektrum ihres wahrnehmbaren Bereichs erweitern. Sie machen mit Hilfe von Mikroskopen die Welt des Unsichtbaren in einer Vergrößerung sichtbar, so dass es ihnen erlaubt ist, kleinste Details zu studieren. Oder sie verstärken mit Hilfe von hochauflösenden Teleskopen geringste Lichtquellen einer sehr weit entfernten Welt so, dass Galaxien sichtbar werden, die außerhalb des Wahrnehmungsvermögens liegen. Sie haben außerdem Technologien entwickelt, welche Erscheinungsformen der Welt protokollierbar machen, die dem menschlichen Sinnesapparat überhaupt nicht zugänglich sind, z.B. Messinstrumente, die Röntgenstrahlen oder Radioaktivität oder Radiowellen aufzeichnen, und die weder seh-, hör-, tast- oder riechbar wären, wenn sie nicht in eine dieser Modalitäten übersetzt werden würden. Viele dieser Instrumente kombinieren Technologien der Messung mit Technologien der Bildgebung oder Präsentation. Dazu gehören zum Beispiel auch bewegte Videosimulationen, Skalen, Graphen und Diagramme. Man kann daneben auch die Techniken der Präparation aufzählen, die dafür entwickelt sind, Strukturen, die in einem sie umgebenden Material so eingewoben sind, dass sie sich normalerweise nicht deutlich abzeichnen, sichtbar zu machen. Biologen und Mediziner nutzen zum Beispiel fluoreszierende Kontrastmittel zum Einfärben, um eine bestimmte Zellstruktur herauszuheben. Astronomen benutzen Lichtfilter, um galaktische Strukturen zu verdeutlichen. Viele dieser Geräte sind
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heute so komplex, dass sie ohne den Computer als unterstützende Technologie nicht auskämen. Sie werden außerdem in Apparaten kombinatorisch verwendet. Sie sind als Routinen vom ursprünglichen Kontext ihrer Entstehung ablösbar und auf neue Anwendungsgebiete übertragbar, können technisch erweitert werden und sind als solche Gegenstand des ingenieurialen Erfindungsgeistes. Den Methoden der Protokollierung stehen die Methoden der Auswertung gegenüber. Auswertungsmethoden stellen immer eine Lehre der Interpretation dar, also eine auf Regeln beruhende Methodik, die darin anleitet, wie man erhobene Daten behandelt. Wie bestimmt man, was sie bedeuten und wie gelangt man zu einem angemessenen Verständnis? Ein wissenschaftliches Interpretieren folgt also anderen Regeln als das praktische Verstehen. Ein methodisches Verstehen folgt dem Gebot der Explikation aller Lesarten und ist gehalten, eine Ausdrucksgestalt in seiner Totalität zu betrachten und die Eigenheit und Sperrigkeit eines Datums zu wahren, nicht es vorschnell vorhandenen Kategorien zu subsumieren. Insofern ist die Auswertung von Protokollen die eigentliche Operation der Erschließung des Unbekannten. Die Notwendigkeit der Interpretation beginnt schon damit, dass vor aller inhaltlichen Deutung die Materialität eines Protokolls bestimmt wird, also der Charakter eines Informationsträgers, der Datentypus. Die Materialität eines Protokolls steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Natur der protokollierten Wirklichkeit und spiegelt diese wider. Die Praxis als Gegenstand der Soziologie ist beispielsweise durch Sprache konstituiert. Ausdrucksgestalten dieses Gegenstandes, Protokolle von Interaktionen sind daher textförmig und meist, wenn auch nicht zwingend, selbst sprachlicher Natur. Sie sind durch sprachliche Regeln erzeugte Gebilde, die sequenziell strukturiert sind; das heißt, sie entfalten ihr Datum nach einer bedeutungsgenerierenden Abfolgeordnung, deren Bedeutung man nur gerecht wird, wenn sich die Interpretation dieser Sequenzialität anschmiegt und sozusagen ihrer Natur folgend die Lesarten entlang der Sequenzen gebildet werden. Wenn man sprachliche Texte wissenschaftlich interpretieren will, muss man letztlich sequenzanalytisch vorgehen, will man nicht entweder der Gefahr subjektiv willkürlicher Deutung anheimfallen, die in den Text mehr oder anderes hineininterpretiert, als in ihm wirklich steht, oder will man nicht der Gefahr auf der anderen Seite erliegen, das Datum in seiner Eigenart von vorneherein subsumtionslogisch zu zerstören, was zum Beispiel der Fall wäre, wenn ein schematisches Verfahren der Auswertung gewählt würde, welches die Sequenzialität des Protokolls missachtet und nach externen Kriterien einen Text auswertet. Ein solches schematisches Verfahren liegt m.E. in inhaltsanalytischen Verfahren der Textauswertung vor, die seinen Inhalt nach bestimmten Suchkriterien auszählen. Der Gegenstandskosmos der Naturwissenschaften ist hingegen nicht sprachlich konstituiert und hinterlässt Protokolle, die zunächst immer den Charakter einer Aufzeichnung von sinnlichen Erfahrungsdaten und Wahrnehmungsprotokollen haben. Auch diese haben eine Bedeutungsstruktur; diese entzieht sich aber einer er-
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schließenden Interpretation, solange sie nicht in eine Ausdrucksmaterialität übersetzt wird, die man interpretieren kann. Für alle nicht-sprachlichen Protokolle gilt, dass ihr Inhalt erst verbalisiert beziehungsweise in ein der Sprache verwandtes, ihrem Regelsystem verwandtes Notationssystem übertragen werden muss, dessen Zeichen und Operanden dem Gegenstand entsprechen müssen. Beispiele sind die Notationssysteme der Chemie und Physik. Diese haben selbst eine Geschichte, weil sie sich ihrem Gegenstand erst gewachsen zeigen mussten. Sie beruhen wohl letztlich auf der Geschichte der mathematischen Notationssysteme, die insofern ein Sonderfall darzustellen scheinen, als zumindest Teilgebiete des Gegenstands der Mathematik überhaupt erst mit diesen Notationssystemen entstehen. Die Debatte über den Realismus und Nominalismus der Mathematik drückt dies aus. Die Auswertungsmethoden sind an einen je spezifischen Datentypus gebunden, welcher in den Protokollen verkörpert ist. Der Unterschied zwischen den quantitativen Methoden einer auf Messwerten, Zahlengrößen und Parametern beruhenden mathematisch errechnenden Operation, einerseits, und den sogenannten „qualitativen“, hermeneutisch textinterpretativen Methoden, andererseits, besteht nicht darin, dass in der mathematischen Operation nicht interpretiert würde, sondern darin, dass hier vom Datentyp her eine andere Form des Interpretierens gefordert ist und die Interpretation auf standardisierbare Operationen (Kalküls, Algorithmen usw.) übertragen werden kann. Sprachliche Sinnstrukturen lassen eine solche Operation gar nicht zu. Der angemessene Gebrauch von Methoden ist abhängig vom Untersuchungsgegenstand und kann selbst nicht standardisiert werden. Man muss daher von den einzelnen Methoden, die sich in der Datenerhebung oder -auswertung bewährt haben, eine Kunstlehre für den richtigen Gebrauch von Methoden unterscheiden. Diese Kunstlehre, die ein Wissenschaftler mehr über persönliche Erfahrungen mit Problemen der Methodenanwendung erwirbt als über Lehrsätze, lehrt ihn die Angemessenheit von Methode und Gegenstand immer wieder von Neuem methodenkritisch zu hinterfragen. Methoden sind Königswege zur Wahrheit, aber sie führen als selbstläuferische Routinen auch in die Irre, wenn sie zur Anwendung kommen, ohne dass die Natur eines Gegenstandes hinreichend beachtet wird. Daten haben abhängig von ihrer Materialität unterschiedliche Aussagenreichweiten. Verschiedene Datentypen machen unterschiedliche Dimensionen der Realität zugänglich. Daher ist z.B. die Biologie auf die Laborforschung und die Feldforschung gleichermaßen angewiesen. Wissenschaftler sind bei jedem Forschungsvorhaben gehalten, sich zu überlegen, welche Daten von der zu überprüfenden Hypothese aus gefordert sind, unabhängig davon, ob es die dafür erforderlichen Erhebungsmethoden schon gibt oder nicht. Dasjenige, was die Kreativität der Wissenschaftler am meisten herausfordert, ist ein geeigneter methodischer Ansatz („Approach“), der es ermöglicht, eine Frage-
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stellung bzw. ein Gegenstandsfeld der methodisch kontrollierten Empirie zugänglich zu machen. Gefordert ist ein kreativer Entwurf zu einem Experiment, zu einer raffinierten Beobachtungsoperation oder zu sonst irgendeinem Ansatz, der es ermöglicht, der Realität unter kontrollierbaren Bedingungen Ausdrucksgestalten zu entlocken, die als Falsifikatoren einer Hypothese interpretiert werden können. Davon, ob es eine solche Idee gibt, hängt alles ab. Eine experimentell kreative Erfindungsgabe setzt deshalb ein weitreichendes labor- und feldpraktisches Wissen über die Natur desjenigen Gegenstandes voraus, dem geeignete Ausdrucksgestalten abgerungen werden sollen. Dazu gehört auch ein handwerkliches Wissen darüber, wie man einen Gegenstand so präpariert, dass man mit ihm Experimente unter kontrollierbaren Bedingungen durchführen kann; wie man Beobachtungsstationen so gestaltet, dass sich ein Beobachtungsobjekt in seiner natürlichen Verhaltensweise nicht gestört fühlt; oder wie man ein Interview so führt, dass nicht nur bereits niedergelegte Erzählroutinen abgerufen werden, sondern das, wofür man sich wirklich interessiert. Was einen guten Experimentator ausmacht, ist eine oft gestellte, schwierige Frage. Ein kreativer Empiriker ist fraglos jemand, der experimentierfreudig ist und immer wieder neue Techniken ausprobiert, um einen Gegenstand zu befragen. Er ist ein Virtuose der Technologien. Wichtig scheint andererseits, dass die experimentelle Vorgeschichte des eigenen Forschungsgebietes genau studiert wurde. Man muss die Experimente kennen, die es im eigenen Untersuchungsgebiet schon gegeben hat, vor allem um ihre Schwächen und die Kritik an ihnen wissen und wie auf diese mit Nachbesserungen reagiert wurde. Oft bauen Experimente auf vorangehenden Experimenten auf, teilen deren Grundidee, variieren nur eine technische Anordnung, indem sie etwas austauschen oder hinzufügen. Komplexe Experimente geben oftmals eine Kumulation von vorangehenden Experimenten wieder und sind das in einer neuen Versuchsanordnung geronnene Ergebnis ihrer kritischen Diskussion. Wir können zusammenfassen. Das wissenschaftliche Handeln ist als Erkenntnisoperation immer eine widersprüchliche Einheit von standardisierbaren Routinen, Technologien und Methoden der Datenerhebung und -Auswertung, einerseits, und einer prinzipiell nicht standardisierbaren experimentellen Forschungspraxis, die der Logic of Discovery folgend im Dienste der Überprüfung konkreter Hypothesen und der Lösung eines einzigartigen wissenschaftlichen Rätsels steht, andererseits. Natürlich können methodische Instrumente und Technologien unabhängig von einer spezifisch konturierten Fragestellung gewissermaßen wie im Blindbetrieb nur zur Erkundung eines interessanten Datenfeldes eingesetzt werden. Das geschieht insbesondere dann, wenn eine Technologie neu ist und viele Daten erst einmal ohne theoretisch inspirierte Fragestellung gesammelt und viele Ideen ausprobiert werden. Der Einstieg in eine theoretisch anspruchsvolle Wissenschaft beginnt aber damit,
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dass eine Untersuchung von einem theoretischen Problem inspiriert und von einer Leithypothese getragen wird. Umgekehrt bleibt ein Forschungsprozess auch insofern offen, als sich bei unvoreingenommener Betrachtung von Daten immer auch Erkenntnisse einstellen können, die gar nicht erwartet worden waren und nach denen auch nicht gefragt worden war. In der Wissenschaftssoziologie wird dies auch unter dem Stichwort Serendipity diskutiert. Darunter versteht man Entdeckungen, die nicht dem Gesuchten entsprechen, sondern scheinbar zufällig wie nebenbei erfolgen oder ihrer Bedeutung nach über die Prüfung einer konkreten Hypothese weit hinausgehen. Gleichwohl sind sie nicht Folge eines reinen Zufalls, sondern setzen einen theoretisch vorbereiteten Blick voraus, der ihre Bedeutung erkennt. Solche glücklichen Entdeckungen sind das Ergebnis einer intensiven Vertrautheit mit einem wissenschaftlichen Problemfeld, wie sie nur aus langjähriger Arbeit hervorgehen kann. Sie bedürfen, um nicht übersehen zu werden, einer Interpretationskapazität, welche eine plötzlich sich darbietende, so nicht geplante und nicht erwartete Entdeckung eines Sachverhalts dennoch sofort in die Logik fallibilistischer Hypothesenprüfung übersetzen kann, nur dass die Hypothese diesmal gar nicht am Anfang steht, sondern gewissermaßen nachträglich erst zu einem Datum gebildet wird, das als Widerlegung aller ihrer Falsifikatoren interpretiert werden kann. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass der methodenkritische Geltungsdiskurs ein prekäres Verhältnis zur politischen und medialen Öffentlichkeit aufweist. Die Autonomie der Wissenschaftsprofession beruht darauf, dass sie sich jeder Indienstnahme durch die Praxis erfolgreich erwehren kann und Ansprüche oder Aufträge nur dann in ihre Arbeit einbezieht, wenn sie sich mit ihren eigenen Forschungsinteressen verbinden. Die Praxis anerkennt ihrerseits diese Autonomie der Wissenschaft, indem sie diese alimentiert und ihr damit eine Praxisentlastetheit von Sorgen einer materiellen Selbstverwertung ihrer Ergebnisse ermöglicht. Dem entspricht, dass sie auf den Versuch einer umfassenden Kontrolle und Steuerung des wissenschaftlichen Handelns in dem Bewusstsein verzichtet, dass wissenschaftliche Innovativität auch nicht planbare Anteile hat und jeder strukturelle Eingriff in die Autonomie die Innovativität empfindlich stören kann. Diesem Verzicht der Praxis auf Einflussnahme und Steuerung entspricht kehrseitig, dass die Wissenschaft ihrerseits die Entscheidungsautonomie der Praxis achtet und sich jeder Form szientistischer Bevormundung enthält. Diese wäre gegeben, wenn die Praxis im Namen wissenschaftlicher Rationalität kritisiert und eine Ableitbarkeit praktischer Entscheidungen aus wissenschaftlichen Modellen behauptet würde. Max Webers berühmte Forderung nach Werturteilsfreiheit ist als eine Forderung zur Enthaltsamkeit zu verstehen. Sie ist keine Wissenschaftslehre, die den Erfahrungswissenschaften den Gebrauch normativer Sätze verbieten wollte. Dies wäre ja auch ganz unsinnig angesichts der Tatsache, dass der Gegenstand der Geistes,- Kultur- und Sozialwissenschaften als Verkörperung von Praxis durch Normen,
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Werte und Wertkonflikte gerade konstituiert ist und er in den sie bearbeitenden Theorien um das ihn zentral Ausmachende so sehr beschnitten werden müsste, dass dabei nur eine Schrumpfwissenschaft herauskäme. Dies würde den Gegenstand auf Oberflächenphänomene zurechtstutzen und die Forschung auf deskriptivanalytische Sätze einengen. Dies hat Weber zu keinem Zeitpunkt auch nur in Erwägung gezogen, geschweige denn praktiziert. Webers Postulat der Werturteilsfreiheit ist vielmehr als Fürsprache dafür zu verstehen, dass gerade auch in den Disziplinen, die sich mit der Praxis befassen, erfahrungswissenschaftliche Aussagen über Normengebilde möglich sind, wenn nur die Regeln der methodischen Kritik befolgt werden. Dies verlangt, dass Gegenstände, die latente oder manifeste Wertekonflikte berühren, selbst zum Gegenstand eines analytisch-deskriptiven Vorgehens gemacht werden, indem zunächst die strukturellen Ursachen und Grundverhältnisse rekonstruiert werden, um derentwegen eine Regulierungsbedürftigkeit durch eine Norm überhaupt entsteht, um sodann auf dieser Folie alle möglichen, sinnvoll einzunehmenden Werthaltungen gesellschaftlicher Subjekte zu explizieren und nach zusätzlichen Erklärungen dafür zu suchen, warum eine Lebenspraxis diese und nicht eine andere Werthaltung tatsächlich einnimmt und was dafür ursächlich verantwortlich ist, dass die Milieus manifest unterschiedliche Werthaltungen zu einer Problemlage entwickeln, so dass ein Wertekonflikt überhaupt erst entsteht. Dieses vom Erklärungswillen beherrschte Herangehen ist allerdings nur möglich, wenn ein Wissenschaftler in seinen Aussagen eine analytische Distanz zum Gegenstand wahrt und weder offen, noch, was viel schlimmer wäre, verdeckt für oder gegen eine Werthaltung Partei ergreift. Da eine solche Parteilichkeit sich auch im wissenschaftlichen Diskurs einschleichen kann, fordert er, dass Wissenschaftler ihre Begriffssprache kritisch auf verdeckte Werturteile hin prüfen und Begriffe meiden, die aus der Praxis übernommene Werturteile enthalten. Dies bedeutet keineswegs, dass sich der Wissenschaftler auch als Mensch und Staatsbürger eine wertneutrale Haltung auferlegen sollte. Wissenschaftler haben wie alle anderen Staatsbürger zu gesellschaftlichen Fragen Meinungen, die sie als politische Menschen gar nicht zurückhalten sollen und unter Nutzung ihrer begrifflich-analytischen Explikationskraft sogar gewinnbringend für die Öffentlichkeit vertreten können, wenn sie nur die Sphären der Wissenschaft und der Praxis, der methodischen und der praktischen Kritik habituell strikt auseinanderhalten. Dieser schwierige Spagat ist jedoch nur zu halten, wenn ein Bewusstsein dafür erhalten bleibt, dass die Wissenschaft für die Praxis keine Entscheidungen treffen, sondern immer nur schon getroffene Entscheidungen nachträglich rekonstruieren kann. Maximal vermag sie der Praxis aufzuzeigen, was bestimmte Entscheidungen bedeuten und welche Folgen sie voraussichtlich haben würden. Kehrseitig wahrt die Praxis ihre Entscheidungsautonomie nur, wenn sie ein Bewusstsein dafür erhält, dass sie ihre Entscheidungen immer selbst in eine offene Zukunft hinein zu treffen und zu verantworten hat. Sie hat nicht nur dem technokratischen Ansinnen der Wis-
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senschaft entgegenzutreten, sie darf vielmehr selbst nicht dem szientistischen Glauben verfallen, dass Entscheidungen der Praxis aus wissenschaftlichen Modellen abgeleitet werden können. Eine Missachtung dieser Gebote auf Verzicht wird immer mit dem Preis technokratischer Selbstaufgabe der Praxis als autonomer Quelle von Erfahrung und Verantwortung teuer bezahlt. Die wechselseitig geforderte Enthaltsamkeit von Kontrolle der Wissenschaft hier, von Bevormundung der Praxis dort, ist Ausdruck einer Kulturleistung. Sie setzt eine Öffentlichkeit voraus, die dem übergeordneten Ideal einer pluralistischen, auf Kritik und Meinungsvielfalt gegründeten „offenen“ Gesellschaft verpflichtet ist, und in der die Achtung von Autonomierechten nicht nur gegenüber den Wissenschaften (Artikel 5, Satz 3 Grundgesetz), sondern ganz generell bis in die bürgerliche Gesellschaft und Staatssphäre hinein gefordert und als Bedingung einer der Krisenbewältigung zugewandten, Kritik und Innovation begrüßenden, nicht als Bedrohung abwehrenden Praxis begriffen wird. Die Autonomie der modernen Wissenschaften ist daher immer auch Gradmesser für die Realisierung dieses Ideals im Ganzen gewesen, so wie die Erfahrungswissenschaften seit der Epoche der Aufklärung ihren Anteil daran hatten, dass diese Kultur sich in der okzidentalen Kulturhemisphäre behaupten konnte. Die Zurückhaltung der Praxis von inhaltlicher Kontrolle der Wissenschaft wirft nun aber abschließend die systematische Frage auf, was denn dann in Ermangelung einer Außenkontrolle gewährleistet, dass die Forderungen des methodenkritischen Geltungsdiskurses innerhalb des wissenschaftlichen Handelns auch wirklich befolgt werden. Ich hoffe nachvollziehbar gezeigt zu haben, warum der Markt oder eine administrative Hierarchie als Strukturen einer Kontrolle nicht funktionieren können. Als Antwort bleibt daher nur eine kollegiale, auf strikter Beachtung wissenschaftlicher Qualitätsansprüche pochende Selbstkontrolle der Wissenschaftler untereinander. Sie wird in dem Maße wirksam, in dem die universalistischen Regeln und Prinzipien des methodenkritischen Geltungsdiskurses verinnerlicht sind und in den Fachdiskursen eine methodische und begriffliche Kritik sachhaltig geübt wird. Es ist dies der professionalisierte Habitus, der dies leistet. Dieser professionalisierte Habitus wurzelt letztlich in einer naiven Idee der Wahrheit, die sich in der Haltung der wahrhaftigen Einnahme eines unvoreingenommenen Blicks auf die Gegenstände professionsethisch erhält.78 Dieser unvoreingenommene Blick ist seinerseits in einer Haltung verankert, welche sich eine naive, der kindlichen Wissbegierde verwandte Neugier und Aufgeschlossenheit für eine Sache jenseits aller in der Praxis vorgefundenen sinnlichen und begrifflichsemantischen Urteilsroutinen zu bewahren sucht.
78 Oevermann, U.: Theoretische Skizze einer revidierten Theorie des professionalisierten Handelns, S. 26, Zitiert nach der Langfassung, unveröffentlichtes Manuskript, Frankfurt 1996.
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„Da nun aber (die) regulative Idee der Wahrheit ihrerseits sich“ [nur um den Preis des Dogmatismus A.F.] „auf substantielle Wahrheitstheorien zurückführen lässt, andererseits aber die Explikation der Haltung der Wahrhaftigkeit des Wissenschaftlers auch nicht ausreicht, [um eine Professionalisierung des wissenschaftlichen Handelns zu gewährleisten,] bleibt hier letztlich nichts anderes übrig als der Rekurs auf die schon behandelten Prinzipien des wissenschaftlichen Diskurses und der Dia-Logik des besseren Arguments. Die in dieser Dia-Logik sich konstituierende „ideal community of scientists“ ist nun aber gerade nicht zu verwechseln mit der konkreten Praxis einer Lebensgemeinschaft oder Lebensform. Sie ist vielmehr eine abstrakte, der Praxis enthobene und insofern zeitlose „Gemeinschaft“, deren idealisierter Charakter nicht in irgendeinem ethischen Sinne positiviert ist, sondern rein negativ bestimmt ist in der Interesselosigkeit, was ja in sich nicht mit dem ethisch positivierten Ideal des Altruismus zu verwechseln ist, wie das in dem Begriff der Gemeinschaft immer noch anklingt. Nicht Altruismus, sondern Klarheit und Qualität sind die Schlagworte des professionsethischen Ideals wissenschaftlichen Handelns.“79
Mit anderen Worten: Die ideale Gemeinschaft der Wissenschaftler ist weder darin bestimmt, dass sie die Wahrheit in irgendeinem Sinne inhaltlich mehr als andere Milieus privilegiert verkörpern würde, noch lässt sich diese Community konsenstheoretisch so konstruieren, dass sie gewissermaßen vor die Klammer zu ziehende diskursethische Voraussetzungen von Wahrheit besser erfüllte, welche in der Konsensfähigkeit von Aussagen und ihren universalpragmatischen Vorbedingungen gesucht worden sind.80 Die Wissenschaft bewegt sich vielmehr einerseits in den vorgefundenen Regeln der Kooperation und des Dialogs, wie sie in der Praxis immer schon gelten und als Regelwissen über den Unterschied von Wahrheit und Lüge, Authentizität und Verstellung/Täuschung,81 Adäquatheit und Inadäquatheit von jedem normal sozialisierten Subjekt verinnerlicht sind, nur dass die Wissenschaft andererseits die normalerweise herrschenden Praxisbedingungen außer Kraft setzt und der Kooperation einen spezifischen Inhalt gibt, der es erzwingt, dass die in jedem Dialog auch immer schon angelegte, meistens aber latent bleibende Polarität von 79 Oevermann, ebenda 80 Vgl. Habermas, Jürgen: „Was heißt Universalpragmatik?“, in: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt 1984, S. 353-440; ders.: Theorie des kommunikativen Handelns (Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung; Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft), Frankfurt 1981; ders.: „Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm“, in: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt 1983, S. 53-125. 81 Vgl. Piaget, Jean: Das moralische Urteil beim Kinde, Zürich 1954; nochmals experimentell bestätigt durch Gruber, Silvia: Zur Lügenauffassung des Kindes: Das Verhältnis von moralischem Denken und der Bedeutung des Wortes "Lüge", Salzburg 1985, Dissertation.
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Proponenten und Opponenten eigenlogisch hervortritt und sich zu einer stabilen Struktur des Dialogs insofern steigert, als jeder Teilnehmer als Träger eines Arguments auftritt und auf Argumente der anderen reagiert, so dass „die Sache selbst“ fast unweigerlich zur Entfaltung kommt, wenn nur diesem Prozess gefolgt wird. Der Inhalt oder Zweck dieser Kooperation ist das kollektive Interesse an Erkenntnis. Es vergemeinschaftet alle diejenigen, welche ausgehend von ästhetischen Erfahrungen einer Mußekrise ein Interesse an einem lebendigen wissenschaftlichen Austausch und Diskurs entwickeln. Diese ideale Gemeinschaft stellt eine Kooperationsform dar, die darauf aus ist, dass die Akteure jede partikulare Interessenund Wertgebundenheit hinter sich lassen, und jedem Überrest sachfremder Interessen entgegentreten. In der Logik des besseren Arguments wird also gerade nicht Konsens als Voraussetzung von Wahrheit angesehen, sondern das Verschwinden von Dissens durch eine nicht mehr weiter angreifbare Argumentation, die durch das reinigende Feuer der Methodenkritik hindurchgegangen ist. Daher sind als höchste Werte der wissenschaftlichen Community nicht Konsens, sondern die begriffliche und argumentative Klarheit anzusehen, also selbst wieder ästhetische Qualitäten, die ihren Wert auf merkwürdige Weise nicht aus anderem, sondern alleine aus sich selbst heraus beziehen, (was man vom Konsens nicht behaupten kann). Daraus ergibt sich übrigens auch, dass auch die „Ideal Community of Scientists“ Vergehen und „Sünden“ gegen ihren Geist kennt und diese ahndet. Als „Todsünde“ muss man unzweifelhaft das Fälschen von Daten und Protokollen ansehen. Aber es gibt auch ein Vergehen gegen den „heiligen Geist der Gemeinde“, und das ist – wie Popper es nannte – das Vergehen gegen das Gebot der Klarheit. Wenn man sich nicht im Klaren darüber ist, was man sagen möchte, sollte man es auch nicht publizieren. Natürlich ist die regulative Idee der Wahrheit so wie jedes real operierende Ideal in konkreter Praxis unerreichbar und lassen sich immer zahlreiche Belege für Unzulänglichkeiten und Verstöße der Akteure aufweisen. Daraus kann aber nicht der Schluss gezogen werden, dass dieses Ideal nicht empirisch und real wäre. Für ein Ideal ist es geradezu konstitutiv, dass das reale Handeln mit Schwierigkeiten der Erreichbarkeit des Ideals konfrontiert ist. Deshalb zeigt sich eine professionsethische Bindung an das Ideal insbesondere dann, wenn Wissenschaftler sich in Schwierigkeiten befinden und besonders dazu herausgefordert sehen, das Ideal dennoch zu erreichen. Die Frage ist also gar nicht, ob jenes Ideal real ist, sondern ob die professionsethische Bindung an das Ideal real ist und ob diese irgendeine Wirkung entfaltet. Hier kann der Hinweis auf die Unzulänglichkeit des Handelns selbst keineswegs genügen. Im Gegenteil: Dass diese Unzulänglichkeit immer wieder festgestellt wird, setzt die Existenz eines professionsethischen Ideals schon zwingend voraus, denn sie gibt die Basis für die Feststellung der Verstöße ab. Damit ist eine vorläufige Antwort gegeben, worin der Zusammenhang zwischen den Normen der Fachöffentlichkeit und der professionsethische Selbstkontrolle des
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wissenschaftlichen Handelns zu sehen ist. Die professionsethische Selbstkontrolle kann nur realisiert werden, wenn die Wissenschaftler die Forderungen des methodenkritischen Geltungsdiskurses verinnerlicht haben. Diese Verinnerlichung in einem Habitus setzt jedoch ihrerseits einen funktionierenden Geltungsdiskurs voraus, in dem die Qualitätsmaßstäbe jener „ideal community of scientists“ schon lebendig erfahren worden sein können. Beides greift ineinander und lässt sich nicht ursächlich auf eine Dimension zurückführen. Deshalb ist die Bildung des erfahrungswissenschaftlichen Habitus nicht losgelöst von der Geschichte der Wissenschaften, ihrer Diskurse und Institutionen zu sehen. Die Professionalisierung der Erfahrungswissenschaften. Eine kurze Skizze ihrer Geschichte Ansätze für einen Geltungsdiskurs, wie wir ihn skizziert haben, gibt es bereits in der griechischen Antike, in den Lehr- und Disputationszirkeln der Philosophensekten. Spätestens mit der Gründung einer Akademie als Lehrstätte durch Platon 385 v. Chr. setzten auch Versuche ein, diesen Geltungsdiskurs im Rahmen einer Lehranstalt zu institutionalisieren. Allerdings kann man noch nicht von einem methodenkritischen Geltungsdiskurs sprechen. Es gibt zwar Ansätze dazu bei Aristoteles und den Peripatetikern, deren Tradition reißt aber bekanntlich ab und die arabischen Gelehrten, die sie fortführen und über die der Aristotelismus wieder Eingang in die universitäre Theologie und Philosophie des europäischen Mittelalters findet, scheinen außergewöhnliche Einzelpersönlichkeiten gewesen zu sein, die von einem Emir oder Wesir gefördert wurden, aber ebenso Opfer ihrer Willkür werden konnten.82 Auch die europäischen Universitäten, die im 13. Jahrhundert (Bologna, Paris) gegründet wurden, haben sich nicht zu Pflegstätten einer experimentellen Wissenschaft entwickelt. Ansätze dazu gab es wohl am Hofe des Stauferkaisers Friedrichs II., dessen Buch über die Falken auf eine zoologische Studie vorgreift, aber auch dies bleibt an die Person des Kaisers gebunden. Erst in der Renaissance entwickelte sich in den Akademien der fürstlichen Mäzene oberitalienischer Stadtstaaten ein Geltungsdiskurs, der an der Auswertung von Erfahrungsdaten und Beobachtungen interessiert ist. Allerdings blieb die Existenz dieses Diskurses vom Wohlwollen einzelner Familien abhängig, die sich zudem nicht immer schützend vor die von ihnen geförderten Wissenschaftler stellen konnten, wenn diese mit der Kirche, die um ihre Autorität in Geltungsfragen fürchtete, in Konflikt geraten waren. Galileo Galilei ist nur das bekannteste Beispiel. Viel günstiger zeigte sich die Entwicklung in den protestantischen Ländern, weil dort eine Ablösung der weltlichen Herrschaft
82 So wie mehrfach Avicenna widerfahren ist. Vgl. Strohmaier, Gotthard: Avicenna. München 1999.
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vom Papsttum erfolgt war und die Lehrstätten der reformatorischen Theologie selbst Orte einer disputativen Streitkultur geworden waren, in der um die richtige Auslegung der Heiligen Schrift mit Argumenten gerungen wurde. Im Rückraum dieser von der weltlichen Autonomie der protestantischen Fürsten geschützten Freiheit des gelehrten Diskurses konnte sich auch der erfahrungswissenschaftliche Geltungsdiskurs formieren. Besonders in England bildete sich eine Gruppe von Personen, die das Interesse an erfahrungswissenschaftlicher Arbeit und experimenteller Forschung verband. Es waren Angehörige aristokratischer Familien, die auf ein hinreichend großes Vermögen zurückgreifen konnten, um sich Labors einzurichten, Instrumente und Werkgeräte für Experimente bauen zu lassen und die Zeit hatten, um Experimente durchzuführen. Diese Gruppe, die mit vielen gleichgesinnten Interessenten europäischer Länder korrespondierte, traf sich regelmäßig und diskutierte zum Beispiel die Schriften von Francis Bacon. Sie wuchs zwischen 1640 und 1650 zu einem festeren Verbund zusammen, den man auch „invisible College“ genannt hat. Aus dieser freien Assoziation von Naturforschern heraus entstand die Initiative für eine Institution, in der erfahrungswissenschaftliche Arbeit organisiert werden sollte. Auf Betreiben von Robert Boyle, Christopher Wren und William Petty gelang es, den König, Charles II., der nach den Religionskriegen und dem Interregnum geschwächt war, davon zu überzeugen, dass er seine Herrschaft zukunftsweisend würde ausbauen können, wenn er sich als Förderer und Patron der Wissenschaften ausspräche und eine königliche Gesellschaft für die Förderung der Wissenschaften errichtete. Die Gründung der „Royal Society of London for the Improving of Naturale Knowledge“ im Jahre 1660 schuf die erste Institution, die ausschließlich dem Zweck diente, erfahrungswissenschaftliche Forschung zu betreiben. In Wirklichkeit war die Royal Society aber bereits dem Plane und den Statuten nach entworfen und der König sollte nur den Akt der Gründung vollziehen, um ihr den Status einer königlichen, nationalen Einrichtung zu geben. Was die Gründer bezweckten, war weniger eine mäzenatische Förderung ihrer Praxis im Sinne der Patronage-These,83 sie wollten vielmehr eine offizielle Anerkennung der Erfahrungswissenschaften durch den politischen Souverän, verkörpert in einer königlichen Institution, neben der es keine weitere vergleichbare Praxis geben konnte. Die Gründer der Royal Society wollten die Standards des methodenkritischen Geltungsdiskurs offiziell institutionalisieren. Dieser Gründungsakt hat für die Professionalisierung der Erfahrungswissenschaften eine nicht zu überschätzende strukturelle Bedeutung.84 Er hatte zur Folge,
83 Vgl. zur Patronagethese Biagioli, Mario: Galileo, Coutier, Chicago 1993, S. 15 ff. 84 Peter Münte hat diese Zusammenhänge gründlich herausgearbeitet. Münte, Peter: Die Autonomisierung der Erfahrungswissenschaften im Kontext frühneuzeitlicher Herrschaft. Bd 1. Theoretische Einbettung und modellbildende Analysen, Bd 2: Weiterführende Ana-
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dass die Arbeit und der Diskurs der Forscher fortan unter dem Schutz des Souveräns standen, so dass die Forschung zumindest in seinem Herrschaftsbereich nicht unwidersprochen von der Kirche oder von irgendjemand anderem in Frage gestellt werden konnte. Da der König selbst bekundet hatte, experimentelle Forschung unterhalten zu wollen, hatte er damit stellvertretend für die englische Nation, deren Repräsentant er war, die erfahrungswissenschaftliche Praxis zu einer nationalen Gemeinschaftsbetätigung erhoben, deren Ausführung wiederum offiziellen Vertretern der Wissenschaft rechtlich übertragen wurde, die damit in den Rang von vom Souverän berufenen Wissenschaftlern kamen. Genau darauf wollten die Gründer der Royal Society hinaus. Da deren Mitglieder nicht vom König bestimmt, sondern aus ihrer Mitte heraus gewählt werden, wurde vom König ferner anerkannt, dass der Status eines „Vertreters der Wissenschaft“ nicht vom Willen des Souveräns abhängig sein kann, sondern von anderen, fachlichen Qualifikationen, die zu bewerten Sache der Wissenschaftler selbst ist. Der König hatte sich in diesem Akt also zugleich der Profession der Wissenschaftler offiziell untergeordnet und ihre Autonomie rechtlich anerkannt. Dieser Schritt kam einer Anerkennung der „Macht des Geistes“ durch die weltliche Herrschaft gleich, die umso gewichtiger war, als sie von der Kirche getrennt und in gewisser Konkurrenz zu dieser erfolgte. Der Vorgang vollzieht einen für die Entwicklung der Wissenschaften entscheidenden universalhistorischen Schritt. Mindestens vier verallgemeinerbare Aspekte lassen sich daran hervorheben: 1) Der Staat hatte nicht nur die Autonomie der Erfahrungswissenschaften rechtlich anerkannt, sondern auch die Eigenlogik des wissenschaftlichen Geltungsdiskurses und vermittelt darüber die Autonomie der Pro fession, mit deren Gedeihen er sogar seine Herrschaft verbindet. Indem er die Wissenschaftsfreiheit rechtlich garantierte, schränkte er seine eigene Souveränität faktisch ein, denn er akzeptierte eine Quelle der Geltung, über die er keine Herrschaft ausüben kann.85 2) Die Anerkennung der Autonomie der Wissenschaft kann rechtslysen und Kritik der historischen Forschung. (=Forschungsbeiträge aus der Objektiven Hermeneutik, Band. 7), 2 Bde., Frankfurt am Main 2004. 85 Walter Hallstein hat dieses Prinzip anlässlich des Paulskirchenjubiläums 1948, als er den Artikel 17 der Verfassung der Frankfurter Nationalversammlung von 1849 („Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei“) auslegte, wie folgt ausgedrückt: „Längst ist klar, dass der Sinn dieser Freiheit nicht erschöpft wird, wenn man sie uns als eine der liberalen Ausklammerungen von Zuständigkeiten aus der Staatssphäre versteht, so entscheidend auch der Liberalismus zur Entfaltung und Festigung des Gedankens beigetragen hat. Dass vielmehr ein letzter Grund die Anerkennung der Eigengesetzlichkeit wissenschaftlicher Arbeit ist, die keinen Weisungen zugänglich ist, oder, im Stile des deutschen Idealismus formuliert, der Glauben an die produktive Kraft der Wissenschaft (nach Fichte), der Idee (nach Schelling). In der Sprache des Juristen ausgedrückt: eine der naturrechtlichen Schranken des Staates wird hier sichtbar; die Natur der Sache nämlich fordert sie, die
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verbindlich immer nur vom Souverän (König, Parlament) einer konkreten Vergemeinschaftung ausgesprochen werden, und diese ist immer partikular und an die Grenzen eines territorialen Herrschaftsgebietes gebunden. Das bindet dieses Land aber zugleich an einen kulturellen Universalismus, dem e sich freiwillig unterwirft und dem zu dienen es sich verpflichtet. Es macht diese Länder zu Kulturstaaten, wie Helmut Schelsky das genannt hat.86 3) England war vorübergehend zur Heimstatt und zum Zentrum der institutionellen Erfahrungswissenschaften geworden, hatte also eine Vorreiterrolle bei der Institutionalisierung der Erfahrungswissenschaften übernommen. Die Royal Society war für die Internationale der Wissenschaftler von weltgeschichtlicher Bedeutung, denn ihr Geltungsdiskurs ist universalistisch und das Interesse an Forschungsfragen ist nicht an Nationalität, religiöse Konfession, politische Parteizugehörigkeit oder sonstige Loyalitäten gebunden. Folglich konnte auch jeder nicht-englische „Natural Philosopher“ an den Aktivitäten der Royal Society partizipieren, indem ihr Schriftreihe bezogen oder mit ihr korrespondiert wurde. Die Royal Society wurde zu einer Einrichtung der internationalen Forscherprofession und blieb es, solange es vergleichbare Einrichtungen in anderen Ländern nicht gab. Zugleich wurde ihre Gründung zum Vorbild für Wissenschaftler anderer Nationen. 4) Die wichtigste Bedeutung für die Profession lag aber in einer Wirkung nach Innen. Die Royal Society hatte erstmals eine ständige Praxis der Forschung etabliert, indem sie einen Sekretär und Kurator bestimmte, bezahlte Laborassistenten einstellte, in den „Philosophical Transactions“ ein Organ für die regelmäßige Publikation schuf und später eigene Räumlichkeiten erwarb.87 Sie hat in ihrer Charta viele Regeln und Prinzipien festgelegt, die die konkreten Vorgehensweisen in der empirischen Arbeit betreffen: Vorschriften über die Anwesenheit mehrerer Zeugen während der Durchführung von Experimenten, über die mehrmalige Wiederholung von Experimenten, bevor weitreichende Schlüsse aus ihnen gezogen werden; usw. Die Society hat erstmals manifestiert, dass es solche forschungsethischen Prinzipien gibt und geben muss. Sie hat diese Regeln und Prinzipien in ihrer Charta normiert und verbindlich festgelegt. Auch wenn von Wissenschaftshistorikern eingewandt wird, dass selbst Mitglieder der Royal Society wie Verfassungen bestätigen sie bloß.“ Zitiert nach Hammerstein, Notker: „Hochschulreformziele an der Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt am Main 1945-1949“, in: Wolbring, Barbara/Franzmann, Andreas (Hg.): Zwischen Idee und Zweckorientierung. Vorbilder und Motive von Hochschulreformen seit 1945, Berlin 2007, S. 22 ff. 86 Helmut Schelsky (1963): Einsamkeit und Freiheit,. S. 131 ff. 87 Vgl. Münte, Peter/Oevermann, Ulrich: „Die Institutionalisierung der Erfahrungswissenschaften und die Professionalisierung der Forschungspraxis im 17. Jahrhundert. Eine Fallstudie zur Gründung der Royal Society“, in: Zittel, Claus (Hg.): Wissen und soziale Konstruktion (=Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel, Bd. 3), Berlin 2002, S. 165–230.
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Isaac Newton diese Vorschriften längst nicht immer beachtet hätten, ist mit der Charta das Ethos des wissenschaftlichen Arbeitens doch erstmals kodifiziert worden. Die Mitglieder der Society hatten sich faktisch an ihn gebunden, jeder Akteur konnte sich fortan darauf berufen und konnte Anfechtungen seiner Arbeit erleiden, wenn er dagegen eklatant verstieß. Gleichwohl ist die Wirkung dieser Charta sicher langfristig zu sehen. Das gilt aber für andere historische Kodizes, etwa die Erklärung der Bürger- und Menschenrechte während der Französischen Revolution im Jahre 1789, ebenso. Im 18. Jahrhundert wurden in rascher Folge Akademien und Institute gegründet, die wie die Royal Society der Naturforschung gewidmet sind. Die Erfahrungswissenschaft stieg in dieser Zeit zu einer weltumspannenden Profession auf, wobei diese Entwicklung in vielen Ländern auf das Engste mit der Phase der Bildung des Nationalstaates verbunden ist.88 Manchen Ländern, ab 1740 auch Frankreich, dann ab 1830 - 1900 Preußen-Deutschland und seitdem (und bis etwa 2000) den USA fällt hierbei die Rolle eines internationalen Zugpferdes zu.89 Deren nationale Geschichte ihres Wissenschaftssystems ist zugleich für die Geschichte der Professionalisierung insgesamt von Bedeutung. Die Erfahrungswissenschaft entsteht jedoch außerhalb der Universitäten und beruht vor 1800 zumeist auf dem finanziellen Einsatz von Mitteln, die von Mäzenen und Geistesaristokraten aufgebracht werden. Nur der französische König vergibt in nennenswertem Umfang Leibrenten für Forscher und richtet Gebäude und Bibliotheken ein, die einem wissenschaftlichen Betrieb zur Verfügung stehen. Die Französische Revolution und Napoleon haben zwar das System der Institute umgeworfen, aber am Grundprinzip des staatlichen Mäzenatentums festgehalten und die experimentellen Wissenschaften massiv gefördert. Das hat insbesondere die Chemie und Mathematik enorm beflügelt und machte Frankreich um 1800 noch vor England zur führenden Wissenschaftsnation. Danach begann der Aufstieg Preußen-Deutschlands, der eine Folge des Zusammentreffens einer politischen Krise mit einer zu-
88 Vgl. zum Thema die exemplarische Studie zur Rolle von Alexander Dallas Bache für die amerikanische Wissenschaft von Jansen, Axel: Alexander Dallas Bache. Building the American Nation through Science and Education in the Nineteenth Century. Frankfurt New York 2011. Vgl. auch Jessen, Ralph/Vogel, Jakob (Hg.): Wissenschaft und Nation in der europäischen Geschichte, Frankfurt 2002. 89 Ben-David, Joseph: The Scientists Role in Society. A Comparative Study. Chicago 1984; ders.: Scientific Growth, Essays on the Social Organization and Ethos of Science, Berkley Los Angeles Oxford 1990.
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kunftsweisenden Universitätsreform war.90 Die Gründung der Berliner FriedrichWilhelm Universität 1809/10 war einerseits das Ergebnis einer Reformbemühung des preußischen Staates, der in einer Zeit militärischer Niederlagen und größter Finanznot gezwungen war, seine völlig veralteten Bildungseinrichtungen zu modernisieren, obwohl er angesichts der Napoleonischen Reparationsforderungen praktisch kein Geld hatte. Andererseits beruhte sie auf dem Willen einiger entschlossener Reformer, die in der geistesaristokratischen Kultur der Erfahrungswissenschaftler verwurzelt waren, sich in London und Paris gut auskannten und tragfähige Konzepte für eine Reform im Kopf hatten. Der wichtigste war Wilhelm von Humboldt, der als Minister nur kurz gewirkt hat, dessen Handeln aber wegweisend war. Humboldt hatte erkannt, dass die Universitäten nur zu reformieren seien, wenn es gelänge, die erfahrungswissenschaftliche Tätigkeit in sie zu integrieren, dass dies aber nur gelingen könne, wenn die Erfahrungswissenschaften eine eigenständige Fakultät erhielten, die gegenüber den bestehenden Fakultäten der Theologen, Mediziner und Juristen unabhängig gestellt war. Er führte deshalb die naturwissenschaftlichen, historischen und philosophischen Aktivitäten unter einem Dach zusammen, so dass die philosophische Fakultät zu einer Stätte wurde, in der das Forschen zu einer selbstverständlichen Tätigkeit des Professors werden konnte. Bemerkenswert ist daran, dass die naturwissenschaftliche Forschung nicht der Medizin, die ästhetischen und historischen Wissenschaften nicht der juristischen oder theologischen Fakultät eingegliedert wurden, obwohl dies nahegelegen hätte, denn dort waren immer schon sachverwandte Themen verhandelt worden.91 Das Gliederungsprinzip folgte dem Gedanken, alle erfahrungswissenschaftlichen Tätigkeiten, die um ihrer selbst willen betrieben werden, zusammenzuführen.92 Entscheidend war daran, dass die neu konzipierte Fakultät aus dem inneren Beruf des Erfahrungswissenschaftlers entwickelt war und seinen Bedürfnissen dienen sollte. Nicht die Ausbildung für eine praktische Profession war führend, wie bei den Theologen, Medizinern und Juristen, sondern Forschung als Selbstzweck. Die Wissenschaftler sollten auf einer Lebenszeitstelle als Professor berufen und aller materiellen Sorgen entledigt einem von ihnen selbst gewählten Forschungsgebiet nach eigenem Ermessen ungestört nachforschen können und ihr Fachgebiet aus ihrer Forschung heraus vertreten. Die einzelnen Wissenschaften wurden als exemplarische Disziplinen ein und derselben Grundhaltung angesehen. Als glücklicher Umstand stellte sich auch 90 Ich folge hier Walter Rüegg (Hg.): Geschichte der Universität in Europa. Band 3: Vom 19. Jahrhundert zum Zweiten Weltkrieg (1800-1945), München 1993, S. 18 ff. 91 Vgl. Oevermann, U.: Wissenschaft als Beruf, (2003), S. 35 ff. 92 Vgl. von Humboldt, Wilhelm: Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin, in: Schriften zur Politik und zum Bildungswesen, Werke Band IV, Darmstadt 2002, S. 255 ff.
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heraus, dass die zeitgenössischen Philosophen des deutschen Idealismus den mit Kant eingeleiteten Prozess der Erkenntniskritik fortsetzten und ihre spekulativen Systeme vor dem erfahrungswissenschaftlichen Wissen bewähren, nicht gegen es behaupten wollten, wie noch die vormoderne Metaphysik. Empirie und Spekulation sollten versöhnt, zur Synthese gebracht werden. Die Philosophie machte dies zum Programm, hob die Überlegungen zu methodologischen Grundlagen der Disziplinen, zu Hermeneutik, Logik, Erkenntnistheorie auf ein nie dagewesenes Niveau, und brachte eine Systemsprache hervor, die mit ihren Begriffen weit über die Philosophie hinaus in die Einzelwissenschaften hineinwirkte und eine Zeit lang als Klammer der Einzeldiskurse fungieren konnte. Diese diskursvermittelte Anregung zu weitreichender theoretischer Spekulation hat gerade in einer Phase anhebender Spezialisierung der Einzeldisziplinen deren Entwicklung enorm befördert. Zugleich haben sich die jüngeren Erfahrungswissenschaftler der Generation nach Schelling, Herder oder Hegel gegen die uneingelösten und oft uneinlösbaren Ansprüche der Systemphilosophie gewandt. Dass die Forderung nach Versöhnung von Spekulation und Empirie von Philosophen wie Schelling selbst nicht immer eingelöst war und bloßes Programm blieb, drückte auch ein philosophisches Ressentiment gegen die „Gedankenarmut“ und Quisquilien-Forschung des Labors aus. Dagegen wurde bereits von Alexander von Humboldt und dann später von Wissenschaftlern wie Liebig, Ranke, Johannes Müller zur Geltung gebracht, dass nur das einzelwissenschaftliche Quellenstudium, die Feldbeobachtung, das Laborexperiment als Weg zur Wahrheit angesehen werden könnte. Sie sind das Nadelöhr, durch das jede Spekulation hindurch muss, wenn sie im methodenkritischen Geltungsdiskurs eine Rolle spielen will. So setzte also gleichzeitig eine Bewegung des Abstoßens von der Systemphilosophie ein. Dennoch blieb die institutionelle Einheit der Erfahrungswissenschaften in der Philosophischen Fakultät noch lange gewahrt. Auch noch, als die Ingenieure nach 1860 auf eine eigenständige Ausbildung, befreit vom humanistischen Bildungskanon mit Latein und Klassikerlektüre, mit mehr mathematischer und physikalischer Grundbildung drängten und nach französischem Vorbild die Technischen Hochschulen gegründet wurden. Erst viel später, zwischen 1880 und 1900, als die Entwicklung der Einzelfächer zu Spezialdisziplinen weit vorangeschritten und die innovative Dynamik so groß geworden war, dass nahezu jede Habilitation ein neues Fachgebiet begründete, trennten sich die Forschungsdisziplinen auch institutionell und organisatorisch. Das leitende Motiv hierfür war, dass der Bedarf an Gebäuden, Gerätschaften und Fachpersonal zu unterschiedlich geworden war. Eine Aufspaltung war zweckmäßig und notwendig geworden. Es wurden jeweils eigene naturwissenschaftliche oder geisteswissenschaftliche Fakultäten gegründet, zu denen später noch die wirtschaftswissenschaftlichen, soziologischen und psychologischen Fakultäten hinzukamen, die sich ab 1890 von der alten Staatswissenschaft emanzipierten. Führend war dabei aber nicht eine grundlegende methodische Unvereinbar-
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keit, ein Hiatus zwischen Wissenschaftskulturen. Ein solcher ist erst im Nachhinein vom Neukantianismus (v.a. Rickert, Dilthey) behauptet worden. Deren Lehre vom Gegensatz zwischen den „erklärenden“ nomothetischen Naturwissenschaften, einerseits, und den „verstehenden“ ideographischen Geisteswissenschaften, andererseits, hat sich als Deutung in verschiedenen Varianten bis heute (Snow, Brockman, Habermas, Lepenies)93 erhalten. Die Zwei- oder Drei-Welten-Lehren haben insofern ein Fundamentum in re, als Wissenschaftler selbst die Erfahrung machen, dass unterschiedliche Fachkulturen nur schwer ineinander übersetzbar sind, dass transdisziplinäre Forschung viele Schwierigkeiten und Hürden zu überwinden hat und nicht selten an ihnen scheitert, dass sich selbst in ein und demselben Fachgebiet unterschiedliche Forschergruppen in ihrem Gegenstand und methodischen Vorgehen, ihren Alltagsroutinen und Bezugnahmen auf die Literatur und Diskurslage so deutlich voneinander unterscheiden können, dass sie sich kaum verstehen und kaum wissen, woran die andere Seite eigentlich arbeitet. Die Zwei-Welten-Lehre verdeckt aber, dass trotz dieser Unterschiede eine strukturelle Gemeinsamkeit gegeben ist, die sich auch nicht so schnell und nur dann auflöst, wenn eine Verankerung in der Praxis methodischer Geltungsüberprüfung verlorengeht: Der in dieser Praxis gebildete erfahrungswissenschaftlicher Habitus. Von dieser These aus lässt sich das klassische Thema der Einheit der Wissenschaft in der Vielfalt ihrer Zweige neu beleuchten. Diese Einheit darf weder in den Institutionen der Wissenschaft, noch in epistemischen Gemeinschaften als solchen gesucht werden, denn beide unterliegen fortwährender Differenzierung und Spezifizierung und lösen sich auf. Die Einheit besteht im Habitus, der sich an vergleichbaren Handlungsproblemen bildet, deren Gegebenheit und Vergleichbarkeit sich auch Wissenschaftlern sehr unterschiedlicher Fachkulturen an jenem Habitus mitteilt. Diese Gemeinsamkeit, so unsichtbar und rätselhaft sie demjenigen bleiben muss, der für den Forscherhabitus noch keinen Begriff hat, lässt sich empirisch belegen. Die nachfolgende Studie dient diesem Zweck. Zweifellos etablierte sich eine Kultur des methodenkritischen Geltungsdiskurses innerhalb der Universitäten erst allmählich und muss immer wieder neu errichtet werden. Er blieb in den historischen Anfängen auf die Arbeit einiger heroischer Einzelpersönlichkeiten, die Pionierarbeiten in der Etablierung einer veralltäglichten Laborpraxis, Archivarbeit und Quellenkritik geleistet haben. Die Bedeutung von
93 Snow, C. P.: Die zwei Kulturen, in: Kreuzer, Helmut (Hg.): Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. C. P. Snows These in der Diskussion, München 1987; Brockman, John: Die dritte Kultur. Das Weltbild der modernen Naturwissenschaft. München 1996; Lepenies, Wolf: Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, München 1985.
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Leuten wie Gay-Lussac, Humboldt, Liebig, Faraday, Müller, Pasteur, Ranke, Bernard oder Virchow liegt nicht nur in ihrem inhaltlichen Beitrag, als vielmehr darin, dass sie für eine je nachwachsende Generation von Schülern mit Ausstrahlung auf ihr gesamtes Fach Vorbilder eines Modus operandi wurden und Maßstäbe in der Organisation der experimentellen Laborpraxis, der wissenschaftlichen Feldbeobachtung, im Quellenstudium oder in der Anlage komparativer Sammlungen gesetzt haben. Die (deutsche) Universität wurde unter der Ägide solcher Leute zu einer Forschungsstätte, in der Studenten in der Forschung selbst ausgebildet wurden. Universitäre Lehre bedeutete seitdem, dass die Studenten an Grundprobleme einer Wissenschaft im Lichte aktueller Forschungsfragen herangeführt werden und in einem Schüler-Meister-Verhältnis zu einem Professor treten, der sie in den methodenkritischen Diskurs einführt, indem er sie von Anfang an als Kollegen behandelten, die Träger von Argumenten sind, obwohl sie dies anfangs nur eingeschränkt ausfüllen können. Inhalt der universitären Lehre ist nicht allein das Fachwissen, sondern die Einsozialisation in den erfahrungswissenschaftlichen Habitus, die Einführung in die Logik der Forschung. Dies erfolgt immer je exemplarisch, durch freiwillige Wahl eines Fachgebietes, in das sich der Novize aus eigenem Antrieb einarbeitet. – Dass Studenten eine wissenschaftliche Bildung in diesem Sinne überhaupt riskieren können, beruht natürlich darauf, dass es eine Nachfrage nach wissenschaftlich gebildeten Berufen sowohl an den Universitäten wie außerhalb gibt. Dies ist seit Mitte des 19. Jahrhunderts in wachsendem Maße der Fall. Wie Friedrich Tenbruck argumentiert, war für die frühe Phase der Verberuflichung der Wissenschaftler aber mindestens ebenso wichtig, dass sich junge Männer auf das Studium neuer, noch unbekannter Fächer in der Annahme einließen, dass wissenschaftliche Bildung als Selbstzweck auf praktisch alle Herausforderungen vorbereitet, weil sie, um es in der Sprache der Professionalisierungstheorie auszudrücken, eine Haltung erzeugt, die sich in der Krisenbewältigung zu bewähren sucht und eine Offenheit für Lernprozesse wahrt. Das 19. Jahrhundert lebte in dem Bewusstsein, so Tenbruck, dass dieser Haltung „die Welt offensteht“. Es ist das Bewusstsein der Industrialisierung, der Verwissenschaftlichung der Berufe, des aufstrebenden Schulstaats, der Volksbildung. So erklärt sich auch, dass Protagonisten des neuen Universitätsideals wie Fichte, Schelling oder Schleiermacher Anfang des 19. Jahrhunderts ihre heute fast aberwitzig radikal wirkenden Ideale einer Autonomie der Wissenschaft in der Wahl ihrer Themen, einer Freiheit der Forschung von jedweder utilitaristischer Motivation und Praxisliebedienerei haben propagieren können, und nicht, wie dies heute sofort geschähe, dafür als weltfremde Spinner abgetan wurden.94
94 Tenbruck, Friedrich: „Bildung, Gesellschaft, Wissenschaft“, in: Oberndörfer, D. (Hg.): Wissenschaftliche Politik. Eine Einführung in Grundfragen ihrer Tradition und Theorie, Freiburg i. Br. 1961.
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Wie Ben-David herausgearbeitet hat, beruht der Aufstieg der deutschen Universität zur seinerzeit produktivsten Wissenschaftslandschaft nicht auf den philosophischen Diskursen über die Universitätsidee, sondern auf handfesten strukturellen Merkmalen: Zum Beispiel auf der Bereitschaft der deutschen Fürsten, über viele Jahrzehnte vom Steueraufkommen mehr in investive Budgets wie den Ausbau der Schulen und Universitäten zu lenken, als in konsumtive Ausgaben wie Beamtenpensionen, Schlösserbau oder sozialpolitische Maßnahmen. Er war vor allem die Folge eines lebendigen Wettbewerbs unter den zahlreichen deutschen Einzelstaaten, deren Ministerien für ihre Universitäten gute Ausgangspositionen schaffen wollten, damit diese bei der dynamischen wissenschaftlichen Entwicklung vorne dabei sein konnten. Es gab ein vergleichsweise dichtes Netz an Universitäten, die aber unterschiedlichen Hoheitsgebieten unterstanden, so dass die an sich restaurative Phase und Zensur des Vormärz und der nachrevolutionären Zeit nach 1848/49 der Wissenschaftsentwicklung selbst wenig anhaben konnte.95 Professoren, die in einer Universität mit politischen Äußerungen den Unmut der Zensurbehörden auf sich gezogen hatten, gingen, wie etwa der Historiker Dahlmann, der zu den Göttinger Sieben zählte, einfach an eine andere deutschsprachige Universität, nach Bonn, um dort seine Lehre wieder aufzunehmen. – Die Wissenschaftler haben die „föderale“ Struktur Deutschlands außerdem vielfältig zu ihren Gunsten ausgenutzt und bei Berufungsverhandlungen für einen raschen Ausbau verschiedener wissenschaftliche Fächer gesorgt, indem sie einen erfolgten Ruf geschickte zu Verhandlungen über die Ausstattung ihres Institutes genutzt haben. Auf diese Weise konnte in vielen Fächern eine kritische Masse an Fachwissenschaftlern erreicht werden, die den methodenkritischen Geltungsdiskurs erst möglich machte. Viel wichtiger als die stets überschätzte Habilitation als spezifisch deutscher Qualifikationsschritt ist die Berufungsregelung selbst. Sie birgt das ewige Strukturproblem in sich, dass einerseits nur qualifizierte Fachwissenschaftler die Güte eines Bewerbers erkennen können, was ja zusätzlich erschwert ist, weil es für die Innovativität einer Wissenschaft weniger darauf ankommt, schon bewährte ältere Wissenschaftler zu berufen, als jüngere, deren Lebensleistung und Werk aber noch nicht vorliegt und erst in Ansätzen erkannt werden kann. Also Professoren müssen im Kern die Berufungsentscheidung treffen. Andererseits sind es eben dieselben Professoren, die aufgrund von Kollegenzwist, Schulenstreit, Machtansprüchen nicht immer dazu neigen, die besten Bewerber auszuwählen, sondern eigene Schüler, schwache oder Kompromisskandidaten, die sie beherrschen können. Die Berufung 95 Die Sozialwissenschaften sind ein Sonderfall. Sie hätten sich wahrscheinlich auch institutionell sehr viel früher aus den Staatswissenschaften heraus emanzipiert, wenn linkshegelianische Autoren wie z.B. Karl Marx ihre Werke innerhalb der Universität hätten entwickeln können. Dagegen standen die politischen Verhältnisse. Auch der Antisemitismus und Antikatholizismus haben die Entwicklung restringiert.
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des Professors wurde deshalb so geregelt, dass ein kollegiales Gremium geeignete Bewerber auswählte und dem Minister eine Liste von Kandidaten vorschlug, dem dann aber das Recht der letzten Entscheidung zustand, von dem die berühmten Minister Altenstein und Althoff auch reichlich Gebrauch gemacht haben. Damit war zusammen mit dem Hausberufungsverbot ein unter dem Strich durchaus wirkungsvolles Korrektiv gegen die Tendenz errichtet, hauseigene Konflikte über innovative Entscheidungen zu stellen. Man musste sich kollektiv auf einen hochqualifizierten Kandidaten einigen, um eine Blamage vor der akademischen Welt zu vermeiden. Zugleich konnten die Minister in innere Fakultätskonflikte eingreifen und von außen Entwicklungen fördern oder unterbinden. Voraussetzung dieses Systems war natürlich, dass der Minister und seine Beamten in den Fachwissenschaften wirklich gebildet waren, Personen und Entwicklungspotentiale ihrer Universitäten gut kannten, und auch einen Sinn für die Besonderheiten des wissenschaftlichen Milieus, der Ränke und Erstarrungstendenzen ebenso wie der Psyche und Begabung noch junger, förderungswürdiger Wissenschaftler hatten. Dieses Ideal war auch im 19. Jahrhundert schon so anspruchsvoll, dass ihm nur bedingt entsprochen werden konnte. Es gibt viele Beispiele des Missgriffs und des Missbrauchs des Ministerrechts. Spätestens mit dem Ausbau der Universitäten zum Massenbetrieb nach 1960/70 musste das System dann notgedrungen an seine Grenzen stoßen. Denn die Ministerialbeamten konnten seitdem die eigentlich notwendige fachwissenschaftliche Bildung und intime Kenntnis nicht mehr so anspruchsvoll weiterleisten, wie es für eine qualifizierte Wahrnehmung des Rechts auf Eingriffe in Berufungsverfahren im Sinne der Förderung innovativer Forschung nötig gewesen wäre. Seit Mitte der 1980er Jahre begannen sich die Ministerien der deutschen Länder aus diesem Anspruch deshalb erst faktisch und dann auch gesetzlich zurückzuziehen. Die jüngere Universitätsreform hat dem Rechnung getragen und das Recht in die Universitäten zurückdelegiert und den Präsidien übertragen. Damit ist allerdings das Problem verbunden, dass Präsidien korporatistisch von der Professorenschaft mitgewählt sind und damit nicht die personelle Distanz zur Professorenschaft gewährleistet ist, wie es geboten wäre. Außerdem können Präsidien auch nicht alle Fächer überblicken. Deshalb spielt der Dekan eine immer größere Rolle, was das geschilderte Problem einer mangelnden Distanz aber nicht entschärft, sondern nur in die Fachbereiche verlagert. Inwiefern das angelsächsische System hier Abhilfe schaffen kann, wird im Interview mit Herrn Sattler diskutiert. Das relativ enge Netz an Universitäten führte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dazu, dass sich ein System der Universitäten herausbildete, mit kleineren Universitäten wie Halle, Marburg oder Gießen an der Basis, an denen junge Wissenschaftler als Privatdozenten ihrer Karriere begannen und meistens auch ihrer innovativen Arbeiten anbahnten, um dann auf Lehrstühle nächst größerer Universitäten wie Würzburg, Göttingen, Tübingen oder Bonn berufen zu werden, wenn ihre Habilitationsschrift bekannt geworden war und als Ansatz für ein neues For-
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schungsgebiet erkannt wurde. Hier fanden sie bessere Förderbedingungen vor und konnten ihre Forschungsprogramme in die Tat umsetzen, bis eine kleine Zahl von ihnen schließlich als Krönung der Laufbahn in schon fortgesetztem Alter nach Berlin oder München berufen wurde, von wo aus sie als Lehrkoryphäen und Mentoren einflussreich auf ihre Wissenschaft zurückwirken konnten. Dem deutschen System war also eigen, dass es nicht wie in Frankreich auf die Metropole Paris oder wie England auf Oxford und Cambridge zugeschnitten war und aus diesen Zentralen alle Anregung empfing. Die eigentlich innovativen Orte waren gerade nicht die Hauptstadt, wenngleich der Anreiz blieb, durch Berufung nach Berlin ein Lebenswerk schon zu Lebzeiten bestätigt zu finden. Dem System war auch und bis in jüngste Zeit eigen, dass junge Wissenschaftler als Privatdozenten gewissermaßen in Vorlage traten und das soziale Risiko einer Wissenschaftslaufbahn trugen, um darauf zu vertrauen, dass ihre wissenschaftliche Leistung als Anstoß zu einem neuen Forschungsgebiet nach der Habilitation erkannt und durch Berufung auf eine Professur nachlaufend bestätigt werden würde. Diese „nachlaufende Bestätigung“96 sicherte dem ganzen System einen relativ hohen Grad an Innovativität, denn der jüngere Wissenschaftler konnte und musste sich in den wirklich schöpferisch-produktiven Jahren seines Berufslebens, also zwischen Zwanzig und Vierzig, voll und ganz auf seine Arbeit konzentrieren und wurde nicht durch übermäßige Lehrtätigkeit, Antragsgestaltung der Drittmittelakquise, Tagungstourismus oder Selbstverwaltungspflichten abgelenkt. Was hier für das deutsche Wissenschaftssystem skizziert wurde, nämlich strukturelle Rahmenbedingungen, die eine innovative Wissenschaftsdynamik auf nationaler Ebene erklären helfen, müsste natürlich im Einzelnen viel umfassender und auch für andere Länder vergleichend diskutiert werden. Es kam an dieser Stelle darauf an, Umrisse einer solchen Diskussion für eine bestimmte Zeitphase der deutschen Wissenschaftsentwicklung exemplarisch zu benennen. Mit dem Aufstieg der USA zur führenden Wissenschaftsnation, der teils ein Erfolg der konsequenten Weiterentwicklung des deutschen Universitätsmodells bei gleichzeitiger Bewahrung egalitärer angelsächsischer Lehr- und Kollegtraditionen, teils Ergebnis einer ungeheuren Konzentration von privaten Stiftungsmitteln in der Hand einiger weniger EliteUniversitäten ist, die so attraktive Bedingungen bereitstellen können, dass sie in der Lage sind, im Weltmaßstab die besten Wissenschaftler und somit innovative Entwicklungen frühzeitig an sich zu ziehen, mit diesem amerikanischen Wissenschaftssystem ist gleichzeitig die Wissenschaftsentwicklung aus der Phase herausgetreten, in der ein nationales Wissenschaftssystem die gesamte Entwicklung anführt. Die
96 Diesen Begriff übernehme ich von Langewiesche, Dieter: „Europäische Hochschulen. Ende einer Lebensform“, in: Süddeutsche Zeitung vom 28.12.2007.
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wechselseitigen Abhängigkeiten und Anregungen, der Austausch von Ideen und Personal ist immens gestiegen, und ein globaler Wettbewerb entstanden, in den heute neben den europäischen Wissenschaftsnationen und der EU auch Australien, Brasilien und die fernostasiatischen Länder Japan, China und Indien eingetreten sind. In jedem Land stellen sich die Parameter der Wissenschaftsförderung anders dar; und trotzdem macht es heute keinen Sinn mehr, die Länder wie selbständige Gebilde miteinander zu vergleichen, als wären sie im Prinzip unabhängig voneinander erfolgreich. Die Komplexität des heutigen Wissenschaftssystems gibt viele neue Fragen auf, denen sich auch die Soziologie stellen muss. Doch führt sie auf überraschende Weise auch wieder zurück zum Thema unserer Arbeit. Denn das, was die komplexe Entwicklung in letzter Konsequenz von Unten zusammenhält, sie bewegt und im Ganzen vorwärtstreibt, ist keine zentralistische Institution, keine Planungsbehörde der Wissenschaftsförderung, es ist der Forscherhabitus des Wissenschaftlers und sein Bemühen, den sich ihm im Geltungsdiskurs je konkret stellenden Herausforderungen seines Forschungsfaches eine je angemessene Bearbeitung widerfahren zu lassen.
E MPIRISCHER T EIL Wie lässt sich das Modell methodisch überprüfen? Es stellt sich nun die Frage, wie eine empirische Überprüfung des professionalisierungstheoretischen Modells aussehen kann. Zunächst ist gefordert, die sehr umfangreiche Argumentation auf einige wenige Hypothesen herunter zu brechen und das zu Überprüfende hierin zu konkretisieren. Diese Hypothesen fügen der ausgeführten Argumentation nichts Neues hinzu, sie fassen im Grunde nur noch einmal die tragenden Prämissen des Modells zusammen. Mit ihnen soll die Überlegung aber weitergetrieben werden bis zu der Frage, welche Art von überprüfbaren Prognosen aus ihnen zu schlussfolgern ist und welche Befunde als Falsifikatoren des Modells anzusehen wären. Die leitenden Hypothesen dieser Arbeit (1) Die erste Hypothese lautet, dass das wissenschaftliche Handeln dem Typus des professionalisierten Handelns entspricht. Wissenschaftliches Handeln ist stellvertretende Krisenbewältigung auf der Basis eines hieran gebildeten Expertenwissens. Folglich müsste sich zeigen lassen, dass die Praxis der Wissenschaftler auf das Erzeugen und Lösen von Krisen grundsätzlich ausgerichtet ist, und genau genommen
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müsste dies in allen Ausdrucksgestalten dieser Praxis nachprüfbar sein. Es müsste sich am Habitus, an den Alltagsroutinen, an den Laborsettings, am Verlauf fachöffentlicher Kontroversen oder an institutionellen Regelungen in Universitäten oder der Forschungsförderung zeigen lassen, dass die Erzeugung von Krisen, genauer gesagt von Geltungskrisen des Wissens der Normalfall darstellt, auf dessen Erzeugung und Bewältigung alles abgestellt ist. Diese Hypothese wäre sicher schon als gescheitert anzusehen, wenn sich in einer Reihe von Fallbeispielen erwiese, dass nicht die Krise, sondern die Routine der Normalzustand des Handelns ist und das wissenschaftliche Handeln eher dem Typus des Verwaltungshandelns entspricht. Dieser Falsifikator ist allerdings insofern schwierig, als er nur unter der Bedingung zulässig ist, dass es sich um Beispiele handelt, in denen tatsächlich neue Erkenntnisse hervorgebracht oder ernsthaft an solchen gearbeitet wurde. Dass es auch im Wissenschaftsbetrieb Tätigkeiten wie Archivierung, Präparation usw. gibt, die gar nicht auf neue Erkenntnisse abzielen, kann nicht als Widerlegung des Modells gelten gelassen werden. (2) Es gibt einen erfahrungswissenschaftlichen Habitus. Dieser Habitus operiert weitgehend unbewusst; er umfasst zahlreiche einzelne Routinen, die sich in der Bewältigung typischer Handlungsprobleme der wissenschaftlichen Praxis ergeben haben. Folglich müssten sich bei einigermaßen geschickter Befragung aus den Äußerungen von Wissenschaftlern viele dieser habituellen Routinen rekonstruieren lassen. Daraus ergäbe sich außerdem ein vollständigeres Bild der typischen Handlungsprobleme selbst. Daran zu arbeiten ist ein erklärtes Ziel dieser Arbeit. Gescheitert wäre jene Annahme schon dann, wenn sich z.B. zeigen ließe, dass sich solche Handlungsprobleme gar nicht wiederholen oder von Fall zu Fall, von Fach zu Fach so verschieden sind, dass sie nicht aufschlussreich miteinander verglichen werden können. Die These des Habitus wäre vielleicht nicht gescheitert, wohl aber unbrauchbar, wenn sich solche unbewusst operierenden Routinen einfach nicht identifizieren ließen. Das Habituelle muss sich außerdem feindiagnostisch klar vom Selbstbild der Wissenschaftler abgrenzen lassen. Ansonsten verfängt der Einwand, dass es sich immer nur um selbstidealisierende Auskünfte darüber handelt, wie Wissenschaftler gesehen werden wollen. (3) Der erfahrungswissenschaftliche Habitus leistet eine professionsethische Selbstkontrolle des Handelns. Oder anders ausgedrückt: Forschungsprozesse, in denen Neues entsteht, gelingen in dem Maße, in dem das Handeln unter die Kontrolle eines je fallspezifisch vorgehenden Methodenbewusstseins gebracht wird. Diese Hypothese ist wohl die komplexeste und am schwersten zu prüfende These, denn sie kann nur für den je konkreten Einzelfall gezeigt werden und setzt eine Methode der Fallrekonstruktion voraus. Sie erfordert, dass der sequenzielle Ablauf eines Forschungsprozesses detailliert auch inhaltlich rekonstruiert wird. Dies ist schon des-
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halb außerordentlich anspruchsvoll, weil viele wichtige Operationen im Forschungsprozess kaum zu protokollieren, geschweige denn zu beobachten sind, z.B. die Wahrnehmungs- und Denkprozesse. Protokolle dokumentieren immer nur indirekt und im Nachhinein, dass sich etwas Entscheidendes getan haben muss. Forschungsprozesse lassen sich also schon aus Gründen der Erhebung geeigneter Ausdrucksgestalten nur annäherungsweise rekonstruieren. Die Hypothese darf aber ohnehin nicht so missverstanden werden, als ginge es um eine empirische Generalisierung. Es geht vielmehr um eine Strukturhypothese und deren Generalisierung. Sie wäre erfolgreich mit dem Nachweis, dass sich selbst in solchen Fällen, in denen eine professionsethische Selbstkontrolle misslingt oder ihre Forderungen missachtet werden, ihr Fehlen folgenreich sich bemerkbar macht und man im Nachhinein genau rekonstruieren kann, was eine professionalisierte Vorgehensweise gewesen wäre. Die vielen Hinweise auf ein Missraten widerlegen darum die These nicht. Oftmals sogar im Gegenteil. Gleichwohl handelt es sich um eine Hypothese, deren Nachweis in dieser Arbeit, da sich diese dem Weg der Interviewanalyse verschrieben hat, nur indirekt erfolgen kann. Dieser Nachweis besteht darin, dass viele Details und Sachverhalte in den Gesprächen mit Hilfe der Hypothese aufschlussreich interpretiert und andere Kandidaten von Lesarten von vergleichbarer theoretischer Erklärungskraft nicht konzipiert werden können. Sie ist also eine Hypothese, die nicht mit einem Einzelbefund bewiesen werden kann, sondern die nach Graden ihrer Plausibilität bewertet werden muss. Ein Falsifikator bestünde daher darin, dass sich eine Reihe wichtiger Details zum Vorgehen im Forschungsprozess ergäben, die nicht gut mit der These einer professionsethischen Selbstkontrolle erklärt werden können. Umgekehrt ist zu erwarten, dass sich in den Interviewanalysen erst richtig spezifizieren lässt, was Professionsethik eigentlich genau heißt und auf was sie sich erstreckt. Erst im Materialreichtum der Interviews zeigt sich nämlich, dies als Vorgriff eingeflochten, wie komplex diese Annahme wirklich ist. (4) Wissenschaftler gehen in erster Linie Geltungskrisen nach, die sie selbst hervorgebracht haben. Dabei steht die Neugierde, nicht das Überwinden praktischen Scheiterns im Vordergrund. Wissenschaftler unterscheiden sich also grundlegend von Ingenieuren. Sie stehen nicht im Dienste einer praktischen Vernunft, sondern einer theoretischen Wahrheit, gehen nicht von praktischen Krisenerfahrungen, sondern von ästhetischen Erfahrungen eines Unbekannten aus. Daraus kann geschlussfolgert werden, dass Forscher am liebsten ihren eigenen Fragestellungen nachgehen, oder dass sie sich Fragen, die an sie herangetragen werden, erst zu eigen machen müssen, bevor sie an ihnen arbeiten können. Zugleich kann erwartet werden, dass sie immer ein Deutungsmuster für das spannungsreiche Verhältnis zwischen Wissenschaft und alimentierender Praxis haben und ihre privilegierte Existenz legitimieren. Diese Hypothese wäre als gescheitert anzusehen, wenn sich z.B. zeigen ließe, dass es keinen habituellen Unterschied zwischen Grundlagenforschern
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und Wissenschaftlern in der Industrieforschung gäbe; oder wenn es Wissenschaftlern gleichgültig wäre, wie und was die Öffentlichkeit über ihre Arbeit denkt. Sie wäre hingegen noch nicht gescheitert, wenn Wissenschaftler vermeiden, ihre unpraktischen Interessen als führende Motivation ihrer Arbeit auszuweisen. Auch hier muss genau zwischen dem unterscheiden werden, was dem Diskurs geschuldet ist, und dem, was aus dem wirklichen Handeln spricht. (5) Der erfahrungswissenschaftliche Habitus ist fachübergreifend. Er findet sich unabhängig davon, welches Fach, welches konkrete Forschungsgebiet untersucht wird, solange es sich um eine Erfahrungswissenschaft handelt. Er lässt sich im Vergleich zwischen sehr verschiedenen Einzelwissenschaften als strukturelle Gemeinsamkeit nachweisen und auch als Resultante sehr unterschiedlicher wissenschaftlicher Bildungsgeschichten. Diese Hypothese wäre schon dann als gescheitert anzusehen, wenn sich zwar Gemeinsamkeiten zeigen ließen, diese aber so oberflächlich und allgemein blieben, dass keine weiteren Schlüsse daraus gezogen werden könnten. Sie taugt nur etwas, wenn sie interessante, überraschende Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Fächern aufschließen hilft. (6) Die Berufsrolle des Wissenschaftlers lässt sich nicht ausfüllen, wenn nicht die ganze Person sich den Anforderungen der Berufsrolle stellt. Man kann Wissenschaft nicht als Job betreiben, sondern muss sich mit der Tätigkeit persönlich identifizieren. Daraus folgt zum Beispiel die Annahme, dass Wissenschaftler zu den Themen, die sie untersuchen, oder zu den Hypothesen, die sie überprüfen, ein persönliches Verhältnis entwickelt haben. Zu erwarten ist deshalb eine je fallspezifische Verankerung ihrer aktuellen Forschung und der Art und Weise, wie sie diese betreiben, in ihrer Bildungsgeschichte. Berufsleben und Biographie lassen sich nicht vollständig voneinander trennen. Zu erwarten ist deshalb auch, dass es eine weitreichende, spezifische Auswirkung der Wissenschaftspraxis auf das Privatleben, das Ehe- und Familienleben, die Rekreation hat. Zur Methode der Interviewführung
„The good experimenter must, in fact, unite two often incompatible qualities; he must know how to observe, that is to say, to let the child talk freely, without ever checking or sidetracking his utterance, and at the same time he must constantly be alert for something definite; at every moment he must have some working hypothesis, some theory, true or false, which he is seeking to check. When students begin they either suggest to the child all they hope to find, or they suggest nothing at all, because they are not on the look-out for anything, in which case, to be sure, they will never find anything.“ (Jean Piaget: The Child’s Conception of the World)
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Das Überprüfen dieser Modellhypothesen steht nun an. Es geht jedoch auch darum, mit Hilfe des Modells weiter in die Materie einzudringen, die Forderungen der Professionsethik beispielhaft zu konkretisieren und die Verästelungen des Forscherhabitus genauer kennenzulernen. Dies fordert eine gleichzeitige Aufmerksamkeit für mehrere Aufgaben. Man hat fortgesetzt zu überlegen, was den hypothetischen Annahmen widersprechen würde, und danach Ausschau zu halten, was ihnen im empirischen Material nicht mehr entspricht. Gleichzeitig hat man mit dem Modell im Kopf jedes Mal, wenn sich Annahmen bestätigen und verdichten, danach zu fragen, was das Modell noch nicht erklären kann. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welches Datenmaterial geeignet ist, um die Hypothesen am besten überprüfen zu können. Da es auf die Erschließung einer Habitusformation ankommt, scheiden viele Datentypen von vorneherein aus. Ein Habitus besteht aus verinnerlichten Routinen, die weitgehend unbewusst operieren und sich nicht einfach wie Präferenzen, Einstellungen oder Meinungen abfragen oder mit Hilfe von Tests ermitteln lassen. Professionsangehörige können durchaus zu bestimmten Sachverhalten, z.B. Stammzellenforschung oder pränatale Diagnostik gegensätzliche politische oder religiöse Einstellungen und Meinungen haben, aber dennoch von einer einheitlichen Berufshaltung getragen werden, die sich weniger im Inhalt ihrer Meinungen, als darin ausdrücken würde, wie die Meinungen geäußert werden. Standardisierte Fragebogen und Präferenzskalen, aber auch sozialpsychologische Tests erweisen sich hier als stumpfes Schwert. Andererseits zeigt es sich schnell, dass es nicht ausreicht, den Forschern direkt bei ihrer Arbeit zuzusehen und ihr Handeln einfach zu beobachten. Das Beobachten eines Laboralltags oder eines Feldversuchs vermittelt zwar viele interessante Eindrücke vom Milieu, den Arbeitsbedingungen und den alltagspraktischen Abläufen einer Wissenschaft, und es ist natürlich selbstverständliche Voraussetzung einer jeden ernsthaften wissenschaftssoziologischen Untersuchung. Aber das wissenschaftliche Handeln lässt sich auf diese Weise doch nur eingeschränkt und an der Oberfläche untersuchen. Wesentliche Vorgänge wie das Entwerfen von Hypothesen, das Interpretieren von Befunden lassen sich nicht beobachten. Von vielen Vorgängen versteht man, selbst wenn sie gut beobachtbar sind, den Sinn erst, wenn man sie im Lichte des Gesamtprozesses einschätzen kann, den man selbst nicht beobachten, sondern nur erschließen kann. Das Beobachten ist also zwar eine Basis, aber es ist nicht das Entscheidende, wenn man habituelle Routinen erschließen will. Hierfür braucht man geeignete Protokollen von Vorgängen, in denen das Habituelle zum Ausdruck kommt. Die Frage, die sich stellt, lautet daher, wie man einen Habitus zum Sprechen bringen kann, und zwar auch in denjenigen Anteilen, die normalerweise nicht von selbst sich auszudrücken gewohnt sind, für die die Wissenschaftler selbst kaum eine Sprache haben. Edierte Texte wie Forschungsberichte, Artikel, Selbstdarstellungen, Notizhefte, Briefe oder autobiographische Schilderungen sind zwar immer interes-
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sant, schränken aber die verhandelten Themen meist auf bestimmte Aspekte und Gesichtspunkte ein, weil sie von einem publizistischen Zweck und einer editorischen Intention geleitet sind. Daher bietet sich in meinen Augen das Interview zunächst als Königsweg an. Das Interview bietet den Rahmen, alles anzusprechen, was von Interesse sein kann, auch Dinge, die sonst ausgeklammert bleiben oder für die ein Wissenschaftler noch keine Sprache gefunden hat. Das Interview ermöglicht es, den Forscher zu spontanen Äußerungen zum Beruf zu bewegen, bietet die Chance, nachzufragen und nachzuhaken, eine oberflächliche Schilderung zu hinterfragen, den Gesprächspartner in Gedankenexperimente zu verwickeln, die ihn zu klärenden Äußerungen einladen können, oder auf Widersprüche in seinen Äußerungen hinzuweisen. Es ist selbst dasjenige Instrument, das, wenn es gut geführt wird, einem experimentellen Vorgehen am Nächsten kommt. Voraussetzung ist natürlich, dass das Interview selbst in einer erschließenden Grundhaltung geführt wird und die Gesprächsführung sich ganz und gar auf den Verlauf des Gesprächs einlassen kann. Standardisierte Leitfadeninterviews wären nur schädlich. Der Interviewer sollte keine Angst vor ungeplanten, unvorhersehbaren Gesprächsverläufen haben, sollte seiner Virtuosität vertrauen und nicht versuchen, Themen abzuhaken. Alles, was eine lebendige Gesprächspraxis hemmt, wäre unnütz. Gleichwohl können solche offenen Interviews nicht naiv geführt werden. Das Anspruchsvolle besteht darin, den Gesprächspartner ständig in Fragen und Situationen zu verwickeln, für die er keine Alltagsroutine, keine Erzähllegende zur Verfügung hat. Die Interviewtechnik, die in den Gesprächen zur Anwendung kommt, wird in der Objektiven Hermeneutik als offenes Interview bezeichnet. Was die Vorbereitung der Gesprächsführung angeht, beschränkt sich der Interviewer darauf, eine eröffnende Frage zu stellen, die im Kern sein Interesse ausdrückt. Diese Frage sollte gut vorbereitet und durchdacht sein und etwas Stimulierendes haben. Danach sollten vom Interviewer wenn möglich keine eigenen Themen mehr von außen eingeführt werden. Er sollte sich darauf beschränken, gut zuzuhören, mitzudenken und seine Nachfragen an das anzuschließen, was bereits gesagt wurde. Dies heißt zum Beispiel nachzusetzen, wenn eine Äußerung der Vertiefung wert erscheint, obwohl der Interviewee nichts mehr dazu sagen will oder kann; auf etwas zurückzukommen, was zuvor schon angeklungen war, nachdem ein anderes Thema abgeschlossen wurde; oder zu Gesagtem Gegenbeispiele einzuführen, um mit einer anderen Sichtweise zu konfrontieren. Es können also konfrontative Techniken eingesetzt werden, um eine Klärung und Spezifikation hervorzulocken. Fragen, denen ausgewichen wird, können penetrant wiederholt werden, ein Schweigen muss nicht unterbrochen werden. Die Herausforderung der Interviewführung besteht darin, spontane Situationen zu erzeugen, auf die nicht mit vorgeprägten Erzählroutinen und Legenden, die sich schon eingeschliffen haben, geantwortet werden kann. Solche Narrative können zwar auch aussagenkräftig sein, aber ein Habitus äußert sich am ehesten, wenn er spontan gefordert ist.
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Die Sequenzanalyse als Auswertungsmethode Das Entscheidende ist allerdings gar nicht die Gesprächsführung, die ja immer nur mehr oder weniger gelingt, sondern die Auswertung der Interviews. Diese hat klaren methodischen Regeln zu gehorchen. Da Interviews sprachlicher Natur sind, hat man es mit dem klassischen Problem der hermeneutischen Wissenschaften zu tun, wie man sinnstrukturierte Ausdrucksgestalten wissenschaftlich interpretieren kann, ohne die Forderungen nach Objektivität und Nachvollziehbarkeit der Aussagen zu missachten. Die Auswertung hat vier Forderungen zu entsprechen. (1) Sie muss einen Text wirklich aufschließen. Es reicht nicht aus, wenn in eigenen Worten nochmals wiedergegeben wird, was gesagt wurde, und die hinzugefügte Leistung nur darin besteht, dass mit Zusatzinformationen der Kontext erläutert wird. Durch bloße Paraphrase erfährt man über das Gesagte nichts. Man muss sich einen Text in der Annahme vornehmen, dass man nicht schon alles verstanden hat, wenn man ihn nur aufmerksam liest. Ein Text sagt mehr aus, als es an der Oberfläche scheinen mag. Das klassische Problem hermeneutischer Operationen besteht deshalb darin, dass die wissenschaftliche Interpretation von Texten auf der einen Seite über das wortwörtlich Gesprochene hinausgehen muss und sich nicht scheuen darf, den Sinn eines Textes auszulegen. (2) Auf der anderen Seite darf man aber auch nicht Lesarten unkontrolliert an den Text herantragen, die nicht von seinem Wortlaut gedeckt sind. Deutungen müssen zwingend sein; ihr spekulativer Charakter muss sich einlösen und prüfen lassen. Deshalb sind freihändige Textauslegungen, die mögliche Deutungen virtuos entfalten, ohne dass diese sich am Text bewahrheiten ließen, problematisch. Der inexplizite Anteil eines Textes darf nicht als geheimnisvoller Subtext mystifiziert werden. (3) Letztlich zielt jede Interpretation darauf ab, die Bedeutung einer Äußerung in ihrer Objektivität zu erfassen. Das gilt auch für hermeneutische Operationen. Es kommt in erster Linie nicht darauf an, was jemand sagen wollte, sondern was er tatsächlich gesagt hat. Die Bedeutung einer Äußerung drückt meist viel mehr aus, als intentional beabsichtigt und dem Sprecher bewusst war. Diese Bedeutung ist zugleich unabhängig davon, was ein Interpret tatsächlich davon erfasst. Sie ist in der Ausdrucksgestalt eines Protokolls festgehalten, und kann mit einer entsprechenden Methode rekonstruiert werden, weil diese Ausdrucksgestalt nach bedeutungsgenerierenden Regeln der Sprache erzeugt wurde, die jedem zur Verfügung stehen. (4) Die Interpretation eines Textes hat sich der naturwüchsigen Entfaltung seiner Bedeutung anzulehnen und darf den Text nicht durch vorab festgelegte, von außen angelegte Kriterien der Auswertung zerstören. Eine solche Subsumtionslogik liegt immer dann vor, wenn standardisierte Verfahren der Textauswertung zur Anwendung kommen. Man muss stattdessen mit einer Haltung an Texte herangehen, die noch die unscheinbarste Äußerung ernst nimmt und der sequenziellen Entfaltung eines Textes folgt.
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Ein methodisches Verfahren, das diesen Forderungen gerecht wird, ist die Sequenzanalyse in der Objektiven Hermeneutik. Ich erspare mir hier eine sprach- und kommunikationstheoretische Begründung, die an anderer Stelle ausführlich geleistet ist.97 Die Sequenzanalyse folgt einigen wenigen Regeln, denen auch in der Darstellung der nachfolgenden Interviews Rechnung getragen wurde. Die Interpretation folgt den Sequenzen des Textes. Es wird nicht im Text hin und her gesprungen, wir folgen dem natürlichen Verlauf der Gespräche. Es wird jede Sequenz geduldig ausgelegt und erst weitergeschritten, wenn eine Äußerung wirklich vollständig ausgelegt ist (Totalitätsprinzip). Das heißt, es werden auch die ungewöhnlichen und unwahrscheinlichen Lesarten expliziert und die Bedingungen einer Äußerung benannt, die erfüllt gewesen sein müssen. Dabei orientiert sich die Interpretation an folgenden Fragen: Wer hat so etwas sagen können? In welcher Situation? Was müssen gegebene Bedingungen gewesen sein, damit die Äußerung sinnvoll war? Was sind unausgesprochene Hintergrundannahmen, Implikationen, die zum Ausdruck kommen? Erst wenn die Äußerung restlos bestimmt wurde, geht man zur nächsten Äußerung über. Es werden nur solche Lesarten gebildet, die vom Wortlaut gedeckt sind (Wörtlichkeitsprinzip). Darüber hinausgehende Lesarten, die sein können, aber nicht sein müssen, werden gemieden, auch wenn sie besonders interessant, schön oder plausibel sind. Eine weitere Regel besagt, dass jede Äußerung zunächst aus sich heraus auszulegen ist, bevor Kontextwissen zur Interpretation herangezogen werden soll (Immanenz vor Kontext). Diese Regel dient heuristischen Zwecken und soll verhindern, dass zu früh zirkulär mit externen Erklärungen operiert wird. Es wird nicht behauptet, dass es keinen Kontext gäbe oder dass er unwichtig sei. Es geht um eine methodische Kontrolle von Kontextinformationen im Deutungsgeschehen. Die Regel kennt daher nur die Ausnahme, dass bei der Auslegung von Eigennamen oder historischen Daten wie Jahreszahlen Kontextwissen hinzugezogen werden kann. Der methodische Ansatz folgt der Logik der Fallrekonstruktion. Es werden einige Fälle exemplarisch gründlich ausgelegt. Das Ziel der Untersuchung besteht darin, die in den Interviewäußerungen jeweils operierende Fallgesetzlichkeit so weit zu bestimmen, wie wir es benötigen, um die lebensgeschichtliche Einbettung des Habitus einschätzen zu können. Daher kommt es darauf an, in den ersten Sequenzen besonders gründlich zu sein und möglichst schnell zu einer Fallhypothese zu gelangen. Zeichnet sich eine solche Fallhypothese ab, kann man das Verfahren ändern 97 Oevermann, U.: Strukturale Soziologie und Rekonstruktionsmethodologie, in: Glatzer, Wolfgang (Hg.): Ansichten der Gesellschaft: Frankfurter Beiträge aus Soziologie und Politikwissenschaft. Opladen 1999, S. 72-84; Wernet, Andreas: Einführung in die Interpretationstechnik der Objektiven Hermeneutik. (=Qualitative Sozialforschung Bd. 11.), 2. Auflage., Wiesbaden 2006.
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und im Text gezielt nach Stellen suchen, die die Hypothese widerlegen oder modifizieren könnten. Die Darstellung der folgenden Interviews folgt diesen Prinzipien, hält sich aber zugleich an das Gebot der Lesbarkeit. Ich habe an einigen Stellen Erläuterungen eingefügt, die das Kontextverbot etwas durchbrechen, um ein schnelleres Verständnis der konkreten Forschungsfragen zu ermöglichen. Ein letztes Wort zur Anonymisierung der Interviews. Alle Namen wurden verändert. Hinweise auf Personen, Institute oder Forschungsprojekte wurden getilgt oder so abgeändert, dass Rückschlüsse auf die Interviewpartner nicht mehr möglich sind. Auch Mitteilungen über den beruflichen Werdegang wurden abgewandelt. Von der Interviewerhebung bis zur Publikation sind viele Jahre vergangen, so dass einige der Projekte gar nicht mehr existieren oder das Personal längst gewechselt hat und viele der Wissenschaftler auf dem Wege ihrer Karriere längst anderen Aufgaben nachgehen. Die Interviews sind nach einheitlichen Regeln transkribiert. Nur vereinzelt sind die Verschrifter davon abgewichen. Die Notationsregeln sind jedem Interview daher eigens vorangestellt. Sprechfehler, Satzabbrüche, Pausen und dialektale Eigenheiten wurden mittranskribiert; sie machen das Lesen manchmal etwas mühsam, geben aber die lebendige Variation des menschlichen Sprechens wieder.
Kapitel 1. Formenvielfalt der Forschertypen Der Forscherhabitus in der Neurowissenschaft
Das Anatomische Institut
Vorbericht Wir beginnen mit Interviews, die mit Mitarbeitern eines anatomischen Instituts einer westdeutschen Universität im Jahre 1999 geführt wurden. Der Kontakt zum Direktor des Instituts hatte sich während einer Sommerakademie der „Studienstiftung des deutschen Volkes“ ergeben. Die Suche nach geeigneten Gesprächspartnern war damals noch tastend und von einfachen Überlegungen geleitet. Gesucht wurden Interviewpartner, deren Schwerpunkt zum überwiegenden Teil in der Forschung lag. Es sollten Wissenschaftler sein, die von morgens bis abends mit Problemen der Datenerhebung, der Auswertung und der theoretischen Konzeption befasst waren. Aus damaliger Sicht lag es nahe, mit jüngeren Wissenschaftlern zu beginnen, die ihre Karriere noch nicht gemacht hatten. Die Überlegung zielte also auf die Gruppe der Doktoranden, Postdocs und Habilitanden. Diese Statusgruppe umfasst ungefähr die Fünfundzwanzig- bis Fünfundvierzigjährigen und damit jene Alterskohorte, die in der eigentlich innovativen Phase ihres Lebens steht. Diesen Wissenschaftlern ist gemein, dass sie sich in einer Übergangsphase befinden, die mit dem Eintritt in ein Doktorat beginnt und erst mit dem Ruf auf eine Professur oder irgendeiner anderen Form der Daueranstellung erfolgreich abgeschlossen ist. Dazwischen liegt das, was Max Weber den „Hasard“ des modernen Wissenschaftlers genannt hat: die zeitlich befristete Stelle, das Stipendium, die Jagd nach Drittmitteln, eine finanziell und privat noch ungesicherte und angespannte Lage. Von dieser Gruppe war zu erwarten, dass ihr die forschungstypischen Alltagsprobleme ebenso bekannt sein würden wie die persönlichen und sozialen Krisen einer jungen Wissenschaftlerlaufbahn. Wenn möglich wollten wir mit einer größeren Forschergruppe beginnen, um eine heterogene Gesamtheit von Charakteren, Geschlecht, akademischer Statusgruppe und Karrierephase sowie persönlicher Berufseinstellung einzufangen. Es sollten typische Probleme des Forscheralltags, aber auch Fragen der Organisation, Führung und Kooperation komplexer Forschungsverbünde thematisch werden. Ferner war ein wichtiges Kriterium, dass die Forschergruppe ein möglichst hoch-
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stehendes Niveau erreicht haben sollte. Das sollte sich auf ihre Fragestellung wie auf die Anlage ihres Projekts und die Qualität der Durchführung erstrecken. Zumindest für die federführenden Leiter sahen wir dies als Bedingung an. Über den methodischen Sinn dieses auf den ersten Blick nicht ganz unproblematischen Kriteriums haben wir uns allerdings erst später Rechenschaft ablegen können, als die Auswertung zeigte, wie weit man in der Rekonstruktion kommt, wenn man wirklich herausragende Vertreter der Wissenschaft vor sich hat, und wie blass das Bild bleibt, wenn das nicht der Fall ist. Die Erfahrungsberichte zeigen größere Konturiertheit, auch eine größere, an der Sache herangebildete Erfahrungstiefe und gründliche Reflexion der Vorgänge durch den Forscher. Das anatomische Institut von Prof. Curtius bot sich unter allen der genannten Gesichtspunkte als idealer Einstieg an. Es wurden insgesamt neun Gespräche von bis zu zwei Stunden Länge geführt.1 Den Einzelinterviews ging vormittags ein Gruppengespräch voraus, das der Vorstellung unserer soziologischen Fragestellung diente. An ihm hatten die meisten Mitarbeiter des Instituts teilgenommen, neben einigen Privatdozenten und Postdocs zahlreiche Doktoranden und auch einige der biologisch technischen Assistentinnen (BTA), zeitweilig bis zu fünfundzwanzig Personen. Am Institut war damals ein „Sonderforschungsbereich“ (SFB) der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) angesiedelt, der sich mit neurowissenschaftlicher Grundlagenforschung befasste und der einige international renommierte Forscher in seinen Reihen aufzuweisen hatte. Prof. Curtius war einer der Projektleiter. Die meisten Interviewpartner stammen aus dem Mitarbeiterstab dieses SFB, waren also zeitlich befristetet angestellt und an ein im Peer-Review-Verfahren bewilligtes Drittmittelprojekt gebunden, deren Leitung zumeist bei einem Universitäts-Professor oder seinem Assistenten lag. Die fachliche Herkunft war sehr heterogen, es waren Biologen, Biochemiker, Chemiker und Mediziner unter den Mitarbeitern. Um die Forschergruppe näher zu charakterisieren, ist der Umstand herauszuheben, dass sie an einem anatomischen Institut angesiedelt war. Die Anatomie stellt ein besonderes Milieu der Wissenschaft dar, mit Folgen für die Forschung und wissenschaftliche Laufbahn in ihr, was mit der Aufgabe dieses Faches und seiner spezifischen historischen Entwicklung zusammenhängt. Anatomie bezeichnet ja zum einen den inneren Aufbau eines Organismus, zum anderen das Lehrfach, welches das Innere eines Körpers aufklärt. Im Unterschied zur Pathologie und Gerichtsmedizin, in deren Zentrum krankhaft verändertes Gewebe und die Ermittlung von Todesursachen stehen, befasst sich die Anatomie mit der systematischen Erfassung der körperlichen Gestalt eines Organismus, indem sie ihn präpariert und dann durch 1
Neben mir waren Roland Burkholz, Matthias Jung und Ulrich Oevermann an der Interviewführung beteiligt. Ihnen nochmals Dank dafür.
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Zerlegung der systematischen Untersuchung zuführt ( *+ – griechisch, zerschneiden). Lage, Funktion und Struktur von Organen, Muskeln und Knochen, der Hautgewebe und Nerven machen das Hauptinteresse aus, das heute allerdings längst auch die genetische Steuerung und Regulation des Wachstums der Zellen mit einschließt. Die Anatomie gehört wissenschaftssystematisch zur Morphologie, der Lehre von der äußeren Formgestalt eines Organismus. Anatomen erfassen das Innere eines Körpers nicht nur deskriptiv, sondern versuchen es funktional und im Blick auf die Ontogenese und Evolution der Organe exploratorisch aufzuklären. Sie interessieren sich für die Pathogenese von Organen und auch für den Vergleich der Anatomie unterschiedlicher Arten, ein Interesse, in dem sich Anatomie und allgemeine Evolutionsbiologie berühren. Seit der griechischen Antike ist die Anatomie allerdings ein Fach der Humanmedizin und insofern der ärztlichen Heilkunst angegliedert. Selbst als sie eng mit der Entwicklung der Bildenden Künste verknüpft war, als während der Renaissance vor allem Künstler wie Leonardo das Studium des menschlichen Körpers vorantrieben, ist die Anatomie immer ein medizinisches Fach geblieben. Als Teil der Medizin kommt ihr die Aufgabe zu, dem Arzt das elementare Wissen über den menschlichen Körper zur Verfügung zu stellen; das macht die Anatomie zu einer Säule der ärztlichen Wissenskultur. Dennoch unterscheidet sie sich erheblich von den anderen medizinischen Fächern, weil sie keine eigene Behandlungspraxis kennt. Anatomen sind weder auf bestimmte Krankheitsbilder spezialisiert, noch therapieren sie Patienten, ja selbst in der Diagnostik kommen sie nur in speziellen Sondergebieten – etwa der Röntgenanatomie – zum Einsatz. Es gibt in Deutschland zwar einen Facharzt für Anatomie, doch dessen Tätigkeitsfeld beschränkt sich weitgehend auf handwerkliche Dienste: Anatomen öffnen kunstgerecht Leichen, konservieren und präparieren Organe, richten anatomische Schausammlungen ein, und sie interpretieren, sofern sie darin ausgebildet sind, Aufnahmen etwa aus der Kernspintomographie bei bestimmten Diagnoseproblemen. Die Berufskultur der Anatomie wurzelt folglich nicht in der klinischen und niedergelassenen Praxis des Arztes, sondern in seinem Bedürfnis nach Ausbildung und Forschung an einer Universität. Ihr grundlagenwissenschaftliches Interesse rückt sie in die Nähe zu den klassischen Naturwissenschaften, deren thematische Breite und Universalität sie aber dennoch nicht teilt, weil das Interesse ganz auf die Anatomie des Menschen konzentriert bleibt. Auch ihre Lehre dient nicht in erster Linie dem Zweck, Naturwissenschaftler hervorzubringen, sondern richtet sich an angehende Praktiker der Medizin. Aufgrund der fehlenden klinischen Praxis ist die berufliche Laufbahn eines Anatomen also in aller Regel auf die wissenschaftliche Laufbahn ausgerichtet und führt ihn an ein Universitätsinstitut, zu verwandten Forschungs- und Lehreinrichtungen, auch in die pharmazeutische Industrie, seltener, aber auch zu naturkundlichen Museen oder in die Gerichtsmedizin, überall dahin, wo das fachkundige Zerlegen und die Präparation von totem Gewebe, toten Organen und Leichnamen benötigt wird.
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Was den Forschungsstand der Anatomie anbelangt, so war er lange Zeit davon bestimmt, dass der innere Aufbau des Menschen als ausgeforscht galt. Mit einer gewissen Berechtigung: Die Anatomie des Menschen ist umfassend beschrieben, funktionale Wechselbeziehungen zwischen Organen, Gewebearten oder Nerven sind weitgehend bekannt oder werfen nur noch nachgeordnete Fragen auf. Das hat die Attraktivität der Anatomie für neugierige Forschernaturen gemindert, so dass sie über einige Jahrzehnte kaum mehr von einem lebendigen Forschungsgeschehen geprägt war. Dies hat sich wieder geändert, seitdem die moderne Genetik sowie molekularbiologische und biochemische Methoden es auch den Anatomen ermöglichen, ihren Gegenstand auf einer höheren Stufe neu zu untersuchen und im Prinzip alte Fragen mit der Chance einer viel präziseren Antwort neu zu bearbeiten. Die Anatomie partizipiert also als Forschungsfach heute an der Dynamik der Lebenswissenschaften. Es ist für jüngere Wissenschaftler wieder attraktiv, Forschungsstellen in der Anatomie anzunehmen, was weniger damit zu tun hat, dass die Karriere hier besonders erfolgversprechend wäre, denn sie bleibt weitgehend auf die medizinische Professur eingeengt und diese Stellen werden nicht ausgebaut. Aber es gibt doch mehr Forschungsprojekte als früher, von denen aus sich Nachwuchswissenschaftler weiterentwickeln können. Anatomische Forschungsprojekte sind eingebunden in die allgemeine Entwicklung, stehen Biologen oder Chemikern ebenso offen wie Medizinern. Und umgekehrt können angestammte Anatomen sich eher in andere Forschungsgebiete weiterentwickeln, weil sie die dafür benötigten Methoden erlernen können. Es gibt einen Austausch über die Fachgrenzen hinweg. Der besuchte Sonderforschungsbereich spiegelt diese Entwicklung wider. Die interviewten Wissenschaftler sind ihrer Herkunft nach Neurobiologen, Anatomen, Biochemiker, die sich in einem neurowissenschaftlichen Forschungsprojekt zusammenfinden. Einige fühlen sich weitgehend an die Anatomie als Fach gebunden und sehen ihre berufliche Zukunft angesichts der relativen Knappheit an Stellen nicht besonders optimistisch. Andere fühlen sich aber nicht in der Anatomie beheimatet und betrachten auch andere Gebiete der Neurowissenschaft als Terrain persönlicher Entwicklungschancen. Der Präparationskursus Unser Besuch fand während des Semesters statt. Während wir die Interviews führten, liefen der Lehrbetrieb und die Laboraktivitäten unvermindert weiter. Zwischen den Terminen konnten wir die Räumlichkeiten des Instituts besichtigen: Die Labors, die Arbeitszimmer und Vortragssäle, die Einrichtungen für die Aufzucht und Haltung der Versuchstiere, und bei dieser Gelegenheit wurden uns viele Arbeitsweisen, etwa kartographische Verfahren zur Aufzeichnung von Nervenverbindungen, spezielle elektronische Mikroskope und weitere Geräte demonstriert. Gegen Ende des Tages konnten wir auch den Saal besichtigen, in dem gerade der Präparationskurs für die Medizinstudenten durchgeführt wurde. Dieser Kurs fand
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im selben Gebäudekomplex statt, in dem auch die Labors untergebracht sind, so dass die Präsenz von Leichnamen unweigerlich thematisch war. Es roch stark nach Formalin und es wurde in verschiedenen Interviews darauf angespielt. Neben der Belegung anatomischer Vorlesungen gehört der Präparationskurs zu den Pflichtkursen der Medizinerausbildung. Seine Durchführung obliegt dem anatomischen Institut und seinen Mitarbeitern. Auch einige unserer Interviewpartner waren aufgrund ihrer Lehrverpflichtungen daran beteiligt. Die Bedeutung des Präparationskurses für die Professionalisierung der Ärzte war schon thematisch. Seine Durchführung verlangt von den Dozenten spezielle Fachkompetenzen in der Sektionskunst sowie eine besondere Sensibilität bei der Führung der Studenten durch diese Krisensituation. Sie setzt ein hohes Maß an Ernsthaftigkeit und Sachbindung, Empathie und psychischer Gesundheit voraus. Der Präparationskurs spielte auffällig häufig eine Rolle in den Gesprächen. Unsere Aufmerksamkeit, ohnehin durch das Formalin geweckt, wurde immer wieder auf den Kurs und die Leichen gelenkt. Typische Verhaltensweisen von Studenten während des Kurses waren Gesprächsthema, oder was wohl die Motive sein mögen, den Beruf des Präparators zu wählen. Erst später ist mir klar geworden, dass der Präparationskurs und die Anwesenheit von Leichen genutzt wurde, um uns als fremde Besucher, die das nicht gewöhnt sind, mit der exzentrischen Besonderheit des anatomischen Berufsalltags zu konfrontieren: mit der permanenten Anwesenheit von Leichen. Dahinter verbirgt sich aber nicht sadistische Lust am Schockieren, sondern die Inszenierung eines Spezifikums des Milieus, das zugleich eine Distinktion zwischen Wissenschaft und Praxis erlaubt: Mit Leichen zu hantieren ist für den Anatomen Alltagsgeschäft, Routine; sie sind für ihn Mittel zum Zweck. Aber er weiß, dass dies für den Laien nicht so ist, dass der Kontakt mit dem Tod eigentlich eine Krise auslöst. Wer die Anatomen besucht, weil er sie als Wissenschaftler kennen lernen will, muss sich dieser Besonderheit zuwenden. Der Anatom ist kein Monstrum, auch er kennt die Krise des Todes, aber er hat sie in seinem Institut außer Kraft gesetzt, weil er sich nicht für den Leib, das Individuum, sondern im Dienste eines höheren, wissenschaftlichen Zweckes nur für den Körper interessiert. Die Hinwendung zum Leichnam bedeutet also in diesem Falle die Hinwendung zur wissenschaftlichen Fragestellung dieser Disziplin. Das sollte uns mitgegeben werden. Wir haben gegen Ende des Tages übrigens die Gelegenheit genutzt und uns nach Abschluss der Interviews den Saal mit den Leichen zeigen lassen. Anwesend waren Prof. Curtius und Dr. Hellwein (Fall 1). Leider gibt es von dem sehr interessanten Gespräch im Präparationssaal selbst keine Aufzeichnung. Es war eine Fortsetzung der Interviews, die wir schon geführt hatten; diesmal lag die Gesprächsführung jedoch bei Prof. Curtius, der mit großem Geschick dafür sorgte, dass sich keiner der anwesenden Laien aus dem Gespräch „zurückzog“. An den Leichen wurde uns die Vorgehensweise im Kursus erläutert. Es roch stark nach Formalin. Die Leichen waren bereits im fortgeschrittenen Stadium seziert. Prof. Curtius zeigte
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uns die Lage des Nervus opticus, der in dem Forschungsprojekt eine herausragende Rolle spielt, und auch andere anatomische Details. Die Anatomiedozenten erläuterten, wie sie Studenten anleiten, wie ein Kurs in Gruppen organisiert ist und wie sie mit Krisen von Übelkeit oder Ohnmacht umgehen, die die Studenten regelmäßig ereilen. Auch die Frage, ob der Kursus durch computergestützte Simulationen ersetzbar sei, was in der Anatomie gegenwärtig lebhaft diskutiert wird, war thematisch. Der Background der Forschungsprojekte Die allgemeine Fragestellung des SFB zu kennen ist für das Verständnis der ersten Interviewpassagen nicht zwingend notwendig, aber doch hilfreich. Sie wird in einer Passage des Gruppengesprächs besonders deutlich, in der der Institutsdirektor das Generalthema erläutert. Seine mündliche Darstellung ist so klar ausformuliert, dass wir es uns ersparen können, das Rahmenthema selbst nochmals darzulegen. Es wird auch dem Laien sofort verständlich, worum es geht. Der Passage war die Wortmeldung eines Postdocs vorweg gegangen, der beispielhaft auf seine Arbeit im Labor hingewiesen hatte, um daran ein bestimmtes Argument zu untermauern. Das war aber sehr fachsprachlich und uns Laien nicht wirklich verständlich. Prof. Curtius hakte ein, um die Forschung des Gesamtprojekts im Zusammenhang darzulegen und so den nötigen Hintergrund aufzuhellen. Abkürzungen und Notation C: Prof. Curtius O: Interviewer N: Dr. Hellwein ?: nicht zu identifizierender Sprecher *und* *aber*: gleichzeitig gesprochen aber: betont gesprochen (lacht): Anmerkungen des Verschrifters #: Abbruch (.), (..), (...), (x Sek.): Pausen (uv): unverständlich 55C: Vielleicht darf ich kurz *(uv)* (O: *ja, jaja*) vielleicht was vorausschicken, also alle Leute, die hier sitzen, interessieren sich für zwei Bereiche im (.) in der neurowissenschaftlichen Forschung, das ist einmal Entwicklung des Nervensystems, oder Regeneration Degeneration des Nervensystems, und die beiden Aspekte sind nicht zu trennen eigentlich, weil (.) man davon ausgehen darf, dass ne verletzte Nervenzelle, wie auch immer, seis nun durch ne Rückenmarksverletzung oder durch ne (O: mhm) degenerative Erkrankung, vor ähnliche Probleme gestellt wird, wie des ne Nervenzelle ist, wenn (O: mhm) ich das mal so formulieren darf, äh in der Entwicklung, nämlich sie muss überleben, sie muss sozusagen ihre Eigen-
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schaften (.) bewahren oder gewinnen (N: (uv) zurückgewinnen) ja zurückgewinnen, und sie muss Anschluss finden an an ihr Ziel, an ihre Zielzelle, (O: mhm) ähm das das Zentralnervensystem ist ja vor allem dadurch gekennzeichnet, dass (.) zehn hoch vierzehn [1014] oder in der Größenordnung Verbindungen zwischen Nervenzellen bestehen, und das ist das Hauptproblem, wenn ich jetzt (.) zwei Nervenzellen trenne, die vielleicht weit entfernt im Nervensystem äh liegen, wie# also können die überhaupt wieder Kontakt miteinander finden, und das Dogma ist oder auch nachweisbar ist, dass dieser Prozess im Zentralnervensystem nicht stattfindet. (O: mhm) Wenn sie ne Rückenmarksläsion haben, dann ist das irreversibel, während sie en peripheren Nerv durchschneiden können, und unter optimalen Bedingungen ne vollständige (.) Rekonstitution der Funktion kriegen, so und die basale Frage ist jetzt, warum passiert das im peripheren Nervensystem, und warum passiert das im zentralen Nervensystem nicht? Und da hilft zum Beispiel# viele Leute eben arbeiten jetzt an Entwicklung, da hilft jetzt die Frage, wie geschieht das während der Entwicklung, (O: ja) diese Herstellung von Verknüpfungen, oder die Differenzierung von Nervenzellen, und wir ham ja hunderte oder tausende verschiedener Neuronen im Gehirn, wie entstehen die, und wie machen die ihre Verknüpfungen, und da ist en ganz direkter Zusammenhang, und wir untersuchen zum Teil eben (.) also meine Arbeitsgruppe arbeitet im Moment fast an einem Molekül, (O: mhm) ums en bisschen übertrieben zu formulieren, und untersucht dessen Funktion in Entwicklung und Regeneration oder eben Nichtregeneration in Zellen (uv), um sozusagen (uv) son Zusammenhang herzustellen. 56O: .... Entwicklung, ist das jetzt bezogen auf äh die Entwicklung äh auf zellulärem Niveau selbst, oder ist damit gemeint auch eher die Entwicklung von Verschaltungen? ... 61C: Das ist nicht trennbar 62O: Ja 63C: Also wenn# *nochmal* man kann man kann sich vorstellen, also die Entwicklung beginnt damit, dass sie irgendwo im Organismus# jetzt Entwicklung des zentralen Nervensystems beginnt damit, dass sie irgendwo im Organismus ne Anlage kriegen, (O: ja) da sind Zellen (.) das weiß man noch nich genau, aber da is man auch auf der Spur, die haben gesagt gekriegt, ihr seid dafür auserkoren, später mal das Gehirn zu bilden oder das Rückenmark, so und dann stellen sich denen ganz verschiedene Aufgaben, die müssen sich also erstmal dramatisch vermehren, das sind ursprünglich vielleicht en paar hundert Zellen, (O: mhm) oder vielleicht auch nur drei, weiß man nicht, die müssen sich also dramatisch vermehren, um dieses Riesengehirn und das Rückenmark zu bilden, dann müssen se dafür sorgen, dass sie überleben, das ist auch en Prinzip, dass mehr Zellen gebildet werden und nur die, die es richtig machen, überleben, (O: mhm) sie müssen ihren richtigen Phänotyp ausprägen also dort# zum Beispiel Ne# Nervenzellen, die die Muskeln (uv) die sehen anders aus als die, die im visuellen System arbeiten, ganz anders, (O: mhm) also sie müssen ihren Phänotyp (uv) dann müssen sie einen Fortsatz *(uv)* 64N: *Zunächst erstmal* zunächst erstmal die Position (H: genau) überhaupt finden, weil die liegen eben hier, und die andern liegen ja hinten *und und*
146 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE 65C: *Genau*, die müssen (uv) das heißt sie müssen an die richtige Stelle geraten, (O: ja) weil diese Entwicklung beginnt einfach an einer Stelle, (uv) und dann kommt das das Schwierigste vielleicht, die Herstellung der Verknüpfung, also so Art Neurone# also im peripheren Nervensystem ist das Zielorgan zum Beispiel en Muskel, (O: mhm) oder die Haut für sensible Neuronen, (O: mhm) im zentralen Nervensystem ist das Zielorgan oder das Ziel ist immer wieder ne Nervenzelle, und sie können sich vorstellen, wenn zehn Milliarden Nervenzellen (.) ungefähr zehntausend bis hunderttausend Verknüpfungen mit andern Neuronen wieder herstellen, dann kommen sie auf zehn hoch vierzehn [1014] Verknüpfungen, das ist genetisch nicht programmierbar, da müssen irgendwelche (O: ja) extrinsischen regula# regulatorischen Interaktionen stattfinden, die das ermöglichen, dass das Axon, also diese# dieser Fortsatz, der die Verbindung herstellt, seine Zielzelle findet, die rich# also den Weg findet, die richtige Zielzelle findet, und dann ne ordentliche Verbindung herstellt, dass die dann (.) kommunizieren können. Das ist sozusagen die die schwierige Aufgabe, die sich so ne Nervenzelle stellt, und ähnlich# ähnliche Probleme hat dann die Nervenzelle wieder, wenn sie ihr Axon durchtrennen, (O: mhm) dann wird es wieder vom Zielorgan ist se getrennt dann, und dann muss se sozusagen von neuem sich die (.) also ?wieder ne Rolle? finden, und das wird im peripheren Nervensystem (.) eben gelöst, indem jetzt ähnliche Signale wie in der Entwicklung ausgetauscht wurden, an dieser Stelle, an dieser Läsionsstelle zum Beispiel, reaktiviert werden, und der Zelle jetzt erstens den Weg wieder zeigen, und ihr Signale geben, dass sie überleben können, und das Ganze jetzt versuchen wir auf molekul# also auf zellulärer und molekularer zu verstehen, wie (..) welche Signale braucht die Zelle, um zu regenerieren, (O: mhm) und da ist natürlich en Vergleich dann zwischen peripherem Nervensystem und zentralem Nervensystem en sehr guter Ansatz, deswegen gibts# (.) ja und die Entwicklungen dazu und das System (uv) da kammer sehr frühe Entwicklungsstadien nehmen und dann sehr einfache Modelle entwickeln, äh an denen man zum Beispiel solche Signale direkt testen kann, (O: mhm) also sie sie können diese Proteine, das sind Proteine, die dieses (uv) darstellen, können sie zum großen Teil (.) in reiner Form erhältlich oder herstellbar, dann können sie Kulturen vom Gehirn machen oder von bestimmten Teilen des Gehirns, (...) 66C: So also das ist so der der Background
Von den neun geführten Gesprächen wurden sechs für die Darstellung ausgewählt. Die Forscher arbeiten alle in demselben Sonderforschungsbereich, sind aber unterschiedlichen Alters und Geschlechts, haben abweichende fachliche Ausbildungen und unterschiedliche akademische Grade. Auch kommen sie aus sehr verschiedenen Regionen deutschsprachiger Länder. Ihre konkreten Projektfragen weichen erheblich voneinander ab. Die Reihenfolge der Darstellung folgt der Überlegung, die Charaktere der Fälle möglichst kontrastiv gegeneinander zu stellen. Es kommt bei jedem Fall ein neuer wichtiger Aspekt hinzu. In diesem ersten Kapitel kommt es zunächst darauf an, die Hypothese der Arbeit zu testen und das, was mit Forscherhabitus umschrieben wurde, aus der
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Mannigfaltigkeit fallspezifischer Besonderheiten heraustreten zu lassen. Die Interviews werden nicht vollständig wiedergegeben, sondern nur ihre Anfangssequenzen, soweit, dass ein Fall in seinen Konturen deutlich und die Habitusformation des Wissenschaftlers analytisch greifbar wird. Wir folgen dem Verfahren der Fallrekonstruktion also nur bis zu einem gewissen Punkt. Die persönlichen Verhältnisse interessieren nur insoweit, wie sie für die Beschreibung des Beruflichen wichtig sind. Auch die konkrete neurowissenschaftliche Fragestellung interessiert uns nur insoweit, wie sie für ein Verständnis der Fälle unverzichtbar ist. Im Zentrum stehen zunächst die persönliche Haltung zu Krise und Routine in der Wissenschaft. Die Interviews werden mit einer Frage eröffnet, die einen einladenden Stimulus setzen soll. Da wir möglichst direkt an den Forscherhabitus heran wollten, hatten wir uns folgende Frage überlegt: Gibt es etwas, das Sie in ihrer Arbeit als Wissenschaftler fasziniert? Die Präsuppositionen dieser Frage waren bewusst gewählt und sollten durchaus provozierend wirken. Die Frage unterstellt, der Beruf des Wissenschaftlers könnte entgegen landläufiger Meinung ja auch in langweiligen Routinen aufgehen und ohne innere Leidenschaft ausgeübt werden. Sie teilt gerade nicht die Auffassung, Wissenschaftler seien selbstverständlich von ihrem Gegenstand fasziniert und würden aus einer inneren Beseeltheit und Mission ihre Sache erforschen, sondern legt ganz im Gegenteil nahe, dass der Forscherberuf und die Tätigkeit eines Versicherungsagenten, der Policen verwaltet, sich vielleicht gar nicht weiter unterscheiden. Sie lädt also zur Explikation ein und versucht den Interviewpartner sozusagen bei der Ehre zu packen und verbaut zugleich die Möglichkeit allzu pauschaler und klischeehafter Erklärungen. Unsere Erwartung war, dass diese Frage einen guten Einstieg ermöglichen würde, weil sie dazu zwingt, die Quellen der eigenen Faszination im Beruf, so es sie denn gibt, konkret auszuführen und eine individuelle, persönlich gefärbte Antwort zu geben.
Fall 1: Dr. habil. Hellwein, Mediziner und Neurowissenschaftler „…dass man das, was man 1998 gemacht hat, 1999
nicht mehr macht“
Vorbericht Zum Einstieg ist das Gespräch mit Herrn Hellwein sehr gut geeignet. Hellwein ist in dem anatomischen Institut als Postdoc angestellt und Mitarbeiter von Prof. Mayer, einem führenden Hirnforscher in Deutschland. Er leitet innerhalb des Sonderforschungsbereichs ein eigenes Teilprojekt, in dem es darum geht, von regenerativen Prozessen der Nervenzellen auf die Ontogenese des Nervensystems und auf die Evolution der Nervenzelle schließen zu können. Hellwein gehört zu den Wissenschaftlern, die mit der Durchführung des Präparationskursus im Rahmen der Medizinerausbildung betraut sind. Er ist zum Zeitpunkt des Interviews 45 Jahre alt, stammt aus Ostdeutschland und hat sein Medizinstudium in Dresden abgeschlossen. Nach dem Studium ist er zusammen mit seinem damaligen Professor nach Süddeutschland gegangen, um dort in der Hirnforschung tätig zu werden. Ort des Gesprächs war das Arbeitszimmer von Hellwein. Abkürzungen und Notation I: der Interviewee Herr Hellwein A: der Interviewer X: Universitätsstadt in Süddeutschland Q: Frankfurt Z: andere Universitätsstadt in Süddeutschland *und* *aber*: gleichzeitig gesprochen aber: betont gesprochen (lacht): Anmerkungen des Verschrifters #: Abbruch (.), (..), (...), (x Sek.): Pausen (uv): unverständlich
150 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE I 2: was mich interessiert äh ist die Frage, ob es irgendetwas gibt, was in Ihrem Wissenschaftsalltag, in Ihrem Wissenschaftler-Handeln, äh so etwas gibt, was Sie besonders fasziniert und was Sie als besondere Quelle empfinden äh für äh...
Der Interviewer traut sich nicht, seine Frage nach dem Faszinierenden unverhohlen konfrontativ zu stellen. Er hätte das ganze Gespräch auch damit beginnen können, den Interviewee direkt nach dem Faszinierenden zu fragen: Gibt es etwas, dass Sie in Ihrer Arbeit fasziniert? Dies hätte deutlicher die Präsupposition ins Spiel gebracht: Eigentlich ist es doch nicht selbstverständlich, dass es etwas Faszinierendes gibt, eigentlich ist vieles sogar Routine und vielleicht ist es sogar langweilig zu forschen. Dies hätte den Interviewee noch stärker dazu provoziert, sich über das eigentlich Faszinierende seiner Arbeit klar zu äußern und es in den Vordergrund zu stellen. So steht die Frage etwas blasser im Raum. Der Interviewee ist gleichwohl aufgefordert, sich dem Antriebskern seines wissenschaftlichen Arbeitens zuzuwenden. Es geht nicht um die psychologische Dimension dieses Antriebs, sondern um das, was ihn vom Gegenstand her anzieht, mit dem sich der Forscher befasst. Faszinieren meint, dass etwas auf gesteigerte Weise nachhaltig die Aufmerksamkeit bindet und einen nicht loslässt, dass man es immer wieder beobachten und sich mit ihm beschäftigen mag. Von Faszination spricht man, wenn ein Gegenstand, eine Sache, ein Material die Quelle einer geistigen Erregung ist. Man möchte die Sache um sich haben, ihr nahe sein, alles über sie wissen, sie sammeln und oft auch anderen die eigene Faszination mitteilen. Sammler von Instrumenten des Barock oder afrikanischer Kunst, Liebhaber alter Platten oder ein Kind, das das erste Mal das Skelett eines Tyrannosaurus Rex sieht, sind fasziniert. Sie fühlen sich in den Bann geschlagen, das Objekt hat eine magische Wirkung auf sie. Die Frage dringt also darauf, die Quelle einer Leidenschaft offenzulegen. Erwartet werden kann, dass Forschern die Auskunft hierüber nicht schwer fällt. Allerdings ist die Frage allgemeiner gehalten und will wissen, was in der wissenschaftlichen Arbeit als solche fasziniert, dies geht über den aktuellen Forschungsgegenstand hinaus. Es wirft letztlich die Frage nach der Antriebsbasis zum Forschen überhaupt auf. Dies kann in eine autobiographische Antwort hineinführen, als auch eine Darstellung aktueller Fragestellungen oder Gegenstände nach sich ziehen, von denen er gerade aktuell fasziniert ist. A2: Also von der Biographie her oder jetzt aktuell?
Der Interviewee hat die verschiedenen Dimensionen der Frage gleich erfasst. Seine Rückfrage gibt zu erkennen, dass er mehrere Antworten auf die Frage geben könnte; wie selbstverständlich wird die Bejahung der Frage schon vorausgesetzt. Womit
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soll er aber beginnen? Von der Biographie her bietet an, in die eigene Lebensgeschichte zurückzublicken und dort die ersten Äußerungen einer Faszination an der jetzigen Tätigkeit aufzusuchen. oder jetzt aktuell bietet an, die Faszination von dem gerade aktuellen Forschungsprojekt aus zu entwickeln. Dass diese Unterscheidung überhaupt vorgenommen wird impliziert, dass von einer Kontinuität der Faszination ausgegangen wird. Es gab sie früher schon und sie hält heute immer noch an. Das ist gerade deshalb interessant, weil zugleich angedeutet ist, dass die aktuelle Faszination sich von früherer Faszination irgendwie auch unterscheidet, denn sonst wäre es sinnlos, zwei verschiedene Zugänge zu einer Antwort anzubieten. Das, was er aktuell macht, ist nicht in jeder Hinsicht dasselbe wie das, was er früher gemacht hat. Schon die Rückfrage zeigt, dass Herr Hellwein nur unterschiedliche Ausgangspunkte anvisiert, um von dort auf dasselbe zuzusteuern. Die Rückfrage will erreichen, dass die Frage nach der Faszination spezifiziert und eingegrenzt wird, um sie strukturierter beantworten zu können. Welcher der beiden Wege beschritten werden soll, bleibt dem Interviewer überlassen. Hellwein sagt also im Grunde: Ich bin schon immer von meiner Forschung fasziniert gewesen. Soll ich die Gründe dafür nennen oder soll ich beschreiben, was ich gerade mache? I 3: Möglichst beides. Also, vielleicht fangen Sie einfach mit dem Aktuellen an äh...
Die Reaktion des Interviews verhindert, dass die in der Frage enthaltene Spannung zugunsten einer der beiden Seiten aufgelöst wird. So bleibt die Umfänglichkeit der Frage erhalten. Der Interviewer gibt das Aktuelle lediglich aus pragmatischen Gründen vor, hält die Frage nach dem anderen jedoch aufrecht. A3: Ja also, was das Interessante eigentlich ist, das ist der Umstand, dass, um es ganz kurz zu fassen, dass man das, was man 1998 gemacht hat, 1999 nicht mehr macht.
Die Antwort erfolgt in lakonischer Knappheit. Das Interessante ist einmal als Synonym für „das Faszinierende“ zu verstehen, das nun ausgeführt werden wird, aber es ist auch so zu lesen, dass das, was nun gesagt wird, dem Sprecher selbst interessant vorkommt. Es drückt eine Verwunderung und Faszination im Status nascendi aus. Normalerweise sagt man, das Interessante daran oder das Interessante an etwas, und trägt damit dem Umstand Rechnung, dass ein Interesse immer auf eine konkrete Sache gerichtet ist. Wir können annehmen, dass das Interessante an der Forschertätigkeit gemeint ist, denn danach war gefragt worden. Was dann folgt, ist, wie er auch selbst sagt, eine zusammengeraffte Formel („um es ganz kurz zu fassen“), und hebt die Entwicklungsdynamik der Wissenschaft hervor. Was im letzten Jahr gemacht wurde, ist heute schon nicht mehr aktuell, weil sich die Fragen weiterentwickelt haben, alte Probleme gelöst wurden und neue Probleme hinzuge-
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treten sind. Dieses Fortschreiten ist eine Gesetzlichkeit, die der Forschung inhärent ist, und der Forscher ist es, der diese Dynamik voranbringt; und zwar alle Forscher, „man“ macht das. Diese entwicklungsdynamische Gesetzlichkeit gilt immer, ist erwartbar. Natürlich gilt diese Formel für viele Tätigkeiten. Ein Bauarbeiter wird auch nur sehr selten an ein und derselben Baustellen beschäftigt sein, an der er ein Jahr zuvor schon tätig war. Aber um diesen trivialen Sinn geht es nicht. Es soll etwas an der Tätigkeit des Forschens umrissen werden, das für sie in einem umfassenden Sinne typisch und konstitutiv ist. Die Praxis des Forschens erfährt aus ihr selbst den Impuls zu einer Entwicklung, in der sich Problemstellungen fortwährend neu ergeben und nach neuen Problemlösungen gesucht werden muss. Die Entwicklung ist in eine offene Zukunft hinein gerichtet und konfrontiert den Forscher ständig mit neuen Herausforderungen. Gleichzeitig weiß der Forscher immer schon um diese Entwicklungsdynamik und ist auf sie eingestellt. Sie macht den eigentlichen Reiz seiner Tätigkeit aus. I 4: Aha. A 4: Das heißt, es ist ein Unterschied zu eigentlich sehr vielen Berufsgruppen,
Die Wissenschaft wird aus der Berufswelt herausgehoben und eine Kontrastierung eingeleitet. Die meisten anderen Berufe sind nicht von eine vergleichbaren Dynamik geprägt. Der Satz präsupponiert, dass jene Merkmale für den ganzen Berufsstand und nicht bloß für Herrn Hellwein zutreffen. dass man praktisch immer einen Schritt weiter geht.
Das skizzierte Modell wird nun ausbuchstabiert. Hellwein lehnt sich an die Logik des Gehens und Voranschreitens an, es werden ein Ausgangspunkt und ein Ziel unterstellt, zwischen denen eine Strecke liegt, die durch Bewegung überwunden wird. Jeder Schritt bringt etwas Neues, verlässt das Altbekannte, erzeugt neues Wissen, und ist darum nicht Teil eines routinehaften Bewegungsablaufs, sondern selbst krisenhaft. Die Strecke ist nicht bekannt und muss ertastet oder erschlossen werden. Man fühlt sich an das Bergwandern erinnert, bei dem der Pfad zu einem Gipfel noch nicht bekannt ist. Forschen bedeutet „in der Sache voranzukommen“, und Schritte einer Annäherung zu vollziehen. Das ist ein zentraler Unterschied zu vielen anderen Berufen, in denen die Abwicklung von Routinen vorherrscht, die man schon kennt und deren Ausführung nur bedingt etwas Neues enthält. Man macht irgendwo was und geht dann auf dem Gebiet weiter. Wenn ich jetzt wieder auf das Gespräch von heute früh zurückkomme, wenn ich jetzt)n Medizinerausbildung mach,
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dann bin ich irgendwann irgendwo Facharzt oder so (..), meinethalben zur Chirurgie, weil wir das Beispiel auch schon hatten, und dann ist es irgendwann mein Job, meinethalben Blinddärme zu operieren.
Als Kontrastbeispiel wird der Chirurg erwähnt. Daran ist interessant, dass eine minimal differente Kontrastierung gewählt wird, um die Differenz zum Forscher kenntlich zu machen. Der Vergleich mit einem Büroangestellten oder Lagerverwalter wäre viel exponierter gewesen hinsichtlich des Aspekts der Routine. Aber die Chirurgie ist aus seiner Sicht offenbar ausreichend, um den Unterschied zur Forschung zu verdeutlichen. Das ist umso auffälliger, als die ärztliche Tätigkeit und zumal das Chirurgische selbst Inbegriff einer krisenzugewandten Tätigkeit sind. Kaum ein Beruf hat so oft mit lebensbedrohlichen Akutkrisen zu tun, wie der klinisch tätige Chirurg. Überdies macht auch er fortwährend Erfahrungen in der Behandlungspraxis und bildet sich fort. Doch der Arztberuf ist für Dr. Hellwein trotzdem mehr geprägt von Routinen, wenn man ihn mit dem Forscherberuf vergleicht. Was ist damit gemeint? Der Arzt bedient sich Techniken der Diagnostik und Therapie, die sich zwar mit dem Stand des Wissens und der Erfahrung fortentwickeln, die sich aber auf weitgehend gleichbleibende Krankheitsbilder beziehen. Die Blinddarmentzündung kann zwar kritisch verlaufen, aber das ist weniger für den Arzt dramatisch, als für den Patienten. Der Arzt hat eine relativ gleichbleibende Problemlage vor sich, die er irgendwann beherrscht. Die Prozeduren der Durchmusterung von Symptomen und Krankheitsbilder sowie das fachgerechte Abarbeiten von Behandlungsschritten zur Behebung der gesundheitlichen Krise sind ihm irgendwann vertraut. Wenn sie ihren Zweck erfüllen, ändert er nichts mehr daran. Es gibt keine Notwendigkeit dazu. Herrn Hellwein dient dies als Kontrapunkt zur wissenschaftlichen Forschung. Die Tätigkeit dort ist davon geprägt, dass es ständig Neues gibt und dass der Prozess gerade darauf angelegt ist. Natürlich gibt es auch in der Forschung wiederkehrende Routinen, doch stehen sie nicht im Zentrum. Auf welcher Ebene liegt also diese Kontrastierung zwischen Arztberuf und Wissenschaftler? Es ist vor allem die intellektuelle Herausforderung, die er in der Wissenschaft besonders hoch veranschlagt. Man kann an diesem diffizil angesetzten Vergleich den Eindruck gewinnen, dass der Interviewee ein biographisch besonders nahes Verhältnis zum Arztberuf haben muss, sonst hätte er vermutlich ein anderes Beispiel gewählt. Es liegt nahe, dass er den Arztberuf aus seiner Familie kennt, möglicherweise hat er ihn selbst einmal angestrebt und sich dann anders entschieden. Er muss ihm jedenfalls ziemlich klar vor Augen stehen, um die Differenz so sicher benutzen zu können. Die Krise des Lebens, welche durch ärztliche Intervention abgewendet werden kann, erscheint ihm nicht so faszinierend wie die Krise der Geltung von Wissen, die dazu anhält, alte Erkenntnisse fallen zu lassen und neue Erkenntnisse anzustreben.
154 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE I 5: Mmm. A 5: Das mach) ich heute, und das mache ich nächste Woche, und das mache ich äh in einem Jahr (..), natürlich mit gewissen Veränderungen, die Techniken ändern sich, obwohl das ist immer das gleiche, das ist praktisch ein routinierbarer Alltagsablauf.
Dass der Arzt am Morgen nie weiß, welche Fälle und Herausforderungen der Tag ihm bringen wird, ist für Dr. Hellwein nicht entscheidend. In seinen Augen nähert sich die Tätigkeit des Arztes zunehmend einem von Routinen beherrschten Handeln an und geht letztlich darin auf. Selbst von den technischen Innovationen sieht er keinen Impuls der Erneuerung ausgehen, obwohl er das zunächst konzedieren will. Hellwein hebt also ganz auf die Tätigkeit selbst ab und die Herausforderung, die von ihr für den Intellekt und die Erkenntnisneugierde ausgeht. Was hier etwas überzeichnet scheint, trifft gleichwohl einen wichtigen Punkt: Man wird professionalisierungstheoretisch unterstellen müssen, dass die intellektuelle Neugierde als Antriebsmotivation für den Arztberuf gar nicht das Führende ist, sondern die kurativen Motive „Helfen“, „Retten“, „im Sterben und Kranksein Begleiten“, sodass die Ärzte jene Amplifikation an Routinen nicht als Quelle von Langeweile, sondern als Gewinn persönlicher Souveränität in der Krise eines Patienten empfinden werden. Wenn man das so gegeneinanderstellt, erkennt man aber besonders klar Hellweins Motiv: Er will gar nicht praktische Krisen bewältigen, sondern intellektuelle Krisen, methodische Geltungskrisen. Hier ist das ein bisschen anders,
Hier meint: bei uns im Labor, hier in der Forschung. ein bisschen anders schwächt die Differenz nur scheinbar wieder ab. In Wirklichkeit wird damit gesagt: Der Unterschied ist weder klein noch groß, sondern konstitutiv. Es ist eine Differenz ums Ganze. (.) man macht irgendetwas und hat irgendein Ergebnis
Nun wird der Gedanke vorbereitet, dass der Forscher nicht weiß, welches Ergebnis er haben wird. Ein Arzt könnte nicht sagen, dass er nach der Operation irgendein Ergebnis hat oder dass er auch nur auf ein ungewisses Ergebnis hin operiert hat, er will vielmehr ein bestimmtes Ergebnis, nämlich die Entfernung des entzündeten Blinddarms. Beim Forschen ist das anders: Es bringt etwas Unbekanntes hervor, das dann interpretiert werden muss. Und das ist im Prinzip immer so: Das unbestimmte Nominativpronomen irgendein besagt, dass hier exemplarisch gesprochen wird. und muss dann überlegen, wie geht denn das eigentlich weiter (.)
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Der Interviewee drückt die Logik des Forschungsprozesses auf einfache und doch präzise Weise aus, indem er nüchtern seinen Ablauf schildert. Erst macht man irgendetwas, das heißt, man führt eine Untersuchung durch, die zu einem Befund oder einem Datum führt, damit hat man ein Resultat, etwas Verwertbares. Dann hat man das Problem, es richtig auszudeuten und seine Bedeutung für den weiteren Forschungsprozess einzuschätzen. Der Forscher muss in eine Phase der Analyse eintreten und sich darüber Klarheit verschaffen, was er eigentlich gemacht hat. Er muss Schlussfolgerungen aus der Datenlage ziehen. Anschließend hat er sich die nächsten Schritte zu überlegen. Wie selbstverständlich wird der Forschungsprozess als Einheit von handlungslogischen und erkenntnislogischen Momenten betrachtet. Forschung ist Handeln, aber Forschen ist auch Nachdenken, Rekonstruieren. Beide Momente sind Teil eines einzigen Handlungsablaufs, dominieren aber verschiedene Phasen, die aufeinander folgen und auseinander hervorgehen. Forschung ist also ein sequentieller und zugleich rekursiver Prozess, bei dem es immer wieder Phasen gibt, in denen der Ausgangspunkt im Lichte einer neuen Lage rekonstruiert und der nächste Schritt entworfen werden muss. und was sind denn eigentlich die nächsten Fragestellungen? Und das kann (.) also inhaltlich wie auch vor allen Dingen technisch kann sich da (.) vieles verändern.
Automatisch richtet der Forscher den Blick auf nächste offene Problemstellungen, die aus dem resultieren, was an neuem Wissen dazugekommen ist. Jedes Problem verlangt neue Lösungsstrategien und Ansätze und das schließt auch technische und methodische Neuerungen mit ein. Auch die experimentellen Techniken und Methoden entwickeln sich weiter, so dass man sich fragen muss, mit welchen Instrumenten man was erreichen kann. Die Entwicklung der Techniken in der Wissenschaft ist also ein eigenständiger Parameter der Entwicklungsdynamik der Wissenschaft. Und das ist eigentlich das Interessante an den an der Forschung schlechthin.
Mit dieser Formel wird der Gedankengang vorläufig abgeschlossen. In wenigen Sätzen hat der Interviewee eine prägnante Kurzbestimmung gegeben, was er als innere Strukturgesetzlichkeit des Forschens ansieht. Er geht dabei von der Tätigkeit und nicht von einem konkreten Gegenstand aus. I 6: Gut, ja ähäm. Und was ist das äh (.) gibt es auch was Faszinierendes am Gegenstand selbst? Weil was Sie da genannt haben, ist ja (.) also ist z.B. (..) das würde ich für mein Fach genauso sehen.
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Der Interviewer ist bemüht, den vermeintlichen Abschluss der Antwort aufzuhalten, indem er die Frage nach dem Faszinierenden nochmals variiert. Er weicht auf den Unteraspekt aus, wie sich die Faszination in den verschiedenen Fächern und von ihren Gegenständen her darstellt. Die Frage war offengeblieben. Wie stellt sich also die Faszination im Konkreten dar? Dies berührt auch die Frage, wie die Vorliebe für einen bestimmten Untersuchungsgegenstand zustande gekommen ist und worin sie besteht. Die Fraglichkeit verschiebt sich vom Faszinierenden an der Forschung hin zur Faszination des konkreten Gegenstands. A 6: Ja aber die Frage ist, ich hätte mir genauso gut vorstellen können, puhh (.) z.B. Geschichte zu studieren... I 7: Ja? A 7: ...und (.) was weiß ich, im Irak oder in (.) Syrien oder in (.) in Italien irgendwo zu graben, und dann macht man dies und jenes und man setzt ein Puzzle zusammen an )ner Stelle, wo irgendwo in der Literatur noch irgendwas offen ist. Findet da was rein, was vielleicht mehr oder weniger bedeutend ist und macht dann irgendwie so weiter, das hat jetzt mit den Berufssachen nichts zu tun. Das ist jetzt also nicht so, dass ich jetzt irgendwie die Nervenzelle als was ganz besonderes äh herausheben will. Das ist aber nur eine Möglichkeit, die man also zufällig irgendwie gewählt hat (.) das könnte genauso gut was anderes sein.
Der Interviewee beharrt auf seiner Linie und betont die Universalität des Forscherhabitus und die tendenzielle Auswechselbarkeit des Fachgegenstandes. Das ausgeatmete „puhh“ signalisiert, dass er sich gerade ein mehr oder weniger beliebiges anderes Fach ausdenkt, um dies zu unterstreichen. Er will nicht sagen, er hätte wirklich Geschichte studieren wollen, sondern dass er es im Prinzip hätte machen können, weil sich die Forschung dort genauso verhält. Für seinen Punkt ist die Frage nach dem spezifischen Gegenstandsinteresse eher zweitrangig. Damit ist aber nicht gesagt, dass dieses Gegenstandsinteresse unbedeutend sei, sondern nur, dass er sehr viele verschiedene Interessen hat, denen er auch nachgehen könnte: nicht diese an den Dingen anhängenden Interessen sind führend, sondern die Leidenschaft für das Erforschen der Dinge. Unser Argument eines exemplarischen Charakters des Forscherhabitus findet hier sehr deutlich eine Entsprechung. Das Graben in Syrien oder Italien veranschaulicht das nur. Graben ist ein archäologisches Verfahren, um Unbekanntes zu Tage zu fördern und Verschüttetes freizulegen, das einer Auswertung zugeführt werden soll. Der leitende Gesichtspunkt ist auch hier, einer Sache auf die Schliche zu kommen. Das Bild vom Puzzle beleuchtet dann eine weitere Seite, die Herstellung eines Gesamtbildes aus einzelnen Teilstücken. Am Ende muss ein stimmiges Bild herauskommen, von dem beim Zusammensuchen der einzelnen Teile noch niemand weiß, wie es aussehen wird. Das Bild vom Puzzle wird an anderer Stelle noch ausführlich behandelt werden.
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Es ist klar, dass die Nervenzelle durchaus ein besonderer Gegenstand für Hellwein darstellt, aber er will auch vermeiden, dass dies falsch ausgelegt wird. Er wendet sich gegen das mögliche Missverständnis, der Wissenschaftler würde als Experte seines Fachgebietes nur Sinn für seinen Spezialgegenstand haben. Die Nervenzelle ist für ihn kein Steckenpferd, sondern Mittel zum Zweck. Dieses Verständnis legt eine Struktur des Forscherhandelns frei, die nicht von den spezifischen Gegenständen der Wissenschaften und nicht von den durch diese Gegenstände bedingten spezifischen Methoden- und Fachkulturen einer Disziplin hergleitet ist, sondern von einer handlungslogischen Bestimmung. Das Handeln folgt einer Logik der Überbietung und Selbstüberbietung, weil es von vornherein darauf angelegt ist, geltendes Wissen zu überprüfen. Hellwein unterstellt, dass sich diese Handlungslogik an jedem beliebigen Gegenstand entzünden kann. Damit wird implizit der gerade in Deutschland sehr verbreiteten, auf den Neukantianismus zurückgehenden Annahme widersprochen, dass die Differenzen der Fachkulturen der Wissenschaften so elementar seien, dass man die Wissenschaften als zwei oder drei Kulturen beschreiben müsse. Es ist aufschlussreich, dass Dr. Hellwein gerade ein Beispiel aus den Geistes- und Geschichtswissenschaften wählt, um die Austauschbarkeit des Forschungsgegenstandes zu unterstreichen. Er spannt einen großen Bogen, um die Elementarität herauszustellen. Das Gemeinsame ist das Basale, nicht das Trennende. Ob ein Forscher in der Naturwissenschaft oder in der Geschichte oder in der Archäologie arbeitet, ist bezogen auf die Grundform seiner Tätigkeit zweitrangig. Forschen ist überall dasselbe. Also sind die fraglos gegebenen Unterschiede der Fachkulturen nicht in der Forschertätigkeit selbst begründet, sondern in den Spezifika der Sachgebiete, die bestimmte Methoden und Arbeitsweisen erfordern, im Entwicklungsstand eines Faches, oder in den je spezifischen historischen Gründungskonstellationen der Fachinstitutionen. Dem entspräche unsere These, dass bei der Ausbildung des Wissenschaftlers die Einübung in die Strukturgesetzlichkeiten der Praxis des Forschens stets exemplarisch erfolgen muss. Um seine These zu verdeutlichen, stellt Hellwein die Zufälligkeit seines persönlichen Werdegangs heraus. Der Zufall wird auch noch an anderer Stelle behandelt werden. Gesagt wird damit, dass es für Hellwein nachgeordnet ist, warum er sich gerade der Nervenzelle zugewandt hat. I 8: Und ist das nur zufällig oder (.) äh in Ihrem Fall, oder äh... ?
Der Interviewer interveniert. Er legt nahe, dass es vielleicht auch Motive und Determinanten gab. Das zielt auf eine Erklärung der Berufswahl und der Karriere bis zu dem Punkt, an dem die Nervenzelle offenbar ihre Wichtigkeit erhalten hat. A 8: Also gut, das ist jetzt eine biographische Geschichte...
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Die Frage bedeutet für ihn eine gewisse Themenverschiebung. Eben ging es um die Forschungslogik, jetzt um den persönlichen Werdegang. Dazu sind andere Überlegungen anzustellen. Es müssen die Weichenstellungen der eigenen Biographie in den Blick genommen werden. I 9: Ja, deswegen... A 9: ...weil... I 10: ...Kann man ja gar nicht so genau trennen voneinander, diese Fragen. A 10: Mein Vater selber ist äh Anästhesist (.) und deswegen kenn ich )n bissl seit klein auf das, was man da machen muss,
Der Interviewee kennt also den Arztberuf aus seiner nächsten Umgebung. Als Arztsohn weiß er um die Anforderungen und Besonderheiten des Berufs. NҲbissl seit klein auf drückt dabei eine rhetorische Gegenläufigkeit aus. NҲbissl deutet an, dass nicht in Anspruch genommen wird, den Beruf selbst ausüben zu können oder alles darüber zu wissen; er ist nicht selbst Anästhesist. ...seit klein auf deutet aber an, umfassenden Einblick erhalten zu haben: Ich habe als Kind schon alles kennengelernt, worauf es da ankommt, mir ist das sehr vertraut. Das ist eine spannende Stelle, denn im Kern weist sie uns auf eine erste biographische Weichenstellung hin. Mit dem Arztberuf seines Vaters ist er groß geworden, die dort erforderlichen Tätigkeiten sind ihm so vertraut, wie der Vater selbst. Was man da machen muss, ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen, weil er es x-mal beim Vater beobachten konnte. Er hat seinen Vater so oft über dessen Tätigkeit erzählen hören oder im Krankenhaus besucht, dass ihm viele Details des „ärztlichen Milieus“ geläufig sind. Er kennt auch die Misserfolge und was alles passieren kann. Das schreckt ihn nicht, weil sein Vater damit ja tagtäglich zu tun hatte. Er hat ein Primärwissen, dessen Anschaulichkeit an keiner Universität zu erwerben ist, und er kennt die Erfahrungswelt eines Anästhesisten von Innen. Doch gleichzeitig ist er selbst kein Anästhesist, kein Arzt, hat keine ärztlichen Routinen und keine Expertise. Er hat nur jenes kindliche Beobachtungswissen, das sich aber nicht weiter entwickelt hat, nicht das Berufswissen selbst, das erst aus der Praxis und eigener Verantwortung hervorgeht. So spricht aus ihm eine familiäre Vertrautheit, aber auch das Bewusstsein, nicht wirklich als Arzt sprechen zu können, denn er selbst ist einen anderen Weg gegangen. Die Vertrautheit ist aber der Ausgangspunkt. Und auch der Arzt ist ja bereits als Wissenschaftler ausgebildet, auch wenn er selbst nicht forscht. Es war also in seinem elterlichen Milieu vorgebildet, den Beruf des Forschers zu wählen, doch es hätte auch eine andere Entwicklungslinie gegeben. und ich hatte da praktisch zu Abiturs Zeiten hatte ich gar keine Vorstellungen, was ich eigentlich werden (.) werden (.) wollte. Und (.) da hat er gesagt: ‚kuck Dir doch das Krankenhaus einfach mal an, arbeite mal dort.‘ Und da bin ich dann zufällig in ein klinisch-chemisches La-
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bor gekommen (.) die haben auch Hämatologie, also gewisse Untersuchungen gemacht.(...) Und (.) da hatte ich denn die Möglichkeit, relativ eigenständig zu arbeiten. Und da habe ich dort angefangen zu biologische Zusammenhänge eigentlich zu interessieren. Deswegen bin ich (?) praktisch nach dem Abitur in die Richtung gegangen.
Hellwein folgt dem Rat seines Vaters, als er nach dem Abitur nicht weiß, was er machen will, und macht im Labor des Krankenhauses eine Art Praktikum oder Ausbildung. Dort kommt er mit Untersuchungen zu Blutplasma und Zellkulturen in Berührung und kann offenbar selbständig arbeiten. Dies reicht ihm als Stimulus aus, um den Weg weiter zu verfolgen. Er schildert die Geschichte erneut so, als ob die Zufälligkeit der Ereignisse im Vordergrund stünde. Das drückt aus, dass er seiner persönlichen beruflichen Entwicklung in relativer Offenheit entgegengesehen hat und sein Leben nicht aus einem festgelegten Lebensplan heraus angegangen ist. Er hat es auf sich zukommen lassen. Faktisch ist aber seine Erfahrung im Labor im höchsten Maße auch determiniert gewesen, denn er muss eine Empfänglichkeit für die dort anzutreffenden Aufgaben bereits gehabt haben, sonst hätte ihm die Arbeit kaum Spaß gemacht. Zudem ist er dem Rat des Vaters offenbar bereitwillig gefolgt. Er hat ihm also vertraut und die Arbeit im Labor nicht als Zeitverschwendung für sich angesehen. Es liegt nahe, dass der Vater seine Interessen in einer für ihn kritischen Lebenssituation, in der die Berufswahl anstand, angemessen ausgelegt hat, ohne sich ihm aufgedrängt zu haben. Dass Hellwein den väterlichen Rat angenommen hat, spricht für ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen den beiden. Es wird auch so erinnert: kuck Dir doch das Krankenhaus einfach mal an, arbeite mal dort... Der Ton dieser Rede ist zugeneigt und drückt aus, dass der Vater die Unentschlossenheit des Sohnes erkennt und auf den Anregungsreichtum einer Laborerfahrung setzt. Der Vater schafft Gelegenheiten und zieht seinen Sohn in die Arbeit seiner Profession hinein. Und der lässt sich darauf ein. Ohne die Anregung durch seinen Vater wäre Hellwein wohl nicht in dieses Labor gegangen, hätte nicht angefangen, sich mit Blut zu befassen, wäre wohl nicht dazu gekommen, sich auf diesem Wege für biologische Zusammenhänge zu interessieren. Es hätte auch eine andere Einrichtung, es hätten auch Gewebeproben oder gar ein anderes Fachgebiet sein können. Und das hat mich mal interessiert. (...) Also ich...
Heute interessiert es ihn nicht mehr. Blut war aber ein wichtiges Zwischenstadium in der Entwicklung des wissenschaftlichen Interesses. I 11: Und was genau war das dann, also unter klinisch-chemischen Forschungen macht man A 11: ...macht man alle möglichen, macht man alle möglichen Analysen. Ich hab mich da praktisch ein bisschen drauf spezialisiert auf das Gebiet äh Knochenmark-Blutbilder-
160 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE Differenzierung, wenn ich also (.), das ist im Grunde genommen das, was dort an der (.) an der Platte hängt, [zeigt auf eine Abbildung an der Wand] die verschiedenen Zelltypen, wann treten die auf, also alles, was in dem großen Verbund von Leukämien und so weiter äh subsumiert wird. Das ist praktisch wie so)n Einstieg: willkommen in der Biologie.
Eine Untersuchung der Blutbilder des Knochenmarks wird in der medizinischen Diagnostik eingesetzt, wenn Symptome auf eine Veränderung der Zusammensetzung des Blutes hinweisen. Das Knochenmark ist das wichtigste blutbildende Organ im menschlichen Körper. Wenn hier von Zelltypen die Rede ist, dann ist folgender Zusammenhang herausgestellt: Das Blut setzt sich aus einer Vielzahl von Zellarten zusammen, die jede für sich wichtige Funktionen im Blutkreislauf übernehmen: Transport von Nährstoffen, von Informationen, Erkennung von Fremdkörpern usw. Diese Zellarten entwickeln sich wahrscheinlich alle aus einer einzigen Stammzelle des Blutes, dem Hämozytoblast, das sich durch Zellteilung vermehrt und in die verschiedenen Zellarten differenziert. Jedem Zelltyp entspricht eine spezifische Entwicklung, die viele Tage dauern kann und viele Phasen mit Vor- und Zwischenprodukten durchläuft, bis eine reife Blutzelle in den Blutkreislauf eingespeist wird. Leukämie bezeichnet als eine Unterart des Blutkrebses eine Erkrankung des blutbildenden Systems, wobei es verschiedene Formen gibt, die zu unterschiedlichen Lebensphasen auftreten. Leukämie geht auf eine übermäßig starke Zunahme weißer Blutkörperchen zurück, die im Knochenmark andere Blutkörper verdrängen und den regulären Prozess der Blutbildung insgesamt stören. Diese Krebszellen können auch in die Blutbahn gelangen und viele Organe, Milz, Leber oder Lymphknoten in ihrer Funktion beeinträchtigen. Leukämiezellen wachsen also dysfunktional und führen ein unerwünschtes Eigenleben im Blut, das zur Unterversorgung mit funktionstüchtigen Zellen führen kann. Je nachdem, welche Zellenart im Blut betroffen ist und den Ausgangspunkt bildet für das unerwünschte Wachstum, lassen sich auch für die Leukämiezellen verschiedene Typen und Entstehungsprozesse unterscheiden. Davon ist hier die Rede. Die Frage, wann treten die auf, rechnet mit Gesetzmäßigkeiten und einer Korrelation zwischen dem Nachweis einer solchen Leukämiezelle und einer bestimmten Konstellation oder Phase im Entstehungsprozess. Wann kann zeitlich gemeint sein, ist jedoch auch konditional zu verstehen. Hellwein hat sich also schon gleich nach dem Abitur mit sehr grundlegenden Fragestellungen des Zellwachstums befasst. Für uns ist entscheidend, dass er rückblickend seinen Einstieg als Spezialisierung beschreibt, die aber nicht zu einem Spezialistentum geführt habe, wie zuvor betont, sondern eine exemplarische Aneignung von Fragestellungen der Biologie ermöglicht hat. Er hat sich auf ein konkretes Untersuchungsgebiet eingelassen, weil ihn das Forschen selbst angezogen hat. – Willkommen in der Biologie bringt dies in der schon bekannten Lakonie zum Ausdruck. Der Aufruf stellt den Übertritt in die Wissenschaft dar und drückt aus, dass dieser Übertritt durch den Vollzug des Forschens selbst geschehen ist. Er hat sich
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mit einem Tun und Einlassen auf die konkrete Sache ergeben und war so gesehen ganz einfach und gar nicht an Studium, Prüfungen und akademische Grade gebunden. Die Biologie ist hierin vorakademisch, als freie Assoziation von Leuten, die an der Sache interessiert sind, aufgefasst, noch nicht als Beruf und formelle Laufbahn. Willkommen in der Biologie stellt den Ausruf einer Begrüßungshandlung nach, und zwar die Begrüßung in einem Aufnahmeritual. Es ist jedoch nicht der Satz eines Universitätsdekans, der zu Beginn einer Vorlesungsperiode die Erstsemester begrüßt. Es ist der Übertritt zum inneren Beruf des Forschers gemeint. Wer diesen inneren Beruf einmal betreten hat, ist bereits in der Biologie. Und (.) dann hab ich das natürlich durch den ...(?) ich hab halt vorneweg gewusst, dass eben so)n so)n großer Routinebetrieb, das ist eigentlich nicht das, was ich wollte. Also das stand fest, die Biologie hat mich (.) dann doch irgendwo fasziniert.
Die Erfahrung in der Klinik hat ihm also einerseits den Weg in die Forschung eröffnet, andererseits aber stand schon fest, dass er die ärztliche Laufbahn nicht anstreben würde. Er hat die Kliniklabors für sich genutzt, um seine Forschungsinteressen vertiefen zu können, zugleich aber plastisch eine Welt vor Augen gehabt, in der er nicht bleiben wollte. Er hat sich also den Zweck, dem eine Klinik dient, Heilung und Behandlung, nie zu Eigen gemacht. Auch die Betriebsgröße hat ihn offenbar abgeschreckt. Ich hatte damals ganz gute Ausbilderinnen, die haben das dann auch gefördert, und (atmet tief aus) dann hab ich halt Medizin studiert, da hab ich auch lange nicht gewusst, was ich da eigentlich (atmet aus) machen soll (atmet aus) oder will, ich wollte erfrischende(?) Sachen,
Offenbar war seine Tätigkeit in dem Labor mehr als nur ein Praktikum, denn wenn er eine Ausbildung genossen hat, kann er nicht bloß als Hospitant dort gewesen sein. Dass die Ausbilder weiblich waren, spricht für einen Lehrgang zum Laborassistenten. Die weiblichen Ausbilder hatten seine Begabung jedenfalls erkannt und gefördert. Ihnen ist er immer noch dankbar, was er durch seine Wertschätzung der Qualität ihrer Lehrleistung bekundet. Offenbar ist seine Entscheidung für ein Medizinstudium aber nicht wirklich freiwillig getroffen worden. Er schildert das so, als ob er sich hat erweichen lassen, obwohl damals schon klar war, dass er nicht wirklich am Arztberuf interessiert war. Er konnte offenbar noch keine eigenen Pläne dagegenhalten und bedauert das im Nachhinein etwas, denn er hat dann wohl im Laufe des Studiums gemerkt, dass die Medizin seine Bedürfnisse nicht befriedigt. Das auffällige Ausatmen lässt erahnen, dass er mit dem Gang der Dinge noch heute hadert. Vielleicht hat er sich auch seinem Vater zuliebe auf Medizin eingelassen und den Schritt in die reine Grundlagenwissenschaft erst später gehen können. Viel-
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leicht spielen aber auch noch andere Gründe eine Rolle, wie etwa ein Numerus Clausus oder die Zuteilung eines Studienplatzes in der DDR. Erkennbar ist allerdings, dass die Entscheidung für den Forscherberuf eigentlich schon gefallen war. Hellwein hat das Studium der Medizin aufgenommen, weil es aus irgendwelchen Gründen das einfachste war. Aber er hat innerhalb der Medizin keinen Ansatzpunkt gefunden, um seine Interessen zu organisieren. Anders als in dem Labor, in dem er offenbar sehr viel Unterstützung und Fürsprache erfahren hat, hat das universitäre Lehrangebot ihn nicht für die Medizin begeistern können. Der Forscherperspektive wurde kein Platz für Entfaltung gegeben. Das Wort erfrischende Sachen legt nahe, dass er Erstarrung und Stillstand vorgefunden hat. Was er gelehrt bekam, ist ihm schal und abgestanden vorgekommen, ohne Aussicht auf Besserung. Das könnte darauf hinweisen, dass die Medizin auch deshalb zum Kontrapunkt der Forschung für ihn geworden ist, weil sie in der Universität, an der er sie kennengelernt hat, besonders unlebendig betrieben wurde. Wahrscheinlich drückt sich hierin der Einfluss des Wissenschaftssystems der DDR aus, das auf einer strikten Trennung zwischen der Forschung, die an der Akademie der Wissenschaften angesiedelt war, und der Medizinerausbildung an den Universitäten, beruhte. so)n bissl in Richtung Pathologie,
Innerhalb der medizinischen Teildisziplinen ist die Pathologie das Fach, in dem am ehesten die Grundlagen studiert werden können, weil man in ihr per se handlungsentlastet arbeitet. Die Pathologie hat die Aufgabe, für die behandelnden Ärzte herauszufinden, wodurch ein Organ tatsächlich geschädigt worden ist und ob eine Diagnose, die unter Bedingungen der Zeitknappheit gefällt werden musste, richtig oder falsch war. Sie behandelt als wissenschaftliches Fachgebiet die Untersuchung und Lehre der abnormen und krankhaften Veränderungen im menschlichen Organismus und versucht diese zu erklären und systematisch einzuordnen. Zu diesem Zweck erforscht sie Ursachen der Krankheiten sowie ihre Entstehung und versucht deren theoretische Interpretation.1 Die Pathologie hat folglich am ehesten die Möglichkeit geboten, jenseits der Behandlungspraxis biologische Systeme zu untersuchen. In der Pathologie setzt sich außerdem das Thema der krankhaft veränderten Blutzellen fort. die hatte ich auch so ein bisschen angepeilt (.) und (.) Anatomie war überhaupt nicht im Fokus, wie gesagt, weil (.) da hat man immer so ein Bild, die sezieren Leichen und das machen die tagein und tagaus.
1
Vgl.: Pschyrembel. Stichwort Pathologie. S. 1157
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An dieser Stelle berührt das Gespräch erstmals die aktuelle Forschungsarbeit. Man kann schon erahnen, dass die Anatomie letztlich das Fach geworden ist, in dem er seinen Abschluss gemacht hat. Das war zur damaligen Zeit aber noch nicht vorauszusehen. Dass er mal in der Anatomie landen würde, hätte er sich damals nicht denken können, weil er die Anatomie nicht mit lebendiger Forschung verbunden hat. Die Vorbehalte gegen dieses Fach haben etwas anderes vermittelt. Wieder steht die Aversion gegen die Erstarrung in Routinen im Vordergrund. Die sezieren Leichen und das machen die tagein tagaus. Der Vorbehalt gegen die Anatomie ist nicht in der Scheu vor den Leichen begründet, sondern in der Eintönigkeit einer sich ständig wiederholenden Tätigkeit. Hellwein ist ja auch heute noch an der Ausbildung der Mediziner und der Durchführung des Präparationskurses beteiligt. Und dann damals in der (.) Arbeitsgruppe von F. damals in Q., da habe ich eigentlich das erste Mal gesehen, dass Anatomie eigentlich viel mehr sein kann als nur so)n Routinebetrieb, Lehrveranstaltung, ja blablabla.(.)
Professor F., ein heute weltberühmter Hirnforscher, hat damals offensichtlich Anatomie so betrieben, dass es für Hellwein möglich wurde, seine Interessen dort zu entwickeln. Er ist über die Person zum Fach gekommen. Aber das war keine Gefolgschaft, die der Person selbst galt, sondern der von F. besonders verkörperten Sache. Prof. F. ist es offenbar gelungen, die Logik der Forschung in der Anatomie jenseits der Pflichten medizinischer Routinearbeit mitreißend zu entfalten. Und über die Doktorarbeit bin ich dann halt (.) in den Job hier rein gekommen. Das war halt alles experimentell, das hat mir auch gut gefallen, da konnte man auch vieles selber einbringen, man konnte sich selber entfalten, was man ja als normaler Angestellter z.B. in der Klinik ja gar nicht kann, weil es da gerade Aufgaben zu ordnen gibt und entsprechend des Dienstgrades dann auch Verantwortlichkeiten und so weiter und so fort...
Eine innere Verbindung von persönlichen Interessen und Beruf hat sich eingestellt, als sich Hellwein wieder die Gelegenheit zum selbständigen Arbeiten bot. Prof. F. hat ihm diese Möglichkeit gegeben und Hellwein hat sie genutzt. Als Doktorand wurde er von seinen Kollegen ernst genommen, seine Argumente und Ideen zum Gesamtprojekt fanden Berücksichtigung. Er konnte selbst etwas entwickeln. Das hat ihn enger an das Forschungsprojekt gebunden. Er hat kein isoliertes Dasein geführt. In der experimentellen Arbeit konnte er seinem Drang zu Neuem nachgehen, was ihm Spaß gemacht hat. Es hat Hellwein also überall dort gefallen, wo er die Freiheit hatte, eigene Ideen selbst zu verwirklichen, die dann in ein übergeordnetes Projekt eingespeist wurden und so ihren allgemeinen Wert fanden. Dem entspricht ein enges Schüler-Meister-Verhältnis zu seinem Institutsleiter Prof. F., das dem
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Verhältnis zu den Ausbilderinnen und dem Vater ähnelt, es fortsetzt. Er war institutionell eingebunden, wurde gefördert und man hat ihn machen lassen. Dagegen ist ihm die Arbeit in der Klinik viel zu fremdbestimmt. Die formale Hierarchie stört ihn, obwohl er genau sieht, dass es sachliche Notwendigkeiten für sie gibt. I 12: (Zustimmend) Mmm.(.) War was an der Pathologie erst interessant und dann nicht mehr? A 12: Ähh... I 13: Weil Sie gesagt haben, dass... A 13: Die Pathologie, die, müsste man genau sagen, die Vorstellung war eigentlich so ein bisschen in Richtung äh Gerichtsmedizin. Also so)n bisschen puzzeln, (.) die jetzt an Sachen, die jetzt nicht jedem (.), natürlich ist immer ein Mord ein Mord und (.) oder ein Drogentoter ein Drogentoter, aber das sind dann doch zum Teil sehr verschiedene Sachen. Ich hab denn also, (.) ich hab vor dem Studium viel so gerichtsmedizinische Bücher und so gelesen, das Ra... das das das Rausfinden eines speziellen Falles, das Lösen eines speziellen Falles, der halt im Einzelbeispiel dann doch wieder anders gelagert ist als ein vielleicht paralleler (.) Fall. Also so (.) das ist so)n bisschen, das mach ich gern. Deswegen spiel ich (.)
Das ursprüngliche Interesse an der Pathologie hatte einen methodologischen Grund. Der Gerichtsmediziner nutzt die Pathologie zur Spurensuche. Hellwein ist der Auffassung, dass dabei noch nicht das Maximum dessen erreicht ist, was aus einem Einzelfall an Informationen herausgeholt werden kann. Ein Mord ist zwar ein Mord, und es gibt von einer bestimmten Warte aus betrachtet nur eine begrenzte Zahl an Grundtypen mit ihren Varianten, aber hinter dem Muster des Vergleichbaren liegt noch eine andere Wirklichkeit, eine unverwechselbare Konstellation des Einzelfalles, in deren Licht sich pathologische Erkenntnisse nutzbringend interpretieren lassen, um bei der Aufklärung des Tathergangs und der Ermittlung des Täters weiter zu kommen. Dazu muss der Gerichtsmediziner aber die Methode der Fallrekonstruktion beherrschen. Die Pathologie subsumierte dafür noch zu sehr und rekonstruierte zu wenig. Das sah Hellwein in Änderung begriffen. Die Pathologie näherte sich dem, was man heute Profiling nennt. Das Gemeinsame zwischen Forschung und Kriminalistik ist das Dechiffrieren und Enträtseln von Befunden und Spuren, das heißt, die Suche nach dem Unbekannten, dessen Bedeutung für eine übergeordnete Fragestellung, eine „Tat“ und ihre Rekonstruktion, ausgewertet werden muss. Das Thema Gerichtsmedizin scheint ihm auf Dauer aber nicht systematisch genug angelegt gewesen zu sein. I 14: Das kann (.) ja? A 14: Das ist für mich Schachspielen. Man muss da immer lavieren und die Lösung finden und so weiter, und man weiß auch nicht, was auf einen zukommt, das erfordert dann auf dem
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Feld immer so)n bissl zum Positionsändern, aber das Ziel bleibt am Ende ja irgendwie das gleiche.
Der Vergleich mit dem Schachspiel ist eine erneute Variation des Grundthemas Faszination. Es soll sagen, dass man sich im Kriminalfall und der Pathologie unter der Bedingung der Muße und Praxisentlastetheit wie im Spiel auf einem Feld bewegt, auf dem man ständig aufgefordert ist, die Veränderungen der einzelnen Positionen auf ihre Bedeutung für das Gesamtgeschehen hin zu befragen. Jeder Zug bedeutet eine Herausforderung, weil er ein Problem aufwirft, das man lösen muss, um im Spiel zu bleiben. Die eigene Souveränität behält man nur, wenn es gelingt, alle möglichen Positionsveränderungen im Auge zu behalten, was nie ganz gelingt, so dass man auch ständig mit Unerwartetem konfrontiert wird. I 15: Ja. (...) Und das ähm (.) Und warum haben Sie es dann irgendwann fallen gelassen? Weil... A 15: Ja gut, das ist natürlich ganz konkret auch eine Frage des Angebotes, (.) weil (.) wenn man jetzt auf der einen Seite ein konkretes Angebot hat und auf der anderen nicht, findet das eine interessant und das andere weiß man jetzt dann doch nicht so genau, ja dann macht man natürlich am Ende vom Studium, das sind natürlich auch Sachzwänge. Wie geht)s denn dann weiter? Und dann steigt man schon erst mal irgendwo ein.
Hier sind wir wieder bei den Zufällen und dem Zwang, sich in der Praxis entscheiden zu müssen. Die Realität lässt einem manchmal nicht die Wahl. Auch wenn man mehrere Dinge machen könnte, macht man dann eben das, was sich anbietet. Aber es muss auch passen, und das ist unterstellt. I 16: Und das war dann die Anatomie? A 16: Das war dann die Anatomie in P. I 17: Aha. Ja, also Sie haben jetzt (.) ähh (.) also das so geschildert, dass die ähh das eigentlich Faszinierende so diese dieser kumulative Prozess ist, würde ich das erst mal nennen, weil (.) also dass es immer nur Neues gibt. A 17: (Zustimmend) Mmm. I 18: Und ähh (.) mal provokativ: was schreckt Sie an der Routine so (lacht)? Gehört die nicht auch einfach dazu?
Für den Interviewer ist die Eingangsfrage jetzt ausgereizt. Er schließt sie selbst mit einer Formel ab: ein kumulativer Prozess, in dem es immer was Neues gibt. Seine Frage rückt dann konfrontativ das Gegenteil der Krise ins Blickfeld.
166 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE A 18: Die Routine ist halt, die Routine ist halt deswegen nicht, die muss man ja trotzdem machen. Man macht natürlich im Alltag (.) ähh nicht ständig was Neues, sondern den Plan, den man da hat, und die Vorstellung von irgendeiner Sache, die man da hat, die muss man ja zum Teil einfach nur abarbeiten,
Die Frage irritiert ihn zunächst und er merkt, dass er einen falschen Eindruck korrigieren muss. Krise und Routine sind kein praktischer Gegensatz. Der Forscher hat viel Alltagsarbeit zu bewältigen, sonst würde er gar nicht weiterkommen. Das heißt, der Forscheralltag besteht zu einem großen Teil aus eingespielten Abläufen, die jedoch eingebettet bleiben in eine elementare Gesamthandlung, in deren Zentrum nicht Routinen stehen, sondern die Krise einer offenen Frage. Wie selbstverständlich wird die Routine mit dem Alltag gleichgesetzt. Es gibt die alltäglichen Laborarbeiten, die einem Plan folgen, der abgearbeitet werden muss; und es gibt die Phasen, in denen sich eine Frage manifestiert oder neue Modelle die Erkenntnis voranbringen. Aber auch im Alltag hat der Forscher eine gleichschwebende Aufmerksamkeit für das krisenhaft Unbekannte zu bewahren. z.B. für Statistiker, da wird ein Experiment einmal gemacht und das und jenes kommt raus, das ist ja interessant, bloß die Anforderung, das fünf oder sechs Mal zu machen und dann bei einer (holt Luft) hohen Standardabweichung oder so auch zehn Mal, das was dann Routine ist, das bleibt dann nicht weg. Das ist ja trotzdem da.(...)
Es ist klar, was er sagen will: Die Routinen sind notwendig, weil ein Befund erst durch hinreichende Tests und Wiederholungen abgesichert werden muss. Dabei gibt es keine Standardmaße, wie oft etwas durchgeprüft werden muss; es hängt von dem konkreten Befund ab. Man merkt erneut, dass die Routinen etwas sind, was ihn eigentlich langweilt. Zugleich hat er aber deren Notwendigkeit vollkommen verinnerlicht. Man muss es machen, sonst kommt man nicht weiter. Es handelt sich also um Routinen, die anders als beim Arzt in sich dynamischer Natur sind und dem Zweck dienen, über ihren eigenen Status quo hinauszuführen. I 19: Aber Sie, Sie also, ja, worin unterscheidet sich diese Routine in der Wissenschaft von den anderen Routinen dann, also Sie haben da so was gesagt... A 19: Ja die Untersuchung, die ich meinethalben im Sommer )98 gemacht hab), die ist ja irgendwann fertig. I 20: Aha, ja. A 20: Und handwerklich ist (.) bleibt zwar oft vieles gleich, aber die die eigentliche Untersuchung, z.B. man benutzt andere Proben, Antikörper oder, oder mal )ne neue Technik dabei, das ist ja dann schon was anderes, weil die Frage ja jetzt anders lautet, aufbauend auf der, die vorher beantwortet wurde.
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Das Handwerkliche steht für die Durchführung der einzelnen Arbeitsschritte etwa bei der Präparation der Untersuchungstiere, ihrem Sezieren und der Entnahme der Hirne; dann ihre Einfassung in Paraffin; ihre Schnitte und ihre Bereitstellung für das Mikroskop; dann der genauen Betrachtung der Schnitte, die Notiz über die Befunde usw. Das sind alles Tätigkeiten, die sich wiederholen und die sehr gewissenhaft durchgeführt werden müssen, um Fehlerquellen auszuschließen. Der Forscher folgt dabei einem Tages- und Wochenplan, der präzise eingehalten werden muss. Aber was genau an dem Hirn interessiert, wie das Versuchstier zuvor behandelt wurde, und worauf bei der Auswertung geachtet wird, ist abhängig von der Fragestellung, und die ändert sich fortwährend. Der Gedankengang kehrt damit zu seinem Ausgangspunkt zurück und wir können hier abbrechen. Resümee Aus den Ausführungen spricht die Erfahrung eines Wissenschaftlers, der nicht mehr am Anfang seiner Karriere steht, sondern einige Projekte bereits erfolgreich hinter sich gebracht hat, aus denen jeweils Anschlussprojekte erwachsen sind. Er kann auf eine eigenständige Kumulation des Wissens zurückblicken. Hellwein interessiert weniger die Anhäufung von Wissen und auch nicht primär die Lösung eines bestimmten Einzelproblems, in das er sich verbissen hätte. Vielmehr wird der exemplarische Charakter seiner Fragestellung deutlich herausgestellt. Er rechnet damit, dass seine Arbeit nicht nur Lösungen, sondern auch neue Fragen hervorbringt, und diese Erwartung bindet ihn an die Forschung als Tätigkeit. Ihn faszinieren die Emergenz von Neuem und die ihr vorausgehende Krisenbewältigung im Handeln, die Kumulativität der Problemstellungen und die ständige Anforderung, sich durch Rekonstruktion der Ausgangslage der geleisteten Innovation zu vergewissern. Die Suche nach neuen Fragestellungen ist eine auf Dauer gestellte Disposition. Von allgemeiner Natur ist daran die systematische Offenheit für das Unbekannte. Individuell ist aber, dass Hellwein seinen Zugang zur Forschung über die Medizin gefunden hat, deren Praxis ihm noch nicht herausfordernd und abwechslungsreich genug erschien, und dass er in einen größeren Forschungsverbund integriert ist und eine besondere, auch biographische Beziehung zu Prof. Mayer hat, der ihn als Mentor offenbar sehr gefördert hat.
Fall 2: Privatdozentin Dr. Bertram, Neurobiologin und Projektleiterin „ich bin gezwungen mich immer wieder weiterzuentwickeln“
Vorbericht Frau Bertram, Privatdozentin für Biologie, arbeitet im selben SFB wie Herr Hellwein als Projektleiterin. Sie ist auch in der Lehre tätig und betreut mehrere Doktoranden. Ihr Forschungsgebiet ist vergleichbar mit dem von Hellwein, nur dass Frau Bertram an einem anderen Nerventeilsystem arbeitet. Sie lebt mit einem Wissenschaftler, der ebenfalls habilitierter Biologe und Mitglied des Instituts ist, zusammen. Das Paar hat ein gemeinsames Kind, das in die Grundschule geht. Das Interview wurde im Aufenthaltsraum des Labors geführt. Abkürzungen und Notation I: die Interviewee Frau Bertram O: der Interviewer *bla**bla*: gleichzeitig gesprochen (Husten): Anmerkungen Doppelpunkt („dann :“ ): betont ?: unbekannte Stimme Robert:weitere Stimme [O.: mhm]: Einwurf in „fließende Rede“ (.), (..), (...): Pausen (unv.): unverständlicher Redeteil (?) Klaus (?); (?) Klaus (Haus?): fragliche Verschriftung; Alternativvorschlag O: Also ich weiß schon, dass Sie von Haus aus glaub’ ich Biologin sind, nich’, Molekularbiologin, vom Fach oder? I 6: Ja Molekularbiologin, Neurobiologin.
170 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE O. 7: Ja. [I: mhm] Und vielleicht ähm, und und Sie machen was äh äh und Sie machen arbeiten hier in der Arbeitsgruppe auf welchem Teilgebiet? arbeiten Sie gerade *(unv.)* I 7: *Ich beschäftige* mich mit äh Vorgängen, molekularen Vorgängen im verletzten Nervensystem [O.: ja] und unsere Ziel äh gebung is’ ‘rauszufinden was braucht was brauchen Nervenzellen um äh überleben und ähm rauswachsen [O.: ja] und ihre Funktion wieder herstellen zu können [O.: ja] nach nach ‘ner Läsion. O. 8: Also das haben wir äh heute Morgen äh äh ausführlich äh äh behandelt und das hat uns ja Herr Müller und all die ander’n ha’m uns das dargelegt. Ja, ich wollte jetzt, fangen wir einfach ma’, würd’ Sie fragen, was Sie persönlich an ihrer Tätigkeit fasziniert. I 8: Die Vielseitigkeit [O.: ja], die äh Selbstbestimmtheit [O.: mhm] das is’ ganz wichtig
Die Antwort beginnt mit einer spontanen Auflistung von Eigenschaften. Vielseitigkeit verweist auf Abwechslungsreichtum, auf immer neue Anforderungen. Die Forschertätigkeit regt die verschiedensten Fähigkeiten an und hält immer wieder neue Seiten bereit. Selbstbestimmtheit liegt demgegenüber auf einer anderen Ebene. Angesprochen wird damit der hohe Grad der Autonomie der Berufstätigkeit. Die Forscherin kann ihre Arbeit selbst gestalten. Sie folgt nicht Direktiven oder äußeren Vorgaben, sondern ihrem eigenen Konzept und Urteil. Sie untersteht keinem Chef, der ihr sagt, was zu tun ist, und muss nicht irgendwelchen Anweisungen Folge leisten, die gegen ihre Überzeugung stehen. Sie macht das, was sie selbst für geboten und angemessen hält. Das unterscheidet den Forscherberuf fundamental von einem Angestelltenberuf, auch wenn der arbeitsrechtliche Vertragsstatus der gleiche sein kann. Das isҲ ganz wichtig. Das heißt, ohne diese persönliche Freiheit würde sie den Beruf vielleicht nicht ausüben. Sie sagt damit etwas über sich als Person und über den Forscherberuf im Allgemeinen aus. Autonomie ist für die Forschung konstitutiv, aber die Personen, die sie ausüben, müssen diese Freiheit wertschätzen und mögen. Das eine wird durch das andere getragen; es gibt also ein Passungsverhältnis zwischen der Struktur der wissenschaftlichen Arbeit und den Charakteren, die in ihr tätig sind. Frau Bertram ist ihrem Charakter nach ein Mensch, der nicht gerne fremdbestimmt arbeiten würde. [O.: ja], ähm (.) ja die eigentlich auch die permanente ähm, also ich bin gezwungen aufgrund meiner Tätigkeit ähm mich immer wieder ähm weiterzuentwickeln
Es soll noch eine dritte Eigenschaft aufgeführt werden, doch kommt Frau Bertram ins Stocken. Wahrscheinlich hatte sie sagen wollen: die permanente Notwendigkeit oder Herausforderung, sich weiterentwickeln zu müssen. Sie hat für ihren Gedanken ad hoc jedoch keinen passenden Begriff zur Verfügung (wie Vielseitigkeit, Selbstbestimmtheit) und muss eine Umschreibung wählen. Sie setzt deshalb neu an: also ich bin gezwungen aufgrund meiner Tätigkeit ähm mich immer wieder ähm weiter-
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zuentwickeln. In der Formulierung kommt ein persönliches Bildungsideal zum Vorschein. Mit weiterentwickeln kann vieles gemeint sein: die Anzahl der Techniken und Methoden, die beherrscht werden können; die Kenntnisse der Fachliteratur nach Breite der Themen und Tiefe des theoretischen Verstehens; soziale Kompetenzen im Beruf: durch Auslandsaufenthalte, durch Dozentur, durch Erfahrungen in der Betreuung von Studenten oder Doktoranden, in der Selbstverwaltung; berufliche Weiterentwicklung, zum Beispiel durch die selbständige Ausarbeitung und Verantwortung eines neuen Forschungsprojektes, seiner Beantragung und Präsentation nach Außen, durch Übernahme eines Amtes in der Professionspolitik, und so weiter. In jedem Fall geht es um eine Weiterentwicklung der Persönlichkeit, nicht nur einzelner Kompetenzen. Es ist ganz umfassend gemeint. Sie sagt nicht: ,da kann ich meine Kenntnisse in der Molekularbiologie weiterentwickeln‘, sondern sie sagt, dass ,sie – sich weiterentwickeln‘ muss. Das bezieht sich auf den ganzen Menschen. Persönliche Weiterentwicklung ist für Frau Bertram eine Forderung ihres Lebensentwurfes, ein hoch stehender Wert, dem zugleich der Horror vor einer Erstarrung in eingeschliffenen Lebensbahnen innewohnt. Sie will sich in ihrem Leben an ständig neuen Herausforderungen erproben, bewähren und Erfahrungen sammeln. Die Vorstellung einer Existenz, die sich in ihren Routinen eingerichtet hat, muss ihr ein Graus sein. Sie sieht ihr Leben als eine Bildungsgeschichte und sie will diese auch im Erwachsenen- und Berufsleben fortsetzen. Ein Bildungsideal dieser Art muss nicht zwangsläufig in die Wissenschaft führen, aber die Wissenschaft, – das sagt jedenfalls Frau Bertram, – ist eine der Praxisformen, in der dieses Bildungsideal realisiert werden kann, ja, realisiert werden muss, wie sie eigentlich betont. Der Beruf bringt ständig neue Herausforderungen mit sich. Die Aussage setzt erneut die Gegebenheit einer hohen Eigendynamik im Forschungsgeschehen voraus. Es wird ständig Neues erzeugt und Neues gefordert. Das kennen wir schon von Hellwein. Hier wird der Blick darauf aber mehr aus einer persönlichen Perspektive der Bewährungsproblematik gerichtet. Die Eigendynamik der Forschung erscheint als ein von den einzelnen Wissenschaftlern unabhängiges Geschehen, in das sie sich einfädeln können, um Teil von ihm zu werden, wofür sie sich aber gehörig anstrengen bzw. bewegen müssen. Und das impliziert auch, dass die Dynamik unaufhaltsam weiterzieht und jeden zurücklässt, der nicht mithalten kann. Deshalb ist man gezwungen, sich weiterzuentwickeln. Wenn man sich darauf eingelassen hat, muss man mitziehen, sonst fällt man zurück und heraus. Es gibt nur Hopp oder Top. Wissenschaft ist ein Karriereberuf, der keinen persönlichen Stillstand erlaubt. Es geht hier Frau Bertram jedoch nicht darum, das hohe Tempo zu beklagen. Ihr kommt dies gerade entgegen. Wieder ist das Passungsverhältnis zwischen Person und Beruf der führende Gedanke. Ihr Lebensentwurf und Bildungsideal hat sie in die Forschung gebracht und sie findet dort Bedingungen vor, die sie zwingen, ihrem Entwurf treu zu bleiben. Das Wort gezwungen lässt freilich erahnen, dass sie sich
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wirklich anstrengen muss und dass sie ihren Beruf als eine Art willkommenes Korrektiv gegen andere Tendenzen in ihrem Leben ansieht, die sie von ihrem Lebensentwurf abzubringen geeignet wären. Mit anderen Worten: Hier spricht eine Frau, die hart arbeitet und ihre Belastungsgrenzen spürt, was nicht verwunderlich ist, denn Frau Bertram hat als Mutter zusätzlich ein Kind groß zu ziehen. Aber gleichzeitig ist sie ihrem Beruf dankbar, dass sie ihrem Lebensentwurf treu bleiben kann, der eine fortgesetzte Bewährung vor Bildungskrisen als etwas Gutes und Lebensdienliches von ihr verlangt, weil dies einer Erlahmung entgegenwirkt. also jetzt sowohl äh [O.: ja] fachlich, wie auch, fachlich, inhaltlich und persönlich
Sie fächert die verschiedenen Dimensionen der Weiterentwicklung auf. Man muss fachlich inhaltlich wohl in einem Rutsch lesen und persönlich als konträre Bestimmung dagegenhalten. Fachlich inhaltlich meint alles, was durch Dazulernen von Wissen, Trainings und Techniken die fachliche Expertise erhöht. Persönlich heißt, Erfahrungen zu machen und die Fähigkeit zu erweitern, schwierige Situationen zu meistern. Beides sind völlig verschiedene Dimensionen der Weiterentwicklung und lassen sich problemlos unserem Modell zuordnen. Fachlich inhaltlich sind standardisierbare Wissenskomponenten, die sich von der Person ablösen lassen und von ihr als Routinen durch Lernen angeeignet werden können. Persönlich sind die nichtstandardisierbaren Wissenskomponenten, die von der Person selbst entwickelt werden müssen und an die Person gebunden bleiben. Also Erfahrungen mit Krisen und deren Überwindung. Diese Komponente bildet eine Person und kann auch unabhängig vom Beruf wertvoll sein. [O.: aha] und da kommt der zweite Aspekt dazu, also dass ich zum Beispiel auch sehr viel mit Studenten umgeh’ [O.: mhm], viel Unterricht mache oder auch Doktoranden betreu’, ähm wo ich also meine Forschung [O.: mhm] dann auch weitergeben muss und darf
In dieser Formulierung kommt der Gedanke der Einheit von Forschung und Lehre, wie er schon bei Humboldt formuliert ist, wunderbar einfach zur Geltung. Nachwuchsbetreuung ist von einer strukturellen Asymmetrie gekennzeichnet: Die Dozentin hat den Studenten das Fachwissen zu vermitteln und dann dessen Aneignung zu prüfen. Darin vertritt sie ihre Disziplin gegenüber dem Nachwuchs. Das ist eine Aufgabe, die sie für ihre Profession übernimmt, die ein Interesse an der guten Ausbildung der nächsten Forschergeneration hat. Es muss gemacht werden. Indem ihr die Aufgabe der Lehre anvertraut wird, ist dies auch eine Ehre für sie, denn es anerkennt ihre eigene Qualifikation. Die Lehre ist für die Forscherin aber auch deshalb von Interesse, weil sie ihre eigene Forschung einfließen lassen kann. Sie vertritt ihr Sachgebiet und folglich auch ihre eigene Forschung als Teil des aktuellen Wissens.
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Dass ihr dies zugestanden wird, erhöht die Ehre noch. Es ist mit einem persönlichen Interesse verbunden, die eigene Forschung zur Diskussion zu stellen. Darin drückt sich aus, dass Frau Bertram die Studenten als Teil der wissenschaftlichen Kollegenschaft wahrnimmt. Genau dies ist das Grundprinzip der Einheit von Forschung und Lehre. Nicht bloß Wissensvermittlung, sondern Einführung in die Haltung des Forschens ist der Zweck der Lehre. Und dies setzt voraus, dass die eigene Forschung exemplarisch herangezogen und vermittelt wird. und dann natürlich sowohl fachlich wie persönlich mit diesen Personen umgehen muss
Der Kontakt im Rahmen des Schüler-Meister-Verhältnisses beansprucht den ganzen Menschen, denn der Dozent muss auf die konkreten Bedürfnisse und den Entwicklungsstand eines Studenten eingehen und zugleich hat er die allgemeinen Standards des eigenen Fachs zu vertreten. [O.: mhm], mh. [O.: Ähm, ich] Und das fordert permanente ähm [O.: ja] wie soll ma’ sagen Präsenz und Wachheit
Das ist eine interessante Formulierung, weil sie eine besondere Lehrauffassung erkennen lässt. Präsenz und Wachheit ist gefordert, weil der Lehrende sich nicht nur darauf konzentrieren kann, seinen Lehrstoff strukturiert vorzutragen. Es ist vielmehr von ihm verlangt, den Studenten genau zuzuhören. Auch dies unterstellt eine Betreuung und Lehre, die nicht allein doziert, sondern im Dialog mit den Studenten ein Sachgebiet erarbeitet. Gegenstand des Unterrichtens ist zwar die Vermittlung des Fachwissens, wie es in einem Curriculum festgelegt ist. Doch der Ausgangspunkt liegt im Wissensstand, wie er beim Studenten selbst vorliegt und sich artikuliert. Dies verlangt eine je individuelle Hinwendung zum Studenten. Was hat er verstanden, was noch nicht? Um dies herauszufinden, muss es einen Dialog geben. Präsenz und Wachheit bezieht sich auf die Leistung, im Gespräch mit dem Studenten das Wertvolle und Richtige zu bestätigen und das Schlechte und Falsche herauszufiltern, um es zu zerstören. Das geht nur durch sehr aufmerksames Zuhören. Das Wortpaar Präsenz und Wachheit unterstreicht, wie geistesgegenwärtig die Wissenschaftlerin im Umgang mit Studenten sein muss und wie schnell ihr etwas Wichtiges entgehen kann. [O.: ja] und äh is’ auch wie gesagt fachlich wie persönlich ‘ne Herausforderung. Also ich ich kann [O.: ja] eigentlich nich’ stehenbleiben [O.: ja] mhm. [O.: ja]
Die Antwort kommt damit zu einem ersten Abschluss.
174 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE O. 9: (.) Ähm, könnten Sie sich also Herausforderungen auch äh auf ganz anderen Gebieten vorstellen
Der Fragesteller will die Interviewpartnerin zu einer Weiterführung des Themas animieren. Seine Frage versucht das Spezifische ihres Bewährungsstrebens zu ergründen. Ist es an die Wissenschaft gebunden, oder könnte sie auch Unternehmerin oder Politikerin werden? Herausgekitzelt werden soll, was die Faszination an der Wissenschaft spezifisch ausmacht. äh also ich will damit sagen, entspricht das Ihrem Naturell oder is’ das durch bestimmte Sachen äh durch bestimmte Sachen angeregt?
Der Gegensatz Naturell vs. angeregt zwingt zu einer Selbsteinschätzung der Antriebsmotivation. Wenn es ihrem Naturell entspricht, dann liegt es tiefer verwurzelt und kann nicht weiter begründet werden. Wenn es von bestimmten Sachen angeregt ist, dann müssen sich diese benennen lassen. I 9: (..) Weiß ich jetzt nich’, ob ich die Frage so beantworten kann.
Frau Bertram versteht zunächst die Frage nicht. Wie soll sie zwischen den Anteilen, die dem eigenen Naturell zugehören, und den Anteilen, die durch eine Sache angeregt wurden, präzise unterscheiden? Es ist aber interessant, dass sie die Frage nicht ganz zurückweist, sondern offen lässt, ob sie diese nicht in einer anderen Fassung vielleicht eher beantworten könnte. Also, ’n Aspekt entspricht bestimmt meinem Naturell, also der, zum Beispiel dass ich sehr gern mit Leuten umgeh’, [O.: mhm] dass mir das Spaß macht und ähm, (.) dass ich Spaß hab’ auch an der Teamarbeit [O.: ja] und ähm (.) es erfordert auch immer wieder ‘ne Hinterfragung meiner eigenen Person [O.: ja, mhm] ähm [O.: ja] sowohl fachlich wie persönlich (lacht leicht) [O.: ja],
Sie arbeitet also generell gerne mit anderen Menschen zusammen. Ihr spezifisches Interesse an der Wissenschaft wird aber immer noch nicht sichtbar. ich weiß nich’ ob ich Ihr’ Frage [O.: ja] beantwortet hab’. O. 10: Wenn äh wenn wir nochmal dieses diesen Begriff der Herausforderung nehmen, ähm also Herausforderung, herausgefordert werden meint ja wohl kaum, also wenn man jetzt mal also ‘ne Kontrasttätigkeit nähme, wenn Sie irgendwo im Büro säßen und äh Routinetätigkeiten verrichten müssten, [I: mhm] auch wenn Sie auf’m hohen Anspruchsniveau äh verliefen, äh also Herausforderungen sind ja immer irgendwie auch, damit was zu tun, (Tür schlägt zu) dass man, ja *mit neuen* Konstellationen umgehen muss, nich’.
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Die Frage bietet das Spannungsverhältnis an zwischen Tätigkeiten, die von Routinen beherrscht werden, und Tätigkeiten, in deren Zentrum Krisenbewältigung steht. I 10: *Also ich kann spezif*, also ich kann spezifizieren, [O.: ja] dass was ich grad gesagt hab’ [O.: ja], also ich muss mich ähm, die Wissenschaft also wenn wir jetzt auf der fachlichen Seite [O.: mhm] bleiben, dann muss ich mich ähm mit dem Feld mit dem äh sich schnell entwickelnden Forschungsfeld [O.: ja] äh dauernd auseinandersetzen, also ich muss muss permanent äh mich mit der Fachliteratur auseinandersetzen [O.: mhm, mhm] also sowohl inhaltlich wie methodisch, [O.: mhm] also auf grad auf unserm Sektor [O.: ja] sind die Methoden sehr wichtig [O.: ja], die Arbeitsmethoden, also Labormethoden [O.: ja] Analysemethoden, ähm und ja man mu is’ eigentlich gezwungen mit der Entwicklung um einen ‘rum [O.: mhm] so (schnippst mit den Fingern?) Schritt zu halten und das is’ ‘ne dauernde Herausforderung [O.: mhm], also auch nich’ einzurosten [O.: mhm, mhm].
In der Neurowissenschaft herrscht also ein hohes Tempo, Fachwissen, Methoden und Techniken veralten sehr rasch. Es gibt viele Zentren der Entwicklung, über deren Arbeit man sich ständig informieren muss. Es wird viel publiziert und das muss alles zur Kenntnis genommen werden. Der Forschungsprozess wird von einer Vielzahl von Kollegen getragen, die alle an relevanten Forschungssträngen arbeiten. Die Zahl der Einzelaktivitäten ist so groß, dass sich der Prozess gegenüber dem einzelnen Forscher völlig verselbständigt hat. Es kommt auf den einzelnen Forscher nicht an, der Prozess ist unabhängig von ihm und geht weiter, wenn dieser aussteigen würde. Die Dynamik ist so hoch, dass Frau Bertram aufpassen muss mitzuhalten. Das setzt sie unter einen enormen Leistungsdruck. O. 11: Nun gibt es ja Leute, die eher beunruhigt sind durch permanente Neuerungen und äh äh äh, je älter sie werden umso mehr, also nehmen Sie ein Beispiel die die ständig neuen äh äh was weiß ich Computertechniken [I: mhm] und äh so dass man überhaupt nicht zur Ruhe kommt und nich’ ausruhen kann (.) beunruhigt Sie das manchmal? Man immer wie ständig also Wissen ständig veraltet (.) I 11: Jein, also ich [O.: ja], ich stell’ net den Anspruch an mich, dass ich zum Beispiel jetzt auf ‘m Computersektor [O.: ja] immer auf’m Laufenden sein muss, sondern wenn ich ‘ne Fragestellung habe, dann beschäftige ich mich mit ‘nem ganz konkreten Problem [O.: ja] und arbeit’ mich dann in diese [O.: mhm] Neuerungen ein oder ich hol’ mir Hilfestellung von ‘nem Fachmann. [O.: mhm] Also ich hab’ nich’ den Anspruch, dass ich das alles [O.: ja] ähm erarbeiten muss, [O.: mhm] sondern ich steig’ immer zu dem Zeitpunkt ein, [O.: mhm] wo’s für mich relevant wird
Das Bild verfeinert sich jetzt. Der Interviewer bietet mit seiner Frage einen weiteren Kontrast an und bringt ins Spiel, dass die ständige technische Modernisierung, die ja in vielen Berufen eine immer größere Rolle spielt, den Menschen auch bedrängen
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und beängstigen kann, weil mit ihr verbunden ist, dass er sich permanent anstrengen muss, um auf dem Laufenden zu bleiben. Frau Bertram sieht die Berechtigung dieser Angst (Jein heißt Ja und Nein), lässt aber zugleich auch „die Luft heraus“. Für sie ist die Modernisierung nicht so bedrohlich, weil sie von einer konkreten Bedarfslage aus auf die technische Entwicklung blickt. Einer Modernisierung zu folgen ist kein ideologischer Selbstzweck. Ihr Interesse ergibt sich aus der jeweiligen Problemstellung, an der sie aktuell arbeitet. Wenn sie an einen Punkt kommt, an dem sie mit vorhandenen Methoden nicht mehr weiterkommt, sucht sie sich das geeignete Know how und beginnt sich einzuarbeiten. Ihre Unterstellung ist, dass sie den Anschluss immer wieder neu herstellen kann. [O.: mhm] und nehm’ dann Spezialistenhilfe in Anspruch [O.: mhm, mhm]. Und äh das is’ so was, was ich erst lernen musste, weil ich ähm, wie soll ich sagen, hatte früher mehr den Anspruch ich muss alles selber beherrschen,
Hinter dem Thema verbirgt sich ein typisches Handlungsproblem des heutigen Wissenschaftlers. Die Forscher können heute nicht mehr an dem Ideal festhalten, alle Routinen selbst beherrschen zu können. Sie müssen Hilfen von Spezialisten suchen, die das können, was sie selbst nicht können. Sie müssen delegieren. Frau Bertram liegt das eigentlich nicht so. Früher hatte sie den Anspruch, jede benötigte Technik sich selbst anzueignen, und das ist im Prinzip ja auch richtig und angemessen, denn Forscher müssen umfassend verstehen, was vor ihren Augen abläuft. Komplette Arbeitsgänge zu delegieren, erhöht die Fehleranfälligkeit, weil aus Unkenntnis die nötigen Eigenkontrollen nicht mehr in ausreichendem Maße erfolgen können. Jede neue Technik zu beherrschen kostet jedoch viel Zeit, bindet Kräfte und ist bei dem Stand der heutigen Entwicklung auch einfach unmöglich. Das hat sie in einen Konflikt gebracht, und wie sie unterstellt, hat (in den Neurowissenschaften) jeder Forscher diesen Konflikt. In der Sache voranzukommen verlangt Hilfen von außen anzunehmen. Man muss sich also umstellen und Kooperationen suchen, Abhängigkeiten zulassen. Die hohe Dynamik in ihrem Fach hat Frau Bertram die Entscheidung abgenommen. Sie musste lernen, sich auf das zu konzentrieren, was ihr Hauptgeschäft ist und worin sie selbst nicht ersetzt werden kann, nämlich auf die Gesamtkonzeption und die Verantwortung für den Vollzug der konkreten Untersuchungsidee. Allerdings ist klar, dass nicht ganze Arbeitsschritte wegdelegiert werden, wie das aus der Industrie bekannt ist, sondern dass Spezialisten nach wie vor nur dann geholt werden, wenn es nicht anders geht und auch dann nur, um Hilfestellungen zu erhalten. Die Forschung ist immer noch so organisiert, dass alle Schritte einer Untersuchung in Eigenregie durchgeführt werden, aber die Einarbeitung in wichtige Techniken, z.B. Computersimulationen wird abgekürzt. Die Hilfe eines Fachmanns wird in Anspruch genommen, um unnötige Fehler und Umwege zu vermeiden. Man kann hier also nicht von einer echten „Arbeitsteilung“ sprechen, von einer Ausglie-
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derung relevanter Arbeitsschritte an einen Dienstleiter, der dies marktförmig anbietet. Das gibt es bei bestimmten standardisierbaren Labortechniken, die gleichwohl hochspezialisiert sein können, auch, etwa in der Genforschung. Aber hier ist etwas ganz anderes gemeint. Es geht um einen Austausch von Fachwissen unter Kollegen, die sich kennen und gegenseitig helfen und dafür keine unmittelbare Gegenleistung verlangen. [O.: ja] und mittlerweile ähm hab’ ich mich da sehr verändert und nehm’ ganz gezielt [O.: mhm] äh Spezialisten [O.: mhm] wissen in Anspruch. [O.: mhm] O. 12: Und da gibt es hier (.) I 12: Da gibt’s bei uns zum Beispiel jetzt im Haus ähm Leute die, (leichtes Lachen) das is’ aktuell weil ich jetzt zum Beispiel ‘n Forschungsantrag schreibe, wo ich lauter Technologien [O.: mhm] mit einbeziehen will und dann nehm’ ich dann einfach ganz gezielt all die Leute äh ähm mit rein auch namentlich, [O.: mhm] die jetzt äh das Fachwissen repräsentieren [O.: mhm] und ich sozusagen ich bin Nutznießer, will jetzt nich’ sagen Schmarotzer, sondern einfach [O.: mhm] Nutznießer [O.: ja]
Bei der Beantragung ihres neuen Forschungsprojektes bezieht sie die Infrastruktur ihres Institutes selbstverständlich mit ein. Sie denkt das Projekt von den dort versammelten technischen Kompetenzen her. Dass sie sich dabei als Nutznießer sieht, zeigt gerade, dass sie die Hilfestellungen im Bedarfsfalle erhalten würde, auch ohne konkrete Gegenleistungen erbringen zu müssen. Eine schöne Formulierung für die kollegiale Denkweise ist: die Leute, die das Fachwissen repräsentieren. Es sind Träger einer Kompetenz, die dem Ganzen zur Verfügung steht. O. 13: Sind das Leute, die hier am Ort sind oder auch I 13: Das sind Leute hier am Ort, das sind Leute [O.: ja] jetzt zum Beispiel wir in unserer Arbeit sind auch sehr stark auf Kooperationen angewiesen. [O.: ja] Also ich hab’ jetzt zum Beispiel da auch Kooperationen mit andern Forschungsgruppen in äh in innerhalb Deutschlands, wie auch äh in Übersee. [O.: mhm] (.) [O.: ja] Also das is’ jetzt grad in unserm Feld unmöglich ähm ähm das, sagen wir mal ‘ne Fragestellung sowohl methodisch [O.: mhm] wie inhaltlich allein zu bearbeiten, sondern man muss einfach aus Zeitgründen [O.: mhm, mhm] und Ressourcengründen, also es geht ja auch immer wieder [O.: mhm] um’s Geld ähm die Zusammenarbeit [O.: mhm] mit andern in Anspruch nehmen. [O.: mhm] O. 14: Ähm, also Herausforderung würde bedeuten dann für Sie äh ja äh, dass man eigentlich Innovationen nich’ als Bedrohung sondern als als einen möglichen Gewinn (.) [I: ja] der Weiterentwicklung [I: mhm] und ham Sie da auch an so ein gew, sagen wir mal gibt es da auch so ein gewisses inneres so ein Eh Ehrgefühl, dass man ähm eben Herausforderungen bewältigen kann und sich da bewähren kann, dass man so einen inneren Stolz hat?
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Die Frage lenkt den Gedankengang etwas unorganisch auf einen neuen Gesichtspunkt. I 14: Ja selbstv, sicherlich. [O.: ja] Ja es is’ für mich äh natürlich auch ähm ‘n gutes Gefühl diese Herausforderungen dann [O.: ja] zu äh meistern ja, aber das is’ natürlich jetzt bei uns so, dass wir ähm mit unseren Ideen und unseren Vorstellungen meistens Neuland betreten [O.: mhm] jetzt auch in ‘nem natürlich in ‘nem kleinen Bereich und und immer im, wir brauchen ‘ne gewisse Risikobereitschaft, weil das was wir uns ausdenken oder was ich mir jetzt ausdenke zum Beispiel als als als Ziel in meiner Forschung, da gibt es nicht immer ‘ne oder seltenst ‘ne Garantie, dass das dann auch [O.: ja] wirklich klappt
Zunächst bestätigt Frau Bertram die Annahme des Fragestellers. Doch dann wird (mit aber) eine Korrektur eingeleitet. Das gute Gefühl, Stolz, Ehrgefühl ist gar nicht so maßgeblich und charakteristisch für den Forscherberuf, denn der Wissenschaftler kann sich nie sicher sein, ob er den Gewinn einer Unternehmung wirklich einfahren kann. Er muss zu Risiken bereit sein, und das bedeutet, dass so vieles schiefgehen kann, was nicht in der Obhut des Forschers liegt, dass hier ganz andere Gefühle vorherrschen, die Frau Bertram allerdings nicht explizit nennt. Der Wissenschaftler arbeitet nicht in erster Linie dafür, am Ende stolz auf sich und sein Team sein zu können, denn es ist ganz ungewiss, ob er dazu überhaupt Anlass haben wird. [O.: ja]. Also ich kann mir Konzepte machen und muss dann aber eigentlich immer wieder meine Konzepte auch überprüfen [O.: ja] und im nächsten Schritt vielleicht auch umwerfen und wieder neu anfangen. [O.: ja]
Forschung unterliegt einer ständigen Revision. Zur Durchführung eines Projektes gehört es, Zwischenbilanz zu ziehen und umzusteuern, wenn es geboten ist. Es geht nicht gradlinig und nicht ohne Irrläufer. Frau Bertram betrachtet das Scheitern eigener Konzepte als völlig normales Ereignis. Zur Not muss wieder neu angefangen werden. Ohne Frustrationstoleranz geht es also nicht. Stolz und Ehrgefühl sind also nicht die Antriebskräfte, die in der Wissenschaft führend sind. Resümee Wir können hier abbrechen. Auch Frau Bertram fasziniert an ihrem Beruf die Herausforderung, ständig neuen Problemen gegenüberzustehen, für die noch keine Routinen bereitliegen. Auch sie skizziert dabei eine hochgradig dynamische, Neuland erschließende Praxis, aber das ist anders als bei Hellwein stärker von einer individuellen Perspektive her entwickelt, die das Bewährungsproblem heraushebt, das sich dem Einzelforscher stellt, wenn er sich in diese Praxis einfädelt und mithalten
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will. Gerade dadurch tritt das Selbstläuferische der wissenschaftlichen Eigendynamik stärker hervor. Es ist in den Neurowissenschaften noch gesteigert, weil dort nicht nur viele Forscher tätig sind, sondern jedes Jahr technische und methodische Innovationen berücksichtigt werden müssen. – Es wird außerdem mehr auf das Passungsverhältnis zwischen Person und Beruf abgehoben. Wir haben einen kleinen Einblick in Frau Bertrams Lebensentwurf nehmen können, der von ihr eine fortgesetzte Anstrengung der Bildung und Weiterentwicklung ihrer Persönlichkeit verlangt, und das hat sich mit der Dynamik ihres Forschungsfeldes verbunden, in dem sie diesen Lebensentwurf beruflich verwirklichen kann, wenngleich es sie auch mit den Grenzen ihrer Belastbarkeit in Berührung bringt. Forschung ist also anstrengend, ein Karriereberuf, und Reputation, Ehrgefühl ist nicht das, was man dort sich erhoffen darf, wie sie zuletzt deutlich macht. Die Interviewpassage wirft daher die Frage auf, was es denn sonst sei, das den Wissenschaftler diese Anstrengungen aushalten lässt.
Fall 3: Dr. Fendel, Habilitand und Neurowissenschaftler „...das Faszinierende dabei, es is’ nich’ so vorgezeichnet...
...man weiß halt vorher nie was dabei ‘rauskommt“
Vorbericht Herr Fendel ist promovierter Biologe und kommt aus dem süddeutschen Raum. Er ist zum Zeitpunkt des Interviews Ende dreißig und steht kurz vor dem Abschluss seiner Habilitation. Das Interview wurde in seinem Arbeitszimmer geführt. Abkürzungen und Notation I: der Interviewee Herr Fendel R.:. der Interviewer *bla**bla*: gleichzeitig gesprochen (Husten): Anmerkungen dann: betont [R.: mhm]: Einwurf in „fließende Rede“ (.), (..), (...): Pausen (unv.): unverständlicher Redeteil (?) Klaus (?); (?) Klaus (Haus?): fragliche Verschriftung; Alternativvorschlag R. 1: Äh, ja, äh mich interessiert ähm was äh dich an deinem an deiner jetzigen Tätigkeit äh ähm fasziniert. I 1: (...) Mh gar nich’ so einfach, wie meins wie meinst du das fasziniert?
Die Anfangsfrage weicht um eine wichtige Nuance ab von den Formulierungen, die wir schon behandelt haben. Die Frage lässt nicht offen, ob es etwas gibt, das Herrn Fendel fasziniert, es wird vielmehr wie selbstverständlich angenommen. Gefragt wird auch nicht danach, was den Interviewee an seinem Beruf fasziniert. Die Frage ist so gestellt, dass sie als Aufforderung zu verstehen ist, zu schildern, worin das
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unterstellte Interesse gegenwärtig besteht. Sie überfällt Fendel, den die Frage etwas zu verwirren scheint. Darum die Bitte um Erläuterung. Er verschafft sich etwas Zeit zum Nachdenken und möchte an die Frage neu herangeführt werden. R. 2: (.) Ja gibt ‘s da was, äh dran was äh faszinierend ist, wo du, oder anders äh formuliert, was äh wo du sagen würdest, das is’ das äh was ich besonders interessant an meinem Job finde?
Nun ist die Frage ganz anders gestellt. Sie impliziert nicht mehr, dass es etwas Faszinierendes gibt. I 2: (..) Mh. Ja gut da müsst’ ich, ich versuch das ma’ irgendwie so ‘n bisschen einzugrenzen auf ‘s auf ‘s ähhm Fachliche vielleicht,
Ganz anders als Hellwein hat Fendel keine prägnante Formel parat. Er versucht sich der Antwort erst einmal anzunähern. Das heißt, er will das Thema auf Abstand bringen. Es ist ihm noch zu unübersichtlich. Die Sache wird deshalb zunächst einmal in Aspekte zerlegt. dann kann man das am am ehesten (.) ähm, kann man da vielleicht am ehesten was zu sagen.
Das Fachliche liegt ihm offenbar näher oder er glaubt sich leichter verständlich machen zu können. Ähm wenn ich jetzt vergleiche mit andern, also rein vom thematischen her, was ich öh sonst bearbeitet habe, ähm würd’ ich sagen das Thema was ich im Moment äh bearbeite, das Faszinierende is’ vielleicht daran, dass man äh ‘nen Zugang, also ‘nen experimentellen Zugang zu einer ähm Thematik da war ‘s vor fünf Jahren vielleicht noch nich’ möglich, dass ähm dem experimentell ähm auf die Schliche zu kommen,
Fendel wählt sein aktuelles Projekt als Ausgangspunkt. Es ist nicht sein erstes, er hat schon an anderen Fragestellungen gearbeitet. Anfänger ist also auch er nicht. Eine Besonderheit des aktuellen Projektes besteht darin, dass ein Thema, das bislang unzugänglich für den Forscher war, nun mit Aussicht auf Erfolg bearbeitet werden kann. Fendel arbeitet also in einem Gebiet, auf dem es kürzlich einen Durchbruch gegeben hat. Es gab eine Fragestellung, aber es gab keinen Zugang zum Thema, keine experimentellen Möglichkeiten der Überprüfung möglicher Hypothesen, nichts, was einen konkreten Handlungsplan eröffnet hätte. Irgendjemand hat dann eine Idee gehabt. Fendels Schilderung lässt zwei Schlüsse zu. Sein aktuelles Projekt hat eine viel größere Tragweite, als das, was er zuvor gemacht hat. Der Durchbruch ist wirklich
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bedeutsam, von dem Thema hängt alles Mögliche ab. Und: Es ist auch diese Art von Fortschritt, die exemplarisch als faszinierend dargestellt wird. Noch vor fünf Jahren hätte man sich das nicht träumen lassen, dass es einmal gehen wird. Die Wissenschaft ist also immer für Überraschungen gut. Sie ist lebendig, man weiß nie, was noch kommen kann. Sie ist ein Versprechen auf das Mögliche, darauf, dass es immer wieder überraschende Öffnungen gibt und weitergeht. Die Ähnlichkeit mit der Antwort von Hellwein ist offensichtlich. Aber hier ist die Aussage weniger von der Kontinuität des Neuen, als von einer plötzlichen Erweiterung der Möglichkeiten entwickelt. Es impliziert die Überwindung eines Stillstands, und diese Aussicht auf die abschließende Lösung eines Problems euphorisiert. Fendel war zwar nicht persönlich an der Entdeckung des Durchbruchs beteiligt, der in sein Leben wie von außen kam. Doch er ist an dem Arbeitsprogramm beteiligt, das die Erwartungen einlösen wird. Die Wissenschaft ist hier mehr einem Abenteuer vergleichbar, das immer wieder überraschende Umschwünge bereithält. auf die Schliche kommen ist wieder eine andere Formulierung für etwas herausbekommen, ein Rätsel lösen. Das ist kriminalistischer Jargon. Man will einem Täter auf die Schliche kommen, der flüchtig ist. Schliche meint, dass sich der Gesuchte durch lautloses Davonschleichen eines Zugriffs entzogen hat. auf die Schliche kommen heißt entsprechend, den Spuren der Flucht nachzugehen und auf diesem Wege zum Täter zu gelangen. Es ist eine Metapher für die rekonstruktionslogische Erschließung und für die Spurenlese eines Datenmaterials. Die Besonderheit ist, dass sich der Täter dem Zugriff zu entziehen sucht, indem er Spuren vermeidet oder nachträglich verwischt oder gar falsche Fährten legt. Dies zwingt dazu, die Spuren überhaupt erst sichtbar zu machen und ihnen dann Schritt für Schritt nachzufolgen, bis man zum Täter gelangt. Das geht nur mit Hilfe eines Gespürs dafür, wo man suchen muss, und man muss auch möglichen falschen Fährten folgen, um diese als solche zu erkennen. Auf die Schliche zu kommen heißt also, durch Zwiesprache mit den Spuren einen realen Hergang gedanklich „wiederherzustellen“. also es hat sich sozusagen ‘ne Tür geöffnet und ähm das is’ ähm, ja es is’ spannend zu sehen was bei ‘raus kommt demnächst,
Es hat sich ein Arbeitsprogramm aufgetan, und der Reiz besteht nun darin, durch die Tür wirklich hindurchzugehen, um zu sehen, was sich hinter der Schwelle befindet. Die geöffnete Tür steht für eine Verheißung. Der Forscher befindet sich in der Erwartung auf ein Ergebnis, von dem schon klar ist, dass es eintreten wird, wenn das Arbeitsprogramm erst abgearbeitet sein wird. Die Frage wird beantwortet werden. Es wird eine Lösung geben. Es gibt kaum einen stärkeren Anreiz für ein von Neugierde getragenes Erkundungsstreben.
184 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE das is’ vielleicht intre oder das Faszinierende dabei, es is’ nich’ so vorgezeichnet. Also es is’ nich’ vorgezeichnet und das is’ eben ma’
Fendel ist immer noch tastend und vorsichtig mit seiner Antwort. Er relativiert durch das Adverb vielleicht die Gewissheit seiner Aussage. Offenbar glaubt er jetzt aber einen richtigen Ansatz gefunden zu haben, denn seine Rede kommt in Fluss. es is’ nich’ so vorgezeichnet ist wieder eine Umschreibung dafür, dass es keine Routinen gibt, und es bezieht sich erneut auf die Tätigkeit des Erschließens, es ist nicht vom Gegenstand aus gedacht. Faszinierend ist also, dass es in der Wissenschaft keine Wegbeschreibung, keinen Konstruktionsplan, keine sichtbaren Pfade gibt, die nachgegangen werden könnten und die verlässlich ans Ziel führen würden. Das heißt, es ist schon ‘ein wenig’ vorgezeichnet, aber nicht so stark. Man steht nicht völlig blind und ohne Anhaltspunkt vor einer Aufgabe, hat Vorkenntnisse und kann aus ihnen hypothetische Konstruktionen entwerfen, aber diese müssen empirisch getestet und fortwährend angepasst werden. R. 3: Wa was heißt nicht vorgezeichnet? Kannste das vielleicht ‘n bisschen genauer ausführen? I 3: (..) Naja, is’ (lacht kurz) schwer zu sagen, ich weiß ja, man weiß halt vorher nie was dabei ‘rauskommt,
Es ist immer ungewiss, was die Ergebnisse am Ende einer Untersuchung sein werden. Das macht die Wissenschaft spannend, weil von den Ergebnissen wiederum abhängt, wie es weitergeht. Ergebnisse können enttäuschend sein, sie können aber auch aufregend sein und weitere Türen aufstoßen. also das was ich ja bearbeite im großen Rahmen [R.: mh], das is’ ähm Kortexentwicklung und ähm durch also durch gewisse Entdeckungen in letzter Zeit is’ es eben äh möglich geworden bestimmte Entwicklungsaspekte ähm zu studieren und ähm, wie soll ich das sagen, das is’ ähm (...) mh, fallen mir jetzt nich’ die richtigen Worte dazu ein, ich meine das is’ nich’, es is’ nich’ vorgezeichnet [R.: mhm] was man da jetzt ähm so finden kann also d [R.: ja, mhm] ich meine der Neugierde [R.: klar, mhm] is’ da Raum gegeben, so würd’ ich das sagen. [R.: mhm]
Er nimmt seinen konkreten Projektrahmen zu Hilfe, um das Thema zu erläutern. Der Kortex ist die Großhirnrinde und Sitz vieler wichtiger neuronaler Funktionen der Wahrnehmung, Sinnesverarbeitung und des sogenannten Bewusstseins. Die Entwicklung des Kortex – gemeint sein kann die ontogenetische Entwicklung wie auch die evolutionsbiologische Entwicklung – ist von großem Interesse beim Versuch, das zentrale Nervensystem höherer Säugetiere besser zu verstehen. Was mit den gewissen Entdeckungen gemeint ist, wird weiter unten etwas genauer ausge-
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führt und kann an dieser Stelle vernachlässigt werden. Es gelingt Fendel ohnehin nicht, den gewünschten Punkt gleich zu treffen, und da bricht er lieber ab. Stattdessen fällt ihm eine neue Umschreibung ein. der Neugierde is’ da Raum gegeben, so würd’ ich das sagen... Wie selbstverständlich wird die Wissbegierde als eine eigenständige Antriebsquelle des Wissenschaftlerhandelns unterstellt. Der Wortlaut legt nahe, dass die Neugierde eine latent ruhende, aber jederzeit anzuregende geistige Struktur ist, die aktiviert wird, sobald ein interessanter Gegenstand in ihr Blickfeld tritt und sich ihr die Chance bietet, diesen zu untersuchen, mehr über ihn zu erfahren, sich also gewissermaßen selbst weiter anzuregen. Es ist an Erwartungen und Chancen gekoppelt. Die Entdeckungen, von denen Fendel spricht, haben offenbar solche Chancen eröffnet, dem untersuchten Gegenstand noch näher zu kommen und sein Rätsel zu lösen. R. 4: (.) Und kannste das äh äh also äh deine konkrete Forschungsfrage ähh äh vielleicht auch noch dazu explizieren, dass ich mir das konkreter vorstellen kann, [I: mhm] wie deine I 4: Na ja gut [R.: *Tätigkeit Moment* aussieht] *ich hab’ ich hab’* ähm ich hab’ also in der Session heute heute Vormittag ich hab’ versucht, dass so ‘n bisschen zu erklären
Der Interviewpartner hatte schon beim Vorgespräch eine erste Erklärung versucht und möchte nun daran anknüpfen. Session, englisch ausgesprochen, ist kolloquial und bekundet, dass es nicht bloß um das Kennenlernen und Anbahnen der Interviews ging, sondern um erste Vorklärungen, welcher Fragestellung und Projektidee die Forschergruppe nachgeht. ähm der also man man kennt eben den Aufbau vom zerebralen Kortex und ähm die Entwicklung von von diesem von dieser Struktur das is’ was sehr schwieriges, was man äh, wo man sch nur schwer Zugang hat sowas zu studieren wie das funktioniert. Und äh jetzt is’ es eben durch Zufall hat jemand ein bestimmtes Gen gefunden, was ähm die Entwicklung vom Kortex in ganz spezifischer Weise beeinflusst und also seit äh seit äh dreißig oder vierzig Jahren kennt man eine bestimmte Mausmutante bei der die Kortexschichtung sozusagen umgekrempelt ist und äh man hat also diese Mutante beschrieben, man hat das äh versucht äh als Modellsystem zu nehmen, um da eben äh Anhaltspunkte zu kriegen wie sich so ein so ‘ne komplizierte Struktur entwickelt wie der Kortex und ähm durch Zufall hat eben jemand gefunden, dass diese Veränderung auf ein einzelnes Gen zurückzuführen is’. Und ähm (.) also in der experimentellen Forschung brauch’ man ja immer irgendein eine man muss irgendwas haben, wo man angreifen kann,
Man hatte eine Maus entdeckt, die eine auffällige Veränderung am Gehirn aufwies, und zwar genau in der Region, für die sich die Hirnforscher interessieren. Die Schichten der äußeren Hirnrinde waren in umgekehrter Folge angeordnet, als dies gewöhnlich bei dieser Mäuseart der Fall ist. Was normalerweise innen liegt, ist
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außen, und was normalerweise außen liegt, ist innen. Das ist ein ziemlich ungewöhnliches, vielversprechendes Phänomen. Es verweist auf eine massive Veränderung in der Ontogenese: Die Organisation tausender von Zellen muss bei der Organbildung anders verlaufen, als bei der Normalmaus. Das ist vielversprechend, weil man sich für den Mechanismus interessiert, der die Anordnung der Nervenzellen im Gehirn während der Wachstumsphase reguliert. Die Frage ist also, was für diese Regulation verantwortlich ist und wie genau die Veränderung gesteuert wird. Die Mausmutante macht Hoffnung, den Regulationsmechanismus besser kennenzulernen, weil man versuchen kann, die beteiligten Gene zu bestimmen und die durch sie ausgelösten Folgeprozesse besser zu verstehen, indem man sie moduliert oder manipuliert. Zu diesem Zweck muss man die beteiligten Gene aber erst einmal kennen. Und da liegt die größte Schwierigkeit. Offenbar ist es aber schneller gelungen, das Gen und seine Funktionen zu identifizieren, als zu erwarten war, denn es ist jemandem durch Zufall gelungen, die Mutation auf ein einzelnes Gen zurückzuführen. Es war nicht geplant, es war nicht gezielt danach gesucht worden, sondern wurde bei irgendwelchen anderen Untersuchungen nebenbei entdeckt. Dass es ein einzelnes Gen ist, bringt einen großen Vorteil, weil es die Dinge vereinfacht. Man muss nicht komplex zusammenspielende Faktoren gleichzeitig berücksichtigen, sondern hat eine einfache Ausgangsbasis. Das hat die Mausmutante auch für die Kortexforschung interessant werden lassen. Offenbar ist die Mausmutante außerdem für die Forschungspraxis im Labor geeignet. Die Maus kann nachgezüchtet werden und ihr Genom ist bekannt. Das hat sie dafür prädestiniert, als Modellsystem zur Verfügung zu stehen. Von Modellsystemen ist vor allem in den Lebenswissenschaften die Rede. Das Wort ist sowohl in den Neurowissenschaften, als auch in der Evolutionsbiologie oder Genetik gebräuchlich. Gemeint ist eine Spezies oder das Teilsystem innerhalb eines Organismus (wie zum Beispiel der Nervus opticus im zentralen Nervensystem), die sich für die methodisch kontrollierte Untersuchung bestimmter Mechanismen labortechnisch und experimentell besonders gut eignen. Modellsysteme sind exemplarisch gewählte Forschungsobjekte, an denen sich etwas erforschen lässt, das von allgemeiner Bedeutung ist. Sie haben Modellcharakter, insofern sie als Muster oder Vorbild für die Erforschung anderer vergleichbarer Systeme dienen können und sie haben oft den Vorteil einer einfachen Handhabung und Verfügbarkeit, einer analytischen Übersichtlichkeit und einer leichten Isolierbarkeit. Modellsysteme sind es, weil es sich um komplexe, aber isolierbare Strukturen handelt, die ihre Funktion im Zusammenspiel vieler Einzelkomponenten erbringen. in der experimentellen Forschung brauch’ man ja immer irgendein eine man muss irgendwas haben, wo man angreifen kann. Der Forscher ist darauf angewiesen, dass sich ihm ein Punkt bietet, an dem er einen Hebel ansetzen kann. Das Wort angreifen ist hier analog zum Wort ansetzen zu verstehen. Es geht darum, durch geschickte Maßnahmen ins Innere eines Unbekannten zu gelangen. Dazu wird nicht
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nur eine Hypothese benötigt. Man muss in einem Experiment oder in einer Beobachtungsreihe Daten erzeugen, an denen sich eine These überprüfen lässt. Man braucht also einen guten Einfall, wie ein solches Experiment aufgebaut sein könnte. Ein Experiment ist ja ein planvolles Handeln, das darauf abzielt, der Natur eine Ausdrucksgestalt zu entlocken, die eindeutig interpretiert werden kann, und zwar unter vollständig kontrollierten Bedingungen. Experimente zu entwerfen setzt sowohl eine intime Kenntnis der Struktur und Qualität eines konkreten Untersuchungsobjektes, als auch eine virtuose Beherrschung verfügbarer Methoden der Datenerhebung und Experimentaltechniken voraus. Einen guten Angriffspunkt zu finden ist darum die eigentliche kreative Herausforderung in der experimentellen Forschung. Die Mausmutante bietet offenbar einen solchen Angriffspunkt in der Kortexforschung. also ein eine Zelle oder ein Gewebe oder ein äh oder ein Gen und jetzt hat sich eben hier mit mit dieser mit dieser Entdeckung hat sich eben der Weg geöffnet über dieses eine Gen, was da so ‘ne bedeutende Rolle spielt [R.: mhm] in der Entwicklung, ähm ‘nen experimentellen Zugang zu finden, weil man hier genau weiß, dieses Gen und dieses Genprodukt äh steuern ein die Entwicklung einer ganzen komplexen Struktur, und das ähm erscheint mir eben interessant [R.: mhm], dass so was zugänglich geworden is’.
Das Gen ist der Schlüssel, weil ihm ein eindeutiger Kausalzusammenhang zugeschrieben werden kann. Immer dann, wenn das Gen manipuliert wird, verändert sich auch die Kortexstruktur. Und immer dann, wenn andere Gene manipuliert werden, verändert sich die Kortexstruktur nicht, sondern irgendetwas anderes. Die Anzahl der Einflussfaktoren, die den Prozess steuern, ist nicht von vornherein so unübersichtlich, dass ihre Erforschung aussichtslos erscheint. Das verschaffte den Wissenschaftlern die Möglichkeit, in einem überschaubaren Rahmen einen einzelnen Mechanismus genau unter die Lupe zu nehmen. Man will besser verstehen, wie sich aus einer genetischen Information, die bekannt ist, eine komplexe Gewebestruktur, die auch bekannt ist, entwickelt. Und nachdem beides einander zugeordnet werden konnte, bietet sich nun die Chance, genauer zu erforschen, über welche Zwischenschritte das läuft und was den Prozess steuert und reguliert. Am Ende der Passage kehrt der Text zur Ausgangsfrage zurück. und das ähm erscheint mir eben interessant, dass so was zugänglich geworden is... Das Wort eben unterstreicht, dass das Interesse nicht mehr weiter begründet werden kann. Es ist eben so! Fendel signalisiert damit, dass er nicht viel mehr dazu sagen kann. Es ist eine Eigenschaft der wissenschaftlichen Tätigkeit selbst, die den Forscher fasziniert, nämlich dass Fragestellungen, die lange einem Schloss mit sieben Siegeln glichen, plötzlich mit Aussicht auf Erfolg bearbeitet werden können. Interessant wird es, wenn sich plötzlich Räume öffnen, in die der Geist vorstoßen kann, wenn Wege
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in ein Terrain erschlossen werden können, das lange unzugänglich war. Das ist offenbar etwas sehr Vielversprechendes und Verheißungsvolles, es erzeugt Erwartung auf Gewinn und persönliches Fortkommen. R. 5: (..) Und äh dieses äh bedeutende Gen oder dieses eine Gen was äh diese äh wichtige Rolle äh hat äh als davon Kenntnis bekommen hast, war dir da äh gleich klar das is’ äh eine spannende Sache oder wie bist du an die Thematik gekommen die du jetzt bearbeitest? I 5: Mh, naja also dass das dann äh spannend is’ das is’ das is’ einem dann klar, war mir klar, ähm es is’ eben nur normalerweise so, dass man äh wenn jetzt hi irgendjemand was entdeckt äh, man hat dann nich’ unbedingt äh äh Zugriff [R.: ja] oder Zugang zu solchen Arbeiten ähm, es is’ jetzt hier vielleicht eher so, dass in in der, also in in unserer Arbeitsgruppe wird also ein Modell bearbeitet, ähm was ein sehr geeignetes Modell ist um die Funktion von diesem Gen eben zu studieren und ähm das is’ also, wenn man so will, ‘ne äh ‘n ‘n glücklicher Zufall, weil ähm irgendjemand ander’s hat hat also dieses dieses Gen entdeckt, wir haben das System dazu und man kann dann also versuchen, äh den andern Forscher zu kontaktieren, ähm um dann eben Material das Material von ihm zu bekommen, ähm um das um damit dann die Studien an dem eigenen System zu betreiben,
Ein neuer Aspekt kommt zur Sprache. Nicht das Erkennen des Befundes, der einen Durchbruch bedeutet, ist das Problem, sondern die Verfügbarkeit der Informationen (über die Mausmutante) für alle Kollegen. Ein Wissenschaftler entdeckt ein Gen und publiziert seine Entdeckung, aber er wird im Text nicht so konkret, dass für andere Forscher das Gen genau lokalisiert werden könnte. Sie benötigen weitere Informationen, ohne die sie nicht eigenständig weiterforschen können. Diese erhalten sie aber nicht unbedingt. Oder der Wissenschaftler entdeckt eine interessante Mutation, gibt aber die Mausmutante nicht heraus. Der Austausch unter den Wissenschaftlern kann also ein Problem sein. Offenbar kommt ein solches Verhalten nicht selten vor. Viele Wissenschaftler wollen den Auswertungsgewinn einer Entdeckung selbst realisieren, bevor sie eine Entdeckung komplett herausgeben. Das wirft interessante Fragen zur Professionsethik auf. Wissenschaftler benutzen bei ihrer Arbeit immer schon Wissen, das von anderen Wissenschaftlern vor ihnen erarbeitet wurde. Sie verdanken früheren Generationen viel und sind darum verpflichtet, ihrerseits neue Erkenntnisse weiterzugeben. Sie sind in einen Generationenvertrag eingebunden. Wissenschaftler werden außerdem von der Öffentlichkeit alimentiert. Sie sind verpflichtet, ihr erarbeitetes Wissen gemeinwohldienlich weiterzugeben, müssen neue Befunde fachöffentlich machen, damit sie von Kollegen bewertet und überprüft werden können. Gleichzeitig ist es aber in einem gewissen Rahmen legitim, eigene Erkenntnisse zunächst selbst für weitere Forschungen verwerten zu wollen. Das wird von der Profession auch wie selbstverständlich anerkannt. Wo hört aber die legitime Selbstverwertung auf und fängt eine partikularistische Eigennützigkeit
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an, die der Profession schadet und professionsethische Regeln verletzt? Das ist zum einen eine Frage der Fristen; jahrelange Publikationsverweigerung ist sicher inakzeptabel, aber einige Monate, die benötigt werden, um einen Aufsatz auszuarbeiten, oder einen Förderungsantrag für die Anschlussforschung zu schreiben, müssen zugestanden werden. Zum anderen ist es eine Frage der konkreten Umstände. Ein Wissenschaftler muss Arbeiten von hohem Aktualitätswert eher publizieren, als randständige Entdeckungen. Wenn er eine bahnbrechende Gen-Maus einfach ‘bunkert’, ohne mit ihr zu arbeiten, obwohl andere sie dringend gebrauchen könnten, ist das ein forschungsschädigendes Verhalten und muss sanktioniert werden. Selbst wenn er Chancen einer kommerziellen Verwertung sieht, und deshalb eine Entdeckung zurückhält, kann das legitim sein. Aber diese Verwertung kann nicht darin bestehen, die Maus anderen Kollegen zu Forschungszwecken zu verkaufen. Geheimhaltung von Wissen aufgrund eines kommerziellen Interesses ist nur legitim, wenn es darum geht, einen Zeitvorsprung bei der Entwicklung von Folgeprodukten zu gewinnen, die auf dem Markt für Gebrauchsprodukte oder Anwendungen abgesetzt werden können. Das sind klare Fälle. Es gibt aber gerade in den Biowissenschaften inzwischen einen großen Graubereich, und es wäre für die Professionalisierungstheorie von großem Interesse, das näher zu erforschen. Fendel deutet an, dass es in der Biologie ganz normal ist, eigene Entdeckungen strategisch zurückzuhalten. Im Projekt, in dem er arbeitet, herrscht aber insofern eine geklärte Situation, als man etwas anzubieten hatte, um an das Gen heranzukommen. Der Entdecker des Mäuse-Gens hat sich nicht schädigend verhalten, sondern gesehen, dass die Forschergruppe ein Gegenstück hatte, mit dem gewinnbringend weitergeforscht werden konnte. Die Kooperation hat sich an der Gemeinschaftsaufgabe der Forschung orientiert. also es is, sagen wir mal so, es gibt ähm gibt das Feld oder die Felder sind immer so spezialisiert, dass der eine macht das eine der andere macht irgendwas anderes und ähm (.) häufig is es eben notwendig durch ne durch ne Kooperation zwischen zwei Gruppen ähm zu einem, erstmal zu ner fruchtbaren Arbeit zu kommen, also es is nich immer einer alles oder es kann nich eine Arbeitsgruppe alles sondern die einen betrachten vielleicht eher ein äh ein ein Organ oder Funktionen von irgendeinem physiologischen System oder irgendjemand anders hat ein Fragment in der Hand was jetzt in diesem System grade wichtig ist. Und jetzt haben wir eben dieses, bearbeiten dieses System und jemand anders hat ein wichtiges n wichtigen Mosaikstein dazu gefunden ähm der jetzt eben ähm geeignet ist da Licht reinzubringen in das was wir bearbeiten. [R.: mhm]
Es geht um einen sozialen Aspekt des intellektuellen Innovationssystems der Wissenschaft. Die wissenschaftliche Gesamtleistung beruht auf der Pluralität von Einzelaktivitäten einzelner Forschergruppen. Diese verfolgen eigene Fragestellungen und Wege, haben eigene Untersuchungsfelder und Modellsysteme, bilden aber doch
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einen Erfahrungszusammenhang, weil sie zu denselben Generalthemen arbeiten und Erfahrungen übertragbar sind. Jede Projektarbeit kann potentiell für andere Projekte wichtig werden. Es gibt aber kein einheitliches Steuerungszentrum, das die Einzelprojekte nach einem Gesamtplan koordinieren würde. Kooperationen sind anfangs nicht geplant. Auch kann man zunächst nicht von Arbeitsteilung sprechen, denn diese setzte einen gewissen Grad von Abgestimmtheit immer schon voraus. der eine macht das eine der andere macht irgendwas anderes. Die Forschungsprofession verhält sich in gewisser Weise chaotisch und doch entwickeln sich die Projekte zum gegenseitigen Vorteil. Grundlage dieser Entwicklung ist, dass die genetisch-molekularbiologische Herangehensweise heute es nochmals gesteigert erforderlich macht, dass sich Projekte auf sehr spezielle Untersuchungsfragen an ausgewählten Modellsystemen konzentrieren. Sie decken also niemals den Gesamtzusammenhang ihres Gegenstandes ab, sondern nur Ausschnitte, überschaubare Einzelaspekte. Gleichzeitig wächst mit dem Spezialisierungsgrad auch der Grad der Generalisierbarkeit oder Übertragbarkeit ihrer Erkenntnisse auf andere Spezialgebiete. Denn diese spezialistische Forschung ist keine Quisquillienforschung. Ihren Resultaten kommt ein hohes Maß an exemplarischer Bedeutsamkeit zu. Die Erfahrungen an den Modellsystemen sind, obwohl funktional verschieden, vergleichbar, können aufeinander bezogen werden. Es ist daher eine generelle Entwicklung, dass Projekte gewissermaßen einen Überschuss an Erkenntnissen abwerfen, die auch für andere zentral sind und für sie selbst vielleicht sogar nur von nebensächlicher Bedeutung, während jenes andere Projekt etwas entwickelt hat, das wiederum dieses sehr gut verwerten kann. Das gilt für „Mausmutanten“, für inhaltliche Erkenntnisse, für methodische Kompetenzen. Dieser Cross-over Vorteil fürs Ganze kann natürlich nur realisiert werden, wenn die Einzelprojekte sich ständig austauschen und Bereitschaft zur Kooperation zeigen. Und diese Kooperation ist immer ein Geben und Nehmen. Dem, der gibt, muss etwas in Aussicht gestellt sein, und sei es, dass eine Frucht der eigenen Arbeit in einem anderen Projekt aufkeimen kann, während sie im eigenen Projekt nur ungenutzt liegenbleiben würde. Ein Forschungsprojekt entwickelt sich also immer in einem Umfeld von anderen Projekten, und mit einigen von ihnen geht es nächste Schritte gemeinsam. Jedes neue Projekt ist das Ergebnis einer Integration von Fremdem im Eigenen und Eigenem im Fremden, der Fortschreibung eigenen Denkens im Lichte der Erkenntnisse anderer. Was diesen sozialen Modus von Erkenntnis ermöglicht, ist die Fachöffentlichkeit der Ergebnisse, ihre Publizität, der Austausch; in dem die Ergebnisse daraufhin befragt werden können, was sie für die eigenen Forschungsinteressen bedeuten und ob sie sich forschungstragegisch verwerten und intergieren lassen. (Als Format der Präsentation hierfür hat sich das Poster auf den Tagungen durchgesetzt.) In dieser Logik des Austauschs drückt sich indirekt aus, dass eine Wissenschaftsdisziplin als solche forschungspraktisch gar nicht existent ist. Es gibt kein planendes Zentrum, keine intellektuelle Regierung und kein Supercomputer, bei
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dem alle Fäden zusammenlaufen. Sie existiert immer nur in einzelnen Forschergruppen, die den kollektiven Bildungsprozess ihres Fachs jeweils in sich abbilden und vorantreiben, auch wenn dies selbstverständlich immer nur eingeschränkt erfolgen kann und an diejenige partikulare Perspektive gebunden bleibt, die von den Bildungsgeschichten ihrer Mitglieder vorgegeben wird. Oberhalb dieser Ebene existiert Forschung gar nicht. Resümee Der Fall Fendel bringt eine Faszination des Wissenschaftsberufs zum Ausdruck, die noch stärker als die bisher betrachteten Fälle die soziale oder kollektive Eigenlogik des Forschens heraushebt. Die Faszination des Durchbruchs ist gekoppelt an die Kooperation vieler Forschergruppen. Das Erschließen von Neuland beruht auf einer Verknüpfung von Einsichten, die für sich genommen bekannt sind, aber erst in der Zusammenführung die Forschung praktisch weiterführen, und dieser logisch-gedankliche Prozess der Synthesis ist zugleich ein sozialer Prozess, weil er in einem lebendigen Kollektiv von Forschergruppen eingebettet erfolgt, als Kooperation und Verschmelzung von Einzelprojekten. Fendel ist jemand, der sich Forschung nicht als Resultat einer individuellen Anstrengung denkt, auch nicht gegen das dynamische Kollektiv seine individuelle Karriere zu behaupten sucht, sondern gerade davon fasziniert ist, Teil eines dynamischen Kollektivs zu sein. Er lässt sich mitreißen.
Fall 4: Privatdozent Dr. Bertram, Neurobiologe und Laborleiter
„den Dingen auf die Spur zu kommen,… wie der
Schwabe sagt: das Würzele wissen wollen“
Vorbericht Im folgenden Interview wird der Zusammenhang von technisch-experimenteller Entwicklung und praktischem Durchbruch noch weiter erhellt. Herr Bertram ist der Ehegatte von Frau Bertram. Bertram ist Mitte vierzig, Privatdozent und Teilprojektleiter im SFB. Er ist Dozent am anatomischen Institut und gilt bei seinen Doktoranden und Mitarbeitern als sehr guter Doktorandenbetreuer, der sich viel Zeit für Erläuterungen und Einweisungen in Labortechniken nimmt. Er ist der eigentliche Leiter der Labors. Auch an den Präparationskursen ist er beteiligt. Abkürzungen und Notation I: Interviewer A: Herr Bertram *und* *aber*: gleichzeitig gesprochen aber: betont gesprochen (lacht): Anmerkungen des Verschrifters #: Abbruch (.), (..), (...), (x Sek.): Pausen (uv): unverständlich Herr Bertram wird eingangs gefragt,
was Sie an dem Job, den Sie machen, fasziniert, ganz persönlich. A1: Oh je, das ne ganz schwie(lacht) [I: (lacht) Ja], ganz schwierige Frage, also, ähh (unv.,) würde erstmal [I: Ja] ganz kurz beantworten, ähh (.) ich glaub, das hängt so n bisschen dann, zum einen dann halt mit der Na mit der Natur zusammen, also ich glaub, ich bin ne so n biss-
194 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE chen ne ne ne Tüftlernatur, und mich interessieren einfach Zusammenhänge, [I: Ja] und äh ich hab jetzt nicht ganz straightforward dann zur Biologie gefunden, [I: Ja] aber (.) das ist sozusagen eine Spielwiese, auf der man diesen Tüftlertrieb dann eben auch n bisschen [I: Aha] ausleben kann. Also das würd ich dann so mal so ganz allgemein sagen, [I: Ja] weil, wie gesagt, also der der Weg dazu war eigentlich eher so, dass, man hat irgendwann Abitur gemacht, und ähh (.) dann hat man sich überlegt dann, was was macht man jetzt, also s ist nicht so, dass ich dann jetzt schon immer irgendwie n Faible für die Biologie gehabt hätte, und dann mehr so nach dem Ausschlussprinzip dann verfahrend ähh dann bei der Biologie gelandet ist, [I: Ja] und das ist aber natürlich schon irgendwie mit dem, also was ich schon immer eigentlich war, dann eben so naturwissenschaftlich orientiert, also das war dann früher mm mehr dann so Astronomie, ?übern?, und solche Geschichten dann, [I: Aha] aber ich denk, es unterscheidet sich jetzt nicht im we nicht wesentlichen dann, also die die Art und Weise, dann (.) [I: Ja] dann den Dingen, die, den Dingen auf die Spur zu kommen, [I: Hmhm] vielleicht so.
Bertram entwickelt seine Antwort aus der Rekonstruktion seiner berufsbiographischen Anlagen her. Er ist der klassische Fall eines Forschers, der schon früh eine habituelle Disposition zur Forschung verspürt, sich aber noch nicht auf konkrete Forschungsinteressen festgelegt und auch keine klaren Vorstellungen einer späteren Berufskarriere vor Augen hatte. Alles Mögliche interessiert ihn und er nutzt die Freiheit des akademischen Studiums, um quer durch die Fächer seinen Interessen nachzugehen. Dass er in der Biologie landen würde, stand zu diesem Zeitpunkt nicht fest. Es ist aber auch nicht Zufall, denn er hat vieles andere ausgetestet und ist dort geblieben, wo seine Neugierde am meisten angeregt wurde. Ausschlussprinzip nennt er das Verfahren. Das ist natürlich ein nachträglich gebildeter Begriff. Er hat nicht zielstrebig straightforward auf Abschluss studiert. Es gab eine klare Ausgangsdisposition, das war sein Grundinteresse für die Naturwissenschaften, eine geistes- oder sozialwissenschaftliche Karriere war schon ausgeschieden. Innerhalb des naturkundlichen Fächerspektrums hat ihn zunächst die Astronomie noch sehr interessiert; das heißt, er hat neben seinem Hauptstudium in andere Fächer hineingeschaut, hat manches wieder fallenlassen, anderes aber fortgeführt, bis sich ein roter Faden abzuzeichnen begann, dem er dann gefolgt ist. Das war die Biologie. Das entspricht einer klassischen Bildungskarriere, wie sie die Tradition der HumboldtUniversität mit ihren geringen Graden der Verschulung ermöglichen sollte. Der Student wurde durch die Vielfalt des Lehrangebots, das ihm offenstand, gezwungen, sich einen eigenen Weg zu bahnen, und hatte die Chance dabei, sich und seine Interessen, Talente und Begabungen besser kennenzulernen. Das ursprünglich Führende war also nicht ein Faible für die Biologie, sondern ein allgemeines Forscherinteresse, für das er die Formel findet: den Dingen auf die Spur zu kommen, [I: Hmhm] vielleicht so – wieder eine kriminalistische Metapher für das Erschließen
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eines Unbekannten. Auch hier ist die Biologie wieder nur ein Forschungsgebiet, das jenes Forscherinteresse exemplarisch zu binden vermochte. Bertram übt den Forscherberuf aus, weil er dort seiner Tüftlernatur nachgehen kann, wie er das nennt. Im Tüftlertrieb sieht Bertram eine Disposition seiner Persönlichkeit. Auch das ist Teil einer nachträglichen Rekonstruktion. Warum zieht aber die Biologie Tüftlernaturen an? Das ist doch überraschend. Man würde eher erwarten, dass Tüftler bei den Ingenieuren landen. Eine „Tüftlernatur“ ist ständig dabei, etwas auszuprobieren. Sie will sehen, ob etwas funktioniert. Tüfteln betont das Herstellen von etwas, für das es noch keinen Bauplan gibt. Der Tüftler benutzt Werkteile oder Geräte, die eigentlich für andere Zwecke erfunden worden waren, um sie für einen neuen Zweck einzusetzen. Es macht ihm Spaß, Komponenten aus einem Apparat auszubauen und ihre Einsetzbarkeit auf anderen Feldern für neue Probleme zu testen. Tüftlernaturen findet man vor allem bei den Ingenieuren, Informatikern, Computerfreaks, oder auch bei Maschinenbauern. Bertram sieht auch die Biologie als eine Spielwiese an, auf der sich der Tüftlertrieb ausleben lässt. Wie er das genau versteht, bleibt zunächst offen.
I2: Also, den Dingen auf die Spur kommen, das wäre, [A: Mhm] (.) auf die Formel könnte man [A: Mhm] (.) das Faszinosum bringen (fragend) Das Tüfteln würde mich noch interessieren, also, können Sie das noch vielleicht etwas genauer beschreiben, was Sie mit, also, (.) unter Tüftler versteht man ja auch Leute, die, was weiß ich, äh aus Materialien [A: Mhm] äh Dinge zusammenbauen, [A: Mhm] ähh also, oder die, was weiß ich, Geschicklichkeit haben im Reparieren [A: Mhm] und im Anpassen [A: Mhm] von Geräten, [A: Hmja] oder Werkzeugen; A2: Ja ich mein, so *zumindest mein* I3: *Erfinder wären* auch Tüftler, nich.
Der Interviewer bietet mehrere Variationen des Themas Tüfteln an, um zu einer weiteren Klärung einzuladen.
A3: Erfinder sind dann natürlich ne, vielleicht ne Spezialform von [I: Ja, ja] Tüftlern, in denen das äh, also je nachdem, wo i, also man kann ja was zufällig erfinden, oder [I: Ja] man kann das vielleicht auch in gewissem Maße dann [I: Ja] gezielt betreiben, aber jetzt dieses, ähh was Sie jetzt gesagt haben, dieses Hantieren mit verschiedenen [I: Mhm] Materialien, also ob [I: Mhm] ob das jetzt irgendwie was Basteln ist, dann wenn [I: Mhm] äh, solche Tüftler gibts dann eben auch, aber das ist also, glaub ich...
Bertram versucht einzugrenzen, was er unter einer Tüftlernatur versteht. Der Erfinder ist nur eine Unterkategorie. Um ihn geht es also nicht. Auch die Bastler, die gerne an Geräten herumschrauben und bei denen dies Selbstzweck ist, hat er nicht
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vor Augen. Es ist klar, dass sich Bertram selbst eher zu den Systematikern zählt. Das Hantieren mit Materialien, wie es der Hobbyschreiner gerne macht, oder das Basteln des Modelleisenbahners sind nicht das, woran er denkt. das, was mich dann jetzt [I: Mhm] vor allem anspricht dann, und was ich auch [I: Mhm] jetzt darüber hinaus dann auch mmm für sehr wichtig halte, wenn man Wissenschaft betreiben will, ist einfach, sehr wei auch, also sehr verschiedene [I: Mhm] (.) ähh Ideen und [I: Mhm] Werkzeuge und Anregungen [I: Mhm] und so weiter, dann versuchen, in diese [I: Mhm] Arbeit dann, oder in diese spezielle [I: Mhm] Fragestellung, auf die man sich ja irgendwann [I: Mhm, mhm] dann auch mal einschießen muss, also [I: Mhm] das da einzubringen, also ist jetzt nich; [I: Mhm] (.) hmm Also auch rein rein vom von der Vorgehensweise her, glaub ich, äh (.) liegts, kommts mir sehr nahe, dann zu sagen, gut, ich ich hab, kann jetzt, ä hab jetzt n Repertoire ganz verschiedener [I: Mhm], weit auseinanderliegender Techniken, die, [I: Mhm] also von ähm deskriptiven morphologischen Techniken, also nur irgendwas [I: Ja] anschauen und sich [I: Ja] dann n Bild machen und sich zu überlegen, [I: Ja, ja] äh was könnte das bedeuten, [I: Ja] bis zu so, ähh bis Techniken, wo man, also sehr ins Detail gehenden, einfach [I: Mhm] einen kleinen Schritt dann versucht, auseinanderzunehmen, [I: Hmhm] also wenn man wenn man wenn man dann eben versucht, diese verschiedenen Ansätze dann [I: Mhm] zusammenzubringen,
Den etwas apokryph wirkenden Ausführungen lässt sich ein im Grunde einfacher Gedanke entnehmen: Der Erfahrungswissenschaftler braucht ein möglichst großes Arsenal an Ideen, Werkzeugen und Anregungen, die er im Kopf haben muss, um sie bei Bedarf für die Datenerhebung und den Entwurf neuer Experimente einsetzen zu können. Er muss sich kompetent in diesen Methoden und Techniken mit Spaß an ihrer Anwendung bewegen können und auch ungewöhnliche Zusammenstellungen sich getrauen, um neue Vorgehensweisen zu entwickeln. Es geht hier also um eine kreative Synthesis der Einsatzmittel beim Entwurf experimenteller Versuchsanordnungen, die Bertram als eine eigenständige Gabe und Anforderung des Wissenschaftlerberufs beschreibt, für die er selbst ein Händchen zu haben glaubt. Hier spricht also der Virtuose der Labormethoden, der Konstrukteur neuer Experimente. Wir können diesen Aspekt in das oben (Fall 3 Fellner) skizzierte Modell der Logik der Forschung einfügen. Der Erfahrungswissenschaftler setzt seine Hypothesen ganz gezielt einem Test aus, um ihre Belastbarkeit zu prüfen. Er geht dabei wie beschrieben vor: Er bildet eine Negation der tragenden, explorativen Prämisse seiner Hypothese und konstruiert gedanklich, welche Phänomene in der Realität dieser Negation entsprechen würden. Deren Existenz versucht er dann nachzuweisen. Gelingt ihm dies, ist sein Modell gescheitert, gelingt es ihm nicht, kann er bis auf weiteres von seiner Geltung ausgehen und in der theoretischen Modellkonstruktion voranschreiten, woraus dann erneut Hypothesen hervorgehen werden, die ihrerseits einem Test ausgesetzt werden müssen, in denen auch jene Ausgangshypothese je-
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derzeit noch scheitern kann. Das ist die erkenntnislogische Seite. Handlungslogisch verlangt jede Hypothesenprüfung die Konstruktion und Durchführung einer Versuchsanordnung, eines Experiments, einer Beobachtungsreihe oder sonst irgendeiner Form der gezielten Datenerhebung. Das bedeutet, dass an einem Gegenstand etwas gezielt hervorgelockt oder freigelegt, ein Objekt zu einer bestimmten Reaktion oder Äußerung, zu einem bestimmten Verhalten oder Effekt bewegt werden soll, die sich mit Blick auf die Frage der Existenz jener Falsifikatoren wenn möglich eindeutig interpretieren lassen. Schon die Konstruktion und erst recht die Durchführung einer Untersuchung bringen dabei jedoch viele Schwierigkeiten mit sich. Wie zeichnet man ein Phänomen auf, das vielleicht nur wenige Nano-Sekunden existiert? Wie filtert man ungewollte Einflussquellen weg, die den Empfang gewünschter Daten stören? Wie fragt man in einem Interview seinen Gesprächspartner so, dass dieser nicht nur sein Selbstbild reproduziert, sondern tiefersitzende Habitusformationen sichtbar werden, die sein Handeln viel mehr als jene steuern, ihm aber oft gar nicht bewusst sind? Es geht stets darum, Daten zu erzeugen, die wirklich aussagekräftig sind und eine wissenschaftliche Frage entscheiden können. Dabei braucht der Forscher nicht nur eine Idee für ein Experiment, sondern er muss auch viele Regeln und Normen berücksichtigen: Das Zustandekommen der Daten muss für jedermann nachvollziehbar sein, ein Effekt oder Phänomen muss wiederholt werden können, oder es muss ein Protokoll geben, damit das flüchtige Datum in Ruhe ausgewertet werden kann. Die Datenerhebung muss in jeder erdenklichen Hinsicht einer methodischen Kritik standhalten. Alles dies verlangt Techniken der Aufzeichnung, der Messung, der Visualisierung. Der Wissenschaftler braucht dafür einen technischen Einfallsreichtum. Der Tüftler im Wissenschaftler lotet daher ständig die Einsatzmöglichkeiten neuer Techniken und Ansätze aus, von denen er hört und die er sich beibringen lässt. Er will die Bandbreite der Anwendungsmöglichkeiten ermessen, in dem er sich fragt, was man alles damit machen kann, oder indem er sie spielerisch an alle möglichen Problemstellungen heranträgt. Ein weiterer Aspekt: Je mehr Methoden und Techniken zur Verfügung stehen, desto größer ist die Chance, verschiedene Zugänge zu einem Gegenstand zu gewinnen. Dahinter scheint ein Begriff der Totalität des Gegenstandes auf, der sich aus einem erhebungstechnischen Gedanken ergibt, nämlich dass ein Gegenstand vielfältige Zusammenhänge aufweist, die erst erschließbar werden, wenn man über verschiedene Datentypen und Ausdrucksmaterialitäten verfügt. Bertram liegt dieser spielerisch-konstruktive Aspekt des empirischen Forschens. Er glaubt auch, dass das Spielen mit Labortechniken generell eine gute Voraussetzung für die Forscherarbeit darstellt. Allerdings darf es nicht zum Selbstzweck entarten, es muss auf eine produktive Verwendung letztlich hinführen: Man muss versuchen, es in diese spezielle Fragestellung, auf die man sich ja irgendwann dann auch mal einschießen muss, also das da einzubringen. Das heißt, die Virtuosität eines Wissenschaftlers im Erschließen von Ausdrucksgestalten und Daten einer Gegenstandstotalität wird nur
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dann fruchtbar, wenn sich der Forscher einer konkreten Forschungsfrage angenommen hat und seine Methodenkenntnisse im Rahmen eines empirischen Arbeitsprogramms einsetzt, das der Prüfung einer Hypothese dient. Bertram spricht von einbringen und von versuchen. Die Methoden stehen also in einem ständigen Dialog und Erprobungsprozess. Die Methoden werden nicht nach einem festen Schema abgearbeitet, sondern spielerisch an eine Forschungsfrage herangeführt und daraufhin befragt, was sie bringen könnten. Hier ist die Rede von Trial and Error nicht unangemessen, wenn man den spielerischen Aspekt betont. Es geht auch hier um eine Haltung, wie man mit Methoden umgehen sollte. Das Tüfteln, das heißt die spielerische Fortbildung einer Vielzahl von methodisch-technischen Instrumenten sollte nach Bertram eine Grundeinstellung jedes Forschers sein. Eine Konzentration auf eine oder einige wenige Methoden würde nicht nur eine pragmatische Einengung bedeuten, sondern den intellektuellen Zugang zu einer Sache insgesamt verkürzen. Das Interesse für Methoden ist hier also mehr als eine Investition in die Mittel der Erkenntnis. Es stellt auch ein Korrektiv dar gegen die Gefahr, der jeder Methodenpraktiker mit der Zeit ausgesetzt ist, nämlich seinen Zugang zur Welt auf denjenigen Satz an Schlüsseln zu begrenzen, die er beherrscht, und in diesem Einschliff auf eine Routine aus den Augen zu verlieren, dass ein empirischer Gegenstand immer noch mehr Zusammenhänge und Dimensionen aufweisen könnte, als jene beherrschten Methoden abbilden. Hinter Bertrams Denken steht demnach ein Pluralitätsgebot: Je mehr Ideen, Techniken und Ansätze ein Forscher beherrscht, desto größer sind seine empirischen Optionen. Aber es kommt nicht auf die Zahl an, sondern auf die lebendige Weiterentwicklung der Werkzeuge selbst. In ihr erkundet der Wissenschaftler das Feld der möglichen Protokolle und Daten. dann kommt man eben, glaub ich, meine [I: Mhm] meines Erachtens nach dann einfach n Stück [I: Mhm] n Stück weiter, als wenn man das ganze jetzt nur als als Handwerk dann betrachtet, wo man dann sagt, ich hab jetzt die Methode, [I: Ja] mit der kann ich das machen, da kann, [I: Ja] das kann ich bis ans mein Lebensende natürlich machen, weil die Fülle der Fragen reicht dazu aus, [I: Ja, ja] also aber also mich mich reizt eher dann, äh einfach zu gucken und zu (.) mm zu ganz, von ganz vielen verschiedenen Ecken aus [I: Ja] dann, oder diese Einzelteile dann irgendwie zusammenzunehmen und [I: Ja] das dann zu meinem Handwerkszeug zu *machen dann.*
Diese Stelle ist interessant und klärt das Gesagte weiter auf, weil Bertram der virtuosen Haltung gegenüber Methoden dem Handwerker direkt gegenüberstellt. Methoden sind Handwerk, man darf sich jedoch nicht auf eine einzelne Methodentechnik versteifen, weil man dann nur noch solche Forschungen denken kann, die von dieser Routine zugelassen sind. Das kann die Perspektive auf den Gegenstand erheblich verengen. Für Bertram würde diese Einengung den Reiz der Forschung
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schmählern, ihr den Geist rauben. Er denkt also nicht nur von den Methoden aus: Was kann ich damit alles machen? Er denkt auch von den Gegenständen aus: Wie können wir die Methoden so weiterentwickeln, dass sie ihnen etwas neues entlocken?
I4: *Ja,* aha, also, (.) wenn ich das noch mal aufgreifen darf, was Sie vorhin gesagt haben, den Dingen auf der, auf die Spur kommen, [A: Hmhm] das würde ja dann bedeuten, ähh nich so sehr etwas erfinden, sondern etwas herausfinden. A4: Ja also das, ich glaub das Erfinden also spielt für mich jetzt ähh nicht unbedingt ne Rolle, sondern [I: Ja] tatsächlich also, ähh (..) jetzt was in die Tiefe dann zu bearbeiten, [I: Ja, mhm] also das ist auch, das klang ja heut früh auch zum Teil schon an [I: Ja], ähh die Wissenschaft ähh zerfällt ja dann auch ganz grob dann, von mir aus, in zwei Richtungen, dann [I: Ja] welche, die dann also sehr anwendungsorientiert arbeite, [I: Ja] und dann jetzt nicht unbedingt was, ähh (.) wie der Schwabe sagt, dann das Würzele wissen will (lacht), [I: *(lacht) Ja, ja, ja was, (lacht) ja*] *ähh sondern ähh das halt* wirklich an ner ganz konkreten Fragestellung dann orientiert, und [I: Ja] was was da in die Richtung führt, [I: Ja] wird weiter verfolgt, (.) [I: Ja] bis dass es scheitert, oder dann [I: Ja] wieder was anderes aufkommt, und dann gibts eben die Anderen, [I: Ja] ähh die halt sich so an nem Problem dann langhangeln, und aus [I: Mhm] aus dem einen Problem ergibt sich dann wieder die nächste [I: Ja, ja] Frage, und man man lernt dann eben a, [I: Ja] zwar in kleinen Ausschnitt dann, aber immerhin, den dann auch besser [I: Mhm] zu verstehen, also.
Es wird auf eine habituelle Differenz innerhalb der Wissenschaft abgehoben, nicht auf Fächer oder Organisationen. Anwendungsorientiert nennt man normalerweise eine Forschung, die nur Projekte verfolgt, die ein Produkt oder Verfahren, mit einem verwertbaren Nutzen für die Praxis hervorzubringen versprechen. Das impliziert ein kalkulierbares Verhältnis von Investitionsbudget, zeitlichem Aufwand und Ertrag. Dem wird üblicherweise die Grundlagenforschung oder eine Forschung, die um ihrer selbst willen betrieben wird, gegenübergestellt. Hier ist das aber ganz anders gemeint. Der anwendungsorientiert arbeitende Forscher ist der Handwerker, ein Fachmensch der Labortechnik. Dieser kann durchaus in der Grundlagenforschung beschäftigt sein und dort Karriere machen wollen. Doch ist er nur daran interessiert, seine Technik anzuwenden. Er ist ein Spezialist, nicht so sehr selbst an Fragen interessiert, sondern an Aufgaben, in die er sich verbeißt und erst locker lässt, wenn es nicht mehr weitergeht. Die Aufgaben müssen ihm aber vorgegeben werden, weil er selbst keine Bildungsgeschichte durchläuft, aus der immer wieder neue Fragen hervorgehen. (Das schwäbische Wort Würzele kommt wahrscheinlich von Wurzel, kann sich aber auch von Würze ableiten. Im einen Fall bedeutet es: Einer Sache auf den Grund gehen! Im anderen Fall eher: Einer Sache das Geheimnis ihres Geschmacks entlocken!) Da der Handwerker das Würzele gar nicht wissen
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will, kommt er auch nicht dazu, seine Forschungen als Etappen eines kumulativen Bildungsprozesses zu begreifen. Forschungsprojekte sind für ihn wie abgeschlossene Geschäftsaufträge. Forscher wie Dr. Bertram hingegen betreiben ihren Beruf, weil sie wissenschaftliche Grundfragen haben und von ihrer Neugierde von Frage zu Frage gezogen werden, und halt sich so an nem Problem dann langhangeln,
und aus aus dem einen Problem ergibt sich dann wieder die nächste Frage, und man lernt dann eben zwar in kleinen Ausschnitt dann, aber immerhin, den dann auch besser zu verstehen, also. Forscher entwerfen neue Projekte, die sich an die Resultate anschließen. Wissenschaftliche Handwerker machen ihre Karriere allein über die Verfeinerung ihrer technischen Fähigkeiten. Resümee Der Fall Bertram gibt dem Forscherhabitus wieder ein etwas anderes Gesicht, obwohl sich das Modell in seinen Kernpunkten bereits zu verdichten beginnt. Auch Bertram ist von der Forschung als Tätigkeit selbst fasziniert, nicht nur von einzelnen Themen. Aber er lenkt den Blick auf die Innovationspflicht, steigert sie aber sogar für den Methodiker, der der Wissenschaftler stets zu sein hat. Das ist zugleich gegen ein methodisches Fachmenschentum gerichtet. Verankert ist dies in der Faszination für das ingenieuriale Tüfteln, das Spielen mit den Methoden und ihren Möglichkeiten. Daraus spricht der Labormeister, der seinen Lehrlingen die Virtuosität ihres Gebrauchs im Dienste ihrer kreativen Weiterentwicklung bewahren will. Auch Bertram sieht, wie übrigens seine Frau, die Gefahren der Erstarrung des Wissenschaftshandelns in der Vereinseitigung eingeübter Routinen. Der Forscherhabitus ist hier explizit auf Krisenzugewandtheit und Vermeidung von schlechter Routine ausgerichtet.
Fall 5: Herr Schluchter, Doktorand der Biologie „ich hätt genauso gut über Alpenmoose und Farne
promovieren können“
Vorbericht Herr Schluchter fällt in mehrfacher Hinsicht aus der bisherigen Gruppe der Neurowissenschaftler heraus. Er arbeitet zwar im selben Institut, ist aber jünger und steht als Doktorand noch am Anfang einer Laufbahn. Nach dem Studium der Biologie und Sportwissenschaften, das er mit dem Staatsexamen abgeschlossen hat, ist er zunächst ins Referendariat gegangen und hat als Lehrer an einem Gymnasium unterrichtet. Warum er dann von dort weg ging und sich auf die Stelle als Doktorand beworben hat, geht aus dem Interview hervor. Herr Schluchter hat also nicht mit dem Ziel studiert, Wissenschaftler zu werden, und er ist eher über Umwegen zu seiner Tätigkeit gelangt. Sein Berufsweg schien zum Zeitpunkt des Interviews noch nicht so gefestigt, so dass davon ausgegangen werden konnte, in Schluchter möglicherweise einen Kontrastfall zum hier unterstellten Modell vorzufinden. Schluchter ist einem Projekt zugeordnet, das von Herrn Bertram geleitet wird.
Abkürzungen und Notation I: Interviewer S: Interviewee *und* *aber*: gleichzeitig gesprochen aber: betont gesprochen (lacht): Anmerkungen des Verschrifters #: Abbruch (.), (..), (...), (x Sek.): Pausen (uv): unverständlich
202 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE 1I: Und ähm also dieses soziologische Teilprojekt (S: ja) das ähm befasst sich unter anderem mit der Professionalisierung von Wissenschaftlern, (S: mhm) ähm (.) sowohl systematisch wie historisch, (S: mhm) also wie sozusagen die verschiedenen Fächer sich ausdifferenziert haben und ähm was uns interessiert ist, ähm jetzt in diesen diesen Interviews, die wir führen, ist sozusagen das Selbstverständnis von Wissenschaftlern und ähm das ist etwas, was man was man eigentlich nicht abfragen kann ja, wenn wenn jemand fragt, was ham sie eigentlich fürn Selbstverständnis als Wissenschaftler, (S: mhm) dann hat man irgendwie# also wenn mich einer das fragen würde, ich hätte da keine ähm sozusagen keine Antwort im Kopf, die man da abrufen könnte, (S: mhm) da müsst man erstmal# kommt man dann ins Grübeln, (S: ja) und (.) also (.) äh was mich jetzt bei dir interessieren würde, wär sozusagen also dein Werdegang zu diesem Fach, also bis zu dem Punkt, was du jetzt im Moment machst, wie du dazu gekommen bist überhaupt
Die Eingangsfrage weicht erneut vom üblichen Einstieg ab. Die Erläuterungen zeigen, dass der Interviewer selbst erst in die Gesprächssituation hineinfinden muss. Er wählt eine Frage, die zwar nicht konfrontativ gestellt, aber dennoch geeignet ist, in das Thema hineinzukommen. Der Interviewee ist aufgefordert, seine Berufsbiographie zu schildern. Das richtet sich zum einen auf die äußere Karriere, auf Studium, Anstellungen, wichtige Abschnitte in Projekten. wie du dazu gekommen bist überhaupt fragt aber mehr ab. Es unterstellt, dass es eine innere, persönliche Verbindung zum Beruf gibt und dieser aus innerem Antrieb ausgeübt wird. Der Interviewee ist aufgefordert, seinen beruflichen Werdegang nicht nur zu schildern, sondern auch die Ursachen für die Entwicklung zu nennen. Das verlangt eine Rekonstruktion der wichtigsten Motive und Weichenstellungen. 2S: Ja (..) also ich mein irgendwann mal anfangen
Die Antwort scheint auf Zeit zu spielen. Es ist nicht zu entscheiden, ob sich das irgendwann mal anfangen auf die Interviewsituation selbst bezieht oder auf den Werdegang, nach dem gefragt worden war. Es könnte sein, dass gesagt werden sollte: Irgendwann musste ich ja mal anfangen zu arbeiten und da hab ich mich für dieses Projekt hier entschieden. Es kann aber auch sein, dass gemeint ist: Irgendwo muss mein Bericht anfangen, also beginne ich mit dem Studium. Schluchter sucht noch nach dem geeigneten Einstieg. Biologie und Sport studiert,
Auffällig ist die Telegrammsprache. Die Sprache ist nicht falsch transkribiert oder „vernuschelt“, das wurde an der Tonbandaufzeichnung überprüft. Das Personalpronomen (ich) und Teile der Verbalphrase (habe) sind tatsächlich eingespart. Das ist
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merkwürdig und deutet auf einen Sprachstil. Der Gesprächspartner redet mehr zu sich und legt sich die Dinge stichwortartig vor, bevor er beginnt. Das spricht eher für ein bildungsfernes Sprachmilieu, in dem ein elaborierter Sprachgebrauch keinen besonders hohen Stellenwert besitzt. Die Erzählung selbst setzt mit der akademischen Studienwahl ein. Offensichtlich hat der Interviewee auf Lehramt studiert, er wollte also ursprünglich mal Lehrer werden. Das macht den Fall interessant, da es sich um einen Quereinstieg in die Forschung handelt. Die Fächerkombination lässt vermuten, dass anfangs der Sport führend war und dort das Hauptinteresse lag. Wer Sport studiert ist normalerweise selbst überdurchschnittlich sportlich, betreibt mehrere Sportarten parallel, vielleicht bis zur Wettkampfreife, und investiert viel Zeit in seine eigene körperliche Fitness. Schluchter beabsichtigt, eine ans Jugendalter geknüpfte persönliche Leidenschaft zum Beruf zu machen. Da Lehrer in der Regel mehrere Fächer abdecken müssen, um für die Schulen interessant zu sein, liegt es nahe, dass Biologie als Ergänzung zum Sport gewählt worden ist, um die Aussichten auf dem Berufsmarkt zu verbessern. Biologie galt lange als die leichteste unter den Naturwissenschaften. Physik, Chemie und Mathematik schrecken viele Studenten ab, weil sie als aufwendig und schwierig gelten. Das muss nicht bedeuten, dass der Biologie gar kein Interesse entgegengebracht worden ist, doch mehr Zeit dürfte dem Sport gewidmet worden sein. Das Sportstudium selbst beruht auf einer Kombination aus wissenschaftlichen Grundkenntnissen der Sportmedizin, Psychologie und pädagogischen Motivationslehre, sowie praktischem Übungswissen über die Trainingsmethoden und Bewegungstechniken verschiedener Sportarten, Wettkampferfahrung und persönlicher Fitness. Ein Sportstudium kann zum Beruf eines Trainers im Leistungssport hinführen, es gibt Stellen aber auch im Sportjournalismus, in der Werbebranche oder in der Sportindustrie. Es dominieren freilich die Lehramtskandidaten. Hinsichtlich der sozialen Herkunft kann man vermuten, dass Schluchter nicht aus einem städtischen, bildungsbürgerlichen Milieu, sondern eher aus einer Mittelschichtfamilie kommt. Seine Eltern sind wohl keine Geisteswissenschaftler, sondern eher mittlere Angestellte oder üben Facharbeiterberufe aus. Dafür sprechen die Fächerwahl und auch der eher restringierte Sprachcode. Eine Verpflichtung gegenüber dem klassischen Bildungsprogramm dürfte er also nicht verspürt haben. Goethe oder Kafka waren für ihn eher Pflicht, nicht Genuss, Oper und Theater besucht er eher selten. Dagegen ist er oft bei Sportveranstaltungen oder in Skifreizeiten. Auch dürfte er in ein Vereinsleben fest eingebunden sein, darüber dürfte er auch in einer Kleinstadt oder in einem Stadtteil fest verwurzelt sein. Dort dürfte Schluchter ein Großteil seiner Freunde und Bekannten haben. Er scheut nicht Wettkampf und körperliche Herausforderungen, doch langes Sitzen am Schreibtisch ist nicht seine Sache. Ehrgeiz wird in seiner Familie also durchaus gefördert, er ist aber nicht auf eine berufliche Karriere gerichtet, sondern auf Aktivitäten innerhalb des sozialen
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Milieus. Seine Eltern haben ihn nicht zu einem Karriereberuf angehalten, er wird aber auch nicht daran gehindert, ein Studium aufzunehmen. Seine Fächerwahl lässt eher darauf schließen, dass er weitgehend frei seinen Wünschen nach Selbstverwirklichung nachgehen konnte. Das spricht für ein stabil situiertes Elternhaus, das sich eine liberale Haltung gegenüber den Berufswünschen des Sohnes leisten kann, die der Neigung und Begabung folgen, auch wenn soziale Sicherheit nicht vergessen wird. Käme er aus einem bäuerlichen Milieu, wäre ihm das Sportstudium sicher als Flause ausgeredet worden. Oder er muss schon extrem gut gewesen sein. (I: ja) und hab dann ähm ja Biologie war son bissel angepappt eigentlich,
Sport war also das Hauptfach, ihm galt die eigentliche Aufmerksamkeit. Biologie wurde dagegen wie vermutet zunächst nebenbei mitstudiert. Vom Drang zum Wissenschaftlerberuf ist darin noch nichts zu spüren. weil des war so, die Vielfalt hat mich völlig erschlagen
Er ist mit der Biologie also zunächst nicht zurande gekommen. Auch das spricht dafür, dass die Eltern keine eigenen Studienerfahrungen hatten. Er hat sich auf die Biologie einlassen wollen, ist aber in eine Krise geraten, weil er mit etwas konfrontiert wurde, womit er nicht gerechnet hatte. das hat mich völlig erschlagen heißt ja, dass die Diskrepanz zwischen der Biologie am Gymnasium und der Biologie an der Universität so groß war, dass es ihn zunächst richtiggehend ausgebremst hat. So hatte er sich das nicht vorgestellt. Zum einen waren die Sach- und Lernanforderungen gleich um mehrere Grade schwieriger. Dazu kommt die thematische Vielfalt und Breite der Biologie und was er da alles lernen sollte: Physik, Chemie, Bioinformatik usw. Zum anderen war der Grad der Verschulung sehr viel geringer und er musste als Student den Studienalltag selbst organisieren, sich eigene Interessengebiete innerhalb der Biologie erschließen. Es gibt zwar auch an Universitäten viele Pflichtkurse, doch der Student muss letztlich immer noch selbst entscheiden, auf welches Ziel hin er studiert. Das gilt auch heute, im Bachelor- und Master-Studium, noch, auch wenn die Rahmenbedingungen vieles stärker reglementieren und einschränken. Mitte der 1990er Jahre war diese Freiheit und Pflicht aber noch stärker ausgeprägt. Heute haben die modularisierten Studiengänge den Studenten diese Entscheidungspflicht (und -Freiheit) eingeengt. Damals musste sich der Student den Weg durch die chaotische Vielfalt des Studienangebots letztlich selbst anbahnen, und dies galt eingeschränkt auch für das Lehramtsstudium. Kinder aus nichtakademischen Elternhäusern tun sich mit dieser Anforderung schwerer, als Kinder mit bildungsbürgerlichem Hintergrund. Letztlich überwindet der Student diese Schwierigkeit nur, wenn er das Chaos des Studiums als einen persönlichen Gewinn erfahren kann und es nach der Gymnasialzeit als Befreiung vom vorgesetzten Cur-
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riculum und Freiraum für eigene Interessen empfinden kann. Dazu muss er allerdings solche Interessen wenigstens keimhaft schon haben. Es kann durchaus sein, dass mit dieser Situation auch eine positive Erfahrung verbunden war, nämlich die Vielfalt angebotener Themen und Fragestellungen als anregend und verlockend empfunden zu haben. Dann bestand die Krise darin, nicht allen Themen zugleich nachgegangen sein zu können. Das wäre aber nur ein anderer Aspekt der Anforderung, das Studium selbst organisieren zu müssen. Es hätten inhaltliche Entscheidungen getroffen werden müssen und dazu war Schluchter anfangs nicht in der Lage. Letztlich läuft es auf dasselbe hinaus. Die Biologie führte neben dem Sport ein Schattendasein, weil Schluchter das Bildungsziel fehlte, das ihm die Selbstorganisation des Studiums ermöglicht hätte.
und die Vorlesungen die gingen immer so leicht über meinen Kopf hinweg, hab ich nicht so viel *verstanden*
Er war also entweder überfordert, weil er viel zu gewissenhaft gleich alles verstehen können wollte, oder weil er angesichts der Stoffmenge resigniert hat und sich nicht genügend engagierte. Dass er mangels Begabung kognitiv überfordert war, kann ausgeschlossen werden, denn er hat den Wissenserwerb ja später doch irgendwie nachgeholt. 3I: *Ja, das war* auf Lehramt 4S: Das war Lehramtstudium, und ähm irgendwann fing ich dann mal an, in der Sportwissenschaft das war für mich zugänglicher eine äh (.) Zulassungsarbeit zu schreiben, und da war ich drei Semester lang beschäftigt mit einer empirischen Studie zum äh Thema Skilanglauf (.) trainingsgerät,
Der Interviewee beginnt nun, den Übergang zu schildern, wie er vom Sportstudium zu einem selbständigen wissenschaftlichen Arbeiten gekommen ist. Der Weg ist über den Sport und nicht über die Biologie gegangen. Mit Zulassungsarbeit kann nur eine schriftliche Arbeit gemeint sein, die vor dem ersten Staatsexamen abgeleistet werden muss. Das Thema Skilanglauftrainingsgerät scheint es auf den ersten Blick nicht herzugeben, dass man sich damit drei Semester lang befasst. Es muss sich also um eine Langzeitstudie gehandelt haben, oder es wurden wirklich alle Aspekte sehr gewissenhaft ausgeforscht. Was kann die Fragestellung gewesen sein? Der Skilanglauf ist eine Ausdauer-Sportart, welche eine hohe Belastbarkeit des Herz-Kreislauf-Systems und eine optimale Koordinierung des gesamten Bewegungsapparates in seinen Komponenten der Beinarbeit beim anschiebenden Gleiten auf dem Ski und der Stockarbeit der Arme zu gleichförmigen Bewegungsabläufen erfordert. Entsprechend sind Trainingsgeräte in dieser Sportart für den ganzen Kör-
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per konzipiert. Das Training wird in seinen verschiedenen ergonomischen Stilvarianten zu berücksichtigen sein, als da wären Skating, Gleiten und Abfahrt, und dann noch einmal nach den verschiedenen Körpertypen. Die für die einzelnen Bewegungsmuster konzipierten Trainingsgeräte werden heruntergebrochen auf die elementaren Bewegungsmuster und dann werden im Einzelnen die Beanspruchung der Muskeln, Bänder und Gelenke, der Nährmittelverbrauch, die Sauerstoffzufuhr, Übersäuerung etc. auf eine Optimierung der Relation zwischen Kraftaufwand und Ausdauereffekt hin gemessen. Das geforderte Grundwissen ist ein mechanisches und zugleich körperphysiologisches Wissen über Stoffwechsel, Kräfteeinwirkungen auf den Knochenbau etc. Bei einer solchen Untersuchung werden jede Menge Messwerte bei Versuchspersonen gesammelt und wie bei einer Survey-Analyse ausgewertet. Statistischen Berechnungen folgt eine Hypothesenüberprüfung, eine Varianzanalyse, Faktorenanalyse, Regression. Diese Forschung ist sehr daran orientiert, überschaubare Ergebnisse in einem erklärungsnahen Rahmen zu erhalten.
(I: mhm) hatte sehr viel mit Messen zu tun, das war ein interdisziplinärer Ansatz zwischen äh Sportmedizin und Biomechanik, das war sehr komplex und das hat mich also beschäftigt und da fand ich das also spannend, zu messen, (.)
Sehr komplex ist diese Forschung nicht wirklich, die Komplexität reduziert sich darauf, dass viele Variablen beachtet werden müssen. Auch die Interdisziplinarität ist nicht unbedingt markant ausgeprägt. Sportmedizin und Biomechanik liegen sehr nah beieinander. Das Spannende liegt darin, dass bei diesen Messmethoden fast immer irgendwelche verwertbaren Ergebnisse anfallen und diese miteinander verglichen werden können. Man weiß, was man tut, man hat anständige Messwerte, belastbare Daten, mit denen man rechnen kann. Man hat die Möglichkeit, Zahlenrelationen herzustellen und nach Faktoren zu suchen. Man hat zum Beispiel 25 Variablen, dann hat man eine Korrelationsmatrix von 25*24/2=300 Korrelationen. Das ist schon eine ganze Menge an Datenrelationen, mit denen man sich beschäftigen kann. son paar Ideen zu entwickeln, wie man verschiedene Sachen erklären könnte, wie man verschiedene (.) Messmethodik wie mer einstimmt
Die Reihenfolge ist ganz klar. Erst kommen die Messverfahren, die eine Vielzahl von Daten produzieren, und dann findet man verschiedene Auffälligkeiten, die man erklären muss. Die stochastischen Zusammenhänge erzeugen ein Erklärungsproblem und dieses stiftet dazu an, Ideen zu entwickeln, wie solche Erklärungen aussehen könnten.
und des hat so die Interessen dafür geweckt, (I: mhm) eigentlich was herauszufinden,
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Es war also nicht die Trainingsmaschine selbst, sondern die Erfahrung des Forschens, die letztlich verfangen hat. Das Projektthema war für sich genommen eher randständig, methodisch weniger interessant. Die geschilderte Arbeit ist etwas für Leute, die gerne mit Zahlen herumoperieren, ohne wirklich ein Erklärungsproblem zu haben, denn bei Trainingsgeräten geht es nicht wirklich um ein Forschungsproblem. Von einem habituellen Drang zum wissenschaftlichen Arbeiten konnte dabei noch nicht gesprochen werden. Jetzt aber zeigt sich, dass der vermeintliche Falsifikator unseres Modells in eine Bestätigung umkippt. Das durch empirische Messarbeit geweckte Interesse hat sich in der Projektarbeit verselbständigt zu einem generalisierten Impuls, was herauszufinden. Aus der Schilderung lässt sich sehr klar die Bewegung rekonstruieren, wie dies vor sich gegangen ist. Die Zulassung zum Staatsexamen hat Schluchter zu einer Projektarbeit gezwungen; er selbst wäre aus eigenem Antrieb vielleicht nie dazu gekommen, die damit verbundene Erfahrung zu suchen. Die Entdeckung von auffälligen stochastischen Zusammenhängen im Set der Messdaten hatte zu Erklärungsproblemen geführt und damit eine Realität hinter den Daten sichtbar werden lassen, die noch nicht erschlossen werden konnte. Das hat bei ihm einen Sinn für die noch unentdeckte Wirklichkeit geweckt, und einen Antrieb gestartet, vergleichbare Erfahrungen zu wiederholen. Die Untersuchung über den Skilanglauf ist ein biographisches Ereignis, das ein Interesse für die Wissenschaft exemplarisch geweckt hat.
und des fand ich# also das war so die Erfahrung, die war eigentlich so maßgebend, warum ich jetzt eigentlich auch hier bin.
Die Schilderung des Werdegangs kommt zu einem ersten Abschluss. Sie ist eingemündet in die Darlegung der inneren Beweggründe, die letztlich zum Eintritt in die Forschergruppe geführt haben. Es liegt also ein Stück autobiographischer Rekonstruktion vor. Interessant ist der Fall für uns, weil der Bildungsweg vom wenig anspruchsvollen Lehramtsstudium zur avantgardistischen neurowissenschaftlichen Forschung führte und der Zugang überraschend nicht über die Biologie, sondern das Sportstudium erfolgte. Die Frage ist nun, wie die Biologie aus ihrem Schattendasein tritt. Bislang ist nicht in Sicht, was ihn an dem Fach gefesselt hat. (I: mhm) Und ähm naja, des war schon so,
Das innehaltende naja leitet eine Erläuterung ein. Der Interviewee muss sein Thema neu aufbauen. Das zuvor Gesagte wird einer nochmaligen Überprüfung zugeführt. Es kann eine Einschränkung folgen, aber auch eine Ergänzung dessen, was bisher gesagt wurde. des war schon so deutet eher in die Richtung einer Bekräftigung.
208 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE dass (.) das war halt# mer sitzt aneme Tisch und und wir unterhalten uns über Skilanglauf und da ist Skilanglauf Thema,
Offenbar folgt jetzt eine anekdotische Erzählung mit exemplarischem Charakter. Eine typische Situation wird skizziert: Mer sitzt aneme Tisch. Gesprochen wird im badischen Dialekt, das erklärt die Redeweise. Die wichtigsten Gelegenheiten, bei denen sich Menschen um einen Tisch versammeln, sind das gemeinsame Essen, die Unterhaltung, das Spiel. Aber der Tisch ist auch wichtig für Verhandlungen und alle Arten von Gesprächen. Er ist mit zivilen Formen der Kooperation, mit Vergemeinschaftung und mit Geselligkeit verknüpft. Im vorliegenden Fall sitzt der Interviewee offenbar mit Freunden oder Kollegen zusammen. Die erste Person Plural wir ist nicht weiter spezifiziert, das spricht für ein Kollektiv, das sich kennt und miteinander vertraut ist. Es ist eine alltägliche Situation, in der dieses Kollektiv beschrieben wird. Unterhalten sagt man nicht, wenn das Gespräch verabredet war, sondern wenn das Treffen um seiner selbst willen stattfindet und die Diskussion um der Geselligkeit willen geführt wurde. Skilanglauf ist also nicht ein Thema, um dessen willen man sich zusammengefunden hatte, wie bei einer Fachbesprechung, sondern die Freunde saßen zusammen wie bei einer geselligen Abendrunde in der Kneipe oder im Kaffeeraum des Instituts und dann ist dieses Thema aufgekommen. Es ist tendenziell austauschbar. Gleichzeitig waren aber alle Teilnehmer daran interessiert. Das spricht für einen Stammtisch von Sportstudenten oder Vereinssportlern.
und es spielt nicht so sehr ne Rolle, wer da was erzählt,
Nicht der Anlass des Gesprächs, sondern die Art und Weise, in der es geführt wurde, ist hier wichtig. Wann spielt es eine Rolle, wer etwas sagt? Etwa im Thronsaal, wenn der König spricht, im Parlament, wenn der Regierungschef das Wort ergreift, im Firmenmeeting, wenn der Chef redet, am Küchentisch, wenn die Eltern mit den Kindern den nächsten Urlaub besprechen. Es spielt eine Rolle, wenn die Personen, die miteinander sprechen, unterschiedliche soziale Positionen in ihrem Sozialverband einnehmen, und wenn das Wort einiger unter ihnen aufgrund ihres Amtes, ihrer Verantwortung oder Zuständigkeit ein besonderes Gewicht hat. Wenn ein nicht sehr bekannter Abgeordneter eine Forderung erhebt, ist dies längst nicht so bedeutend, als wenn ein Minister sie vorträgt, obwohl der Inhalt derselbe sein kann. – Es ist klar, worauf Schluchter hinauswill. Beim Gespräch über den Skilanglauf ging es sachhaltig zu, und die Personen traten sich als Vertreter konkurrierender Deutungen und Argumente gegenüber. Ihr Alter, ihr Status/Rang oder Bildungsabschluss war weniger bedeutend, die sozialen Differenzen waren aufgehoben, weil die Sachhaltigkeit diese Differenzen egalisierten. Die Szene war also in etwa fol-
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gende: In der Unterhaltung kam das Thema Skilanglauf auf, das alle sehr interessiert hat. Es wurde lebhaft, es wurde leidenschaftlich diskutiert. In diesem Gespräch ging es aber zugleich sehr diszipliniert zu, wie bei einer wissenschaftlichen Diskussion. Letztlich unterwarfen sich alle der Logik, dass nur das Argument zählt. Diese Erfahrung hat für Schluchter eine große Bedeutung. Sie wird nicht als einmaliges Erlebnis, sondern als typische Situation geschildert. Alle orientieren sich an der Sache und an dem Ideal, nur diese zur Geltung kommen zu lassen. Das gelingt nicht reibungslos, aber doch weitgehend. ...es spielt nicht so sehr ne Rolle..., also spielt es eine Rolle, wenngleich nicht die entscheidende. Das strukturiert die Gespräche auf eine bestimmte Weise. Soziale Egalität durch Sachhaltigkeit ist ein Grundzug der wissenschaftlichen Kultur, die Schluchter als Gewinn für sich wertet. Die erste Erfahrung dieser Art muss deshalb großen Eindruck auf ihn gemacht haben. Er benutzt die Szene ja dazu, aufzuzeigen, was ihn in die Forschung hineingezogen hat. Es ist die Kultur der Sachhaltigkeit und des freien Arguments.
sondern es zählt halt nur, entweder stimmts oder stimmt nicht, (I: mhm) die Sache selbst ist eigentlich entscheidend,
Hier spricht er es selbst aus. Die wissenschaftliche Kommunikation folgt einer einfachen Maxime: Eine Behauptung (über einen Gegenstand) muss mit der Faktenlage konfrontiert werden. Dann wird sich zeigen, ob die Aussage richtig ist oder nicht. Denn die Faktenlage gibt den Ausschlag. Vor diesem Richterspruch sind alle Wissenschaftler gleich. Natürlich werden hier einige Annahmen gemacht, die einem altgedienten Wissenschaftstheoretiker naiv erscheinen mögen: Dass die Datenlage eindeutig ist; dass die Aussagen so formuliert sind, dass sie sich auch wirklich entscheiden lassen; dass keine Vermengung von Problemlagen vorliegt, und vieles mehr. Doch darum geht es hier nicht. Die Wendung entweder stimmts oder es stimmt nicht bringt ein Ideal der Eindeutigkeit zum Ausdruck, die Befunde sind derart, dass sie keinen Spielraum für Interpretationen lassen. Dies gibt der Kommunikation unter Wissenschaftlern einen spezifischen Charakter. Es lässt sich nämlich klar sagen, was richtig ist und was nicht. Die Wahrheit ist nicht von uns abhängig. Jede Aussage kann letztlich positiv oder negativ entschieden werden, und dies hängt alleine von den Fakten ab. Die Wissenschaftler können deshalb den Ausgang einer Kontroverse von der Geltungskraft der Argumente abhängig machen. Sie müssen sich nicht persönlich durchsetzen. Die Realisierung dieses Ideals ist jedoch nicht selbstverständlich. Dass auch Gespräche unter Wissenschaftlern nicht frei sind unsachlichen Kräften, ist klar. Dies deutet das Wort eigentlich an. Nichtsdestotrotz findet man eine Haltung vor, die das Sachhaltigkeitsprinzip beachtet. Dieser Aspekt scheint für Schluchter sehr wichtig zu sein. Eine sachhaltige Diskussionskultur ist etwas, das bei ihm eine besonders hohe Wertschätzung genießt.
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In der Wissenschaft gibt es keine Rechthaberei ohne Substanz und keine Inanspruchnahme von Autorität, die lange unwidersprochen bliebe. Warum ist dies für Schluchter aber wichtig? Man darf vermuten, dass er in seinem Herkunftsmilieu eine solche Kultur der Versachlichung lange vermisst hat und die Wissenschaft auch in dieser sozialen Hinsicht ein persönlicher Gewinn für ihn war.
(I: mhm) und (.) da hab ich eigentlich ganz gute Erfahrungen gemacht
Er ist also persönlich geachtet worden, wenn er gute Argumente vorgetragen hat, hat sich durchsetzen können; vielleicht hat er auch selbst „Niederlagen“ und Irrtümer erfahren können, ohne dass ihm dies als persönliches Versagen ausgelegt worden wäre. Das hat ihn bekräftigt, auf dem eingeschlagenen Weg weiterzugehen. In seinem bisherigen Leben hat er die Erfahrung gemacht, dass sich derjenige mit der lautesten Stimme durchsetzt. Dagegen und gegen unsachliche Diskussionsstile ist er empfindlich geworden.
und dann war hier mein Referendariat,
Es folgt nun der nächste Schritt der Biographie. Im Referendariat hat Schluchter zunächst konsequent das Ziel verfolgt, Lehrer zu werden. Er ist in die Schule gegangen und hat Erfahrungen im Unterrichten gesammelt. Der deiktische Hinweis hier kann sich nicht auf den Ort des Interviews beziehen, denn das Interview ist im Anatomischen Institut geführt worden. Sie kann sich nur auf die Stadt beziehen, in der die Universität liegt. Das war eine der süddeutschen Universitätsstädte.
da war ich also an der Schule zweieinhalb Jahre, und des war (.) des war sehr schwierig da für mich,
Die Schwierigkeiten können auf verschiedenen Ebenen gelegen haben. Es kann sein, dass er nicht damit klar gekommen ist, dass es im Unterricht darauf ankommt, ein festgeschriebenes Curriculum umzusetzen und Forschung darin nicht vorgesehen ist. Experimente werden in der Schule zum Beispiel zu Demonstrationszwecken vorgeführt. Ihr Ergebnis steht immer schon fest. Der Unterschied zwischen den Experimenten in der Schule und denen in der realen Forschungssituation ist der, dass erstere nicht der Überprüfung dienen. Sie sollen nichts Unbekanntes herausbringen, sondern etwas veranschaulichen, das schon bekannt ist. Dazu muss der Effekt richtig herauskommen. Es kann auch sein, dass er mit dem Frontalunterricht vor einem Klassenverband nicht zu Rande gekommen ist. Oder er hatte Schwierigkeiten mit der Hierarchie der Schulleitung und den Kollegen.
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weil da die Sache eigentlich gar nicht so sehr zählt, sondern da sprechen so viel andere Dinge mit hinein, soviel andere Vorstellungen
Die Schule war ganz generell abschreckend für ihn. Er und die schulische Wirklichkeit haben nicht zusammengepasst. Aber es wird auch deutlich, dass er die Schwierigkeiten nicht bei sich sieht, sondern bei der Schule. Die schulische Praxis weicht zu stark von dem ab, was der Sache nach gefordert wäre. Sie behauptet zwar, dass die Sache etwas zählt, aber wenn man das testet, zeigt sich etwas anderes. Das kann sich auf viele Dinge beziehen: Der Lehrer kann den Unterricht nicht seinen Überzeugungen gemäß gestalten. Was er für richtig und vernünftig erachtet, spielt keine große Rolle, sondern er muss sich Zwängen unterwerfen. Wenn er von ihnen zu stark abweicht, bekommt er Konflikte. Es gibt zu viele sachfremde Einflussnahmen und Regelungen, die nicht dem Lernerfolg der Schüler dienen. Der Lehrer muss zu viele Rücksichten nehmen und Kompromisse machen. Das Kollegium zieht nicht an einem Strang. Kurzum: Die Schule war eine unschöne Erfahrung, eine Welt, in der Schluchter bald gemerkt hat, dass er sich mit seinem Entwurf beruflicher Selbstverwirklichung nicht hätte entfalten können. Es war zu konfliktreich und zu frustrierend. Die Wissenschaft hat ihm viel mehr entsprochen. Immerhin hat er aber zweieinhalb Jahre durchgehalten. Ausdauer ist also nicht sein Problem.
und das ist eben nicht so klar, wenn ich jetzt sage, gut, der Langläufer, der ne kürzere Zeit läuft, ist der bessere, dann ist das jedem plausibel, aber bei Unterricht und allen Aspekten dazu, die sind so schwammig, das ist so interpretations# so subjektiv gefärbt, da (.) hat das Sachargument halt nicht so gezählt,
Es ist nicht ganz klar, was er genau meint. Er bildet wieder ein Kontrastbeispiel. Beim Langlauf ist das Ergebnis eindeutig zu messen: Wer zuerst über die Ziellinie läuft, war schneller. Das ist ein eindeutiges Ergebnis. Inwiefern ist der Unterricht damit vergleichbar? Der Unterrichtsstoff selbst kann nicht gemeint sein, denn er ist ja durchaus auch eindeutig. Das gilt für mathematische Aufgaben, für Jahreszahlen in der Geschichte, für chemische Gleichungen wie für Übersetzungen aus dem Lateinischen. Subjektiv gefärbt und insofern schwerer einzuschätzen sind allenfalls Meinungen zu historischen Ereignissen oder literarischen Texten. Aber das ist offenkundig nicht gemeint. Es geht um die Bewertung des Unterrichts und der Ideen zu seiner Durchführung. Nur unter Kollegen, die hierüber verhandelt haben, kann es passiert sein, dass Sachargumente nicht so gezählt haben. Schluchter wollte den Unterricht anders gestalten und ist daran gescheitert. Er glaubte zwar Sachargumente vorgebracht zu haben, aber man ist ihm in die Parade gefahren. Das hat ihn gestört. Er ist auch persönlich daran gescheitert.
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Überlegen wir, in welcher Situation diese Erfahrung gemacht worden sein kann, so liegt es nahe, dass dies die Lehrprüfungsstunden des Referendars waren. Er hat unterrichtet und eigene Ideen einfließen lassen und ist dafür kritisiert worden. Das hat ihm nicht eingeleuchtet, er hat dagegengehalten und ist damit gegen eine Wand gelaufen. Es stand Meinung gegen Meinung und eine Überprüfung des Lehrerfolgs konnte nicht geleistet werden. So hat sich die Hierarchie durchgesetzt. Nun können wir auch besser einschätzen, warum für ihn die wissenschaftliche Kommunikation so attraktiv ist. Es war die aktuelle Schulerfahrung, die er als unsachlich empfunden hatte.
so dann hab ich gedacht, naja, eigentlich möchte ich wieder was machen, (I: mhm) was mir in dieser Richtung Spaß macht,
Das Referendariat war zu Ende gegangen, die Stelle ausgelaufen. Entweder ist er nicht übernommen worden, oder er hat eine Chance dazu nicht ergriffen. Der Einschnitt wird jedenfalls zu einer autobiographischen Bilanz und Neuausrichtung genutzt. Das Motiv, sich selbst verwirklichen zu können, setzt sich auch hier wieder durch. Er kehrt ganz rational zu dem zurück, was er schon kennt und was ihm Spaß gemacht hatte, sich in der Schule aber nicht fortsetzen ließ.
also äh irgendwelche (.) ja analytisches Denken, Faktoren auf ein Gesamtergebnis hin interpretieren,
Was ihm Spaß gemacht hat, wird nochmals erläutert. Analytisches Denken heißt etwas gedanklich zerlegen, in seinen Komponenten und Aspekten zu unterscheiden, auseinanderzuhalten. Faktoren sind schon das Ergebnis eines analytischen Denkens. Sie auf ein Gesamtergebnis hin zu interpretieren bedeutet, sie wieder zusammenzusetzen, und zwar so, dass sie in sich stimmig und mit den Fakten übereinstimmend ein einheitliches Gesamtbild ergeben. Dem Zerlegten wird eine Ordnung wiedergegeben. Das ist es, was ihm Spaß macht. Er will nicht einfach nur buchhalterisch Hypothesen überprüfen, sondern eine Gestalt oder einen Strukturzusammenhang in den Einzeldaten erkennen, ihre Bedeutung für den Gesamtzusammenhang der Forschungsfrage bestimmen. Was ihm Spaß macht, ist also ein erschließendes Denken.
ein# so Hypothesen zu entwickeln, so Erklärungsmodelle (.) zu diskutieren auf einer sachlichen Ebene,
Jetzt werden immer mehr Merkmale der Tätigkeit des Forschers aufgelistet. Hypothesen zu entwickeln setzt die Bereitschaft zu spekulativem, vorausgreifendem Denken in einem durch die Fakten noch nicht abgesicherten Terrain des Wissens
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voraus. Es ist aber klar abgegrenzt von einem wilden Spekulieren, das die Bodenhaftung verloren hat. Die sachliche Ebene ist ein positives Faktenwissen, das den Ausgangspunkt bildet für konkrete Ausdeutungen. mit Leuten, die da auch ähnlich gewöhnt sind zu denken, die da nicht so sehr viel das Subjektive und sonst was hineinbringen, sondern bei der Sache bleiben, das find ich spannend.
Der Wissenschaftshabitus wird nun immer plastischer beschrieben. Das muss kaum mehr ausgedeutet werden. Es wird vorausgesetzt, dass das Subjektive an der Praxis des Wissenschaftlers immer beteiligt ist, aber es nimmt nicht überhand (...nicht so sehr viel...). Die Wissenschaftler haben gelernt, es in ihrem Handeln zurückzuhalten. Schluchter hat eine implizite Theorie der Sublimierung im Kopf. Wissenschaftler sind in der Lage, ihr unbewusstes Innenleben, ihre Affekte, Vorurteile und Geltungsstreben soweit im Griff zu behalten, dass es die gemeinsame Konzentration auf die Sache nicht stört. Sie sind darum bemüht, ein Problem stabil zu halten, sachfremde Erwägungen fern zu halten, sich nicht zu lange an persönliche Einfälle zu klammern oder an ihnen zu berauschen, wenn sie nicht weiterführen. Oder zumindest lassen sie sich rasch wieder zur Ordnung rufen. Man kann sagen, dass es der Forscherhabitus selbst war, der Schluchter an der Wissenschaft fasziniert hat, diese kollektive Selbstkontrolle. Sie hat er im Kontrast zur Schule als etwas Reales erfahren.
5I: Also du hast dann auch dieses Studium auf Lehramt ähm äh aufgenommen, weil dich die Sache interessiert hat, also der Gegenstand von Biologie und Sport, und nicht# also es gibt ja Motivation, weil man gern mit Kindern zu tun hat oder so
Die Nachfrage enthält bereits eine Rekonstruktion der Beweggründe, die Schule wieder zu verlassen. Da Schluchter nach seinem Referendariat nicht an der Schule geblieben ist, kann der Grund, auf Lehramt zu studieren, nicht durch den Wunsch geleitet gewesen sein, mit Kindern zu arbeiten. Sonst wäre Schluchter nicht zurück in die Forschung gegangen, sondern in der Schule geblieben oder er hätte eine andere Möglichkeit gesucht, mit Kindern zu arbeiten. Es muss folglich ein Interesse am Fachgegenstand gewesen sein, wird unterstellt. Wir wissen schon, dass die Sache so eindeutig nicht war und Klarheit erst mit der Zeit gekommen ist. Das Interesse an den Wissenschaften selbst war am Anfang nicht ausgeprägt, sondern der Sport war führend. Biologie blieb ein Mauerblümchen.
6S: Ja, ach naja, also eigentlich hat mich der Sport interessiert,
Das überrascht jetzt nicht mehr, weil wir es schon vorausgeahnt hatten. Er hat ein berufliches Tätigkeitsfeld für sich als Sportler gesucht und hat sich im Studium
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ernsthaft damit befassen wollen und ist dann der Konsequenz aus dem Lehramtsstudium gefolgt und in die Schule gegangen. Mit Kindern hatte das nichts zu tun. Seine sportliche Leidenschaft war ausschlaggebend.
(I: ja) und dann mer gesagt, Sport, okay, was nimmt man da dazu, und dann nimmt man halt Biologie, und (.)
Unsere obige Deutung bestätigt sich erneut: Biologie wurde als Ergänzungsfach gewählt. Das war eine strategische Rechnung. Er ließ sich bei der Berufswahl davon leiten, sein Leben nicht unter einen zu großen Druck geraten zu lassen. Er ist nicht besonders ambitioniert und sucht sich eine angenehme Fächerkombination. Weder folgt seine Wahl einem vorher gebildeten eigenständigen Interesse für die Biologie, noch hat er vor dem Fach besonderen Respekt. Die Wissenschaft hatte sich angeboten, weil sie in dem Ruf stand, dass ihr Studium nicht ganz so schwer sei. Aber wie hat er dann innerlich zur Biologie gefunden? Die Antwort steht nach wie vor aus.
7I: Mhm (S: und) gibt ja auch ne Affinität 8S: Ja, die gibt’s, die gibt’s (I: ja) also auch jetzt grad was# mer macht ja in Sport auch oder viel diese Geschichten, die dann auch# also Energie (uv) oder so,
Gemeint ist zum Beispiel kinetische Energie beim Bewegungsablauf oder die Energiebilanz bei der Nährstoffverbrennung im Muskel, oder dergleichen. Die Biologie ist für das Verständnis dieser Phänomene natürlich das grundlagenwissenschaftliche Fach.
das hat man natürlich also Biologie kriegt man da ganz anders vermittelt, (I: mhm) und hat dann natürlich gewisse Transfers zwischen den beiden Sportarten# also zwischen den beiden Sportarten sag ich schon zwischen Biologie und Sport.
Schluchter will wohl sagen: In der Kombination von Sport und Biologie erschließen sich einem Studenten auch für die Biologie ganz bestimmte Zusammenhänge stärker, als dies sonst der Fall wäre. Man hat zwei unterschiedliche Sachbezüge zum Fachwissen der Biologie. Das eine ist die Systematik der Biologie, das andere ist die Körperlehre und Erfahrung der Sportarten. Wenn man beides studiert, erkennt man bestimmte Sachverhalte deutlicher. Das Sportstudium bleibt zwar an der Oberfläche, was die biologische Systematik angeht, aber Schluchter hat sich, so deutet er an, die Biologie auch an Fragestellungen der Sportwissenschaft exemplarisch erschlossen. Man könnte z.B. an Zusammenhänge denken zwischen Habitat und Körperanatomie oder Habitat und Ausdauer, der natürlichen Leistungsobergrenze von
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Individuen und der phylogenetischen Anpassungsfähigkeit ihre Spezies, dem Stoffwechsel und der Nahrungsbasis, uvm. Der amüsante Versprecher bringt sodann erneut zum Vorschein, wie sehr Schluchters ursprüngliches Interesse der Sport war. Versprecher sind ja immer interessant, wenn sie falsche oder unangemessene Ausführungen eines intendierten Satzplans produzieren, die nicht bloß eine zerstörte Sinnstruktur hinterlassen, sondern mehrere, manchmal sogar kontraintendierte Lesarten eröffnen und so etwas über das Unbewusste auszusagen versprechen. Schluchter setzt sowohl die Biologie als auch die Sportwissenschaft einer Sportart gleich, aber er bemerkt die Unangemessenheit sofort und reagiert darauf selbstironisch (Sportarten sag ich schon). Dies spielt darauf an, dass etwas in ihm dazu neigt, alles als Sport zu betrachten und etwas anderes gar nicht in sein Recht treten zu lassen. Es wirkt auf ihn selbst übersteigert. Sport und Wissenschaft sind verschiedene Dinge. Gleichwohl ist er dabei nicht im Unreinen mit sich. Er ist mit dieser Neigung durchaus identifiziert. Der Sport ist seine ursprüngliche Leidenschaft. Was bedeutet jedoch die Gleichsetzung? Eine Wissenschaft wie die Biologie als Sportart zu betrachten, macht Sinn, wenn man sie als Herausforderung ansieht, der man sich mit voller Kraft, Ausdauer und Optimierungswillen hingibt. Auch der Wettkampfgeist fände eine Entsprechung. Es gibt überhaupt viele Parallelen zwischen Sport und Wissenschaft, man spricht nicht von Ungefähr in beiden Kategorien von „Disziplinen“. Unangemessen ist die Gleichsetzung allerdings, weil der Sport nicht wirklich zum Beruf erhoben werden kann, selbst dann nicht, wenn er professionell betrieben wird und große Gagen oder Gehälter gezahlt werden. Der Sport bleibt dem Spiel verwandt und findet seinen Zweck in sich selbst. Von ihm geht kein Beitrag zu einer gesellschaftlich notwendigen Problemlösung aus. Was also aus dem Versprecher spricht, ist eine gewisse Ungeklärtheit Schluchters im Verhältnis zu seiner Tätigkeit als Biologe. Ist es Sport und Spiel, was er da macht, oder ist es ein Beruf? Er wünscht sich das Spiel, aber er weiß bereits, dass dies nicht zutreffend ist. Diese Unabgeklärtheit ist typisch für den Status des Doktoranden. Sie muss aber überwunden werden, wenn aus der Wissenschaft ein wirklicher Beruf werden soll.
Naja, aber des ähm des Studium das war mehr so aus einer (..) ja ich hätt beinah gesagt Verlegenheit heraus, da hat mer gesagt, oh, was studiert mer jetzt, okay, Sport mach ich ganz gern, mach ich des mal, und dann
Das Unambitionierte des Lebensentwurfs kommt hier nochmals sehr deutlich zum Vorschein. Die Darlegung seiner Studienmotive erfolgt ohne jedes Selbst-Announcement. Er hatte bei Erreichen der Volljährigkeit keine feststehenden Lebensziele. Studieren musste schon sein, denn er hatte ja Abitur. Er wollte also nichts verspielen. Aber was genau er machen sollte, das wusste er noch nicht. Andere ha-
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ben genauso gedacht. So hat er sich dazu entschlossen, sich auf das Studieren einzulassen und hat private Interessen mit dem Berufsziel verbunden. Von Sicherheitsstreben oder beruflichem Ehrgeiz, Karrierewillen oder Geltungsdrang keine Spur.
9I: Aber du hasts ja dann auch ziemlich lange, bis zum Referendariat immerhin äh (S: durchgehalten) durchgezogen 10S: Ja des macht irgendwie# das geht ja schnell, des is ja# Biologie hat mer ja nicht so lang gebraucht, des isch ja# mer muss ja da nur hingehen, das (.) mer muss da hingehen und dann naja, versteht man ja schon irgendwann mal was, und dann kammer auch Examen machen. Aber (.) also vieles war halt fürchterlich ja, also wenn ich an die (.) geobotanischen Exkursionen denke, was ich da hab alles lernen sollen, das war nicht so mein Ding. Und dann hat mir aber auch schon die Genetik viel Spaß gemacht, (I: ja) weil das ist# oder auch die die Biochemie oder die Chemie, weil das ist so was, das das hat so ne gewisse Logik, (I: mhm) das ist so# mir gefällt das, wie man da systematisch herangeht (.) und eben verschiedene Sachen eben ausschließt und (.) ja das find ich gut, und dann so ganz klare Schlüsse ziehen kann, das find ich gut, das find ich spannend, das (..)
Das Muster des Falles wiederholt sich nun. Es fällt erneut das Understatement auf. Schluchter tut so, als habe er nur mit einem Ohr zuhören müssen, und das habe gelangt, um das Studium zu meistern. Dabei erweckt er aber nicht den Eindruck, als liege das an seiner geistigen Überlegenheit. Biologie ist einfach nicht so schwierig. Gleichzeitig sind ihm bestimmte Felder aber sehr schwer gefallen, nicht, weil sie kognitiv zu anspruchsvoll gewesen wären, sondern weil sie ihm Fleiß und geistige Anstrengung abverlangt haben. Die Logik dahinter ist: Ihm fallen Arbeiten leicht, wenn sie ihn interessieren. Aber Basiswissen eintrichtern ohne leitendes Interesse, das ist nicht sein Fall. – Außerdem: Offenbar ist er kein Feldforscher, der sich gerne in der freien Natur aufhält, um dort die Pflanzen zu studieren. Bei geobotanischen Exkursionen geht es nämlich darum, Pflanzenarten und ihre Vorkommen in Abhängigkeit zu Bodenarten und den geologischen Gegebenheiten zu studieren. Dabei gibt es sehr viele Parameter, die sich nicht von selbst erschließen, sondern auswendig gelernt werden müssen. das war nicht so mein Ding. Dagegen ist die Genetik geradezu ein Paradebeispiel der im Labor und mit dem Experiment arbeitenden modellbildenden Wissenschaften, die verborgene Gesetzmäßigkeiten entschlüsseln wollen. Was ihn daran – im Gegensatz zur klassifizierenden Botanik – interessiert hat, ist die Methodisierung des Erschließungsprozesses. Der Forscher nähert sich der Wahrheit an, in dem er alle möglichen Hypothesen aufstellt und dann eine nach der anderen durchprüft, bis nur noch eine übrig ist. Zugleich verlässt er niemals den sicheren Boden. Die Schlüsse sind ganz klar, also zwingend. Das methodische Verfahren ist hierin zu einem persönlichen Ideal des Denkens erhoben worden. Dem logischen Schließen wird hier eine ästhetische Qualität zugeschrieben.
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11I: Aber du hast also sozusagen in dem in dem Biologiestudium selbst kein Feuer gefangen 12S: Nee, erstmal gar nicht. 13I: War das so# wie muss man sich das vorstellen das Studium, ist das verschult sehr oder (..) also dass man da wenig Freiheitsgrade hat 14S: Ah nee du kannst dich# ja, also erstens hat mich der Sport mehr interessiert, und zweitens und Bio, da gehst du hin in die Vorlesung, Einführung in die molekulare Genetik, (uv) und dann sagt der in der ersten Satz sagt irgendwie ähm (..) naja die Kuh scheißt in den Bach und (uv) erfährt einen Downshift. Schon bei Downshift hast du das Vokabular verloren, und dann ist es einfach (uv) das das versteh ich dann nicht so schnell, (I: mhm) und dieses war also (uv) da war das völlig abgehoben, (I: mhm) also (uv) nichts verstanden, und dann ähm im Referendariat ähm war das dann so, dass man sehr viel von diesen Dingen, die man da eigentlich hätte lernen sollen, ist mir da erstmal klar geworden, ach so war des gemeint, (I: mhm) und deswegen war auch dieser (.) Wissenszuwachs dann in der# im Referendariat, wo man sich mit den Biologiethemen einmal auseinandersetzt, weil man sich ganz anders damit beschäftigen muss, weil mers ja erklären muss, mer muss das ja rüberbringen, war also enorm für mich, das war also sehr spannend, und dann hab ich gemerkt, ach, da gibts ja dann doch Sachen, die ich gut finde.
Jetzt bahnt sich eine Antwort an. Schluchter hat die Lektionen der Dozenten nicht aufnehmen können, weil er das abstrakt dargelegte Wissen nicht mit konkreten Sachbezügen hat verbinden können. Es hat sich eine Wand aufgetan und er hat nicht gewusst, warum er sie erklimmen sollte. Das hat ihn rasch aussteigen lassen. Wir können daraus schließen, dass er noch keinen inneren Dialog über biologische Fragen und Rätsel ausgebildet hatte, als er ins Studium eingetreten ist. Hier haben wir aber den Fall, dass ein Doktorand der Biologie in sein Sachgebiet erst hineingewachsen ist, als das Studium bereits abgeschlossen war. Wir wissen ja auch schon, dass das über den Umweg der Sportwissenschaften gelaufen ist. Es gab also vor dem Studium keine Bildungsdynamik, die kräftig genug gewesen wäre, um ein Streben zu initiieren, das von selbst in die Biologie hineingeführt und eine verselbständigte Lernbereitschaft hervorgebracht hätte. Das ist erst im Referendariat nachträglich geschehen. Ein minimales Vorinteresse muss es aber dennoch gegeben haben. Bei Schluchter scheint jedoch erst die Erfahrung des Unterrichtens etwas aufgeweckt zu haben. Das Unterrichten war deshalb eine Art Konversion. Das war offenbar das erste Mal, dass er sich mit den Biologiethemen einmal auseinandergesetzt hat. deswegen war auch dieser (.) Wissenszuwachs dann ... im Referendariat,.... also enorm für mich, das war also sehr spannend, und dann hab ich gemerkt, ach, da gibts ja dann doch Sachen, die ich gut finde. Er hat selbst also nicht mehr dran geglaubt, dass ihn die Biologie fesseln könnte. Daraus spricht, dass er im Studium durchaus bereit war, sich den Themen zu öffnen, er hat aber den Zugang nicht gefunden. Er war gerade dabei, zu resignieren. Die interessante Frage ist nun, was ge-
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nau ihn am Unterrichten aufgeweckt hat. ...weil man sich ganz anders damit beschäftigen muss, weil mers ja erklären muss, mer muss das ja rüberbringen... Schluchter hat demnach in den Schülern ein Publikum vorgefunden, das er brauchte. Dieses Publikum hat ihm abverlangt, die Biologie nachvollziehbar darzustellen, und der Erfolg der pädagogischen Bemühungen ist nachprüfbar. Ob etwas rübergebracht wurde, lässt sich an den Klausuren ablesen. Also hat er sich Gedanken darüber gemacht, wie einem aufgeschlossenen Jugendlichen die Biologie der Fortpflanzung oder Vererbung oder die Genetik anschaulich gemacht werden kann. Zu diesem Zweck hat er zuvor mehr schlecht als recht erworbenes Wissen neu gliedern und strukturieren müssen. Dazu musste er es nochmals gründlich durchgehen. Er hat es mit Bildern, Anschauungsobjekten, Filmen anschaulich aufbereitet, er hat seine Stunden strukturiert. Das hat ihm selbst geholfen, abstraktes Modellwissen mit der lebendigen Wirklichkeit besser zu verknüpfen und dies hat seine eigenen Interessen nachträglich bekräftigt. Die Lehre hat ihm für viele Dinge die Augen geöffnet, was ja keine ungewöhnliche Erfahrung unter Dozenten ist. Der Lehrende lernt in seinen Veranstaltungen oft mehr als die Studenten, weil er gezwungen ist, sich die Sache wirklich klar zu machen, von der er spricht. Er bearbeitet darum seinen Stoff mit einer viel größeren Aufmerksamkeit für die gedanklich-logische Ordnung der Argumente, für die Gliederungsebenen und den Spannungsbogen und die geforderte Explizitheit anschaulicher Details.
15I: Mhm, also die aber# also das war dann doch auch die Sache, nicht das sozusagen Rüberbringen und Vermitteln 16S: Nee, nee also (I: mhm) ich mach mit Kindern viel und (I: ja) grad auch auf auf sportlicher Ebene, aber des (.) des is eigentlich (.) net so sehr die Motivation gewesen, (..) also ich freu mich an den Dingen, dass sie so sind wie sie sind,
Zwei Modelle werden sichtbar. Ein Pädagoge hat Freude daran, wenn er Kindern etwas beibringen kann. Der Lernerfolg steht dabei im Vordergrund, der Inhalt ist tendenziell austauschbar. Diese Freude ist hier nicht gemeint. Es geht Schluchter nicht primär darum, mit Kindern zu arbeiten. Er wählt eine interessante Formulierung, um sein Gegenmodell zu skizzieren. ich freu mich an den Dingen, dass sie so sind wie sie sind... Logisch gesehen sind darin zwei Aussagen in eine zusammengeführt. In Langschrift heißt der Satz: Ich freue mich an den Dingen, und daran, dass sie so sind wie sie sind! Damit ist zum einen gesagt: Die Welt der Phänomene, der positiven Tatsachen und Sachverhalte ist interessant und anregend. Ich habe nicht die Einstellung, sie verbessern oder verändern zu müssen, sondern ich nehme sie so, wie sie ist, um mich mit ihnen zu befassen. Das ist in sich eine Quelle der Freude. Diese Haltung drückt eine Affirmation der Natur aus, der am ehesten die ingenieuriale Lust an der Konstruktion neuer Welten und der Manipulation der bestehenden
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Welt gegenüberzustellen wäre. Zum anderen ist gesagt: Die Dinge haben ihre eigene Qualität, die nicht von unseren Begriffen abhängt. Sie sind nicht nach unseren Vorstellungen zu bestimmen, sondern unsere Vorstellungen haben sich nach der Realität zu richten. Das drückt einen methodologischen Realismus aus. Auch hierin sieht Schluchter eine Quelle der Freude. Von den Dingen geht eine Eindeutigkeit und Unhintergehbarkeit aus. Man kann Messdaten manipulieren, aber nicht die Natur selbst. Das entfaltet einen Reiz, dem nachzugehen etwas Erfüllendes und Befriedigendes für ihn hat. Die Unabhängigkeit des Inhalts der Naturerkenntnis vom Erkenntnissubjekt ist also ganz positiv besetzt. Der Natur wohnt etwas Verlässliches inne, sie ist eine universalistische Quelle von Geltung. Diesem Logos Ausdruck zu verleihen und die Dinge zum Sprechen zu bringen, das sieht Schluchter als seine berufliche Aufgabe an. Ihm geht es also nicht darum, dass Schüler etwas Nützliches fürs Leben lernen, sondern dass sie teilhaben können am logischen Charakter der Natur. Mit „Freude“ ist – dieser Deutung nach – also nicht bloß Freude an der Schönheit der Natur, Freude an formvollendeten Gebilden oder effizienten Lebensformen gemeint, sondern daran, dass den Dingen Objektivität anhaftet, die sich artikulieren lässt. Der Satz ist insofern eine ziemlich starke Formulierung.
(I: mhm) und deswegen erzähl ich sie auch gern, (I: mhm) und sag dem jemand, kuck her, das isch des Auge, ah die Blätter sind grün, weil da Chlorophyll drin isch, (I: mhm) so ist des halt, ja da muss ich net# das muss ich nicht zur Diskussion stellen oder (I: mhm) ich muss das hinterfragen also ständig wie mer das ja in andern Fächern dauernd machen muss
Kuck her bedeutet: Richte deine Aufmerksamkeit auf die Sache, öffne deine Sinne, hier gibt es etwas zu entdecken. Das isch des Auge, also das Sehorgan, ah die Blätter sind grün. Das Auge nimmt eine Farbe wahr. Das ist eine natürliche Tatsache, eine Qualität des Blattes. Wie aber ist das Grüne im Auge realisiert? Sind die Blätter selbst grün? Oder stellt sich die grüne Farbe des Blattes erst im Auge ein? Die Blätter sind grün, weil da Chlorophyll drin isch. In dem Blatt ist also eine chemische Substanz, die „ein Blatt grün macht“. (Das Chlorophyll beeinflusst die molekulare Oberflächenstruktur des Blattes in der Weise, dass die auf den Körper auftreffenden Lichtstrahlen nur in einem bestimmten Frequenzgang der elektromagnetischen Wellen (ca. 490-560 nm) des Lichts sichtbar reflektiert werden. Das Blatt ist also bei absoluter Dunkelheit gar nicht als grün zu bezeichnen, sondern allenfalls „potentiell grün“, chemisch grün.) Das Interessante daran ist, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Sinneseindruck im Auge und einer chemischen Substanz im Blatt gibt. Die Farbe des Körpers ist von der Chemie des Körpers abhängig. Und diese Kausalbeziehung ist nicht ins Belieben des Auges gestellt. Sie ist in der Struktur des Moleküls Chlorophyll begründet.
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Schluchter nutzt dieses Phänomen, um zu zeigen, dass man Schüler mit wenigen Worten für naturwissenschaftliche Fragen interessieren kann. Aber in der Passage kommt noch etwas anderes zur Sprache. so ist des halt, ja da muss ich nicht zur Diskussion stellen oder ich muss das [nicht] hinterfragen also ständig wie mer das ja in andern Fächern dauernd machen muss. In der Naturwissenschaft herrscht also eine Positivität von Fakten vor, an die sich der Wissenschaftler (und Lehrer im Unterricht) in viel stärkerem Maße halten kann, als dies in den Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften der Fall ist. Er glaubt hier einen festeren Grund unter den Füßen zu haben, es ist leichter, im Konsens über die Geltung von Tatsachen eine Diskussion zu entwickeln. Man ahnt, dass Schluchter es als sehr unbefriedigend empfinden würde und nur schwer aushalten könnte, wenn allzu viele Ausgangstatsachen strittig wären oder verschiedene Interpretationsrichtungen gegeben wären. Wissenschaftliche Diskussionen und schulischer Unterricht verlaufen daher anders, sachlicher, weniger anfällig für emotionalisierte Polarisierung, weniger gefährdet, sich am Ende nicht auflösen zu lassen. Indem Schluchter die verschiedenen Wissenschaftskulturen so gegenüberstellt, reproduziert er natürlich auch ein beliebtes Klischee über die Sozial- und Geisteswissenschaften, denn diese haben selbstverständlich auch eine Welt des Objektiven vor sich, die von der Meinung des einzelnen Wissenschaftlers unabhängig ist. Gleichwohl trifft er auch etwas, weil diese Welt sich in Texten manifestiert, die auslegungsbedürftig sind. – Der Fall ist nun ziemlich klar. Im Folgenden werden nur noch einzelne Stellen ausgewertet.
17I: Vor allen Dingen, Biologie und ja auch Sport is ja eigentlich auch was, was die Kinder naturwüchsig interessiert (.) du hast einfach# in Biologie hast du einfach dann im Unterricht auch interessante Gegenstände ja und interessante Zusammenhänge 18S: Ja, des stimmt schon, also manchmal, (I: ja) auch viele Sachen sind ja grässlich langweilig 19I: Jaja, aber es gibt ja Fächer, die sind nur langweilig das ist also 20S: Ja gut, da hats# gibts in Biologie schon Themen, da kann man (.) kaum was draus machen, sagen wir mal so 21I: Und was war das dann für ne Zulassungsprüfung 22S: Zulassungsarbeit hab ich geschrieben 23I: Zulassungsarbeit 24S: Das muss mer halt im Sportstudium (I: ja) muss mer halt entweder in Bio oder in Sport muss mer so ne Zulassungsarbeit schreiben 25I: Das ist, um zur Prüfung zugelassen zu werden 26S: Ja, (I: ah so) und da kammer entweder en Literaturthema machen oder mer kann was Empirisches machen, (I: mhm) und (.) da hat sich einfach angeboten weil ich halt mit Skifahren viel zu tun hab, also ich bin auch staatlich geprüfter Skilehrer, war das einfach so (uv) aha, da gibts en Thema, da kann man sich hineinarbeiten, und das hab ich dann auch (uv) (I:
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mhm) und dann hab halt# war ich halt in ner Arbeitsgruppe, wo wir halt ähm so ähnlich wie des hier auch is, und das find ich auch find ich auch wunderbar zu arbeiten, also dass man an nem Tisch sitzen kann und sagen okay, wir ham des und des Problem, die und die Fragestellung, und jetzt was können wir tun, damit wir des Problem lösen, (I: mhm) (..) und da halt auch so (.) diese diese logischen Verknüpfungen, dann eben die den Erkenntnisgewinn dann bringen, die halt die diskutieren find ich gut 27I: Aber dann war das doch von Umfang her ne ziemlich ähm erhebliche Arbeit oder 28S: Das war ein immenses# en immenser Aufwand, (I: ja) ich mein, mer hat natürlich keine Ahnung von den Methoden, wemmer so allein schon die# eine Fragestellung herauszukristallisieren, so Voruntersuchungen zu machen und dann so in der Literatur zu lesen und sagen. was gibts zu den Thema, was könnte man denn dann herausfinden und was möchte ich eigentlich untersuchen und wie muss ich mein Untersuchungsdesign gestalten, damit da was rauskommt, (.) das war schon aufwendig ja, (I: mhm) das war schon aufwendig, aber das ist in der Regel immer so, du weißt halt von nix kein gar nix (I: mhm) ja da musst halt dich irgendwo einarbeiten und das ist erstmal mühsam, das lernt man im Studium selbst nicht
Der Interviewee hat in seiner Ski-Arbeit viele Handlungsprobleme der wissenschaftlichen Praxis kennengelernt und eine Haltung dazu entwickelt. Man weiß zu Beginn gar nichts und muss sich mühsam einarbeiten. Man hat keine Vorgaben, die Fragestellung ist nicht klar, man kennt noch nicht den Stand des Wissens, geschweige denn hat man einen Plan, wie vorzugehen ist und welche Instrumente zum Einsatz kommen sollten. Und dennoch ist man schon auf der Suche und diese Suche ist zielbewusst darauf gerichtet, die neuesten Erkenntnisse und Methoden kennenzulernen und sich an vorderster Front ein Thema zu suchen, das es lohnt, bearbeitet zu werden. Und so ist es immer. Das ist genau die Logic of Discovery. 29I: Mhm (.) und also wie sozusagen war dann der Schritt von von dieser Arbeit jetzt hierher? 30S: Also das war so, ja das Referendariat war rum, und (I: ja) in der Schule keine Chance, also (I: ja) also die ham# ich hab des zwar bestanden 31I: Du hast des fertiggemacht 32S: Ich hab des alles fertiggemacht, ich hab des also abgeschlossen, ich hab also die Ausbildung fertiggemacht ja, aber dann als Lehrer (.) hätt ich erstens keine Chance zu arbeiten, weil sie (I: ja) keine Stellen für mich haben, und zweitens geht mir das bei den Lehrern tierisch auf den Wecker, dass jeder meint, er hätt# die argumentieren immer in die eigene Tasche, des was sie gemacht haben, is immer das Allerbeste, und wenn das jemand en bisschen anders macht, son Platz für Individualisten wie ichs vielleicht einer bin gibts da wenig, und 33I: Du bist ja auch gezwängt in Lehrpläne und so 34S: Ja, des des geht noch emal so, (I: ja) aber es ist mehr so die die Organisation Schule an sich (.) is schwierig, des hat wenig Platz für Frei# äh nicht viel Freiraum, mir hat mal einer gesagt, wenn ich in 200 Jahren wieder auf die Erde komme, dann geh ich in ne Schule und
222 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE dann würd ich mich so fühlen wie jetzt, weil das einfach so ne ganz zähe Geschichte (I: ja) ist, die kämpfen alle an eigener Front eigentlich, (I: mhm) mehr oder weniger 35I: Also von der Kollegialität her 36S: Ja, ja, (I: ja) und dann hab ich gedacht, na, eigentlich (.) möchte ich noch mal# eigentlich begeistert mich die Sache selbst, so Photosynthese zum Beispiel an sich find ich gut, (I: ja) das find ich spannend, da möchte ich# da kann ich dann auch damit auseinandersetzen, und (.) und ja dann ich hab gedacht, wenn mich das# die Sache so interessiert, dann müsste das vielleicht andere auch interessieren und das wär spannend, denen das zu erklären, des war aber net ganz so, (I: mhm) und da hab ich gesagt, na okay, dann kuck ich mal, was es noch gibt, und dann hab ich gedacht, naja, ich möchte gern wieder wissenschaftlich arbeiten, (I: mhm) und dann war mir auch gar nicht so wichtig eigentlich was, (I: mhm) nicht wahr, und des des musste nicht jetzt hier in die Neurowissenschaften, so dass ich sagen kann, naja ich hab schon immer mich für das Nervenwachstum oder Nervenregeneration interessiert, das kann mer überhaupt nicht sagen, ich hätt genauso gut über Alpenmoose und Farne promovieren können, (I: mhm) aber mir war klar, ich möchte gern wieder Wissenschaft machen, und dann gabs ja die Möglichkeit, entweder Sport oder Biologie, und da wars so im Sport, ich hab gedacht, naja, ich hab da jetzt drei Semester oder vier Semester verbracht, herauszufinden, wie en Langläufer en bisschen schneller laufen kann ja, (I: mhm) hab ich gesagt, naja toll, des hat ja# das# naja, ist des so (.) weltbewegend, (I: mhm) hab ich gesagt, naja, ich möchte gern lieber was machen, was e bissel (.) von der Thematik her (.) mehr noch diesen Aufwand verdient
Schluchter hat eine Transformation durchlaufen. Er hat den propädeutischen Charakter des ersten Forschungsprojekts (Skilanglauf) erkannt und gemerkt, dass der Sport für eine erwachsene Forscherlaufbahn nicht genügend Ernsthaftigkeit Ansatzpunkte liefert. Das Interessante hieran ist das klare Bewusstsein dafür, dass das Entscheidende nicht die konkrete Fragestellung ist, sondern dass diese Frage den Aufwand verdient und dass sie natürlich eine offene Frage ist.
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Resümee Der Fall ist vollkommen anders gelagert, als der von Hellwein, Fendel oder Frau und Herr Bertram. Dennoch sind die Gemeinsamkeiten unübersehbar. Was fasziniert ist die Tätigkeit des Forschens selbst, der Gegenstand ist letztlich nur von exemplarischer Bedeutung. Besonders instruktiv ist, dass Schluchter aus einem eher wissenschaftsfremden Milieu stammt und am Anfang gar nicht auf einen Wissenschaftsberuf geeicht war. Aber die fremdbestimmten Routinen und das Chaos des Unterrichtens, die Willkürlichkeiten im Referendariat und Lehrerkollegium haben sein Sachhaltigkeitsethos, seine „demokratischen“ Kollegialitätsvorstellungen und sein Autonomiestreben so sehr provoziert, dass er nach Alternativen Ausschau gehalten hat. Seine Examensarbeit in den Sportwissenschaften hat ihm einen Weg aufgezeigt und ihn in den Sog des Datenerhebens, Messens, Analysierens hineingezogen, und hier hat er die von Statusfragen losgelöste soziale Wertigkeit der Logik des besseren Arguments schätzen gelernt. Das hat ihn, der Biologie zunächst nur als Ergänzungsfach gewählt hatte, zu einer Bewerbung auf eine Doktorandenstelle in dem SFB animiert, wo er immer tiefer in die Logik der Forschung hineingezogen wird. Gleichwohl war das Referendariat für Schluchter ein notwendiger Umweg, denn er hat erst in der Verantwortung gegenüber Schülern, denen er die Biologie näherbringen sollte, das Fach zu seinem eigenen Fach machen können. Erst in der Aufgabe, den Unterricht strukturieren zu müssen, hat er sich inhaltlich vieles selbst erschlossen, was ihm zuvor nur als abstraktes Lernwissen ohne interessante Fragestellung erschienen war. Es bedurfte also einer sozialen Konstellation, in der „die Sache“ von ihm gültig repräsentiert werden musste. Schluchter ist ein eindrucksvoller Fall und Beleg dafür, dass die Logik der Forschung auch Lebenswege erfassen kann, die von Haus aus nicht auf sie eingestellt sind. Man kann an ihm gut die Wirksamkeit einer „Professionalisierung von unten“ studieren, die ihren Ausgang in einem Scheitern am Berufsweg des Lehrers nimmt und getragen wird von seiner Sensibilität für gestörte Kommunikationen, die nicht an einer Sache ausgerichtet sind. Das drückt sich auf interessante Weise in seinem „methodischen Realismus“ aus, der die Positivität der Fakten als Quelle einer heilsamen Strukturierung sozialer Praxis ansieht.
Fall 6: Frau Glasner, Doktorandin der Biologie
„...die Faszination nimmt doch ab mit der Zeit...“
Vorbericht Frau Glasner arbeitet als Doktorandin in einem Teilprojekt des SFB, das von Frau Bertram geleitet wird. Sie stammt aus Österreich und hat bereits einige Erfahrung in anderen Forschergruppen erworben. Nach dem Studium der Biologie ging sie in ein biologisches Institut in Graz und wechselte von dort zur Max-Planck-Gesellschaft an ein Institut in Deutschland. Von dort ist sie an die Universität gekommen, an der das anatomische Institut beheimatet ist. Gegenwärtig arbeitet sie einer älteren Wissenschaftlerin zu, die sie in eine bestimmte Labortechnik einweist, bei der es um sehr präzise Präparationen von Organbefunden an Versuchstieren und ihre anschließende Auswertung unter dem Mikroskop geht. Ihr Fall wurde ausgewählt, weil sie als einzige der Gesprächspartner dem Modell nicht zu entsprechen schien und als mögliche Kandidatin für seine Falsifikation diskutiert werden soll. Abkürzungen und Notation I: Interviewer E: Frau Glasner *bla**bla*: gleichzeitig gesprochen (Husten): Anmerkungen dann: betont [mhm]: Einwurf in „fließende Rede“ (.), (..), (...): Pausen (unv.): unverständlicher Redeteil (?) Klaus (?); (?) Klaus (Haus?): fragliche Verschriftung; Alternativvorschlag Ja, äh, was mich interessiert [mhm] ist ähm (.), was Sie an Ihrer jetzigen Tätigkeit fasziniert. E1: (.) hmhmmm (..), also mich bringts her,
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mich bringts her ist eine dialektale Redeweise, die in Österreich gebräuchlich ist. Gemeint ist: Ich bin hier, weil... Die Frage wird damit auf interessante Weise umgedeutet. Warum bin ich hier? Hier, her, das kann nur das Institut meinen, in dem sie als Doktorandin arbeitet. Frau Glasner spricht also von sich und nicht von der Sache. Thematisiert wird ihre Biographie, das Subjekt der Faszination und nicht der Gegenstand der Faszination. Alle anderen Interviewees hatten begonnen entweder mit dem Gegenstand ihrer Arbeit oder mit der Tätigkeit der Forschung. Sie weicht als erste (und übrigens einzige aller Fälle) von diesem Muster ab. weil mich immer schon)s Leben fasziniert
immer schon ist wieder auf die Biographie bezogen. Es wird zwar ein Interesse für biologische Themen sichtbar, und dieses Interesse reicht weit in die Jugend zurück. Es begleitet sie, so lange sie sich erinnern kann. Dieses Interesse selbst drückt sich aber nicht aus. Es geht um ihre Person, nicht um eine Sache. Es bleibt zunächst auch unklar, welches Leben genau gemeint ist. Es könnte das Leben sein, für das sich die Biologen interessieren, oder das Leben, das die Theologen als Wunder der Schöpfung betrachten, oder das Leben, das dem Menschen als Schicksal entgegentritt: das Leben, wie es einen verändert und was es mit einem macht. Das wäre allerdings wie von einer höheren Warte gesprochen, so als ob sie über dem Leben stünde. Von diesem existenziellen Leben ist man eigentlich weniger fasziniert, als mehr „belehrt“, „gebeugt“ oder „gezeichnet“. [ja] und das ist einfach, (..) ähm (..) dass ma einfach schauet, ja, hat irgendeine Läsion und schaut einfach, wie reagiert der Mecha, äh der Organismus drauf, was passiert jetzt in den einzelnen Zellen, wie ist alles vorpro programmiert, also was läuft da eigentlich ab? Und das is’
Sie will es anschaulich machen und nutzt für die Erläuterung die Erfahrungswelt des Labors. was zugleich unterstellt, dass man das Faszinierende am Leben überall finden kann. Wie sie das sagt, wirkt aber wenig gestaltsicher und prägnant. Es ist ungeordnet und prätendiert: Man muss nur einen x-beliebigen Vorgang, eine Läsion z.B. herausgreifen. Dann zeigt sich das Leben an den vielen Reaktionen, die dann ablaufen. Impliziert ist: Es zeigt sich unter dem Mikroskop, an Messwerten, im Reagenzglas. In Wirklichkeit sind dies verschiedene, langwierige Vorgänge. Ihre Faszination ist also nicht wirklich anschaulich und konkret benannt, sondern wirkt mehr programmatisch allgemein. Sie ist fasziniert von dem komplexen Gesamtsystem und Räderwerk, das aus den Vorgängen spricht. Dieses System ist aber nicht sinnlich anschaubar, sondern etwas Abstraktes. Fasziniert ist sie vielleicht auch von labortechnischen Manipulationen, durch die ein Funktionskreislauf im Organismus sichtbar gemacht werden kann.
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I2: Könnten Sie ein bisschen vorkommen? E2: mhm, ja, ich spreche ja auch leise (Bewegungsgeräusche) und (...) pff (Ausatmen) ähm (...) also es is’ eigentlich das System, wo ich mich wahnsinnig mit (unv. drei Worte) Bewunderung in mir hab, also wie alles res reagiert und sich verändert [mhm] und dann programmiert ist (.).
Offenbar spricht sie so leise, dass der Interviewer sie kaum versteht und vielleicht auch um die Hörbarkeit seiner Aufzeichnung fürchtet. Er bittet sie jedoch nicht darum, lauter zu sprechen. Er geht offenbar davon aus, dass das Problem damit nicht behoben wäre, und scheint zu unterstellen, dass die Eigenschaft habituell bedingt ist und Frau Glasner immer leise spricht. In der Antwort findet sich diese Deutung bestätigt, da Frau Glasner die Berechtigung der Bitte anerkennt. Sie versucht gar nicht erst, lauter zu sprechen, sondern rückt näher an das Mikrofon heran. Der Satz Ich spreche ja auch leise zeigt, dass sie den Umstand für indisponibel hält, so als sei er eine unverrückbare Bedingung ihrer Existenz. Sie sieht gar nicht die Möglichkeit, lauter zu sprechen. Die Intervention bringt sie vorübergehend aus dem Konzept. Sie wirkt peinlich berührt und sieht sich mit etwas konfrontiert, mit dem sie sich nicht identifizieren mag. Die Pausen und auch das gepresst ausgeatmete pff zeigen eine Anspannung. Das Geräusch pff kommt ja zustande, wenn im Körperinneren ein Luftüberdruck angestaut wird, den zusammengepresste Lippen im Mund zunächst noch festhalten, um dann durch ein Anspannen der Bauchmuskulatur den Druck so weit zu erhöhen, dass die weiterhin zusammengehaltenen Lippen etwas Luft entweichen lassen müssen, wobei sie einen nur kleinen Durchgang bilden, weniger einem O, als einem schmalen Schlitz gleichend, durch den die Luft druckvoll herausgeblasen wird. Das Geräusch setzt sich zusammen aus einem kurzen anfänglichen Platzlaut, p, dem ein kurzes, stumpfes Pfeifen ff nachfolgt. Die Luft entweicht nicht plötzlich und im Ganzen, wie bei pah, sondern anhaltend gepresst, wie bei einem Ventil. Das pff gibt Frau Glasners Ratlosigkeit zu erkennen. Sie ist gerade mit einem persönlichen Problem konfrontiert worden, für das sie keine Lösung hat. Im Folgenden rückt wieder der innerseelische Zustand in den Vordergrund. Sie trägt eine Bewunderung in sich für das System. Ein System ist ein komplexer Funktionszusammenhang, in dem zahlreiche Komponenten einzeln und ineinandergreifend Aufgaben erfüllen, die für einen Gesamtorganismus unabdingbar sind. Man spricht z.B. vom Herz-Kreislauf-System oder von einem Finanzsystem und meint stets, dass dieses System eigene Strukturen und Gesetze hat und gleichwohl in ein übergeordnetes Ganzes eingelagert ist, für das es bestimmte Aufgaben erfüllt, die für es lebenswichtig sind. ....wie alles reagiert ... sich verändert ... und dann programmiert ist... Die Formulierungen lassen nicht klar erkennen, was sie genau fasziniert. Wie ökonomisch und sparsam, wie intelligent und einfallsreich oder wie komplex und hochgradig ausgesteuert etwas gelöst wird? Das Wort Bewunderung
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legt immerhin nahe, dass sie die innere Ordnung, das Zusammenspiel von Einzelkomponenten faszinieren. Aber ein System selbst wird nie im Ganzen sinnlich anschaulich. Der Begriff bleibt eine abstrakte gedankliche Konstruktion. Es scheint Glasner zu faszinieren, wenn systematische Zusammenhänge sichtbar werden. Doch ihre Faszination nimmt ihren Ausgang nicht von einem konkreten Organismus, sondern von theoretischen Modellen. Ihr Interesse ist weniger darauf ausgerichtet, einen Funktionszusammenhang aufzuklären, als ihn illustrativ anschaulich vors Auge gebracht zu bekommen. Man könnte es einen passiven intellektuellen Genuss biologischer Zusammenhänge nennen.
Das ist eigentlich die Hauptmotivation, so von der Arbeit her is’ es mir eher weniger motivierend (Lachen) also
Sie stellt ihr intellektuelles Interesse ihrer Arbeit als Doktorandin im Labor gegenüber und führt damit eine neue Perspektive ein. Daran ist wichtig festzuhalten, dass nicht der Interviewer diesen Punkt quasi von außen einführt, sondern dass er von ihr kommt. Das spricht für ein Gären der Thematik. Sie will den Punkt loswerden, weil er sie beschäftigt. Offenbar stößt sie als Doktorandin beim Arbeiten im Labor auf Schwierigkeiten, die ihre Motivation lähmen. Indirekt sagt sie hier: ’Die Arbeit ist nicht nur nicht reizvoll, sondern sie quält mich. Es ist ziemlich frustrierend.‘ Offenbar gibt es etwas, mit dem sie nicht zurechtkommt. Dass sie im Aussprechen dieses Umstandes lachen muss, ist eher Ausdruck ihrer Verzweiflung, nicht Humor. Wenn sie regelmäßig keinen Spaß hat, im Labor ihre Arbeiten zu verrichten, dann hat sie sich in eine berufsbiographische Sackgasse manövriert. I3: Ja? Könnten Sie das (.) )n bisschen weiter ausführen? E3: Also mich hat eigentlich im ganzen Studium immer wahnsinnig fasziniert zu lernen, wie: was wird irgendwas (?) gratig für die (?) Ebene, auf zellulärer Ebene, dann in der Zelle, auf den Genen, dann am ganzen Organismus dann die Organismen untereinander und des Problem is’ dann eher, wenn man im Labor steht, des is’ dass halt die Sachen immer kleiner werden, man hat dann immer kleine Frage, und die Frage zu lösen dauert dann sehr lange (.) also (....) die Faszination nimmt doch ab mit der Zeit [ja] (Lachen).
Die Gegenüberstellung des studentischen Lernens und der Forschung im Laboratorium soll ihr Problem besser sichtbar machen. Die Motivationskrise, mit der sich Glasner beschäftigt und die sie im Interview offenzulegen versucht, ist recht gut erschließbar. Ihr Antrieb entstammt nicht einer Forscherneugier, die sich auf einen konkreten Gegenstand richtet, sondern einem persönlichen Bildungsstreben, das an den großen Fragen der Biologie ausgerichtet ist. Glasner geht wieder von ihrer Person aus, wenn sie sagt, es habe sie wahnsinnig fasziniert zu lernen. Gegenstand der
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Faszination ist hier die Erfahrung, bei der Verinnerlichung eines Wissens erfolgreich zu sein. Sie ist sozusagen von sich selbst fasziniert, wenn ihr ein Lernfortschritt gelungen war. Dieser Antrieb läuft sich in der Laborwirklichkeit tot, oder er erhält nicht mehr genügend Nahrung, um sich zu erneuern, weil sie im Laboralltag ihrem Bildungsinteresse nicht mehr in derselben Intensität und Geschwindigkeit nachgehen kann, wie das während des Studiums möglich ist. Man kann sich gut vorstellen, wie Glasner während ihres Studiums fleißig über den Lehrbüchern gebrütet und eine Sachmaterie nach der anderen beackert hat. Dabei handelte es sich aber um ein Wissen, dessen Gültigkeit schon vielfach geprüft, das theoretisch geordnet und ausgedeutet ist. Es ermöglicht dem Studenten einen kontrollierbaren Lernfortschritt und garantiert ihm, den theoretischen Gesamtzusammenhang nicht aus dem Blick zu verlieren. Im Laboralltag zeigt sich, dass diese Bedingungen nicht ohne weiteres fortbestehen, sondern mühsam erarbeitet werden müssen. Glasner fehlt die Geduld, die Frustrationstoleranz für diese Sisyphusarbeit. Dass ihre Faszination abnimmt, ist ganz logisch, wenn man unterstellt, dass sie nicht vom Gegenstand ihrer Forschung in Bann geschlagen ist, sondern von ihrer eigenen intellektuellen Durchdringungskraft. Diese findet unter den Bedingungen der Detailforschung nicht genügend Erfolgserlebnisse. Glasner rechnet sich daher aus, wie mühsam es sein wird, bis sie durch eigene Arbeit zu den für sie theoretisch interessanten Modellen etwas beitragen kann. Diese Aussicht frustriert sie. Auf diese Weise offenbart sich ihr im Labor (und uns im Interview), dass ihr Antrieb zum Studium der Biologie damit gekoppelt war, sich in deren großen Fragestellungen, interessanten Theorien, bahnbrechenden Forschungen, kurz: ihren außeralltäglichen Manifestationen persönlich bilden zu können. Persönlicher Erfolg, vor allem rasches Fortkommen und gehobene Anerkennung ihrer ambitionierten Individualität und Lernwilligkeit durch Arbeit an den großen Fragen: Das sind ihre Antriebsmotive. Der Laboralltag zeigt ihr die nüchternen Seiten der Forscherexistenz auf und bremst sie unbarmherzig aus. Dass die Faszination ... mit der Zeit doch abnimmt, ist als Ausdruck resignativer Ernüchterung zu verstehen, wobei entscheidend ist, dass sie die Ursache nicht bei sich, sondern bei der Laborarbeit im Allgemeinen sucht. Ihrer Einschätzung nach erwartet den Studenten die Ernüchterung in jedem Labor. Das unpersönliche Personalpronomen man in der Zeile (wenn man im Labor steht...) besagt, dass jedermann, der sich für die großen Zusammenhänge interessiert, im Labor von der Relevanz und Aussagenreichweite der Detailforschung enttäuscht werden muss. Es geht Glasner also nicht um eine Kritik ihres Labors im Speziellen oder um Kritik an einer dort anzutreffenden positivistischen Quisquilienforschung. Vielmehr generalisiert sie ihre Erfahrung mit dem Forscheralltag. Wir nehmen hier Einblick in eine konkrete biographische Krise und in deren Deutung durch die Betroffene, in einem Moment, in dem die Krise sich gerade aktualisiert. Das Interview erzeugt selbst die Gelegenheit dazu. Die Krise betrifft die
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Motivation zur Ausübung des Wissenschaftlerberufs und berührt auch den biographischen Entwurf, der mit der Wahl des Studienfachs Biologie und mit der Annahme des Doktorandenstatus ihr Leben in Richtung einer wissenschaftlichen Karriere lenkt. Dieser Weg ist gerade zur Disposition gestellt. Glasner ist mit einer möglichen Inkompatibilität von Forscherberuf einerseits und ihren habituellen persönlichen Dispositionen andererseits konfrontiert. Beide passen nicht gut zueinander. Die Situation ist für uns deshalb besonders instruktiv, weil Glasners Ausführungen ihre Haltung auf sehr elementare Weise offenbaren. Daran können auch die Bedingungsverhältnisse des Forscherhabitus exemplarisch studiert werden. Wir können vorläufig offenlassen, ob diese Motivationskrise durch Glasner noch überwunden werden kann und ob sie einen Weg finden wird, der es ihr ermöglicht, den Bedingungen des Laboralltags in produktiver Weise sich anzupassen; oder ob sich ihre Ambitionen an der Realität des Labors brechen werden und sie aus der Laufbahn ausscheiden wird, was nach Lage der Dinge nicht unwahrscheinlich ist. Es wird offenbar, dass ihr etwas Zentrales fehlt, damit sie den Beruf des Forschers für sie selbst befriedigend ausfüllen kann. Was Glasner zu fehlen scheint, ist die dafür nötige Frustrationstoleranz. Aber es wäre zu einfach, dies mit bestimmten Intensitäten und Ausprägungen psychologischer Persönlichkeitsmerkmale zu erklären. Eine Disziplin und Geduld zum Forschen ergibt sich daraus, dass eine Person mit dem Schicksal einer Sache in der Forschung verwächst und es sich persönlich zur Aufgabe macht, herauszubringen, wie sie sich in der Realität verhält und welches Modell der Diskurs von ihr hat. Disziplin zur Forschung ergibt sich also nicht nur aus der Neugierde alleine, sie resultiert aus einem Verantwortungsgefühl für die Sache und daraus, dass man seine eigene Überzeugung von der Sache durchgebracht sehen will. – Ohne Zweifel fehlt Glasner nicht eine Sonderbegabung, die man benötigt, um in der Wissenschaft Karriere zu machen: Auffassungsgabe, Fleiß, Intelligenz, Sinn für theoretisch abstrakte Modelle. Was ihr fehlt, ist etwas, das elementarer ist, nämlich ein tragendes leidenschaftliches Interesse für die Forschung als Tätigkeit. Die Frage, die sich hier vorbereitet, lässt sich schon bei Max Weber finden, wenn er in einer vielzitierten Passage schreibt: „Eine wirklich endgültige und tüchtige Leistung [in der Wissenschaft, d. Autor] ist heute stets: eine spezialistische Leistung. Und wer also nicht die Fähigkeit besitzt, sich einmal sozusagen Scheuklappen anzuziehen und sich hineinzusteigern in die Vorstellung, dass das Schicksal seiner Seele davon abhängt: ob er diese, gerade diese Konjektur an dieser Stelle dieser Handschrift richtig macht, der bleibe der Wissenschaft nur ja fern. Niemals wird er in sich das durchmachen, was man das „Erlebnis“ der Wissenschaft nennen kann. Ohne diesen seltsamen, von jedem Außenstehenden belächelten Rausch, die Leidenschaft, dieses: „Jahrtausende mußten vergehen, ehe du ins Leben tratest, und andere Jahrtausende warten schweigend“: – darauf, ob dir diese Konjektur gelingt,
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hat einer den Beruf zur Wissenschaft nicht und tue etwas anderes. Denn nichts ist für den Menschen etwas wert, was er nicht mit Leidenschaft tun kann.“1 Woraus geht jedoch jene Leidenschaft hervor? Was ist es, das sie trägt und einen dazu bringt, sich hineinzusteigern und ins Detail zu versenken, bis es gewissenhaft ausgeleuchtet ist? Das sagt auch Weber nicht. Er beschreibt die Leidenschaft nur, wenngleich suggestiv. Immerhin kann man mit Weber behaupten, dass es einer inneren Antriebskraft zu verdanken ist, wenn die Forschung voranschreitet, sofern sich diese Antriebskraft mit der Konzentration auf die Details verbunden hat. Lassen wir also die Frage offen, was Frau Glasner fehlt. Es ist, wir wiederholen es, weder intellektuelle Auffassungsgabe, noch Lernfleiß. Es ist überhaupt nicht mit einer einzelnen „Komponente“ zu beschreiben. Bei ihr hat vielmehr der gesamte Bildungsprozess von Anfang an nicht einen Verlauf genommen, der alle ihre Begabungen gebündelt in den Dienst eines Interesses an einer konkreten Sache gestellt hätte. Sie ist vom Forschungsbetrieb enttäuscht und steht ihm letztlich fremd gegenüber. Die Logik der Forschung hat sie deshalb auch nicht verinnerlicht. Jetzt gerät sie in eine Krise, weil sie mit der Anforderung konfrontiert ist, die „großen Theorien“ zurückzustellen und ihre großen Erwartungen an sich und die Wissenschaft auf einen kleinen Untersuchungsgegenstand herunterbrechen zu wollen. Das gelingt ihr nicht. I4: Also das äh Studium ist für Sie dann ähm faszinierender gewesen [ja] als *die konkrete* E4: *ja, ja, ja, ja, ja* I4: Forschungs [ja] arbeit [ja] im Labor E4: Also ich lern‘ einfach sehr gern und ich mag das eigentlich schon, wenn man einen Überblick irgendwie hat zu Dingen und (.) die tatsächliche Arbeit wird ein immer kleineres Gebiet durch irgend so ein immer kleineres Modell mit wenigen Zellen und in diesen Zellen nur ein kleiner Ausschnitt mit [ja] wenigen Molekülen und wenigen Rezeptoren und das Problem ist dann halt, man, was wir da hier machen ist sehr viel deskriptiv, man hat ein Modell und schaut was ändert sich jetzt [aha], ändert sich Molekül a, Molekül be, Molekül ce? Und man reiht das mal auf. Und man kommt eigentlich sehr selten auch zu `ner Lösung seiner Frage [ja], also man reiht‘s aneinander und beschreibt das auch ganz schön, macht auch Bil schöne Bilder aber (.) richtige Aussagen oder Rückschlüsse kann man eigentlich nett ziehen [mhm](leichtes Lachen). Also ich bin jetzt erst ein Jahr hier, das [ja] heißt, das ist halt der Eindruck den ich derzeit hier habe.
Durchaus anschaulich wird der Gang vom Allgemeinen zum Konkreten in der Untersuchung geschildert. Doch gleichzeitig ist sichtbar, wie ungeduldig die An-
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Weber, Max: Wissenschaft als Beruf, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen 1988, S. 588 ff.
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sprüche in Glasner sich regen. Schon nach einem Jahr zieht sie Bilanz und scheint die Hoffnung verloren zu haben, zu den sie interessierenden Themen jemals zurückkehren zu können. Sie muss Kernerarbeit machen, doch das frustriert sie. Das Deskriptive ist nicht aufregend genug, sie kann die Befunde nicht interpretieren. Man könnte diese Stelle auch so deuten, dass sie in einer für Doktoranden nicht untypischen Krise steckt und ,den Wald vor lauter Bäumen‘ nicht sieht. Das Problem wurzelt aber tiefer, denn hier äußert sich nicht vorübergehende Konfusion, sondern grundlegende Distanziertheit und Skepsis. Die erneute Verwendung des unbestimmten Personalpronomen man zeigt das ebenso wie das Lachen und die Formulierungen: Und man reiht das mal auf... Man macht auch schöne Bilder. Das ist sehr enttäuscht, fast hämisch. Es besagt: Hinter der Fassade der schönen Graphiken zeigt sich erst, wie wenig Aussagen die Forschung eigentlich machen kann. Die wirkliche Forschung hält nicht die Versprechen, die sie macht! I5: Und ähm (..), ja, was finden Sie jetzt problematischer, das, was sie zunächst gesagt haben, äh, das sehr Kleinteilige der äh konkreten Forschungsarbeit oder äh das es doch eher deskriptiv is äh?
Der Fragesteller versucht, ihr Problem weiter einzugrenzen. E5: Dass ähmm (lautes Ausatmen) dass nur [(unv.)] noch so, wenn man nur mal‘n Fragment von einer Frage eigentlich hat [ja], von einem Systeme hat und (..)
Es ist nicht ganz klar, was sie sagen will. Sie tut sich schwer, ihre Distanziertheit zu begründen. Ihr Problem ist die Zerlegung und Verkleinerung einer Problemstellung. Sie macht den Gegensatz auf: Interessieren muss einen das Ganze, die Forschung behandelt immer nur Ausschnitte. I6: Könnten Sie das für mich als Laien ein bisschen veranschaulichen vielleicht ganz konkret mit Ihrer momentanen Fragestellung? E6: Ja, das *is auch bisschen* I7: *dass Sie da mal* E7: schwierig, ich mein wir haben wahnsinnig komplexe Systeme, wir haben, zum einen machen wir Läsion [ja] und nach der Läsion machen Zellen wahnsinnig viele Moleküle und Faktoren. Und wir spezialisieren uns dann auf einen Faktor [mhm]. Und wir haben eine Knockout-Maus, die hat diesen Faktor nicht. Und da aber I8: knock-out-Maus, das *heißt also die hat genau dieses Gen (.) nicht* E8: *das heißt, der fehlt der fehlt des Gen,* genau, der fehlt das Gen, und wir schaun daraus, was passiert in der Maus, wenn sie dieses Gen nicht hat [ja], was ist anders? Und da ist das Problem, dass da Faktoren zusammenwirken, dass es nicht so ist, dass immer ein Faktor etwas auslöst, sondern Faktoren wirken epistatisch zusammen oder antagonistisch und dass ich
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mir auch die Frage stelle, inwieweit kann man das überhaupt machen (kurzes Lachen) [mhm]. Wo viele als Faktoren wirken, jetzt zu sagen, ja (.) man nimmt einen Faktor weg, das muss noch nett heißen, des is ja aber oft so, dass wenn da etwas fehlt, dass andere Faktoren das irgendwie ausgleichen oder für hoch reguliert werden also [ja], ich bin derzeit auch in dem System noch nett ganz so (kurzes Lachen) I9: Bitte? E9: In dem ganzen System noch nett ganz so zurecht, wie weit man des also sinnvoll irgendwie [mhm] bestimmen kann.
Sie unternimmt einen Versuch, das Vorgehen ihrer Gruppe (wir) zu schildern, aber nach anfänglicher Klarheit wird es verworren und sie bricht ab. Sie hat die Thematik noch nicht wirklich durchdrungen und signalisiert auch grundsätzliche Zweifel an der methodischen Durchführbarkeit des Projektes, aber das führt sie nicht weiter aus. Sehr vereinfacht lässt sich folgendes erschließen: Die Biologen interessieren sich für die Prozesse der Regeneration von Nervenzellen im Organismus. Nerven in der Peripherie des Körpers wachsen nach einer Durchtrennung wieder zusammen. Im zentralen Nervensystem unterbleibt dies. Wie und warum sie das machen, ist auch deshalb interessant, weil sich die Forscher von der Aufklärung dieser Frage wichtige Hinweise darauf versprechen, wie die Nervenzellen während der ontogenetischen Wachstumsphase erkennen, wo sie hinwachsen und womit sie sich verbinden müssen. Sie haben ja aus einer Unzahl an möglichen Verbindungsoptionen die richtigen herauszufinden und dies kann nicht allein durch Gene dirigiert sein, sondern muss durch selbstregulative Prozesse während des Wachstums gesteuert werden. Es ist bekannt, dass dabei die Nervenfasern (Dendriten und Axone), die aus den Nervenzellen herauswachsen und die für die Ableitung elektrischer Impulse verantwortlich sind, eine wichtige Rolle spielen. Unmittelbar nach Läsionen setzen biochemische Aktivitäten ein. Es liegt nahe, dass dies zum Prozess der Regeneration gehört. Es lassen sich darin einzelne biochemische Informationsmittler identifizieren, die herausgelöst werden können, um ihre Bedeutung und Funktion einzeln zu untersuchen. Die Wissenschaftler gehen dabei nach der Methode der Kontrastierung eines genetisch abweichenden Organismus mit einem Normalmodell vor, wie auch von Fendel beschrieben. Einer Maus fehlt das Gen, das normalerweise einen bestimmten Faktor hervorbringen würde. Durch Beobachtung dessen, was an der Mausmutante anders ist, lässt sich auf die Normalfunktion des Faktors rückschließen. Allerdings erwähnt Frau Glasner ein wichtiges Problem, dessen Beherrschbarkeit sie noch nicht einschätzen kann. Es ist nicht so, dass ein Gen immer unikausal für einen Faktor verantwortlich wäre, ebenso wenig ist ein Faktor immer nur auf ein Gen zurückzuführen. Es ist komplizierter. Die Wirkung von Genen kann durch andere Gene überdeckt werden (Epistasis); Gene unterdrücken die Wirkung anderer Gene und Merkmale können deshalb durch mehrere Gene erzeugt sein. Ebenso können die Wirkungen von Genen durch andere blockiert oder aufgehoben oder gar
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in ihr Gegenteil verkehrt werden (Antagonismus). Das erschwert die Aufklärung des Effektes eines Gens. Aussagen aus dem Vergleich mit der Mausmutante verlangen deshalb die systematische Überprüfung solcher genetischen Interaktionen. Für Glasner ist das nicht transparent. Ihr ist noch nicht klar, wie die unübersichtliche Vielzahl an faktoriellen Möglichkeiten sinnvoll unter Kontrolle gebracht werden kann. Und solange dies nicht der Fall ist, muss ihr suspekt bleiben, wenn ein einzelner Faktor im Labor untersucht werden soll. Ihr Zweifel ist hier nicht in fehlendem Interesse am Gegenstand begründet, sondern darin, dass ihr die Übersicht fehlt. Das legt sie dem Forschungsprojekt aber fundamentalkritisch und pessimistisch aus. I14: Sie sagten, Sie sind erst seit einem Jahr hier [mhm] ähm *was haben Sie vorher gemacht* E14: *ich bin Biologin, das heißt Doktor arbeiten*. Also ich hab‘ studiert in [Stadt in Österreich] zuerst Biologie, Richtung Genetik Genombiologie, bin nach S [Stadt in Süddeutschland] gewechselt und hab hier am Max-Planck-Institut mei Magisterarbeit gemacht [mhm], Diplomarbeit. I15: Und hier im äh in der äh Forschungsgruppe schreiben Sie jetzt Ihre Doktorarbeit? E15: Mhm (.), also es is’ einfach so, ich war mit meinem Studium fertig und da dachte ich, ja eigentlich hat’s mich schon interessiert noch weiter machen, aber ich bin mir ganz ehrlich gesagt nett ganz sicher, ob das mein Weg is’ also *(Lachen)*
Der Interviewer lenkt den Blick auf ein anderes Thema und ermöglicht Glasner so die gedankliche Neuordnung. Gegenstand ist nun ihre berufliche Vita. Noch vor Abschluss ihres Studiums ist sie ins benachbarte Ausland gegangen, um dort das deutsche Diplom zu machen. Daraus spricht Ambitioniertheit und Flexibilität. Auf ihre gegenwärtige Situation angesprochen gibt sie aber unumwunden zu erkennen, dass sie mit ihrer Lage nicht mehr zufrieden ist. Ihr Berufsweg ist in eine Krise geraten. Die Frage nach der Doktorarbeit wird gar nicht mehr bejaht, sondern im erläuternden Rückblick das ursprüngliche Interesse als nicht mehr gegeben dargestellt. Es hat sich verbraucht. Dass ihre Zweifel ganz akut sind, lässt sich auch aus dem Wechsel der Tempi ablesen. ich war mit meinem Studium fertig... Das ist Imperfekt, unabgeschlossene Vergangenheit. Es wird also unterstellt, die Folgen ihres damaligen Handelns würden noch anhalten. und da dachte ich... Nun müsste der Inhalt ihrer damaligen Überlegung folgen: ja eigentlich hat’s mich schon interessiert noch weiter machen. Das ist nun nicht der Inhalt früherer Überlegungen, sondern das, was sie heute denkt. Der Perfekt, die abgeschlossene Vergangenheit zeigt an, dass der Gedanke in der Vergangenheit einmal gültig war und es heute nicht mehr ist. Das Wort eigentlich eröffnet außerdem eine adversative Konstruktion, die mit aber ausgeführt werden muss. aber ich bin mir ganz ehrlich gesagt nett ganz si-
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cher, ob das mein Weg is’ also *(Lachen)* Faktisch geht ihr Zweifel schon sehr weit. Sie steht kurz vor einer Revision ihres Entschlusses. I16: *(unv.)* Könnten Sie das noch ein bisschen weiter ausführen, was da genau, also welche Zweifel [ah] Sie da momentan haben, oder was Sie äh sich *stattdessen äh vorstellen?* E16: *Ja das Problem* is’ das, es dauert alles sehr lange und es is’ halt das Arbeiten prinzipiell halt sehr ineffektiv (kurzes Lachen). Und man braucht eben sehr viel Geduld und ich glaub es is’ so wie überall so, man kann im vor vorhinein auch nett wissen, was kommt jetzt raus [mhm] und man kann auch zwar in die Richtung probieren aber man weiß erst am Ende, war des sinnvoll oder nicht, also das is’.
Man kann ihr Problem in wenigen Sätzen umreißen. Womit sie nicht klar kommt ist, mit einem offenen Ausgang leben und viele Widrigkeiten überstehen zu müssen, ohne eine Erfolgsgarantie zu haben. Die Unwägbarkeiten werden nicht als Herausforderung empfunden, sondern als lästige Störquellen. Das bestätigt unsere Lesart, nach der sie vom Ergebnis und der fertigen Theorie her denkt und nicht von der konkreten Praxis der Forschung aus, „in der Neuland betreten wird“ (Frau Bertram). Deshalb ist sie auch so ungeduldig. Ineffizient ist die Forschung nur für denjenigen, der möglichst schnell zum gültigen explorativen Modell vordringen will und dem die vielen Schritte auf dem Wege dahin gleichgültig sind. Die vielen Irrund Umwege werden als eher quälend und störend empfunden. Ihre mangelnde persönliche Frustrationstoleranz ist also auch in einer intellektuellen Einstellung begründet. Interessant ist für sie das Erlernen einer schon ausgereiften theoretischen Konstruktion, die durchaus sehr anspruchsvoll und voraussetzungsreich sein kann, bei der jedoch eine Aussicht bestehen muss, dass sie in überschaubarer Zeit geistig erfasst werden kann. Der Stoff muss den Status eines gedanklich vorbewährten Gedankenguts haben und unterscheidet sich insofern nur in seinen Komplexitätsgraden von curricularem Schulwissen. Das vorbildlose selbständige Erschließen eines Gegenstandes ist hingegen nicht so interessant für sie. Glasner ist eine Schülerin geblieben. Auffällig ist, dass Glasner wie nebenbei die Bemerkung einfügt, dass es ... so wie überall so (is’), man kann im vor vorhinein auch nett wissen, was kommt jetzt raus... Das spricht eine ebenso elementare wie triviale Einsicht aus: Dass es generell eine Unabwägbarkeit der Zukunft gibt und es sich insofern in der Forschung genauso verhält wie im Leben überhaupt. Nimmt man dies aber wörtlich, bekennt sie damit, dass sie nicht nur in der Wissenschaft, sondern in der Unwägbarkeit des Lebens überhaupt das Problematische sieht. I17: Und das, fänden Sie das befriedigender, wenn Sie im vor*hinein wüssten* E17: *nein, nein, aber*, das ist, ich glaub‘ das ist eher prinzipiell [ja]
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Der Fragesteller hat die absurde Konsequenz des Gesagten sofort erfasst und konfrontiert Frau Glasner damit. Sie wiederum bemerkt, dass die Prämisse ihrer Rede nicht haltbar ist, weil eine Forschung, bei der das Ergebnis von vornherein bekannt wäre, keine mehr ist. Dadurch gerät sie aber in Erklärungsnot. Sie muss neu ansetzen. das ist, ich glaub‘ das ist eher prinzipiell. Der Artikel das kann sich eigentlich nur auf das Problem beziehen. Was genau gemeint ist, muss aber offenbleiben. Sicher ist, dass sie ihren Zweifel nun fundamentaler begründen will. dass ich mein, dass ich glaub, viele Leute, die ich kenn‘, die im Labor arbeiten, dass die einfach, ja, für’s Arbeiten leben [mhm] (kurzes Lachen), das heißt: die ins Labor gehen und das brauchen jetzt, acht Stunden zu arbeiten [mhm] (kurzes Lachen), das ist einfach Selbstbefriedigung, und fertig einfach, du sagst, ja, ich habe heut‘ was sinn sinnvolles gemacht und ich hab keine Freunde, weil ich bin ja dann zwölf zwölf Stunden am Tag im Labor und am Wochenend auch, und das ist der Großteil der Leute die ich kenne, die das so machen einfach I18: Und das trifft aber auf Sie *nicht zu* E18: *Nein, (kurzes Lachen) nicht zu*
Glasner macht sich gerade die Dimensionen der Krise ihres beruflichen Lebensentwurfs klar. Sie skizziert einen Typus des Laborwissenschaftlers, der in ihren Augen das Geschehen im Labor beherrscht und unter den sie sich nicht subsumieren will. Die Wirklichkeit und Existenzform dieses Wissenschaftlers schreckt sie ab. ...dass die einfach, ja, für’s Arbeiten leben. Das sind also Leute, die im Leben nichts anderes mehr kennen als ihre Arbeit. Wissenschaftler, die das Opfer ihrer Freizeit bringen, sind ihr suspekt, denn sie arbeiten aus innerem Antrieb heraus überaus viel, ordnen andere Bedürfnisse den Erfordernissen der Forschung freiwillig unter und scheinen dies nicht zu bedauern. Es sind gerade keine Karrieristen oder Akkordarbeiter, die aus strukturellen Abhängigkeiten heraus so handeln. Vielmehr brauchen diese Leute die enge Bindung an die Forschung für ihre Selbstverwirklichung. Glasner kann dies nicht als Ausdruck einer produktiven, gesunden Leidenschaft deuten. Sie sieht es als Zeichen einer psychischen Abhängigkeit und Kompensation. Die Arbeit ist für diese Leute eine Ersatzhandlung, einfach Selbstbefriedigung. Der Erfolg im Beruf ist also nicht das wahre Leben und schon gar nicht der höchste Wert in ihm. In den Augen von Glasner bedeutet die geschilderte Arbeitshaltung eine extreme Vereinseitigung und Verarmung des Lebens. Das Labor erscheint ihr als Arbeitshaus, in dem sie sich nicht verlieren möchte. Hieran wird deutlich, dass sie faktisch schon begonnen hat, sich zu lösen. Das geht auch aus der negativen Darstellung ihrer Kollegen hervor. Die Motivation derjenigen, die sich erfolgreich im Karussell der biologischen Forschungskarriere etablieren konnten, wird herabgesetzt. Deshalb unterscheidet sie nicht zwischen einer Person, die sich autonom und aus authentischem Interesse an einen Beruf bindet und sich insofern von seinem Eigentempo mitreißen lässt, einerseits, und einer Person, die, ehrsüchtig um
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der Karriere willen oder weil sie von narzisstischen Selbstbestätigungen abhängig ist, den Erfolg in der Forschung sucht, obwohl sie an der Sache gar nicht so interessiert ist, andererseits. Glasner lässt beides zusammenfließen, lehnt beides ab. Offenbar hat für Glasner die Vergemeinschaftung einen hohen kulturellen Eigenwert, den sie unbedingt beachtet und gepflegt wissen will. Sie wünscht sich mehr Kontakt zu ihren Kollegen, der nicht von Arbeit und kompetitivem Verhalten geprägt ist. Wahrscheinlich ist ihr auch die Pflege ihrer Kontakte zur Familie und zu Freunden oder ein arbeitsfreies Wochenende sehr wichtig. Berufliche Bewährung muss mit diesem Bedürfnis konform gehen und darf sich nicht als verzehrende Gegenkraft entwickeln. In dem Maße, in dem Glasner von dieser Werthaltung geprägt ist, muss ihr die freiwillige Bereitschaft zur vollständigen Selbstverwirklichung im Beruf befremdlich vorkommen, denn diese lässt den Individuen keine Zeit mehr zur Pflege anderer Aspekte des Lebens und führt zwangsläufig in eine soziale Vereinsamung. Frau Glasner wendet sich also nicht von der Wissenschaft als Modus der Erkenntnis ab, sondern von einer beruflichen Wirklichkeit in der Wissenschaft, die von der Pflicht zur leistungsethischen Hingabe und daraus erwachsenem Wettbewerb beherrscht wird. Dieselbe hochtourige Dynamik, die von Frau Bertram gerade geschätzt wird, weil sie sie vor dem Einrosten bewahrt, macht Glasner Angst. Sie ist damit konfrontiert, dass die modernen Naturwissenschaften in höchstem Maße ein Entfaltungsraum des individuellen Erfolgsstrebens geworden sind, von einer „puritanischen“ Leistungsethik beherrscht werden, die nur denjenigen eine reelle Aussicht auf Erfolg bietet, die ein Maximum an Arbeit zu erbringen bereit sind. Je mehr Forscher sich daran beteiligen und je stärker die Entwicklungspotentiale eines Faches auf deren Ausschöpfung hindrängen, desto stärker kann diese Logik ausgeprägt sein. Das ist in den allermeisten Naturwissenschaften heute ohne Zweifel der Fall. Extremere Formen sind der Interviewee in einem Labor begegnet und das hat sie abgeschreckt. Sie hat sich ihre eigenen Chancen ausgerechnet, die ihr bei ihrer Werthaltung eröffnet sind und ist zu einem niederschmetternden Ergebnis gekommen. Es deutet sich an, dass ihre Fundamentalkritik an der Laborforschung hier eine Ursache haben könnte, nämlich in der Enttäuschung über eine scheiternde soziale Vergemeinschaftung mit Kollegen, die ihr viel zu kompetitiv und zu wenig integrativ sind. I19: Und was glauben Sie äh, warum das auf den Großteil der Leute zutrifft, sind *das aus Ihrer Sichtweise einfach Workaholics oder sind die fasziniert von dem was sie da machen*
Die Frage ist gut gestellt, denn sie ruft nicht nur eine sachkundige Einschätzung ab, sondern zwingt auch dazu, die Prämissen ihrer Sichtweise offenzulegen. Zwei konträre Ausführungen werden angeboten: eine abschätzige und eine positive. Workaholics sind Menschen, die irgendwelche Lebensprobleme durch ein Übermaß an
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Arbeit, der sie rund um die Uhr nachgehen, verdecken. Sie sind insofern als Kranke zu behandeln. Im Beruf einer Faszination nachgehen zu können, ist hingegen etwas, das sich viele Menschen wünschen. Dafür viel zu arbeiten ist Ausdruck einer glücklichen Existenz, nicht einer Fremdbestimmtheit. Beiden Deutungen ist eigen, dass der Antrieb von Innen kommt, einmal im Guten, einmal im Schlechten. In der zweiten, positiven Lesart liegt eine Provokation, weil sie Glasners Schilderung zuwiderläuft. E19: *also ich kenn prinzipiell Biologen (..) ich mein (..) also* ich mein‘, ich seh‘ es vielleicht etwas negativ, aber ich kenne hauptsächlich Biologen, und da ist es halt recht schwierig, dass die meisten nach dem Studium eher schlechte Berufsaussichten haben [ja], und das natürlich der erste Schritt mal ist, ach ja, auf der Uni bleiben [mhm]. Und wenn man da bleibt, dann ist die Gefahr halt dort hängen zu bleiben recht schwierig, ich mein I20: recht groß
Mit den möglichen Implikationen ihrer Aussagen konfrontiert, schreckt Glasner vor weiteren Zuspitzungen zurück. Offensichtlich will sie nicht den Eindruck erwecken, sie wolle abschätzig über ihre Kollegen sprechen. Sie verlegt sich darauf, nach einer Erklärung für deren Verhalten zu suchen. Das folgt der Interpretationslinie der Workaholics, richtet das Argument aber abgemilderter ein. Ihre Deutung lässt das berufliche Engagement ihrer Kollegen als Folge widriger Umstände beim Einstieg in den Beruf erscheinen. Unterstellt wird, viele Biologen würden normalerweise keine Promotion anstreben und eine Anstellung in der Industrie oder in einem Museum oder Zoo annehmen, wenn es nur offene Stellen gäbe. Da dem nicht so ist, suchen sie an der Universität ein Stipendiat als Doktorand oder eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiter. Die Absolventen nutzen Kontakte, die sie an der Universität bereits hergestellt haben, um sich auf diese Weise temporär abzusichern. Das folgt nicht einem Herzenswunsch, sondern pekuniärer Notwendigkeit. Dieser Weg erweist sich jedoch als „Falle“, denn aus Gründen, die von ihr nicht weiter ausgeführt werden, gibt es eine Neigung in der Wissenschaft zu verbleiben, wenn man sich erst einmal auf sie eingelassen hat. Das Wort hängen bleiben drückt das aus. Mit ihm ist die Vorstellung verbunden, dass jemand, der sich nur provisorisch auf eine Laufbahn eingelassen hatte, von den Routinen des Berufs fest in den Griff genommen wird, so dass er es schwer hat, seine beruflichen Pläne nachträglich noch einmal in eine grundsätzlich andere Richtung zu lenken. Der Ausdruck hängen bleiben präsupponiert, dass es nicht ein plötzlich entflammtes Interesse oder Erfolg ist, der zum Bleiben anhält, sondern die Trägheitskräfte des Lebens. Glasner behauptet implizit, dass viele von denen, die im Labor viel arbeiten, nicht wirklich fasziniert sind von ihrer Arbeit und aus anderen Gründen dort schuften. Ihr Forschen entspreche nicht inneren Bedürfnissen, sondern Existenznot und reeller Subsumtion unter fremdbestimmte Routinen. Damit bereitet die Interview-
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partnerin den Gedanken vor, dass sie nicht so enden möchte, wie diese Biologen. Der Versprecher (Und wenn man da bleibt, dann ist die Gefahr halt dort hängen zu bleiben recht schwierig, ich mein- I20: recht groß...) lässt sich übrigens leicht aufklären. Er ist zwei Satzplänen geschuldet, die hier durcheinanderlaufen: i) Die Gefahr dort hängen zu bleiben ist recht groß...; das sagt aus: die Bedingungen, wie sie in der Wissenschaft vorherrschen, sind besonders dazu angetan, einen Menschen zu binden und festzuhalten. ii) dort hängen zu bleiben ist recht schwierig. Wehe dem, der dort hängenbleibt! Es bietet nur trübe Lebensaussichten. E20: ja ja, ja, und ich ich mein, ich bin sicher am Max Planck Institut, wo der Druck auch noch wahnsinnig groß ist, das heißt wo es normal, ich ich habe jedes Wochenende durchzuarbeiten, wo da des jeder macht [mhm], und wo halt ich auch gemerkt hab‘ dass die Leute eben hier auch erstens vereinsamen und auch keine Kontakte mehr haben außerhalb des Instituts und auch von dem Erfolg, den sie im Labor haben, abhängig sind, also das ist [mhm] das Ergebnis, was man hat, ist sein eigener Erfolg, sein eigener Erfolg (.). Ich bin auch mehr oder weniger hier her gewechselt ja weil’s auch noch hier doch mehr familiär noch zugeht also (kurzes Lachen) als (.) [mhm] (...)
Dass sie in den Sonderforschungsbereich gewechselt ist, war schon ein Versuch, dem Milieudruck des MPI auszuweichen. Die Krise hat also bereits eine Vorgeschichte, die durch den Wechsel aber nicht wirklich abgeschlossen werden konnte. Zwar geht es hier doch noch mehr familiär zu. Aber das besagt schon, dass sie auch in ihrer jetzigen Lage nicht wirklich zufrieden ist. Es gibt ein Grundproblem, das hier nur graduell weniger drückt. Das Wort familiär bestätigt uns, wie sehr es ihr um eine funktionierende Vergemeinschaftung geht, für die sie in der Forschung aber nicht die richtigen Bedingungen vorfindet. I21: Haben Sie Erfahrungen in anderen Forschungsgruppen, wenn Sie sagen, hier geht‘s familiärer *zu als ?* E21: *Ja, ja * eben auf (Stadt in Österreich) [ah ja] wo ich zuerst war und das ist (.) I22: Und wie war es da, also stärkeres Konkurrenzverhältnis? E22: Ah, da war es einfach so, dass in Österreich doch verhältnismäßig viel Geld da war, was weniger Druck war, und man einfach auch mit viel Geld sinnlose Forschung machen konnte [mhm] (leises kurzes Lachen). Und ja oder auch ich mein‘, Sachen die mi nett interessiert haben [mhm], also ich brauch schon die Faszination, was Neues anzufangen
Sie war also zunächst in einem Institut in ihrem Heimatland. Dort gab es weniger Druck, das Arbeiten war entspannter und es wurden auch Experimente gemacht, die nicht einem strengen Arbeitsprogramm dienten. Dafür war es aber weniger interessant, man hat dort nicht an vorderster Linie der innovativen Fragen geforscht. Es war ihr also nicht ambitioniert genug. Wahrscheinlich ist sie dann in ein MPI nach
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Deutschland gewechselt. Dort ist die Forschung zwar interessant gewesen, aber die Anforderungen sehr hoch. Aus alledem spricht ihre Ambitioniertheit und die hohe Meinung, die sie von sich hat. Doch zugleich kann sie sich nicht auf eine Laufbahn einlassen, deren Konditionen ihr viel zu viel abzuverlangen scheinen. I23: Was heißt mit viel Geld sinnlose Forschung, wo man von vornherein wusste *dass nichts rauskommt oder dass* E23: *ja es ist nie, also im im Vergleich zu Deutsch* I24: die Ergebnisse irrelevant sein werden. E24: es es is es es gibt das System hier in Deutschland, wo das auch kontrolliert wird, wo eben nach‘n paar Jahren der kommt und sagt: ja, nach drei Jahren ähm wird evaluiert und (..) das heißt die meisten Leute einfach Geld haben, ja. (.) [mhm]. Also was mi prak, von der Qualität her nett so rich sehr zufrieden gestellt hätte, is’ zu sagen, ja ich arbeite jetzt drei Jahre, bekommst (?) halt dann (?) oder vier Jahre den Doktortitel aber eigentlich [mhm] ist er irrelevant (kurzes Lachen).
Die Stelle ist erneut aufschlussreich. Sinnlos war die Forschung in ihren Augen, weil anders als in Deutschland das Korrektiv einer Evaluation gefehlt hat, die auch der Doktorandin die Gewähr geliefert hätte, dass sie mit ihrer Arbeit karrierelogisch hätte weiterkommen können. Sie wollte die Sicherheit eines Labors, das in der obersten Liga mitspielt. Die Evaluation ist in ihren Augen also ein wichtiges Qualitätsmerkmal eines Wissenschaftssystems. Doch konsistent ist diese Haltung nicht. Denn sie kritisiert zugleich die extreme Leistungsanforderung des MPI. Sie hat überhaupt keine Position und soziale Heimat mehr im Wissenschaftsmilieu und schlingert hin und her. I25: Ja, verstehe. Und hier ist es aber dann doch noch anders, also hier würden Sie sagen, äh relevant ist es schon, oder? E25: Jjjjaa (zögernd langgezogen), würde ich schon meinen, es is’ schon noch, aber es is’ das Problem halt, dass man gerade als Doktorand halt sehr viel Zeit und auch Leben opfern muss [ja] für die Sache [mhm], also das ist ja auch [ah ja] wenig Geld, also (kurzes Lachen) [mhm]
Man erkennt ihre ganze Haltlosigkeit, zudem wird es arrogant. In dieser Passage wird ihre biographische Krise nochmals überdeutlich. Das österreichische Institut war schlecht, das MPI dagegen Spitze, aber zu anstrengend, der Sonderforschungsbereich liegt irgendwo dazwischen. Auch an ihm hat sie etwas auszusetzen. Nur ihr Elitismus ist ungebrochen. Gleichzeitig macht sie eine Gegenrechnung auf und hält die persönlichen Opfer dagegen. Nicht nur sehr viel Zeit, sondern auch Leben muss gegeben werden. Sie hat durchaus eine hohe Meinung von sich und ihr Selbstbild orientiert sich an der MPI-Forschung. Aber in ihrem Lebensentwurf ist die Aufopferung für eine Sache nicht vorgesehen und es gibt auch nichts, das sie über die har-
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ten Konditionen des Laboralltags hinwegtragen könnte. Für sie wäre es tatsächlich eine leidvolle Unterwerfung, wenn sie sich auf eine wissenschaftliche Laufbahn einlassen würde. Die gesamte Passage zeigt, dass sie den Wissenschaftlerberuf nicht als Sphäre der Selbstverwirklichung betrachten kann, obwohl sie das gerne möchte. Faktisch sucht Glasner längst nach Alternativen. – Wir können die Analyse nun abkürzen. I26: Äh äh Sie sagten eben, also man muss sehr viel Zeit [ja] opfern für die Sache [ja] äh und ja, gibt die Sache einem auch was zurück, was ist daran faszinierend? Oder würden Sie sagen (.), das ist nur Opfer und äh [hmmmh] die Faszination ist auf der Strecke geblieben oder äh E26: Ich mein das ist mehr persönlich, wenn man von der Biologie herkommt, und einfach sieht, ja Zellen wachsen oder sie machen was Schönes, dann schau ich durchs Mikroskop und das ist einfach schön und man freut sich dran, aber ich denk‘ der Großteil, wie’s mir halt vorkommt, is’ eher auf, ja [mhm], viel Ergebnisse auch karrieremäßig, also das Hochkommen, und das ist halt auch neben dem, wir machen jetzt alle Wissenschaft, schon auch genau, ja, schöne Hierarchie, also äh ich kann die Technik und darum will ich nicht das du die lernst, weil dann wärst du Konkurrent von mir, also das ist schon sehr (kurzes Lachen) [ah ja, mhm] (..), also das ist sehr vielschichtig und
Sie hebt kurz an, eine ästhetische Seite der Forschung zu skizzieren. Aber das wird gleich wieder abgebogen und kommt nicht wirklich zur Geltung. Das Negative wird gegen das Positive aufgerechnet. Sie kann ihr Interesse am Forschen mit den konkreten Bedingungen des Forscherberufs nicht vermitteln, fühlt sich herausgedrängt und redet als Außenseiterin. Alles nur Karrieristen, schöne Hierarchie. Es äußert sich ein beginnender Zynismus. Für sie ist die Wissenschaft keine gemeinschaftliche Tätigkeit, sondern blanker Verdrängungswettbewerb, in dem sich jeder selbst der nächste ist. Das ist schon sehr düster und pessimistisch. Man kann natürlich dennoch die Frage aufwerfen, inwiefern Frau Glasner der Anlage nach nicht dennoch einen Forscherhabitus entwickelt haben könnte, wenn sie nur günstigere Bedingungen seiner Entfaltung vorgefunden hätte, die ihrem Persönlichkeitstyp besser entsprochen hätten. Diese Frage führt aber in Wirklichkeit nicht weiter. Wie hätten diese Bedingungen aussehen müssen? Es wurde oben schon festgehalten, dass die fehlende Frustrationstoleranz und mangelnde Geduld ihr jeden Laboralltag erschweren muss. Es ist aber keine Frage einer fehlenden Komponente. Ihr fehlt letztlich eine Frage, ein Rätsel, das sie persönlich fasziniert und knacken möchte. Man kann ihr daher nur bedingt darin folgen, dass sie von widrigen Bedingungen, Kollegen und Vorgesetzten draußen gehalten wird. Sie baut eine Legende auf, die ihr Scheitern kompensieren soll. Das bedeutet nicht, dass nicht auch etwas Wahres in ihrer Beschreibung der zeitgenössischen Biologie liegen kann. Die Biologie befindet sich seit Jahren in einem Umbruch. Es gibt viel Geld, weil die Erwartungen hoch sind, und es herrscht ein enormes Tempo, was den
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Erkenntnisfortschritt anbelangt. Die Biologie zieht relativ viele begabte Nachwuchswissenschaftler an, auch weil sich hinter dem Fach eine kapitalintensive Industrie zu etablieren begonnen hat, in der interessante Arbeitsstellen bereitstehen. Die Jungwissenschaftler müssen darauf achten, schon mit ihrer Doktorarbeit auf dem richtigen Ticket zu fahren, wenn sie weiterkommen wollen, und das bringt zwangsläufig auch Konkurrenzverhalten mit sich. Es ist vollkommen klar, dass in manchen Fällen auch die Kollegialität darunter leidet. Glasner)s Problem ist aber gar nicht, dass sie persönlich ausgebootet würde. Sie beschreibt dieses Phänomen ja mehr vom Hörensagen her. Ihr Problem besteht darin, dass sie weder persönlich noch sozial in die Laborforschung hineinkommt und eine biographische Perspektive für sich erschließen kann. I30: Und äh also vorausgesetzt die Bedingungen wären sehr viel günstiger, äh, was würden Sie sich dann für eine Thematik wählen, also wenn es jetzt nicht darauf ankäme, primär deskriptiv vorzugehen oder schnell Daten zu produzieren. Stellen Sie sich vor, Sie hätten Zeit und Geld, würden Sie dann sagen: Ja okay, dann wüsste ich genau
Die Aufforderung des Interviewers zu einem Gegenentwurf ist geschickt und zeigt, dass er die Dimensionen der Krise bereits während des Interviews verstanden hatte. So lockt er hervor, wie sich Frau Glasner selbst eine ,andere Wissenschaft‘, in der sie bleiben könnte, denken mag. E30: Ich mein um ganz ehrlich zu sein, *was ich mir jetzt vorstellen würde* I31: *was ich machen würde* E31: würde man einfach wahnsinnig viele Leute haben, die für einen arbeiten müssten, die Daten heranschaffen um denn das dann (leises Lachen). Also mir würde ganz ehrlich eher so liegen, es liegen, Leut‘ zu organisieren und Daten zu vergleichen, wär‘ ganz nett schon [mhm]. I32: Also mehr dann auch so’ne Art äh ja Wissenschaftsmanagement zu betreiben *oder zu sagen* E32: *Ja ... I33: Und Sie haben eben gesagt, also (.) am liebsten wäre es Ihnen, wenn die anderen, also wenn Sie Mitarbeiter hätten [mhm], die also die Vorarbeiten leisten [mhm] äh (.) was äh wäre Ihnen da besonders wichtig, dass Sie entlastet werden von [ja] langweiligen Arbeiten [ja], von Datenbeschaffung [ja], von Routinetätigkeiten [ja], und dann selbst forschen können, also das äh, die wichtigen Erklärungen [ja], äh, oder würden Sie eher sagen, äh, überhaupt das Organisieren, äh, die Managementaufgabe als solche *würde für Sie interessant sein*. E33: *Beides, beides, beides* (..) Aber ich mein, das sind ein paar Sachen, die kommen erst mit der Zeit drauf, das weiß man einfach nicht, wenn man [ja] frisch aus dem Studium kommt.
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In ihrer Phantasie sieht sie sich in der komfortablen Position eines Institutsdirektors, der sich von Datenknechten eine Unmenge an Befunden vorlegen lässt und sich auf das Ausdeuten und Modellieren verlegt. Von einem konkreten Sachverhalt oder Rätsel ist sie gar nicht affiziert, jedenfalls nicht so, dass dies ihr Handeln eigenständig steuern würde. Sie will administrative Gestaltungsmacht und sie will sich das Außeralltägliche und Spannende der Forschung herauspicken können: die Phase, wenn theoretische Schlüsse gezogen werden. Die Vorstellung dahinter ist erstaunlich naiv, ja geradezu illusionistisch, denn sie unterstellt, man könnte beides getrennt voneinander betreiben: die Routinen in der Datenerhebung und die Datenauswertung. I37: Wissen Sie schon was Sie nach diesem Jahr machen werden, (.) haben *Sie Pläne?* E37: *Also was* ich, ich kann mir eigentlich net vorstellen auf der Uni zu bleiben, auf keinen Fall, auf keinen Fall. I41: Ja was könnten Sie sich, äh, dann statt dessen vorstellen, haben Sie da [lautes Ausatmen], würden Sie nur sagen, das ist es irgendwie nicht, aber äh was an die Stelle treten könnte, an, wo irgendwelchen Vorstellungen, weiß ich noch nicht [mhm], oder haben Sie schon alternative (.) E41: noch net richtig [Vor] aber’s, ich mein das Gebiet Biologie an sich is’ ja faszinierend [ja], aber halt die Arbeit [mhm], bis man das alles irgendwie, das ist auch zeitaufwändig (.) auch, ja, sehr frustrativ (kurzes Lachen), ... I42: Ja und ähm könnten Sie das vielleicht noch‘n bisschen ausführen, was dann an der Biologie als solcher so faszinierend ist, wenn Sie sagen, ja die tägliche Forschungsarbeit [mhm] so wie sie eben [mhm] tatsächlich abläuft, äh, in den Labors (.), die ist eigentlich nicht faszinierend [mhm]. Sind es (.) die Theorien die man äh äh E42: ja oder auch *Zusammenhänge oder einfach* I43: *lernt, ja* E43: wie Dinge funktionieren, also das schlägt sich vielleicht eher doch im Studium nieder, wie man einfach schon langsam auch dahin kommt, wie einfach ein einfacher Organismus funktioniert [mhm], wie wenige Zellen oder wie eine Zelle, was die eigentlich leistet und wie dann Zellen intern miteinander interagieren und dann wieder ein Organ bilden und dann wieder Organe miteinander interagieren und im Endeffekt der ganze Mensch dasteh da is’, und dann auch wieder, dann will ich auch jetzt mit Gehirn, wie eigentlich auch Gedanken und (.) I44: Das heißt das im Grunde genommen schon feststehende biologische Wissen E44: *ja, ja, ja* I45: *sich zu erarbeiten* [ja, ja] das ist [ja] das Faszinierende [ja] für Sie während Ihres Studiums gewesen [ja], und weniger ähm jetzt ähm mit Zellkul Kulturen [ja, ja] äh zu hantieren [ja, ja], oder zu Mikroskopieren (.....). Ja könnten Sie sich vorstellen dann diese äh Faszination, die das Biologiestudium ja auf Sie schon ausgeübt hat, äh, dann auch äh beruflich zu realisieren? E45: (..) hmm, ich meine
244 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE I46: also zum Beispiel wäre Lehrerin (.) Biologie (Lachen) Leistungskurs E46: nein, nein *(unv.)* I47: *(unv.)* (....) Warum das nicht? E47: Hmm I48: Weil da könnten Sie doch (.) sich auch immer wieder neue Theorien, biologische Theorien aneignen *und (unv.)* E48: *ich mein da* ist hier das Niveau schon noch höher – also böswillig gesagt – als was man in der Schule vermitteln kann [mhm]. I49: mhm, also das ist Ihnen nicht äh E49: genau (Lachen) I50: hoch genug (...)
Die Gegenüberstellung mit dem Lehrerberuf bringt noch einmal ihre Ambitioniertheit zum Vorschein. Die Schule wäre für sie nicht anspruchsvoll genug. Das ist für uns aber nicht mehr überraschend. – Abschließend zitiere ich en bloc eine Passage, die wegen des Kontrasts zum Interview mit Herrn Bertram interessant ist. Frau Glasner schildert die konkrete Arbeit ihrer Laborgruppe: I69: (..) Ja, können Sie mir vielleicht einfach noch (.) so’n (.) ja aus Ihrem Forschungsalltag, so nenn‘ ich es mal, äh was erzählen? Vielleicht konkreter was arbeiten Sie jetzt momentan *also* E69: *ja, es geht* zum Beispiel darum, man macht eben, wir versuchen eben nach fünf Tagen in einer bestimmten Läsion nachzuweisen, ob )ne bestimmte (.), okay, ganz anders: wir beschäftigen uns mit dem Faktor Ce eN Te eF I70: Bitte? E70: Ce eN Te eF, dieser Faktor, den wir hier alle untersuchen [ja] und (.) der wird in einer bestimmten Zell I71: Das ist dieses Molekül? E71: genau, bestimmten Zellart nach einer Läsion, die wir hier durchführen, nach, in einem dieser Läsionsmodelle wird dieser Faktor einem Zelltyp hochreguliert I72: Bitte? E72: hochreguliert I73: Ja, was heißt das? E73: Ah, er wird einfach (.) mehr expremiert, die Zelle macht jetzt diesen Faktor, also wenn keine Läsion da ist, produziert sie den gar nix, und auf das Signal der Läsion hin macht die Zelle den Faktor, das heißt, so vermutet man, das muss halt mit der Läsion irgendwas zu tun haben [ja], weil s muss ja en Sinn machen, dass die Zelle den Faktor macht (.). Und interessanter Weise macht auch die Zelle noch die Rezeptoren für diesen Faktor, das heißt die Zelle macht den Faktor und gleichzeitig auch die Rezeptoren dazu, das heißt unter anderem vielleicht stimuliert sich die Zelle dadurch, und ja’s wird auch untersucht, ja, wann wird dieser Faktor produziert, wann werden die Rezeptoren produziert, nach wie viel Tagen, (.). Und in
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dem Modell ist interessant, dass dach na nach dieser Läsis Läsion eine Art Regeneration eintritt, das heißt die Nervenenden sterben ab, aber andere Nerven beginnen zu wachsen, nehmen den Platz ein der toten Nerven, also e richtige Regeneration, weil’s ja die gleichen Zellen sind aber andere Zellen, die überlebt haben, machen jetzt Fortsätze und mehr oder weniger ersetzen die Alten und man versucht halt zu schauen, die gleichen Phänomene gibt’s eben auch zum Beispiel bei Alzheimer wenn bestimmte Zellen absterben, sieht man die gleichen Phänomene gleicher Struktur, die sich [mhm] genauso verhalten (.) und (.) da schaut man jetzt in der Maus, die diesen Faktor nicht hat, was passiert jetzt? Werden jetzt die Rezeptoren immer noch hochreguliert, wenn die Zelle das jetzt nicht macht [ja], und äh wachsen die Neurone immer noch aus, die anderen, um die anderen die Toten zu ersetzen und das ist so das Modell [mhm] und im Arbeitsalltag is es eher so, im, ich arbeite mit der Lisl zusammen, sie operiert, und wir planen einfach, ja wann brauch, wie viel Mäuse brauchen wir, äh, wann müssen die getötet werden, damit ich beginnen kann, wir planen jetzt einfach, ja, sie macht am Dienstag die Mäuse, da werden sie am Montag getötet, und am Dienstag beginn‘ ich das Ganze, also das *ist* I74: *was* wird da genau operiert? Könnten Sie das (.) [ähm] beschreiben? E74: Das ist, also der heißt entorhinaler Cortex, das ist ein Teil vom Cortex (.) und der wird einfach, mit einem Messer werden die Axone durchtrennt dieser Maus, und die projizieren den Hypocampus und diese Axone sterben ab und n bissl später wachsen dann andere, so stre, teilen sich die Endungen in andere Neurone und machen neue Synapsen. Einerseits von, wenn man auf dieser Seite läsoniert, kommen die von der vom anderen, so die kreuzen auf der anderen Seite vom entorhinalen Cortex und auch vom von der gleichen und von der anderen Seite sieht man auch (?) aha Bus (?), wachsen andere (?) auch noch (?) Neurone ein. (...) I75: Und, diese äh (.) Operation (.) führen Sie mit Ihrer (.) *Kollegin durch?* E75: *also Lisa ist* eben Expertin dafür und ich hab’s auch schon ein paar Mal probiert, aber sie macht so was einfach perfekt, sie macht das seit acht Jahren also (kurzes Auflachen) und das ist ihre Rolle hier: Mäuse Läsionieren. I76: Ja, und Sie assistieren? E76: Ja, mehr oder weniger [mhm] (..) und im Endeffekt bekomm‘ dann ich von ihr die Hirne [mhm] und schneide die und färbe die (mhm) und schau‘ einfach, ja bestimmte Proben, die best spezifisch die Farbe, die entweder die Rezor die Rezeptoren anfärben oder das Molekül anfärben oder schauen, ob die Zellen, die wir da suchen, aktiviert werden (..). Weil der Unterschied eigentlich, is’ dieser Faktor wichtig, damit eben diese Zellen aktiviert werden, und is’ der Faktor wichtig im ganzen System [mhm] (.). Und da is dann wieder das Problem dass einfach, ja, in der bill Typ Maus wird das alles hochreguliert und in der Knock-out-Maus werden auch Rezeptoren hochreguliert aber nicht so stark wie in der bill Typ Maus, und da haben wir derzeit mit der Methode die wir haben keine Möglichkeit, das quantitativ auszuwerten [mhm], ’ne Statistik zu machen, sind das jetzt achtzig Prozent oder oder sind das jetzt nur siebzig Prozent im Vergleich zur bill Typ Maus, also das ist auch ein Problem an der Methode jetzt, die wir jetzt auch irgendwie lösen müssen.
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Zwei Punkte sollen herausgehoben werden: (1) Glasner ist durchaus in der Lage, das Arbeitsprogramm ihres Labors verständlich zu schildern. Intellektuell hat sie keine Probleme damit. Auch die Arbeitsschritte werden anschaulich dargelegt. Gleichwohl fängt sie persönlich nicht Feuer, es wirkt, als würde sie die Forschung nicht wirklich interessieren. Ihre Ausführungen erscheinen angelesen und nachahmend. Außerdem äußern sich wieder Zweifel an der Machbarkeit. Sie glaubt nicht an das Programm, und dies aus methodischen Gründen. An dieser Stelle taucht das erste Mal ein wissenschaftliches Problem auf, das ihr nahezugehen scheint. Sofort hängt sich der Interviewer dran. I77: Und ähm fänden Sie das, finden Sie das spannend, das lösen zu müssen [(Lachen)] oder ist das eher *abschreckend?* E77: *ich weiß, ich kenne* wahnsinnig viele Biologen, die das lieben, herumzuspielen mit Techniken [mhm] das zu verändern, das zu verändern, also ich kenne viele Leute, die lieben das dran‘ [ja]. Also einfach, ja, einfach ich nenn’s spielen (kurzes Lachen), mit Methoden zu spielen, das liegt mir eigentlich weniger [mhm].
Im Grunde weicht sie der Frage aus. Sie skizziert, was sie für nötig hielte, um einer Lösung des methodischen Problems auf die Spur zu kommen. Man müsste mit Methoden spielerisch hantieren und etwas ausprobieren. Aber das liegt ihr nicht. Der Kontrast zu Herrn Bertram ist offenkundig. Es wird eine Haltungsdifferenz ums Ganze sichtbar. I78: Ja aber so )ne äh Lösung jetzt äh zu produzieren für’n äh ja (Räuspern) faktisch vorliegendes Problem, so haben Sie es ja [mhm] auch beschrieben, äh das ist doch äh ja ein wichtiger wissenschaftlicher Fortschritt, wieso bezeichnen sie das äh [ja, ich] jetzt als reines Rumspielen, das klingt so E78: Ja weil‘s auch schwierig is’ mal Leute davon zu überzeugen, dass es so nicht geht, weil das System ja schon etabliert ist seit Jahren, das immer schon gemacht wurde, das heißt es ist jetzt auch hier schwierig jetzt was (.) neues wieder anzufangen, also [mhm] weil das immer schon funktioniert hat, und weil man das also ich mein‘ das is’ so spezifisch hier also (kurzes Lachen).
Wieder weicht sie aus. Die Frage ist, wieso sie das Spielen mit Methoden erst selbst als Quelle eines Problemlösens anführt und dann wieder schlecht redet. Ist das nicht inkonsistent? Dahinter steht die Frage: Wieso geht sie das methodische Problem nicht selbst an? Es wäre doch wichtig, diesen Beitrag zum Erkenntnisfortschritt anzugehen. Selbst wenn die Bedingungen im Labor zementiert sind und Laborroutinen herrschen, die auf Entscheidungen vor langer Zeit zurückgehen, muss man einen Weg finden. Sie jedoch führt externe Gründe an. Die Leute um sie herum sind so sehr in jenen Routinen gefangen, dass ihr niemand zuhört. Sie dringt nicht zu ih-
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nen durch. Sie selbst kann ihrer Überlegung nicht nachgehen, denn dafür müsste man mit Methoden virtuos experimentieren können. Das liegt ihr nicht. Also müssten es diejenigen Leute aufgreifen, die mit Methoden spielen können. Das machen diese aber nicht. Sie beschäftigen sich lieber mit anderen Sachen, auch mit unsinnigen Dingen. Sie selbst arbeitet also an einer Dissertation, von deren Tragfähigkeit sie nicht mehr überzeugt ist. Sie wird betreut von Leuten, von denen sie glaubt, dass sie ernsthafte methodenkritische Überlegungen missachten. Vertrauen kann sie ihn daher nicht mehr. Was macht sie eigentlich noch in dem Laden? Resümee Es ist erkennbar geworden, dass Glasner nicht eine Begabung fehlt. Sie ist ehrgeizig und fachlich ambitioniert und sie sieht sich selbst durchaus als Teil der Elite unter den Nachwuchswissenschaftlern. Offensichtlich hat sie auch theoretischen Verstand und ist fleißig. Was ihr jedoch abgeht ist die Fähigkeit, die Arbeit am konkreten Detailproblem auch dann als sinnvoll erfahren zu können, wenn es noch nicht das Stadium unmittelbarer Ertragsaussicht erreicht hat. Das „Bohren dicker Bretter“ hat Max Weber das genannt. Wer das nicht kann, muss den Laboralltag auf Dauer als Quelle einer strapaziösen Langeweile empfinden. Ferner fehlt ihr nicht die Faszination für den Gegenstand der Biologie. Glasner hat einen Sinn für das Rätsel des Lebens und ein großes Interesse an theoretischen Fragen des Fachs. Es lässt sich aber an vielen Ausführungen ablesen, dass ihre Faszination nicht von der Sache oder Tätigkeit selbst, sondern von einem Selbstbild her entwickelt ist. Sie sucht letztlich einen persönlichen Bildungsentwurf von sich zu verwirklichen, der mit der Profession und ihren aktuellen Bedürfnissen, die ihr im konkreten Forschungsprogramm ihres Projekts entgegentreten, nicht vermittelbar ist. Im Grunde ist sie auf der Stufe einer naiven, klischeehaften Naturbewunderung stecken geblieben und setzt sich als Naturfreundin mehr in Szene, als dass sie einer wirklichen Neugierde folgt. Sie will immer mehr dazulernen und interessiert sich für die großen philosophischen Zusammenhänge, aber dabei hat sie die Haltung einer interessierten Schülerin und setzt nicht dazu an, ein wirklich relevantes und scharf herausgeschnittenes Problem zu lösen. Sie subsumiert sich einem Modell enzyklopädischer Intellektualität, die sie nahezu arrogant den „Spielereien“ der Spezialisten entgegenhält, die sie für eindimensionale Fachmenschen hält. Sie beurteilt die sachhaltige Forschung vom Standpunkt einer Wissenschaftlerin, die ein gewisses Scheitern noch nicht eingestehen kann. Deswegen empfindet sie die Laborarbeit als Unterwerfung. Widerlegt der Fall damit nicht das Modell eines erfahrungswissenschaftlichen Habitus? Obwohl er dem Modell nicht zu entsprechen scheint, ist die Frage nicht so einfach. Man muss methodologisch zwischen verschiedenen Formen der Falsifikation unterscheiden. Ob jemand zu einem bestimmten Typus gehört oder nicht, ist
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eine Frage, die auf eine triviale Form der Falsifikation hinausläuft, denn geprüft würde nur, ob der Fall einem zuvor gebildeten Typus in klassifikatorischer Hinsicht entspricht oder nicht. Das geschieht durch Abgleich äußerer Merkmale mit einem definierten Merkmalskatalog, wobei dieser Katalog wie eine Schablone auf den Fall gelegt wird. Sind alle für notwendig erachteten Merkmale positiv gegeben, kann der Fall als kongruent eingestuft werden. Ob die Schablone selbst richtig ist, wird dabei aber nicht geprüft. Die interessante Falsifikation beginnt, wenn in Zweifel gezogen werden kann, ob der Typus in der erdachten Form in der Realität überhaupt vorkommt, wenn also in Frage steht, ob der Typus richtig konstruiert wurde. Das ist nicht immer sofort erkennbar, weil in die Konstruktion in der Regel theoretische Annahmen darüber eingeflossen sind, was einen Typus begründet, welche Merkmale für ihn konstitutiv und welche es nicht sind, und was ihn von anderen Typen in systematischer Hinsicht unterscheidet. Der vorliegenden Untersuchung liegt die Annahme zugrunde, dass gewisse institutionelle Merkmale zwar typisch, aber nicht konstitutiv für den Beruf des Wissenschaftlers sind. Das Konstitutive liegt auf der Ebene der Haltung, der beruflich bedingten Handlungsdispositionen und -Routinen. Ein akademisches Studium, Graduation, Expertenwissen, Publikationstätigkeit usw. sind typische Merkmale des Wissenschaftlers heute. Aber Robert Boyle oder Alexander von Humboldt oder Johann Gregor Mendel waren bedeutende Forscher, ohne dass sie „graduiert“ oder in einem heute gebräuchlichen Sinne „Experten“ oder „an einem Institut beschäftigt“ waren. Und es gibt auch heute noch bedeutende Wissenschaftler, die nur spärlich oder gar nicht publizieren oder außerhalb der institutionellen Wissenschaft auf eigene Kosten arbeiten. Institutionelle Zugehörigkeit oder Zertifikate sind also in typologischer Hinsicht nicht das Entscheidende. Die Behauptung, dass der erfahrungswissenschaftliche Habitus das entscheidende Merkmal sei, war am Anfang der Untersuchung kaum mehr als eine theoretisch abgeleitete Annahme. Sie hat wie jede andere Annahme den Status eines hypothetischen Entwurfs, der sich in der Forschung erst bewähren muss. Aber sie hat zugleich die Richtung gewiesen, wo Kandidaten der Überprüfung der Annahme zu suchen sind. Wer die institutionellen Merkmale auf sich vereinigt, müsste wahrscheinlich auch den erfahrungswissenschaftlichen Habitus aufweisen. Wer aber den Habitus nicht aufweist, obwohl er in der institutionellen Wissenschaft arbeitet, der ist ein Kandidat für eine Falsifikation. Nun haben wir keine quantitative Untersuchung vor uns, sondern eine Analyse der Habitusformationen von Wissenschaftlern auf der Basis einzelner Fallrekonstruktionen. Wie lässt sich im Einzelfall prüfen, ob ein Kandidat eher als Falsifikation oder als Bestätigung zu verstehen ist? Dazu müssen weitere Überlegungen angestellt werden, was mögliche Falsifikationen für das Modell wären. Die vorliegende Modellkonstruktion wäre falsifiziert, wenn Frau Glasner trotz ihrer Haltung anhaltenden Erfolg in der Wissenschaft hätte, und zwar nicht Erfolg im kulturin-
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dustriellen Sinne, sondern Erfolg durch sachhaltige Beiträge zum Erkenntnisfortschritt. Es lässt sich auch eine Prognose aufstellen. Glasner müsste sich entweder ändern, oder sie dürfte es schwer haben, im Wissenschaftsbetrieb nicht zu scheitern. Das muss nicht bedeuten, dass sie die institutionelle Wissenschaft verlassen muss. Die Doktorandenbetreuung kann schlecht sein und sie durchkommen lassen, sie kann auf Nischen oder auf Hilfstätigkeiten ausweichen. Aber in der Forschung dürfte sie, wenn das Modell richtig ist, keinen anhaltenden, inhaltlich begründeten Erfolg haben, weil ihr die notwendige innere Antriebskraft zum selbständigen Forschen fehlt. Daraus ist nicht zu schließen, dass sie von vornherein unempfänglich für die Professionalisierung war. Auch ist durchaus denkbar, dass sie den professionalisierten Habitus noch ausbildet. Allerdings wären für diesen Fall bereits gesonderte Bedingungen zu nennen, die noch zu erfüllen wären. Glasner müsste lernen, sich auf das persönliche Risiko einzulassen, in eine Fragestellung mit aller Geduld etwas zu investieren, obwohl diese vielleicht noch nicht klar strukturiert ist und ein Ertrag am Ende noch nicht in Aussicht steht. Sie müsste dazu von ihrer ambitionierten Erwartung Abstand nehmen, einen persönlichen Beitrag zur großen theoretischen Biologie leisten zu wollen, was allerdings auf eine Krise ihres Selbstbildes hinausliefe. Der Anstoß dazu kann allerdings kaum von ihr selbst, sondern er müsste von außen kommen. Ihr Problem ist, dass sich ihr Lebensentwurf, der auf eine Karriere in den Wissenschaften ausgerichtet war, mit den konkreten Aufgaben der Forschung innerlich nicht verbunden hat, so dass ihr die persönlichen Erfolge fehlen. Damit fehlt ihr der innere Anreiz, die Durststrecken auszuhalten und darüber hat sie den Glauben verloren, dass es mit ihr in der Wissenschaft etwas werden könne. Das sieht sie aber nicht realistisch, sondern gibt anderen die Schuld, und das trägt sie aus der Wissenschaft immer weiter raus. Vielleicht würde ihr ein älterer Wissenschaftler oder eine ältere Wissenschaftlerin gut tun, die ihre Schwierigkeit erkennt und sie unter ihre Fittiche nimmt. Als Mentorin, die sie betreut und ihr vormacht, wie beharrliches Bohren am Ende zu verwertbaren Ergebnissen führen kann, die auch theoretisch interessant sein können. Ohne etwas Derartiges ist ein Misslingen aber vorprogrammiert. Nicht unser Modell ist also gescheitert, sondern Frau Glasner ist an dem Modell gescheitert bzw. an der von diesem Modell beschriebenen Strukturlogik wissenschaftlichen Handelns. Dieses Scheitern würde völlig missverstanden, wenn man darin – konstruktivistisch – ein anderes Forschungskonzept sehen würde, das in das lokale Milieu der Forschergruppe nur nicht hineingepasst und unter anderen Bedingungen zu ganz anderen Ergebnissen geführt hätte. Man könnte sich weniger kompetitive, weniger arbeitsintensive Labormilieus vorstellen, oder Projekte, die von speziellen Förderprogrammen für Doktorandinnen o.a. begleitet würden, und trotzdem würde Frau Glasner nicht in die Forschung hineinfinden, weil im Interview eine Haltung zum Ausdruck kommt, mit der eine dem Erkenntnisfortschritt dienende Praxis einfach
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nicht gedeihen kann. Der Fall Glasner ist also ein interessantes und für die pro fessionalisierungstheoretische Fragestellung typisches Beispiel für die Opposition von Strukturanalyse und Empirismus. Ein halbes Jahr nach unserem Interview hat uns übrigens Prof. Curtius, der Institutsdirektor, bei einem Nachgespräch erzählt, dass Frau Glasner die Forschergruppe tatsächlich wieder verlassen hat, auf eigenen Wunsch und ohne eine Stelle in einem anderen Forschungsprojekt in Aussicht zu haben. Sie war wirklich gescheitert und musste ihr Leben neu organisieren. Der Fall Glasner stellt keine Falsifikation dar, auch weil er in unserem Modell gut zu interpretieren ist. Er hilft es sogar weiter zu differenzieren. Glasner scheint in vielen persönlichen Eigenschaften dem Typus des Wissenschaftlers zu entsprechen und erst an einzelnen Merkmalen ihrer Haltung lässt sich ablesen, dass sie keine professionalisierte Wissenschaftlerin ist. Das ist für unsere Feindiagnostik interessant. Der Fall ist instruktiv, weil Glasner dieselben Grundprobleme des Wissenschaftlerhandelns wie andere Wissenschaftler artikuliert: Die Wissenschaft als Geduldsprobe, die Wissenschaft als Herausforderung des ganzen Menschen, die Ungewissheit des Ausgangs, das Spielen mit Methoden. Alles das kommt bei Glasner wie auch in den anderen Interviews vor. Die Probleme fallen bei ihr aber auf einen ganz anderen Nährboden, sie reagiert anders auf sie. Und daran kann man eine Differenz ablesen, die gar nicht sichtbar werden würde, wenn hier Wissenschaftler mit Versicherungskaufleuten verglichen würden. Die Nahoptik ist das Aufschlussreiche. Der Fall bestätigt daher, dass die theoretische Konstruktion in die richtige Richtung weist. Der erfahrungswissenschaftliche Habitus geht aus der Bearbeitung typischer, wiederkehrender Handlungsprobleme hervor, aber nicht jeder, der mit diesen Problemen praktisch konfrontiert ist, entwickelt auch den zu ihnen passenden, sie beherrschenden Habitus. Man kann auch daran scheitern.
Z WISCHENBETRACHTUNG Wir können den Fall Glasner zum Anlass für eine erste Zwischenbilanz nehmen. Die Interviews wurden mit der Frage eröffnet, ob es etwas gebe, das den Wissenschaftler an seiner Arbeit fasziniere. Diese Frage sollte dazu provozieren, möglichst spontan und direkt die Quelle der Faszination aufzudecken. Insgesamt zwanzig Interviews wurden mit dieser Frage geführt, manchmal mit leichten Abweichungen, manchmal erst im späteren Verlauf gestellt, weil sich zuvor ein anderer Gesprächsfaden entwickelt hatte. Es gibt kein Interview, in dem das Gespräch hierüber nicht in Gang gekommen wäre. Die Forscher beginnen immer sofort, eine Quelle der Faszination zu beschreiben. Dabei werden die unterschiedlichsten biographischen Hintergründe und Privatmotive sichtbar, jeder hat einen anderen Zugang zum Be-
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ruf, jeder hat eine unverwechselbare Art, seine Faszination auszudrücken. Dennoch konvergieren die Ausführungen in zentralen Punkten erstaunlich deutlich. (1) Es ist immer die Tätigkeit des Forschens als solche, von der die Faszination ausgeht. Die Schilderungen heben also auf die Strukturlogik und -Dynamik des wissenschaftlichen Handelns selbst ab und behandeln den konkreten Inhalt einer Untersuchung exemplarisch. Für manche Interviewpartner ist es sogar Ausdruck des Zufalls, dass sie ausgerechnet diesen Gegenstand erforschen, in dieses Wissenschaftsgebiet hineingewachsen sind. Es kommt für sie auf das Forschen selbst an und der Gegenstand ist dabei letztlich nachrangig. (2) Die Gesprächspartner sind von ihrem Beruf aus mehreren Gründen fasziniert. Die Wissenschaft stellt für sie eine reizvolle Herausforderung dar, etwas Neues zu entdecken und Neuland zu erschließen. Es geht um das mutige Erschließen eines Unbekannten, von dem man noch nicht weiß, wie es aussehen wird und wie man es finden kann. Schon der Weg zum Ergebnis ist nicht vorgezeichnet und muss erst gefunden werden. Die Interviewpartner gebrauchen dafür die verschiedensten Redewendungen. Einer Sache auf die Schliche kommen; auf die Spur kommen; ein Geheimnis lüften; etwas aufdecken; ein Rätsel lösen; ein Puzzle zusammenlegen; eine Nuss knacken; einer Sache auf den Grund gehen; das Würzele wissen wollen; den Schlüssel zu einem Geheimnis finden; eine Tür aufstoßen; ins Innere vordringen; Licht in ein Dunkel bringen; ein Fenster öffnen; in die Tiefe gehen; etwas herausbekommen. Es gibt die Höhlen-und-Schatzsucher-Semantik, die Schlüssel-Semantik oder die alpinistische Semantik. Das Öffnen einer Nuss steht für die Anforderung, das richtige Werkzeug zu finden, um beim Öffnen einer harten Außenhülle das begehrte fragile Innere nicht zu zerstören. Die Puzzle- und Mosaik-Metaphorik unterstellt eine Totalität des Objekts, das aus verstreuten Einzelteilen, deren Passung unbekannt ist, zusammengesetzt werden soll. Die am häufigsten gebräuchliche Umschreibung ist vielleicht dem kriminalistischen Jargon entlehnt, in der die Rekonstruktion eines Hergangs und einer Ursache aus der genauen Ausdeutung von unscheinbaren Details thematisch ist. Alle Redeweisen unterstellen eine Widerständigkeit in der Erschließung einer Sache, die jedoch durch geduldige Arbeit überwunden werden kann. Diese „Sache“ ist Teil einer Welt des Unbekannten, die aus irgendeinem Grund ins Blickfeld geraten ist und sich als Rätsel präsentiert. Aber in dieser Welt kann der menschliche Geist lernen sich zu bewegen, er muss sich nur mutig auf sie einlassen und versuchen, sich wie in einem dunklen Zimmer allmählich vorzutasten. Diese Aspekte entsprechen alle der Logic of Discovery. (3) Der Reiz der Forschung besteht darin, immer einen Schritt weiter zu gehen (Fendel) und die Grenzen des Wissens systematisch zu verschieben. Die Forscher wissen heute schon, dass sie morgen an etwas arbeiten werden, was sich aus ihrer
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heutigen Fragestellung erst ergeben wird (Hellwein). Daraus erwächst eine spannungsreiche Erwartung, die auf das Kommende gerichtet ist, und die schon das gegenwärtige Handeln darauf ausrichtet, es hervorzubringen und sich auf es einzustellen. Aber diese Dynamik der Forschung hat auch viele anstrengende Seiten. Das wird immer wieder thematisch. Eine Herausforderung besteht darin, sich mit der ganzen Arbeitskraft in einem Karriereberuf zu behaupten und mit einem hochdynamischen Forschungsbetrieb Schritt zu halten. Man muss es schaffen, am Diskurs dran zu bleiben, obwohl dieser sich ständig weiterentwickelt; etwas Neues beizusteuern, obwohl dies verlangt, ständig neue, relevante Ergebnisse hervorzubringen; die Literatur zur Kenntnis zu nehmen; neue Techniken und Methoden einzuüben und sich insgesamt auf dem Laufenden zu halten. Diese Herausforderung besteht inhaltlich, fachlich und persönlich, wie Frau Bertram sagt. Sie nimmt die ganze Person in Anspruch. Das schafft längst nicht jeder, wie der Fall Glasner zeigt. (4) Ein weiterer Befund besteht darin, dass die Wissenschaft von allen Interviewpartnern als Beruf verstanden wird, in dem die Neugierde eine fortwährende Chance auf Befriedigung findet. Wir haben das eben schon mit dem Begriff der Entdeckerlust gestreift. Das wird auf die eine oder andere Weise angesprochen: „der Neugierde is’ da Raum gegeben…“ hatte Fendel in Bezug auf einen konkreten Durchbruch in der Kortexforschung gesagt. Herr Insterburg, ein anderer Interviewpartner, dessen Gespräch noch keine Erwähnung fand, promovierter Molekularbiologe und ebenfalls Mitarbeiter des anatomischen Instituts, drückt es so aus: „Was mich in der Forschung hält, dass is die Neugierde (..). Also ich interessier mich für sehr viel, zum einen, wie Sachen funktionieren, wie Leben funktioniert, was passiert, wenn eine Krankheit eintritt, also wenn man das schon auf ne biologische Schiene dann äh bringen will, das interessiert mich.“ Auch für ihn ist die Chance, der Neugierde nachgehen zu können, der wichtigste Antrieb. Indirekt wird aber auch hier die Schattenseite der Forschung sichtbar. Insterburg hätte der Wissenschaft wohl schon den Rücken gekehrt, wenn ihn die Neugierde nicht halten würde, wie er sagt. Die Wissenschaft hält unangenehme, anstrengende Seiten parat. Es kostet ihn etwas, in der Forschung tätig zu sein. Frau Glasner hatte das ihren Kollegen an verschiedenen Stellen schon vorgerechnet, ohne es allerdings als Opfer für eine lohnenswerte Sache anzuerkennen. Die langen Durststrecken auf dem Weg zum Unbekannten, das große Arbeitspensum, die soziale Vereinsamung und die Abstriche am kulturellen Leben, nicht zuletzt die prekäre soziale Lage auf zeitlich befristeten Stellen, an die Insterburg vor allem denkt, da er eine Familie mit zwei Kindern zu ernähren hat und immer wieder mit der Ungewissheit geplagt wird, ob sein Projekt verlängert wird, alles dies nehmen die Forscher in Kauf. Die Forschung „entlohnt“ für diese Opfer, indem sie die Neugierde immer wieder anregt. Im Forscher ringen also verschiedene Kräfte miteinander. Es gibt anziehende und abstoßende Seiten, aber die Neugierde ist stärker als die Gegenkräfte der Frustration.
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Man kann das auf die Formel bringen, dass Insterburg von seiner wissenschaftlichen Neugierde zum Beruf der Wissenschaft innerlich sogar gezwungen wird, während der äußere Beruf auch viele unattraktive Seiten hat, von denen er sich gerne befreien würde. Das unterstreicht die Bedeutung der Neugierde als einer eigenständigen Antriebsquelle und entkräftet nebenbei den möglichen Einwand, dass hier die Forscher nur ein Klischee und geschöntes Selbstbild artikulieren. Der „sich selbst verwirklichende neugierige Forscher“ steht immer mit einem Bein an einem Abgrund und das wird hier gar nicht beschönigt. Forschung ist aber für neugierige Menschen ein Beruf, in dem sie sich darin verwirklichen können. (5) Frau Dr. Heine, Postdoc in einem astronomischen Institut, verbindet die Neugierde noch mit einem weiteren Aspekt. Sie antwortet in einem Interview aus einer späteren Staffel auf die Frage nach dem Nutzen der Forschung: Ich würde es zunächst sehen, als Befriedigung der menschlichen Neugierde (I: mhm) und ich würde es vielleicht auch sehen, als etwas, was Menschen generell interessiert. Ich hab immer den Eindruck, dass gerade Astronomie (.) in der breiten Bevölkerung Interesse findet. Jetzt nicht in den Details, nicht in der Theorie (I: mhm), aber einfach zu wissen, was ist überhaupt ne Galaxie? Das sieht sehr schön aus. Und zu verstehen, was dahinter steckt, auf nem relativ niedrigen Niveau. Ich denke, solche Fragen interessieren Leute schon. Oder wenn man sagen kann, gut, wir leben in einer Galaxie, die wir Milchstraße nennen (I: mhm), diese Milchstraße hat Begleitergalaxien, kleinere Galaxien, die wir zum Teil sehen können, die zum Teil mit unserer Milchstraße mergen. … Also ich denke, das ist was, was Leute generell interessiert.“
Die Wissenschaft erfüllt nicht nur ein privates Bedürfnis der Wissenschaftler. Sie geht diesem Bedürfnis stellvertretend für alle Menschen nach, die sich z.B. für die Gestirne interessieren und selbst diesem Interesse nicht nachgehen können. Sie lässt diese an ihrer Arbeit teilhaben. Gerade die Astronomie dient einem Interesse, das für die Menschheit insgesamt typisch ist, denn Gestirne und Himmelsphänomene sind für das Weltbild besonders bedeutsam, regen die Neugierde besonders an. Neugierde ist also kein Spleen der Forscher, keine psychologische Sonderentwicklung, sondern geht von einem generellen Bedürfnis der Humangattung aus. Hier ist kein kommerzieller oder praktischer Gewinn, sondern ein kultureller Selbstwert die Antwort auf die Frage nach dem Nutzen der Wissenschaft, und dieser Selbstwert nimmt in der Neugierde ihren Ausgang. (6) Ein weiterer Befund besteht in einer besonderen Beziehung von Krise und Routine. Es äußert sich auch in den Vergleichen mit anderen Berufen, die nicht gewählt wurden, weil in ihnen der Grad der Standardisierung und die Vorherrschaft der Routine zu groß sind. Hellwein war bekanntlich sogar der Arztberuf (seines Vaters) noch zu sehr von Routinen beherrscht. Ähnliches hat Schluchter vom Lehrerberuf
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abgestoßen (neben der mangelnden Professionalisierung dieses Berufsstandes). Eine „schöne“ Stelle hierzu findet sich im Interview mit einem Chemiker, Herrn Treskow, und soll kurz zitiert werden. Treskow, Habilitand und enger Kollege von Hellwein im Sonderforschungsbereich gilt dort als einer der größten Begabungen mit Aussicht auf eine erfolgversprechende Karriere. Er schildert Erfahrungen, die er unmittelbar vor der Entscheidung für sein Chemiestudium gemacht hatte. Ich hab halt als Schüler und nach em Abitur in so ner Versicherung gearbeitet, (I: mhm) und gesehen, da arbeiten von etwa fünfzehnhundert Leuten dreizehnhundert unendlich frustriert damit, dass sie Papier unterschreiben oder auch nicht und von links nach rechts und zurück bewegen und (.) also eigentlich nix Konkretes haben irgendwie am Tag# am am Abend, wo se sagen können, das hab ich jetzt geschafft und fertig. ... Sachbearbeiter bis zum Abwinken, Sekretärinnen und so Papierverwaltung ja, (I: mhm) pure Papierverwaltung, Policen verwalten, ähm als ich da angefangen hab, war Computer noch en Fremdwort für die, obwohl man ja Versicherungen und Banken auch damals schon einen gewissen Fortschritt trotz ihrer Konservativität angedichtet hat, also zumindest in dieser Versicherung gabs davon nix, und da war für mich klar, also dieses traurige Dasein als Aktenhengst wie ich die Leute damals bezeichnet hab zum Teil ist nicht meine Zukunft.
Die Versicherung dient Treskow dazu, die Welt des Routinemenschen zu skizzieren, von der er sich absetzen muss. Diese Welt ist strukturkonservativ, unbeweglich, die Arbeit hochgradig repetitiv, ihr Produkt unlebendig und abgehoben. Die Versicherung ist so träge und uninnovativ, dass sie ihre Policen noch per Hand verwaltet, obwohl es den Computer bereits gibt. Man merkt immer noch, wie die Sachbearbeiter bedauert und im Grunde verachtet werden dafür, dass sie tagein tagaus ihrer stereotypen Tätigkeit nachgehen. Dieser Menschentypus, der sich mit der Suprematie der Routine im Alltag arrangiert hat und im Grunde wohl fühlt („Aktenhengst“), ist Treskow in einer kritischen Phase seiner Adoleszenz so sehr auf den Geist gegangen, dass er wusste, was er auf gar keinen Fall beruflich machen will. Der Forscherberuf steht für ihn in einem denkbar scharfen Kontrast zu dieser Welt. Denn in der Versicherung ist das Unvorhergesehene nur eine Störquelle. In der Wissenschaft ist hingegen die Krise des In-Frage-Gestelltseins gerade das, worauf alles abzielt. Die daraus folgenden habituellen Differenzen sind nahezu unüberwindlich. (7) Dieses Beispiel illustriert nochmals die Krisenzugewandtheit der Forschung. Sie geht gleichwohl einher mit einem Alltag, der von unzähligen Routinen geprägt ist. Die Forscher müssen unendlich viel Zeit auf die Vorbereitung und Nachprüfung von Experimenten verwenden, unendlich viele Kontrollen durchführen, einzelne Messergebnisse wiederholen, großen Aufwand für die Sauberkeit und Funktionstüchtigkeit der Apparate betreiben. „Die Routine …, die muss man ja trotzdem ma-
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chen. Man macht natürlich im Alltag (.) ähh nicht ständig was Neues, sondern den Plan, den man da hat, und die Vorstellung von irgendeiner Sache, die man da hat, die muss man ja zum Teil einfach nur abarbeiten.“ (Interview Hellwein) Es müssen also viele Tausend Handlungspläne gewissenhaft abgearbeitet werden: Tiere züchten, Instrumente reinigen, Labormaterialien pflegen, Läsionen durchführen, Gewebeproben des Hirns entnehmen, Schnitte nehmen und präparieren, sie unters Mikroskop legen, abzeichnen, usw., bis hin zum Anträge und Berichte schreiben oder Meeting. Diese Art der Routinen ist unerlässlich. Sie prägt den Laboralltag. Trotzdem ist das Verhältnis der Wissenschaftler zur Routine ein fundamental anderes als das des Sachbearbeiters in einer Versicherung. „handwerklich … bleibt zwar oft vieles gleich, aber die eigentliche Untersuchung, z.B. man benutzt andere Proben, Antikörper oder, oder mal Ҳne neue Technik dabei, das ist ja dann schon was anderes, weil die Frage ja jetzt anders lautet, aufbauend auf der, die vorher beantwortet wurde.“ (Interview Hellwein) Die Aufgabenstellung ist also stets anders und wirft die Frage auf, welche Routinen überhaupt verlangt sind. Das ist in einer Versicherung und selbst in der ärztlichen Praxis grundlegend anders. Damit können wir nun weitergehen. Wir ändern jedoch die Vorgehensweise und versenken uns in ein einzelnes Interview in toto. Auf diese Weise vertiefen wir genau jene Aspekte, die bisher nur oberflächlich berührt werden konnten. Es geht nun darum, die Schichten und Aspekte des wissenschaftlichen Habitus in seiner Breite und Tiefe auszuleuchten, und zwar so weitgehend, wie man dies nur kann, wenn man sich auch auf die Inhalte einer Forschung einlässt.
Kapitel 2. Urszenen der Wissenschaft Der Forscherhabitus in der Evolutionsbiologie
Fall 7: Prof. Dr. Sattler, Biologe und Forschungsdirektor
Vorbericht Die zweite Einrichtung, die wir zum Zwecke der Interviewerhebung kontaktiert hatten, war ein Institut der Max Planck-Gesellschaft. Die dortige Forschergruppe unterscheidet sich von der ersten Gruppe durch zwei wichtige institutionelle Eigenschaften: Es handelt sich um ein reines Forschungsinstitut, das heißt, es gibt keine universitäre Lehrverpflichtung, keine Studentenbetreuung, kein Prüfungswesen. Und die Forschung wird nicht durch Drittmittel finanziert, sondern durch eigene Mittel, die dem Institut im Rahmen eines festen Budgets zur Verfügung stehen. Es müssen nicht ständig Projektmittel beantragt werden und die Forschung ist im Ganzen zeitlich nicht befristet. Es gibt weniger Berichtspflichten und insgesamt weniger Verwaltungsaufwand. Beides hat Auswirkungen auf die Selbstverwaltung, die wesentlich schlanker ausfällt, als dies für eine Universität gilt. Profil und Lage des Instituts Das Institut hat insgesamt vier Forschungsabteilungen, denen jeweils ein Direktor vorsteht. Jeder Direktor und jede Direktorin leitet eine Forschergruppe, die er bzw. sie sich weitgehend nach eigenen Vorstellungen zusammenstellen kann. Die Direktoren verkörpern jeweils ein spezielles Forschungsprogramm, das sie in ihren Abteilungen bearbeiten. Sie sind wie Professoren auf Lebenszeit berufen. Die Geschäftsführung des gesamten Instituts liegt immer für mehrere Jahre bei einem der Direktoren, die sich darin aber abwechseln. Die Verwaltung des Instituts wird von sechs Fachkräften geleistet, wobei wichtige Aufgaben wie Einkauf, Bauleitung usw. von der Zentralverwaltung der Max Planck Gesellschaft in München übernommen werden. Die Abteilung, in der wir die Interviews führen konnten, hat ca. dreißig Personalstellen, davon neben einer Sekretärin sieben Postdocs, davon ein Gruppenleiter, elf Doktoranden, fünf Biologisch-technische Assistentinnen (BTA), drei Studenten als Hilfskräfte und einige Gastwissenschaftler oder freigestellte Forscher mit eigenem Arbeitsgebiet. Das gesamte Institut hat insgesamt ca. zweihundert Mit-
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arbeiter. Die Postdocs und Doktoranden kommen aus Deutschland, den USA, Kolumbien, China und Osteuropa und arbeiten weitgehend im Rahmen des vom Direktor aufgestellten Arbeitsprogramms. Das Labor ist in einem modernen Gebäude auf zwei Etagen untergebracht und hat insgesamt etwa zwanzig Räume, davon vier Laborräume mit jeweils sechs oder acht Laborplätzen, Arbeitszimmer mit Schreibtischen und Computern, je ein Raum mit Großrechenanlage, Mikroskopen, Kühlschränken und anderen technischen Spezialgerätschaften, schließlich ein Sekretariat und ein größerer Gemeinschaftsraum, der für Kaffeepausen genutzt wird. Die Arbeits- und Laborräume gehen von einem Flur ab, der wie ein „rechteckiger Ring“ verläuft. Die meisten Zimmer gehen von diesem Flur nach außen hin ab und haben Fenster, einige wenige Räume liegen innerhalb des Rings im Gebäudeinneren und sind fensterlos. Dort sind technische Geräte und Kühlschränke untergebracht. Für alle Abteilungen und weitere Institute in der Nachbarschaft gibt es ein Gästehaus und zentrales Mensagebäude. Die gesamte Anlage liegt etwas außerhalb einer mittelgroßen deutschen Stadt, in der auch eine Universität beheimatet ist. Wir haben in diesem Institut insgesamt 6 Interviews geführt. An der Interviewführung war neben Ulrich Oevermann und mir auch Axel Jansen beteiligt. Als Gesprächspartner standen uns neben dem Institutsleiter einige der Postdocs, zwei Doktoranden und eine der BTAs zur Verfügung. Drei der Interviews wurden auf Englisch geführt. Ein Jahr später habe ich noch ein weiteres Interview mit dem Direktor einer anderen Abteilung desselben Instituts geführt. – Im Folgenden widmen wir uns zunächst ausführlich der Analyse des etwa zweistündigen Gesprächs mit Dr. Sattler. Das Gespräch fand im Dezember 2001 in seinem Arbeitszimmer statt. Herr Sattler stammt aus dem Rheinland. Er wurde Anfang der 1960er Jahre geboren und ist in einer Kleinstadt in der Nähe von Köln aufgewachsen. Er stammt aus einer Arbeiterfamilie. Bevor er 1983 das Abitur machte, hatte er in der gymnasialen Oberstufe Biologie als Leistungskurs belegt. Nach einem zweijährigen Militärdienst nahm er zum Wintersemester 1985/86 das Studium der Biologie an einer Universität in der Nähe seiner Heimatstadt (1986-1987) auf, ging 1987-1989 an eine Universität nach Norddeutschland, von dort weiter nach München und schloss dort das Studium mit dem Diplom ab. 1992 folgte die Promotion. Er ging anschließend als Research Fellow (1993-1995) an ein namhaftes Institut nach Amerika, war (19951999) Nachwuchsgruppenleiter an einem Max-Planck-Institut und hat sich 1998 mit einer entwicklungsbiologischen Arbeit habilitiert. Seit 1999 leitet er als Direktor an einem Max-Planck-Institut eine Forschungsgruppe. Er hat verschiedene Papers in den Zeitschriften Nature, Genetics, Cells publiziert. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.
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Abkürzungen und Notation S Sattler O Interviewer 1 F Interviewer 2 XYZ Name einer Universitätsstadt PPP ein anderer Institutsdirektor (uv) unverständlich # Abbruch (.) kurze Pause (..) deutliche Pause (...) längere Pause ?...? unsichere Verschriftung
ABSCHNITT I. E NTREE
UND
W ARMING UP
Die Aufzeichnung beginnt mitten im Gespräch. Die eröffnende Fragestellung, wenn es denn eine gegeben hat, ist nicht mehr auf dem Band.
O: Äh wir ham auch dem Internet entnommen, dass sie ihre Würmer oder was das sind äh wie heißen die Nematoden oder (N: Nematoden heißen die) dass sie die äh die ziehen sie selbst nich S: Die ziehen wir selbst jaja jaja jaja
Der Interviewer zeigt sich gleich als gut vorbereiteter Laie. Er ist um Sachverständnis bemüht und versucht, in die engere Thematik des Wissenschaftlers vorzudringen. Seine Frage zielt darauf, eine Erläuterung der laborpraktischen Tätigkeiten der Biologen einzuleiten. Nematoden, Fadenwürmer, gehören zu den Hohlwürmern und sind runde, langgestreckte Tiere, die mikroskopisch klein sind; sie sind meist getrennten Geschlechts und leben als Parasiten in Wirtsorganismen. Es gibt aber auch Hermaphroditen. Sie zu züchten erfordert einen entsprechenden Aufwand. – JaJa bestätigt, dass der Wurm im Labor selbst herangezüchtet wird. Für ein Labor, das etwas auf sich hält, ist es Standard, seine Versuchstiere selbst zu züchten. O: Was ham sie für einen (.) ist das dieser Washington-Stamm oder was ham sie für einen
Wieder wird eine Insider-Kenntnis eingeführt. Der Fragestimulus setzt darauf, dass der Interviewee den Faden aufnimmt. Es wird signalisiert, dass man sich eingelesen hat und möglichst detailliert und nahe am konkreten Forschungsgegenstand diskutieren möchte. Mit „Stamm“ ist die Abstammungslinie einer Spezies gemeint. „Wa-
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shington“ kann auf den Entdecker oder die lokale Herkunft des Stammes verweisen. De facto ist letzteres der Fall. Der Washington-Stamm ist eine häufig benutzte Spezies in der biologischen Forschung. S: Nein, wir haben# äh also wir sind sogar die einzigen auf der ganzen Welt, die mit dieser Art arbeiten (O: mhm) also kein anderer arbeitet mit dieser Art (O: ah so, ja)
Die Frage erreicht ihr Ziel, gerade weil sie eine Unkenntnis über die Besonderheiten des Labors offenlegt, denn dort arbeitet man exklusiv mit einem eigenen Stamm, der entsprechend auch selbst entwickelt worden sein muss. Die Deixis „diese Art“ bezieht sich auf eine noch nicht genannte, nicht mit dem WashingtonStamm identische Art, und der Satz hebt heraus: „Nein, wir arbeiten mit einem anderen Stamm und das sogar als einzige auf der Welt.“ Darauf ist Sattler offensichtlich stolz. Der Wurm muss hinsichtlich seiner Untersuchungseigenschaften besonders günstig geartet sein oder aufgrund einer aufschlussreichen Vergleichbarkeit weitreichende Erkenntnisse versprechen. ‚Mit einem Stamm zu arbeiten‘ bedeutet, ihn für das Labor selbst entwickelt zu haben; das heißt heute, ihn in seinen morphologischen und genetischen Merkmalen adäquat beschrieben, zoologisch eingeordnet und als Untersuchungsobjekt labortechnisch etabliert zu haben. Er muss bis zur Reproduktionsreife gebracht worden sein, so dass jederzeit beliebig viele Abkömmlinge des gleichen Stamms für unterschiedlichste Untersuchungsreihen zur Verfügung stehen. Mit einem eigenen Stamm exklusiv zu arbeiten, bedeutet in sich einen herausragenden Erfolg, denn dies gelingt nicht jedem Labor. Es wird als eine herauszuhebende Leistung in Anspruch genommen. und wir ham den (.) also auch beschrieben, also das ist ja am Anfang immer ne (O: aha) biologische Art neu beschreiben, das ham
Das Anspruchsvolle wird betont. Wer eine Art neu beschreiben will, muss sie analysiert und dem zoologischen Klassifikationssystem entsprechend in die Ordnung der Familien, Gattungen, Arten etc. eingefügt haben. Das bedeutet mehr als eine Art zu ‚entdecken’. Der Biologe muss sie ‚bestimmt’ und mit dem bekannten Wissen in Beziehung gesetzt haben. Ist ihm dies gelungen, hat er diese Art in die Zoologie eingeführt. Eine solche Leistung verbindet einen Wissenschaftler mit der Wissensgeschichte seines Faches, drückt handwerkliche Meisterschaft aus und lässt den Biologen zu allen Vertretern des Fachs, die zuvor gleiches geleistet haben, aufrücken. Eine Art zu beschreiben ist vergleichbar mit der Beschreibung einer neuen stofflichen Molekülstruktur durch den Chemiker, mit der Entdeckung neuer Himmelsgebilde durch den Astronomen oder (früher) der Ethnographie einer Volkskultur durch den Ethnologen.
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O: Die waren vorher noch gar nicht bekannt S: Die waren vorher noch gar nicht beschrieben, nein (O: aja) wir sind also ganz stolz, ich würd sagen, (O: ja) klassisches äh (.) klassisch zoologisches äh (O: aha) Paper, wo die Art neu beschrieben wird, (O: aha) und das ist also ganz selten, dass man Glück hat (O: ja) also mit ner Art wirklich von Anfang an anfangen zu können und alles entwickeln zu können
Ein „klassisches zoologisches Paper“ bezeichnet die Textgattung, in der jene Beschreibungen vorgenommen werden. Das verweist schon darauf, dass eine solche Arbeit vielen Anforderungen unterliegt. ‚Klassisch‘ ist sie, weil die Zoologie mit der wissenschaftlichen Beschreibung der Tierarten beginnt und weil auch historisch die Artenbestimmung und die Erstellung eines empirisch gesättigten Klassifikationssystems die basale Erkenntnistätigkeit der Biologen ist. Es wird freilich auch sichtbar, dass das klassische Paper nur noch selten vorkommt. Es geht längst um das Erkennen der Tiefenstrukturen und Entwicklungsgesetze. Dennoch ist es für Dr. Sattler etwas Besonderes, eine Art selbst in das Fach eingeführt zu haben. Wenn er auf das „seltene Glück“ verweist, mit einer selbst erkundeten Spezies „von Anfang an anfangen zu können“, unterstellt er, dass die biologischen Labors heute eine Art nicht mehr um ihrer selbst willen beforschen, sondern als exemplarisches Untersuchungsobjekt zum Zwecke der Klärung allgemeiner Fragestellungen. Sie interessieren sich eigentlich für übergeordnete Fragen zu elementaren biologischen Mechanismen und nutzen die Eigenschaften bestimmter Spezies für Experimente. Man benötigt hierzu eine Art, deren Exemplare in verlässlich großer und wiederbeschaffbarer Anzahl im Labor zur Verfügung stehen. Die Art muss für Experimente geeignet sein und sie muss vor allem zu der Fragestellung passen, die einen interessiert. Dr. Sattler und sein Team haben eine Untersuchungstierart selbst erkunden können. Der Wurm hatte sich offenbar schon früh als geeignet für ein bestimmtes Forschungsprojekt gezeigt, und man hat ihn sich deshalb neu erschlossen. Damit sind viele Vorteile verbunden, die man sonst nicht hat: Die einzelnen Erschließungsschritte können viel anschaulicher und detaillierter verfolgt werden. Während der Laborforscher sonst darauf vertrauen muss, dass die etablierten zoologischen Darstellungen einer Art richtig sind, kennt Dr. Sattler die Genese dieses Wissens aus eigener Anschauung. Es ist ein selbst kontrolliertes, gewachsenes und nicht abstrakt angeeignetes Wissen über den Wurm. Folglich ist der Gewissheitsgrad viel höher. Aber auch die laborpraktische Vertrautheit ist größer. Man hat schon viel Vorwissen, wie sich der Wurm verhält und was seine Eigenschaften sind, wenn man beginnt, das konkrete Forschungsdesign des Projektes auszuarbeiten. Von Haus aus Zoologe O: Und sie sind äh sie sind demnach äh von Haus aus Biologe S: Ich bin von Hause aus äh Zoologe ja
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Die Frage unterstellt, er könnte auch aus einem anderen Fach kommen. Das verweist darauf, dass Forschergruppen heute sehr häufig disparat zusammengesetzt sind. Die Antwort bestätigt und spezifiziert zugleich korrigierend die biologische Herkunft. Die Zoologie bildet sein Heimatfach, er legt in diesem Punkte Wert darauf, genau zu sein und bringt damit implizit die klassische Aufteilung der Biologie in Zoologie und Botanik sowie Mikrobiologie zur Geltung. O: Zoologe (S: ja) also sie würden sogar noch sagen zu ihrer Ausbildung, dass sie noch also Zoologe hatte noch ne Bedeutung (S: ja sicher) also die Aufgabelung Zoologie-Botanik S: Sicherlich, hat se heute noch,
Das bekräftigende „Sicher“ wendet sich gegen die Präsupposition der Frage, jene Aufgabelung sei veraltet oder könnte in der modernen Biologie keine Rolle mehr spielen. Damit ist klar, dass die klassischen Fächer in seinen Augen auch im Zeichen der Molekularbiologie und Genetik ihre basale Bedeutung nicht verloren haben. (O: ja?) ja (O: aja) und wenn man es werden will# ich mein es gibt en paar Hardcore (O: ja?) Molekularbiologen, (O: ja) für die das dann nicht mehr wichtig ist, aber wenn man wirklich was werden will, dann isses wichtig, dass man (O: ja) neben dieser Aufteilung Genetik und Biochemie Molekularbiologie noch mal mindestens ein Fach hat, (O: ja) in dem man wirklich zuhause ist,
Dr. Sattler greift die These des Veraltens explizit auf und hebt die aktuelle Bedeutung von Botanik und Zoologie für die wissenschaftliche Laufbahn hervor. Dabei wird deutlich, dass Molekularbiologie und Genetik für sich genommen nicht als eigenständig tragfähige Unternehmen angesehen werden. Genetik, Biochemie und Molekularbiologie satteln auf den klassischen Fächern auf. Sie sind eigenständige methodische Ansätze der Kausalanalyse, die es erlauben, Mechanismen und Gesetze des Lebens auf einer Mikroebene unterhalb der Zelle, des Genoms und des Moleküls zu bearbeiten. Sie haben gemeinsam, eine Fülle innovativer Labortechniken hervorgebracht zu haben. Doch ersetzen sie die klassischen biologischen Fächer nicht, in denen das Leben als Gegenstand in seinen Auffächerungen der Tierwelt, Pflanzenwelt und der Mikroorganismen geordnet und die entsprechenden Fragen hierzu systematisiert sind. Wer deshalb glaubt, sie allein betreiben zu können, schneidet sich von den Ausgangsfragen der Biologie ab. Wenn betont wird, ein Biologe müsse „noch mal mindestens“ in einem Fach zu Hause sein, dann ist das Exemplarische daran hervorzuheben. Vorausgesetzt ist, dass Biochemie oder Molekularbiologie längst den Alltag in den Labors beherrschen und die aktuellen Forschungsdesigns prägen. Sie repräsentieren den aktuellen Stand der methodischen Entwicklung. Entscheidend ist aber, den Erkenntnisgegen-
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stand der Biologie gründlich kennengelernt zu haben, und dieser Gegenstand sind die lebendigen Organismen. Um diesen Gegenstand zu erfassen, muss man sich auf eine seiner Konkretionen im Detail eingelassen haben, auf Tiere oder auf Pflanzen oder auf Mikroorganismen. Es kommt auf die Vertiefung der Sachkenntnisse an, nicht darauf, wo diese erfolgt. Erst die echte Beheimatung in einem Artenwissen erlaubt es, in der aktuellen Forschung den roten Faden immer wieder zu erkennen, denn nur sie erlaubt es, die aktuellen Forschungen auf die großen Linien des Faches rückbeziehen zu können. Die Molekularbiologie selbst vermittelt diese Vertiefung nicht, weil sie bezogen auf das Leben zu unspezifisch ist. Es sind bloß kausalanalytische und labortechnische Verfahren. Die Aussage ist im Hinblick auf ein bestimmtes Karrierekalkül und Berufsverständnis gebildet, das von den sogenannten Hardcore-Molekularbiologen vertreten wird. Es drückt sich darin aber auch ein eigenes Berufsideal aus. „Wenn man es werden will“, heißt es im ersten, abgebrochenen Satzentwurf, wenn man also ein die Biologie in der Gesamtheit ihrer sachlichen Bezüge in den Blick nehmender Forscher werden will, dann muss man sich in eine ihrer klassischen Gebiete eingearbeitet haben. Man muss sich mit der Zoologie oder Botanik vertraut gemacht haben. Man sollte möglichst alles wissen, alles kennen und über alle Entwicklungen auf dem Laufenden bleiben. Das ist hier der Anspruch. Dagegen ist der Glaube, mit der Molekularbiologie alleine auskommen zu können, ein Irrweg. Wenngleich es, wie angedeutet wird, nur eine exzentrische Minderheit ist, die diesem Irrtum verfallen ist, wendet sich Herr Sattler doch gegen ihn, weil sich mit ihm auch eine praktische Abwendung von der Integrität des Gesamtfaches verbindet. Das Wort ‚Hardcore‘ spielt ja auf den ‚harten Kern‘ einer Gruppe an, die ausschließlich in der Molekularbiologie die Zukunft des Faches sieht. Die Leute halten sich für konsequenter, moderner, sind aber in Wirklichkeit sachlich verengt und ohne fachliche Weitsicht und Substanz. Folgenreich kann dieser Irrglaube in zweierlei Hinsicht sein: Jüngere Wissenschaftler können sich selbst schaden, wenn sie das Studium der Kernbestände des Faches in der Hoffnung vernachlässigen, durch Ausbau der technischen Fertigkeiten in der Molekularbiologie ihre Karriere beschleunigen oder absichern zu können. Das muss aus Fürsorgepflicht unterbunden werden. Aber es muss auch verhindert werden, dass jene Kernbestände selbst und damit das fachliche Niveau der Biologie Schaden nehmen, weil sie in der Forschung nicht mehr adäquat vertreten werden. Hardcore-Molekularbiologen konkurrieren mit anderen Fachvertretern um Fördermittel und Einfluss. Die Mode greift die Substanz des Faches an. Pflanzenmensch oder Tiermensch oder Mikrobiologe und das muss dann entweder is man halt en Pflanzenmensch, en Tiermensch oder en (O: ja, &ja&) &Mikro&biologe und das ist ganz wichtig
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Der gute Biologe lässt sich auf seinen Gegenstand so weitreichend ein, dass er mit ihm verwächst. Er nimmt etwas von der Spezifik seines Gegenstands in sich auf, oder etwas in ihm wird durch diese Besonderheit geweckt, so dass es zu einer Grundhaltung wird. Damit ist direkt der Forscherhabitus angesprochen, und zwar der Habitus, sofern er vom Gegenstand selbst geprägt ist. Das meint eine Verbindung zwischen Neigung, Begabung und Vorliebe für bestimmte Tiere oder Pflanzen und den Routinen, die aus einer langjährigen Praxis im Umgang mit ihnen resultieren. Das wird hier sogar zu einem disjunktiven Typus gesteigert. Man ist entweder Tiermensch oder Pflanzenmensch oder Mikrobiologe. Man kann nur wirklich gut werden, wenn man seiner Bestimmung folgt und sich auf seinen Gegenstand konsequent einlässt, was auch bedeutet, andere Optionen fallenzulassen. (O: ja) man ist auch# die meisten sind (.) sind auch dann immer noch äh von Hause aus wirklich verankert in dieser Disziplin dass sie also (O: ja) Tiere gesammelt haben oder Pflanzen gesammelt haben oder irgend so was, am Ende ist das immer noch ne sehr sehr wichtige Sache
Nun kommt die Thematik der sozialisatorischen Genese des Berufshabitus in den Blick. Die habituelle Verwurzelung im Gegenstand wird hier zurückgebahnt auf ihre biographische Vorgeschichte. „von Hause aus wirklich verankert“ ist ganz wörtlich zu nehmen. Die meisten Kollegen haben eine Geschichte als Biologen, die weit vor dem Studium beginnt, also in ihre Kindheit und Jugend, und sie reicht auch weiter in ihre Privatsphäre hinein, als dies ein normaler Beruf erwarten lassen würde. Das Haus steht hier für das Herkunftsmilieu. „Von Hause aus“ meint eigentlich, dass jemand etwas geworden ist, weil schon die Eltern dies waren. Entweder haben bereits sie den Beruf ausgeübt oder es gibt sonst eine familiengeschichtliche Verbindung zu ihm. Man hat etwas mitbekommen, ohne es sich selbst mühevoll erarbeitet haben zu müssen. Es ist einem zugefallen. Das Heim ist also der Ort, an dem die Bindung an eine Sache herangereift und ausgebaut worden ist. Das wird durch das Sammeln konkretisiert. Das Perfekt („haben gesammelt“) unterstreicht hierbei, dass diese Tätigkeit am Anfang gestanden hat. Sammeln ist der Modus einer Primärerfahrung. Was ist nun „Sammeln“ für eine Tätigkeit? Sammlungen werden veranstaltet, um Exemplare eines Sachgebietes, einer Gattung, einer Serie, einer historischen Epoche zusammenzutragen. Ihre immanente Logik besteht darin, ein Gebiet in der Reichhaltigkeit seiner Einzelstücke entweder möglichst vollständig oder so umfassend als möglich zu erfassen oder die herausragenden und wertvollen, besonders typischen und beispielhaften Stücke zusammenzutragen. Der Reichtum einer Sammlung kann darin bestehen, die wichtigsten Typen in besonders schönen oder ausgeprägt anschaulichen Beispielen zu zeigen; aber auch darin, eine besonders umfassende Repräsentanz der Gesamtspezies zu leisten. Sammeln ist vor allem eine Tätigkeit, durch die eine Anschaulichkeit der
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Vielfalt hergestellt wird. Durch sie wird eine Vergleichbarkeit der Einzelexemplare möglich, und dadurch entsteht die Notwendigkeit einer angemessenen Ordnung des Sammelgebietes durch Klassifikation oder Einteilung. Sammlungen verlangen einen hohen Aufwand. Neben dem oft schwierigen Ausfindig-machen eines gesuchten Exemplars tritt die Anforderung einer fachgerechten Konservierung oder adäquaten Ausstellung. Dies gilt vor allem für alle tierischen Sammlungsgebiete wie Käfer, Schmetterlinge, Vogeleier, ausgestopfte Tiere, aber auch für Kunst, Antiquitäten, Militaria usw. Will man wirklich zu einer wertvollen Sammlung kommen, muss man über Jahre hinweg beharrlich das Ziel seiner Sammlung weiterverfolgen und diszipliniert die Prinzipien der Sammlung beachten. Dass hier nun die Sammeltätigkeit erwähnt wird, ist nicht weiter verwunderlich, denn das Sammeln steht historisch wie intellektuell gewissermaßen am Anfang der Wissenschaften vom Leben. Das Studium der Vielfalt, von Gemeinsamkeit und Differenz ist erst mit ihr möglich. Zugleich wächst mit einer Sammlung die Notwendigkeit, zu sinnvollen Einteilungskriterien zu kommen. Von der frühen Neuzeit an gehörten anspruchsvolle Schausammlungen von Tieren, Vögeln oder Steinen zu den Residenzen der Fürsten. Die Naturforscher waren nicht nur große Sammler, Forscher wie Linée oder Alexander von Humboldt haben zugleich die Klassifikationsdebatten vorangetrieben, wobei es immer darum ging, die Tiere und Pflanzen nach ihrer Zugehörigkeit zu Familien, Gattungen, Arten zu ordnen. Die Klassifikation soll die realen Lebensformen und Verwandtschaften wiedergeben. – Im Gegensatz zu akademischen Sammlungen, die zum Zwecke der Lehre oder der wissenschaftlichen Klassifikation erfolgen, dienen private Sammlungen oft dem Wunsch, sich eines Gegenstandsfeldes zu bemächtigen. Sammeln bedeutet, eine Sache gerne um sich zu haben. Man will sie anfassen, anschauen oder mit ihr experimentieren können, sie herzeigen oder schlichtweg stolz sein dürfen, ein einzigartiges Stück zu besitzen. Der Besitz ist ein zentrales Motiv. Die Sozialisation des Biologen beginnt also, sofern das Sammeln am Anfang steht, damit, dass sich ein Kind und Jugendlicher mit den Objekten seiner späteren beruflichen Leidenschaft umgibt und sich auf die Logik einer Sammlung einlässt. O: Ja, das ham sie auch getan S: Das hab ich auch gemacht ja, also mein Leben lang Schmetterlinge gesammelt,
Die Frage wird nun ins Persönliche gewendet. Schmetterlinge sind unter den Insekten in mehrerlei Hinsicht herausgehobene Tiere und deswegen beliebte Sammlungsobjekte. Sie sind in ihrem raschen Flügelschlag lebendige und geschickt wirkende, zugleich elegante und überaus schöne Tiere. Ihr Flugapparat ist filigran und verletzlich, ihr Leben selbst geheimnisvoll. Da sie aus einer wenig schönen Raupe hervorgehen, die sich verpuppt, veranschaulicht ihre Metamorphose nicht nur den Zyklus des Lebens, sondern zudem eine Polarität zwischen dem Schönen und dem
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Banalen oder Hässlichen. Es gibt einen ungeheuren Reichtum an Formen und Musterungen auf den Flügeln; ebenso sehr eine große Farbenvielfalt. Es gibt unzählige Arten. Schmetterlinge erscheinen dem Menschen als Zierde der Natur. Sie stören ihn nicht, wie die Wespen oder Stechmücken, sie ängstigen ihn nicht, wie die Spinnen, und sie ekeln ihn auch nicht, wie Maden und viele andere Kleinsttiere. Zugleich sind sie ihm aber auch nicht nützlich, wie etwa die Biene. Sie scheinen keine Feinde zu haben und keines anderen Lebewesen Feind zu sein. Eine interessante Laune der Natur. Da Schmetterlinge eine sehr behutsame und vorsichtige Behandlung verlangen, stellt ihre Sammlung einige Anforderungen. Seltene Exemplare sind schwer zu bekommen. Man benötigt adäquate Schaukästen oder Präparationsmaterial. Da der Interviewee „ein Leben lang“ Schmetterlinge gesammelt hat, darf man schließen, dass er früh begonnen und seine bis zum heutigen Tage fortdauernde Sammelleidenschaft eine beträchtliche Kollektion hervorgebracht hat. Er sieht das Schmetterling-Sammeln als etwas an, das zu seinem Leben hinzugehört. Er betreibt es aus Leidenschaft, nicht nur von Berufs wegen. (O: ja) und dann halt leider kommen viele Leute, die so in die Biologie kommen, die hinterher nicht mehr weg davon,
Wieder wird ein kontrastierender Seitenblick eingefügt. Oben dienten die HardcoreMolekularbiologen als Kontrastfolie, nun die Biologen, die den Sprung vom Sammeln zum Forschen nicht schaffen. Dadurch wird eine interessante Aussage über den Normalverlauf einer Biologen-Laufbahn sichtbar. Am Anfang des Interesses für die Biologie steht ein Sammeln; zum Beispiel das der Schmetterlinge. In ihm macht sich ein junger Mensch mit seinem Lieblingsobjekt so sehr vertraut, dass er dabei erste Erfahrungen mit seiner systematisierten Behandlung, Ordnung, Klassifikation, Unterscheidung macht. Er erwirbt Grundfertigkeiten des Forschens. Später, im Studium und Beruf muss er sich als Biologe aber weiterentwickeln. Man darf nicht beim Sammeln stehenbleiben, wenn man Forscher werden will, sonst wird man Hobbyist, Steckenpferdforscher. Es muss etwas hinzukommen, was sich vom bloßen Sammeln ablöst und darüber hinausgeht. (O: ja) die bleiben also dann immer äh bei dieser einen Gruppe, (O: ja) weil das ist gerade heutzutage, wo’s diese ganzen molekularen Methoden gibt,
Zwei Dinge sind angedeutet: i) Es langt nicht, Steckenpferdforschung zu betreiben, man muss mehr kennen, über den Tellerrand des Lieblingsthemas hinausschauen. Also: man muss verschiedene Fragestellungen kennen und auf die Erkenntnis von Gesetzmäßigkeiten abheben. ii) Wo es diese ganzen molekularen Methoden gibt, muss man sich aber auch schon deshalb von seiner Lieblingsart lösen, um den Anschluss an die Entwicklung des Faches nicht zu verlieren. Gerade heutzutage kann
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man sich ein Beharren auf Liebhaberei nicht mehr leisten. Es gibt aber viele Biologen, die das tun. (O: ja) diese Museen sind natürlich heute sehr daran interessiert, (O: ja) dass sie ähm dass sie in diese moderne Technologie reinkommen,
Hier spricht nun der sich verantwortlich fühlende Institutsdirektor. Seine Sorge gilt den Chancen der Biologiestudenten auf dem Berufs- und Stellenmarkt; und zwar, wie unterstellt werden muss, gerade derjenigen, die nicht den Sprung weg von ihrer Liebhaberei schaffen. Ein Biologe kann es sich nicht mehr leisten, bei seiner anfänglichen Liebhaberei stehen zu bleiben, weil die Anforderungen auch außerhalb der Universitäten und Institute sehr hoch geworden sind. Sie verlangen zumindest eine Doppelqualifikation. Der Stellenmarkt für Biologen ist angespannt. Selbst die Museen, gemeint sind z.B. naturkundliche Schausammlungen wie das Field Museum in Chicago oder das Senckenbergische Museum in Frankfurt am Main sind heute darauf aus, Abgänger mit Kenntnissen in molekularbiologischen Methoden zu bekommen, da sie selbst mit der Entwicklung Schritt halten wollen. Dies ist natürlich ein nach außen gewendeter Blick auf die Entwicklung des Berufsfeldes der Biologen, während der Ausgangspunkt ursprünglich bei der Frage lag, was einen wirklichen Forscher ausmacht. Es schwingt eine Klage mit über die mangelhafte Lebenstüchtigkeit vieler Biologen angesichts einer schwierigen Stellensituation und darin wird auch das Thema vorbereitet, dass das Studium nicht deutlich genug auf die späteren Anforderungen vorbereitet. das heißt, (O: ja) das ist gar nicht mehr allzu schwierig wenn man als Student dann begreift, dass es moderne Methoden gibt, dann kann man an und für sich bei seiner Gruppe bleiben egal ob das Schnecken sind, Schmetterlinge oder sonst irgendwas, weil die Museen doch zum größten Teil jetzt schon so aufgeschlossen sind, dass se gerne Molekular- Leute mit molekularem Hintergrund hätten
Hier wird das Argument nochmals ins Positive gewendet. Es wäre sehr leicht unterzukommen, selbst für die eindimensionalen Sammler-Biologen, würden sie sich nur molekularbiologisch wappnen. Der Stellenmarkt wäre immerhin offen genug, und es könnte sogar der ursprünglichen Leidenschaft weiter nachgegangen werden, wird unterstellt. – Wir können nun zwei Laufbahnmuster unterscheiden: Es gibt die Forscher, die die notwendige Transformation vom Liebhaber zum reiferen Forscher schaffen und sich von ihrem ursprünglichen Lieblingsthema lösen. Und dann gibt es jene, die diese Weiterentwicklung nicht leisten und bei ihrem Steckenpferd bleiben. Erstere gehen in die Forschung, doch auch letzteren bietet der Arbeitsmarkt in Museen eine Chance. Selbst dort ist aber eine gewisse Grundkenntnis moderner Labormethoden vorausgesetzt. Das Generalthema ist hier, dass der Forscher in seinem
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Erfahrungsgang von der frühen Liebhaberei zu einer bestimmten Tier- oder Pflanzenart wegkommen muss, um von der Oberfläche der Erscheinungen zur Erforschung der Tiefenstrukturen zu gelangen. Es geht darum, von der Mannigfaltigkeit der exemplarischen Verkörperungen des Lebens auf die Gesetzmäßigkeiten dahinter vorzustoßen. Die ursprüngliche Vorliebe für seine Lieblingsspezies muss der Biologe dabei nicht aufgeben, aber er muss sie in ihrer exemplarischen Bedeutung erkennen, die Ausschließlichkeit hinter sich lassen und seine Neugierde auch an die abstrakteren theoretischen Probleme heften können. Ja, ähm und äh (.) wann hat das bei ihnen angefangen, wenn wir schon bei dem Thema sind
Die Frage greift die Urszenen-Thematik auf und richtet sie neu ein, indem sie persönlich konkretisiert werden soll. S: Och da fragen se mich jetzt was,
Diese überrascht tuende, die Frage als vermeintlich zu unbedeutend („Och“) und zugleich als zu groß („da fragen sie was“) zurückweisende Antwort deutet an, dass keine wirklich eingerichtete Selbstdeutung routinisiert abgerufen werden kann. Die Frage dringt in das Persönliche von Erinnerungen vor, die nun erst strukturiert werden müssen. Der Interviewee muss sich seiner eigenen Genese in seinem Fach zuwenden. Und das ist ihm erst einmal nicht unbedingt willkommen. wann hat das angefangen, mit vierzehn (.) (O: aha) und das war dann (.) schon (.) ja ausschlaggebend für die Wahl des Leistungskursfaches
Für die Deutung einer fehlenden Routine spricht auch, dass er sich die Frage nochmals selbst vorlegt. Zunächst wird der Beginn im Lebensalter verortet, nicht in der Kindheit, sondern in der Pubertät. Dann wird (durch die Deixis „das“) auf etwas verwiesen, das vor der Wahl des Leistungskursfaches (gemeint ist natürlich Biologie) in der gymnasialen Oberstufe liegt und ihn zu dieser Wahl bewegt hat. Es kann der Beginn der Sammlung gemeint sein, oder ein anderes Ereignis, jedoch steht es für ein gewecktes Interesse am Fach insgesamt. Denn wenn gesagt wird, „das war dann schon ja ausschlaggebend...“, hatte das Interesse an der Biologie bereits erhebliches Gewicht. Es gab also eine Selektionsentscheidung in der Schule, der vorausging, dass ein Pfad schon gebahnt war. Was aber am Anfang dieses Weges stand, ist noch ungenannt und liegt vor der Aufnahme des Leistungskurses. (O: ja) und äh (.) (O: ja) und dann gings halt immer so weiter
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Hierin wird der Pfad als solcher bestätigt. Es „ging immer so weiter“ in der Logik der ersten Weichenstellung. Aus der lakonischen Art spricht, dass es Sattler am liebsten wäre, nichts weiter dazu ausführen zu müssen. „Immer so weiter“ suggeriert auch, dass sein bisheriger Berufsweg praktisch einem Automatismus gleichkommt, der weiterlief, nachdem er erst einmal in Gang gesetzt worden war. Alles, was nach der ersten, entscheidenden Phase kam, war nur noch von verstärkender Wirkung. Die grundsätzliche Entscheidung war gleich am Anfang gefallen. Daraus spricht eine sehr kräftige Bindung an die Biologie und diesen Lebensweg. Offenbar ist er nie mehr ernsthaft in Frage gestellt worden. Herr Sattler ist sich seiner Sache sehr sicher. Das bedeutet auch, dass im Nachhinein betrachtet jenes noch ungenannte frühe Erlebnis gleich ins Zentrum der Biologie geführt hat. Es bedurfte keiner Korrektur mehr, zumindest nicht, was die persönliche Identifikation mit dem Forschungsfeld anbelangt. O: Und ähm was war äh können Sie sich erinnern, dass# gab es irgendeinen Anlass, irgendeine Art Initiation dafür, dass sie sich plötzlich dafür interessiert haben
Der Interviewer setzt sofort nach und dringt auf eine weitere Explikation der Erinnerung. S: Ähm (.) ja ich denk da jetzt immer wieder nach wenn man# wenn man eigene Kinder hat
Jetzt signalisiert der Interviewee, in Kontrast zu der anfänglichen Reaktion („Och da fragen se mich jetzt was„), dass er sich die Frage nach der beruflichen Genese durchaus schon selbst vorgelegt hat, und zwar angesichts seiner eigenen Kinder. Aber das berührt natürlich eine mehr private Ebene. Er muss sich die Frage also nicht wirklich erst zu eigen machen, sondern muss sie nur aus seiner in die Privatheit eingelassenen Selbstanalyse hervorholen. Das fällt ihm offenbar schwer, denn er versucht sprachlich seine Erfahrung wieder zu anonymisieren. Eigentlich müsste der Satz lauten: ich denke immer wieder daran, seit dem ich eigene Kinder habe. Das „man denkt nach“ versucht eine Schutzwand der Verallgemeinerung einzuziehen. Offenbar steht ihm die private Erinnerung nicht aufbereitet zur Verfügung. (Nur nebenbei sei erwähnt, dass man solche Daten durch standardisierte Interviews und Fragebogen niemals erfassen könnte.) Wenn er mit solchen Fragen durch seine eigenen Kinder konfrontiert wird, dann ist damit angedeutet, dass er bei den beobachteten Lebensschritten sich immer wieder zum Nachdenken eingeladen fühlt. Die Entwicklung der Kinder regt dazu an, seinen eigenen Werdegang zu erinnern, und diese Erinnerung ist durch eine erkenntnisreiche Kontrastivität geprägt. Eltern erkennen an ihren Kindern fortlaufend Situationen und Probleme wieder, die sie aus ihrer eigenen Kindheit kennen und die ihre Kinder erneut durchlaufen. Gleichzeitig werden sie aber auch mit den anderen Umständen dieses neuen Lebens konfrontiert,
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so dass sie zum Nachdenken angeregt werden, was wohl das Gemeinsame und Trennende, Allgemeine und Besondere ist. Der Erwachsene wird dabei oft ganz unerwartet von eigenen Erinnerungsspuren überrascht. Wenn man sich solchen Erfahrungen öffnet, wird fast zwangsläufig auch die Frage aufgeworfen, warum man selbst so geworden ist, wie man ist, was förderlich und was hemmend für den eigenen Lebensweg war. Offenbar ist Sattler mit der Frage konfrontiert, was ihn selbst zum Wissenschaftler hat werden lassen. Er beobachtet seine Kinder also und fragt sich, was bei ihnen den Forscherdrang befördert, ihre Neugierde anregt oder erlahmen lässt und wie sie sich die Welt erschließen. ähm (O: ja) en Großteil war zum Teil würd ich sagen im Nachhinein würd ich sagen Langeweile mit den äh (.) O: In der Schule S: In der Schule und auch in der Freizeitgestaltung,
Als erstes wird eine Negativbedingung genannt. Langeweile ist der Gemütszustand eines Unausgefülltseins, einer Erlebnisarmut, die sich einstellt, wenn ein Mensch über einen längeren Zeitraum zu sehr gleichförmigen und anregungsschwachen Reizen ausgesetzt ist. Er beginnt darunter zu leiden, wenn er sich nicht davon befreien kann. Langeweile ist nicht dasselbe wie Desinteresse, sie beruht auf dem Wunsch nach geistiger Beschäftigung, dem freilich nicht nachgegangen werden kann oder darf, sei es, weil die äußeren Umstände es nicht erlauben, sei es, weil eine Phantasieleere und eigene Antriebslosigkeit die Suche nach Quellen der Anregung blockieren. Langeweile geht stets einher mit dem Empfinden einer gedehnten Zeit, eines andauernden Ereignislosigkeit, die nicht enden will, und verschwindet stets, sobald etwas das geistige Interesse zu wecken vermag. Als ob er einen Punkt machen und Herrn Sattler den vorausgeahnten Grund für dessen Langeweile zuerst nennen wollte, wirft der Interviewer die Schule ein. Er gibt damit zu verstehen, dass Langeweile in der Schule auch für ihn eine bekannte Erfahrung war. Herr Sattler fügt aber die Freizeitgestaltung noch hinzu, und weitet somit das Thema wieder aus. Die Anregungsarmut war folglich extrem. Es war nicht nur die Schule. Und es geht ihm jetzt auch nicht um eine Lehrerschelte. Er will seine Situation skizzieren. Die Schule hat es nicht vermocht, sein Interesse zu wecken und das ist natürlich ein vernichtendes Urteil, weil die Schule der Ort mit der vielfältigsten Anregung sein sollte, den man sich denken kann. Der Unterricht war aber per se nicht anregend. Das kann bedeuten, dass er schlecht gemacht war, lustlos gestaltet, unterfordernd. Es kann bedeuten, dass die angebotenen Fächer nicht zu den Interessen gepasst haben, die sich schon gebildet hatten. Es ist aufschlussreich, nach dem Zusammenhang zwischen seinen Kindern und ihm selbst hierbei zu suchen. Sattler scheint durch sie auf die Langeweile wieder gestoßen worden zu sein. Entweder beobachtet er gerade, wie seine Kinder gleich-
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ermaßen sich durch die Schule gelangweilt fühlen und es fällt ihm auf, da er als Naturwissenschaftler die Interessantheit der Natur seinen Kindern durch die Schule nicht nahegebracht sieht. Und das muss ihn ärgern. Oder er macht die Erfahrung, dass sich bei seinen Kindern gerade das Gegenteil zeigt und sie besonders gerne in die Schule gehen. das war mir also alles nich so äh (O: ja) instruktiv genug und da kam also kam mir nich genügend herum, und dann äh (O: ja) liest man halt (O: ja) und guckt sich um und dann äh bin ich halt da drauf gekommen und
Er hat sich schon interessiert, aber in der Schulsituation haben ihm die Dinge nicht ausgereicht. Es ist folglich weniger die Art und Weise des Unterrichts gewesen, die für die Langeweile verantwortlich ist. Er hat ihn angeregt, aber nicht genug. Er hat sich deshalb außerhalb des Schulunterrichts mit zusätzlichem Stoff versorgt, viel gelesen und aufgenommen. „sich umgucken“ heißt, er hat vieles ausprobiert. Dabei ist er dann auf die Schmetterlinge gestoßen. Seine Konstruktion ist also folgende: Da die Schule und seine Freizeitgestaltung (durch die Eltern) so anregungsarm waren, hat er sich eine private Gegenwelt aufgebaut, in der er Anregung finden konnte. Diese Gegenwelt wird schon in einem Dialog mit dem Schulunterricht gestanden haben. Was dort thematisch war, hat er hier vertieft, was er hier gelesen hatte, wird er dort im Unterricht eingebracht haben. Es war aber eine Gegenwelt in Eigenregie. Sein Interesse für Schmetterlinge ist aus dieser Gegenwelt hervorgegangen. Sie haben ihn vor der Langeweile gerettet. Im Nachhinein interpretiert er seinen Einstieg in die Forschung also als eine Selbst-Anregung im neugierigen Suchen, Umgucken, Lesen. Er hat sich außerhalb und gegen die Schule selbst gebildet und einen Grundstein für seinen späteren Beruf gelegt. Er muss also ein außerordentlich interessierter, anregungsbedürftiger Junge gewesen sein, der sich für vieles interessiert hat. Erkennbar ist auch, dass er sehr anspruchsvoll ist. O: Und das waren (.) gleich Schmetterlinge S: Das waren gleich Schmetterlinge O: Ja, was hat sie an denen fasziniert
O. will erfahren, ob es vor den Schmetterlingen noch andere Interessengebiete gegeben hat. Es gibt immer noch eine Vorgeschichte, und diese wird hier angefragt. Der Punkt wird aber nicht aufgegriffen, so dass gleich die nächste Frage angehängt wird. Sie will wissen, warum gerade Schmetterlinge und nicht irgendeine andere Tierart gewählt wurden. Was ist das Besondere, das an ihnen fasziniert hat? Die Frage verlangt etwas zum Gegenstand zu machen, das immer auch etwas rätselhaft bleiben muss. Denn die Faszination für etwas drückt stets eine persönliche Disposition aus, bei deren Erklärung auch irrationale oder affektive Anteile der Persönlich-
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keit thematisch sind. Ein Objekt, von dem eine Faszination ausgeht, hat immer etwas Geheimnisvolles, Anziehendes, Fesselndes, auch Erregendes für den, der fasziniert ist. Die Formulierung „Was hat sie an denen fasziniert?“ enthält eine kleine Provokation, weil sie unterstellt, dass die Faszination dieses Gegenstandes nicht wie selbstverständlich jedem bekannt ist. Es muss erläutert werden und dies muss jemandem, der leidenschaftlicher Sammler ist, wie eine kleine Entwertung erscheinen. S: Och mich haben an und für sich alle Insekten fasziniert,
Wieder wird erst einmal eine direkte Antwort zurückgestellt. Die Interjektion „och“ wird nun schon wiederholt gebraucht und kann als charakteristisches Ausdruckselement in der Sprechgestik von Sattler betrachtet werden. Es lohnt sich, dem kurz nachzugehen. Solche Partikel gehören ja zu den nicht flektierbaren Wörtern, die keine eigene grammatische Funktion haben und auch keine oder kaum eigenständige lexikalische Bedeutung besitzen. Sie übernehmen vor allem in der mündlichen Sprache vielfältige Aufgaben der Modulation und Gesprächsführung. Sie dienen der Hervorhebung oder Beschwichtigung, signalisieren Zustimmung oder Ablehnung oder zeigen die Einstellung eines Sprechers zum Gesagten an (sogenannte Grad- und Modalpartikel). Die Gesprächspartikel übernehmen gliedernde und auch Rückmeldefunktionen der Bestätigung, wie „ja“, „genau“, „richtig“, „gut“, oder der Vergewisserung „bitte?“, „hm“, „Ja?“, „was?“. Zu ihnen gehören auch Grüße oder Gebote wie „tschüs“ oder „auf, auf!“. „Och“ signalisiert eine Korrekturbedürftigkeit des zuvor Gesagten. Es zeigt an, dass eine vom Vorredner gemachte Annahme so nicht mitgetragen wird; oder auch, dass eine gewählte Ausdrucksweise nicht für angemessen gehalten wird. Es geht dabei um die Einschätzung einer Sache. „Och“ unterstellt, dass einer Sache viel zu große oder viel zu geringe Bedeutung verliehen wurde, und signalisiert, dass der Sprecher ihr eine andere Bedeutung beimisst. Dieses Herabstufen oder Heraufstufen ist schon an der Intonationskontur erkennbar, bei der das O etwas länger gehalten wird als etwa das A bei „Ach“. Die Stimmlage wird eher abgesenkt und zeigt Korrektur an. Da dieser Partikel nun schon wiederholt gebraucht wurde („Och, da fragen sie mich was“), kann vermutet werden, dass dieses Herab- oder Heraufstufen einem charakteristischen Zug von Sattler entspricht. Er benutzt Partikel, um die Einrichtung eines Themas, die ein anderer vorgenommen hat und die seinen Vorstellungen nicht entspricht, in die eigene Hand zu bekommen. Bei der Frage „Was hat sie an denen (den Schmetterlingen) fasziniert?“ verhält es sich genauso. Die Formulierung „an denen“ ist ja aus Sicht eines begeisterten Sammlers schon tendenziell eine blasphemische Äußerung. Denn sie spricht von den Schmetterlingen wie von einem xbeliebigen Gegenstand. Der Partikel „och“ lässt dies souverän ins Leere laufen. In
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Langschrift: „Och, wenn sie glauben, da gäbe es nichts, was einen faszinieren könnte, haben sie sich aber gewaltig getäuscht. Da gibt es eine ganze Menge!“ Der nachfolgende Hauptsatz führt dies nun gar nicht mehr direkt aus, sondern erweitert das Thema sogleich. ‚Nicht nur an den Schmetterlingen gibt es viel zu entdecken, sondern darüber hinaus ist die Insektenwelt insgesamt von größtem Interesse.‘ Indem Sattler die Bandbreite seines thematischen Interesses noch ausweitet, gewinnt er das Thema offensiv für sich zurück. Das Interesse war von Anfang an sogar noch breiter angelegt, und die Schmetterlinge sind nur ein Token eines Type. Darin wird schon eine Abfolge der Gegenstandserschließung sichtbar, die hier vom Allgemeinen zum Konkreten führt. Sattler ist seinem ursprünglichen Interesse an den Insekten nachgegangen, und hat sich irgendwann entschieden, an den Schmetterlingen die Insektenwelt genauer zu studieren. In ihnen hat sich sein ursprüngliches Interesse verdichtet und ist kanalisiert worden. Er hat sich für die Insekten im Allgemeinen und die Schmetterlinge im Besonderen interessiert und sich jene in diesen erschlossen. Sie haben also wieder exemplarische Bedeutung. So erklärt sich auch der vermeintliche Widerspruch, dass zuerst gesagt wurde: „Das waren gleich Schmetterlinge!“, um anschließend zu behaupten, er habe sich für alle Insekten interessiert. Insekten und Schmetterlinge Was zeichnet Insekten aus? Insekten sind meist eher kleine, sehr anpassungsfähige Lebewesen aus der Klasse der Gliederfüßer, mit einem oft filigranen Körperbau, der sich deutlich in Kopf, Bruststück und Hinterleib unterteilt. Am Kopf sind meist Mundwerkzeuge, mit denen sie entweder kauend, saugend oder leckend ihre Nahrung aufnehmen. Ein Fühlerpaar und die Augen, oft als Facettenaugen, sowie gut ausgebildete Geruchs-, Tast- und sogar Hörorgane bilden Sinnesorgane am Kopf. Insekten haben sichtbar ausgeprägte Flug- und Lauforgane. Ihre hornartige Haut wirkt wie ein Panzer. Sie sind biparental und legen meist Eier, wobei sie teils eine Metamorphose vom Larvenzustand (mit oder ohne Verpuppung) zum geschlechtsreifen Insekt durchlaufen, teils nicht. Ihre Anpassungsfähigkeit ist so groß, dass sie auch extreme Witterungsgebiete wie die Wüste oder die Arktis besiedeln. Sie leben am häufigsten in der Luft und an Land und entwickeln sich in heißen Gegenden zu besonderer Größe, Anzahl und Farbenpracht. Rund achtzig Prozent aller lebenden Tiere sind Insekten. Es gibt Arten, wie die Ameisen, Heuschrecken oder Bienen, bei denen mehrere hunderttausend bis Millionen Individuen in einem „Staat“ zusammenleben. Die Bewegungen der Insekten wirken oft eher stelzig, mechanisch und sprunghaft. Sie haben eher etwas Apparatenhaftes. Ihr Verhalten folgt einem programmierten Schema, das wenige Freiheitsgrade zulässt, anschaulich etwa, wenn sie sich in einem Raum verflogen haben und den Ausgang nicht mehr finden. Äußerlich fallen Gattung und Einzelexemplar, Type und Token zusammen.
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Insekten ziehen seitens des Menschen oft besondere Affekte auf sich. Stechende Insekten gelten als Plagegeister. Wespen haben insbesondere für Kinder etwas Bedrohliches. Andere, die auf der Suche nach konstanten Nahrungsquellen in die Behausungen der Menschen eindringen, gelten als Krankheitsüberträger und Zeichen von Unsauberkeit. Wieder andere, wie die Libelle oder die Heuschrecke, faszinieren wegen ihrer Formschönheit und flößen wegen ihrer Flugeigenschaften Respekt ein, lösen aber auch Fremdheitsgefühle aus, wohl wegen der blind-matten Augen. Aber es gibt auch Arten, die von Menschen nicht als bedrohlich empfunden werden. Die Bienen wurden schon erwähnt. Auch die Ameisen werden wegen ihrer hochkomplexen und differenzierten Sozialgebilde und ihrer arbeitsteiligen Emsigkeit bewundert. Doch eine wirkliche Nähe zu Insekten wird vom Menschen weder gesucht, noch kann sie so ohne weiteres zugelassen werden. Dies gilt selbst für diejenigen Arten, die wie der Käfer wegen ihrer ästhetischen Reize das Interesse auf sich ziehen. Letztlich erlauben nur wenige Insektenarten wie die Schmetterlinge eine nicht bedrängte und gefahrlose Beobachtung, wahrscheinlich, weil sie nicht stechen oder beißen und so etwas durchweg Unbedrohliches haben, weshalb sie als schön und untückisch angesehen werden. – Das Faszinierende an Insekten kann also darin gesehen werden, dass sie miniaturisierte Lebewesen abgeben und man an ihnen die Einfachheit und Nüchternheit von Bauprinzipien der Natur besonders anschaulich studieren kann. Hat man sie erst einmal zum Gegenstand einer Betrachtung gemacht, wird man einer Formenvielfalt gewahr, die es sonst in der Natur kein zweites Mal gibt. Familienszenen (O: ja) da war meine Mutter dann en bisschen dran schuld,
Dieser Äußerung kommt nun eine Schlüsselstellung zu. Zunächst ist festzuhalten, dass der Interviewee immer noch keine Erfahrung mit Insekten anführt, sondern rahmende Bedingungen benennt. Er ist also auf der Suche nach erklärenden Faktoren und nähert sich allmählich dem Thema an. Das entspricht einer vorsichtigen Öffnung, er offenbart sich in seinem Werdegang nicht vorbereitungslos. Wenn Sattler dann sagt, dass seine Mutter „en bisschen dran schuld“ war, dann ist damit ausgesprochen, dass seine Mutter maßgeblich daran beteiligt war, dass er Schmetterlinge gesammelt hat. Die Deixis „(da) dran“ bezieht sich nicht auf Insekten, sondern auf Schmetterlinge, der Mutter kam also eine wichtige Rolle dabei zu, dass Sattler seine Leidenschaft für die Insekten konkretisiert hat. Was bedeutet es aber, dass sie „en bisschen dran schuld“ war? Die Äußerung macht Sinn, wenn man annimmt, dass die Mutter die Sammeltätigkeit ihres Sohnes aufmerksam beobachtet und vielleicht auch liebevoll gutgeheißen hat, aber das Sammeln der Insekten ist ihr zu weit gegangen, und sie hat ihren Sohn dazu ermahnt, die Sammlung auf die
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Schmetterlinge im Sinne einer Kompromissbildung zu konzentrieren. Sie war also nicht unbedingt dagegen, aber sie hat Auswüchse zu unterbinden oder einzudämmen versucht. Vielleicht ist das auch im Hinblick auf den Vater geschehen. Die „Schuld“ der Mutter besteht also darin, das ursprünglich sehr weite Sammelgebiet auf die Schmetterlinge hin konzentriert zu haben. Im Hintergrund wird hier ein typischer Konflikt zwischen dem jugendlichen Autonomiestreben und der elterlichen Reglementierung der Freiheiten sichtbar. In den Insekten hatte sich eine ursprüngliche Leidenschaft für eine Sache vorbereitet, der dann aber nicht konfliktfrei nachgegangen werden konnte. Die Mutter hat dem Sammeln eine positive strukturierte Richtung gegeben und die Schmetterlinge sind als Kompromiss dabei herausgekommen. also bei Wanzen hat se gesagt, die kommen mir nich ins Haus, (lacht) bei Schmetterlingen hat se gesagt, das ist okay (O: ja) und äh
Die Mutter hatte eine klare Regel aufgestellt. Man kann sich gut vorstellen, wie der Junge vielleicht im Alter von dreizehn, vierzehn Jahren regelrechte Beutezüge in die Natur veranstaltet hatte und vom nahe gelegenen Wald oder Wiesenfeld stolz und neugierig ein Insekt nach dem nächsten mit nach Hause gebracht hat. Eine Heerschar von angeschleppten Tierchen wird die Wohnung bevölkert haben. In jeder Ecke des Kinderzimmers haben sie herumgelegen und wahrscheinlich waren auch einige dabei, die noch gelebt und sich in der Wohnung selbständig gemacht haben. Angesichts dieser Invasion hat sich beim Vater und der Mutter ein Wille zur Eindämmung geregt. Es ist ihnen einfach zu viel geworden. Die Eltern haben die Sammelleidenschaft als Auswuchs eines unstrukturierten Spleens interpretiert, den man einhegen musste. Gleichwohl haben sie keinen Feldzug begonnen, um das Sammeln grundsätzlich zu verbieten. In der Regel „Wanzen kommen mir nicht ins Haus“ werden die nicht mehr tolerierbaren Extreme festlegt. Bei Wanzen konnte sich die Mutter darauf berufen, dass sie allgemein als eine sozial geächtete Art bekannt sind. Dagegen konnte der Junge nichts machen, er hätte sich sonst explizit gegen die häusliche Hygiene gestellt. Dass gerade Wanzen erwähnt werden, bedeutet nicht, dass Sattler diese Tiere wirklich gesammelt hat, aber er wird auch solche Tiere mitgebracht haben. Es ist als rhetorische Figur in symbolisierender Zuspitzung gemeint. Die zweite Regel, nach der Schmetterlinge „o.k.“ sind, entspricht dann der Kompromissbildung, mit der die Auseinandersetzung zwischen Eltern und Sohn geregelt wird. In ihr anerkennt die Mutter die Leidenschaft des Jungen und der Junge, sofern er die Regel denn eingehalten hat, respektierte die mütterliche Autorität. Zugleich wird in der Regel das Objektfeld des Sammelns kanalisiert und die Leidenschaft auf die Schmetterlinge gelenkt. Die Leidenschaft wird also gar nicht beschnitten, sondern bezogen auf die Schmetterlinge sogar noch gesteigert. Der For-
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scher verdankt seiner Mutter also indirekt einen Schritt der Konkretisierung in der Erschließung seines Gegenstandes. Dies war ihre „Schuld“. Das Interesse für Insekten wurde nämlich auf ein Feld geführt, auf dem der Gegenstand sehr viel strukturierter und übersichtlicher erschlossen werden konnte. Zugleich hatte Sattler sich einen Freiraum erobert, in dem er seinem Forscherdrang konfliktfrei nachgehen konnte. Der Äußerung spürt man nach, dass er sich seinen Gegenstand schon erobert hatte. Wir haben hier eine instruktive Konfliktlösung zwischen Eltern und Sohn vor uns. Sie zeigt beispielhaft, wie ein wissenschaftliches Gegenstandsinteresse, das sich schon gebildet hatte, eine weitere intellektuelle Strukturierung und Verdichtung erfährt, weil der Kompromiss den Jungen zwingt, seine Leidenschaft zu disziplinieren. Mit dieser Disziplin verbindet sich gleichzeitig ein wichtiger Schritt seiner Individuierung. Sattler hatte mit der Sammlung der Insekten begonnen, sich ein inneres Reich auszubauen, in das ihm niemand folgen kann. Er hatte sich des Themas „Insekten“ angenommen und war dabei, sich ihrer auch physisch zu bemächtigen. Aber dabei war er angeeckt und mit den Wünschen und Bedürfnissen seiner Hausgenossen kollidiert. Er musste seine Leidenschaft entweder aufgeben, oder der elterlichen Regel folgen. Diese birgt aber das Potential einer Versöhnung mit der erzwungenen Einschränkung des Sammelfeldes. Je konsequenter Sattler nämlich nur Schmetterlinge sammeln würde, desto größer würde die Chance, dass er nicht nur etwas über diese Spezies, sondern auch über die Insekten im Allgemeinen in Erfahrung bringen kann. Denn an Schmetterlingen lässt sich vieles exemplarisch studieren, was sich auf andere Insekten übertragen lässt. Da wir wissen, was aus der Sammelleidenschaft geworden ist, können wir schließen, dass es genauso gekommen ist. Sattler hat dieses Potential ausgeschöpft. Die gelingende Individuierung und Ablösung vom Elternhaus erfolgt im vorliegenden Fall also nicht in schroffer Gegnerschaft, sondern in einer Identifikation und Versöhnung mit den Eltern, die es ermöglichen, dass Sattler sich seines Gegenstandes weiter und sogar gesteigert bemächtigen kann.1 1
In der Psychoanalyse hat der Begriff des Bemächtigungstriebes eher die Bedeutung eines Destruktionstriebes und Willens zur Macht. Freud sah Anteile dieses Triebes direkt in den Dienst der Sexualfunktion gestellt und eine sadistische Komponente darin. Hier ist dagegen viel mehr der Gewinn einer individuellen Autonomie thematisch, und nicht das Zerstörerische. Vgl. Freud, Sigmund: Das ökonomische Problem des Masochismus, (1924) GW, vol 13, Aufl 7. Frankfurt am Main, 1942. In den „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ von 1905 kommt Freud dem Phänomen allerdings näher; vgl. Freud, Sigmund: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Frankfurt a.M., 1972, S. 98 ff. Der Begriff der Bemächtigung findet auch in der Theorie über den Competence Drive eine Entsprechung. vgl. Moore, Omar Khayyam/Anderson, Scarvia B.: Modern logic and tasks for experiments on problem solving behavior. The Journal of psychology vol. 38 (1954),
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O: Insekten generell (S: ja, ja) eigentümlich ja, weil normalerweise Insekten ham doch eigentlich so für Kinder äh und also auch schon
Wahrscheinlich sollte gesagt werden, dass Insekten für Kinder normalerweise etwas Abscheu- und Ekelerregendes haben. Dass Kinder Liebhaber dieser Tiere sein sollen, wird verwundert kommentiert. Der Fragesteller setzt damit einen weiteren Stimulus. Die Erklärung des Interesses für die Insekten soll vertieft werden. S: Ah doch, ich sehs bei meinen Kinder (O: ja) also die sind fasziniert (O: ja) ja
Die eigenen Kinder werden als Erfahrungsquelle mobilisiert: Kinder sind durchaus von Insekten fasziniert, und zwar naturwüchsig. Dass dies unnormal sei, ist eine Mär der Erwachsenen. Der konkrete Antrieb: Verstehen der Formenfülle der Natur O: Was hat sie da fasziniert S: Es ist die Formenfülle, also ich mein (O: mhm) des isses und des ist auch was bis heute an und für sich zieht äh (O: mhm) fürn Biologen
Formenfülle ist eine interessante und prägnante Antwort. Formenfülle meint, dass es eine Grundform gibt und viele Variationen, in denen die Grundform immer wieder entdeckt werden kann. Der Reiz liegt in der Bestimmung von Differentia specifica und Tertium comparationis. Die Formenfülle tritt dem erkennenden Subjekt ins Bewusstsein, wenn er bereits eine Vielzahl an Tieren ähnlicher Erscheinung beobachtet hat und ihm aufgefallen ist, dass es Gemeinsamkeiten und Differenzen gibt, die sich sinnvoll vergleichen lassen. In der Formenfülle tritt dem Forscher außerdem die Reichhaltigkeit der Natur entgegen. Sie verweist auf Bauprinzipien des Lebens, zum Beispiel in der Art und Weise, wie verschiedene Spezies ihre Flugapparate ausgebildet haben; oder wie die verschiedenen Spezies bei der sexuellen Reproduktion das Problem gelöst haben, dass sich die einzelnen Individuen als geschlechtsreife Partner erkennen können. Da gibt es zahlreiche Varianten. Faszinierend ist daran vieles: Die Einsicht in den Findungsreichtum der Natur, in überraschende oder ungewöhnliche Problemlösungen, die die Anpassungsfähigkeit selbst an widrigste Bedingungen zeigt und somit die Kraft des Lebens überhaupt unterstreicht. Faszinierend ist auch der Grundzug der Natur, Problemlösungen hervorzuS. 151-160; dies.: Search behavior in individual and group problem solving, American Sociological review, vol. 19 (1954) 702-714; Vgl. auch Friedman, Lawrence. (1968). Drives and knowledge: a speculation. Journal of the American Psychoanalytic Association, 16, 81-94.
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bringen, die besonders einfach und leistungsfähig sind. Faszinierend ist der kognitive Reiz der Klassifikation und Bestimmung, die Zuordnung der Einzelexemplare zu den Klassen und Familien, Gattungen und Arten. Faszinierend ist schließlich die ästhetische Dimension der Formenvielfalt, die Pracht der Natur, welche die Vielfalt der Tier- und Pflanzenwelt sinnlich anschaulich als Schönheit, Formstimmigkeit, Farben- und Reizvielfalt erscheinen lässt. Formenfülle ist nicht etwas, das auf die Insektenwelt beschränkt wäre. Es gibt auch unter Vögeln, Fischen oder Säugern eine besondere Vielfalt, und wenn man die Biologie verlässt, findet man sie auch in der Geologie oder in der Kulturwissenschaft, etwa bei den Heirats- oder Bestattungsriten, bei den Sprachen, bei Milieus und vielem anderen. An diesem Seitenblick wird freilich eine wichtige Eigenschaft sichtbar: Insekten vermitteln die Formenfülle besonders anschaulich, sie ist an ihnen leicht zugänglich und springt förmlich ins Auge. Es gibt Tausende Formen. Hinter der Faszination für die Insekten steht also auch das Interesse am Reichtum selbst, an etwas, das hinter dem Leben selbst liegt: an der Anschaulichkeit seiner Prinzipien, an der inneren Gesetzmäßigkeit des Lebens. (O: mhm) ich mein wenn man sich umschaut auch wenn jetzt viele Arten aussterben, (O: ja) aber die Formenvielfalt die da ist, die muss man äh die ist faszinierend (O: ja)
Sattler ist bestrebt, das Faszinierende an der Formenvielfalt zu bekräftigen. Er stellt es dar als ein Tatbestand, der greifbar wird, wenn man sich ihm nur zuwendet. Es ist eine Frage der Wahrnehmungsoffenheit und ob Menschen dieser Faszination gewahr werden oder nicht. Die Faszination der Formenvielfalt ist nicht privatistisch begründet. Die Quelle der Faszination liegt nicht in der Subjektivität, sondern in der Natur und den Insekten selbst. Jeder könnte sie erfassen. Es hängt nicht an Vorbildung oder Schulabschluss, sondern an der ästhetischen Erscheinung. Wenn das wahrnehmende Subjekt allerdings seine Sinne nicht öffnet, kann es auch nicht von ihr affiziert werden. „Sich umschauen“ ist eine einfache Formel dafür. Es meint eine Lebenspraxis, die ihre Handlungen unterbricht, um innezuhalten, aufzublicken und sich der Umgebung in ihrer Gesamtheit zuzuwenden, notwendigerweise ein Moment der Muße. Sattlers These: Die Formenvielfalt ist ein Phänomen, das so kräftig ausgeprägt ist, dass es kaum übersehen werden kann. Selbst angesichts eines Rückgangs der Artenvielfalt bleibt dieser Sachverhalt noch bestehen. solange man Schüler ist und hinterher dann (O: ja) jetzt als wirklicher Biologe ist halt die Frage, wie entsteht diese Formenvielfalt
In der evolutionstheoretischen Fragestellung wird das hinter der Formenvielfalt wirkende Gesetz thematisch, und das Problem, die Formenfülle zu verstehen und
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erklärend auf etwas zurückzuführen. Diese Aufgabe geht aus der ursprünglich naiven, noch unverbindlichen Faszination des Schülers hervor. und äh das ist an und für sich die treibende Kraft dahinter, die äh (O: ja) was man wirklich verstehen will
Die Partikel „an und für sich“ lassen erkennen, dass dieser Formel eine zusammenfassende und abschließende Bedeutung zukommt. Die Formulierung bleibt jedoch auf eine interessante Weise opak. Die treibende Kraft ist einmal, dass man etwas verstehen will: die treibende Kraft beim Forscher: Das Rätsel-Lösen. Das andere Mal ist es das, was man verstehen will, also die treibende Kraft hinter der Formenvielfalt. Beides läuft hier ineinander. Der Hauptantrieb der Forschung liegt also in der Sache selbst und gleichzeitig darin, von ihrem Rätselcharakter affiziert zu sein. Sattler spricht hier für die Biologie im Ganzen. Es handelt sich um eine der Schlüsselrätsel, auf deren Lösung letztlich alle Forschungsbemühungen hinstreben. Die Frage nach der Formenvielfalt konstituiert die Biologie in ihrem Gegenstand und ist deswegen ein kollektiver Antrieb der Profession, unabhängig davon, ob der einzelne Biologe jene Frage immer konkret vor Augen hat. Eine solche Aussage ist das Ergebnis einer Rekonstruktion. Sie ist hier nicht programmatisch gemeint, sondern versucht auf der Basis persönlicher Erfahrung die Ausgangsproblematik des Faches zu benennen. Letztlich nehmen alle spezielleren Forschungsprojekte der Biologie ihren Ausgang von jener Frage der Formenfülle oder weisen auf sie zurück. Es lässt sich keine Frage denken, die noch allgemeiner wäre oder noch näher zum Zentrum stehen würde. Dies setzt voraus, dass die Frage bereits hinter vielen konkreteren Themen wiedererkannt wurde und viele logische Verknüpfungen zwischen ihr und anderen Fragestellungen hergestellt werden konnten. O: Und haben sie dann auch äh die äh gesammelt äh S: Jaja, jaja, ich hab also zuhause meine Schaukästen voll mit (O: ja) äh (.) mit Material und am Anfang macht man das halt da sammelt man alles was man so kriegt, (O: ja) und dann irgendwann spezialisiert man sich und desto mehr Bücher man dann liest dann wird das schon quasi zur (O: ja) zur Wissenschaft. (O: ja)
Nun wird der Übergang vom naiven Schüler zum reifen Forscher beschrieben. Am Anfang ist das Sammeln wahllos. Es kommt darauf an, viel Material zu haben, an dem man sich abarbeiten kann. Es folgt noch nicht einer inneren Ordnung, es gibt noch keine Kriterien. Dann wird irgendwann eine Spezies herausgegriffen und die Sammlung konzentriert sich. Fachwissen kommt hinzu. Die Suche wird dem systematisierten Gedanken unterworfen. Das Sammeln soll einen Sinn bekommen, es soll an das Wissen der Biologie angedockt werden.
282 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE Und das ist dann natürlich auch wirklich hilfreich, wenn man dann an die Universität kommt,
Das Sammeln ist also eine sehr gute Basis für das Studium an der Universität selbst, weil es das Lernen vorbereitet und man mit vielen Problemen schon vertraut ist und Anschauungsmaterial für sie im Kopf hat. Man hat einen Pool an Verknüpfungsmöglichkeiten. weil man mit all dem, was man lernt, viel mehr anfangen kann, (O: ja) wenn man das auf ne Gruppe beziehen kann, ist vollkommen egal, ob das nun Würmer sind oder Schmetterlinge oder (O: ja) äh Vögel (O: ja) ist vollkommen egal, (O: ja) man kann alles was man dann in der Naturwissenschaft im Unterricht lernt und auch hinterher an der Universität, man kanns beziehen auf diese jeweilige Gruppe (O: ja)
Das Universitätsstudium ist viel strukturierter, wenn es zuvor schon eine eigenständige Beschäftigung mit einer Spezies gab. Der Student ist dann in der Lage, das angebotene Wissen auf etwas zu beziehen. Er hat außerdem einen schon entwickelten Antrieb zur selbständigen Wissensaneignung. Er strukturiert sich seine Lernprozesse selbst. Unterstellt ist hier das Modell eines Studiums, in dem die Bildungs- und Lernprozesse von einem autonomen Wissensdrang vorangetrieben werden, und nicht das Modell einer verschulten Lernanstalt. Der autonome Forscher ist hier das Leitmodell des Universitätsstudenten, nicht der Fachmensch der Wissensapplikation. Studium ist hier wie selbstverständlich als Selbststudium gedacht. Die exemplarische Bedeutung der Spezies für die Sozialisation der Forscher wird abermals explizit herausgestellt. Welche Spezies es ist, ist zweitrangig. Worauf es ankommt, ist die Vertiefung in eine Materie. Sie ermöglicht, das später zu lernende theoretische und abstrakte Wissen immer wieder zurückzubinden und mit anschaulichem Material zu verknüpfen. Das erleichtert auch die kognitiven Lernprozesse. und das macht den entscheidenden Unterschied,
Er meint den Unterschied zwischen denjenigen, die schon in der Schulzeit begonnen hatten, eine Tierart genau zu studieren, und jenen, die ohne eine solche Vorgeschichte an die Universität kommen. (O: jaja) und sie sehen an der Universität halt auch, dass die Anzahl der Studienabbrecher unter den Leuten, die mit dem Hintergrund kommen, viel geringer ist als mit denen, die halt zuhause en Häschen hatten und deshalb die Tiere schön finden (O: ja) und meinen, sie müssen dann Biologie studieren, also die Abbrecherquote ist wesentlich geringer unter den
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Das Argument ist etwas ungnädig vorgetragen, aber in der Sache doch plausibel. Wer schon als Forscher an die Universität kommt, hält die Probe auf seine wissenschaftliche Standfestigkeit eher durch, als diejenigen, bei denen andere Motive bei der Studienwahl führend waren. Es gibt Motive, die einfach nicht kräftig genug sind. Hier ist es eine Tierliebhaberei, die als Fortsetzung einer infantilen Bindung an ein Übergangsobjekt belächelt wird. Andere Motivationen des Biologiestudiums: Ökologie O: Ham sie das denn ich weiß nicht äh zu welcher Altersgruppe sie gehören aber ham sie das denn äh noch mitbekommen oder war bei ihnen schon# es hat ja da noch mal so einen Motivationswandel gegeben bei Biologiestudenten äh dass also ökologische Fragen dann äh im Vordergrund eher standen als Studienmotivation bei vielen also (S: ähm) mir ham mal Biologen in Frankfurt gesagt, dass das ne deutliche S: Ja, ja, das war zu meiner Zeit waren die Anfängerzahlen sehr sehr hoch, (O: ja) und viele der Leute haben halt wirklich gedacht, das sind jetzt solche# das war ja so dass die Grünen aufkamen (O: ja) dann und da ham alle gedacht, ach ja, da gehen wir jetzt Biologie studieren,
Mit der Frage nach der Bedeutung der ökologischen Fragen für die Studienwahl wird ein Seitenpfad betreten, wobei nicht eindeutig ist, was mit ökologischen Fragen gemeint ist: die politischen Fragen des Umwelt- und Naturschutzes, oder die wissenschaftlichen Fragen nach dem Zusammenspiel einzelner Lebensformen, z.B. in einem Biotop. Man kann erschließen, dass das Studium von Herrn Sattler Mitte und Ende der 1980er Jahre gewesen sein muss, denn in diese Zeit fällt der Aufstieg der Partei „Die Grünen“, mit dem sich damals ein wachsendes politisches Bewusstsein für Umwelt- und Naturschutzfragen verband. Die hohen Anfängerzahlen im Fach Biologie werden in Korrelation hierzu gesetzt und die „ökologischen Fragen“ als Grund für sie bestätigt. Im Prinzip sagt Herr Sattler, dass bei vielen Studenten das Motiv der Studienwahl nicht auf einem echten Interesse an den Forschungsfragen der Biologie beruhte, sondern auf einer politischen Gesinnung oder auf einem berufsstrategischen Kalkül oder schlicht auf modischem Zeitgeist, der nicht durchschaut wurde. Die Leute haben entweder geglaubt, als Fachleute für ökologische Themen eine besonders verantwortliche Position im Gemeinwesen einnehmen zu können, oder sie haben gedacht, als Biologe an einem wachsenden Bedarf nach Öko-Fachleuten am Arbeitsmarkt und in der Industrie partizipieren zu können. Für beide gilt, dass viel zu naiv und wenig ernsthaft an das Studium herangetreten wurde. Die Ökologie steht nicht im Zentrum der Biologie und gibt auch nicht so viel her, als dass es die Anzahl der Studenten gerechtfertigt hätte. Das Wort „Anfängerzahlen“ deutet schon an, dass es viele Abbrüche und Studienfachwechsel gegeben hat, weil die wenigsten den Biss hatten, das Studium wirklich durchzustehen.
284 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE (O: ja) und man hätts an und für sich schon aus der Oberstufe wissen können, (O: ja) dass natürlich zuerst mal die Chemie im Vordergrund steht (O: ja) und die ersten vier Semester sind halt knallharte Physik und Chemie, (O: ja) und da werden en paar Tierchen bestimmt und Pflänzchen bestimmt, aber in Wirklichkeit geht’s darum, die naturwissenschaftliche Basis zu haben, (O: ja) und da brechen dann halt viele ab, weil sie dann sehen, (O: ja) das ist ja ne knallharte Naturwissenschaft, (O: ja) die im Grunde genommen ja noch viel komplizierter ist als die Physik, (O: ja) weil man kanns nicht so leicht auf mathematische Formeln reduzieren
Es muss viel Stoff gepaukt werden. Es handelt sich um eine schwierige Materie, die abstrakt und wenig anschaulich ist, und erst mal von den Herzensfragen, von den Tieren und Pflanzen wegführt. Sie ist knallhart, weil viel mit Formeln und Gleichungen gerechnet werden muss, deren Resultate exakt stimmen müssen, und weil Intuition und Einschätzungsgabe, also „weiche Fähigkeiten“, erst daran anschließen. Ebenso wenig gibt es Schlupflöcher oder Möglichkeiten des Ausgleichs. Man muss da durch. Und da resignieren dann viele. Die Biologie wird hier auf interessante Weise charakterisiert. Sie ist nicht das ‚weiche’ Fach, für das sie viele halten. Im Gegenteil. Sie baut auf den harten Fächern auf, und erst wenn man deren Grundlagen erworben hat, zeigt sich, dass die Biologie selbst noch einen Grad schwieriger ist, als die Physik, weil die Erschließung ihres Gegenstandes zwar deren Methoden und Verfahren voraussetzt, damit jedoch nicht auskommt. Das Leben der Organismen lässt sich nicht auf Formeln bringen. Es verlangt in noch stärkerem Maße, in Strukturen und Typologien zu denken. Mathematik hilft an einem bestimmten Punkt nicht mehr weiter. Die Biologie wird also in einer Aufstufung zu den anderen Fächern gesehen, was den Schwierigkeitsgrad anbelangt. Und viele Studenten, die ihr Studium aufnehmen und glauben, eine nicht ganz so schwierige, anschauliche Naturwissenschaft vor sich zu haben, merken, dass sie sich getäuscht haben. (O: ja) und äh und das ist halt ne Erfahrung, die man in Deutschland leider viel zu spät macht (O: ja) und äh dann brechen halt sehr sehr viele halt sehr sehr spät erst ab.
Eine Klage über die Studien- und Prüfungsordnung in Deutschland klingt an. Man könnte es eigentlich schon in der gymnasialen Oberstufe wissen, dass Biologie viel Grundwissen der Chemie und Physik verlangt, aber faktisch erfahren es viele erst im Studium und selbst dort noch viel zu spät. Das heißt, man kann die entsprechenden Leistungsnachweise in Chemie zeitlich vor sich herschieben. Man kann Seminare belegen, die den Interessen näher kommen, vielleicht sogar schon Hauptseminare besuchen, ohne das Vor- oder Zwischendiplom zu haben. Irgendwann, wenn die Vordiplomprüfung ansteht, kann man dem Schein in Chemie dann nicht mehr ausweichen. Wenn man dann scheitert, hat man viele Semester „umsonst“ studiert. Im Ausland ist das anders, wird unterstellt. Darin steckt ein Plädoyer für eine straffere Studienorganisation, was entweder die Kopplung von Wahlmöglichkeiten an
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Zwischenprüfungen bei anfänglich sehr verschulten Lernvorgaben bedeuten kann, oder eine zeitliche Befristung von Studienabschnitten, bei der der Student nach zum Beispiel fünf Semestern die Zwischenprüfung ablegen muss, so dass er gezwungen ist, in dieser Zeit sich mit der geforderten Materie zu befassen, obwohl er auch die Freiheit hat, andere Seminare zu besuchen. O: War das vorher etwas anders? Ich glaube schon, nich, äh vor dieser vor diesem Motivationswandel S: Vor dieser Zeit glaub ich waren also wenn ich jetzt hier bei meinen Kollegen oder auch bei den (O: ja) Professoren mir das so anschau, die ham natürlich zum größten Teil noch alles studiert, (O: ja) die waren dann wirklich interessiert an Naturwissenschaften und haben dann noch (O: ja) parallel Physik, Chemie, Biologie studiert, (O: ja) und das ist natürlich in den 80ern schon nicht mehr möglich gewesen.
Früher war das Interesse breiter angelegt. Man hat bis in die 1970er Jahre hinein noch viel stärker seinen allgemeinen Interessen an Naturwissenschaften nachgehen können. Der Gegenstand des Interesses war auch die Natur insgesamt, in allen Bezügen. Die Forscher entsprachen einem anderen Typus. Irgendwann vor 1980 ist es dann unmöglich geworden, so zu studieren. Gründe hierfür anzugeben ist leicht: Die zunehmende Stofffülle in der Biologie hat etwas anderes nicht mehr erlaubt. Der Berufsmarkt und die Laborpraxis haben eine frühere und konsequentere Spezialisierung verlangt. Und sicher spielt auch eine Rolle, dass ab Mitte der 1970er Jahre der Ausbau der Hochschulen zu Massenuniversitäten sich auszuwirken beginnt und gleichzeitig ab 1980 auch der akademische Arbeitsmarkt und dann die höheren Bildungsinstitutionen zunehmend unter den Druck der strukturellen Massenarbeitslosigkeit geraten. Durch beide Faktoren wandelt sich auch das Berufsbild des Naturwissenschaftlers. (O: ja) Aber da war das Interesse generell breiter, und da kam zum Teil dann auch die Spezialisierung später und ähm (O: ja) und das ist natürlich heute, wo so viel Wissen da ist, was man äh wirklich mehr oder weniger alles vereinheitlichen muss (O: ja) ist das schon schwieriger.
Nicht Waldläufer, sondern Jäger O: Ja (.) darf ich noch mal zurückkommen, wie muss man sich das vorstellen, als sie da mit vierzehn äh angefangen haben, sind sie da äh mit mehr so Art Waldläufer gewesen und haben draußen beobachtet oder S: Jaja, da gehen dann# da macht man sich halt en Netz und dann äh (O: ja) fängt man und bestimmt die Arten.
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Jetzt wird die Darstellung wieder sehr plastisch. Sattler hat sich seine Schmetterlinge selbst in der freien Wildbahn gefangen. Er ist an die Stellen im Feld oder Wald gegangen, wo er sie vermutet hat und ist dann mit seinem selbstgebauten Netz auf die Jagd gegangen. Er hat sich Material verschafft, das er dann bestimmen konnte. O: Und waren sie ganz alleine dabei oder hatten sie irgendeinen jemanden, der S: Ja wir ham zu zweit angefangen, der hat aber schon nach nem Monat oder zwei aufgegeben (O: ja)
Die Frage zielt auf den Zusammenhang von Interessenbildung und adoleszenter Vergemeinschaftung beim Sammeln der Schmetterlinge. Man findet unter Adoleszenten häufig Konstellationen, in denen Leute, die ein ausgeprägtes, intensives Interesse für etwas entwickeln, bei der Erschließung ihres Hobbys oder Interessengebiets sich mit Freunden zusammentun. Das Interesse kann dann im Rahmen solcher, meist gleichgeschlechtlicher Partnerschaften viel besser vorangetrieben werden. Sie ermöglichen viele und einen größeren Wirkungsgrad der Aktivitäten, fördern die Kommunikation und den Austausch über die Sache, geben Hilfestellung und leisten eine Bekräftigung. Offenbar scheint der junge Sattler aber ein sehr hohes Tempo vorgelegt zu haben oder er war sonst sehr anspruchsvoll. Der Freund ist deshalb nach einem Monat schon wieder ausgestiegen. Es wird hier so erinnert, dass jener Freund („der“) nicht mitgezogen hat, weil es ihm zu anstrengend wurde. und ich fand das dann äh (O: ja) sehr sehr spannend,
Er setzt also ohne seinen Freund die Streifzüge zu den Schmetterlingen fort. Das Fernbleiben des Freundes hat ihn nicht entmutigt. (O: ja) weil man natürlich auch en Erfolgserlebnis hat,
Hier ist thematisch, was Psychologen meinen, wenn sie vom Selbstbekräftigungstheorem sprechen: die Selbstbekräftigung einer Handlungsmotivation durch Erfolg.2 Man ist umso mehr motiviert, etwas erneut zu tun, wenn man Erfolg darin hatte, als man es das erste Mal getan hat. Erfolg macht ein Handeln zumindest vorübergehend so reizvoll, dass es immer wieder angestrebt wird, um das Gefühl des Gelingens zu wiederholen und auf Dauer zu stellen. Eine Aufgabenstellung erfolgreich meistern zu können und vielleicht sogar Anerkennung oder Lohn dafür zu erhalten, 2
Vgl. die Leistungsmotivationstheorie von Heckhausen, Heinz: Motivation und Handeln. Berlin 1989. Ähnlich argumentiert David McClelland in seiner Theorie eines Need for achievement. Vgl. McClelland, David: The achieving society. Princeton 1961.
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stimuliert dazu. Folglich lenkt Erfolg das Handeln in die Richtung einer Wiederholung und sofern dieses Handeln mit der Bearbeitung einer wiederkehrenden sich dynamisch entwickelnden Problemstellung verknüpft ist, wird daraus eine eigenständige Antriebskraft für die Vertiefung einer Sache resultieren. Das genau ist intrinsische Motivation. ich mein man sieht# man schaut sich zunächst mal diese Bücher und denkt, mein Gott, das kann man ja gar nicht alles behalten, wie viele Arten es da gibt (O: ja) und das hat man dann relativ schnell raus
Was hat man schnell raus? Gemeint ist der Dechiffrierschlüssel zur Bestimmung der Arten, die Ordnung der Arten nach einem Gesetz. In den einschlägigen zoologischen Büchern tritt dem Leser die Artenvielfalt in ihrer unüberschaubaren Fülle entgegen, schon geordnet und klassifiziert. Aber die Einteilungskriterien und Ordnungskategorien dort erscheinen abstrakt, wie ein Vokabelwissen. Es erschließt sich auf den ersten Blick nicht. Wenn man aber erst einmal Erfahrung hat und weiß, worauf man achten muss, verliert sich die anfängliche Schwierigkeit sehr rasch. Es stellt sich bald heraus, dass die Sache dem Forscher entgegenkommt, weil sie eine innere Ordnung preisgibt, deren Logik allmählich rekonstruiert werden kann. Denn, so könnte man das erläutern, es gibt zwar eine unüberschaubare Vielzahl an Schmetterlingsarten, und eine große Spannweite an Körpergrößen, Flügelfarbmusterungen, Fühlerlängen, Metabolismus. Wenn die einzelnen Arten jedoch in Beziehung zueinander gesetzt werden, zeigen sich bald zentrale Merkmale, die immer wiederkehren und nicht beliebig häufig variieren. Man lernt zum Beispiel auf das Geäder der Flügelpaare zu achten. Es gibt Schmetterlinge, bei denen das Geäder des vorderen und des hinteren Flügelpaares gleich ist, und solche, bei denen es ungleich ist. Das ist ein zentrales Merkmal, das die zwei Unterordnungen der Schmetterlinge (Homoneura, Heteroneuma) kennzeichnet. Bei den Homoneura sind die Flügel durch ein Jugum genanntes Schüppchen am hinteren Rand des Vorderflügels verbunden, bei den Heteroneura durch eine Haftborste am Vorderrand der Hinterflügel. Man lernt zudem strukturelle Ähnlichkeiten kennen, die auf eine Verwandtschaftsnähe der Arten schließen lassen. Das hier unterstellte Erfahrungswissen ist also nicht das einer Klassifikationsnomenklatur, die subsumtionslogisch angewandt wird, wie bei einer Merkmalstabelle, sondern das mehr oder weniger implizite Wissen einer geschulten Wahrnehmungsorganisation, bei der viel über Ahnung und Intuition läuft. Es ist eine schlussfolgernde Wahrnehmung, die sich der inneren Ordnung der Artenvielfalt mimetisch angeschmiegt hat und über ein mehr oder weniger elaboriertes Bild von der Zusammenhangsstruktur der Artenvielfalt verfügt. Da diese „innere Ordnung“ der Artenvielfalt letzten Endes auf die metamorphotischen oder Entwicklungsgesetzlichkeiten verweist, die der Evolution selbst zugrunde liegen, funktio-
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niert diese Wahrnehmung wie ein ästhetischer Vorgriff auf das Wissen jener Gesetze. Sie ahnt, welche Arten auf eine gemeinsame Wurzel zurückgehen, aus welchen naturgeschichtlichen Verzweigungen Verwandtschaftslinien herrühren und welche strukturellen Ursachen und Bedingungen für eine Fortentwicklung verantwortlich sein könnten. Die Wahrnehmungsorganisation erfasst diese Logik, ohne sie immer schon begrifflich explizit erklären zu können, über die strukturellen Ähnlichkeiten der Arten. Sie operiert als eine Mustererkennung und ist folglich primär ästhetischer Natur. Das klassifizierende Vorgehen geht aus diesem Mustererkennen erst hervor, es ist niemals führend. Im Grunde genommen haben alle Menschen ein solches implizites Wissen, eine Mimesis an die Naturgesetze. Es ist freilich beim Forscher ungleich besser geschult. Bei ihm ist die Wahrnehmung besser im genauen Hinblicken und Erkennen von Zusammenhängen trainiert. Er beginnt schon beim Betrachten ein gedankenexperimentelles Durchvariieren der entscheidenden Parameter. In seine Wahrnehmung ist die Frage: Was wäre wenn? immer schon eingebaut. Sein Erfahrungswissen lässt den naturwüchsigen Empirismus des Anfängers hinter sich, der zu Beginn glaubt, es mit einer ungeordneten Vielfalt zu tun zu haben. und das Erfolgserlebnis war dann natürlich immer da, ich mein man könnte dann egal ob man mim Bus zur Schule fuhr oder äh spazieren ging, man konnte dann, wenn man die zweidreimal gesehen hatte, wusste man ganz genau, das ist die Art, das ist die Art, das ist die Art, und das ist natürlich O: Also der Reiz des Bestimmens war auch S: Ja (O: ja) ja, ja, also Ordnung in dieses Chaos zu bringen, (O: mhm) weil en Normalsterblicher mit den ganzen Arten gar nix anfangen kann, (O: ja) das war schon faszinierend, (O: mhm) und das hatte dann natürlich zum Beispiel auch aufs Elternhaus Auswirkungen, weil die können das mittlerweile natürlich auch alle, ja also meine Mutter kann
Für die Frage der Motivation des Forschers ist diese Stelle sehr aussagekräftig. Was genau war faszinierend? Zunächst der Reiz des Bestimmens selbst, und: Ordnung ins Chaos bringen. Sattler verknüpft diese Fähigkeit aber sofort mit einer sozialen Bedeutung: Er konnte etwas sehen, das „Normalsterbliche“ nicht sehen können und das hat selbst eine faszinierende Auswirkung gehabt. Sattler ist in den Genuss einer geistesaristokratischen Exklusivität gekommen. Er konnte etwas erschließen und dem Chaos der Formenvielfalt einen Sinn geben, der anderen verborgen blieb. Das hat ihn zum „Anführer“ einer Gefolgschaft gemacht, zu der auch seine Eltern gehörten, denen er einen Zugang zu den Insekten ermöglicht hat. Das ist nochmals ein ganz neuer Aspekt unserer Generalthese, dass Forschung im Kern eine stellvertretende Krisenbewältigung darstellt. Der junge Sattler hat seiner Herkunftsgemeinschaft, die sonst vielleicht blind oder ahnungslos gegen Insekten geblieben wäre, durch seine Leidenschaft und Begabung die Welt der Insekten eröffnet. Seine Ver-
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wandten haben bei ihm gelernt, es ihm nachgemacht oder sich mitreißen lassen und können nun selber ganz gut bestimmen. Durch ihn hat sich ihnen also ein Stück Naturerkenntnis und Naturästhetik erschlossen. Wieder wird die Mutter herausgehoben, die offenbar identifiziert mit ihrem Jungen an dessen Bildungsprozess besonders partizipiert hat. Sattler erwähnt sie anerkennend, geradezu stolz, obwohl er den Satz ja gar nicht zu Ende bringt. Die Mutter-Sohn-Beziehung beinhaltete also offenbar auch eine Art Bildungsgemeinschaft, aber hier ist der Sohn der Meister und die Mutter die Schülerin. Man muss daraus schließen, dass Sattlers Mutter ein positives und aufgeschlossenes Verhältnis zur Sammelleidenschaft ihres Sohnes gehabt haben muss und beide einen guten Draht zueinander hatten. Sie konnten sich offenbar eine Sache gemeinsam anschauen und sich austauschen. Die Mutter scheint sich wirklich interessiert gezeigt zu haben und konnte die Begabung ihres Sohnes als Bereicherung ihres eigenen Lebens begreifen. Sie musste sie nicht als Bedrohung eines narzisstischen Selbstbildes abwehren, musste es nicht belächeln oder ironisieren oder sonst wie entwerten. Das spricht für eine gelungene MutterSohn-Beziehung. Doch nicht nur das Elternhaus hat sich mitreißen lassen. Es ist nur ein „Beispiel“. Es waren offenbar auch Freunde, Mitschüler, die über ihn zum Bestimmen von Insekten gekommen sind. Sattler erwähnt ja den Schulbus oder das Spazierengehen, also soziale Situationen, in denen man mit allen möglichen Leuten unterwegs ist. Er wird bei solchen Gelegenheiten Arten bestimmt haben, die ihm über den Weg gelaufen sind, und andere haben ihm zugehört und sich von ihm erklären lassen, woran man eine Art erkennen kann. Das hat ihnen etwas eröffnet und diese Art der Gefolgschaftsbildung hat wiederum Sattler als solche fasziniert. Warum? Es hat ihm offensichtlich gezeigt, dass er nicht nur Arten bestimmen kann, sondern dass er anderen das „Bestimmen“ auch vermitteln kann. Er konnte sie zum Zuhören und Mitdenken anregen, ihnen zeigen, wie man bestimmt und in der scheinbar chaotischen Formenvielfalt eine innere Ordnung sichtbar macht. Das hat ihm viel Anerkennung eingebracht. Diese Erfahrung geht einher mit einer Bestätigung seiner Begabung und bestärkt sein eigenes Interesse an die Sache, denn er fühlt in eine nicht mehr allein private, sondern schon quasi öffentliche Rolle vor, die ihn später zum Sprachrohr der Biologie werden lässt. Die Herausgehobenheit in seiner Peergroup gilt zwar auch ihm, Sattler als konkretem Menschen, aber vermittelt über die Sache, die er zum Sprechen bringen kann. Das bestärkt die Bindung. Man kann hier schon Etappen seiner frühen Sozialisation zum Forscher erkennen. Die Entwicklung beginnt mit dem Versuch einer Bemächtigung der Insekten als eines Sammelgebietes. Dieses Unternehmen führte Sattler in einen Konflikt mit seinen Eltern, die seine Sammeltätigkeit begrenzen wollten. Im „Schmetterlings“Kompromiss wird der Konflikt geregelt und der Gegenstand kanalisiert, die Leidenschaft aber von den Eltern auch anerkannt. Die Kanalisierung hatte sicher zur Folge, dass die Sammeltätigkeit sich disziplinieren musste, das Sammelgebiet wurde
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aber zugleich überschaubar und konkreter und dies kam gewiss auch der Übung des Bestimmens der Arten zugute. Je besser der junge Sattler darin wurde, desto größer wurden seine Sicherheit und sein Fachverstand. Das hat ihm ermöglicht, anderen, z.B. auch seinen Eltern zu zeigen, wie man bestimmt. Die ganze Entwicklung hatte eine positive Auswirkung auch aufs Elternhaus insofern, als Sattler die Neugierde für Insekten im Zentrum seines Herkunftsmilieus verankern konnte und seinen Eltern und Freunden etwas erschlossen hat, das eine Bereicherung ihres Lebens darstellt. Für die soziologische Analyse des Forscherhabitus ist dabei zentral, dass es die primäre Vergemeinschaftung von Familie und Peergroup ist, in der diese Entwicklung zuerst anhebt. Sattlers Forscherlaufbahn beginnt im Schoße seines sozialisatorischen Herkunftsmilieus und ist dort verwurzelt. Dass er hier so früh sich erfolgreich mit den Schmetterlingen individuieren konnte, indem er sich eine Position erstritten hat, in der seine Begabung und Leidenschaft für andere nützlich und wertvoll, anregend und interessant werden konnte, hat den Weg in die Forschung sicher ungemein bekräftigt. Damit ist der spätere Beruf bereits angebahnt. Denn dieser Erfolg hat den jungen Sattler angespornt, den eingeschlagenen Weg weiter zu beschreiten und nach Gelegenheiten zu suchen, seine Position zu bestätigen und auszubauen. O: Die wussten auch genau, was sie ihnen zu Weihnachten zu schenken hatten nich oder S: Jaja, war wunderbar jaja O: Ein Bestimmungsbuch nach dem andern S: Ein Bestimmungsbuch nach dem andern, (O: ja) ein Kasten nach dem andern, das war halt# das ist ja alles nicht so billig für son Schüler, (O: jaja) also das ist nicht
Sattlers Eltern wussten jahrelang genau, womit ihm am meisten eine Freude zu machen war. Aber die Bestimmungsbücher und Kästen waren nicht nur Geschenke, sondern haben ihn auch materiell unterstützt. Das heißt, er hätte sie sich auch selbst gekauft, wenn er sie nicht bekommen hätte. Aber das hätte sein Schüler-Budget an Taschengeld gesprengt. Daraus spricht auch Dankbarkeit gegenüber den Eltern für die erfahrene Unterstützung. Es ist hier gut zu sehen, dass Sattler das Sammeln über Jahre kontinuierlich und mit großer Konsequenz betrieben hat. Das Sammeln war kein vorübergehender Spleen der Jugend und wird als Vorgeschichte des späteren Berufs betrachtet. Es hält im Prinzip immer noch an und ist untrennbar mit der Persönlichkeit von Sattler verbunden.
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„Jugend forscht“ O: Und ham sie dann auch# ham sie schon vor dem Abitur dann angefangen, das auch äh also äh wissenschaftlicher zu machen, also zum Beispiel mikroskopieren und so Sachen? S: Na, Mikroskopie brauchte man dazu (O: braucht man nicht) nicht, ich hab dann „Jugend forscht“ gemacht zweimal (O: ja) und das erste Mal war ne rein faunistische Arbeit und beim zweiten Mal ähm (O: ja) (.) also das hab ich aber an und für sich# also das zweite Mal hab ich dann nur gemacht, weil ich ähm halt aus rela# nicht primitiven Verhältnissen komme, aber aus Arbeiterverhältnissen, (O: ja) und äh ich wusste, ich will jetzt studieren und das Studium würde teuer werden (O: ja) und man konnte da je nachdem wie weit man kam (O: jaja) konnte man en Stipendium gewinnen, (O: ja) und deshalb hab ich’s dann im zweiten Jahr noch mal gemacht und äh das war dann schon ne hochwissenschaftlich Arbeit ähm (O: ja) mit dem Stipendium ists trotzdem nix geworden, aber ist egal.
Weitere Stationen auf dem Weg in die Wissenschaft werden erwähnt. „Jugend forscht“ ist ein bundesweiter Schülerwettbewerb, zu dem Schüler von ihren Fachlehrern vorgeschlagen werden. Sattler muss schon im Gymnasium als begabter Schmetterlingskundler bekannt gewesen sein. Er hat sogar zweimal am Wettbewerb teilgenommen: Beim ersten Mal mit einer Arbeit, bei der das Bestimmen einer Art gefordert war. (Faunistik ist die Wissenschaft vom Tierreich.) Beim zweiten Mal gab es schon strategische Absichten. Da er studieren wollte, aber die finanziellen Mittel des Elternhauses begrenzt waren, hat er gehofft, ein Stipendium zu bekommen. Auch wenn es nicht geklappt hat, muss die zweite Arbeit eine wichtige Bestätigung gebracht haben, denn mit ihr verbindet sich noch im Nachhinein das Gefühl eines besonderen Gelingens auf hohem Niveau. Auf diese „hochwissenschaftliche Arbeit“ ist er immer noch stolz. Er muss damals den Eindruck gewonnen haben, dass er an das höchste Niveau heranreicht. Entweder haben ihm dies die Juroren und seine Lehrer vermittelt, oder er war schon so selbstbewusst in seinem Sachurteil, dass er sich von dem Misserfolg im Wettbewerb um ein Stipendium nicht mehr hat abschrecken lassen. Er war schon so weit, dass er sich nicht mehr von dem Plan eines Studiums hat abringen lassen. Interessant ist die Beschreibung des sozialen Status seiner Herkunftsfamilie. „rela# nicht primitiven Verhältnissen, aber aus Arbeiterverhältnissen“. Er hatte offenbar zunächst den Satzplan: „weil ich halt aus relativ primitiven Verhältnissen komme“. Dann bemerkt er eine Unangemessenheit und verbessert sich. Er will eigentlich sagen, dass seine Eltern ihn nicht viel haben unterstützen können, deshalb die Bewerbung um ein Stipendium. Es geht eigentlich um den finanziellen Spielraum. Das Wort „primitiv“ drückt aber mehr aus, nämlich dass er aus einem bildungsfernen Milieu stammt, in dem man für eine akademische Laufbahn auch kulturell und intellektuell nicht gut gerüstet wird. „Primitiv“ bedeutet ‚unentwickelt‘, ‚behelfsmäßig‘, ‚archaisch‘. Der Wortgebrauch deutet also an, dass Sattler
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seinen Bildungsweg ohne große Hilfen aus eigener Kraft hat bewerkstelligen müssen. Schon das Abitur hat er sich weitgehend alleine erkämpft. Jetzt kennt er als Direktor eines Max-Planck-Instituts die akademische Welt und das bildungsbürgerliche Milieu, und er kann die kulturellen Differenzen der Milieus einschätzen. Im Nachhinein kommt ihm vieles zu Hause einfach und primitiv vor, und vielleicht hätte er es sich manchmal anders gewünscht. Aber er will auch nicht undankbar sein und nimmt deshalb das Wort primitiv sofort wieder zurück. (O: ja) Und das war dann ähm (.) das war dann schon mehr Wissenschaft, (O: ja) die äh wirklich ins Detail gehen musste.
Die richtige Wissenschaft beginnt, wenn die Erfassung der Oberfläche geleistet ist und es tiefschürfend wird. „Ins Detail gehen“ ist im Deutschen eine schöne Redewendung für die Erschließung eines allgemeinen Sachverhalts über seine konkreten Einzelheiten. Wer ins Detail geht, will etwas genau wissen, und dabei ist die Rückkehr zum Allgemeinen immer schon eingeplant. Details sind nicht die Teile eines Ganzen, sie sind dieses Ganze selbst, wie es sich darstellt, wenn der Blick auf es in eine Naheinstellung gebracht wird. Im Detail zeigt sich, dass ein Gegenstand viel differenzierter ist, als es der erste Eindruck vermittelt. Es treten Einzelheiten und Zusammenhänge hervor, die für sich betrachtet werden können und etwas zum Verständnis des Ganzen beitragen. Allerdings ist ein einzelnes Detail doch wiederum nicht der ‚ganze, Gegenstand. Was das Ganze ist, lässt sich erst sagen, wenn jedem seiner Details nachgegangen wurde. Wer also ‚ins Detail geht,, muss alle Einzelheiten erfassen, sonst bleibt die Analyse unvollständig und wird womöglich zum Zerrbild. Es reicht ferner nicht aus, die Details einzeln abzuschreiten, wie eine unzusammenhängende Reihe. Jede Detailbetrachtung muss in Beziehung gesetzt werden. Erst so entsteht das Gesamtbild. „Ins Detail gehen“ meint also ein sequentielles Erschließung, das vom Allgemeinen zum Konkreten und vom Konkreten wieder zurück zum Allgemeinen führt: Eine Bewegung, die mit dem Ziel einer Präzision des Wissens allgemeiner Strukturen durchgeführt wird. O: Von wo aus haben sie das gemacht, von welcher# äh wo sind sie aufgewachsen äh in S: Ich bin in der Kölner Gegend aufgewachsen, (O: in der Kölner Gegend, aja) und das zweite hab ich dann gemacht, als ich beim Militär war, die zweite „Jugend forscht“-Arbeit, (O: ja) und das war dann O: Also nach dem Abitur S: Nach dem Abitur, das war dann (O: ja) an der Universität mit hochauflösender Rasterelektronenmikroskopie, (O: ja) das war dann schon ein bisschen überkandidelt an und für sich für „Jugend forscht“ O: War eigentlich schon nicht mehr „Jugend forscht“
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S: Das war schon nicht mehr „Jugend forscht“, deshalb hats auch am Ende nix geklappt, weil man sich gesagt hat, (O: ja) also das hat ja mit Schule nix mehr zu tun, das (uv) (O: ja) ist leider heutzutage sehr sehr häufig so, ich mein jetzt mittlerweile ist die Phase vorbei, aber wenn man sich die Siegerarbeiten anschaut, das ist schon fast Diplomarbeitsniveau, (O: ja) ich hätte die Arbeit auch damals schon locker als Diplomarbeit abgeben können, das wär so (uv)
Seine zweite „Jugend forscht“-Arbeit hat offenbar den Rahmen dessen gesprengt, was sich die Juroren unter Schülerarbeiten vorstellten. Er selbst sieht es im Nachhinein auch so. „überkandidelt“ besagt aber nicht, dass der Einsatz des Mikroskops nicht gerechtfertigt gewesen wäre, sondern dass der „Jugend-forscht“ Wettbewerb nicht mehr der richtige Rahmen für diese Art Arbeit war. Es wird darin auch ein Dilemma dieses Förderprogramms sichtbar, obwohl der Zusammenhang nicht vollständig klar wird. Wenn „Jugend forscht“ ein Wettbewerb sein soll, der möglichst vielen guten Schülern ein Anreiz geben soll, sich mit den Naturwissenschaften zu befassen, dann ist es ein Problem, wenn das Niveau der Siegerarbeiten so hoch ist, dass es bereits an die Universität heranreicht. Denn damit gerät das Ziel der Breitenförderung ins Hintertreffen. Senkt man aber bewusst die Maßstäbe ab, dann bremst man hochbegabte Schüler aus. Offenbar hatten die Funktionäre des Wettbewerbs früher eine andere Linie als heute, denn „die Phase ist vorbei“. Gemeint kann nur sein, dass früher so aufwendige Arbeiten wie die von Sattler gar nicht erst berücksichtigt wurden, während heute keine Beschränkungen mehr gegeben werden. O: Ja, ja, mhm. Haben sie gleich Biologie dann studiert S: Ich hab dann sofort Biologie studiert ja, da war für mich &(uv)& O: &War das klar&, an welche Universität sie gehen? S: Äh (..) ja ich hab dann zuerst in Köln studiert zwei Jahre, (O: ja) ums billiger zu machen und bin dann halt gewechselt und bin dann für zwei Jahre kurz nach XYZ [Name einer Universitätsstadt] gekommen, (O: ja) weil unter den Top-Universitäten XYZ die einzige war, die offen war in den 80ern, (O: ja) weil mit den hohen Studentenzahlen war das schwierig, (O: mhm) und die waren da die einzigste (.) klassische Top-Universität, die offen war (O: ja) in der biologische Fakultät.
Sattler bleibt zunächst an der heimischen Universität, um zu Hause wohnen bleiben zu können. Offenbar hatte er nach vier Semestern das Vordiplom bereits erlangt gehabt. Der Wechsel nach XYZ erfolgt dann nicht, weil er unbedingt ‚von zu Hause weg’ wollte, sondern weil die erste Universität den Ansprüchen nicht mehr genügte und ein Wechsel ohnehin selbstverständlich war. Hier ist das Motiv auch die Pluralität der Studienorte, an denen man sich bewähren muss. Und an dieser „klassischen Top-Universität“ in XYZ standen Studienplätze zur Verfügung, an anderen nicht. Es wären also auch andere gute Hochschulen in Frage gekommen. Der entschei-
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dende Gesichtspunkt war hier, dass die Güte der Ausbildung gesteigert werden sollte. Das drückt das Selbstverstrauen und Selbstbewusstsein aus, mit dem Sattler studiert hat. Da er in XYZ nur zwei Jahre war, muss er den Abschluss übrigens nach der Regelstudienzeit gemacht haben. Der forschende Lehrer als Vorbild O: Mhm. (...) Hatten sie auch äh in der Schule dann äh äh mit# gab es irgendeinen Lehrer, der äh S: Ja, das gabs dann schon, also ich muss sagen jetzt im Nachhinein äh (.) hab ich das Glück gehabt, die Lehrer# wir hatten jetzt erst vor kurzem Klassentreffen (O: ja) und da hab ich das gemerkt äh wie jung die Lehrer damals alle waren (O: ja) weil es sind immer noch dieselben Lehrer und die sind mittlerweile natürlich frustriert 20 Jahre später, (O: ja) aber wir hatten damals das Glück, dass wir ne ganz junge Lehrertruppe hatten (O: ja) in den Naturwissenschaften und in Geographie und so
Der Interviewer wirft einen anderen Aspekt ein: Das Thema Schulerfahrung und Vorbildcharakter der Lehrer. Gab es Lehrer, die für die spätere Forscherlaufbahn wichtig waren? Sattler bejaht sofort, aber das wird zugleich auf eine Sonderbedingung zurückgeführt. Es ist nicht der Schule als solche anzurechnen, es gab einige junge Lehrer, die frisch von der Universität kamen. Man kann sich leicht ausmalen, was sie zu Vorbildern hat werden lassen. Ähnlich wie es Schluchter (Fall 5) schildert, werden sich die jungen Lehrer den Lehrstoff im Unterricht und bei der Vorbereitung ganz anders vorgelegt haben, als dieselben, frustrierten Lehrer zwanzig Jahre später. Sie werden sich vieles noch selbst immer wieder klargemacht haben, waren dankbar für aufmerksame Zuhörer, und der Lehrstoff hat sich ihnen deutlicher vor dem Hintergrund offener Forschungsfragen präsentiert. Zwanzig Jahre später war das alles vom Schulalltag abgeschliffen worden, die Neugierde und Offenheit für die krisenhafte Situation des Forschens hatte sich verbraucht. Wie selbstverständlich wird hier unterstellt, dass Lehrer nach zwanzig Jahren Beruf „natürlich frustriert“ sind. O: Wann ham sie wann ham sie Abitur gemacht S: Ich hab 83 Abitur gemacht O: 83 ja das waren dann Lehrer, die# das müssen dann fast 68er-Lehrer noch gewesen sein S: Jaja, jaja, jaja, die waren das schon (O: ja) und der Biologielehrer, den ich hatte, der hat dann nebenher promoviert (O: ja) an der Kernforschungsanlage und das war dann schon ein anderes Niveau und das war sehr wissenschaftlich und äh im Nachhinein war das sehr äh sehr wichtig natürlich
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Der Lehrer hat selbst geforscht, das hat sich in den Unterricht hinein mitgeteilt und das Niveau gehoben. Da der Lehrer selbst an die Forschung angedockt war, konnte er gar nicht anders, als den Lehrstoff „wissenschaftlich“ zu behandeln. Herr Sattler hat also bereits in der Schule eine Vorform der Einheit von Forschung und Lehre erfahren können. Genau das wird als „sehr wichtig“ bezeichnet. Der Biologielehrer wird der Klasse ständig „nebenher“ von seiner Arbeit, ihren Fortschritten und Problemen, von der Kernforschungsanlage in Jülich o.ä. berichtet haben. Die anspruchsvolleren Schüler haben dies aufgegriffen und auf Vertiefung gedrängt. O: Der war in Jülich oder wo S: In Jülich, ja, ja (O: mhm) und das war dann natürlich vom Unterricht her# der kam neu an die Schule (O: ja) hatte Chemie, Biologie war (O: ja) wirklich Hardcore-Naturwissenschaftler und (O: ja) promovierte nebenher und der hat uns schon hart rangenommen (O: ja) und das war für viele (.) Leute, die an und für sich das nur als Schulfach hatten, war das natürlich (O: ja) schon en bisschen schwierig, (O: ja) aber ich hab das natürlich genossen und äh (O: ja) er natürlich auch, wir waren da so en paar in der Klasse, wo das wirklich ?tiefging?
Der Lehrer war ein richtiger Wissenschaftler und ist in der Naturforschung voll aufgegangen. Er hatte offenbar noch eigene Ambitionen in der Forschung, sonst hätte er nicht die Promotion angestrebt. „Hardcore“ ist hier übrigens als Anerkennung gemeint. Einer, der es wirklich ernst gemeint hat. Das Autoritätsproblem, das jüngere Lehrer oft haben, hat er durch anspruchsvollen Unterricht aufgehoben. Er hat viel vorgegeben und viel abverlangt. Das heißt, er ist sehr in die Materie hineingegangen und hat viele naturwissenschaftliche Fragen und Modelle zusätzlich besprochen, wenn es sich angeboten hat. Der Unterricht wurde immer am Rande dessen gehalten, was der Lehrplan und Zeithaushalt an Themenausweitung und –Vertiefung zuließ. Sattler hat diesen Unterricht damals schon nicht als normalen Unterricht wahrgenommen. Für ihn war es bereits eine Vorform der Forschungssituation. Es ist interessant, wie sich das hier ausdrückt. Er grenzt sich von seinen damaligen Mitschülern ja ab, für die Biologie ein „normales Schulfach“ gewesen sei, und für die jener Unterricht deshalb eine starke Belastung dargestellt haben muss. Auch für ihn war Biologie natürlich ein Schulfach, mit Prüfungen, Klausuren und Benotungen. Aber das scheint für ihn überhaupt keine Rolle gespielt zu haben. Er sieht sich als Teil einer Gruppe von Schülern, die mit dem Lehrer den Biologieunterricht genutzt haben, um ihren weit über den schulischen Zweck hinausgehenden Interessen an der Biologie zu folgen. Sie haben nicht für Klausuren und Noten gelernt, sondern um in die Biologie hineinzukommen. Dazu haben sie den Unterricht umgewandelt in eine Sonderveranstaltung, und es ist hier unterstellt, dass dies an der Schule eigentlich nicht vorgesehen ist. Das Verbindende zwischen dem Lehrer und jener Schülergruppe ist die Hingabe. Dieses Verbindende wird noch Jahre danach als ein Ausdruck der Kollegialität betrachtet. „Ich habe das genossen und er natür-
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lich auch“. Es war ein glückliches Zusammentreffen von Gleichgesinnten, ohne das eine solche besondere Lernsituation nicht möglich gewesen wäre. Der Schüler und der Lehrer haben sich als Partner betrachtet, die sich etwas geben konnten. Aber das war keine Zweierbeziehung, sondern es gab eine Gruppe von mehreren Schülern, die wie eine verschworene Gemeinschaft waren, eine richtige „Hardcore-Truppe“, deren Zentrum und Vorbild der junge Lehrer war. O: Sie hatten dann ne Arbeitsgemeinschaft wahrscheinlich S: Jaja, jaja, jaja O: Leistungskurs auch S: Leistungskurs ja (O: ja) und bei dieser „Jugend forscht”-Arbeit hat er mich dann betreut (O: ja) und das war das war O: Also der hat sie auch gefördert könnte man sagen S: Jaja, jaja, das äh (O: ja) muss man schon sagen, also der hat also wirklich die Leute, die wirklich interessiert waren hat er gut gefördert
Er legt Wert darauf zu betonen, dass nicht er allein gefördert wurde, sondern alle, die interessiert waren. Es gab ein universalistisches Kriterium und das war Interesse. Seine Förderung beruhte nicht auf Sympathie, sondern auf intrinsischer Motivation. Persönliche Begabungen, schulische Schwächen O: Waren die sprachlichen Fächer für sie dann eher ne Last
Der Interviewer setzt das Gespräch mit einer Suggestivfrage fort. „Wenn hier so viele Begabungen vorliegen, müssen dort doch eigentlich auch Schwächen zu finden sein!“ S: Ähm ja das muss ich schon sagen, also alles (O: ja) ähm Geschichte nicht, also (O: ja) Geschichte hab ich mit Begeisterung gemacht,
Sprachen waren also eine Last. Alle Fächer, die nicht mit Naturwissenschaft zu tun hatten, waren eine Last: Englisch, Französisch oder Latein, Religion, Deutsch, Gemeinschaftskunde, die Fächer des humanistischen Bildungskanons. Geschichte hat ihn aber interessiert. Warum? Geschichte hat mit der Biologie natürlich viel gemein. Alles, was man sich anschaut, kann als Ausdruck einer Entwicklung betrachtet werden, deren Verlauf rekonstruiert werden muss. aber die sprachlichen Fächer und Sozialwissenschaften und so &waren also& (O: &jaja&) ja (O: ja) und das war halt ähm (..) muss ich also schon wenn ich dran zurückdenke also die
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Mittelstufe war schon generell ne Last, (O: ja) wo einem immer vorgeschrieben wurde, was man machen muss und langsam wurde das alles schwieriger und (O: ja) für mich war also dann die Oberstufe ne Erleichterung, ich konnte endlich machen, was ich wollte (O: ja) und ähm ich mein viele nutzen das ja dann aus und wählen diese einfachen Fächer aber (O: jaja) es war ne wirkliche Erleichterung, dass man endlich machen konnte, was man wollte (O: ja) und ähm (O: ja) und an der Uni war das dann natürlich noch freier und noch besser.
Sattler ist jemand, der vom alten System der Leistungskurse wirklich profitiert hat, das es erlaubte, bestimmte Fächer ab Jahrgangsstufe 12 abzuwählen. Er hat die Freiheit begrüßt und für sich nutzen können, weil er endlich seinen Interessen folgen konnte. Er konzediert, dass diese Freiheit auch eine Dünnbrettbohrerei ermöglicht hat, was viele Mitschüler ausgenutzt hätten, indem sie einfache Fächer wählten. Aber für ihn hat es bedeutet, dass er sich ganz auf die Naturwissenschaften konzentrieren konnte. Die nächste Frage eröffnet nun ein neues Thema. Es wird ein Bogen geschlagen von den biographischen Konstellationen zur gegenwärtigen Antriebsmotivation des Forschers. Die Faszination an der gegenwärtigen Arbeit O: Ja (...) ähm dann ist es fast müßig, sie zu fragen äh was sie an ihrer gegenwärtigen Arbeit fasziniert (...) S: Ähm (...) ja mittlerweile sind es viele Sachen,
Die Frage entspricht der Eingangsfrage der anderen Interviews. Allerdings wird unterstellt, dass man sich die Frage eigentlich sparen könnte. Das ist rhetorisch ganz geschickt, weil es der Frage den konfrontativen Charakter nimmt, denn es ist nach dem, was bisher klar wurde, keineswegs müßig zu fragen, was Sattler an der gegenwärtigen Arbeit fasziniert, sondern nur, ob ihn etwas fasziniert. Letzteres ist klar, ersteres war noch gar nicht thematisch. Die Frage richtet unscheinbar das Thema neu ein. Sattler geht erst nach einigem Zögern, insgesamt sechs Sekunden, auf sie ein und fächert seine Antwort gleich auf, wobei deutlich wird, dass zu der anfänglichen Faszination für das Forschen selbst noch viele andere Aspekte des Berufs mit den Jahren hinzugekommen sind. ich mein natürlich die Biologie steht nach wie vor im Vordergrund, aber jetzt ist natürlich (.) das ist natürlich der Traumjob schlechthin (O: ja) ähm man hat die höchstmögliche Sicherheit, die man in der Wissenschaft haben kann als Max-Planck-Direktor, (O: ja) ähm (..) und trotzdem der Job ist abwechslungsreich (O: ja) wie er abwechslungsreicher nicht mehr sein könnte
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Sattler hat bereits begonnen, das Spektrum seiner Tätigkeiten über die eigentliche Forschungsarbeit hinaus auszuweiten, und das wird mit dem Direktorenposten erklärt. Ohne dass dies schon ausgeführt wäre, ist klar, was gemeint ist: Als MaxPlanck-Direktor hat man viele Aufgaben in der Menschenführung, in der Forschungsplanung, in der Institutsverwaltung und Gremienpolitik der Max Planck Gesellschaft. Man gestaltet die Wissenschaftslandschaft mit, lernt viele neue Leute kennen, arbeitet international, kommt viel in der Welt herum, ist gefragt als Gutachter und Vortragsreferent und kann über viele Belange der eigenen Arbeit relativ weitreichend mitbestimmen. Der Abwechslungsreichtum ist kaum mehr steigerungsfähig. Das Besondere ist, dass die Aufgaben aus einer komfortablen Situation der materiellen Sicherheit angegangen werden können. Man kann sich ihnen stellen, ohne dass die eigene Karriere von einem erfolgreichen Agieren abhinge. Die unkündbare Lebenszeitstelle ermöglicht dem Max-Planck-Direktor eine geistesaristokratische Haltung, die es nach sich zieht, dass er sich immer neuen Herausforderungen stellen kann. Es ist nicht so, wird hier unterstellt, dass der Wissenschaftler in Routinen erstarrt, wie das sonst der Fall ist, wenn eine materielle Sicherheit erreicht ist. Sein Beruf bietet eine unendliche Fülle abwechslungsreicher Tätigkeitsfelder. und man kann äh sich dann wenigstens wenn man so jung berufen wird wie in meinem Fall (O: ja) man kann sich also en junges Team zusammenstellen von Leuten, die alle, - so viel jünger wie ich sind die auch nicht (O: ja) die meisten und das ist im Moment natürlich ne tolle Phase, wo man wirklich äh die Leute begeistern kann und äh die ziehen also wirklich richtig mit (O: ja) und da ist der Altersunterschied noch nicht so dramatisch und das ist schon ne (O: ja) ne tolle Sache, also jetzt die jetzt die Jahre äh genieß ich also ganz besonders,
Da er selbst noch relativ jung ist (38 Jahre), sind seine Mitarbeiter ebenfalls noch sehr jung. Der Altersdurchschnitt liegt deutlich unter vierzig Jahren, was die Dynamik in der Gruppe enorm erhöht. Die meisten haben die Karriere noch vor sich und stehen in der produktivsten Phase ihres Lebens. Sie sind deshalb besonders wach und kritisch, was die Fragen anbelangt, auf die sie ihre Karriere verwetten sollen, aber auch offen für interessante und erfolgversprechende Forschungsprojekte. Die Begeisterungsfähigkeit der Mitarbeiter ist hoch, aber es ist auch anspruchsvoll, die Begeisterung wach zu halten. Das Team zusammenzuhalten, die Laborarbeiten immer wieder miteinander zu verklammern, ist eine schwierige Aufgabe. Dr. Sattler ist es aber gelungen, das Team hinter sich zu versammeln. Trotz des geringen Altersabstandes hat er wie selbstverständlich eine Führungsposition inne. „die ziehen also wirklich richtig mit“ ist eine Formel für Gefolgschaft; er kann sich auf seine Mitarbeiter verlassen und darauf, dass sie das Forschungsprogramm selbständig voranbringen. Die ganze Konstellation ist für Sattler ideal, es macht Spaß. Er hat die Stufenleiter erklommen. Der institutionelle Karrieregipfel ist er-
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reicht. Aber er ist noch längst nicht am Ende seiner Kräfte, sondern kann seine eigene Energie mit der seiner Mitarbeiter bündeln. Inhaltlich ist also der Höhepunkt längst noch nicht erreicht. (O: ja) in 10 Jahren wird’s mal anders sein, und dann ist man mehr in diesen Verwaltungssachen und Kommissionen und Gremien (O: ja) das fängt schon langsam an leider, aber ähm
Er sieht voraus, dass irgendwann der aktive Part seiner Forschertätigkeit vorüber sein wird. Da gibt er sich keinen Illusionen hin. Der Sog in die Verantwortlichkeiten der Wissenschaftsverwaltung ist zu groß, man kann sich dem nicht entziehen. Das wird zwar bedauert, aber es ist unvermeidlich. Es gehört zum normalen Lauf einer Karriere. O: Ja. Wie lange sind sie jetzt schon auf dem Posten? S: Ähm ich bin berufen worden im April 99. O: Mhm, also zwei Jahre, zweieinhalb Jahre S: Und dann mussten wir zuerst mal umbauen (O: ja) und also wir sind jetzt hier auf dem Stockwerk seit Mai (O: mhm) seit Mai 2000, also anderthalb Jahre, (O: mhm) und vorher hat ich zwar die Stelle, aber da hat ich an und für sich keinen Platz um die ganzen Stellen die (uv) zu besetzen und wir ham also quasi erst nach dem Umbau wirklich anfangen können zu expandieren und diesen großen (uv) zu bauen.
Es geht um die Gründungsphase, die soziale Geburt seiner Forschergruppe. Er hat die Forschergruppe ins Leben gerufen, ihr das Arbeitsprogramm mitgegeben, ist ihr Zentrum. Dies ging aber nicht einfach glatt über die Bühne. Er musste erst für die Behausung sorgen. Das Gebäude musste zunächst umgestaltet, Laborplätze mussten eingerichtet werden. Die Handwerker waren aber nicht so schnell wie erhofft. Da die Räume nicht bezugsfertig waren, konnten auch keine Doktoranden und Postdocs eingestellt werden. Folglich hat sich der Start um über ein Jahr verzögert. Wenn Sattler im April 1999 zum Max-Planck-Direktor berufen wurde, dann war er im Dezember 2001, dem Zeitpunkt des Interviews, zwei Jahre und sieben Monate im Amt. Faktisch hat sein Team also eineinhalb Jahre wirklich forschend arbeiten können. Jetzt ist es etabliert und läuft. Mit 36 Jahren berufen zu werden ist übrigens auch für die Max Planck Gesellschaft ungewöhnlich früh und unterstreicht die Erwartungen, die in ihn gesetzt worden waren.
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ABSCHNITT II. AUFGABEN
EINES
F ORSCHUNGSDIREKTORS
O: Äh hat sich das schon äh ergeben während ihres Studiums in XYZ, hatten sie da schon Kontakte S: Nach hier? (O: ja) Nein, neinneinnein, nee, so geht das ja auch überhaupt nicht, (O: ja) also ich mein man kann ja keine eigenen Gewächse nehmen,
Sattler tritt sofort einem möglichen Missverständnis entgegen. Er hat zwar einige Semester in XYZ studiert, aber er hatte in dieser Zeit keinerlei Kontakte zum hiesigen Max Planck Institut. Seine Berufung keine Hausberufung. Dabei wird eine Regel zur Geltung gebracht. Direktoren dürfen nicht am selben Ort, an dem sie ihre wissenschaftliche Sozialisation durchlaufen haben, berufen werden. Es ist aus Sicht eines Instituts nicht gut, eigene Leute zu nehmen. Es fehlt die persönliche und wissenschaftliche Unabhängigkeit. Es untergräbt die Qualität und Autonomie, und diese sind selbstverständlich oberstes Gebot. So geht das ja auch überhaupt nicht. also ich hab nur kurz hier studiert zweieinhalb Jahre und hab dann in München promoviert (O: ja) Diplomarbeit und Doktorarbeit in München gemacht und war dann in Amerika PostDoc in [Ort in Kalifornien] (O: ja) und hab mich von da aus halt zurückbeworben auf ne Nachwuchsgruppe, die es hier gab im Haus, das war eine von diesen Fünfjahresstellen, (O: mhm) und die hätte ich# die hab ich angetreten 95 und die wär also gelaufen bis voriges Jahr (O: mhm) und wir sind auch immer davon ausgegangen, das sind fünf Jahre und halt in fünf Jahren müssen wir weg
Die Laufbahn ist seit dem Studium von Flexibilität und lokaler Ungebundenheit geprägt. Das „Wir“ bezieht dabei auch seine Familie, seine Frau ein. Das Paar, die Familie hat auf Abruf gelebt, wusste, dass wieder ein Umzug bevorstehen würde. „Nachwuchsgruppen“ sind eine Einrichtung, die es an fast allen MPIs gibt und die einem Postdoc ermöglicht, mehrere Doktorandenstellen zu besetzen und eine Forschergruppe um sich herum aufzubauen. Der Leiter gibt ein Forschungsprogramm vor und führt das Team. Eine Verlängerung von Fünfjahresstellen ist nicht vorgesehen. Diese Nachwuchsgruppe wurde von den Sattlers daher nur als Durchgangsstation angesehen. (O: ja) und ich hab dann wieder angefangen, mich zurück zu bewerben nach Amerika und hab dann den Ruf bekommen, der für mich ganz überraschend kam, weil ich den nicht erwartet hatte O: Nach Amerika oder S: Neinnein, den die (O: Ach so hier) MPIler waren dann schneller O: Also sie mussten nicht den Umweg
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S: Ich musste gar nicht, ich bin also nur übern Hof gezogen von da drüben nach hier und O: Und sie mussten auch nicht äh den Umweg machen über en andern Ruf oder S: Nein musst ich musst ich nicht (O: ja) das ist halt mittlerweile das muss man schon sagen, das sieht schon dumm aus, die Max-Planck-Gesellschaft hat das en paar Mal gemacht, vor allem in der biologisch-medizinischen Sektion in den letzten paar Jahren, dass die Leute# eigene Nachwuchsleute nicht genommen hat (O: ja) und erst wenn sie dann gerade# in Frankfurt ist jetzt auch wieder passiert (O: ja) mit dem [Eigennamen] ähm dass die Leute erst mal an die Uni mussten und dann zwei Jahr später hat man se genommen, (O: ja) und das ist wirklich Vergeudung von Steuergeldern, (O: ja natürlich) also da muss man schon die (O: ja) (.) das Selbstbewusstsein haben, die Leute zu nehmen auch wenn nicht erst die Universität gesagt hat, das ist C4-würdig.
Sattler hatte sich also von XYZ wieder nach Amerika beworben, als die fünf Jahre Nachwuchsgruppe zu Ende gingen. Noch bevor er dort eine Stelle annehmen konnte, hatte ihm das MPI jedoch eine Direktorenstelle angetragen. Er muss also einen hervorragenden Eindruck hinterlassen haben, so dass die Max-Planck-Gesellschaft ihn unbedingt halten wollte. – Der Interviewer unterstellt nun wie selbstverständlich, dass die Max Planck Gesellschaft durchaus eigene Wissenschaftler zu Direktoren beruft, aber das Hausberufungsverbot so strikt auslegt, dass sogar Nachwuchsgruppenleiter noch als Eigengewächse angesehen werden, die darum erst an anderen Stellen zusätzlich unter Beweis stellen müssen, dass sie berufungswürdig sind. Das wird als „Umweg“ bezeichnet, was unterstellt, dass es für den betroffenen Wissenschaftler und seine Sozialisation eigentlich nicht mehr wichtig ist. Es ist aber die Normalität in der Berufungspraxis der MPG. Sattler kritisiert diese Praxis, weil die Max Planck Gesellschaft mit diesem Verhalten der wissenschaftlichen Laufbahn ihrer Forscher und letztlich sich selbst schade. Die wissenschaftliche Arbeit von Nachwuchsgruppenleitern, die als Kandidaten für eine Direktorenstelle gehandelt werden, wird ausgebremst; man riskiert, dass sie gar nicht mehr an die MPG zurückkehren und an fremde Institute verlorengehen. Sattler plädiert dafür, schon die „Berufung“ auf eine Nachwuchsgruppenleiterstelle als ausreichend anzusehen, wenn diese erfolgreich ausgefüllt werden konnte. Er mahnt eine größere Unabhängigkeit der MPG von den Universitäten an, was das Qualitätsurteil über einen Wissenschaftler angeht. Das ist interessant, er denkt über Regeln der Nachwuchsrekrutierung nach und nimmt die Interessen der MPG in den Blick. Er ist hier Wissenschaftspolitiker. Die Kaiser Wilhelm Gesellschaft war übrigens mal auch mit dem Ziel gegründet worden, erfolgreichen Universitätsprofessoren die ungebremste Arbeit an ihrem Forschungsprogramm zu ermöglichen, indem ihnen ein reines Forschungsinstitut zur Verfügung gestellt würde, das sie hinreichend ausstattete und in dem sie von Lehrverpflichtungen freigestellt wären. Voraussetzung war aber in der Tat, dass es eine erfolgreiche Laufbahn innerhalb der Universität bereits gegeben hatte, die als der eigentliche Ort der Prüfung von Berufbarkeit auch auf Direktoren-
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posten der MPG noch lange angesehen wurde. Diese Praxis findet Sattler überholt. Er möchte die MPG noch weiter aus den universitären Ursprüngen lösen. O: Ja. Ja. (..) Äh S: Aber das läuft ja jetzt ganz gut also mit dem neuen Präsidenten oder jetzt fast alten Präsidenten den wir haben, (O: ja) der hat das schon geändert. O: Ja. (.) Äh ist der der direkte Nachfolger von Lüst gewesen (.) der S: Nein, da war jetzt der Herr (.) Zacher war dazwischen, das war en Jurist O: Ach richtig, jaja stimmt S: Zacher war dazwischen und jetzt Markl ist jetzt auch schon O: Ja ist schon drei Jahre nich oder vier Jahre S: Sechs Jahre O: Sechs Jahre S: Jetzt im Juni ist (.) zuend. O: Ja. (.) Ja Lüst hab ich noch# ich hab am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung früher gearbeitet, (S: aha) da hab ich den Lüst noch erlebt, der war noch (.) ja S: Nee Zacher war in der ähm (.) nach der Wiedervereinigung O: Ja richtig ja (..) jaja (.) was war der für äh was war der noch mal für für Spezial# was hatte der, Verfassungsrecht oder S: Äh nee ich glaub des war ausländisches Recht aber ich bin mir nicht sicher
Unterschiede zwischen der Universität und Max Planck-Instituten. Ausstattung, Verwaltung, Finanzbudget O: Irgendwas jaja (..) ja (.) äh (.) wenn wir da schon sind äh wie würden sie das denn sehen also die ähm die Diff# zum Beispiel Ausstattungsdifferenz Universität-Max-Planck-Institute, wie hat sich das entwickelt aus ihrer Sicht S: Och, wie hat sich das entwickelt, ich mein die Universität kann man mittlerweile nicht mehr über einen Kamm scheren,
Die Aussage ist bezogen auf die Klage, dass die Universitäten nicht so gut ausgestattet seien, wie die MPIs. Das stimmt so nicht mehr, wird angedeutet. Einige Universitäten sind heute so gut ausgestattet, dass sie mit den MPIs verglichen werden können. Andere fallen ab, so dass dieser Vergleich unfair wäre. Man kann nicht mehr pauschal urteilen. Früher war das anders. Da stand die universitäre Forschung insgesamt zurück, wird unterstellt. Der strukturelle Vorteil der MPIs, wenn es ihn denn gibt, ist nicht (mehr) überall in der Ausstattung begründet. also es ist äh bei Max Planck ist natürlich ne Einheitlichkeit gegeben (O: ja) das ist immer gut ausgestattet, bei der Universität das liegt ähm an der Uni, es liegt am Fachbereich und es liegt an der eigenen Person, (O: ja) also das kann man nicht mehr# also wir haben hier in XYZ
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Gruppen, die sind genauso gut ausgestattet wie wir auch, (O: mhm) und dann gibt’s einige, die sind arm und äh (O: ja) da kann nicht viel passieren, und ich glaub, das ist quer übers Land verteilt, also äh O: Ja, ja das hängt auch von den Ministerien äh stark ab S: Also wenn ich so zu zoologischen oder biologischen Kolloquien eingeladen bin, also das ist an allen Universitäten (O: ja) da denkt man, mein Gott, denen geht’s aber gut, (O: ja) und dann kommt man wieder irgendwo anders hin und denkt, das ist ja furchtbar, (O: jaja) also das geht rauf und runter. O: Ja. (.) Und äh und die äh (.) bürokratische Seite (uv) S: Die bürokratische Seite ist der eigentlich große Vorteil den wir hier haben, (O: ja) also das ist so ein minimaler Verwaltungsaufwand, (O: ja) also ich bin jetzt gerade geschäftsführender Direktor ähm also wir sind über 200 Leute im Institut und haben sechs Leute in der Verwaltung, und das ist ähm das ist ideal, (O: jaja) also ich mach die Geschäftsführung mit der Verwaltungsleiterin und dem Assistenten der Geschäftsführung, wir treffen uns einmal pro Woche für zwei Stunden, und dann ist O: Ja wunderbar ja S: Dann gibt’s manchmal noch mal en paar Kleinigkeiten, die man bereden muss am Telefon aber das ist es an und für sich, und das glaub ich ist en riesiger äh Vorteil den der Max Planck hat O: Ja, ja sicher
„Max Planck“ wird wie der Gründer einer Firma behandelt. Das ist eine Redeweise, wie sie in der Industrie noch unter älteren Arbeitern oder Angestellten oft anzutreffen war, die ihre Firma mit ihrem Besitzer identifizierten. Die Institution wird mit seinem Namen gleichgesetzt. Und Sattler ist damit gewissermaßen identifiziert, wie ein Stahlarbeiter mit Krupp oder Thyssen. Die MPG wird in dieser Perspektive wie ein Wettbewerber gesehen. Ihr Vorteil ist die schlanke Verwaltung. Es handelt sich nicht nur um die zweihundert oft ausländischen Wissenschaftler, die betreut und arbeitsrechtlich verwaltet werden müssen, sondern um vier große Abteilungen mit jeweils mehreren Labors, Computeranlagen, Bibliotheken und Archiven, die eine systematische Materialwirtschaft verlangen. Dazu gehört die Beschaffung und Instandhaltung von Labormaterialien, Gerätschaften und Computern, der Zuchtbetrieb für die Versuchstiere, der Bücherkauf, die Pflege der Liegenschaften, die Planung von Neubauten sowie die Wartung der Hausanlagen (Heizung, Klima etc.). Hinzu kommen ein Fuhrpark, ein Mensabetrieb und das Gästehaus. Selbst wenn der Materialeinkauf zentralisiert ist und viele Wartungs- wie Planungsleistungen in Auftrag gegeben werden, muss dies alles organisiert werden und verlangt Entscheidung und Koordination. Die Organisation des MPI ist also schlank und effizient. Dem Geschäftsführer, immer einem der Direktoren, dem ein Assistent zur Seite gestellt ist, steht eine Leiterin der Verwaltung gegenüber. Die verbleibenden vier Stellen leisten die Personal- und Hausverwaltung, Labormaterialbeschaffung und Com-
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puter/Gerätschaften. Bedenkt man, dass auch Urlaubszeiten anfallen, ist dieser geringe Aufwand wirklich bemerkenswert. Eine solche schlanke Verwaltung verlangt hervorragend eingearbeitete und motivierte Verwaltungskräfte, die sich mit ihrer Arbeit und dem Institut identifizieren. Sie bedeutet ‚kurze Wege’ und gibt der Verwaltung kaum Gelegenheit, sich als Sozialkörper innerhalb des Instituts zu verselbständigen. Das heißt, die Mitarbeiter sind auch persönlich gut in die soziale Welt der Wissenschaftler integriert und es gelingt, dauerhafte Querelen zwischen Verwaltung und Wissenschaft zu vermeiden. Das ist nur möglich, wenn die Verwaltung ein klares Bewusstsein davon hat, wem und was ihre Arbeit eigentlich dient, und es erfordert ein Geschick der Verwaltungskräfte im Umgang mit den Wissenschaftlern und ihren nicht immer einfachen Charakteren. Der geringe Zeitaufwand für die Geschäftsführung des Direktors spricht für eine eingespielte Praxis, die ohne eine sehr gut organisierte Verwaltungsspitze nicht denkbar wäre. Der Spagat zwischen Forschung und Selbstverwaltung S: Und es bleibt immer noch genügend Zeit, äh und die muss ich auch# das ist meine Priorität, dass ich wirklich noch nahe genug an der Bench bin und äh (O: ja) wirklich den Leuten auf die Finger kucken kann, (O: ja) weil wenn man jetzt in mein# also ich bin jetzt 38, also wenn ich jetzt äh schon den Bezug zur äh Praxis verlieren würde, dann wär das natürlich schlimm bei so viel Jahren, die da noch kommen, und das kommt früh genug, äh früher oder später und dann muss man da muss man aufpassen.
Diese zentrale Stelle des Interviews erlaubt einen Einblick in eine wichtige Übergänglichkeit in der Forscherlaufbahn, nämlich die von der eigenen wissenschaftlichen Arbeit zu den Aufgaben in der Selbstverwaltung, der Forschungspolitik etc. Das englische Wort „Bench“, das über den Jargon der Unternehmensberater („Benchmark“) ja auch in die Umgangssprache eingegangen ist, bedeutet ursprünglich Bank, besonders auch Regierungs- und Richterbank und darüber hinaus Richteramt. Es ist sinnbildlich eine Sitzbank gemeint, auf der Entscheidungen getroffen und Richtlinien oder Maßstäbe gesetzt werden. Das Wort hat aber auch die Bedeutung der Werkbank und des Experimentiertisches. Ihm kommt mithin eine doppelte Bedeutung zu. Die „Bench“ steht für den Forschungsplatz selbst, für den Ort, an dem der Biologe seine Präparationen vornimmt und Befunde mikroskopiert, für den einzelnen Laborplatz. „An der Bench“ zu sein bedeutet deshalb im übertragenen Sinne, direkt an der Forschung dran zu sein. Die Bench ist die Quelle des Neuen und der wissenschaftlichen Wertschöpfung. Ein Forscher ist dann ‚direkt an der Bench’, wenn er weiß, was an den Forschungsplätzen aktuell geschieht. Und das weiß er am besten, wenn er durch eigene Forschung an der Bench präsent ist. Er kann aber auch dann noch Kontakt zur „Bench“ halten, wenn er selbst zwar nicht
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mehr forscht, jedoch weiß, was die anderen machen. Damit werden Grade der Entfernung von der „Bench“ thematisch. Sattler behandelt das Thema unter einem persönlichen und einem beruflichen Gesichtspunkt. Von der Bench entfernt sich der Wissenschaftler, je mehr Aufgaben er in Verwaltung und Wissenschaftspolitik übernimmt. Sie absorbieren Zeit und Aufmerksamkeit. Das kollidiert mit der Aufgabe eines Institutsdirektors, der ein Forschungsteam ja auch intellektuell zu leiten hat. Der Direktor muss wissen, was „an der Bench“ läuft, sonst kann er weder die Arbeit seiner Doktoranden und Mitarbeiter richtig einschätzen, noch sein Forschungsprogramm weiter vorantreiben. Darüber hinaus sieht Sattler das Problem, dass eine zu frühe Übernahme von Posten der Selbstverwaltung auch dieser selbst schadet, bei der ja auch gefordert ist, dass der Wissenschaftler genau weiß, was eigentlich Forschung ist und was ihre je aktuelle Lage und Verfasstheit sind. Wenn er sich erst einmal davon abgeklemmt hat, verblasst das Wissen darum doch zunehmend, und das ist auch für den Forscher persönlich schlecht, denn es bedeutet geistige Verarmung und Verknöcherung in der eigentlichen Berufstätigkeit. Das Problem sieht Sattler auf sich zukommen, es ist unvermeidbar. Der Prozess hat schon begonnen, sonst müsste er nicht seine „Priorität“ in der Forschung setzen. Aber er kämpft noch dagegen an, zu früh und zu stark in forschungsferne Verantwortlichkeiten einbezogen zu werden. O: Ja, bei älteren Kollegen sehen sie das so, äh selbst bei Max Planck, äh dass die
Das Problem ist dem Interviewer auch bekannt. Er dachte nur, dass es sich hauptsächlich um ein Problem der Universitäten handelt. Dass es auch bei der MPG ins Gewicht fällt, verwundert ihn. S: Ja, (O: ja) ja weil ich mein die Kommissionsarbeit# ich mein da haben wir natürlich als Max-Plancker halt den Nachteil, wenn man dann im eigenen Land mal bekannter ist, (O: ja) das dauert Gott sei Dank ne Weile, (O: ja) aber wenn die Universitäten einen dann erst mal erkannt haben als Gutachter, (O: ja) dann hängt man natürlich oft drin,
Mit der Reputation wächst gegenüber der Profession die Pflicht zur Übernahme von Gutachten. Das ist wie ein Sog, der einsetzt. Max-Planck-Direktoren sind besonders exponiert, weil sie in der MPG manchmal ganz alleine ein Forschungsgebiet repräsentieren. Wenn sie erfolgreich sind, spricht sich das rasch herum. Sie können sich nicht so leicht im Betrieb verstecken, wie Universitätsprofessoren. Da die Universitäten einen riesigen Bedarf an Gutachtern haben, (bei Drittmittelverfahren, Berufungen, Strukturplanungen, Evaluationen), sind die Max-Planck-Leute besonders gefragt, weil sie einen unabhängigen Status genießen. Steht man erst einmal auf der Liste möglicher Gutachter, wird man immer wieder angefragt.
306 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE und man ist natürlich unbefangen, das ist (O: ja) ganz klar, äh wir müssen durch diese DFGTöpfe nicht so sehr durch, ja ich mein wir werden da gefragt, damit SFBs durchkommen (O: ja) und damit man den Stellenwert en bisschen hebt, aber sonst ist es schon so, dass wir natürlich unbefangen sind und nicht so viel in den Töpfen drinhängen und von daher natürlich viel besser äh begutachten können,
Der Max-Planck-Direktor wird als unabhängige und daher besonders glaubwürdige Urteilsinstanz geschätzt. Den Universitätsprofessoren wird hingegen nicht in demselben Maße vertraut, denn Professoren sind zu stark in den Wettbewerb um Drittmittel „verstrickt“. Insbesondere die Universitäten selbst und die DFG wissen das, und deshalb kommt dem neutralen Außenblick ein besonderes Gewicht zu. Es wenden sich aber auch SFBs an Sattler, die ihre Außenreputation aufgewertet sehen wollen und sich dabei von ihm eine Aufwertung erhoffen. Der MPI-Direktor kann dem nachkommen, indem er Sondergutachten erstellt, als Kooperationspartner auftritt oder sich für Vorträge oder Buchbeiträge einspannen lässt. Auch das kostet Zeit. Sattler markiert selbst, dass solche Gefälligkeiten die Unbefangenheit der Gutachterstellung eher wieder einschränken. Der MPI-Direktor betreibt hier Richtungspolitik und das ist immer eine Gratwanderung. Wird man zu solchen Hilfestellungen eingeladen, muss man also immer abwägen, worauf man sich einlässt. Pflichten gegen die Profession oder gegen den Souverän? (O: jaja klar) und das ist auch irgendwo ne Verantwortung, die man hat, ich mein wenn man so viel Geld jedes Jahr vom Steuerzahler kriegt, ohne wirklich regelmäßig hinterfragt zu werden, wie guts ist, dann muss man da auch en bisschen zurückgeben, (O: jaja) das ist schon klar.
Eine interessante Formulierung. Die Pflicht zur Übernahme von Gutachten erwächst aus der Verantwortung gegenüber der Profession, aber auch gegenüber dem Volkssouverän, der die Wissenschaft alimentiert. Die Interessen der Profession und des Volkssouveräns sind dabei im Prinzip deckungsgleich: Knappe Steuergelder sollen in der bestmöglichen Weise eingesetzt werden. Die Profession muss dafür sorgen, dass die Mittel dorthin fließen, wo die besten Leute und die interessantesten Ideen sitzen. Und sie muss notfalls auch unangenehme Entscheidungen treffen und schlechte Projekte abbrechen oder veraltete Institute schließen. Der Einzelforscher hat die Pflicht zum Mitwirken. Es ist hier aber außerdem nahegelegt, dass die MaxPlanck-Direktoren eine gesteigerte Verpflichtung haben, weil sie besonders privilegiert sind. Sie genießen so viele Freiheiten, sind so gut ausgestattet, dass sie sich der Gutachterpflicht stellen müssen. Wie ist das aber genau gemeint? Sind sie ihren Kollegen von der Universität verpflichtet, die nicht so privilegiert sind? Oder sind sie dem Steuerzahler verpflichtet, der sie mit diesen Privilegien ausstattet? Ersteres
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würde von der Autonomie der Profession ausgehen. Letzteres würde präsupponieren, dass es zwei Klassen innerhalb des Berufsstandes gibt und dass die Max Planck-Leute eine Elite der Profession darstellen, die dem Staat hilft, nicht so exzellente Institute und Universitäten im Namen einer exzellenten Wissenschaft auf den Prüfstand zu stellen. Das wäre natürlich problematisch, weil dieser Elitestatus ja nicht institutionell verallgemeinert werden kann. Er muss ja in jedem Einzelfall immer erst unter Beweis gestellt werden. O: Ja Verantwortung gegenüber dem Steuerzahler äh vor allen Dingen oder S: Ja (...) O: Oder auch (..) äh dem Fach gegenüber (..) S: Beides, ich mein das sind ja zwei verschiedene Paar Schuhe, ich mein, (O: ja) die Verantwortung des des# dem Fach gegenüber hat natürlich jeder, (O: mhm) der den Abschluss hat, aber ich mein die Freiheit, mit der wir hier forschen können äh (O: ja) ist natürlich schon einzigartig ja, (O: ja)
Sattlers Formulierung scheint für die zweite Lesart zu sprechen, aber klar ist das immer noch nicht. Die Verantwortung dem Fach gegenüber ist für ihn eine Selbstverständlichkeit. Sie „hat natürlich jeder...“, der den Diplomgrad oder Doktortitel verliehen bekommen hat. Sattler kommt es aber auf etwas anderes an, das nicht so selbstverständlich ist. Unterstellt wird, dass die große Freiheit, die die MPG genießt, automatisch die Verantwortlichkeit der Direktoren erhöht. Aber erwächst daraus auch eine Sonderstellung der MPG bei der Evaluation? Das klärt sich hier nicht wirklich auf. ich mein jetzt hat Markl das Prinzip natürlich en bisschen geändert und wir werden jetzt evaluiert alle sechs Jahre, (O: ja) und man kann den Etat zurücknehmen das ist alles wunderbar, aber trotzdem ist natürlich die Freiheit die kommt, (O: ja) dass man# also wir ham zum Beispiel dieses Jahr en großes Projekt gemacht, (O: mhm) da ham wir wirklich anderthalb anderthalb Jahre überlegt, sollen wir das machen, weil das nimmt so viel Geld in Anspruch, das kostet so viel Arbeitszeit mehrerer Mitarbeiter, und wir waren uns dann nicht sicher, müssen wir das wirklich machen, um zu unserm Ziel zu kommen, (O: mhm) und das ham wir also ne Zeitlang vor uns hingeschoben, weil wir nicht wussten, (O: ja) ist es das wirklich wert, (O: ja) und dann irgendwann ham wir gesagt, wir müssens jetzt machen, es geht kein Weg dran vorbei, sonst kommen wir nicht zu dem Ziel, (O: ja), und das ist etwas, als wir jetzt entschieden haben, wir wollens machen, mussten wir nicht mehr durch Gott weiß wie viele Gremien (O: ja) und Anträge schreiben, die dann dreimal abgelehnt werden, weil die Leute sagen, ja das könnt ihr ja noch gar nicht, (O: ja) wir hams einfach angefangen, hams gemacht, sind in vier Monaten Experten geworden in dem Gebiet, (O: ja) können das jetzt wunderbar und das hat sich wunderbar ausgezahlt.
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Hubert Markl war bis 2002 Präsident der Max-Planck-Gesellschaft. In seiner Amtszeit wurden einige institutionelle Neuerungen eingeführt, auf die hier angespielt wird. Der einzelne Direktor ist einerseits nicht mehr in dem Maße autonom und Herr seines Hauses, wie das früher galt. Es gibt regelmäßig externe Begutachtungen, denen sich die Institute stellen müssen. Das wird im Prinzip begrüßt. Andererseits wachsen auch die Budget- und Planungsfreiheiten der Institute. Die Freiheitsgrade sind immer noch völlig andere als in der Universität. Da auch dies gutgeheißen wird, ist klar, dass hier nicht einer Ideologie des Qualitätsmanagements das Wort geredet wird. Freiheit und Selbstverantwortung des einzelnen Forschers sind für die Forscher immer noch das beste Prinzip. Eine Grundannahme im Hintergrund scheint zu sein, dass nicht die Evaluationen selbst problematisch seien, sondern ihr überbordendes bürokratisches Wuchern. Die universitäre Forschung wird hier implizit bedauert, weil sie sich unter den Bedingungen der Drittmittelförderung nicht wirklich frei entfalten kann, zugleich wird aber auch unterstellt, dass die Evaluation notwendig ist, weil nicht nur gute Forscher sich dort betätigen. Das genannte Beispiel ist diesbezüglich ganz instruktiv. Das Direktorium des Instituts hat ein Investitionsbudget, das ihm große Gestaltungsfreiheiten gibt. Zu den Freiheiten gehört auch, dass es keine bürokratischen Außenkontrollen gibt. Die Institutsführung kann, muss aber auch selbst verantworten, wofür das Geld eingesetzt wird. Wenn es ausgegeben ist, steht es nicht mehr für anderes zur Verfügung. Man muss also gut überlegen. Die Direktoren entscheiden gemeinsam, und sie hatten im vorliegenden Fall genau so ein Projekt vor Augen, das viel Zeit, Personal und Finanzmittel beanspruchen würde, und das war eine schwere Entscheidung. Aber das System hat sich für sie ausgezahlt, die Freiheit hat auch unternehmerische Energie freigesetzt, die ihnen geholfen hat, die Hürden zu meistern. – Leider reißt im Folgenden der Faden ab, so dass wir diese Interpretation nicht einer weiteren Prüfung unterziehen können. Der Gesprächsverlauf nimmt erst einmal eine andere Richtung.
ABSCHNITT III. D AS F ORSCHUNGSPROGRAMM
DER
G RUPPE
O: Ja, können sie sagen was das# worum es da geht S: Da gings um Genomforschung, (O: ja) also wir sind an und für sich äh von Hause aus sind da keine Genomforscher gewesen, (O: mhm) und die Expertise die ham wir uns hier hart erarbeiten müssen, (O: mhm) ham auch äh en Genomzentrum gegründet hier, das ist am Ende vom Gang und en Stockwerk tiefer O: Ich glaub wir ham das unten gesehen ja S: Ja und ähm da ham wir also viel Hilfe von denen bekommen und sind halt jetzt äh wirklich (.) glaub ich kann man sagen sehr sehr gut auf dem Gebiet
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Das „Genomzentrum“ ist eine eigenständige Abteilung im MPI. Sattler war daran beteiligt, als das MPI das Genomzentrum gegründet hat. Bei der Aneignung der Genomanalytik hat das Team von Sattler erheblich profitiert. O: Können sie da vielleicht äh obwohl wir Laien sind, uns äh nach etwas schildern die Einbettung warum das äh nötig war S: Warum das warum das nötig war? (O: ja) Ja also wir arbeiten ja nicht also die Entwicklungsbiologie in der wir arbeiten ist äh ein sehr aktuelles Forschungsgebiet (O: mhm) in den letzten 15 Jahren auch bedingt durch den Nobelpreis natürlich ähm en sehr starkes Gebiet, auch en Gebiet, wo wir in der Biologie sehr weit gekommen, also wir verstehen
Sattler sieht sein Forschungsgebiet ganz vorne mit dabei. Das Forschungsgebiet „Entwicklungsbiologie“ ist sehr aktuell. Es wird daher viel investiert und es geschieht viel. Auf dem Gebiet ruhen große Hoffnungen, in der Evolutionsforschung insgesamt voranzukommen. Das ist auch in einem Nobelpreis begründet, der die öffentliche Aufmerksamkeit auf das Fachgebiet gelenkt hat. Die Entwicklungsbiologie befasst sich mit den Vorgängen des Wachstums des einzelnen Organismus, also mit der Ontogenese. Eines ihrer Hauptgebiete ist die Embryologie. Heute spielen die Zusammenhänge zwischen denen Genen und dem Zellwachstum und der Zelldifferenzierung eine maßgebliche Rolle. O: Und sie sind durch den Nobelpreis von Frau Nüsslein-Volhard S: Von Frau Nüsslein aber auch schon vorher also wir sind auch in Deutschland stark in der Entwicklungsbiologie (O: ja) das muss man sagen, (O: ja) und wir sind jetzt wirklich dabei, die Mechanismen zu verstehen, (O: mhm) die Frage, die# der wir jetzt nachgehen ist ne Frage, wie (.) ne mehr evolutionsbiologische Frage, die dann wieder zu den Schmetterlingen kommt, (O: mhm) also was wir generell in der Entwicklungsbiologie sehen, ist ähm egal welche Organismen sie anschauen, (O: mhm) die Gene, die die Entwicklung steuern sind überraschenderweise stark konserviert, (O: mhm) ob sie jetzt en Wurm anschauen, ne Fliege oder ne Maus oder en Fisch, (O: mhm) das sind immer dieselben Gene O: Muss man sich das (.) analog so vorstellen als Laie so wie man ja auch wohl äh am Anfang wenn ich das richtig sehe überrascht war, dass äh die Neuronen auch äh sozusagen äh sehr ähnlich oder identisch sind aus S: Richtig, richtig, richtig O: Aus sehr unterschiedlichen Strukturen S: Ja man hat halt am Anfang immer gedacht, wenn man sich so in der Natur umschaut und das ist alles so unterschiedlich, (O: ja) die benutzen halt alle unterschiedliche Grundprinzipien (O: ja) und wir sehen jetzt, auf molekularer Ebene sind die Grundprinzipien gar nicht so unterschiedlich, sondern das sind immer dieselben Spieler und das ist als wenn man en Buch aufschlägt und die benutzen zumindest mal alle dasselbe Alphabet, (O: mhm) was sie jetzt aus diesem Alphabet machen, ist natürlich dann wieder anders, aber es ist doch überraschend
310 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE und man hätte vor 20 Jahren sich niemals träumen lassen, dass es so viele Ähnlichkeiten zwischen nem Wurm, ner Flieg und ner Maus gibt (O: mhm) oder auch dem Menschen.
Nun steigt das Gespräch in die Sachmaterie ein. Nochmals wird die Bedeutsamkeit der Forschung in Deutschland betont. In Deutschland wurde und wird die Entwicklungsbiologie maßgeblich vorangetrieben. Deutschland ist in der Entwicklungsbiologie gegenwärtig ein internationales Zentrum der Forschung. Und das geht nicht nur auf Frau Nüsslein-Volhard zurück. Die Erforschung der Mechanismen, die „wir jetzt (dabei sind) zu verstehen“, zielt auf die Kernfragen der Evolutionsbiologie. Es geht um eine entscheidende Erweiterung des Verständnisses der Evolution und ihrer Gesetze. Mit den „Mechanismen“ sind offenkundig die Vorgänge angesprochen, welche in der Evolution zur Entstehung und Veränderung eines artspezifischen Merkmals führen; man will wissen, wie es genau Veränderungen des Genotyps kommt. Diese Prozesse können heute auf molekularbiologischer und genetischer Ebene untersucht werden und das erweitert die Möglichkeiten der Forschung enorm. Exkurs zur Evolutionsbiologie3 Seit Lamarcks (*1744 †1829) Deszendenztheorie hat sich die Biologie von statischen Erklärungsmodellen der Entstehung der Artenvielfalt abgewandt, wie sie etwa in der Bibel enthalten sind. Lamarck hatte als erster eine Entwicklung des Lebens theoretisch skizziert und ein Streben der Lebewesen zu einer gewissen Vervollkommnung ihrer Lebensfähigkeit postuliert. Er unterstellte eine Befähigung der Spezies, erworbene ‚optimierende’ Eigenschaften weitervererben zu können. Wie dies erfolgen solle, blieb aber unklar und man weiß heute auch, dass eine direkte Vererbung optimierter Merkmale nicht gegeben ist. Von Charles Darwin wurde zum ersten Mal die wissenschaftliche These einer Abstammungslinie der Arten vertreten. Darwin hatte auf der Basis detaillierter morphologischer, anatomischer und verhaltensbiologischer Vergleichsstudien nachgewiesen, dass der spezifischen Merkmalsgestalt einer Art (also Körperbau, Aufbau und Funktion der Organe, Verhalten etc.) ein naturgeschichtlicher Prozess zugrunde liegt, der rekonstruiert werden kann.4 Auch er stand vor dem Problem einer Erklärung der Veränderungen. Er
3
Mayr, Ernst: Das ist Evolution. Bielefeld, 2003; Kutschera, Ulrich: Evolutionsbiologie, 2. Auflage, Stuttgart 2006; Futuyma, Douglas J.: Evolutionsbiologie. Aus dem Englischen übersetzt und bearbeitet von Barbara König. Basel 1990.
4
Darwin, Charles (1859): On the origin of species by means of natural selection or the preservation of favoured races in the struggle for life, deutsch: Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, Nachw. von G. Heberer, Übersetzt von C.W. Neumannn,
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nahm eine Variabilität der Erbanlagen einer Spezies an, die die Chance einer Art erhöht, sich wandelnden Umweltbedingungen anzupassen. Denn die Variabilität stellt eine gewisse Vielfalt der Anpassungsstrategien sicher. Später hat man dafür die Begriffe Phänotyp und Genotyp geprägt. Der Genotyp ist die Gesamtheit der Gene (aller Chromosomen), also die Erbanlage, die alle Individuen einer Art miteinander teilen. Der Phänotyp ist die konkrete Ausbildung der Erbanlage in einem Individuum. Als kausale Ursache der Evolution selbst nannte Darwin die natürliche Auslese (Selektion), bei der bestimmte Individuen sich fortpflanzen und ihr Erbgut weitergeben, während andere dies nicht schaffen und verschwinden und mit ihnen auch ihr Erbgut. Dabei dachte er daran, dass sich eine Art in einem fortwährenden Lebenskampf vor der je spezifischen Gesamtlage sich wandelnder Lebens- und Umweltbedingungen (Klima, Nahrungsbasis, Feindvorkommen etc.) behaupten muss, wobei in diesem „Struggle for life“ diejenigen Arten bzw. Deszendenzlinien sich behaupten, die sich als hinreichend anpassungsfähig erweisen. Darwin stellte heraus, dass eine Population mehr Nachkommen zeugen müsse, als zur Reproduktion der Gesamtspezies notwendig ist. Das sah er als Bedingung dafür an, dass die Art die Variabilität ihres Genotyps wirklich ausschöpfen und unterschiedliche Anpassungsstrategien hervorbringen kann. Die Vererbung erfolgreicher Anpassungsmerkmale sichert das Fortbestehen einer Art, ihr Ausbleiben oder Misslingen führt zum Rückgang der Population und schließlich zum Aussterben einer Art. So der Darwinismus. Es blieb aber auch bei Darwin ungelöst, wie genau die Veränderungen innerhalb des Genotyps sich vollziehen. Es war lange unbekannt, worin die Erbinformation eigentlich besteht, wie sie aufgebaut ist und wie sie weitergegeben wird. Erst mit der Wiederentdeckung der Mendelschen Vererbungslehre durch die Biologen des 20. Jahrhunderts wurde die genetische Grundlage der Variabilität einem besseren Verständnis zugänglich.5 Als Träger der Erbinformationen wurden schon bald „die Gene“ erforscht.6 Die Genetik verstand darunter zunächst nur formal die Einheit eiStuttgart, Reclam-Verlag 1986; ders. (1871): The descent of man and selection in relation to sex; deutsch: Die Abstammung des Menschen, Kröner, Paderborn: Voltmedia, 2005. 5
Weiling, F.: Historical study: Johann Gregor Mendel 1822-1884. Am. J. Med. Genet. 40, 1; 1991: S. 1-25; Diskussion S. 26; Bowler, Peter J.: The Mendelian Revolution: The Emergence of Hereditarian Concepts in Modern Science and Society. Johns Hopkins University Press; Baltimore 1989.
6
Kutschera, U./Niklas, K.: The modern theory of biological evolution: an expanded synthesis. Naturwissenschaften 91, Heft 6; 2004: S. 255-276; Dawkins, Richard: The Selfish Gene. Reissued in new covers. Oxford University Press, Oxford 1999, (dt.: Das egoistische Gen); ders.: The Blind Watchmaker. Reissued. Penguin, London 2000; Meier, Heinrich (Hrsg.): Die Herausforderung der Evolutionsbiologie. 3. Auflage. Piper-Verlag, München 1992; Storch, Volker/Welsch, Ulrich/Wink, Michael: Evolutionsbiologie, Ber-
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ner Vererbungsinformation. Erst mit der epochalen Entdeckung der DNA in den 1960er Jahren durch Watson und Crick wurde eine systematische Erforschung der Vererbungsvorgänge auch auf molekularer Grundlage möglich. Das erste Gen wurde im Jahre 1969 isoliert. Gene sind nach heutigem Wissen eine definierte Nucleotidsequenz, also eine Art Abschnitt innerhalb der langkettigen, spiralförmig gedrehten DNA.7 Die meisten Gene befinden sich auf den Chromosomen, den Trägerstoffen der DNA im Zellkern, wobei in jeder Zelle die gesamte genetische Information einer Art enthalten ist. Die Gene haben bei den verschiedensten Vorgängen des Wachstums, Stoffwechsels und der Regeneration steuernde und regulative Funktionen. Gene sagen zum Beispiel einer Zelle, zu welchem Zelltyp sie sich weiterentwickeln soll, wie oft und wann sie sich vermehren muss und wo dies im Körper geschehen soll, oder wann sie wieder abzusterben hat. Welche Gene in einer Zelle aktiv werden, ist in jeder Zelle genau reguliert. Sind Gene aktiv, dann wird von ihnen eine Negativkopie abgeschrieben und in eine Ribonucleinsäure übersetzt, die ein Protein erzeugt, das dann im Körper die verschiedensten Aufgaben übernimmt und für die eigentliche Merkmalsbildung eines Individuums verantwortlich ist. Diesen Vorgang nennt man Genexpression. Die Veränderung der Gene ist zentral für die Evolutionsbiologie. Deshalb interessiert sie sich dafür, wie Merkmalsänderungen in den Genen zustande kommen. Seit langem weiß man, dass schon bei jeder Zellteilung die DNA reproduziert werden muss und dass bei der Replikation der DNA viele Veränderungen, Defekte oder Abschreibungsfehler geschehen können. Nicht jede dieser veränderten Zellen verliert ihren Sinn, oft sterben sie aber wieder ab oder entwickeln sich zu Störquellen. Wenn solche Veränderungen während des Zeugungsvorgangs ablaufen, können sie für die Evolution einer Art insgesamt bedeutsam werden, denn aus der Zeugung geht ein neuer Organismus hervor, der seine Erbanlagen wiederum Nachkommen weitergibt. Bei der Zeugung können Veränderungen am Erbgut durch verschiedene Weisen stattfinden. Die tiefgreifendste Veränderung ist die sexuelle Rekombination des Erbgutes, also das Ineinanderschreiben der DNA zweier Individuen, die genetisch nicht miteinander identisch sind, nach der Befruchtung einer Eizelle durch ein Spermium. Denn diese Rekombination betrifft das gesamte Genom. Eine andere Form ist die Mutation, eine Veränderung der Anordnung der Nucleotidsequenzen des Genoms. Sie betrifft nicht das gesamte Genom, sondern nur einzelne Abschnitte. Auch Mutanten, Lebewesen mit einer Mutation sind nicht immer lebensfähig. Es gibt aber Mutationen, die die Funktionsweise des Lebens nicht stören oder beenden, sondern nur modifizieren. Und das ist für die Evolutionsbiologie interessant. lin Heidelberg 2001; Thoms, Sven P. (2005): Ursprung des Lebens, Fischer; Wuketits, Franz M.: Evolution. Die Entwicklung des Lebens. (Beck Wissen) München: Beck, 2005. 7
Pearson, H.: Genetics: What is a gene? Nature 441, Band 7092; 2006: S. 398-401.
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Seitdem das Genom einzelner Spezies entschlüsselt werden kann, können auch die Funktionen der einzelnen Gene genauer untersucht werden. Man kann die Mechanismen besser verstehen, die von der Genexpression und Proteinbildung bis zur Ausbildung einzelner Merkmale führen. Das hat es wiederum ermöglicht, im umgekehrten Weg von veränderten Merkmalen, die man an Mutanten feststellt, auf Veränderungen der Gene rückzuschließen. Auf diese Weise ist die Untersuchung von Mutanten zum experimentellen Testgebiet für die Evolutionsbiologen geworden. Es geht um die Rekonstruktion von Mutationen. Was Sattler hier andeutet, bezieht sich auf folgende Entdeckung: Die NucleotidSequenzen der DNA, also die Gene, unterscheiden sich von Spezies zu Spezies keineswegs so sehr, wie das anzunehmen wäre, wenn man sich am unterschiedlichen Erscheinungsbild der Arten orientiert. Vereinfacht ausgedrückt sind diejenigen Gene, die für die Ausbildung beispielsweise der Augen zuständig sind, beim Menschen, bei der Fliege oder der Maus nahezu gleich. Es handelt sich um dieselben Gene. Folglich müssen diese Gene abstammungsgeschichtlich sehr weit zurückreichen, weil sie schon bei der Verzweigung der jeweils letzten gemeinsamen Vorfahren vorhanden gewesen sein müssen. Das bedeutet „konserviert“. Es gibt eine überraschende Kontinuität in der Naturgeschichte der Gene, und eine geringe oder eingeschränkte Diversifikation. Die Formenvielfalt der Arten findet sich nicht in den Genen wieder, sie lässt sich also auch nicht mit einer Vielfalt an Genen erklären. Man hat vielmehr eine unerwartet große Konvergenz der Bausteine des Lebens. Dr. Sattler nennt sie selbst „Alphabet“. Das ist auch deshalb interessant, weil dieser Tatbestand das Untersuchungsfeld plötzlich radikal vereinfacht. Man kann nun Spezies, die abstammungsgeschichtlich sehr weit auseinander liegen, auf Gemeinsamkeiten und Differenzen hin systematisch befragen. Es macht plötzlich Sinn, nach Verwandtschaft nicht nur in anatomischer, morphologischer oder verhaltensbiologischer Hinsicht zu fragen, sondern Verwandtschaft genetisch zu erforschen. Dies lenkt die Aufmerksamkeit auf ganz neue Fragestellungen, die bislang so gar nicht gestellt werden konnten. Genetisch gesehen sind die Bauprinzipien des Lebens zwar endlich, in der konkreten Ausprägung etwa der Augen gibt es aber trotzdem mannigfache Unterschiede zwischen den Arten. Also muss man sich dafür interessieren, wie eine Art ihre besonderen Merkmale ausbildet. Die Gene selbst können das nicht erklären. Sie scheinen in sehr unterschiedlichen Funktionen und Konfigurationen eingesetzt zu werden, so dass es immer wichtiger wird, die Prozesse zu untersuchen, in denen bestimmt wird, für welche Aufgaben welche Gene konkret eingesetzt werden. Die Arten haben zwar alle dasselbe Alphabet, aber was mit den Buchstaben gemacht wird, ist in den Arten sehr unterschiedlich. O: Mhm. Wir waren überrascht, als wir das gelesen haben äh im Internet die äh also äh Beschreibung, die sie da eingestellt haben äh vielleicht dürfen wir das ruhig mal so sagen dann erfahren wir in der Korrektur etwas, dass sie ähm äh bei dieser Fragestellung hatten wir eher
314 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE gedacht, dass sie äh ähm die ähm die Arten, die sie dann untersuchen, äh eher also sagen wir mal auf der höher aggregierten Ebene stärker kontrastieren und
Der Interviewer greift eine forschungspraktische Konsequenz des Gesagten heraus. Überraschend war, dass im Labor von Sattler gerade nicht das gemacht wird, was naheliegen würde, nämlich ein genetischer Vergleich verschiedener Spezies, die abstammungsgeschichtlich sehr weit auseinander liegen, um die evolutionären Tiefenstrukturen der Erbinformationen besser verstehen zu lernen. Die Wahl der Vergleichsspezies ist anders gewesen. Erkenntnis von Homologien S: Ja genau, das machen die meisten, (O: ja) das ist der Fehler, also die meisten Leute gehen dann hin und vergleichen ein Insekt mit einem Wirbeltier, (O: ja), und wenn sie das dann machen und das macht auch die klassische Zoologie seit über 100 Jahren (O: ja) und das Problem ist halt, sie können dann nichts mehr homologisieren, (O: mhm) also Homologie ist en sehr sehr wichtiger Begriff, (O: ja) da geht# der Homologiebegriff geht davon aus, dass man herausfinden will, ob zwei Strukturen ob sie ähnlich aussehen oder verschieden aussehen auf den gemeinsamen Grundbauplan zurück, (O: ja) und wenn sie ein Insekt mit nem Wirbeltier vergleichen O: Also Homologie würde äh äh gemeinsamer Grundbauplan S: Grundbauplan und auch gemeinsame genetische Information, die dafür verantwortlich ist (O: ja) in einem letzten gemeinsamen Vorfahren, den diese (O: ja) beiden Organismen hatten
Unter Homologie versteht die Biologie eine Übereinstimmung sehr unterschiedlicher Spezies bei Organen, Morphologie oder Verhaltensweisen, die sich auf gemeinsame abstammungsgeschichtliche Wurzeln zurückführen lassen. Hier ist mit dem Begriff offenkundig auch eine Gleichförmigkeit von genetischen Strukturen gemeint. Anatomische Homologien kann man zum Beispiel an den Handknochen bei verschiedenen Säugetieren ablesen, bei denen sich trotz weitverzweigter Verwandtschaft strukturelle Ähnlichkeiten zeigen. In der Evolutionsbiologie verweisen Homologien immer auf gemeinsame Verwandte, von denen die jeweiligen Arten die ursprünglichen Baupläne übernommen und in ihrer Richtung jeweils weiterentwickelt haben. Von Homologien muss man „Analogien“ unterscheiden, bei denen es zwar strukturelle Ähnlichkeiten (bei Organen usw.), aber keinen gemeinsamen Ursprung gibt. Die Strukturgebilde sind zwar äußerlich vergleichbar, gehen aber nicht auf denselben Bauplan zurück oder aus einer stammesgeschichtlich ursprünglich gemeinsamen Entwicklung hervor. Eine echte Homologie ist also interessant, weil sie es erlaubt, den Abstammungsweg einer genetischen Erbinformation zu rekonstruieren und die Faktoren der differenten Weiterentwicklung der Baupläne zu erschließen. Das Erschließen einer Homologie ist eine eigenständige
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Hypothese („homologisieren“), die mit der Annahme eines gemeinsamen Bauplans arbeitet, der allerdings noch nicht belegt werden kann. Die Biologen müssen daher versuchen, diesen gemeinsamen Ursprung bestimmter Strukturen sichtbar zu machen, was sehr schwierig sein kann, da eine gemeinsame Struktur durch ihre je differente Weiterentwicklung in den verschiedenen Spezies nicht immer sofort erkennbar ist. Eine „Mutterstruktur“ muss also im Vergleich verschiedener Spezies erahnt und durch den Abgleich mit Kontrastfällen allmählich bestimmt werden. Die Bestimmung einer Homologie ist daher das Ergebnis eines geduldigen Isolierens von Strukturen, für deren Gleichförmigkeit ein Blick geschärft werden muss. Die Kunst dabei ist, die richtigen Spezies zum Vergleich heranzuziehen. Das ist offenbar bei der Suche nach genetischen Verwandten nochmals schwieriger, als beim Vergleich anatomischer Merkmale wie denen eines Handknochens. Sattler hat hier einen Weg beschritten, der anders ist als der in der Biologie bislang übliche. Sein Argument lautet, dass die beiden Spezies, die miteinander verglichen werden, nicht zu weitläufig miteinander verwandt sein dürfen, und das sind sie, wenn man ein Insekt und ein Wirbeltier vergleicht.8 O: Würden sie S: Also die Definition ist sehr sehr schwierig, also da kann man würde man Bücher drüber schreiben O: Ja, in ihrer Wissenschaft dann auch würde man sagen mal so würde man sagen, Analogie, Homologie, Isomorphie äh
Sattler soll die Homologie von der Analogie, Isomorphie abgrenzen. Das ist eine Hilfestellung, aber auch eine mäeutische Operation, die Sattler zwingen soll, mehr zum Thema auszuführen.9 S: Analogie ist natürlich eine# eine Analogie ist eine Ähnlichkeit, (O: ja) die aber nicht auf einen gemeinsamen Grundbauplan und eine gemeinsame Erbinformation zurückgeht, (O: ja) sondern die ham sich komplett unabhängig in zwei Linien entwickelt, (O: ja) aber eine Homologie geht immer von einer gemeinsamen (..) Erbinformation aus, die im letzten gemeinsamen Vorfahren (O: ja) äh bestanden hat, und äh aber das ist en ganz schwieriges Thema, da kann man wie gesagt Bücher drüber schreiben, (O: ja), und ähm und das Problem ist halt immer, wenn man jetzt son Insekt hat und man hat en Wirbeltier, (O: ja) dann sind da natürlich zuerst mal nur Unterschiede, (O: ja) und man hat halt lange Zeit wenn man jetzt dann so in diesen großen Kategorien gedacht hat und auch äh (O: ja) Stammbäume gemacht hat, wer mit 8
Vgl. Hall, Brian Keith: Homology: the hierarchical basis of comparative biology. Waltham: Academic Press, 1994.
9
Vgl. Fitch, W.. Distinguishing homologous from analogous proteins. Syst Zool 19 (2) 1970, S. 99–113.
316 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE wem verwandt war, (O: ja) dann war das vor allen Dingen im deutschsprachigen Raum äh immer der Ordinarius, der da das Sagen hatte und das war weniger wissenschaftlich bedingt halt als viel mehr oft kraft des Amtes (O: ja) dass sich bestimmte Meinungen durchgesetzt haben
Die methodischen Überlegungen sind folgende: Die Biologen des MPI haben zwei Spezies gewählt, die entwicklungsgeschichtlich sehr nah beieinander liegen, also einen unmittelbaren gemeinsamen Vorfahren haben. Es sind so kleine Lebewesen, dass sie bis auf die Zellebene hinunter ganz genau beschrieben werden können – mikroskopisch kleine Würmer. Dann hat man diese Würmer zellbiologisch und genanalytisch genauestens erforscht und beschrieben. Das heißt, man kennt jede Zelle im Organismus, ihre Funktion und Lebensdauer und erforscht das Genom, das ihre Hervorbringung steuert und reguliert. Das ist für sich genommen natürlich eine enorme Leistung. Da dies nun für beide Spezies unternommen wird, kann man die Unterschiede bei den Merkmalen den Unterschieden im Genom der Arten zuordnen und anschließend danach fragen, wie die Unterschiede sich im Laufe der Evolution ergeben haben könnten. Dieses Vorgehen ist neu. In der Biologie wurden bislang Spezies ausgewählt, die abstammungsgeschichtlich weit auseinander liegen. Es kommt nun aber nicht auf die Spannweite der Kontrastfälle, sondern auf die molekularbiologische Kontrollierbarkeit und Auswertbarkeit identifizierbarer Unterschiede an. Sattler kritisiert jenes Vorgehen, das nicht darauf achtet, eine sichere Vergleichsbasis zu bewahren. In der Abgrenzung von diesem Verfahren und auch in der Art und Weise, wie dies geschieht, tritt ein für unser Thema des professionalisierten Habitus interessanter Aspekt zu Tage. Sattler geht einen neuen Weg. Er macht etwas anders. Das bringt ihn vorübergehend in eine „exzentrische Positionalität“ (Plessner) zum Mainstream des Fachs. Er spricht als ein Erneuerer, der von der avantgardistischen Innovativität seines Ansatzes überzeugt ist. Gleichwohl ist er noch voll und ganz damit beschäftigt, seinem Ansatz zum Durchbruch zu verhelfen. Sein Schritt noch nicht zum Commonsense des Faches durchgedrungen. Er hat schon Anerkennung erfahren, (sonst wäre er nicht MPI-Direktor), doch ist seine Wahl des Forschungsdesigns immer noch neuartig. Der Avantgardismus drückt sich auch in der Abgrenzung von den „Ordinarien“ an den Universitäten aus. Ihre Autorität gab in der Sache letztlich oft den Ausschlag. Heute kann man die Fragen noch stärker von der Person und ihrer Einschätzung abgelöst entscheiden. Die dahinter stehende Behauptung lautet: Die klassische Zoologie und Abstammungslehre war noch zu sehr von persönlichen Versicherungen geprägt, und da hat der Ordinarius als höchste Autorität in der Wissenschaftshierarchie sich meist ex cathedra durchgesetzt. Heute geht das aber besser. Die bekannten Abstammungslehren können verbessert werden, weil die Zuordnung einer Spezies nicht mehr alleine auf Vergleichen anatomischer, morphologischer und verhaltensbiologischer Merkmale beruht, sondern auf genetischen Zuordnungen. Und die Genetik ist viel exakter, weil
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sie eine präzise Rekonstruktion der Abstammungsgeschichte der Arten über die Bestimmung ihrer genetischen Verwandtschaft erlauben. Man wird in Zukunft den Abstammungsbaum daher neu schreiben können. und ich hab halt mir dann gesagt, also der Ansatz wird uns nicht viel weiterführen auch jetzt in dieser modernen molekularen Forschung wenn wir ein Insekt vergleichen mit einem Wirbeltier und sehen, das sind ähnliche Gene, die brauchen wir zum einen in der Fliege, um Flügel zu machen, und die brauchen wir dann beim# bei der Maus, um en Bein zu machen oder irgendwas, dann können wir daraus nicht viel ableiten, weil die Strukturen sind da viel zu unterschiedlich, (O: mhm)
Es ist also komplizierter. Fliege und Maus haben zwar (weitgehend) dieselben Gene, aber diese Gene lassen sich nicht ein und derselben Funktion zuordnen. Dieselben Gene bewirken in der Maus und in der Fliege unterschiedliche Dinge (Bein, Flügel). Sie lösen in der Embryogenese unterschiedliche molekulare Prozesse aus oder rufen sie ab, je nach dem, in welchen Kontext sie eingelagert sind. (Und man weiß ja heute auch, dass dies nicht nur für verschiedene Arten gilt, sondern dass auch innerhalb einer Art ein und dieselben Gene an verschiedenen Funktionen beteiligt sein können.) Es kommt folglich darauf an, ein Gen und das, wofür es zuständig ist, genau zu kennen, aber darüber hinaus muss man auch die strukturelle und prozessuale „Umgebung“ (Konstellation), in der ein Gen etwas Bestimmtes macht, genau verstehen. Für die evolutionsbiologische Fragestellung ist diese Einsicht zentral. Denn wenn man abstammungsgeschichtliche Verzweigungen auf der Ebene der Gene erforschen will, dann langt es nicht, Gene zu identifizieren, die in verschiedenen Spezies aktiv sind. Man muss zusätzlich verstehen, warum ihr Funktionsgebiet und Einsatzspektrum sich unterschiedlich entwickelt hat. Das ist aber bei Tieren wie der Maus oder der Fliege viel zu komplex. Wenn man die Gene kennt, die bei der Maus ein Bein und bei der Fliege einen Flügel macht, ist es noch lange nicht sinnvoll, Maus und Fliege zu vergleichen. Denn es sind noch viele andere Mechanismen im Spiel, die aus den identischen Genen hier ein Bein und dort einen Flügel werden lassen. Auf diese Mechanismen kommt es aber an. Man muss alles in einem Gesamtzusammenhang sehen und vergleichen können. das heißt ich wollte was vergleichen, wo die beiden Organismen die wir jetzt miteinander äh vergleichen, wirklich noch so ähnlich sind, dass wir Unterschiede wirklich ganz klar benennen können, (O: mhm) und wo wir die Unterschiede am Ende auch beurteilen können.
Das ist eine zentrale Stelle, an der deutlich wird, womit die Biologen ringen. Es ist nicht so schwer, Unterschiede klar benennen zu können bei Arten, die weit auseinander liegen. Eine solche Vorgehensweise bleibt aber hinsichtlich der Erschließungstiefe auf der Ebene der deskriptiven Identifikation von Gemeinsamkeiten ste-
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hen. Sie schließt nicht auf, was den Evolutionsbiologen systematisch interessiert. Sattler will die Unterschiede zwischen den Arten auf eine Verzeigungsstelle zurückführen und dazu müssen die gewählten Untersuchungsobjekte (Würmer) eng verwandt sein. Die Ähnlichkeit muss so groß sein, dass zu erwarten ist, dass die Gene an denselben Prozessen und Funktionen beteiligt sind. Auf die Auswahl der Arten kommt also alles an. Sattler will ein Homologisieren von abstammungsgeschichtlich nahen Verwandten, weil er sich für den Übergang von einem Vorfahren zu zwei neuen Spezies interessiert. Da sich dieser Übergang jedoch nicht protokollieren lässt, muss er erschlossen werden. Das ist bei fernen Verwandten nicht wirklich zu leisten. Dieses Vorgehen ist sinnvoll, wenn man zwei Vergleichsarten hat, die sich einerseits noch nicht zu weit auseinander entwickelt und andererseits aber doch schon sichtbare Unterschiede ausgebildet haben, so dass man eine Chance hat, die gemeinsame Ausgangsbasis zu rekonstruieren und Zwischenstufen der Entwicklung bis zum Status quo zu erschließen. O: Also sozusagen wenn ich äh sie müssen entschuldigen, wenn ich also damit nicht zu große Lücken für die Erschließung sozusagen entstehen S: Ja, sie sie finden halt sie finden molekular immer (O: ja) Gemeinsamkeiten und Unterschiede, (O: ja) und dann projizieren sie die auf bestimmte Gewebetypen oder Zelltypen, aber wenn sie jetzt en Insekt mit nem Wirbeltier vergleichen, dann ist das so weit auseinander, dass sie nicht mehr wissen, (O: mhm) wie sah denn der letzte gemeinsame Vorfahre aus, (O: mhm), und wir vergleichen jetzt zwei Würmer, die sind unterschiedlich zueinander, das ham wir genau definiert, wo die Unterschiede sind, das können wir auf zellulärer Ebene festmachen, (O: mhm) und wir können jetzt dann diese Unterschiede, die wir auf zellulärer Ebene sehen, in Beziehung setzen zu den molekularen genetischen Unterschieden, die dafür verantwortlich sind, und äh wir haben damit zwar dann nicht diese Auflösung, wir können also damit nicht das gesamte Tierreich erklären, (O: ja), aber wir können mechanistisch am Ende hoffentlich wesentlich genauer sagen, welche Gründe für die Entstehung der Verschiedenheit wirklich verantwortlich sind.
Das Vorgehen zielt auf strukturelle Gesetzlichkeiten, die generalisiert werden sollen. Es ist wieder exemplarisch, das heißt man erhofft sich an den Würmern etwas Allgemeines erschließen zu können, was sich dann weiter ausbauen und übertragen lässt. Diese Arbeit steht noch ganz am Anfang, sie ist „ein dickes Brett“. Dr. Sattler setzt darauf, dass seine Forschung weiter führen wird. Er hat „zwar dann nicht diese Auflösung“, ein schöner Begriff für den Generalisierungsgrad einer Theorie: Mit den Würmern wird man eine empirische Basis haben, die letztlich nur über diese Spezies definitive Aussagen erlaubt. Aber sie wird das weitere Vorgehen enorm strukturieren, weil sie eine erste fallspezifische Antwort geben wird, welche Gründe für die Entstehung der Verschiedenheit wirklich verantwortlich sind. An den Würmern wird man diese Gründe exemplarisch studieren können und das Ergebnis wird
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Möglichkeiten der hypothetischen Übertragbarkeit der gewonnenen Modelle auf einen größeren Vergleichsmaßstab liefern. Worauf Sattler dabei setzt, ist eine lückenlose kausalanalytische Rekonstruktion von Evolutionsgesetzen. Sein Wort dafür lautet „mechanistisch“. O: Und muss man sich das so vorstellen, dass wenn sie jetzt sozusagen mit einem eigenen Stamm arbeiten, dass sie auch# äh für sie auch wichtig ist, dass äh vielleicht dass sie Mutanten beobachten können S: Wir haben ja Mutanten, also wir haben ähm und deshalb ham wir jetzt die die äh genomischen Sachen machen müssen, also wir haben zuerst mal rein deskriptiv beschreibend äh festgestellt, welche Unterschiede in unserem Wurm da sind zu dem Wurm, mit dem alle arbeiten, (O: mhm) und sind dann hingegangen und haben Mutanten gesucht in unserer Art (O: mhm) was schwierig ist, weil das natürlich noch nicht als Modellsystem etabliert war,
Forschungsstrategisch hat man also zwei Spezies gewählt: - einen Wurm, der bereits als Modellsystem etabliert war, und einen weiteren, nahe verwandten Wurm. Dieser musste als Modellsystem erst etabliert werden. Das war die eigentliche Herausforderung am Anfang bei der Umsetzung der neuen Idee. Der Wurm musste nicht nur zoologisch beschrieben und labortechnisch bzw. zuchttechnisch verfügbar gemacht werden. Man musste auch systematisch erst einmal eine Anzahl an Mutanten suchen und analysieren, damit man auch bei dieser zweiten Wurmspezies eine hinreichend große Basis zur Untersuchung der Gene und ihrer Funktionen entwickeln konnte. Erst auf dieser Basis konnten die beiden Modellsysteme miteinander verglichen werden. (O: ja) und jetzt ham wir diese ganzen Mutanten und müssen jetzt schauen, welche Gene sind denn davon betroffen,
Die Forscher haben also viele „Abweichler“. In sie muss erst einmal Ordnung gebracht werden. Mutationen, also Veränderungen der Erbanlage, entstehen zum einen spontan, aufgrund von Eingriffen oder Störungen der DNA, oder sie können durch Mutagene erzeugt werden. Sie können ein einzelnes Gen betreffen, einzelne Chromosomen oder ganze Chromosomenabschnitte. Nicht alle Mutationen werden an die nachfolgenden Abkömmlinge weitergegeben, es gibt auch Mutationen in der Zelle, die sich nur in den Abkömmlingen dieser mutativ veränderten Zelle ausprägen. Man muss also zunächst klären, womit man es zu tun hat und ob eine Mutation für den Forschungszweck wirklich relevant ist. Der Zweck ist hier ganz klar: Es soll erschlossen werden, welche Gene für welche Funktionen zuständig sind. Die Schwierigkeit besteht darin, dass die DNS als langkettiger spiralförmig gedrehter Faden von paarweise angeordneten Molekülen nicht erkennen lässt, welche Abschnitte genau einem „Gen“ entsprechen. Um das sichtbar zu machen, sind Mutan-
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ten geeignet, und zwar solche Mutanten, an denen man eine Veränderung im Gewebe, in einer Zelle oder in der Embryogenese gut beobachten kann. Wenn sich diese Abweichler reproduzieren lassen und die Veränderung oder der Defekt immer wieder auftritt, dann kann man daraus schließen, dass das Genom selbst von einer Veränderung betroffen ist. Die Biologen nutzen dies und versuchen, die betroffenen Gensequenzen zu identifizieren, indem sie die DNS des Mutanten mit der DNS des nicht mutierten Stamms vergleichen. Es ist ein Rückschluss „über Bande“. Hat man im Genom der beiden Tiere eine signifikante Differenz der DNS-Sequenzen identifiziert, liegt der Schluss nahe, dass diese Stelle die Mutation darstellt und für die abweichenden Merkmale verantwortlich ist; zugleich ist sie wahrscheinlich diejenige Sequenz, die im nichtmutierten Tier die normale Funktion steuert. Dies muss natürlich in Gegentests erhärtet und eingegrenzt werden. Aber so funktioniert grob gesprochen die Identifikation von Genen. und wenn wir das wenn wir das rausfinden, dann können wir natürlich genau vergleichen, welche Funktion hat en bestimmtes Gen in der einen Art und welche Funktion hats in der andern Art,
Hat man den Zusammenhang zwischen Gensequenz und Funktion in einer Art bestimmt, kann man darangehen, die beiden verwandten Wurmarten miteinander zu vergleichen. Unterstellt wird, dass auch hier das identifizierte Gen vorkommt und isoliert werden kann. Ist das erfolgt, kann man direkt vergleichen, an welchen Prozessen das Gen in der einen Art und an welchen es in der anderen Art beteiligt ist. Trifft man hier auf Unterschiede, kann man, so die Hoffnung, Rückschlüsse auf mögliche Ursachen und evolutive Verzweigungsprozesse ziehen. So ist das Forschungsdesign aufgebaut. weil es sind natürlich logischerweise fast immer dieselben Gene, (O: ja) ja das Generepertoire ist dasselbe bei diesen beiden Arten, aber wie die Gene jetzt eingesetzt werden, ist wieder unterschiedlich.
Die Unterschiede, die man bei den Arten findet, sind nicht in den Genen selbst begründet, sondern in der Art und Weise, wie diese eingesetzt werden. Wenn man etwas über die Evolution dieser „Gebrauchsmodi“ der Gene in Erfahrung bringen kann, ist man auch den Gesetzlichkeiten abstammungsgeschichtlicher Verzweigungen ein Stück näher gekommen. O: Und muss man sich das so vorstellen, dass das dann äh dass man versucht, gewissermaßen quasi äh raumzeitlich die Umgebung systematisch zu variieren, indem das Gen# also räumlich jetzt gewissermaßen horizontal für äh also was weiß ich welche Rolle es bei den Mutan-
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ten im Unterschied äh zu den äh äh Genomen woraus die mutiert sind und zeitlich zum Beispiel in der Ontogenese S: Naja das machen wir ja, ich meine was wir machen also wir isolieren Mutanten und die isolieren wir, weil sie einen interessanten Phänotyp haben, das heißt die Struktur, die uns an und für sich interessiert, wird nicht mehr normal gebildet, (O: ja) die wird gar nicht mehr gebildet oder es gibt bestimmte Defekte, (O: ja), und dann untersuchen wir das im Detail, um rauszufinden, was ist denn jetzt falsch, (O: ja) und in dem Moment, wo man sich anschaut, was falsch ist, lernt man natürlich ne Menge, darüber, (O: ja), wie es in Wirklichkeit ablaufen muss, genauso wie wir ja über den Menschen an und für sich nur viel lernen können, wenn wir uns wirklich die Krankheits (O: ja) strukturen anschauen.
Die Evolutionsbiologen benutzen also einen uralten Ansatz der Erkenntnisgeschichte, indem sie aus einer Anomie auf „heile“, „funktionierende“ Strukturen schließen, für die man sich eigentlich interessiert, die aber aus sich heraus gar nicht verstanden werden können, weil es ohne Kontrastfolie keinen Ansatzpunkt gäbe, wie man die Gesetze ihres Funktionierens sichtbar machen könnte. Die Mutanten sind solche Kontrastfolien. Ein Defekt wäre zum Beispiel in einer unzeitgemäßen Apoptose zu sehen. Viele Zellen sterben nach einem genetisch gesteuerten Programm nach einer bestimmten Lebensdauer ab und werden ersetzt von nachwachsenden neuen Zellen, die ihre Funktion übernehmen. Das ist ein normaler Vorgang im Körper und dient der Erneuerung des Organismus. Dieser „programmierte Zelltod“ kann aber gestört sein. Die Zelle kann am Leben bleiben, obwohl andere Zellen nachwachsen. Oder der Zelltod kann zu früh eintreten. Oder es wachsen zu viele neue Zellen nach, die gar nicht gebraucht werden. Die Zellregeneration funktioniert dann nicht mehr. Will man die Apoptose verstehen, muss man jene krebsartigen Abweichungen genauer untersuchen, und umgekehrt: Man lernt immer auch viel über Apoptose, wenn man Krebsforschung betreibt. O: Also die Kontrastivität sozusagen. S: Ja, ja, und das haben wir dann, aber dann würden wir natürlich gerne wenn wir das im Detail analysiert haben, auch wieder rein auf zellulärer und histologischer Ebene, dann würden wir natürlich gerne wissen, welches Gen ist denn jetzt mutiert, welches Gen fehlt denn jetzt,
Es ist hilfreich, an dieser Stelle den Gedanken zusammenzufassen. Das Forschungsdesign lässt drei Ebenen der Erschließung erkennen, wobei es hier um Ebene 2 geht. Zunächst gilt das Interesse denjenigen Exemplaren eines Modellsystems, die für den Betrachter irgendwie auffällig sind und die interessante Abweichungen zum Normaltyp zeigen. Diese Abweichungen werden auf anatomischer, morphologischer oder zellbiologischer Ebene beobachtet. Dabei kann es sich um Defekte im Leben einer Zelle, anatomische oder morphologische Veränderungen oder das Fehlen einer Funktion bzw. eine Fehlfunktion handeln. Es wird histologisch genauer
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untersucht, welche Zellen betroffen sind und wie die Veränderungen in der Ontogenese einsetzen. Das geschieht auf zellulärer Ebene. Das Exemplar mit einer solchen Veränderung wird reproduziert und wenn sich die Veränderung bei den Nachkommen erneut zeigt, liegt ein Mutant vor, mit dem man arbeiten kann (Ebene 1). Nun will man wissen, welches Gen an der Dysfunktion beteiligt ist. Um das zu erschließen, vergleicht man die DNA eines nicht mutierten Abkömmlings der Art mit der DNA eines Mutanten. Hat man die abweichende Gensequenz identifiziert, kennt man im Prinzip auch die DNA-Sequenz, die im nicht mutierten Wurm eine bestimmte Funktion richtig ausführt. Das muss dann zwar mit Gegentests noch überprüft werden, aber wenn sich das erhärten lässt, hat man das Gen identifiziert und es einer Funktion zuordnen können (Ebene 2). Schließlich geht man daran, dieses identifizierte Gen in einer anderen Wurmart B zu finden, die mit der Wurmart A sehr große Ähnlichkeiten hat und abstammungsgeschichtlich nahe verwandt ist. Was man wissen will, ist, welche Funktionen dieses eine Gen in den verschiedenen Wurmstämmen steuert. Sind es die gleichen Funktionen oder weichen sie voneinander ab? Man weiß schon, dass das Gen-Repertoire der beiden Arten nahezu identisch ist. Aber man weiß auch, dass die Funktionen nicht immer dieselben sind. Wenn man Unterschiede herausgefunden hat, kann man daran gehen, Gründe und Ursachen für diese Unterschiede zu rekonstruieren (Ebene 3). Dazu müsste man vermutlich ein hypothetisches Modell über den letzten gemeinsamen Vorfahren und dessen Genom erstellen. Für welche Funktionen waren bei ihm die Gene wahrscheinlich zuständig und welche Schritte der Verzweigung können sich daraus entwickelt haben? Um das jedoch leisten zu können, muss man noch viel mehr in Erfahrung bringen, wovon es abhängt, dass ein und dasselbe Gen in einer Umgebung A diese Funktion und in einer Umgebung B jene Funktion ausführt. Man muss also die Systematik der genetischen Steuerungs- und Regulationsmechanismen untersuchen, um von ihr aus gleichzeitig auf die Genese dieser Mechanismen schließen zu können. Dem Grundaufbau nach käme dieser Forschungsansatz einem genetischen Strukturalismus nahe, wie er auch in andern Wissenschaften, z.B. den Sprachwissenschaften oder auch in der hier zugrundeliegenden Soziologie der Berufe verfolgt wird. Im vorliegenden Fall versucht Sattler dies mit zwei Wurmstämmen zu bewerkstelligen. (O: mhm) und ähm das ham wir halt am Anfang gemacht und haben gedacht, ach ja, da kommen wir von dem andern Organismus, und der (O: ja) Organismus mit dem alle arbeiten (uv) der wird uns schon Hinweise geben, welche Gene denn da mutiert sind, das hat auch am Anfang wunderbar funktioniert, aber nur zu ner gewissen (..) für die ersten paar Gene und danach halt überhaupt nicht mehr, und deshalb
Sattler ist nun bei Ebene 3. Thematisch war die Frage, wie man die Gene, die in Wurmstamm A schon identifiziert sind, nun auch in Wurmstamm B finden kann.
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Anfangs hatte das Team von Dr. Sattler die Hoffnung, die Kartographie des schon etablierten Wurms nutzen zu können. Es ging um eine forschungsökonomische Abkürzungsstrategie. Man dachte die Informationen, die über das Modellsystem A bekannt waren, auf die Wurmstamm B übertragen und sich so eine Menge Arbeit bei der Suche nach wichtigen Genen sparen zu können. Diese Hoffnung war aber trügerisch, es gab zu viele nicht eindeutige Fälle, die die Prämisse der Übertragbarkeit in Zweifel gezogen haben. Und es musste systematische Gründe dafür geben, was auch inhaltlich interessant gewesen sein muss. O: Also da ham sie ne Grenze erreicht dann praktisch S: Ham wir ne Grenze erreicht und wir haben halt# das hat keiner vorhersehen können, (O: mhm) und das ist auch der Grund dann für die äh (O: ja), für die Direktorenstelle gewesen, wir haben obwohl die Leute (.) bei den Insekten und den Wirbeltieren zeigen können, es sind fast immer dieselben Gene, die ne Rolle spielen, wenn man wirklich ins Detail geht und sich jetzt wirklich homologe Strukturen in zwei nahe verwandten Organismen anschaut, dann sieht man auf einmal, das sind Unterschiede en masse,
Hier wird ersichtlich, dass Sattler mit seinem Ansatz schon gearbeitet hatte, bevor er die Direktorenstelle angetragen bekommen hat. Diese beruhte auf Erfolgen seiner Vorarbeiten. Sein Arbeitsprogramm hatte sich schon abgezeichnet. Viele vergleichbare Veränderungen (Mutationen) bei den beiden Wurmstämmen waren eben nicht auf dieselben Gene zurückzuführen. Es ergab kein einheitliches Bild. Und das hatte eine große Bedeutung. Viele ältere Fachkollegen waren bis dahin davon ausgegangen, dass sogar beim Vergleich von Insekten und Wirbeltieren es immer dieselben Gene sind, die „eine Rolle spielen“. Aber diese Annahme, die im Prinzip gar nicht bestritten wird, verführt zu einer falschen Schlussfolgerung. Die Arten mögen sich in den Genen gar nicht so sehr unterscheiden, aber das besagt gar nicht viel. In der Art und Weise, wie sie die Gene einsetzen, unterscheiden sie sich erheblich, jedenfalls, wenn man die zwei nahe verwandten Wurmstämme zu Rate zieht. Wenn es hier schon so viele Unterschiede gibt, muss es im Vergleich zwischen Insekten und Wirbeltieren erst recht Unterschiede en masse geben. Man muss also die Perspektive wechseln und sich auf eine Nahoptik einstellen, in der man die Details erforschen kann. Die Gene sind zwar die Bausteine, aber die Gene sind gar nicht so entscheidend, um die Spezifik eines Genotyps zu erklären. Entscheidend ist, welche Funktionen einem Gen zukommen und wie ein Gen in den Gesamtprozess eingespannt ist. – Im Hintergrund geht es darum, wie aus einer gewandelten Perspektive auf Befunde, die sich gegenseitig widersprechen, plötzlich die Grundannahmen sich verändern, und wie daraus ein neuer Ansatz sich entwickelt. Man muss sich jetzt wirklich homologe Strukturen in zwei nahen Verwandten anschauen.
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Es gibt keinen Flügel einer Fliege in ner Maus ja also wir finden so gut wie nur Unterschiede, bei uns ist gar nichts gemeinsam, und ich glaub der springende Punkt ist, wenn man oberflächlich kuckt, kriegt man viele Gemeinsamkeiten, (O: mhm) und man kann, wenn man (.) Arten aus verschiedenen Tierstämmen miteinander vergleicht wie ne Fliege mit ner Maus, man kann nur noch oberflächlich kucken, im Detail kucken kann man nicht, weil es gibt keinen Flügel einer Fliege in ner Maus oder in sonst nem Wirbeltier,
Jetzt klärt sich der Sachverhalt weiter auf. Sattler hatte den Umkehrschluss gezogen: Wenn schon zwischen nahe Verwandten die Unterschiede so groß sind, dann können sie zwischen noch weiter entfernten Verwandten nicht kleiner sein. Das gilt erst recht für Spezies aus unterschiedlichen zoologischen Stammlinien. Folglich muss der Anschein der genetischen Gleichheit trügerisch sein, und dieses Artefakt muss mit dem Ansatz zusammenhängen, der bisher angewandt wurde: der Vergleich einer Fliege mit einem Wirbeltier etwa.10 Die Forscher sahen bislang nur die Ähnlichkeit und waren fasziniert davon. Sie haben viele Gene gefunden, die sich in der Maus und im Elefanten gleichen, und das hat sie auf eine falsche Spur gebracht und dazu verleitet, die Gleichheit als beherrschendes Phänomen zu betrachten. Man hat nicht mit der Möglichkeit gerechnet, dass die Gene in verschiedenen Tierarten sehr unterschiedliche Funktionen haben können und ihre Rolle von der Gesamtkonfiguration abhängt, in der die Gene eingelagert sind. „Es gibt keinen Flügel einer Fliege in ner Maus“. Das heißt, das Gen, das den Flügel macht, gibt es auch in der Maus, aber dort macht es nicht den Flügel, sondern das Bein. Wie es jedoch das Bein hier, den Flügel dort „macht“, darauf kommt es eigentlich an. Die Artendifferenzen sind folglich nicht in erster Linie genetische Differenzen, sondern Differenzen der Gesamtkonfiguration. Da diese Gesamtstruktur nun aber nicht direkt erforscht werden kann, weil sie dafür viel zu komplex ist, muss man sich überlegen, wie man die Bedeutung eines einzelnen Gens in seiner konfigurativen Einbettung sinnvoll untersuchen kann. Man muss sich Funktionsbereiche oder morphologische Einheiten heraussuchen, die zwischen verschiedenen Tierarten vergleichbar sind. Das geht jedoch nur im Vergleich sehr naher Verwandter, unter der Bedingung, dass deren Morphologie sich noch nicht sehr auseinanderentwickelt hat.
10 Die biologische Taxonomie unterteilt die lebenden Organismen in „Reiche“ (regnum), z.B. Tierreich vs. Pflanzenreich, diese in „Abteilungen“ (divisio), die Abteilungen in Stämme (phylum), diese in Klassen (classis), die Klassen in Ordnungen (ordo), diese in Familien (familia), die Familien in Gattungen (genus) und die Gattungen in Arten (species). Einen Tierstamm bilden zum Beispiel die Tiere mit Rückenmark, in Abgrenzung zu den Wirbellosen.
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ja das heißt man muss sehr oberflächlich kucken und deshalb auch die Homologiebetrachtung, (O: jaja) mit Homologien kann man zum größten Teil nicht mehr arbeiten, (O: ja) oder aber sie sind äh vollkommen naiv und nichtssagend, (O: ja) es gibt natürlich Muskelstrukturen, und diese Muskelstrukturen äh haben# sind auch schon im letzten gemeinsamen Vorfahren da gewesen und da gibt’s überraschende Ähnlichkeiten auf molekularer Ebene, aber das ist alles nicht mehr so vielsagend, (O: jaja) und wir können halt jetzt wirklich ins Detail gehen, weil die Arten, die wir vergleichen sind viel näher miteinander verwandt, und daraus äh sieht# da sieht man dann halt viel mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten,
An der Methode der Homologie-Betrachtung kann man sich die Transformation der Biologie in den letzten Jahren verdeutlichen. Früher hat man Homologien gebildet auf der Basis anatomischer und morphologischer Vergleiche. Heute hat man jedoch die Möglichkeit, Abstammung auf der Ebene genetischer Bausteine zu erforschen, daher ist jene Betrachtungsweise viel zu ungenau geworden. Sie verführt zu Schlussfolgerungen, die irreführend sind, weil sie z.B. an Gewebestrukturen ansetzen, die sich gleichen, in Wirklichkeit aber aus verschiedenen Prozessen hervorgehen. Wer den Ansatz heute noch betreibt, hat die Konsequenzen der genetischen Revolution noch nicht ausgelotet. (Manche Biologen ziehen übrigens den Schluss daraus, dass man das Homologisieren ganz lassen sollte. Sie setzen auf das sogenannte DNA-Barcoding, ein Verfahren zur Artenbestimmung von Verwandtschaftsverhältnissen, das sich ein Marker-Gen zunutze macht, welches in der DNA in den Mitochondrien vorhanden ist und relativ leicht bestimmt werden kann. Soweit geht Sattler gar nicht. Er sieht auch für die Homologisierung eine Zukunft, aber sie muss an nahe verwandten Spezies durchgeführt werden.) Woher kam die Intuition für den neuen Ansatz? (O: ja) und das hätte man also vor fünf sechs Jahren hätten wir uns das nicht träumen lassen, was wir an Unterschieden wirklich finden zwischen diesen beiden Arten, und jetzt isses halt so weit, dass wir O: Und würden sie sagen# Entschuldigung wenn ich sie# würden sie sagen, dass sie jetzt so äh also die Unterschiede äh in den Vordergrund treten, liegt das in diesem Fall an der Betrachtungsweise oder ham sie äh liegt das daran, dass sie äh genauere Messverfahren oder S: Ja also ich glaube es liegt an der methodischen Tiefe, man kann halt meistens# (O: ja), ich meine die die Modellorganismen, mit denen wir arbeiten in der Biologie (O: ja) die sind natürlich aus bestimmten Gründen ausgewählt, (O: ja) sie können also nur mit (uv) und nur mit (uv) hochauflösende äh (uv) Genexperimente machen (O: ja) und man hat jetzt viel Geld investiert in die Maus und in den Frosch und in den ?Zebra?fisch jetzt
Der Interviewer will wissen, was den Umschwung genau ausgelöst hat. Ging es von einer neuen Überlegung aus oder haben neue Messverfahren ihn ausgelöst? Sattler
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erklärt es damit, dass der neue Ansatz („nahe Verwandte“) eine ganz neue Sichtweise auf die Dinge ermöglicht hat, weil er Daten hervorbringt, die der alten Betrachtungsweise diametral entgegenlaufen. Er hat hier ein Aufstufungsmodell im Kopf. Die neue Sichtweise baut auf der alten auf, weil auch sie vergleicht; aber sie wählt eine andere Vergleichsdimension, und die daraus hervorgehenden Befunde führen dazu, dass eine ganz andere Sachverhalt in den Vordergrund rückt: Nicht Ähnlichkeiten, sondern Differenzen. Sie löst aber nicht einfach jene Befunde der Ähnlichkeit ab, sondern ergänzt sie auf einer nächsten Stufe der „methodischen Tiefenschärfe“. Es handelt sich um eine Korrektur des Gesamtbildes, nicht um einen Widerspruch. – Die Folgepassage ist nicht ganz klar, ich vermute aber, dass Sattler folgendes meint: Er unterstellt, dass es die neue Sichtweise noch etwas schwer hat, sich überall durchzusetzen, und dafür gibt er hier eine einfache Erklärung: Die Modellsysteme, die seit langem etabliert sind und mit denen die meisten Labors weltweit arbeiten, Drosophila, Frosch, Maus, Zebrafisch, wurden aus Gründen ausgewählt, die noch nicht die Notwendigkeit eines nahen Vergleichs in Rechnung stellten. Sie repräsentieren strukturell den alten Ansatz. Mit ihnen sind jedoch hochauflösende Genexperimente noch nicht möglich, das geht nur mit den beiden Wurmarten (so deute ich den Satz). Hinter den etablierten Modellsystemen stehen jedoch eingespielte internationale Debatten, Routinen und eine Befundlage, die nur auf diese Modellsysteme vergleichbar ist. Das ganze Geld steckt in diesen Modellsystemen, und Labors, die mit Drosophila oder dem Frosch arbeiten, können nicht einfach umsatteln. Das Paradigma hat eine gewisse Trägheit, die auch in der labortechnischen Seite der Modellsysteme wurzelt. Die Fachwelt kann den neuen Ansatz deshalb gar nicht so ohne weiteres aus eigenen Forschungen nachvollziehen und sich zu eigen machen. Es sind strukturelle Gründe, die dagegen stehen, nicht unbedingt intellektuelle. Aber vielleicht gibt es auch den Effekt, dass die Routinen dieses eingespielten Betriebs sogar das Denken beeinflussen. Es wird jedenfalls eine gewisse Zeit dauern, bis sich die Lage geändert haben wird. Sattler ist mit seinem neuen Ansatz aus dem etablierten Forschungsbetrieb ausgestiegen. Avantgardismus des Forschens als Normalität des Berufs O: Wie heißt die denn, heißt die nicht sogar bei ihnen die Gen-Maus oder so die oder wie gibt’s doch irgend so ne saloppe Bezeichnung (.) oder wie hatten die die genannt da in [XXX Name einer süddeutschen Stadt] die Leute S: Ja aber die Maus ist en klassisches Objekt logischerweise, und sie können das auf die meisten anderen Organismen einfach nicht übertragen, sie können also die Methodik, äh die man dort hat nicht auf andere Organismen anwenden, (O: ja) und deshalb bleibt halt vieles dann sehr sehr oberflächlich, wenn man doch evolutionäre Ansätze (O: ja) nutzt und ich hab mir jetzt halt en System gesucht, wo wir wirklich die gesamte oder fast die gesamte Methodik, die wir aus dem einen Organismus aus dem Wurm aus (uv) kennen auch auf das andere System
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übertragen können, das dauert ne Weile, ehe man das alles stehen hat, und wir hams immer noch nicht komplett stehen, aber der Vorteil ist dann, dass man natürlich mit ner viel höheren Auflösung bestimmte Fragen angehen kann, (O: mhm) und das sehen wir jetzt und dafür# deshalb finden wir andere Sachen als die meisten anderen, (O: ja) und das hat natürlich immer Vorteile und Nachteile, viele wollen das natürlich nicht sehen und nicht hören, aber da muss man
Sattler bestätigt unsere Lesart, nach der auch die Eignung der Modellsysteme eine große Rolle spielt und die Maus ein eher ungeeignetes Modell für die anstehende Etappe der entwicklungsbiologischen Forschung ist. Es müssen nicht nur nahe Verwandten verglichen werden, sondern hinzukommt, dass die Vergleichsbasis wirklich stehen muss. Entweder gibt es bei der Maus keine vergleichbar nahverwandte Spezies, bei der dies möglich wäre. Oder die Maus ist ein schon so komplexes Lebewesen, dass eine parallele labortechnische Erschließung zweier Mausarten viel zu aufwendig wäre. Das bleibt hier offen. Schon bei den viel kleineren Wurmstämmen hat Sattlers Labor so viel zu tun, dass es eine Zeit dauert, bis alles steht. Der Ansatz folgt einem Avantgardismus, und der wird von einer geduldigen Arbeit an den Grundlagen getragen, die sich jetzt erst allmählich auszuzahlen beginnt. und das hat natürlich immer Vorteile und Nachteile Die Vorteile liegen auf der Hand: Sattler stößt sehr weit auf Neuland vor. Die Nachteile liegen zum Beispiel darin, dass dieser Avantgardismus gegen die Ungläubigkeit und das Beharrungsvermögen anderer durchgesetzt werden muss. Das führt auch in die Einsamkeit. Sattler drückt indirekt sogar sein Verständnis dafür aus, denn er kennt seine eigene Forschung und er kennt die Erfahrungsgrundlagen seiner Kollegen, und er schätzt die Lage so ein, dass die Kollegen seine eigenen Befunde gar nicht richtig nachvollziehen können. Aber das schreckt Sattler nicht. Es ist für ihn normal. O: Muss man sich durchsetzen S: Muss man mit leben jaja
Man kann ohnehin nichts daran ändern, wenn Kollegen den eingeschlagenen Weg nicht mitgehen wollen. Der Avantgardist ist davon überzeugt, dass er sich von selbst durchsetzen wird, wenn sich seine Resultate erst einmal mitgeteilt haben werden. Er exponiert sich und muss damit leben. Neid bei der Berufung O: Gibt es Anfeindungen auch natürlich S: Och die gibt’s immer, die gibt’s immer, ich mein, da muss man mit leben, (O: ja) viel schlimmer war natürlich muss ich jetzt schon sagen die Berufung selbst, also ich war 34 als ich berufen wurde, (O: ja) und war der Jüngste nach meinem Vorgänger, dem Herrn ZZZ [Ei-
328 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE genname], der war auch mit 34 berufen worden (O: ja) und dazwischen war 30 Jahre dann keiner mit dem Alter und es (.) da muss man durch O: Gibt es Neider (S: ja, ja) ja lässt sich denken ja S: Ja so ist das Leben
Die ‚frühe, Berufung ist Ausdruck einer riskanten Berufungspolitik in der MPG, der ein hohes Maß an Vertrauen in die Fähigkeiten von Sattler entspricht. MPI-Direktoren sind auf Lebenszeit berufen, genießen einen den Richtern ähnlichen unabhängigen Sozialstatus. In eine solche Position zu gelangen ist Ziel vieler Forscher. Folglich ist der Neid groß, wenn es einer geschafft hat. Normalerweise haben Wissenschaftler heute nicht die Möglichkeit, so jung abgesichert alle Energien nur noch auf ihre wissenschaftliche Arbeit lenken zu können. Sie müssen den ganzen Karrierezyklus durchlaufen, prekäre Lebensplanungen aushalten, und dürfen sich nicht darin entmutigen lassen. Es ist also ein Neid auf die Muße und Freistellung, die Bevorzugung einer bestimmten Forschungsstrategie und einer Person. Hier ist überdies angedeutet, dass Missgunst nicht nur von gleichaltrigen Kollegen kam, sondern auch von älteren MPI-Direktoren. Es war in der MPG also ein Politikum. O: Ja und äh und da war als sie diese Grenze erreicht haben, da war sozusagen die Entscheidung also sie müs# also sie ham gesehen sie mussten äh S: wir ham gesehen, wenn wir jetzt# wir ham also weit über 100 Mutanten und wir würden gerne wissen, was diese Gene# wer diese Gene alle sind und äh da war dann halt klar, wie kommen jetzt mit dem mit dem Ansatz, wir nehmen das Wissen von dem andern Wurm und raten mal kommen wir nicht mehr weiter, (O: mhm) und wir ham halt am Anfang ham wir gut geraten, das ging alles wunderbar, (O: mhm) und dann ham wir aber als wir das dann im Detail analysiert haben so viele Unterschiede festgestellt, dass klar war, wir kommen jetzt so nicht weiter, (O: mhm) und dann mussten wir unabhängig werden, aber uns war klar, wenn wir unabhängig werden wollen von dem Wissen aus dem andern Wurm, dann müssen wir ressourcenmäßig extrem viel investieren, und das war etwas, was wir
Sattler hatte mit seiner Gruppe an dem neuen Wurmstamm B etwa hundert Exemplare mit genetisch verursachten Abweichungen gefunden. Man konnte aber die verantwortlichen Gene nicht auf dem Weg einer Übertragung von Wurmstamm A erschließen, bei der man vergleichbaren Mutanten schon Gene zuordnen konnte. Das hat nur bei einer geringen Zahl an Mutationen geklappt und das Verfahren kam bald an eine Grenze. Man musste die Spezies von Grund auf neu erschließen und das Genom komplett analysieren. Hierzu war die Einarbeitung in die Genomanalyse notwendig. Deshalb wurde das Projekt benötigt, von dem oben die Rede war. Die Investitionsentscheidung resultierte aus einer Erfahrung mit dem neuen Ansatz und war eine Notwendigkeit, um ihn aufrechtzuerhalten.
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O: Was Geräte anbetrifft vor allen Dingen oder S: Geräte O: Personal S: Verbrauchsmittel und Personal, (O: mhm) und auch Räumlichkeiten, also das hätten wir da drüben (uv) gar nicht machen können, und dann hier ham wirs an und für sich sofort äh ham wirs angefangen als wir hier hin umgezogen sind, und dann ham wir halt die Vorarbeit von [einer] Firma gebraucht, weil da war ein Teil, den konnten wir nicht selber machen Das ist eine holländische Firma, die hat uns dann das Produkt geliefert, ne bestimmte Bibliothek, (O: ja) wo man DNA drin hat in relativ großer Form, (O: mhm) das kann man mittlerweile kaufen, das ist ganz gut (O: mhm)
Es gibt Unternehmer, die sich darauf spezialisiert haben, solche Produkte und Dienstleistungen anzubieten. Das setzt natürlich voraus, dass es dafür einen Markt gibt. An diesem Markt kann man ablesen, wie weit die Biologie heute als Forschungsbetrieb entwickelt ist. Es gibt nicht nur hochspezielle Wissensbestände, die standardisiert werden können, sondern auch eine hinreichende Nachfrage. Allerdings ist nicht klar, ob die holländische Firma ein fertiges Produkt geliefert hat, oder ob sie diese DNA-Bibliothek speziell für den Wurm B anfertigen musste. Es hört sich jedenfalls so an, als habe die Lieferung auch Labormaterial für die Genomanalyse umfasst. und äh und dann wir wann ham wir selber angefangen jetzt im April ham wir angefangen, (O: mhm) und das hat uns dann vier Monate gekostet mit vier Leuten äh O: So schnell ist das gegangen (S: ja) ham sie damit gerechnet, dass das so schnell S: Nee, nee, (O: ja) also dass das so schnell geht, dass es so erfolgreich sein würde, hätten wir uns nicht träumen lassen und äh O: Woran lag das, ham sie Glück gehabt oder äh ist enorm viel gearbeitet worden S: Es ist enorm viel gearbeitet worden, die Leute sind sehr motiviert, wir ham auch das Glück, dass die zwei Stämme, den kalifornischen und den Washington-Stamm den wir haben, die sind hoch polymorph, (O: ja), das Glück haben nicht alle, das ist nun einmal so O: Was heißt hoch polymorph? S: Hochpolymorph heißt, das ist dieselbe Art und sie können die beiden Stämme auch kreuzen und kriegen Nachkommen, (O: mhm) aber molekular ist äh jetzt scheinbar jede hundertste Base also jeder hundertste Baustein ist unterschiedlich, (O: ja) und das ist etwas ganz Tolles, also beim Menschen ist es O: Also große Variation S: So große Variation, also beim Menschen ist jeder tausendste Baustein anders, (O: ja) und wir sehen halt jetzt zwischen diesen beiden so etwa jeder hundertste bis zweihundertste ist anders, und das ist ein
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Polymorphismus nennt man eine Vielgestaltigkeit und Ausgestaltung mehrerer Formen in einer Organismenart. Der Mensch wird zum Beispiel aufgrund seiner großen Merkmalsvariabilität als polymorphe Spezies angesehen. Die Menschen sehen nicht alle gleich aus, sondern zeigen sowohl in größeren Gruppen („Rassen“), als auch als Individuen erhebliche Unterschiede in der Hautfarbe, Größe, Körperbau und vielen anderen Merkmalsdimensionen. In genetischer Hinsicht hat man hier einen Polymorphismus der Phänotypen vor sich, also das Vorkommen relativ vieler unterschiedlicher Phänotypen in einer Population. Das Glück, von dem Sattler spricht, besteht darin, dass die beiden Wurmstämme eine zehnmal größere Polymorphie aufweisen, als der Mensch, wenn man nur ihr Genom betrachtet. Jede hundertste bis zweihunderste Base ist anders, das heißt, die DNA eines jeden Individuums weist an jeder fünfzigsten Sequenzstelle einen Unterschied zu den Artgenossen auf. („Basen“ sind die chemischen Bausteine der DNA. Die DNA ist aus sechs dieser Bausteine zusammengesetzt: Phosphorsäurerest, Zucker, Adenin, Thymin, Guanin und Cytosin. Dabei sind die Nukleotide der DNA über die Phosphatgruppe des Zuckers mit dem Zucker des nächsten Nukleotids verbunden. Die Nukleotide selbst bestehen aus Thymin (T) und Cytosin (C) (Pyrimidine), Adenin (A) und Guanin (G) (Purine), wobei immer ein Pyrimidin und ein Purin miteinander kombiniert sind und insgesamt vier Kombinationen T-A, A-T, C-G, G-C möglich sind.) Die große Variabilität bedeutet, dass die einzelnen Exemplare der Wurmart sich voneinander erheblich unterscheiden. Ihrer „Individualität“ ist viel elementarer und in mehr Dimensionen angelegt. Man hat also eine große Chance, ständig neue Merkmalskonfigurationen anzutreffen. – Diese Variabilität ist offenbar von großem Vorteil für die labortechnische Arbeit. O: Muss man sich das so vorstellen, da man sowieso nicht alle kennt oder nur bis# oder kennen sie alle (S: nee) also sie müssen sozusagen einfach äh nach Wahrscheinlichkeiten S: Wir suchen nee wir suchen jetzt zwischen diesen beiden nur nach Unterschieden, (O: ja) und schauen dann, dass wir Unterschiede# wir ham jetzt äh hundert O: Wo kennt man sie eigentlich alle, bei Droso# Drosophila kennt man sie alle inzwischen oder S: Bei (uv)[wahrscheinlich der Wurmname] auch, (uv) ist komplett sequenziert, das war der erste, (O: ja) Drosophila und dann jetzt der Mensch und die Maus ist fast fertig, (O: mhm) und aber wir haben jetzt halt diese Unterschiede zwischen diesen beiden Stämmen, (O: ja) wir haben 140 Unterschiede, die sind quer übers Genom verteilt, (O: mhm) und die können wir ganz genau benennen, da ham wir also (uv) und die können wir dann sichtbar machen in relativ schneller Art und Weise, und deshalb können wir jetzt und wir wissen jetzt ganz genau, in welcher Beziehung die zueinander stehen, (O: mhm) also wir wissen genau, auf welchem Chromosom und in welcher Reihenfolge diese Unterschiede auftreten, und wir können jetzt dann hingehen und jede Mutante, die wir haben, relativ dazu kartieren, wir können also sagen, da ist der Unterschied Nummer 15, (O: ja) die sind einfach alle benannt, und dieser Un-
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terschied Nummer 15 den wir haben zwischen diesen beiden Stämmen der ist ganz nah zu der Mutante xy, (O: ja) und das ermöglicht uns dann mittelfristig, diese Gene alle zu kennen, (O: mhm) und das ist# also wir ham im April damit angefangen und sind jetzt so weit, dass viele Leute bis auf 100 (uv) Basen an ihr Gen dran sind oder noch weniger und das ist schon enorm, also das hätten wir uns im April niemals vorstellen können, dass das so schnell gehen kann.
Gemeint sind jetzt die stabilen, gleichbleibenden Strukturdifferenzen zwischen Wurmstamm A und Wurmstamm B. Davon sind 140 bekannt und mit Nummern versehen. Sie weisen auf unterschiedliche genetische Anlagen hin. Die funktionalen oder strukturellen Unterschiede werden nun genutzt, um die Gene im Wurm B zu erschließen, indem man versucht, ihnen über die anders organisierten Funktionen auf die Spur zu kommen. Das geschieht über eine Einkreisung und Annäherung. „Bis auf hundert Basen dran“ heißt, dass die Lokalisation des mutierten Gens in einem Abschnitt der Nukleotide bis auf eine Genauigkeit von hundert oder darunter präzisiert worden ist. Das ist offenkundig sehr genau. Wie dies genau gemacht wird, bleibt offen, es vollzieht sich durch mehrfache Bestimmung, die immer genauer wird. Das Ziel muss natürlich sein, die Nucleotid-Sequenz exakt zu bestimmen und die beteiligten Basen lückenlos und ausschnittscharf zu bestimmen. Das Interview kommt im Folgenden zu Fragen der Gruppenleitung.
ABSCHNITT IV. W IEDER F RAGEN W ISSENSCHAFTSPRAXIS
DER INSTITUTIONELLEN
O: Also wenn man das wenn sie jetzt nachträglich das äh äh viel gearbeitet, beruht das darauf, dass primär das äh wirklich äh also sie sagen die Leute waren sehr motiviert, das kann man ja mehr quantitativ sehen, sie waren bereit, auch mal (S: ja) drei Stunden dranzuhängen (S: ja) äh und nicht gleich den Griffel hinzuschmeißen, (S: ja) oder muss man das eher so dass sie sozusagen äh verschärft mitgedacht haben S: Beides (O: beides) beides ja, ja, also ähm (..) es liegt wirklich dran weil ich mein man kommt natürlich sehr schnell an die Grenzen, also ich hab jetzt wie gesagt 15 Leute und sie können nicht mehr jedes einzelne Experiment mit durchdenken (O: mhm) das geht nicht ähm und es liegt halt immer wieder dran, dass die entscheidenden Mitarbeiter wirklich dann doch äh selbständig ihre Kontrollen machen und selbständig mitdenken, und das muss dann zum Teil halt auch bei den TAs passieren, was nicht immer einfach ist ähm (O: mhm) und da bin ich halt in der glücklichen Lage, dass ich en paar ganz hervorragende TAs hab (uv)
Das Forschungsprogramm, um das es hier geht, läuft nur mit einer größeren Gruppe von Wissenschaftlern. Diese müssen am gleichen Strang ziehen und sich aufeinander verlassen können. Sattler verlässt sich darauf und muss sich darauf verlassen,
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dass jeder einzelne Forscher aus dem Kernteam („die entscheidenden Mitarbeiter“) in der Lage ist, seine Einzeluntersuchungen im Lichte der Gesamtfragestellung selbständig voranzutreiben. Er kontrolliert sie nicht, weil er weiß, dass sie sich selbst und gegenseitig kontrollieren. Und er verlässt sich darauf, dass sie gut genug sind, um einzelne Experimente selbständig zu konstruieren und durchzuführen. Anders ginge es gar nicht. Teams dieser Größe würden nicht funktionieren, wenn die Mitarbeiter nicht in diesem Sinne durchgängig professionalisiert wären. Das schließt hier wie selbstverständlich ein, dass die Mitarbeiter die Fragestellung des Programms vollständig verinnerlicht haben und sich gedanklich selbständig darin bewegen können. Die Idee des Forschungsprogramms ist also längst sozialisiert worden und zum leitenden Gedanken einer Forschergruppe geworden. Man könnte in den modernen Wissenschaften solche komplexen Forschungsprogramme gar nicht verfolgen, wenn dies nicht möglich wäre. Professionalisierung schließt hier also nicht nur methodische Selbstkontrolle und Gewissenhaftigkeit ein, sondern auch „Kongenialität“ und die Fähigkeit, sich in den Dienst eines Vorhabens zu stellen, das ein anderer Forscher entworfen hat, der dafür vielleicht den Hauptruhm einstreichen wird. Kehrseitig muss freilich auch dieser Forschungsleiter (Sattler) in der Lage sein, seine Idee mit anderen Wissenschaftlern gemeinsam voranzutreiben und gewissermaßen die Kontrolle über jedes einzelne Experiment aufzugeben bzw. zu delegieren. Ein solches Vertrauen muss sich einspielen. Sattler nimmt natürlich in Anspruch, dass er nach wie vor die intellektuelle und konzeptionelle Führung des Projekts innehat und die Konsequenzen und Bedeutungen einzelner Experimente für das Ganze am ehesten abschätzen kann. Aber er braucht doch Kollegen, die mitdenken und ihn in der Interpretationsarbeit unterstützen. Das gilt auf allen Ebenen des Projekts. Auch die Technischen Assistentinnen (TAs) sind eingebunden, und müssen ein gewisses Spektrum der Forschungsarbeit selbständig einschätzen und konzipieren können. Das scheint nicht immer einfach zu sein, aber hier muss eher betont werden, dass Sattler von den TAs etwas verlangt, das nicht selbstverständlich ist. Offenkundig hat Sattler Assistentinnen, die er in die Forschungsarbeit hat intellektuell einbinden können, und die nicht nur quantitativ mehr leisten, als tariflich vereinbart, sondern die sich wie Kolleginnen verhalten, weil sie sich die Fragestellung zu eigen gemacht haben und motiviert sind. Gute TAs und ihre Ausbildung Das Thema ist für unsere Untersuchung natürlich sehr interessant, denn Technische Assistentinnen sind nicht studiert und erfahrungswissenschaftlich sozialisiert. Man kann nicht unterstellen, dass sie eine Professionalisierung durchlaufen haben. Sattler behandelt sie aber so und verlangt es auch von ihnen und er ist offenbar in der glücklichen Lage, …ein paar ganz hervorragende TAs (zu) haben. Das wirft die Frage auf, woher sie ihre Professionalisierung entwickelt haben und wo ihre Grenzen liegen.
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O: Wenn wir da ganz kurz mal drauf eingehen könnten ähm (.) das wäre natürlich jetzt für uns wichtig, man könnt sich ja vorstellen, dass die TAs (.) ja so würde man annehmen müssen nur bedingt äh (..) so was wie äh ja wie soll man sagen also äh wissenschaftliches Handeln äh verinnerlicht haben ja, da ist ja mehr ne Fachschul äh oder Fachhochschulausbildung die die ham, die sind ja eigentlich nicht primär in Forschung sozialisiert worden nicht S: Naja das ist richtig, also da müssen sie# also sie können nicht von der Schulbildung# also zuerst mal muss man sagen, die Schulbildung ist nirgendwo so unterschiedlich wie bei den biologisch und chemisch-technischen Assistenten, (O: ja) also sie ham wenn sie hier in Süddeutschland sind# es gibt im Bodensee ne Schule (O: ja) also das ist ähm (.) das ist mehr wie Vordiplomsniveau, (O: ja) also das ist hervorragend, äh und dann ham sie in Norddeutschland Schulen, das ist ne mittlere Katastrophe, also wir ham jetzt äh in ner Schwangerschaftsvertretung oder ner Mutterschutzvertretung ne TA aus Ostdeutschland und (O: ja) da ist der Zustand der Schulen katastrophal gewesen, also da mussten wir wirklich bei Adam und Eva wieder anfangen. O: Wie gleichen sie das aus dann (..) einarbeiten oder S: Äh mit einarbeiten und ich mein, also was ich jetzt mache ähm und das hat mir geholfen also ich hab halt äh wirklich verschiedene Wertigkeiten (O: mhm) von TAs und äh (.) ich hab halt gemerkt, wenn man mit den Leuten offen darüber redet und das klarstellt, dann ist an und für sich jeder damit äh einverstanden,
Sattler spricht jetzt als Teamleiter, der das Niveau seines Projekts zu verteidigen hat. Es geht um eine leistungs- und eignungsgerechte Verteilung von Aufgaben und wahrscheinlich auch von Vergütungen. Er hat den TAs seine Einschätzung ihrer Arbeitsleistung offen gesagt und die weniger anspruchsvollen Routinearbeiten den weniger gut ausgebildeten und motivierten TAs, die anspruchsvolleren Tätigkeiten den besseren TAs übertragen. Es wird ein bestimmter Führungsstil erkennbar. Sattler entscheidet nicht einfach hierarchisch-autoritär, ohne seine Entscheidung zu begründen. Er strebt Einverständnis an und er spricht potentielle Probleme, die aus unterschiedlichen Niveaus resultieren könnten, direkt an. Dieser Leistungsrealismus ist integrativ und soll Frustration und Missgunst vermeiden, aber er dient auch einer maximalen Ausschöpfung der Arbeitskraft der Einzelnen für das Kollektiv. Dass dieser Führungsstil gelingt, hängt natürlich davon ab, dass Sattlers Einschätzungen der Fähigkeiten seiner Mitarbeiter von deren Selbsteinschätzung nicht zu sehr differieren. Er scheint da aber bisher keine größeren Konflikte gehabt zu haben. Was Sattler über die unterschiedlichen Ausbildungsniveaus der TA-Schulen sagt, braucht nicht weiter ausgelegt zu werden. Auffällig ist, dass er nicht von einzelnen Abgängern der Schule, sondern gleich von den Institutionen selbst spricht und generalisiert. Er hat also mittlerweile einige Erfahrung mit TAs und vielleicht greift er auch auf die Meinung von Kollegen zurück, mit denen er sich über das Problem ausgetauscht hat.
334 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE (O: mhm) und ich hab also von Anfang an nicht versucht, die alle über einen Kamm zu scheren und die alle gleichzumachen, sondern (.) Unterschiede in den Kenntnissen und auch in der Leistungsbereitschaft die werden halt dann honoriert dahingehend O: Könne sie die unterschiedlich bezahlen? (S: ja) das geht (S: ja) wie machen sie das S: Ja ich mein wir ham halt# ich hab halt sechs TA-Stellen und davon sind einige BAT 5 und einige sind BAT 6 (O: ja) und ähm ich hab halt jetzt wirklich noch die Variabilität weil ich halt noch (O: ja) jung bin und wir erst neu angefangen haben, dass ich auch die Chance hab, dann einige halt auf die höheren Gehaltstellen zu bringen
Die Stellen, die ihm zur Verfügung standen, waren nicht mit älteren Mitarbeitern besetzt, sondern konnten an die neu eingestellten Technischen Assistentinnen differenziert vergeben werden. Sattler hatte noch Spielraum für Beförderung, den ein älterer Direktor nicht hat, dessen Stellen seit Jahren besetzt sind. O: Geht’s auch bis BAT 4? S: Ähm Viererstellen ham wir nicht O: (hustet) Entschuldigung S: Nee Viererstellen ham wir nicht, wir können da mit Leistungszulagen (O: ja) kann man da en bisschen was machen, aber äh nicht so viel (O: ja) ja und da hab ich halt die TAs äh also dieses Projekt, was wir jetzt da gemacht haben, das waren also letztendlich drei TAs und ein Doktorand, (O: mhm) und ich hab also von vornherein abgesteckt, wer was zu machen hat und wer welche Rolle spielt und da hat sich dann jeder in diese Rolle äh eingefügt (O: mhm) und es hat also wunderbar funktioniert, (O: ja) und es ist auch wirklich so, ich bin da sehr überrascht, also die TAs wollen auch nicht alle ne führende Rolle spielen, (O: mhm) also ich hab zum# also als ich meine Nachwuchsgruppe hatte, hatte ich eine TA, die ist jetzt leider nicht da, die wär sicher en guter (O: ja) Gesprächspartner gewesen ähm (Kassettenwechsel) S: ähm (O: ja) (..) das war meine erste Mitarbeiterin, die ich hatte, also ich hab angefangen mit einem Doktoranden und mit dieser einen TA und da hatte ich natürlich viel mehr Zeit, (O: mhm) das heißt die beste Ausbildung haben dieser Doktorand und diese TA genossen, (O: mhm) und ich hab halt da wirklich gehofft, dass die lange bleiben wird und das ist auch passiert, die identifiziert sich natürlich in ner ganz andern Art und Weise, die ist mit mir großgeworden also wir (O: ja) ham mit zwei Leuten angefangen und äh (O: ja) jetzt ist sie ChefTA äh und das ist schon (O: ja) also sie hat sehr sehr viel gelernt, viel mehr als alle andern, und die kann heute en Doktoranden anlernen, (O: mhm) und die kann auch (O: ja) sechs äh Monate am Anfang von ner Doktorarbeit die schmeißt die einfach, das ist kein Problem, und das ist natürlich sehr sehr hilfreich (O: ja) und äh auch als wir umgezogen sind von da drüben nach hier, ich mein das war sehr sehr hilfreich ne verdiente Mitarbeiterin zu haben, auf die man sich verlassen kann und zu wissen, die schmeißt mir das schon, auch wenn ich jetzt mal drei Tage nicht da bin und äh und das war schon sehr sehr (O: ja) sehr sehr hilfreich, und dann hab ich bei der zweiten halt gesehen, die wollte in so ne Führungsrolle gar nicht rein,
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(O: mhm) und jetzt im Moment hab ich (.) fünf TAs, eine ist halbtags und die vier, die Vollzeit da sind, davon sind zwei, die in Führungsrollen sein wollen, und zwei, die es nicht wollen, (O: mhm) und das äh funktioniert nach en paar Problemen mittlerweile relativ gut, (O: mhm) und dann muss man dann halt immer zwischendrin mal eingreifen, aber das geht (O: ja) an und für sich ganz gut. O: Wie kriegen sie das mit (.) was da läuft
Die Ausnahmestellung der Assistentin bestätigt einerseits die These, dass TAs normalerweise nicht professionalisiert sind. Andererseits kann man an diesem Sonderfall sehen, wie die Bildungsprozesse der Professionalisierung strukturell gegriffen haben, die normalerweise nur von akademisch gebildeten Forschern durchlaufen werden. Die Assistentin hat eine Nachsozialisation durchlaufen, die zwar inhaltliche Grenzen hat, aber doch weit reicht, und damit zusammenhängt, dass sie mit Sattler zusammengearbeitet hat, als dieser seinen neuen Forschungsansatz entwickelte. Die junge Frau wurde von ihm von Anfang an wahrscheinlich sehr weitreichend in die Arbeit einbezogen und wahrscheinlich hat Sattler sie auch gerade in der Phase der frühen Projektkonzeption viel kontaktiert und einen Austausch mit ihr gepflegt. Davon konnte sie persönlich profitieren und sie hat sich in dieser Situation anschaulich klar machen können, was Forschung ist. In das Thema des konkreten Forschungsprojekts ist sie also tiefer eingedrungen, als ihr von ihrer Ausbildung her normalerweise möglich wäre und abverlangt würde. Es scheint sie auch inhaltlich früh interessiert zu haben, und sie wollte wissen, wie es weitergeht und welches Schicksal der Ansatz in der Empirie nehmen wird. Sie muss mit dem Projekt inhaltlich identifiziert sein. Und offenbar hatte sie die intellektuelle Kapazität, in das Forschungsthema hineinzuwachsen und Lücken ihrer naturwissenschaftlichen Grundlagenausbildung kompensieren zu können. Sie kennt den Forschungsansatz von seinen Anfängen her und genießt daher eine natürliche Autorität bei Doktoranden, die die Genese des Projekts nicht persönlich miterlebt haben, weil sie erst später dazu gestoßen sind. Die These ist also, dass ihre Professionalisierung mit der engen Verflechtung mit Sattler und seinen Anfängen zusammenhängt und mit dessen Projekt inhaltlich verbunden ist und bleibt. Eine eigenständige Forschungspraxis wird sie weder entwickeln wollen, noch können, weil sie in den elementaren Fragen des Fachs nicht breit genug verankert ist. Aber das ist von einer Assistentin ja auch gar nicht gefordert. Für die Professionalisierungstheorie ist der Punkt aber wichtig, weil man daran zeigen kann, dass der professionalisierte erfahrungswissenschaftlichen Habitus eben nicht zwingend-konstitutiv von dem Absolvieren eines institutionellen akademischen Studiums abhängt, sondern in erster Linie von einem Bildungsprozess, der in die Logik der Forschung hineinführt. Auch wenn die fachliche Spannweite von TAs nicht an die der durchschnittlichen Biologiestudenten herankommt, kann es doch vorkommen, dass es TAs gibt, die für die Forschung habituell besser geeignet sind, als Doktoranden, die ein Studium an der Universität nur
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institutionell durchlaufen haben und den Forscherhabitus nicht verinnerlichen konnten, weil sie entsprechende Bildungsprozesse nicht erfahren haben. Im Folgenden verschiebt sich der Fokus immer mehr von der Schilderung der Ausnahmestellung dieser Assistentin hin zu der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Gruppendynamik und Führungsstil. Wie hält man Kontakt zur „Bench“? Die Laborkultur S: Ähm (.) ja das wird zum Teil schon schon schwierig, aber wenn man aufmerksam durch die Gegend läuft und also ich mein (O: ja), die Türen sind immer auf und äh man kriegts schon mit (O: ja) man kriegts schon mit, also wenn man# also ich schau immer, dass ich (..) im Durchschnitt (.) alle zwei Wochen ein Reise hab und den Rest der Zeit immer da bin (O: mhm) und dann geht’s an und für sich, dann kriegt man schon noch mit was läuft.
Es wird eine spezifische Laborkultur erkennbar, an der einige zentrale Aspekte hervorgehoben werden können. Die „Türen sind immer auf“, das heißt, es gibt eine offene, durchlässige Arbeitsatmosphäre, in der im Prinzip jeder an der Arbeit des anderen partizipieren kann. Wenn an den Labortischen etwas Wichtiges geschieht, bekommt man es mit. Die Mitarbeiter separieren sich nicht in ihren Arbeitszimmern, man läuft sich ständig über den Weg und deshalb kriegt man mit, was an den einzelnen Arbeitsplätzen gerade gemacht wird. Man darf nur nicht zu lange weg sein, denn dafür ist die Dynamik zu hoch. Sattler hat sich dafür zur Regel gemacht, die reisebedingte Abwesenheit etwas zu streuen. Diese Laborkultur beinhaltet, dass die einzelnen Mitarbeiter oder Mitarbeitergruppen sehr selbständig ihren Arbeitsplänen nachgehen und wenig Leitung benötigen. Man arbeitet nebeneinander an getrennten Forschungssträngen, kann aber daran Anteil nehmen, was der Nachbar macht. Man teilt die Laborräume und Flure, vergleichbar dem Großraumbüro einer Zeitungsredaktion, in der verschiedene Ressorts nahe nebeneinander arbeiten. Diese Laborkultur erhöht den Grad der Vergemeinschaftung der Mitarbeiter, denn sie schafft jede Menge Gelegenheiten des Austauschs, etwa bei der gemeinsamen Pausengestaltung. Man teilt einen Arbeitsalltag miteinander, in dem der Einzelne in den Sog des Laborkollektivs gezogen wird. Es teilt sich z.B. mit, wer morgens zuerst an seinem Laborplatz sitzt oder wo gerade etwas Spannendes ansteht oder wer einen Artikel in einer wichtigen Zeitschrift platzieren konnte. Das erhöht die Identifikation des Einzelnen mit dem Labor und seinem Forschungsprogramm und erzeugt ein kollektives Bewusstsein für die Fortschritte, die in ihm gemacht werden. Gleichzeitig spornt diese Atmosphäre den Einzelnen auch an, etwas beizutragen, so dass sie auch dem Wettbewerb der Forscher zugutekommt.
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Menschenführung – Die Laborregie des Direktors O: Also eine Reise sind dann immer zwei Tage so S: Ein, zwei Tage, manchmal ist auch ne Woche (O: ja) aber ähm (.) es sind immer dann Zeiten dabei, wo man nicht so häufig da ist, aber im Grunde genommen wenn man das wenn man da auch mal den Mut hat, dann was abzusagen äh und die Prioritäten schon im Labor setzt, dann kriegt mans schon noch mit, (O: mhm) und da# ich hab also dann immer offen mit den Leuten gesprochen weil man muss die Probleme die da sind äh durchdiskutieren (O: mhm) und äh ich hab dann zum Beispiel die Frau, die jetzt dieses Genomics-Projekt geschmissen hat, die ist erst seit zwei Jahren bei mir, das ist die TA, die sie jetzt gleich interviewen werden, (O: mhm) ähm die hatte auch diesen Führungsanspruch, und ähm dann musste es dann natürlich zu Reibereien mit dieser andern TA kommen, und ich hab halt jetzt nicht wie viele Leute Großlabors gemacht sondern ich hab also# das Labor ist verteilt auf drei Räume, (O: mhm) hier neben ist einer, da sind überall Plätze für sechs Mitarbeiter, (O: mhm) und die sind# eins ist da in der Ecke und eins da vorne, (O: mhm) so dass ich die Leute wirklich auseinandersetzen kann, (O: mhm) und dann hab halt in den Räumen jeweils Schwerpunkte gesetzt, aber so kulturell und von den Geschlechtern her alles gemischt und auch von den äh von den Positionen her alles gemischt und das klappt bisher ganz gut, und wenn man dann manchmal ganz exemplarisch wenn man sieht, da läuft was schief, äh ne Person umsetzt, dann ist das schon en Eingriff der äh so viel Aufmerksamkeit erzeugt, dass die Leute sich dann wieder am Riemen reißen, (O: mhm) und das muss man manchmal dann einfach machen.
Eine ausgeklügelte Laborregie wird erkennbar. Sattler überlässt die Zusammensetzung der Labors nicht dem Zufall oder der Selbstregulation durch die Mitarbeiter. Das begann bereits mit der Bauplanung. Großlabors haben viele Arbeitsplätze nebeneinander, manchmal bis zu dreißig. Sattler hat achtzehn Plätze auf drei Räume verteilt und besetzt sie wohl überlegt. Zum einen stellt er nach dem Gesichtspunkt der inhaltlichen Nähe einzelner Arbeiten Schwerpunkte zusammen. Damit ist die Chance gegeben, dass die Mitarbeiter sich gegenseitig unterstützen und anregen, und in jedem Laborraum kann nochmals eine eigene Sachkultur entstehen. Gleichzeitig achtet er auf eine Durchmischung der verschiedenen Kategorien Geschlecht, Status (Abschluss und Qualifikation) und nationale Herkunft bzw. Muttersprache. Es dürfen Submilieus entstehen, diese aber sollen der alters-, geschlechts- oder länderspezifischen Kohortenbildung entgegenwirken. Das ist in fachlicher Hinsicht synergetisch und gemeinschaftsfördernd, in sozialer Hinsicht kosmopolitisch und antipartikularistisch gedacht. Sie spiegeln direkt den internationalen Charakter der Forscherprofession wider. Wenn es zu Interessenkonflikten kommt, die tendenziell infantil und neurotisch ausgetragen werden („Reibereien“), löst er den Konflikt, indem er direkt interveniert. Dabei spielt er seine Autorität als Direktor direkt aus und ordnet die Bezie-
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hungen neu. Aber er versucht sachhaltig und verständigungsorientiert zu sein. Wenn er den Konflikt „offen anspricht“, heißt das, er redet nicht lange um den heißen Brei herum. Das genannte Beispiel drückt aus, dass er den Kontrahenten offen sagt, wie er deren Arbeit einschätzt. Es geht also auch „zur Person“. Dabei geht es jedoch nicht darum, Leistungen abzuqualifizieren, um jemanden aus dem Felde zu schlagen, sondern über die Einschätzung der individuellen Leistungsfähigkeit den richtigen Platz auszuloten. Das Projektinteresse bleibt führend dabei und wird auch direkt zur Geltung gebracht. Sattler greift sogar zur „Versetzung“, also Sanktionen, um Streithähne zur Disziplin zurückzurufen. Das hat ausstrahlende und „abschreckende“ Wirkung auf das gesamte Labormilieu. Solche disziplinierenden Maßnahmen dienen also auch dazu, die einzelnen Mitarbeiter insgesamt daran zu erinnern, dass sie Teil eines Forschungskollektivs sind, das sich einem Programm verpflichtet hat, dessen Bearbeitung Schaden nimmt, wenn persönliche Konflikte und „Partikularismen“ sich verselbständigen und nicht lösungsorientiert ausgetragen werden. Das sind Praktiken, wie sie auch von Werks- und Betriebsleitern, von Bürochefs oder Lehrern angewandt werden, wenn diese mit Aufgaben der Menschenführung betraut sind und darauf achten müssen, dass eine tendenziell irrationale Gruppendynamik der Disziplin einer kollektiven Praxis nicht schadet. Mit solchen Maßnahmen spielt der Direktor seine Macht als Vorgesetzter aus, was natürlich im Einzelfall auch ungerecht oder parteiisch sein kann. Ob es ein solches Problem im angesprochenen Fall gegeben hat, erfährt man hier nicht. Sattler thematisiert den Sachverhalt eher als Erfahrung, die er gemacht hat. Er hatte einen Konflikt zu lösen, der von den Kontrahenten nicht selbst beigelegt werden konnte, und er hat die Personen räumlich getrennt. Und da hat er gemerkt, dass diese Maßnahme sich auf das ganze Labor ausgewirkt hat. Es hat ihm seine Macht vor Augen geführt und er hat daraus die Lehre gezogen, dass man diese Macht hin und wieder sichtbar werden lassen muss, um Störquellen der Arbeit entgegenzutreten. Die Gruppendynamik immer im Auge behalten O: Also umsetzen heißt äh das klingt ja fast so, also ob sie dann die Gruppendynamik auch im Auge haben müssen nicht S: Ja, natürlich, natürlich, das muss man O: Das haben sie ja nicht gelernt S: Nee das hat man nicht gelernt, das ist ein riesiges Problem, äh die Tätigkeit, die ich heute mache, habe ich natürlich nicht gelernt, (O: ja) das was ich gelernt hab, da komm ich leider nicht mehr zu, und das ist ne Schande, (O: ja) jaja, naja O: Was meinen sie jetzt äh äh was sie gelernt haben äh was S: Ja Biologie hab ich gelernt, aber äh (O: ja) wann komm ich noch mal dazu, mich vors Mikroskop zu setzen ne, (O: mhm) das ist also leider nicht mehr so häufig der Fall.
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Dieser Aspekt war schon thematisch.
O: Ja. (.) Ja aber sie sagen doch, dass sie noch regelmäßig ihre Zeit an der Bench verbringen nicht S: Neinnein, ich verbringe die Zeit nicht mehr an der Bench, aber ich bin noch so nah an der Bench, dass ich weiß was die Leute da machen, (O: mhm) ja und das ist im Moment auch wesentlich wichtiger, also ich hab das mal am Anfang nach der Berufung gedacht, naja, jetzt machst du mal deine eigenen Experimente noch, (O: ja) aber das bringt mir natürlich nix, wenn ich meine eigenen Experimente mache, (O: ja) und dann nicht mehr im Detail weiß, was die anderen machen, (O: ja) und da äh muss man dann halt kucken, dass man alle Neuentwicklungen mitkriegt.
Sattler steht persönlich nicht mehr an einem Laborplatz, es lässt sich mit seinen heutigen Aufgaben nicht mehr vereinbaren, und es ist deutlich zu merken, dass ihm diese Tätigkeit fehlt. Er hat auf etwas verzichten müssen, als er Direktor wurde. Selbst weiter zu experimentieren wäre in dieser Funktion jedoch unproduktiv und privatistisch gewesen, da die direktoralen Aufgaben der Koordination und Lenkung der Forschungen seine ganze Aufmerksamkeit verlangen. Seine Abteilung betreibt Gruppenforschung, nicht die Addition von Einzelforschungen. Er ermöglicht also mit seiner Tätigkeit anderen, an der Bench zu arbeiten, und zwar so, dass sie in einem größeren Verbund dabei stehen. Er muss aber über alle laufenden Forschungen im Detail informiert sein, um alles richtig einschätzen und anleiten zu können. Er muss vor allem bei den forschungsstrategischen Diskussionen präsent sein, wenn es darum geht, auf der Basis eines bestimmten Befunds nächste Schritte zu überlegen. Deshalb sind die „Neuentwicklungen“ so wichtig. Die Routinearbeiten, die Durchführung der Experimente kann („muss“) er seinen Mitarbeitern überlassen; er muss nur darauf achten, dass die Gesamtarbeit nicht aus dem Ruder läuft. Wenn jedoch neue Entwicklungen sich abzeichnen, dann muss er in ihrer Diskussion das allgemeine Forschungsprogramm der Abteilung vertreten, das ja ursprünglich einmal aus seiner eigenen Forschung hervorgegangen ist. Das ist ein gutes Kriterium dafür, dass er als Direktor forschungsdienlich geblieben und nicht zum Funktionär geworden ist. Er ist eine Abstraktionsstufe nach oben gerückt, und folglich nicht mehr selbst an der Bench. Aber er dient der Praxis an der Bench, die für ihn nach wie vor der entscheidende Ort der Forschung ist. Davon hat er ein ganz klares Bewusstsein. Das Laborseminar am Mittwoch O: Also sie müssen da (uv) für alle sein ja, (S: ja) also alle Informationen müssen bei ihnen auch eingehen, (S: ja) so dass sie mhm
340 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE S: Und das Bestreben ist halt immer noch, dass# wir ham also mittwochs Laborseminar (.) dass es kein Laborseminar gibt, wo ich Neuigkeiten zum ersten Mal höre, (O: mhm) also wenn’s soweit kommt, dass man die Neuigkeiten äh im Laborseminar zum ersten Mal hört, dann ist zu spät.
Das Laborseminar ist eine institutsöffentliche Veranstaltung, bei der die neuesten Entwicklungen besprochen werden. Hier werden die Dinge „offiziell“. Das Seminar dient dem Zweck, Entwicklungen jedem bekannt zu machen und eine regelmäßige Plattform zu institutionalisieren, auf der das Team als Ganzes die neuen Entwicklungen zur Kenntnis nimmt und mit laufenden Diskussionen vertraut gemacht wird. Das Seminar bündelt die Anstrengungen, manifestiert die Fortschritte oder Probleme, die die Woche über aufgelaufen sind, und schafft damit eine Gelegenheit, in der die Laborgemeinschaft aus ihrem Arbeitsalltag heraustritt und den Stand der laufenden Geschäfte bespricht. Sattler geht wie selbstverständlich davon aus, dass nicht er als Direktor die Themen bestimmt, die zu diesem Termin besprochen werden. Er wählt weder aus, noch filtert er etwas weg. Jeder, der ein wichtiges Ergebnis zu präsentieren hat, kann und soll dies tun. Das Seminar soll also eine realistische Bilanz des gesamten Laborgeschehens leisten. Diesem Zweck unterwirft sich Sattler, wenn er an sich den Anspruch stellt, vor diesem Termin zu wissen, was die Woche über gelaufen ist. Er will nicht unvorbereitet in die Sitzung gehen und ad hoc reagieren müssen, sondern sich Deutungen und Einschätzungen schon erarbeitet haben. Das Seminar dient also nicht primär dem Zweck, Interpretationen eines neuen Befundes selbst erst hervorzubringen, sondern sich darüber auszutauschen. Dahinter wird sichtbar, dass der Direktor auch intellektuell sehr darauf bedacht ist, dass die Fäden bei ihm zusammenlaufen. Es ist seine Aufgabe, neue Entwicklungen zu werten und in den Gesamtzusammenhang des Laborprogramms zu stellen. Andere können sich an dieser Arbeit beteiligen, er muss es. Deshalb muss er vorher wissen, was gelaufen ist, andernfalls würde er eingestehen, dass er die Entwicklungen nicht mehr zeitnah verfolgen kann, und das würde dem Labor schaden. O: Wozu dient dann das Laborseminar? S: Damit jeder im Labor weiß, worums geht und (O: ja) jeder mitkriegt, an welcher Stelle der andere ist und damit auch mal wirklich kritisch diskutiert wird, weil die Leute sind natürlich# jeder will seinen Doktortitel haben logischerweise und ähm zum Teil sitzen die zwei Benches auseinander und könnten sich helfen, (O: ja) aber helfen sich nicht richtig, weil halt jeder nur sein eigenes Ziel vor Augen hat und (O: ja), die äh (.) und da wirklich nicht mehr offen genug sind und ähm deshalb muss es das Laborseminar geben, damit da
Das Seminar hat also mehrere Aspekte. Es soll den Einzelnen aus seiner partikularen Perspektive auf seinen Gegenstand herausreißen und an das übergeordnete Arbeitsprogramm erinnern, damit jeder weiß, worums geht. Das ist keine Frage der
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Wiederholung des Inhalts, sondern dieses Arbeitsprogramm muss ständig fortgeschrieben und in den laufenden Arbeiten stets neu sichtbar gemacht werden. Das Seminar hat also auch die Funktion der Erneuerung einer Vergemeinschaftung hinter der Sache, der das Labor dient. Diese Sache soll den Doktoranden immer wieder neu nahegebracht werden, indem sie angehalten werden, den Blick aus ihrer Detailforschung zu erheben und aufs Ganze zu lenken. Dem Seminar kommt daher die Funktion zu, eine produktive Krise herbeizuführen. Die Doktoranden und Postdocs sollen ihre Arbeit vor den Kollegen auf den Prüfstand stellen und sich Rechenschaft ablegen über das, was sie tun. Dass „wirklich kritisch“ diskutiert werden soll, fordert ja, dass Routinen des Denkens und Handelns, die dabei sind, einzuschleifen und zu erstarren, hinterfragt und aufgebrochen werden. Was getan wird, soll gut begründet getan werden. Außerdem soll das Mittwochsseminar Chancen der Kooperation aufzuzeigen. Es soll der Tendenz zur Vereinzelung strukturell entgegenwirken, der die karriereorientierten Doktoranden unterliegen, wenn sie sich so stark auf ihre eigene Forschung konzentrieren, dass sie nicht mehr mitbekommen, was neben ihnen geschieht. Sie sehen dann nicht, dass sie anderen helfen könnten oder Hilfen annehmen könnten. Sie sind nicht mehr offen genug, also in Routinen festgefahren, und zwar trotz oder gerade wegen des hohen Arbeitseinsatzes, der sie davon abhält, nach Recht und Links zu schauen. Es geht also darum, Potentiale der Hilfestellung sichtbar zu machen, die dem Ganzen dienen könnten. Der einzelne Wissenschaftler soll der Sache der Forschung insgesamt dienen und nicht nur seinen eigenen Laufbahninteressen folgen. Das Mittwochsseminar hat also die Aufgabe, Störquellen des Partikularismus strukturell entgegenzutreten. Und Sattler sieht es offenkundig als seine Aufgabe an, dass in diesem Seminar Krisen durch eine kritische Diskussion wirklich erzeugt werden. In seiner Auffassung der Laborkultur werden Elemente einer impliziten Theorie des dynamischen Verhältnisses von Eigeninteresse und Gemeinwohlbindung erkennbar, die für sich genommen sehr aufschlussreich sind. Das Karrierestreben der Doktoranden und Postdocs ist für ihn eine legitime und selbstverständliche Antriebskraft der Forschung im Labor, aber diese Kraft muss an das gemeinschaftliche Interesse des Labors strukturell rückgebunden werden, weil sie dazu neigt, sich abzukoppeln und Partikularismen zu verfestigen, die dem Ganzen schaden können, wenn sie dazu führen, dass Chancen der Synergie und Kooperation ungenutzt bleiben. Daraus spricht der klare Begriff eines übergeordneten Selbstzwecks der Forschung, dem sich alle Einzelforscher mit ihren Ambitionen zu unterstellen haben. Es geht Sattler aber nicht um einen Laborkollektivismus, der jedem seinen Platz in einem Räderwerk zuweist. Es geht vielmehr darum, dass jeder Forscher in seiner Arbeit beides zugleich immer im Auge haben soll: Seine eigene Forschung und die übergeordnete Sache der Forschung, der seine eigene Arbeit letztlich dient und die ihm immer irgendwie konkret in Gestalt einer Laborgruppe oder Disziplin gegenübertritt. Das ist eine Frage der Professionalität. Doktoranden haben diese Verant-
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wortung manchmal noch nicht hinreichend verinnerlicht und deshalb ist es die Aufgabe der Älteren, des Direktors, ihnen diese Perspektive der Kollegialität immer wieder aufzunötigen. O: Wie viel Leute nehmen daran teil? S: Bei mir nehmen sie alle teil mit TAs (O: mhm) und das machen auch nicht alle so O: Und warum nicht? S: Ja, viele Chefs# das ist die andere Einstellung, man kann natürlich sagen äh die TAs ham keine wissenschaftliche Ausbildung, (O: mhm) die TAs arbeiten zu und das isses, und ich hab den Leuten immer gesagt, wenn ich se eingestellt hab oder vor der Einstellung ähm sie werden für voll genommen, aber das hat halt Konsequenzen, sie müssen beim Laborseminar dabei sein, das Laborseminar ist abends um sechs, dauert bis um sieben oder länger ähm das heißt, der eine Abend geht halt flöten und O: Von wann bis wann ist das von S: Abends sechs geht’s los (O: bis) bis nach sieben kann das dauern, je nachdem, wie lang die Diskussion ist, und je nachdem welchen Stellenwert ne TA hat, muss sie auch manchmal selber reden, das ist äh (.) das gehört dazu, das wollen se net, aber das muss dann halt sein.
Von jedem Wissenschaftler oder Arzt wird wie selbstverständlich verlangt, dass er „Überstunden“ macht und sich für seine Sache über das Maß eines tariflichen 8Stundentags einsetzt. Die Teilnahme am abendlichen Seminar wird nicht als Überstunde gerechnet, sondern als normales Engagement des Wissenschaftlers. Die TA)s müssen sich dem unterordnen, wenn sie als Teil der Forschergruppe angesehen werden wollen. Das könnte als Ausbeutung interpretiert werden, wenn die erwartete Teilnahme nicht auf Freiwilligkeit beruhte. So wird das hier aber offenkundig nicht gesehen. Die TA)s kommen freiwillig und bekommen etwas zurück, was ihnen die Überstunden vergilt: Die TA)s werden als Kollegen ernst genommen und das ist nicht selbstverständlich. – Andere Direktoren der Max Planck Gesellschaft handhaben es anders. Es gibt also andere Laborkulturen, die hierarchischer und weniger integrativ sind. Dr. Sattler fährt aber die Linie, dass das ausschlaggebende Kriterium für den Kollegenstatus nicht die Ausbildung ist, sondern die Bereitschaft, am Bildungsprozess der Forschung teilhaben zu wollen. TAs werden nicht als Handlanger und Fachkräfte angesehen, sondern als Teil der wissenschaftlichen Laborgemeinschaft. Es wird ihnen dafür aber auch etwas abverlangt, wofür sie gar nicht ausgebildet sind: Sie müssen sich zum Beispiel der Herausforderung einer Präsentation vor dem Mittwochsseminar stellen. O: Ähm wenn# also Gruppendynamik war das Stichwort das äh das ham sie sich dann aneignen müssen, da muss man ja auch beobachten nicht S: Da muss man beobachten und da lernt man natürlich auch viel durch durch Fehler, die man macht (O: ja) und ähm (.) da muss man beobachten und muss mit Leuten reden# äh ich mein
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man kriegt nicht mehr alles mit, also einige Konflikte die merkt man dann erst mit Wochen Verspätung (O: ja), äh weil keiner einem mehr das sagt und dann sieht man halt, Person x und y reden nur noch ganz selten oder gar nicht mehr miteinander, (O: ja) und da weiß man, aha, da ist was im Busche, (O: ja), und äh das ist en schwieriges Thema und ob man da immer alles richtig macht, das weiß ich auch nicht, das ist schwierig. F: Und was sind das so für Konflikte wenn ich fragen darf S: Och das sind so Konflikte ähm (..) wer welche Geräte wann benutzen darf (O: ja) weil man hat ja dann da schon mal Engpässe und ähm und dann kommen natürlich auch da ist der Neidfaktor auch dabei ja ich mein gerade jetzt wo wir Gene kartieren, der eine hat Glück und ist schneller da als der andere und das hat nicht immer was mit Können zu tun, (O: mhm) ähm (.) das ist halt bei ähm (.) (O: mhm) das ist halt en sehr schwieriges (.) Thema. Und es ist an und für sich so in der Entwicklungsbiologie wenigstens, dass man es nicht zum Nachteil ausgelegt bekommt, wenn man in der Doktorarbeit nicht viel rausgefunden hat, (O: mhm) ja also ich mein man hat also bei dem Ansatz den wir jetzt machen wenn man auf einem Mutantenphänotyp basierend sein Gen kloniert, dann kann man meistens nicht vorhersagen, ob das en großer Renner wird oder nicht. (O: mhm) Und meistens ist es die molekulare Natur des Gens, die bestimmt, ob das en Nature- oder Cell-Paper wird oder ob das im zweitklassigen Journal erscheint, und da kann der Doktorand überhaupt nicht dafür.
Sattler schildert zur Veranschaulichung eine typische Situation, in der sich gruppendynamische Phänomene zeigen können. Wahrscheinlich hatte Sattler sie schon die ganze Zeit im Hinterkopf. Wissenschaftler sind angehalten, Nutzungszeiten der Geräte miteinander abzustimmen. Die Kooperation misslingt aber manchmal und es kann ein Konflikt daraus erwachsen. Angedeutet ist, dass manche Doktoranden es nicht ertragen, wenn ein anderer einen größeren Erfolg mit seinen Mutanten hat, und ihm deshalb die Kooperation verweigern. Das kann bis zur Sabotage gehen. Oder ein Doktorand glaubt, nur seine Arbeit sei wirklich wichtig, und nimmt deshalb die Geräte ununterbrochen in Beschlag. Ein vergleichbares Phänomen unter Studenten wäre etwa das „Bunkern“ oder Verstecken von Lehrbüchern in der Präsenzbibliothek ihrer Fakultät. Solche Verhaltensweisen stören das Arbeits- und Studienklima empfindlich. Wenn die Kooperation verweigert wird, muss der Institutsleiter intervenieren, aber da gibt es keine methodischen Regeln. Es sind Sympathien und Antipathien im Spiel, die nicht einfach ausgeschaltet werden können. Wie in der Biologie der Leistungsrekord bewertet wird Dr. Sattler schildert zudem die Maßstäbe, nach denen in der Evolutionsbiologie eine Doktorarbeit bewertet wird. Sie machen es eigentlich überflüssig, dass Doktoranden sich untereinander missgünstig verhalten, aber das wissen sie noch nicht. Die Evolutionsbiologie honoriert nicht nur erfolgreiche Arbeiten, - Erfolg wird daran gemessen, ob ein Abstract der Dissertation in den renommierten Fachzeit-
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schriften Nature oder Cell erscheint. Es wird vielmehr die Gesamtqualität einer Arbeit gesehen, auch wenn sie weniger spektakuläre Resultate gezeigt hat. Der glückliche Zufall darf nicht die Karriere alleine bestimmen. Jeder verantwortliche Wissenschaftler weiß darum, wie eine Publikation in Nature oder Cell einzuschätzen ist. Den Doktoranden, die dies allerdings noch nicht gut einschätzen können, wird abverlangt, es aushalten zu können, dass der Erfolg ihrer mühevollen Arbeit nicht allein von ihrer Befähigung abhängt, sondern auch vom Glück, ein interessantes Gen zu entdecken. Solange sie ihre Karriere noch nicht gemacht haben, kann dies eine echte Belastungsprobe werden. Wenn ein anderer die besseren Karten gezogen hat und dies zu Neidgefühlen führt, ist dies normal. Wenn es jedoch dazu führt, dass der andere in seiner Arbeit sabotiert wird, dann ist eine Grenze überschritten. Es kommt darauf an zu lernen, seine persönlichen Gefühle dem Professionsideal unterzuordnen. Sattler deutet an, dass dieses Ideal aber nicht uneingeschränkt beachtet wird. Es geht durchaus kompetitiv zu und das Konkurrenzgebaren kann auch dazu führen, dass die Atmosphäre vergiftet wird. Aber in der Evolutionsbiologie wenigstens… gibt es auch das Bewusstsein, dass man diesem Gebaren gegensteuern muss.
Gentlemen-Agreement – der Generationenvertrag O: Und davon ist viel abhängig nicht? S: Ähm an und für sich in der Doktorarbeit an und für sich nicht, und das ist en Gentlemenagreement, das geht ja jedem Laborleiter geht es so, (O: ja), man vergibt die Themen und man weiß wirklich nicht, also ich# wir hams jetzt# wir waren jetzt auch in der Phase, die ham sich alle ihre Gene entweder genommen oder man hat se draufgesetzt, ich weiß nicht, wer von denen den großen Wurf landen wird, (O: mhm) ähm und also als ich Post-Doc in Amerika da war das in dem Labor auch so, da waren Leute, die sind zu absoluten Superstars geworden weil das war en tolles Gen, und die andere Person die hat genauso gut gearbeitet, war vielleicht noch besser, (O: ja) aber das Gen war nicht so spannend und dann ist es en zweitklassiges Journal, aber da gibt’s en Gentlemen-agreement, dass wenn die Arbeit gut gemacht ist, dann kriegt man eine gute Note, man kriegt gute Referenzen, (O: ja) und dann geht’s weiter. Wenn man das Pech dann im Post-Doc noch mal hat, dann hat man halt Pech gehabt, aber ähm (O: mhm) bei der Doktorarbeit wenn man da das Pech gehabt hat und es war kein spannendes Gen, das wird dann nicht negativ ausgelegt.
Das Gentlemen-agreement besagt, dass die Qualität der Durchführung einer Arbeit und nicht deren inhaltliches Resultat zur Grundlage der Bewertung gemacht wird. Die Doktorväter und –Mütter gewährleisten auf diese Weise, dass ein guter Doktorand nicht benachteiligt wird, wenn das Schicksal ihm ein weniger interessantes Gen beschert hat. Können soll Kriterium der Förderung sein, nicht Fortüne oder Glücksrittertum. Wenn eine Arbeit dem Prinzip des Fallibilismus folgt, dann ist bei
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Aufnahme einer Arbeit nicht vorherzusehen, ob die zu prüfende Hypothese an einem spannenden Gen geprüft wird oder nicht. Die Rekrutierung des Forschernachwuchses muss einem universalistischen Bewertungsmaßstab folgen, wenn die wissenschaftliche Praxis nicht bald zusammenbrechen soll, denn ein Doktorand kann sich auf die Ungewissheit einer ergebnisoffenen Forschung nur einlassen, wenn er halbwegs sicher sein kann, dass nur diejenigen Faktoren zur Beurteilung seiner Arbeit herangezogen werden, die er wirklich durch individuelle Leistung beeinflussen kann. Andernfalls hätte die Biologenlaufbahn etwas von einer Glücksritterkultur. Was hier Agreement genannt wird, beruht auf einer allgemeinen Erwartung, dass diese Regel stillschweigend beachtet wird. („...das geht ja jedem Laborleiter geht es so...“). Sie entspricht eher einer Regel der Sittlichkeit, als einem moralischen Gebot. Das Wort Gentleman-agreement drückt aus, dass es eine Ehrensache ist, sich daran zu halten, und dass der, welcher sich nicht daran hält, tendenziell sanktioniert werden muss. Es ist eine Frage der Fairness gegenüber dem Doktoranden. Nur wer sich daran hält, trägt etwas zum Funktionieren des Generationenvertrages in der Forscherprofession bei. Denn der Dienst des Doktoranden für die Profession besteht darin, eine bestimmte Option und Hypothese durchzutesten. Er kann das nur, wenn er berechtigt davon ausgehen kann, dass seine Leistung unabhängig davon bewertet wird, ob sich ihr Ergebnis als reputationsträchtige Sensation erweisen wird oder nicht. Der Beitrag des Doktoranden zum Generationenvertrag besteht darin, dass er trotz der Aussicht darauf, nur in einem zweitklassigen Journal publizieren zu können, trotzdem seine Arbeit gewissenhaft und gut zu Ende bringt. Der Beitrag des Betreuers besteht darin, nur die Güte der Durchführung für die Benotung heranzuziehen. Die Erwartung des Verhaltens des Betreuers bedingt das Verhalten des Doktoranden und umgekehrt. Das „Agreement“ beruht auf einer Verinnerlichung der Idee, dass die Wissenschaft vergleichbar der bürgerlichen Gesellschaft auch Gewinner und Verlierer hervorbringen kann, der aber die Profession als eine Gemeinschaft sittlich gebundener Persönlichkeiten gegensteuern muss, um eine geregelte Forschungspraxis über die Generationen hinweg aufrechterhalten zu können. Das Agreement ergibt sich aus der Sachlogik der Nachwuchsbetreuung der Profession. Die vorliegende Passage unterscheidet übrigens zwischen Doktoranden und den Postdocs. Für den Postdoc gilt die Regel nicht mehr uneingeschränkt. Beim zweiten Versuch muss ein Gen gefunden werden, das auch seinem Erkenntnisgehalt nach dem Fach positiven Gewinn einträgt, sonst reicht es nicht wirklich für eine Karriere. Das deutet an, dass es in der wissenschaftlichen Laufbahn auch soziale Härten geben kann, die kaum selbst verschuldet sind. Das Gentlemen-agreement gilt nur bis zu einer gewissen Laufbahngrenze. Es gibt auch die andere Logik: Wissenschaft ist ein Karrierebetrieb. Ein Forscher, der Karriere machen will, muss irgendwann einen inhaltlich bahnbrechenden Beitrag zum Erkenntnisfortschritt liefern, sonst wird er
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in der Karriereleiter keine höherstufige Stelle bekommen. Er kann dann noch so gut sein. Dass er gut ist, muss sich also auch zeigen. In der Evolutionsbiologie herrschen zusätzlich besondere Bedingungen vor. Hier ist die Dynamik so hoch, dass es immer wieder Superstars gibt, die es schaffen, mit einem bahnbrechenden Gen bekannt zu werden. Das hat den Anreiz auf eine schnelle Reputation besonders groß werden lassen. Die Superstars stehen den jungen Wissenschaftlern als verführerisches Vorbild vor Augen und versprechen den schnellen Durchbruch. Der Ausdruck Superstar, der ja dem amerikanischen Kulturbetrieb entlehnt ist, ist hier ja durchaus ambivalent gemeint. Sattler hat in amerikanischen Labors eine Kultur kennengelernt, die es in gesteigerter Form der Person zuschreibt, wenn ein Durchbruch gelungen ist. Darin kommt der amerikanische Bewährungsmythos zum Vorschein, der den Erfolg des Einzelnen besonders honoriert. Das hat auch international die Maßstäbe geprägt, weil ein Erfolg auf dem riesigen amerikanischen Markt gleich mit besonderen Chancen verbunden ist. Aber das hat auch eine Schattenseite, denn wer nicht in dieser Kultur großgeworden ist, wird leicht zu einem Nacheifern verführt, hinter dem die wissenschaftliche Substanz nicht mitgewachsen ist. O: Also an sich müsste man ja annehmen also von der Professionsethik her, dass äh erfahrene Leute äh (.) das eigentlich ausgleichen können müssen, die müssen ja eigentlich die Güte der Arbeit sehen äh unabhängig äh vom Ergebnis, soweit es äh gewissermaßen en Lotteriefaktor da S: Ja nun wir sind natürlich mittlerweile ähm an nem Punkt# also die Güte der Arbeit bezieht sich dann schon nur noch auf das was das# für den Laborleiter, (O: ja) ja also die Güte der Arbeit die kriegt man dann als Laborleiter äh
Wahrscheinlich liegt hier ein Missverständnis vor. Der Interviewer bringt die eben explizierte professionsethische Regel selbst zum Ausdruck. Sattler wendet etwas ein, aber es ist nicht ganz klar, wogegen er sich wendet. Wahrscheinlich meint er: Die Biologie hat eine Entwicklung durchlaufen, in der sich das ganze System verschoben hat. Die unterstellte Möglichkeit, zwischen Güte der Arbeit und erfolgreicher Arbeit aufgrund eines glücklich entdeckten Gens differenzieren zu können, schwindet, weil die Güte der Arbeit dem einzelnen Doktoranden gar nicht mehr direkt zugeschrieben wird, sondern dem Laborleiter, der ihn betreut hat. Die oben formulierte professionsethische Regel geht von Voraussetzungen aus, die nicht mehr existent sind. Sattler geht davon aus, dass nur noch der Laborleiter die Güte einer Arbeit einschätzen kann, der Doktorand hat davon zunächst gar nicht. Um als Doktorand Reputation aufzubauen und aus dem Schatten des Laborleiters herauszutreten, muss man wirklich ein Super-Gen entdeckt haben.
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O: Mit, ja S: Na, den Profit davon den bekommt der Laborleiter, (O: ach so, mhm) aber nicht mehr die einzelnen Doktoranden, (O: ja)
Sattler versteht unter „Güte der Arbeit“ den abschöpfbaren Reputationsgewinn, und den kommt allein der Laborleiter. Wenn Wissenschaftler heute eine Arbeit lesen und wissen wollen, wer dahintersteht und welche Qualität sie erwarten können, schauen sie gar nicht auf den Namen des Doktoranden, sondern auf den des Institutsleiters. Nicht der einzelne Forscher, sondern das Labor ist das Subjekt der Biologie, und das Labor wird mit seinem Direktor oder Professor identifiziert. Ihm werden alle positiven, aber auch alle negativen Erfolge angerechnet, weil er das Forschungsprogramm verantwortet. Das bedeutet aber kehrseitig, dass ein Doktorand am Ruf eines Labors partizipiert, gleich ob er gut ist oder schlecht. Er erhält Referenzen als Mitarbeiter eines renommierten Labors. Dies bedeutet, dass es in der Biologie zwei Formen der Karriere gibt: Die des früh zu Reputation kommenden Entdeckers eines Super-Gens. Dieser Typus des Superstars schafft es früh, aus dem Schatten eines Labors herauszutreten und persönlich bekannt zu werden, was das Risiko in sich birgt, dass dem anschließenden Bewährungsdruck, dem frühen Erfolg etwas Gleichwertiges folgen lassen zu können, nicht standgehalten werden kann. Wenn es jedoch gelingt, bestehen beste Aussichten, bis in die obersten Regionen zu kommen, auch weil die Rahmenbedingungen und Fördermöglichkeiten sehr günstig sind. Und dann gibt es die Normalkarriere des guten Doktoranden, der zwar kein Glück hat, aber eine gute Doktorarbeit vorlegt. Deren Profit kommt zunächst nicht ihm selbst zugute, sondern dem Laborleiter, aber er profitiert indirekt, weil er vorweisen kann, in einem guten Labor gearbeitet zu haben. Wenn man allerdings als guter Doktorand in einem schlechten Labor war, kann man sich noch so anstrengen. Der Gewinn wird sich nicht einstellen. Die Karrierelogik nach der Doktorarbeit: Ablösung und Individuierung und als Post-Doc kommts dann halt drauf an, dass man sich selbst sein eigenes Thema etabliert, seine eigene Nische findet, auf der man ungestört arbeiten kann, (O: ja) ohne dass man direkt mit der halben Welt in äh in Kompetition ist, (O: ja)
Der Postdoc muss dann aus dem Schatten eines Direktors oder Professors heraustreten, sobald für ihn die Schonphase des Doktoranden zu Ende gegangen ist. Er hat sich abzusetzen, indem er sich ein neues Forschungsgebiet sucht, in das ihm niemand folgt. Sattler unterstellt dabei, dass dieser Prozess der Ablösung sozial sehr prekär ist, weil es schwierig ist, eine Umgebung zu finden, in der die freie Ausarbeitung eines neuen Forschungsgebietes möglich ist. Eine „Nische“ ist ja ein Ort,
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an dem man unbemerkt und unbelästigt seine Sache machen kann. Der Postdoc muss sich also zurückziehen und darf sich nicht ablenken lassen. Er soll den Hahnenkampf der Superstars meiden und sich ein innovatives Thema suchen. aber es ist halt so, es nimmt alles so viel Zeit in Anspruch, (O: ja) dass man ähm von nem Doktoranden das nicht mehr äh verlangen kann, das ist einfach zu viel (uv) (O: jaja) ja und das ist halt äh man kann auch mit ner dreijährigen Doktorarbeit kein Projekt haben, was wirklich zu nem Abschluss kommt, (O: ja) das gibt’s manchmal noch, wenn man (.) zu jemandem geht, der ne Nachwuchsgruppe hat, der gerade angefangen hat und der sein eigenes Thema neu etabliert, dann kann man das haben, aber wenn man in einen großen etablierten Laden kommt, dann kann die einzelne Doktorarbeit diesen Komplettheitsanspruch nicht mehr erfüllen, das geht einfach nicht.
Ein weiterer Gesichtspunkt kommt hinzu. Man darf Doktorarbeiten heute auch gar nicht mehr mit einem zu großen Anspruch auf Innovativität und Entdeckerqualitäten versehen, weil die meisten Jungwissenschaftler sich heute in ein laufendes Forschungsprogramm einfädeln müssen und einzelne Fragestellungen bearbeiten, die mehr oder weniger weitreichend vorstrukturiert sind, weil sie sich aus vorangehenden Forschungen ableiten. Dissertationen sind häufig Teilarbeiten, die immer in einem Zusammenhang mit anderen Arbeiten gesehen werden müssen und eine Untersuchung vorantreiben, die vorher schon begonnen hatte und nachher weitergeführt werden wird, so dass der Doktorand einen Staffelstab aufgreift, um ihn einige Runden nach vorne zu bringen und dann weiterzugeben. Ausnahmen sind gegeben, wenn ein junger Doktorvater gerade ein ganz neues Forschungsprogramm etabliert und vieles noch offen ist. Dann ist auch der Freiheitsgrad der einzelnen Doktorarbeit höher. Aber die Normalität wird von den großen etablierten Läden beherrscht. Auch deshalb wird die einzelne Arbeit nicht unabhängig vom Laborleiter zu würdigen sein. Denn er ist der Spiritus Rector. O: Aber daraus erwachsen ja doch eigentlich riesige Folgeprobleme, nich, was äh also gewissermaßen wenn man generell das überlegt, ist es ja immer äh also wissenschaftliches Arbeiten ist ja immer ne Art Generationenvertrag, man muss ja immer einen Beitrag zum Ganzen liefern und äh dafür auch äh für diesen Beitrag zum Ganzen auch äh erwarten dürfen, honoriert zu werden S: Ja wird man ja O: Ja, aber so wie sies eben schildern, ist es ja dann en Problem, nich, wenn sie sagen, der Laborleiter kriegt das noch mit, und danach äh isses eigentlich dann äh gewissermaßen geht es dann schon in den Automatismus der äh Publikation rein.
Der Interviewer bringt die Lesart einer Ausbeutung des Doktoranden ins Spiel, der Sattler aber gleich widerspricht.
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S: Na# ja das ist das ist richtig, also man wird# also wenn man jetzt en riesiges Glück hat und hat en Supertreffer gelandet, dann wird natürlich die gesamte Fachwelt diese (O: ja) Doktorarbeit mitbekommen und dann wird man wenn man Glück hat auch den Namen dieses Doktoranden behalten O: Ja, der erscheint normalerweise als Zweitautor nich S: Nein Erstautor O: Erstautor und dann Laborleiter S: Der Laborleiter ist immer der letzte O: Der letzte (uv) und die TAs in der Mitte oder wie S: Und die TAs tut man dann in die Mitte, (O: ja) manchmal hat man ja auch nur für zwei Doktorarbeiten ein Thema, dann stehen die beiden Doktoranden vorne (O: ja) und schlagen sich drum, wer denn jetzt Erstautor ist und all solche Geschichten, (O: ja) aber ähm man kriegt also auch wenn man ne sehr sehr gute Doktorarbeit gemacht hat äh (O: ja) kriegt man oft den Kredit dafür nicht sofort, (O: ja) sondern den bekommt immer der Laborleiter, und erst wenn man dann hinterher# aber es ist ja meistens so, wenn die Doktorarbeit wirklich outstanding war, dann ist hinterher auch die Post-Doc-Zeit sehr sehr gut, (O: ja) und dann kriegt man den Kredit hinterher, dann sagen die Leute nämlich alle, ja bei wem haste denn promoviert, ja bei dem und dem, ach das war deine Arbeit, und dann (O: jaja) kriegt man den Kredit hinterher.
Es ist also ein System der nachlaufenden Realisation des Reputationsgewinns. Der normale Doktorand profitiert vom guten Ruf eines Instituts, aber er kann während seines Doktorats nicht aus dem Schatten seines Laborleiters heraustreten. Ist eine Doktorarbeit wirklich gut, wird das in der Regel dem Leiter gutgeschrieben. Erst wenn sich der Erfolg einer guten Doktorarbeit wiederholen lässt, in der PostdocZeit, kann der Postdoc auch das Kapital seiner Dissertation abschöpfen. Die Aufmerksamkeit für seine Arbeit ist da und führt auch dazu, dass die Arbeit mit seinem Namen verbunden wird. Eine aufsehenerregende Dissertation kann also vermittelt über den Laborleiter weltbekannt werden, obwohl dieser selbst nur indirekt etwas zu der Arbeit beigetragen hat. Aber hinterher profitiert auch der Doktorand davon, und zwar mehr, als es der Fall gewesen wäre, wenn er ohne seinen Laborleiter publiziert gehabt hätte. Es ist ein Geben und Nehmen. Nachfolgend wird ein neues Thema eingeführt. Der Einbruch bei den Studienanfängern in den Naturwissenschaften – Mitschuld der Konzerne O: Ja, naja die Chemiker zum Beispiel ham äh vor was weiß ich sechs oder sieben Jahren doch en gewaltigen Einbruch äh erlebt ja S: Ja das ist ja ganz dramatisch, also so schlimm isses bei uns nicht (O: ja) gekommen, wir hatten das schon befürchtet, dass sich das bis zur Biologie durchschlägt
350 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE O: Nein die ham einfach äh äh teilweise den Schwellenwert für ihre Arbeitsgruppen nicht mehr überschreiten können S: Jaja, jaja, jaja O: Und äh das ist schon für die S: Aber das ist natürlich auch en anderes Problem, ich mein das ist natürlich auch ein (..) ja selbstgemachtes Problem der Chemie gewesen, ich mein die Chemie hat lange Zeit lang halt nicht gesehen, dass äh vieles in die Biologie abdriftet (O: ja) und hat auch den Stellenwert der Biochemie einfach nicht erkannt, sondern einfach ignoriert, (O: ja) und ähm da sind an und für sich die großen Konzerne dran schuld, die Konzerne haben ewig lange immer nur Organiker eingestellt und haben nur ihre Schiene gefahren und haben nicht gesehen, dass sich da neben her en neues Fach etabliert
Über den Vergleich mit den klassischen Naturwissenschaften kommt der Wettbewerb zwischen den Fächern selbst in den Blick. Hintergrund ist der dramatische Rückgang der Studenten gegen Ende der 1980er Jahre, von dem alle Naturwissenschaften betroffen sind, wenngleich für die Chemie hier besondere Faktoren herausgestellt werden. Sattler greift als Ursache heraus, dass die Chemie den Zeitpunkt verpasst habe, zu dem sie selbst noch auf die neue Situation hätte reagieren können, die mit dem Aufkommen der neuen Ansätze in der Molekularbiologie und Biochemie entstanden war. Wie ist das zu verstehen? Die biologische Forschung ist seit zwei Jahrzehnten besonders attraktiv, weil mit den bildgebenden Verfahren und den molekularbiologischen und biochemischen Methoden ganz neue Forschungsfelder begehbar geworden sind. Der enorme Erkenntnisfortschritt hat große Erwartungen in die Anwendungsmöglichkeiten der Biologie geweckt, was neue Industriebranchen der Life Sciences und einen erweiterten akademischen Arbeitsmarkt für Biologen hat entstehen lassen. Die Biologie hat als Fach damit eine Entwicklung durchlaufen, welche die Chemie bereits im 19. Jahrhundert vollzogen hatte. Ihr war in ihrem Rücken eine kommerzielle Industrie erwachsen, die erstens selbst Forschung betreibt, zweitens an der Grundlagenforschung der Institute und Universitäten großes Interesse hat und drittens Absolventen der Universitätsstudiengänge abnimmt. Damit ist die Biologie auch für solche Studenten interessant geworden, die nicht als Forscher oder Zoologen bzw. Botaniker in Museen oder Zoologischen Gärten tätig sein wollen. Die Biologie hat damit gute Leute angezogen, die früher vielleicht in die Chemie gegangen wären. Der Chemie ist ein direkter Konkurrent entstanden. Ähnlich wie in der Chemie nehmen die kommerziellen Firmen übrigens Einfluss auf die Fach- und Forschungspolitik der Biologie. Das Universitätsfach musste sich darauf ein- und umstellen, denn diese Verbreiterung der institutionellen Praxis der Profession durch Unternehmen macht es erforderlich, dass man mit den Firmen einen Austausch pflegt, Kooperationen eingeht, aber auch Interessenkonflikte abwehren oder austragen muss. Die Chemie kennt dies schon lange. Sattler
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rechnet ihr aber vor, dass sie dem Neuen zu lange nicht Rechnung getragen und den überkommenen Betrieb einfach weitergeführt hat. Sattler unterstellt unausgesprochen, dass es hier einen unmittelbaren Zusammenhang gibt zwischen dem Verhalten der Konzerne und der Vernachlässigung der Biochemie an den Universitäten. Gemeint sein kann Folgendes: Die Konzerne haben die unternehmerischen Risiken gescheut, in die industrielle Entwicklung der Life Sciences zu investieren und deshalb ist die Entwicklung von anderen Unternehmen und Firmenneugründungen abgedeckt worden. Die chemische Industrie hatte eine Chance verpasst, die Bio- und Life Sciences an sich zu binden, obwohl sie dafür prädestiniert gewesen wäre. Da sie sich aber auf ihr klassisches Geschäft konzentrierte, hat sie auch nur klassische Chemiker nachgefragt. Im System „Chemie“ ist kein ausreichender Druck auf die Universitätsfakultäten entstanden, in der Lehre stärker die Biochemie zu gewichten und Biochemiker hervorzubringen, und in der Forschung haben die Konzerne die Entwicklung sogar noch ausgebremst, weil sie weder Kooperationen ausreichend angeboten, noch Grundlagenforschung unterstützt haben. Die Biochemie hat ihre Entwicklung eher im Schoße der Biowissenschaften und in enger Anlehnung an die Genetik und Zellbiologie vollzogen und nicht aus der Organischen Chemie heraus, die im Wesentlichen eine Chemie der Kohlenstoffs und seiner komplexen Molekülverbindungen ist, während die Biochemie vor allem an den Aminosäuren ansetzt. Die Chemie ist letztlich einer falschen Fachpolitik zum Opfer gefallen, die auch auf nicht erfolgte oder zu zögerliche unternehmerische Entscheidungen der Konzerne zurückzuführen ist. Das hat ihre Stellung innerhalb der Naturwissenschaften verändert. War sie seit dem 19. Jahrhundert das Fach mit dem größten finanziellen Hintergrund und dem größten Arbeitsmarkt, gilt dies heute nicht mehr uneingeschränkt. Die Biologen haben aufgeschlossen. Dabei argumentiert Sattler überhaupt nicht hämisch, sondern strukturanalytisch. Die Sichtweise ist auch deshalb interessant, weil die Konzerne wie selbstverständlich als wichtige Mitspieler in der fachpolitischen Gesamtentwicklung der Disziplin begriffen werden. Den Konzernen kommt eine Verantwortung für die universitäre und forschungspolitische Aufstellung des Fachs zu. Sie sind keine systemfremden Mächte, sondern Teil der Professionskultur, und haben eine Mitverantwortung für deren Pflege. Habituelle Unterschiede zwischen Biochemikern und Molekularbiologen O: Ja wo wir an dem Punkt gerade sind, äh also äh ich hab immer gehört also die Chemiker sagen das dann über die Molekularbiologen, die würden# also da gibt’s ja immer die große teilweise also en großen Streit, (S: mhm) ist ja klar, arbeiten auf sehr ähn# auf denselben Gebieten und die Molekularbiologen werden dann von den Biochemikern immer tendenziell verdächtigt, sie wären ja so Trial-und-Error-Leute, äh die zu schnell# die daran orientiert wären, schnell was aufn Markt zu bringen, und die Biochemiker seien die richtigen Kausalanalytiker äh
352 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE S: Ähm ja in den meisten Städten ist es sicherlich so, dass die Biochemiker immer noch in der chemischen Fakultät ausgebildet werden, sie haben von daher en besseren chemischen Hintergrund, (O: ja) und in Deutschland ganz bestimmt in Deutschland man hat ja generell in Deutschland die Molekularbiologie sehr lange Zeit vernachlässigt, (O: ja) und als die Biologen sie dann entdeckt haben, haben die Chemiker sie immer noch vernachlässigt,
Der Rückstand ist zweifach gestuft. Die deutschen Wissenschaftler hingen insgesamt hinterher, auch die Biologen haben die Molekularbiologie erst spät hereingeholt. Die Hauptentwicklung ging von anderen Ländern aus: USA, England. Die deutschen Chemiker waren aber noch langsamer, als die deutschen Biologen. Nichtsdestotrotz wird die Annahme des Interviewers zunächst bestätigt. Biochemiker sind sehr solide ausgebildet und genaue Analytiker, was die chemischen Grundlagen angeht. und die Biochemiker haben dann sehr sehr lange nur auf Proteine gesetzt, (O: ja) und es ist halt es ist halt so, Proteinarbeit ist schwierig (O: ja) und dafür braucht man gutes chemisches Handwerkszeug (O: ja) um mit Proteinen arbeiten zu können, (O: mhm) Molekularbiologie mit Nukleinsäuren arbeiten ist wesentlich einfacher, (O: mhm) aber es ist auch schneller, (O: ja) und man kommt dann über die jetzt mittlerweile vorhandene gute Technologie dann auch sehr sehr oft ans Ziel, (O: mhm) und wenn mans nicht kommt und man wirklich dann die Biochemie braucht, dann ist natürlich der gewiefte Molekularbiologe am Ende genauso gut und äh kriegt das dann schon hin,
Sattler konzediert also den Chemikern eine größere handwerkliche Solidität, aber er hält auch selbstbewusst dagegen. Die Biochemiker arbeiten zwar auf einer Untersuchungsebene, die sehr anspruchsvoll ist. Das Arbeiten mit Nucleinsäuren, einer der vier Biomoleküle neben den Proteinen, Fetten und Kohlenhydraten, ist nicht ganz so voraussetzungsvoll. (Um mit Proteinen forschen zu können, muss man deren dreidimensionale Struktur bestimmen können, und das setzt die Beherrschung der „Kristallstrukturanalyse“ voraus, ein komplexes Verfahren, in dem in der Regel nur die Chemiker ausgebildet sind.) Aber dieser Vorteil hat auch zur Folge, dass die Forschung nicht zu einer so großen Dynamik gelangt ist, wie in der Genetik und Zellbiologie, weil „Proteinarbeit schwierig ist“. Die handwerkliche Schwierigkeit hat die Dynamik abgebremst, während die Forschung mit Nucleinsäuren schneller und ergebnisreicher war. Man hat ein theoretisches Verständnis für die Erkenntnisinteressen letztlich auf einem gröberen Weg auch erreicht. Hier wird unterstellt, dass es sich um zwei grundverschiedene Ansätze handelt, um zu denselben Fragen Untersuchungen durchzuführen. Nucleinsäuren sind der Hauptstoff, für den sich die Genetik interessiert. Nucleinsäuren bilden die Grundinformationen in einer Zelle. Proteine sind hingegen als Moleküle daran beteiligt, was aus diesen Grundinformationen gemacht wird. Sie geben einer Zelle ihre Struktur, sorgen für die Vermeh-
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rung von Molekülen, transportieren Stoffe an die richtigen Sektoren, steuern und regulieren chemische Reaktionen oder erkennen Signalstoffe. Offenbar kann man trotzdem auf dasselbe Erkenntnisziel zusteuern. (O: ja) und die# also aus meiner Sicht haben sich die die Chemiker und die Biochemiker gesagt ach die Molekularbiologen, die kann man machen lassen, die sind sowieso alle zu blöd dafür, das kriegen die schon nicht hin, (O: ja) und am Ende werden wirs dann schon machen, und dem ist halt nicht so, (O: mhm) ja und ich mein, man wächst mittlerweile auch# man weiß wirklich ganz genau, man braucht alle Methoden, und auch dieser Streit zwischen Genetik gegen Biochemie (O: ja), das ist mittlerweile vorbei, das sind alte Schullager, die kann man nicht aufrecht erhalten, (O: ja) man braucht mittlerweile alles, (O: mhm) äh und es ist auch so
Sattler spricht den „Streit der Fakultäten“ (Kant) an. Es gibt eine Konkurrenz der unterschiedlichen Fächer, dem auch ein Konflikt zwischen unterschiedlichen Forschungsmilieus zugrunde liegt. Diese Milieus haben verschiedene Fachidentitäten, sie nehmen in verschiedenen Fragestellungen ihren Ausgang, haben eine andere Methodenkultur entwickelt und blicken auf eine je eigene Fachgeschichte zurück. Zur Fachidentität gehört die Abgrenzung von benachbarten Fächern. Die Biologie ist bei den Chemikern lange Zeit nicht wirklich ernst genommen worden. Die Chemiker haben wegen ihrer Methodenexpertise auf die Biologen herabgeschaut und ihnen nicht viel zugetraut. Das hat sie unbeweglich gemacht, sie haben die neuen Herausforderungen, die mit der genetischen Revolution aufgekommen waren, nicht rechtzeitig erkannt und keine entsprechende Strukturpolitik betrieben. Die Biologie hat sich den Aufgaben hingegen gewachsen gezeigt und steht nun viel besser da. Sie hat die Ressourcen aus eigener Kraft entwickeln können und hat sich auch in der biochemischen Methodenexpertise von der Chemie emanzipiert. Daher hat die Chemie nun den Anschluss an die Gesamtentwicklung etwas verloren. Sattlers ist aber nicht triumphal. Er behauptet nicht einen Führungsanspruch der Lebenswissenschaften. Die „alten Schullager“ hatten vielleicht auch mal ihre Berechtigung, aber das ist mittlerweile vorbei. Die Naturwissenschaften wachsen heute wieder näher zusammen, man braucht sich und kann sich eitle Pflege von Fachidentitäten nicht leisten. Das ist hier der Tenor. Konkurrenz Universität – Max-Planck-Institut O: Also sie hätten auch keine Bedenken, Chemiker äh in ihre Gruppe zu nehmen S: Nein, nein, wir ham jetzt zum Beispiel der Leiter unseres Genomzentrums ist Chemiker, (O: ja) ähm also das die Grenzen sind schwimmend, (O: ja), das ist das ist ganz klar O: Mhm (.) äh (.) ähm noch mal würd ich gerne auf diese Geschichte mit den äh Konkurrenz zwischen Uni und Max-Planck-Institut kommen, also ich hab mich immer gewundert, äh zum Beispiel bei diesen ähm Sommerakademien der Studienstiftung dass da also viel beschäftigte
354 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE berühmte Leute äh sich drum gerissen haben, als Dozenten aus den Naturwissenschaften dahin zu kommen, das ist mir lange Zeit unklar gewesen, bis mir dann so gedämmert ist, dass doch wahrscheinlich würden sie dem zustimmen der Hauptmechanismus oder der Hauptgrund der ist, sich einfach gute# ne Chance haben, gute Doktoranden zu kriegen S: Ja natürlich O: Ist glaub ich sehr wichtig nicht S: Jaja, jaja, und es ist halt auch so, ich mein wir haben ja jetzt mittlerweile ist es en bisschen aufgeweicht, an einigen Stellen gibt’s Doppelberufungen, aber (O: ja) Doppelberufungen sind nicht so Usus, und O: Ja also Doppelberufungen meine sie Uni Max-Planck ja S: Uni und Max-Planck (O: ja) und ähm meine Kollegen sind jetzt hier alle Honorarprofessoren an der Universität aber (O: ja) wirklich Lehre machen tut keiner ne, (O: ja) und ähm es ist halt dann einfach nicht so einfach, an äh (O: ja) Studenten zu kommen, (O: ja) und äh je nachdem was man macht äh (O: ja) braucht man halt en großen Laden, (O: ja) ne also es gibt bestimmte Sachen, die können sie nur durchziehen, wenn sie äh 30, 35 Leute haben, (O: ja) und ob man das# ob das jetzt jeder unbedingt will, ist ne andere Frage und (O: ja) obs jeder unbedingt muss ist auch wieder ne andere Frage aber äh bei einigen Projekten ist das halt so (O: mhm) und das können sie nicht alles aus dem Ausland rekrutieren, (O: mhm) das geht nicht,
In der Lehre entstehen persönliche Bindungen und da die Max-Planck-Leute nicht in die universitäre Lehre hineinkommen, fehlen ihnen die Möglichkeiten, solche Kontakte aufzubauen. Das wirkt sich vor allem dort aus, wo Großforschungsprojekte konzipiert werden, die auf eine hohe Zahl an Mitarbeitern kommen müssen. Wenn ein Projekt dreißig Forscher benötigt, dann muss im Hintergrund auch eine stille Reserve an geeignetem Personal bereitstehen, damit Lücken im Personalstamm ausgeglichen werden können. Man muss immer mit Abwerbungen, Mutterschaftsurlaub, Fehlzeiten durch Krankheit, der üblichen Fluktuation rechnen. Hier sind die Forschungsinstitute auf die Universitäten und ihre Studenten angewiesen. Die Studienstiftung ist als ein weiteres Rekrutierungsterrain entdeckt worden und das ist einer der Hauptgründe, warum namhafte Wissenschaftler sich dort engagieren. und der Konkurrenzkampf ist auch gesund, also ich finde (O: ja) da ist ja an und für sich nichts gegen zu sagen und äh ich mein wir sehen das immer en bisschen eingeschränkt, weil wir natürlich nur Max-Planck gegen die gesamte biologische Fakultät dann in unserm Falle jetzt sehen, aber wenn man dann mal mit den Kollegen da drüben redet ist natürlich innerhalb der Biologie (uv) und ich glaube das ist in allen Städten so, also ich war in Darmstadt vor anderthalb Wochen auf ner Konferenz, da waren die Kämpfe auch, (O: ja) die biologische Fakultät war kleiner da war das auch, (O: ja) ich glaub das muss auch so sein, ich mein das gehört halt einfach dazu (O: ja) und äh von daher find ich das auch an und für sich ganz ganz okay
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Jetzt wird das obige Bild etwas korrigiert. Es gibt zwei Sichtweisen. Die eine ist die Binnenperspektive, die sich im Konkurrenzkampf selbst bildet. Die Beschwerde über die Universität gehört da zur üblichen Abgrenzungsrhetorik. Mit diesem Eingeständnis ist die zweite Sichtweise bereits eingeführt. Sie rückt den professionsdienlichen Aspekt des Wettstreits in den Vordergrund. Die Konkurrenz hat auch etwas Rationales, ist „gesund“. Das heißt, sie kommt letztlich sowohl der Universität wie dem MPI zugute. Der Wettstreit zwingt beide Kontrahenten dazu, sich zu bewegen. In Wirklichkeit gibt es nicht nur die nackte Konkurrenz, sondern auch einen übergreifenden Dialog und Austausch zwischen MPI und Fakultät. In ihm kann sogar der Streit selbst thematisch und damit relativiert werden. Die Dinge werden auf der Gegenseite genauso gesehen. Die Konkurrenz trübt manchmal die Sicht auf die Gemeinsamkeiten, aber im Hintergrund bildet man eine Professionseinheit und das wissen auch alle. O: Ja, ich meine das S: Das Schwierige ist# muss man natürlich dazusagen, was schwierig ist, ist wir haben die Belastung in der Grundlehre nicht, (O: ja) wir müssen die Prüfungen nicht machen, obwohl wir sie ja gerne machen würden, wir würden (O: ja) ja wirklich hingehen und sagen (O: ja) Leute, dann gebt uns was, wir machen das schon, (O: mhm) ja weil äh es wirklich wenn man den Titel# wenn die Leute alle Honorarprofessoren sind, warum sollen sie dann nicht was für tun, (O: ja) also wir haben diese diese Lehrbelastung einfach nicht, (O: mhm) wir müssen uns dann auch nicht mit diesen schlechteren Studenten rumschlagen (O: ja) und ähm wir haben natürlich ne viel leichtere Förder äh (O: mhm) möglichkeit, die man an der Universität auch nicht hat, und es ist schon unterschiedlich, das muss man ganz ehrlich sagen, das ist nicht
Sattler anerkennt jetzt die Asymmetrie. Es gibt ungleiche Ausgangslagen und größere Belastungen der Universitäten durch die Lehre. Gleichwohl merkt man selbst hier noch Ungeduld und Unverständnis angesichts der ausgeschlagenen Angebote zur Beteiligung am Prüfungswesen. Das Verhältnis bleibt prekär. Jedes Kooperationsangebot wird argwöhnisch zurückgewiesen. Der Kampf um die guten Doktoranden ist einfach zu stark. Ich zitiere im Folgenden eine längere Passage am Stück. Das Thema der hausgemachten Probleme der deutschen Universität baut sich weiter auf. O: Wie ist das, ham sie# äh sie ham Doktorandenstellen oder können sie auch Forschungsstipendien ausloben in ihrem äh S: Nein, wir haben halt# ich hab# also meistens bei Max-Planck so, dass man ne bestimmte Zahl permanenter Stellen oder einen gewissen Stellenpool hat, (O: ja) den man dann permanent oder nicht permanent besetzt O: Das heißt, die Doktoranden sitzen bei ihnen auf BAT IIa-Stellen S: Neinnein, die Doktoranden haben alle Stipendien
356 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE O: Stipendien, also das sind vollkommen S: Die kommen noch mal die kommen noch mal extra O: Ja, ja, und die andern äh wie viel ständige Mitarbeiter haben sie in ihrer Gruppe denn S: Also ich hab jetzt die TAs sind natürlich alle permanent (O: ja) und dann das Putz- und Spülpersonal ist permanent (O: ja) und die Assistentenstellen äh hab ich also nicht permanent gemacht, (O: ja) die sind alle auf 5-Jahres-Basis O: Ja, also damit sie auch äh S: Damit immer wenn was Neues kommt also ich habs jetzt bisher noch nicht so gemacht, dass ich äh die Assistentenstellen im eigenen Thema vergeben hab, also ich hab nen Assistenten aus Amerika, der arbeitet an ganz was anderem, (O: ja) und ich habe einen Mitarbeiter von Herrn [Eigenname] übernommen, (O: ja) der noch zwei Jahre hat bis zu seiner Emeritierung, (O: jaja) und da kann ich nochmal was Neues machen, (O: ja) und dann muss man sehen, was man dann macht O: Wenn wir da noch mal drauf# ich mein im Hintergrund ist ja das denk ich ein ein äh entscheidendes Thema also äh welchen Beitrag leistet man für das Ganze und äh die eigene Karriere äh zu befördern, also das beides stößt sich ja doch äh sehr häufig und ähm (.) ähm äh wenn sie mit diesen Problemen in ihrer Gruppe zu tun haben äh wie gehen sie damit um, also äh was können sie denen sagen, um äh denen gewissermaßen die Angst zu nehmen S: Ach am Max-Planck hat man das ja an und für sich nicht, ich mein das hat man an der Universität wenn man Assistent ist und (O: mhm) (uv) Lehre investieren muss und weiß (O: ja) nach fünf Jahren muss man wieder gehen, das ham wir aber hier nicht, (O: ja), das hab ich in meiner Zeit ja auch nie gehabt, also ich bin hierhin gekommen und hab gewusst und bin immer davon ausgegangen, ich hab hier fünf Jahre und nach fünf Jahren bin ich hier wieder weg, (O: ja) und hab halt meine Forschung gemacht, hab mich um nichts gekümmert (O: ja) und hab aber# mein Doktorvater hat mir den Rat gegeben, der war vorher auch mal in XYZ, der hat gesagt, wenn se dich fragen nach irgendwas, dann machste das, ich hab das Seminar mal organisiert als se das wollten und (O: mhm) aber das waren alles Kleinigkeiten und hab mich halt sonst an relativ wenigen Sachen aufgehalten, (O: mhm) weil das ja nicht Teil meines Aufgabenbereichs# (O: mhm) also das heißt man hat schon die ganze Zeit zu forschen, (O: mhm) und jetzt äh wo natürlich wenig Lehre da ist äh der Konflikt ist an und für sich gar nicht so gegeben, (O: mhm) weil was man macht# außer jetzt die Geschäftsführung, das ist natürlich was anderes, (O: ja) aber auch da find ich ich mein das hat man also bei uns geht das reihum und man ist das für drei Jahre, (O: mhm) bei mir kams jetzt sicherlich en bisschen zu früh in dem Aufbau der Abteilungen, aber äh mittlerweile seh ich das eigentlich O: Aber das machen natürlich die Koll# äh die Kollegen ganz gerne, immer die Neuen erst mal dranzukriegen nicht S: Ähm nee das war jetzt so nicht, aber bei uns werden se alle emeritiert (O: ach so) und von daher musste das jetzt sein und O: Also vom Rhythmus her S: Vom Rhythmus her und auf der andern Seite, ich hab jetzt noch zwei Jahre und dann (.) hab ich bis 2018 oder so Ruhe (O: ja) und das ist schon
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Probleme des deutschen Universitätssystems: Die Rolle des Dekans O: Ja, beim Dekan# bei den Dekanaten ist es immer so, dass man gerne die Frischberufenen möglichst schnell S: Jaja, aber das ist ja auch son (.) Problem des deutschen Systems, ja ich meine einer der Gründe, warum die deutschen Universitäten nicht funktionieren, ist genau eben diese Eigenart, (O: mhm) ja ich mein die angelsächsischen Universitäten funktionieren alle wesentlich besser, weil man so en Schwachsinn nicht macht, man schreibt die Stellen als Dekanstellen aus, und wenn man jemanden zum Dekan macht, dann hat der natürlich auch gewisse Vergünstigungen, also in Amerika muss kein Dekan einen Antrag bei (uv) oder sonst irgend ner Anstalt äh stellen um Geld zu kriegen, die Forschungsförderung für den Dekan wird immer von der Uni finanziert, so dass er also keine Angst haben muss für seine eigene Forschung und er kann sich dann wirklich diese fünf oder zehn Jahre wirklich ganz konzentriert dieser Aufgabe widmen, (O: ja), und äh wenn dann Schwierigkeiten sind und äh es ist nicht# es herrscht kein Konsens wen man nimmt, dann entscheidet halt der Dekan, und der Dekan ist am Ende auch dafür verantwortlich, (O: ja) und da streitet man sich nicht drei Jahre in (O: ja), Kommissionen so wie hier, also ich finde das ist diese ganzen Neuerungen, die man da jetzt macht, das ist ja alles Firlefanz, die eigentlich (.) die eigentlich wirkliche Frage ist, es müssen Leute da sein, die Verantwortung übernehmen, (O: ja), man kann die Verantwortung nicht in Kommissionen immer hin und her schieben und äh und das ist auch glaub ich einer der Gründe, warum das bei Max-Planck wesentlich besser funktioniert,
An der Heftigkeit der Reaktion ist abzulesen, dass der Interviewer mit seiner Bemerkung zur universitären Praxis der Dekanatsbesetzung einen sensitiven Punkt berührt hat. Die Äußerung führt ins Zentrum der seinerzeit aktuellen Hochschulreformdebatte, bei der ja auch der Vergleich zwischen den deutschen und den angelsächsischen Universitäten immer eine große Rolle spielte. Es wird also ein professionspolitischer Streit ausgetragen. Die Bemerkung des Interviewers wird offenbar so verstanden: Zu viele deutsche Professoren nehmen die Verantwortung des Dekanats nicht wirklich wahr, sondern sehen sie eher als lästige Pflicht an und wälzen sie gerne auf das „schwächste Glied in der Kette“ ab. Die neuberufenen Professoren müssen sich erst noch integrieren und können sich als Neulinge deshalb nicht verweigern. Der Fragesteller hatte eine solche Praxis angedeutet, als er sagte: „...das machen natürlich die Koll# äh die Kollegen ganz gerne, immer die Neuen erst mal dranzukriegen...“. „Drankriegen“ unterstellt, dass niemand die Aufgabe gerne übernimmt und man in die Pflicht genommen werden muss. Die Praktik hat aber eigentlich folgenden Sinn: Die jungen Professoren werden schnell in die Pflicht genommen, damit sie möglichst rasch mit den Aufgaben und Problemen der Selbstverwaltung vertraut werden. Unterstellt ist hier die Gepflogenheit, das Amt des Dekans unter den Lehrstuhlinhabern reihum zirkulieren zu
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lassen. Das unterscheidet sich nicht von der Regel der Max Planck Gesellschaft, die Geschäftsführung der Institute reihum den Direktoren zu übertragen. Das System folgt der Logik kollegialer Selbstverwaltung. Der im Amt befindliche Dekan fungiert als Primus inter pares. Dies läuft einem autokratischen Direktorat entgegen, verlangt aber zugleich, dass alle Professoren ihrer Verantwortung für das Ganze gerecht werden. Das Zirkularsystem an deutschen Universitäten ist in Sattlers Augen jedoch Schwachsinn, weil, so unterstellt er, der Dekan zu viele Lasten aufgebürdet bekommt, die ihn aus seiner eigentlichen Arbeit herausziehen. Deshalb will niemand die Aufgabe übernehmen. Im Kern geht es ihm darum, dass es Wissenschaftler geben muss, die wirklich Verantwortung für das Ganze übernehmen. Und diese Wissenschaftler müssen so gestellt sein, dass sie nicht Gefahr laufen, den Anschluss an ihre Forschung zu verlieren. Sie sollen also auch in der Zeit der Selbstverwaltungsarbeit weiter forschen können. Dekane müssen selbstverständlich Wissenschaftler sein und bleiben. Nicht Manager sollen das Amt übernehmen, sondern Leute, die etwas von ihrem Fach verstehen. Aber man muss sie auch in die Lage versetzen, Forscher bleiben zu können. An diesem Grundübel ändert auch die aktuelle Reform nichts, so Sattler. Auch in Zukunft gilt, dass kein Wissenschaftler gerne ein solches Amt übernehmen wird. Von den Prinzipien der Selbstverwaltung will Sattler also gar nicht weg. Es soll bei kollegialen Gemeinschaftsbeschlüssen bleiben. Er geht aber davon aus, dass das deutsche Universitätssystem nicht mehr funktioniert, weil er unterstellt, dass die heutigen Aufgaben eines Dekanats Wissenschaftler verlangen, die sich der Aufgabe über einen längeren Zeitraum stellen. Lassen wir es an dieser Stelle offen, ob dies für alle Fächer gleichermaßen gilt. Der Grundtenor ist, dass die Universitäten zurückfinden sollen zu einem Führungsstil, der es ihnen erlaubt, schneller zu guten Lösungen für die Probleme zu kommen. Er plädiert nicht für einen autoritären Führungsstil, sondern der Dekan soll im Konfliktfall die Entscheidung treffen, wenn sich eine Einigung auf dem kollegialen Wege nicht erreichen lässt. Er soll eine Person sein, die Verantwortung für das Ganze nicht scheut, sondern im Zweifelsfall auch persönlich Entscheidungen trifft. Der Zusammenhang zwischen den Abteilungen im Institut O: Ja äh äh vielleicht könnten wir das kurz noch auch noch thematisieren, bei einem solchen Institut wie diesem hier, äh inwieweit jetzt äh der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Abteilungen für sie auch noch wichtig ist äh oder ist das eher äh sind eher Kontakte zu ähnlichen Forschungsgruppen in andern Instituten äh
Die Frage zielt auf die wissenschaftliche Kultur des Instituts ab. Gibt es einen übergeordneten Zusammenhang, einen gemeinsamen Diskurs, in dem man sich über die eigene Fragestellung und Abteilung hinaus gegenseitig austauscht und Anregungen empfängt? Interessiert man sich auch für die Forschungen der anderen Abteilungen,
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obwohl diese vielleicht mit dem eigenen Programm und Ansatz nicht viel gemein haben? Oder sind die Forschergruppen mehr oder weniger autarke Gebilde, die mit den anderen Abteilungen nur die Mensa und die Verwaltung teilen, während der wissenschaftliche Austausch mehr mit Gruppen gepflegt wird, die andernorts am selben Thema sitzen? Die Hypothese, die in diese Frage einfließt, lautet, dass die Forscherprofession immer auch eine Vergemeinschaftung der Wissenschaftler darstellt, und dass diese Vergemeinschaftung ihren Ausgang nicht alleine in berufspraktischen Interessen nimmt, sondern in der gemeinsamen Grundhaltung einer forschenden Neugierde, die sich in den Einzelprojekten nur verschiedenen Gegenständen zuwendet. Aber diese Vergemeinschaftung ist nicht in allen Einrichtungen der Wissenschaft gleichermaßen realisiert. Die Universität bildet eine solche Universitas der Fächer mehr oder weniger gut in ihren Fakultäten ab. Wie aber verhält es sich damit in Forschungsinstituten wie denen der Max Planck Gesellschaft? Wenn die Hypothese richtig ist, dann müsste man wenigstens Spuren der Vergemeinschaftung über die Abteilungen hinweg auch in ihren Instituten finden. S: Och äh ja wenn’s wenn’s Kontakte zu andern Wissenschaftlern sind äh jetzt heute mim Internet dann is vollkommen egal, ob das Max-Planck ist oder sonst irgendwo in der Welt, (O: ja) das ist relativ leicht, ähm wir haben Gott sei Dank hier ne kritische Größe erreicht, so dass wir gut miteinander reden können (O: ja), und man wenn man ein Problem nicht selber lösen kann in ner andern Abteilung wird schon jemand sein, der das kann. O: Ja, gibt es da auch eine äh fachlichen Diskussionszusammenhang en intensiven in so einem Institut S: Äh das kommt drauf an, also jetzt in# mit meiner Abteilung und der von Professor Fischer [Name geändert] sicherlich, weil wir (O: ja) von der philosophischen Aufgabenstellung her sehr ähnlich sind und (O: ja) ne ähnliche Methodik benutzen
Sattler gibt zu erkennen, dass für ihn der Austausch mit allen Wissenschaftlern, die rund um den Erdball am selben Gegenstand forschen, das wichtigste ist. Das ist heute wegen des Internets alles kein Problem. Es ist eine geübte, selbstverständliche Praxis. Sattler geht also erst einmal von seiner eigenen Forschergruppe und ihrer Stellung in der internationalen Evolutionsbiologie aus. Der Austausch mit den anderen Abteilungen steht dem nicht nach. Für Sattler ist wichtig, inwiefern man „gut miteinander reden“ kann, er meint vermutlich auch, inwiefern man Expertisen bzw. Hilfestellungen anbieten oder abfragen kann. Seine Gruppe hat eine Breite („kritische Größe“) an methodischen Expertisen und eine fachliche Problemlösungskapazität aufgebaut, die es ihr erlaubt, auf jede Anfrage reagieren und sich an den wichtigen Debatten beteiligen zu können. Das heißt, für ihn steht die erreichte Selbständigkeit der noch jungen Gruppe ganz im Vordergrund. Sie war bis vor kurzem noch nicht selbstverständlich.
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Was die dann wiederholte Frage nach dem Diskussionszusammenhang im Institut angeht, differenziert Sattler. Es gibt eine Abteilung des Instituts, mit der ein engerer Austausch gepflegt wird, mit anderen findet ein solcher nicht im gleichen Maße statt. Das ist interessant, weil sichtbar wird, dass es zwar ein wechselseitiges Interesse an einem übergeordneten Diskurs gibt, der aber einer wichtigen Einschränkung unterliegt: Man muss sich auch verständigen können! Das ist in erster Linie eine Frage der Vergleichbarkeit der „philosophischen Aufgabenstellung“. Man ist an einem ähnlichen Problem dran, denkt ähnlich und benutzt dasselbe Repertoire an Methoden. Es gibt viele gemeinsame Routinen und die parallelen Forschungen lassen sich strukturell leichter ineinander übersetzen und aufeinander beziehen. Das ist natürlich interessant, weil hierin ein generelles Problem der heutigen Forschung angesprochen wird. Es gibt das Phänomen, dass viele Forschungsgruppen nicht so leicht miteinander ins Gespräch kommen, weil man gar nicht dieselbe Sprache spricht. Das gilt sogar für Gruppen innerhalb eines Instituts, innerhalb eines gemeinsamen Forschungsgebiets, indem es viele Überschneidungen gibt. Die Abteilungen arbeiten im Rahmen eines Faches, ihr Forschungsgegenstand überschneidet sich, aber sie verfolgen unterschiedliche Ziele und nutzen so differente Ansätze, dass sich die Mitarbeiter der Abteilungen kaum mehr verständigen können. In diesem Zusammenhang ist die Rede von der „philosophischen Aufgabenstellung“ besonders interessant. Was darunter verstanden werden kann, wird uns weiter unten noch ausführlich beschäftigen. O: Also zum Beispiel jetzt der Artikel, den Herr Fischer da zur Stammzellen äh äh diskussion in der FAZ geschrieben hat, diskutieren sie so was äh S: Ähm ja, er schickt mir also nicht immer aber meistens (O: ja) Artikel schon vorher, dass ich die noch mal lese, (O: mhm) aber das ist natürlich dann was, was auf direktorialer Ebene passiert, (O: ja) aber wichtiger ist natürlich die Interaktion der Mitarbeiter O: Ja und wie äh S: Das läuft an und für sich ganz gut, aber das liegt halt immer dran, welches Thema es wirklich ist, also wir können uns sofort es ist ganz klar, dass die Doktoranden vieles gemeinsam haben, (O: ja) weil halt die die philosophische Grundhaltung dieselbe ist von der von der Themenstellung her, das ist bei andern Abteilungen nicht der Fall, die ham nen andern Ansatz, (O: ja) andern methodischen Ansatz vor allen Dingen, (O: ja) und da gibt’s dann natürlich auch Glaubenskämpfe
Man spricht nicht dieselbe Theoriesprache und ist nicht in demselben Grundansatz eingebettet. Glaubenskämpfe beziehen sich auf die von den Gruppen eingeschlagenen Wege, einen Gegenstand aufzuschließen. Es gibt eine Konkurrenz darin, wie man einer Forschungsaufgabe beikommt. Und zwar innerhalb desselben Instituts. Es sind Grundüberzeugungen und Einschätzungen zum Forschungsdesign beteiligt, die nicht einfach zur Disposition gestellt werden können, weil sie mit der Persönlichkeit enger
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verbunden sind. Es geht also nicht um die Frage, ob man in der Evolutionsbiologie nahe oder ferne Verwandte zum Vergleich heranziehen sollte, sondern es geht um tiefergehende Differenzen, die vielleicht auch in theoretischen Überzeugungen und Erwartungen begründet sind und komplett andere Herangehensweisen nach sich ziehen. Ein extremes Beispiel wäre die Konkurrenz zwischen bestimmten Spielarten der akademischen (Test-)Psychologie und der Psychoanalyse, die sich sowohl in der Modellbildung, als auch in dem, was sie als empirische Basis gelten lassen wollen, erheblich unterscheiden, obwohl die Modelle manchmal gar nicht so weit auseinander liegen. Diese epistemischen Besonderheiten sind für eine Gruppenidentität besonders wichtig und wirken sich schon bei den Doktoranden aus. Die eingangs gestellte Frage nach der übergreifenden Diskursgemeinschaft ist damit aber immer noch nicht ganz beantwortet. Man könnte ja schlussfolgern, dass gerade solche tieferreichenden Differenzen zwischen Forschungsabteilungen es erforderlich machen, die Gründe dafür, sofern sie wissenschaftlicher Natur sind oder diese berühren, zu explizieren und sichtbar zu machen. Das geht nur in gemeinsamen Veranstaltungen, in denen sich die Kontrahenten unvoreingenommen um die Explikation der Gründe für ihre Herangehensweisen bemühen. Man könnte sich sogar Veranstaltungen vorstellen, in denen es nicht primär darum geht, die Gegenseite zu überzeugen, sondern vielmehr darum, den jeweiligen Zusammenhang zwischen den theoretischen Grundüberzeugungen und dem präferierten Repertoire an Methoden sichtbar werden zu lassen. Daraus könnten beide Gewinn ziehen. O: Gibt es da ähm ähm Veranstaltungen, die dem äh sagen wir mal Kommunikations einer gewissen Kommunikations &(uv)& S: &Ja also wir haben& äh montags abends ne Seminarreihe, wo wir auswärtige Sprecher einladen O: Und das äh ist dann ne Reihe für das gesamte Institut S: Für den gesamten Campus sogar, (O: ja) den machen wir mit einem anderen Institut zusammen und das ist son wöchentliches O: Ach das nennen sie hier Max-Planck-Campus ja S: Das nennen wir das kleine Dings nennen wir Campus ja O: Alles klar ja
Jetzt wird der übergeordnete Rahmen doch noch sichtbar. Er umfasst sogar noch ein weiteres Institut, nicht nur andere Abteilungen. Das liegt durchaus nahe, denn in der Stadt sind mehrere Institute auf einem Hügel nahe beieinander angesiedelt. Von einem Außenstehenden sind die Gebäude gar nicht sofort getrennten Instituten zuzuordnen. Die Institute nutzen bestimmte Einrichtungen wie die Mensa oder das Gästehaus und eine Werkstatt gemeinsam und bilden auch sonst in mancher Hinsicht eine technische Einheit. Dass sie auch wissenschaftlich eine gemeinsame Veranstaltung pflegen, spricht dafür, dass man dem Bedürfnis nach wechselseitiger An-
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regung und Erweiterung des Horizonts gerecht werden will. Der „Campus“ verbindet die Institute also zu einer wissenschaftlichen Bildungsgemeinschaft, die sich montags abends als Auditorium für auswärtige Referenten formiert. Wie stark diese Vortragsreihe mit der Arbeit der einzelnen Abteilungen verbunden ist, hängt natürlich davon ab, wer welche Referenten einlädt. Das Vorschlagsrecht für Referenten geht wahrscheinlich reihum und die einzelnen Abteilungen nutzen auf diese Weise die Gelegenheit, ihre internen Debatten vor einem größeren Publikum zu führen und nach außen zu tragen. Oder man holt sich Referenten zu einem naturwissenschaftlich kontroversen Thema aus anderen Fächern, um sich über den eigenen Tellerrand hinaus zu informieren. Dadurch übernimmt die Campusöffentlichkeit die Funktion der Universitats der Fächer. S: Und ähm (.) und dann ham wir dienstags en Institutsseminar, (O: ja) wo die Doktoranden und die Post-Docs ihre Ergebnisse vorstellen O: Also das sind die beiden Veranstaltungen, die sozusagen auf Gesamt äh S: Die wir gemeinsam haben und dann ham wir jetzt eingeführt dieses Jahr einen ähm ein Faculty-lunch, wo sich dann die Fakultät# also alle Senior-Post-Docs, die schon Doktoranden betreuen, von da ab aufwärts (O: ja) und da ham wir einmal im Monat zusammen en gemeinsames Mittagessen, und dann muss einer halt an der Tafel sein Projekt vorstellen, (O: mhm) und das geht ganz gut
Es gibt regelmäßige Veranstaltungen, ein geflochtenes Band der Kommunikation, das die Mitarbeiter aller Statusgruppen in Kontakt zueinander bringt. Montagabend trifft man sich zu den Vorträgen auswärtiger Gäste und findet sich zur Campusgemeinschaft zusammen. Das ist die höchste Stufe der Vergemeinschaftung und richtet ihren Sinn zugleich nach außen. Dienstags findet das Seminar statt, in dem die Mitarbeiter der einzelnen Abteilungen des Instituts zusammenkommen. Hier formiert sich das MPI nach Innen als Fachöffentlichkeit und die einzelnen Abteilungen stellen nah an der Laborforschung ihre Ergebnisse und Diskussionen vor. Die einzelnen Doktoranden und Postdocs, die vortragen, vertreten nicht nur ihre eigene Arbeit, sondern das Forschungsprogramm, in das ihre Arbeit eingebettet ist. Die Dienstagsveranstaltung dient also den Institutsmitgliedern dazu, sich über alle Aktivitäten zu informieren. Vom Stil her dürfte es hier weniger förmlich zugehen, als Montags, und eine Kritik könnte auch mal schärfer ausfallen, weil man „unter sich“ ist. Das erhöht aber nur die Bedeutung dieser Veranstaltung für die Referenten, für die der Dienstagstermin eine wesentliche Bewährung und Korrekturmöglichkeit darstellen dürfte. Mittwochs findet in der Abteilung von Sattler das Laborseminar statt, in dem auch die TAs vortragen und man sich über die aktuellen Laborbefunde austauscht. Hier formiert sich das Labor, die Abteilung, die Arbeitsgruppe, die von Sattler geleitet wird. Diese Kleingruppe ist die Zelle, die eigentliche Arbeitseinheit der Institutsforschung. Ihre Mitarbeiter formieren sich mitt-
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wochs ausschließlich nach Innen. In ihr manifestiert sich die Laboröffentlichkeit. Der Mittwochstermin dient dazu, die Mitarbeiter alle auf den gleichen Stand zu heben. Der Grad der Förmlichkeit wird hier am geringsten sein, aber eine fehlende Sachhaltigkeit und Professionalität wird hier auch am ehesten offenbar werden. Dann gibt es noch eine weitere regelmäßige „Veranstaltung“, die im Leben des Labors eine wichtige Rolle spielt, und das ist die gemeinsame Pause am werktäglichen Nachmittag. Da von ihr im Interview nicht mehr die Rede sein wird, trage ich hier aus dem Kontext nach, was wir darüber wissen. Die Labormitarbeiter gehen in wechselnden Zusammensetzungen in Gruppen oder einzeln zum Mittagessen, aber nachmittags gibt es gegen 16:00 Uhr ein Treffen im Pausenraum des Labors, zu dem es zwar keine Anwesenheitspflicht gibt, das aber von fast allen regelmäßig wahrgenommen wird. Man trinkt Tee und es gibt mitgebrachten Kuchen, den die Doktoranden reihum besorgen. Hier vergemeinschaftet sich das Labor im Alltag und es werden wissenschaftliche Befunde nur besprochen, wenn sie wirklich aufsehenerregend sind. Man ist gesellig und diskutiert über alles Mögliche, auch über Belange des Berufs. Die Treffen dauern nicht länger als ca. 30 Minuten. Es gibt auch vormittags gegen 9:00 Uhr ein solches Zusammenkommen, aber der Nachmittagstermin ist wichtiger. Man hat also eine Staffelung der Ebenen der Vergemeinschaftung, die sich an die Gruppenidentität anlehnt und zeitlich mit der obersten Ebene der Zugehörigkeit beginnt; das ist die Max Planck Gesellschaft und ihre Institute am Ort, die Campusebene. Dann folgt die abteilungsübergreifende Institutsebene, das Dienstagsseminar. Und schließlich mittwochs die Labor- bzw. Abteilungsebene, das Laborseminar. Alle Veranstaltungen haben über die Funktion der Vergemeinschaftung hinaus wichtige Bedeutungen für die Formierung der Gruppen, für die Außendarstellung der Forschungsprogramme, für die Evaluation und Kritik der Einzelarbeiten, für die Anbahnung gemeinsamer Aktivitäten über die Abteilungsgrenzen hinweg, für die Pflege der Kontakte zu Kollegen, deren Hilfestellung in Anspruch genommen werden könnte. Der einmal im Monat stattfindende Fakulty lunch ergänzt diese Struktur insofern, als sie innerhalb der Gruppe der Postdocs noch einmal eine engere Kommunität schafft. Die „Senior- Postdocs“ umfassen die Gruppe aller, die Gruppenleiterfunktionen ausfüllen und Doktoranden betreuen und insofern Forschungsprogramme gegenüber Dritten verantworten müssen. Es ist der erweiterte Führungsstab des Forschungsinstituts. Der Fakulty lunch erhöht gewissermaßen den Korpsgeist dieser Gruppe, die Direktoren verzichten damit auf die Möglichkeit, zwischen sich und den anderen Postdocs eine soziale Distanz zu halten. Der Fakulty lunch betont die Kollegialität ohne Rang, die das Fach nach außen vertreten. Man lehnt sich darin an eine angelsächsische Tradition an. Dass einer oder eine vorträgt, während die anderen zu Mittag essen, ist eine Form der Arbeitsgestaltung, die das Nützliche mit dem Angenehmen, die Arbeit mit Geselligkeit verbindet, und umgekehrt, die Gesel-
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ligkeit nicht sich verselbständigen lässt, sondern mit dem Nützlichen vereint. Dem haftet etwas Aristokratisches und zugleich Puritanisches an, was in Deutschland eher unbekannt ist. und jetzt wir versuchens jetzt so en bisschen zu modernisieren, (O: ja) also eine der ersten Sachen, die ich auch gemacht hab, war en Doktorandenprogramm, (O: ja) dahingehend dass die Doktoranden im ersten Jahr wenn sie hier ankommen en gemeinsamen Hintergrund äh bekommen dadurch dass sie zwei Wochen alle Organismen und alle Fragestellungen, mit denen am Institut gearbeitet wird, vorgestellt bekommen von den Arbeitsgruppenleitern, (O: mhm) und das (.) davon profitieren nicht nur die Doktoranden, sondern natürlich auch wieder die Labors, (O: mhm) weil dann natürlich die Kommunikation zwischen den Doktoranden besser wird, (O: ja) und wir ham also schon Fälle erlebt, wo eine Arbeitsgruppe einer anderen hätte helfen können (O: ja) und die andere hat über sechs Monate nicht gewusst, dass die das können was sie brauchen, (O: mhm) und äh das wird sich jetzt in Zukunft alles legen, (O: ja) weil natürlich die Doktoranden permanent miteinander reden, (O: ja) und äh das sieht man, das ist sehr sehr vorteilhaft, man sieht also jetzt schon in der Mensa, wie sie jetzt auf einmal nicht mehr gruppenweise (O: ja) essen, sondern über die Abteilungen hinweg miteinander essen (O: ja) und das hat das hat äh also direkt wir hams jetzt im September das erste Mal gemacht, (O: ja) das hat sich sofort ausgezahlt dann.
Die Kurse für die Neueinsteiger haben drei wichtige Funktionen: (i) Sie sorgen dafür, dass alle Mitarbeiter wenigstens grob über alle Forschungsaktivitäten im Hause informiert sind. Sie führen die Neuanfänger in die verschiedenen Projekte ein und machen sie mit den beiden Modellsystemen vertraut. Damit wird institutsübergreifend eine kollektive Wissensbasis eingerichtet und jedes Jahr erneuert. Dies ist die kognitive Voraussetzung für einen späteren Austausch zwischen den Doktoranden. Die Kurse dienen also der Integration in das, was schon besteht. (ii) Die Kurse erlauben es den neuen Mitarbeitern, sich kennenzulernen. Die Neuanfänger bilden einen „Jahrgang“ und dies bereitet spätere Kooperationen vor. Sattler bestätigt ja auch, dass die Vergemeinschaftung der Kurse trägt und sich in der Mensa fortsetzt. (iii) Die Kurse erhöhen die Bindung der Mitarbeiter an das Forschungsprofil des Gesamtinstituts, weil sie den Blick auf das hinter den einzelnen Aktivitäten stehende „philosophische“ Kernprogramm lenken, das die einzelnen Forschungsstränge miteinander teilen. Sie machen insofern den Geist des Instituts besser sichtbar und verknüpfen die Arbeit der einzelnen Forscher stärker mit diesem Grundprogramm. Dadurch wird die Identifikation mit dem Institut befördert. Die Kurse legen eine Grundlage dafür, dass junge Doktoranden an den Forschungen der anderen und ihren etwaigen Erfolgen teilhaben. Man hat hier eine komplexe, aber doch einfache zeitliche Struktur des Instituts vor sich, die auf eine durchdachte Weise die Integration der Mitarbeiter zu bewerkstelligen sucht.
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ABSCHNITT V. D IE B EDEUTUNG DES B EOBACHTENS O: Ja. Also was# wenn ich etwas sagen# mir fällt auf, dass sie also ihre Formulierung eben man sieht dass äh äh also sie kann man sagen, dass sie äh als Biologe zu beo# genau zu beobachten gewöhnt sind (..) S: Ja natürlich ich mein letztendlich ist Biologie ne reine Beobachtungsgabe, (O: ja) also das ist das Wichtigste in der Biologie (O: ja) schlechthin,
Dem Interviewer ist aufgefallen, dass Sattler die Mitarbeiter und Doktoranden und ihr Gruppenverhalten in der Mensa offenbar genau beobachtet. Nach Einführung der Veranstaltung, von der eben die Rede war, hatte sich ihr Verhalten verändert, so dass sie sich nun beim Essen untereinander mehr austauschen. Sattler interpretiert dies als Folge seiner Maßnahme. Vom Interviewer wird unterstellt, dass nicht jeder eine solche Veränderung in der Mensa wahrgenommen hätte. Einem in Alltagsroutinen gefangenen Wahrnehmen wäre so etwas vielleicht entgangen. Das bringt ihn darauf, die Beobachtungsfähigkeit zu thematisieren. Um diese Stoßrichtung zu unterstreichen, präzisiert der Interviewer noch einmal: dass sie äh als Biologe zu beo# genau zu beobachten gewöhnt sind. Genaues Beobachten ist eine besondere Fähigkeit. Der Frage haftet etwas Provokatives an, denn für einen Biologen sollte es nichts Besonderes sein, als guter Beobachter zu gelten. Kaum eine Wissenschaft verlangt so sehr ein genaues Hinschauen und geduldiges Betrachten, wie die Wissenschaft vom Lebendigen, sei es in freier Wildbahn beim Studieren der Tiere und ihres Verhaltens, sei es am Mikroskop im Labor. Jedermann weiß das, es gehört zu den fast klischeehaften Kennzeichen des Biologen. Die Frage fordert also dazu auf, etwas Selbstverständliches zu erläutern. Das genaue Beobachten Unter Beobachten versteht man eine kontrollierte Wahrnehmung, in der sich ein Mensch sein Sehorgan über einen unbestimmten Zeitraum auf einen Gegenstand konzentriert. Dies erfolgt in der Erwartung, dass dieser Gegenstand etwas Interessantes zeigen wird. Wer etwas beobachtet, interessiert sich kaum für starre Erscheinungsformen, sondern für ein Verhalten, eine Handlung und Bewegung. Das Beobachten lässt sich deshalb mit dem Betrachten kontrastieren. Eine Landschaft etwa betrachtet man, ebenso eine Photographie oder ein Gemälde, eine Statue oder ein Gebäude. Sie haben eine gleichbleibende starre Gestalt, die es erlaubt, beliebig oft, beliebig wiederholbar die Blicke auf es zu lenken, und es zu untersuchen. Ein Murmeltier hingegen beobachtet man. Man folgt seinen Bewegungen am Hang, seinem Aufrichten bei Gefahr oder seine Fluchtaktionen. Man kann das Tier natürlich auch betrachten, aber das setzt dann voraus, dass es ausgestopft in einer Schau-
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sammlung steht. Das, was den Beobachter interessiert hätte, ist dann freilich nicht mehr da: Die Bewegungsabläufe, die Äußerungsformen des Lebens. Während das Betrachten eine geduldig zerlegende Untersuchung von Aspekten erlaubt, die am lebendigen Objekt nur schwer zu erfassen sind, hat das Beobachten Dinge zum Gegenstand, die transitorischer, vorübergehender Natur sind. Es ist eine Konzentration auf flüchtige Abläufe. Es ist eine aktive Wahrnehmungshandlung. Der gute Beobachter lässt sich von anderen Reizen im Wahrnehmungsfeld nicht ablenken, er konzentriert sich darauf, was für ihn von Interesse ist. Er kann das Wesentliche vom Unwesentlichen scheiden. Es gibt allerdings sehr unterschiedliche pragmatische Rahmungen des Beobachtens: Man kann etwas (oder jemanden) beobachten, um zu kontrollieren. Ein Ingenieur beobachtet zum Beispiel die Wasserstands-Anzeige einer Deich- oder Hafenanlage. Oder ein Narkosearzt beobachtet die Puls- und Atemfrequenz am Monitor in einem chirurgischen Operationssaal. Dieses Beobachten dient der Überwachung eines Geschehens und zielt darauf, die Abweichung von einem Normwert rechtzeitig zu bemerken. Ein ganz anderer Typus des Beobachtens ist das Observieren. Kriminalpolizisten beobachten eine Person in der Erwartung, dass diese die Beamten zu einem gesuchten Versteck führen könnte. Hierbei geht es nicht um Überwachung zum Zwecke der Intervention, sondern der Observierte soll gerade eine Handlung ausführen, damit die Polizei einem Straftäter auf die Spur kommt. Es geht um Belege, Beweise, das Beobachten ist Teil des Ermittelns. Schließlich gibt es das Beobachten, das aus Neugier erfolgt. Es setzt ein, wenn jemand etwas sieht, das er noch nie zuvor oder nur sehr selten gesehen hat und das aus irgendwelchen Gründen sein Interesse geweckt hat. Ein ausschwärmender Bienenstaat, ein neugeborenes Elefantenbaby im Zoo, große Flugverbände von Wildgänsen auf ihrem Zug nach Süden, ein streitendes Ehepaar im Park, das gerade einen Konflikt zu lösen versucht, große innerstädtische Baustellen mit ungewöhnlich großem Baugerät, eine Sonnenfinsternis… Solche Phänomene lösen bei Unbeteiligten oft ein beobachtendes Verhalten aus. Der neugierige Mensch lenkt seine Sinne auf das Geschehen und versucht zu verfolgen, was passiert. Was geht da vor sich? Wie machen die das? Wenn in der Wissenschaftstheorie von Beobachtung die Rede ist, dann ist in der Regel nicht das Kontrollhandeln gemeint, wenngleich dies natürlich auch oft verlangt ist, etwa bei der Überwachung von Mess- und Aufzeichnungsgeräten. Gemeint ist vielmehr der systematische Einsatz der Beobachtung als Quelle neuer Erfahrungsdaten. Der Forscher erhöht in der Beobachtung die Chance, an der Realität etwas zu entdecken, das bislang übersehen wurde. Das Beobachten ist eine Form der Aufmerksamkeitssteigerung, die mit der Flüchtigkeit eines interessanten Ereignisses bereits rechnet und die Sinnesorgane für es öffnet. Genau beobachten zu können, also auch Feinheiten eines Geschehens zu erfassen, setzt voraus, dass der Beobachter eine Technik ausgebildet hat, die ihm hilft, auch auf Kleinigkeiten, unscheinbare oder unwichtig erscheinende Details zu achten, von denen er noch gar nicht wissen kann,
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ob sie wichtig sein werden. Ein genaues Beobachten sieht Dinge, die einem durchschnittlichen, oberflächlichen Sehen entgehen würden. Wenn also im Text danach gefragt wird, ob Sattler das genaue Beobachten gewöhnt sei, dann unterstellt dies eine regelmäßige Praxis und Übung des aufmerksamen Öffnens der Wahrnehmungsorgane für das Unbekannte. Gefragt wird danach, inwiefern das detailbewusste Beobachten selbst zu einer Routine geworden ist. Die Biologie wird hier definiert über die Befähigung, die man mitbringen muss, um sie betreiben zu können. Der Beobachtung wird eine zentrale Bedeutung zugeschrieben. „Ja natürlich, ich mein, letztendlich ist Biologie ne reine Beobachtungsgabe“. Letztendlich geht alles, was die Biologie als Wissenschaft voranbringt, auf die genaue Beobachtung zurück. Das ist natürlich eine sehr weitreichende, zugespitzte Aussage. Die detailinteressierte Wahrnehmung ist die zentrale Quelle der Erkenntnis in der Biologie. Es ist sogar von der Beobachtungsgabe die Rede. Der Ausdruck verweist darauf, dass es sich um ein Geschenk handelt, das einem von der Natur mitgegeben wurde; ein Vermögen, ein Talent, das man sich nicht einfach aneignen kann. Beobachten kann man oder man kann es nicht! Die Beobachtungsgabe gehört zu den Ausstattungen, die man mitbringen muss, wenn man ein guter Biologe werden will. Man kann sie im Studium nur weiter verfeinern und ausbauen. Eine Grundbegabung muss schon vorhanden sein. Biologen sind Forscher mit einer solchen Begabung. Begabte Beobachter sind für die Biologie wie ein Okular, ein lebendiges Organ, durch das etwas in die Aufmerksamkeit der Wissenschaft tritt. das fängt damit an, wenn man im Wald spazieren geht (O: ja)
Wieder wird die Wissenschaft auf ihre vorakademischen, lebensweltlichen Ursprünge zurückgeführt. Der Waldspaziergang steht für eine elementare Form des zweckfreien Beobachtens in der freien Natur. Spazierengehen ist eine selbstgenügsame Handlung, die nicht zu dem Zweck betrieben wird, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Der Spaziergänger will sich frei bewegen, keiner praktischen Notwendigkeit folgen müssen. Es ist eine Tätigkeit der Muße, der Rekreation und Erholung. Spaziergänger suchen sich mehr oder weniger gezielt eine Gegend aus, in der sie sich von einer interessanten Topographie und Schönheit einer Landschaft anregen lassen. Spazierengehen ist allerdings an eine befriedete Umgebung gebunden. Durch eine Wüste, über die Berge oder durch eine arktische Eislandschaft spaziert man nicht, man wandert. Man spaziert in einer Stadt, einer Park- oder Flusslandschaft, oder einem an die Stadt angrenzenden Wald. Gegenden mit wilden Tieren, gefährlichen Abhängen oder reißenden Gewässern eignen sich nicht zum Spazierengehen. Richten wir kurz den Blick darauf, was den Wald für den Beobachter so interessant macht. Der Wald eignet sich zum Spazierengehen auf der einen Seite besonders gut, weil er sehr abwechslungsreich sein kann. Auf der anderen Seite verkörpert er je-
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doch auch eine dem Menschen fremd bleibende Natur. Er stellt insofern eine Grenze dar zwischen dem Kulturraum des Menschen und der nicht zu bändigenden Natur. Der Wald ist eine eigenständige Biosphäre, in dem viele Pflanzen und Tiere beheimatet sind, die nur hier ihre Lebensgrundlagen finden, wobei diese für den Wald typischen Lebensbedingungen in vielfältiger Weise von den zahlreichen Spezies der Fauna und Flora abhängen, die im Wald leben. Der Wald ist ein eigenständiger Kosmos, in dem die mannigfaltigen Lebensformen auf das Engste miteinander zusammenhängen. Das macht ihn zu einem besonders interessanten Erfahrungsgebiet. Die beherrschende Lebensform des Waldes ist der Baum. Die Dichte der Bäume bestimmt die Möglichkeiten der Lebewesen, sich im Wald bewegen zu können, ihre Stämme und Baumkronen beschatten den Waldboden. Das weitverzweigte Wurzelwerk durchdringt die Erde und lockert sie auf, macht den Boden aber auch extrem uneben und richtet viele Nischen und Hohlräume ein. Fallholz bedeckt große Flächen dieses Bodens, was den Wald zum Ort eines permanenten Verwitterungsprozesses macht. Der Zerfall der organischen Materie, Feuchtigkeit und Lichtmangel sind für viele kleine Lebewesen Bedingung ihres Lebens, wobei diese wiederum die Nahrungsbasis für viele größere Insekten, Vogelarten und kleinere wie größere Räuber sind. Viele dieser Zusammenhänge kann man sehen, wenn man dafür ein Auge hat. Für den Menschen selbst ist der Wald ein eher unwirtlicher Lebensraum. Er bietet keine günstigen Bedingungen, Siedlungen anzulegen. Auch wenn er als Nahrungsquelle vieles bietet, kommt der Wald nur als Rückzugsgebiet in Frage. Ansonsten ist er Jagdrevier oder eben Ausflugsgebiet. Die Topographie des Waldes hebt auch ästhetisch hervor, dass der Wald ein eigenständiger Lebensraum ist. Den Übergang vom freien Feld zum Wald markiert meist eine deutliche Grenze. Es gibt ein Innen und ein Außen. Innerhalb des Waldes finden sich verschiedene Regionen, die jeweils eigene Lebensformen kennzeichnen: Unten der Waldboden mit unzähligen Farnen, Gräsern, Moosen und Pilzen und vielen Tieren; in der Mitte Astwerk und quer liegende Baumstämme; oben die Baumkronen, die vielen Vögeln Schutz bieten. Zum Spazierengehen eignen sich nur Wälder, die vom Menschen gesichert, in denen Wege angelegt und Gefahrenquellen ausgeschaltet wurden. Der Blick des Spaziergängers dringt in dieser Umgebung nicht sehr weit in die Tiefe vor. Die vorderen Baumreihen verstellen die Sicht und verdunkeln den Hintergrund. Der Besucher muss sich erst daran gewöhnen, zwischen den Bäumen hindurchzusehen. Im Wald mischen sich knarrende und ächzende Eigengeräusche des Holzes mit dem Fließ- und Plätschergeräusch eines Baches und dem Rauschen einer vom Wind hin und her bewegten Baumgruppe. Die Bäume selbst brechen die Schallwellen und sorgen dafür, dass die Geräuschkulisse eigentümlich gedämpft und allgegenwärtig wirkt. Die akustischen Kontrastverhältnisse im Wald bereiten eine Empfänglichkeit für die Ästhetik und Natur des Waldes besonders vor. Der Wald lädt in vielerlei Hinsicht zur Beobachtung der Natur ein, ist ein „Theater der Natur“.
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So gesehen ist es nicht verwunderlich, dass der Waldspaziergang als Anfang einer Betätigung des Beobachtens genannt wird. Der Naturwissenschaftler findet hier eine immense Vielfalt an Arten vor und hat die ökologischen Zusammenhängen anschaulich vor sich; zugleich muss er aus dem chaotischen Ganzen das interessante Einzeldetail erst heraussehen können, um sich zurechtzufinden. Der Waldspaziergang ist also ein Exerzitium der Naturbeobachtung. Dass Sattler den Waldspaziergang anführt, ist auch deshalb interessant, weil das Spazierengehen ja gerade keine exklusive Betätigung der Wissenschaftler darstellt. Viele Menschen gehen gerne in den Wald und beobachten dort Vögel oder erforschen das Unterholz. Es ist eine Form der Muße in der Natur, die der Berufsforscher mit dem wissenschaftlichen Laien teilt. Sie ist also besonders elementar. Darauf kommt es hier an. Vor diesem Hintergrund kann man den Hinweis wie eine Ermahnung an die Forscher lesen, die Beobachtungsgabe nicht erst im Labor zu üben, sondern auch schon im Wald und überhaupt bei jeder Gelegenheit, wenn man in der Natur ist. Es „fängt mit dem Waldspaziergang an“. Das genaue Beobachten soll dem Forscher also zu einer allgegenwärtig geübten Betätigung werden. und ähm es sind schon viele Leute an großen Entdeckungen vorbeigegangen, weil sie nicht richtig beobachten können, also die Beobachtungsgabe ist das Allerwichtigste,
Hier sind natürlich nicht Laien gemeint, sondern Wissenschaftler, die von Berufs wegen die Entdeckungen eigentlich hätten machen können. Warum sind sie an den Entdeckungen „vorbeigegangen“? Nicht, weil sie die fachliche Interpretationskapazität nicht besessen hätten, die notwendig ist, um die Entdeckung als solche theoretisch einordnen zu können, sondern weil sie zu ungeduldig, zu hastig und zu oberflächlich waren. Der gute Beobachter hat gelernt, seine Wahrnehmung nicht nur auf das zu lenken, was er erwartet und was seine Modelle bestätigt, sondern bereits in der sinnlichen Operation des Beobachtens grundsätzlich „fallibilistisch“ vorzugehen und seine Sinne systematisch für das Unerwartete offen zu halten und nach dem Unbekannten zu suchen, obwohl er gar nicht weiß, wie es im Konkreten aussieht und wonach er eigentlich sucht. Dabei bedingen sich die habituelle Offenheit für das Unbekannte und die Genauigkeit in der Detailbeobachtung. Der gute Beobachter bleibt in dem Maße für das Überraschende empfänglich, in dem er auch den unscheinbaren, nebensächlich wirkenden Kleinigkeiten eine Bedeutung zumisst und ihnen nachgeht. Je gewissenhafter er den Details sich zuwendet, desto größer die Chance, etwas Wichtiges darin zu entdecken, das für das Ganze von Bedeutung ist. Gute Beobachter können deshalb nicht nur ihre Aufmerksamkeit über einen langen Zeitraum auf ein bestimmtes Beobachtungsfeld konzentrieren, sie haben auch gelernt, dass gerade solche Details von Interesse sind, die nicht ganz ins Bild passen, die eine vielleicht nur minimale Abweichung von einer bekannten Signatur aufweisen. Gute Beobachter vertrauen auf ihre manchmal sehr flüchtigen Sinnes-
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eindrücken und gehen dem dann nach, um zu prüfen, ob es sich wirklich um etwas noch nicht Prädiziertes handelt und was es bedeutet, oder ob es doch einem bekannten Muster entspricht. (O: ja) also den besten Doktoranden den ich bisher hatte, der konnte extrem gut beobachten, (O: mhm) der hatte also eine Geduld und der setzte sich zwölf Stunden vors Mikroskop und der hat Dinge gesehen, die andere Leute nicht gesehen haben, (O: ja) weil er richtig beobachten konnte, (O: ja) also die Beobachtungsgabe ist alles, (O: ja) das ist das Allerwichtigste.
Sattler erwähnt seinen Doktoranden voll der Anerkennung für dessen Ausdauer und Konzentrationsfähigkeit, es muss ihn beeindruckt haben, was er mit seiner Beharrlichkeit, die ja auch für eine große Entdeckerlust steht, alles sehen konnte. Er wird aber vor allem deshalb angeführt, weil dieser Doktorand nicht nur einen langen Atem hatte, sondern „weil er richtig beobachten“ konnte. Der Aufwand stand in einem guten Verhältnis zum Ertrag. Der Doktorand hatte unter dem Mikroskop Details gesehen, die letztlich für das ganze Projekt wichtig waren, an einem Material, das auch von vielen anderen Mitarbeiter beobachtet wurde, ohne dass sie dasselbe Fortüne gehabt hätten. Das Team hat von seiner Begabung insgesamt profitieren können. Beobachtungstalent und Urszenen in der frühen Adoleszenz O: Ähm also wenn wir noch mal zu ihren Anfängen auch in ihrem eigenen Lebenslauf zurückgehn äh würden Sie sagen, dass Sie ein guter Beobachter waren, als Sie mit 14 angefangen haben? S: (..) Ähm (.) nee da noch nicht, aber es ist dann gekommen, (O: ja) und ich bin dabei geblieben, weil ich sicherlich en Talent dafür hatte, gut zu beobachten, (O: ja) und wenn
Das 14. Lebensjahr ist zu früh angesetzt. Das gute Beobachten war kein Vermögen, das aus dem Nichts gekommen wäre. Es musste sich erst entwickeln. Sattler verbindet es also mit der reiferen Tätigkeit. Man muss schon etwas von der Sache verstehen, theoretisch gebildet sein. Er kennt demnach Leute, die es frustriert und gelangweilt hat, stundenlang am Mikroskop zu sitzen. Mit ihnen vergleicht er sich hier. Offenbar war diesen eine interessante Entdeckung wieder und wieder versagt geblieben, während er ein paar frühe Erfolgserlebnisse gehabt haben muss, die ihn angespornt haben weiterzumachen. Das hat ihm vielleicht Anerkennung eingebracht und er hat den Sinn und sachlichen Nutzen des guten Beobachtens erfahren. Die Differenz zu den Kommilitonen erklärt er sich im Nachhinein mit „Talent“, das jenen abging, während ihm das erfolgreiche Beobachten nicht schwer gefallen ist. Er hat früh gewusst, worauf man achten muss, er war nicht so ungeduldig und hatte darum eine bessere Trefferquote. Die war aber keine Hexerei, sondern eben nur ei-
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ne andere Grundausstattung. Talent nennt man ja jene schwer erklärbare, von Natur aus gegebene Befähigungen zu etwas. Ein Potential, das sich verselbständigt hat, als es erst einmal geweckt worden war. O: Können sie das vielleicht en bisschen beschreiben noch was sie# äh was da wichtig ist (.) für einen guten Beobachter S: (..) Och, ja dat ist schwer zu beschreiben, also ich mein natürlich en gewisses Grundinteresse muss da sein, (O: mhm) und man macht dann halt ganz bestimmte Beobachtungen und ist dann halt auch von bestimmten Sachen fasziniert, (O: ja) und die erzählt man dann jemandem
Sattler hat keine Definitionen parat, die er spontan abrufen könnte. Er muss sich in das Thema einfinden. Dennoch ist seine Rede von einem sehr sicheren Urteil geprägt. Er hat viel Erfahrung und weiß, wovon er spricht. Aber in den philosophischen Debatten ist er nicht zu Hause und das interessiert ihn auch nicht. Das ist ein gutes Beispiel für Tacit knowledge. Das Erfahrungswissen über das Beobachten ist in die Praxis eingewoben, aber darum noch lange nicht explizit verfügbar. ...also ich mein natürlich en gewisses Grundinteresse muss da sein. Grundinteresse ist ein anderer Ausdruck für die generelle Neugierde. Ohne diesen Selbstantrieb, sich mit einer Sache zu beschäftigen, fehlt die wichtigste Voraussetzung. Es muss also von Innen kommen. Wenn das Grundinteresse nicht gegeben ist, dann sind alle Bemühungen vergebens, aus einem Studenten einen guten Beobachter machen zu wollen. Man kann es nicht von außen erzwingen, der Student muss es selbst wollen. ...und man macht dann halt ganz bestimmte Beobachtungen und ist dann halt auch von bestimmten Sachen fasziniert, (O: ja) und die erzählt man dann jemandem... Sattler entwirft eine Szene, eine Situation, in der sich das gute Beobachten typischerweise entwickelt. Worauf es ankommt, ist der Zusammenhang zwischen der individuellen Leidenschaft für eine Sache und der Vergemeinschaftung, das Teilen der Leidenschaft mit anderen, die Entdeckung als Quelle und als Inhalt eines sozialen Austauschs. Wer von etwas fasziniert ist, möchte andere an seiner Entdeckerpraxis teilhaben lassen und über es kommunizieren. In der Gemeinschaft mit anderen kommt die Beobachtung erst richtig zu einer angemessenen Würdigung und Explikation, man kann über sie sprechen und die Konsequenzen einer Beobachtung ausloten, man erfährt selbst Aufmerksamkeit und Lob, und diese Gemeinschaft erneuert sich auch immer wieder darin, wenn ihr neue Entdeckungen zugeführt werden. Offenbar will Sattler darauf hinweisen, dass ein gutes Beobachten besonders geübt wird, wenn es den Anreiz gibt, gemachte Entdeckungen mit anderen teilen zu können. Das Beobachten ist zwar eine einsame Tätigkeit, aber wenn man etwas Interessantes entdeckt hat, kann man diese Einsamkeit verlassen und den Inhalt gemeinschaftlich teilen, wobei eine asymmetrische Sozialbeziehung entsteht, weil der eine der Entdecker ist und die anderen etwas gezeigt bekommen. Der gute Be-
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obachter ist also für einen Moment exponiert. Auch das ist ein Anreiz. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass ein gewisses Grundinteresse auf beiden Seiten gegeben ist. Wir können also präzisieren, was mit „Grundinteresse“ gemeint ist. Nicht nur ein intellektuelles Interesse für eine Sache, sondern auch ein soziales Interesse daran, den Erfolg einer guten Beobachtens gemeinschaftlich zu teilen. Es liegt auf der Hand, worauf Sattler hinauswill. Es geht ihm darum aufzuzeigen, dass sich ein Beobachtungstalent nur in einem sozialen Milieu heranbildet, das dazu einlädt, der Tätigkeit des Beobachtens immer wieder nachzugehen, und das ist nur dort der Fall, wo Mußekrisen erlaubt und erwünscht sind, wo es belohnt wird, wenn man sich mit interessanten Beobachtungen exponiert. Man braucht also Verwandte, Freunde, Kollegen, mit denen man sich in einer Mußekrise vergemeinschaften kann. Solche Konstellationen fördern die Beobachtungsgabe, weil sie einen einfachen Mechanismus begünstigen: Je mehr Aufmerksamkeit für interessante Beobachtungen da ist, desto mehr wird sich jemand anstrengen, interessante Beobachtungen zu machen. Je mehr Gelegenheiten er hat, sich zu artikulieren, desto besser wird er erkennen, welche Beobachtungen wirklich interessant sind und welche nicht. Je feiner seine Beobachtungsgabe wird, desto erfolgreicher wird er schließlich beobachten. Ohne ein anfänglich gegebenes Potential („Talent“) ist diese Selbstentfaltungslogik aber kaum denkbar. Und diese Selbstentfaltung benötigt eine förderliche Konstellation, ohne die sie nicht in Gang kommen würde. und dann sagt der, ach so en Käs, (O: ja)
Etwas überraschend wird zunächst eine negative Erfahrung, eine Zurückweisung berichtet. Die angesonnene Vergemeinschaftung misslingt, das Grundinteresse ist nicht beidseitig. An der berichteten Wahrnehmung wird überhaupt nichts gefunden. Ach so en Käs kommt einer Abwehr gleich. ‚Was ist denn daran Besonderes’? Das Mitteilungsbedürfnis des Beobachters läuft also ins Leere. – Für Kinder würde es eine schwere Krise bedeuten, wenn sie mit einer Sache, die sie begeistert, ins Leere laufen. Das sind immer Enttäuschungen, die nur schwer auszuhalten sind, und je jünger ein Kind ist, desto folgenreicher sind solche Enttäuschungen für die Entwicklung einer Begabung. Es wird Dinge, die ihm wiederholt Enttäuschungen beschreiten, meiden, und folglich werden diesbezügliche Talente verkümmern. Es ist aber gerade das Wesen der Neugierde, das sie Verunsicherungen dieser Art auch auffangen kann, wenn es andere Sozialbeziehungen gibt, in denen das Kind seine Neugierde mit anderen gemeinschaftlich teilen und bekräftigen kann. also zum Beispiel sehr sehr häufig also wenn ich meiner Frau bestimmte Sachen erzähle, dann pff (O: ja) wenn ich die aber meiner Tochter mit sieben erzähle, dann findet die die toll,
Sattler skizziert eine Familiensituation, er spricht als Ehemann und Familienvater. Das macht die Schilderung besonders lebendig. Seine Frau teilt jenes Grund-
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interesse nicht oder nur selten, seine Tochter hingegen sehr wohl. Pff besagt, dass Sattlers Ehefrau den Beobachtungen ihres Mannes nicht das gleiche Gewicht zu geben bereit ist. „Ach so en Käs“ ist wohl auch ihr zuzuschreiben. Sie hat für diese Art Beobachtungen keine Muße und will sich auch nicht davon bestimmen lassen. Vielleicht ist sie manchmal ein bisschen genervt davon, dass zoologische Alltagsbeobachtungen immer wieder andere Angelegenheiten stören. Sattler ahmt ihre Verbalgeste nach, die Abwehr ist also schon eingespielt und hat etwas Typisches. Das Pff wirkt aber hier nicht als Geste des Verurteilens, sondern eher wie ein „Lasst mich in Ruhe mit Euren Viechern! Ich hab jetzt Wichtigeres zu tun!“ Das Pff drückt aus, dass Sattler seine Frau sehr wohl immer wieder in seine Beobachtungen einbezieht, er hat sich nicht zurückgezogen, sondern äußert seine Muße spontan und ungehemmt. Seine Frau hat aber nicht immer einen Sinn dafür. Bei ihr findet Sattler also nicht immer jenen Widerhall, der es ihm erlaubt, eine Beobachtung zu vertiefen und sich weiter darauf einzulassen. Eine Gesprächspartnerin findet er aber in seiner siebenjährigen Tochter. Die findet es toll, lässt sich von den Beobachtungen anregen und mitreißen. In ihr findet er eine Zuhörerin und Mitstreiterin. Mit ihr kann er spontan Beobachtungen nachgehen, kann ihr vieles erklären und zeigen, und kann an ihrer kindlichen Neugier teilhaben. Das ist sicher sehr befriedigend, aber auch anspruchsvoll, wenn man bedenkt, dass ein Max-Planck-Direktor einer Siebenjährigen erklären will, was er gerade beobachtet. Es zwingt dazu, sich einfach und schnörkellos auszudrücken. Aber das geht offenbar gut und ist für beide anregend. Diese Gemeinsamkeit mit seiner Tochter zeigt einerseits eine Wahlverwandtschaft zwischen dem Forscher und dem Kind, andererseits die Allianz beider gegenüber der Ehefrau und Mutter als der Vertreterin der Alltagspraxis, in der nicht Mußekrisen, sondern die alltägliche Lebensnot bewältigt werden will, Hausaufgaben der Kinder, Müll herausbringen, Einkaufen, die Tochter zum Klavierunterricht fahren. Sie hat jene naturkundliche Muße nicht, die Vater und Tochter miteinander verbindet. Deren gemeinsame Naturerfahrung gibt der Vater-Tochter-Beziehung einen spezifischen Stoff. Man sieht sehr schön, wie sich diese Dyade als Allianz innerhalb der Triade aus Vater-Mutter-Kind bewegt. Sie bilden eine Allianz in der Muße, die sie nach außen zusammenschweißt und die in die Familiendynamik eingebettet ist. Der Ehegatte kann gegenüber seiner Frau darauf verweisen, dass seine berufliche Forscherexistenz eine Verwandtschaft mit den Leidenschaften des Kindes hat und eben nicht nur beruflicher Natur ist. Die Tochter kann der Mutter gegenüber darauf hinweisen, dass aus dieser Leidenschaft ja auch etwas werden kann im Leben, denn der Vater hat ja schließlich eine erfolgreiche berufliche Karriere daraus gemacht und unterstützt sie darin. Der Mutter wird gar nichts anderes übrigbleiben, als die beiden gewähren zu lassen. (O: mhm) also irgendwo steckts wieder in den Genen (O: mhm) und wenn ich mit der oft jetzt durch en Wald geh, die sieht Sachen, die seh ich nicht, (O: mhm) ja also da laufen wir ir-
374 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE gendwo hin und dann (uv) die sieht Sachen äh (.) und das steckt halt irgendwie drin, (O: mhm) und äh also das ist schwer zu beschreiben, was da äh wichtig ist, es ist ein gewisses Grundinteresse und man sieht dann halt auch nur ganz bestimmte Dinge, die man sehen will, (O: mhm) ja
Der Vater ist auf seine Tochter stolz. Er bewundert ihre Wachheit und Umtriebigkeit. Dass es irgendwo ... wieder in den Genen (steckt), ist eine Redeweise, die wohl dem naturwissenschaftlichen Zeitgeist geschuldet ist. Sie ist nicht wirklich als Erklärung gedacht. Die Gene selbst erklären ja auch nichts. Die wirkliche Erklärung ist das sozialisatorische Milieu der Familie, in der die Tochter groß wird. Tochter und Vater zieht es gemeinsam hinaus in die Natur. Was ist noch für das gute Beobachten wichtig? Man sieht auf der Basis eines Grundinteresses dann halt auch nur ganz bestimmte Dinge, die man sehen will... Damit rückt wieder die erkenntnislogische Problematik ins Zentrum. Nicht gemeint sein kann die Lesart, nach der der Beobachter nur das sehen will, was seine vorab gebildeten Annahmen bestätigt. Es muss gemeint sein, dass der gute Beobachter schon mit einer Vorahnung für die interessanten Dinge sich ans Mikroskop setzt und gezielt auf sie wartet, obwohl er noch gar nicht weiß, was genau ihn erwartet. Dieses Beobachten ist also keineswegs voraussetzungslos. Es ist ein hochstrukturiertes Erahnen des Unbekannten, weil der gute Beobachter sich auf einen Aspekt seines Beobachtungsfeldes konzentriert. Er isoliert in der amorphen Totalität einer Mannigfaltigkeit die sachlichen Bezüge, die ihn interessieren. O: Würden sie sagen, es ist mehr, dass einem das Auffällige begegnet, oder ist es mehr, dass man gleich äh &etwas unterbringen kann&
Der Interviewer bietet zwei Möglichkeiten an. Das Auffällige steht für eine sich dem Auge durch eine große Intensität und Kontrastivität aufdrängende Entität, ein Unbekanntes, das dann erst einmal betrachtet werden muss. Etwas unterbringen steht für das Subsumieren unter vorgefasste Kategorien und Schemata. S: &Es ist subjektiv& es ist ja subjektiv, (O: ja) nicht unbedingt direkt was# nee, denn dann würde man ja nicht weiterkommen, gerade als Naturwissenschaftler, wenn mans unterbringen kann, es sind ja meist die Sachen, die einem auffallen müssen ja meistens immer mit nem Problem verbunden sein, (O: ja) denn wenn mans ja schon unterbringen könnte und man schon die Lösung wüsste, (O: ja) dann ist es ja für den Naturwissenschaftler uninteressant, sondern es geht ja darum, dass mans eben nicht unterbringen kann, (O: ja), ja man siehts und denkt, na hoppla, warum ist denn das jetzt so, (O: ja) und dann kann mans nicht erklären und dann wird die Neugier geweckt, (O: mhm) aber dafür muss man natürlich zuerst mal ne Aufgeschlossenheit haben, sich bestimmte Dinge anzuschauen.
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Also wieder Krise, nicht Routine! Wenn eine Sache kein Problem aufwirft, ist sie für den Forscher witzlos. Ihn reizen nicht das Wissen, das er schon hat, sondern Sachverhalte, für welche er noch kein Prädikat bilden kann. Am Quizwissen ist er nicht interessiert. Seine Wahrnehmung ist sogar besonders geschärft durch das Bewusstsein eines wissenschaftlichen Problems, das sich aus der Forschung zuvor ergeben hatte. Man sucht nach einer Lösung, einem Hinweis, nach irgendetwas, das einen Aufschluss darüber erlaubt, wie man ein Problem angehen könnte. Das Beobachten des Forschers richtet sich deshalb gezielt auf dasjenige, das sich einer Subsumtion unter Kategorien und bekannte Erklärungsmuster entzieht. Es kommt darauf an, dass mans eben nicht unterbringen kann. Das ist die Leitidee des forschenden Beobachters. Das Beobachtungsfeld wird durchgemustert und das Bekannte ausgefiltert; es folgt dem Zweck, im Bekannten das Unbekannte zu sehen. Es ist diese Erfahrung des Kontrasts, die beim Forscher etwas in Gang bringt, was hier Neugier genannt wird. Der Moment, in dem diese Kontrastivität zwischen Neuem und Bekanntem sich mitteilt, wird hier durch das hoppla markiert. Hoppla ist eine Interjektion, die als vokale Geste der Überraschung erfolgt. Es wird spontan ausgerufen. Hoppla bedeutet, dass etwas nicht so abgelaufen ist, wie es sollte. Aber es ist nicht Schrecken oder Entsetzen damit verbunden, sondern eher etwas Positives. Wenn ein Kind von eineinhalb Jahren stolpert und man hoppla sagt, dann gerade deshalb, weil man ihm signalisieren will, dass es halb so schlimm ist und es sich gleich wieder fangen wird. hoppla markiert also den Moment, in dem die Krise eines Nicht-UnterbringenKönnens dem Forscher zu Bewusstsein kommt. Der Forscher stolpert über etwas und lenkt seine ganze Aufmerksamkeit auf es. ...aber dafür muss man natürlich zuerst mal ne Aufgeschlossenheit haben, sich bestimmte Dinge anzuschauen. Voraussetzung ist die Muße in der Wahrnehmung und die Bereitschaft, seine Sinne ohne konkrete Erwartung auf einen Nutzen über längere Zeit auf ein Objekt richten zu können. Damit kehrt Sattler wieder zum Ausgangspunkt zurück. Aufgeschlossenheit ist das Gleiche wie Grundinteresse. Eine habituelle Disposition gegenüber dem Beobachten selbst. O: Und die Aufgeschlossenheit, woher kommt die S: (.) Ich glaub die ist einfach da, das das hat man (.) also ich kann das kann ich jetzt wirklich nicht ähm das ist halt das Grundinteresse
Sattler gehen die Möglichkeiten aus, das Rad der Ursachenforschung noch weiter zu drehen. O: Könnte das auch S: Das Grundinteresse (O: ja) durch den Wald zu gehen, über ne Wiese zu gehen und zu schauen, was gibt’s denn da jetzt alles
376 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE O: Ja (.) also das Wort „faszinierend“ ist ja schon äh öfter gefallen, ähm also (.) bis jetzt äh (.) war dominant dabei also das was äh sozusagen auf einen Problembezug hin äh von Bedeutung ist, könnte auch noch was anderes ne Rolle spielen, dass man irgendwie auch was bewundert daran oder
Der Interviewer versucht durch ein paar Begriffe zu weiteren Ausführungen anzuregen. Er greift auf, dass bisher das Lösen wissenschaftlicher Probleme im Zentrum stand und damit doch wieder ein utilitaristisches Motiv des Beobachtens, auch wenn es der reinen Forschung dient. Gibt es auch eine ästhetische Dimension des Beobachtens? Wird der Forscher auch von Motiven angetrieben, die er selbst gar nicht gut begründen kann und die außerhalb einer rationalen Erklärbarkeit liegen? Bewunderung wäre so ein Motiv. Bewundern kann man eine erstaunliche Leistung wie Hannibals Überquerung der Alpen 218 v. Christus oder große Werke der Kunst wie Michelangelos Skulpturen. Auch Sportler und Wissenschaftler werden für ihre Erfolge bewundert. Immer geht es darum, dass der Mensch über sich selbst hinausgewachsen ist. Es ruft Bewunderung hervor, wenn man etwas sieht, das einen begeistert und das man toll findet, und das man selbst nicht hinbekommen würde. An der Natur kann man natürlich ihre Schönheiten und ihr Einfallsreichtum bewundern. S: (.) Ja natürlich, ich mein die Natur ist natürlich bewundernswert, wenn sie sich anschauen, welche Vielfalt da ist (O: ja) und wie das alles ineinander spielt (O: mhm) und welches Gleichgewicht da vorhanden ist, (O: ja) ich mein das ist natürlich äh die Bewunderung (O: ja) ist schon gegeben, (O: ja), das ist ne ganz klare Sache, und man sieht halt dann, wenn man sich näher damit beschäftigt, diverse Muster, (O: ja) die es gibt und die würde man natürlich gerne verstehen, (O: ja), warum funktioniert denn das so gut, (O: ja) warum ist es jetzt so bitterkalt und es gibt trotzdem einige Insekten, die überleben und äh (O: ja) ob nun als Mücken uns nächstes Jahr das Leben schwermachen oder als Schmetterling schön aussehen, das sind alles hochinteressante Phänomene.
Nicht nur die Vielfalt selbst wird also bewundert, sondern wodurch sie hervorgebracht wird, wovon sie Zeugnis ist: Das Leben erschließt sich immer wieder Mittel und Wege, damit eine Art auch in ungünstigen Umwelten existieren kann. Bewundert werden auch die Anpassungs- und Überlebensstrategien. Die Natur wird hier als funktionalistischer Zusammenhang betrachtet, aber auch unter dem Gesichtspunkt ihrer Wirkung auf das Erkenntnissubjekt. Das bringt wieder die ästhetische Bedeutung ins Spiel. Sie stellt sich im Erkennen der spezifischen Lebensformen ein. Wenn der Forscher sehr viele Arten untersucht hat, stößt er auf vergleichbare Strukturmerkmale, „Muster“, die man wiedererkennen kann und die auf allgemeine Prinzipien des Lebens hinweisen. Diese Beobachtungen erlauben einen
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Einblick in die Gesetzlichkeit der Natur. Letztlich wird hier also bewundert, dass es so etwas wie eine Ordnung und Schönheit der Natur überhaupt gibt. Die „philosophische Fragestellung“ und der „reduktionistische Ansatz“ des Labors O: Vorhin ist mal das Wort „raten“ gefallen
Wieder wirft der Interviewer ein Stichwort ein, das zur Kontrastierung einlädt. Raten bezeichnet ein intuitives Erschließen. Wer rät, weiß die Antwort nicht und hat auch keine Ahnung, wie er sie sich erarbeiten kann. Er wählt eine Lösungsoption, ohne es begründen zu können. Dennoch ist Raten nicht dasselbe wie ein willkürliches Setzen beim Roulette oder Tippen bei einer Lotterie. Es verlässt sich auf Gestalterkenntnisse, die noch nicht explizit zur Verfügung stehen und sehr fehleranfällig sind. S: Ja ra# das ist jetzt natürlich also es gibt natürlich eine große Diskrepanz zwischen der eigentlich philosophischen Fragestellung, die man hat (O: ja) und dem, was man dann tagtäglich im Labor macht, (O: ja)
Die Antwort ist etwas rätselhaft. Sattler bestätigt zunächst die Bedeutung des Ratens. Offenbar sieht er aber den Interviewer auf einer falschen Spur wandeln und meint dem Eindruck entgegentreten zu müssen, die wissenschaftliche Alltagsarbeit würde von diesen Dingen wie der Bewunderung, dem Raten, der ästhetischen Dimension des Forschens allzu sehr beherrscht. Aber richtig klar ist das nicht. Es liegt ihm viel daran, etwas klar zu stellen. Was er dann sagt, ist für sich genommen natürlich aufschlussreich. Es ist etwas Außeralltägliches, wenn die philosophischen Fragen explizit diskutiert werden. Man wendet sich ihnen nur selten zu. Im Alltag ist man viel mehr mit einzelnen Experimenten und ihrer Durchführung beschäftigt. Die philosophischen Fragen liegen den Forschungsarbeiten im Labor zwar zugrunde. Aber man kommt auf sie nur dann zurück, wenn man wirklich bahnbrechende Ergebnisse auszudeuten hat. Eine andere Lesart könnte lauten, dass die philosophischen Fragestellungen durch die Laborforschungen des Alltags gar nicht direkt gelöst werden können und die Diskrepanz auch methodisch besteht. Die Aussagenreichweite des Labors erlaubt gar nicht, die philosophischen Fragen zu beantworten. Sie sind daher bloß spekulativer Natur, nur eine Art regulativer Anreiz. Alles hängt davon ab, wie man das Wort „Diskrepanz“ auslegt. Fest steht jedoch, dass sich der Laborforscher nicht mit den philosophischen Fragen unabhängig von seinen Einzelforschungen befasst. Es gehört zum Arbeitsethos des Forschers, dass er sich auf seinen Alltag im Labor konzentriert. Er hat durchaus philosophische Fragen, doch Sattler unterstellt, dass diese philosophischen
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Fragen sich kaum sinnvoll bearbeiten lassen, wenn man sie losgelöst von konkreten empirischen Forschungen behandelt. Forschung ist empirisch und muss empirisch sein. Damit grenzt er sich ab vom Philosophen, der sich mit jenen Fragen systematisch beschäftigt, ohne eine eigene erfahrungswissenschaftliche Basis zu haben, auf die er sie beziehen kann. In den Augen von Sattler ist es für die Berufskultur des Erfahrungswissenschaftlers konstitutiv, sich nicht mit „philosophischen“ Fragen im Arbeitsalltag zu befassen, denn das wäre letztlich unproduktiv. Produktiv ist vor allem die empirische Arbeit. Nur in ihr gibt es eine Kumulativität der Erkenntnis, weil sie auf einer methodischen Auswertung eines Datenmaterials beruht. Der Berufskultur des Forschers wohnt demnach ein spezifisches Arbeitsethos inne, aus dem sich der Unterschied zwischen einem Forschungsalltag und einer Außeralltäglichkeit allererst herleitet. Ein Bewusstsein für die Diskrepanz zwischen Alltag und Außeralltäglichkeit, konkreter Laborforschung und der Diskussion philosophischer Fragen ist konstitutiv für ein Verständnis des Innenlebens dieses Berufs. und das ist natürlich auch der reduktionistische Ansatz, (O: ja) den viele Leute dann so schlimm finden, dass sie auch das Studium schmeißen, (O: ja), also es sind nicht immer nur die schlechten, die das Studium schmeißen, sondern es sind die, die dann wirklich desillusioniert sind und die dann sehen, mein Gott, jetzt muss ich diese ganze Chemie reinpauken, (O: ja) um vielleicht am Ende als Zoologe zu arbeiten, und die dann auch wirklich sehen, dass der Beitrag des Einzelnen soo toll am Ende ja gar nicht ist, ja ich mein man hat so einen hohen gerade in Deutschland man hat einen so hohen philosophischen Anspruch am Anfang in der Ausbildung, und geht man dann in die Diplomarbeit, hat diese Diplomprüfung hinter sich gebracht, hat diese ganzen Bücher gewälzt und dann äh macht man die Diplomarbeit und sieht, man kann ja gar nix, (O: ja) ja jede TA ist besser, (O: ja) und äh der Anspruch zwischen dem, was man vorher in den Diplomprüfungen gelernt hat und was man dann wirklich macht, der ist natürlich ganz weit auseinander.
Jetzt wird es klarer, was Sattler meint. Ein reduktionistischer Ansatz nennt man eine bestimmte Herangehensweise in dem Versuch, ein wissenschaftliches Problem zu lösen. Ein reduktionistischer Ansatz beinhaltet zum Beispiel die Forderung, nur an solchen Fragen zu arbeiten, die sich eindeutig lösen und entscheiden lassen; es sollen nur solche Hypothesen verfolgt werden, die empirisch überprüft und auf eine experimentelle Untersuchung heruntergebrochen werden können. Folglich wären Theoreme, die wahr sein können, aber nicht belegbar oder prüfbar sind, aus dem Forschungsalltag herauszuhalten, solange es keine Methoden und Ansätze gibt, die eine schlussendliche Entscheidung in der empirischen Forschung erwarten lassen (Fallibilistischer Reduktionismus). Oder man kann darunter die Forderung verstehen, den Gegenstand aus Gründen der forschungspraktischen Praktikabilität systematisch zu vereinfachen, weil seine Komplexität eine Erforschung im Ganzen nicht zulässt; das implizierte die Anforderung, überschaubare Formate des Gegen-
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standes zu wählen und dabei – pars pro toto – darauf zu achten, dass in den Ausschnitten die Gesamtgestalt des Gegenstandes erkennbar bleibt und seine Totalität in Kleinen aufgeschlossen werden kann (forschungspraktischer Reduktionismus). Hier wäre gemeint, die Forschung an großen Fragen auf ein überschaubares Format herunterzubrechen. Mit einem reduktionistischen Ansatz geht einher, dass nur bestimmte methodische Instrumente und Ansätze zur Anwendung kommen. Wenn man zum Beispiel alle Anstrengungen und Ressourcen in die Laborforschung steckt, wird die Feldbeobachtungen notgedrungen vernachlässigt. Es ist eine Folge der Spezialisierung. Diese Vereinseitigung ist allerdings nicht unproblematisch, wenn sie auf Dauer gestellt selbst zur Routine wird, weil mit ihr das Bewusstsein für die Totalität eines Gegenstands deformiert zu werden droht. Methoden sind immer nur für einen bestimmten Typus von Daten und Protokollen entwickelt und diese Daten geben einen Gegenstand immer nur unvollständig wieder oder lassen nur bestimmte Schlussfolgerungen zu. Jeder Reduktionismus verlangt darum ein hohes Maß an methodenkritischer Selbstkontrolle und begrifflich-konstitutionstheoretischer Klarheit, wenn er nicht in eine szientistische Verblendung führen soll. Nach unserer Auffassung setzt er eine Verankerung in den ästhetischen Dimensionen der Erfahrung voraus, in der ein Gegenstand vorkommt. Sattler geht von einer spannungsreichen Polarität zwischen den philosophischen Fragestellungen, einerseits, und dem reduktionistischen Ansatz, andererseits, aus. Jene philosophischen Fragen werden also nicht szientistisch bekämpft, sie sind vielmehr der Ausgangspunkt der Forschung, auf den alle Bemühen wieder zurückführen müssen. Die Beschäftigung mit ihnen soll also nicht zu einem puren Selbstzweck werden. Die reduktionistische Einzelforschung ist und bleibt das Nadelöhr und der einzige Weg der Natur- und Erfahrungswissenschaften. Die Biologie verlangt von angehenden Forschern, dass sie sich ganz darauf einstellen und ihre philosophischen Interessen an den großen Zusammenhängen in der kleinen Detailforschung wiederfinden können, also das, was Frau Glasner offenbar so schwer fällt. Der Forscher soll philosophische Interessen nicht abtöten, aber er muss den mühsameren Weg einer indirekten Antwortsuche in der Einzelforschung einschlagen, von dem hier gesagt wird, dass er auch etwas Desillusionierendes hat. Wenn Studenten erst einmal begreifen, wie aufwendig und voraussetzungsreich die Laborforschung heute ist, wie mühsam und kleinteilig die einzelnen Fortschritte erkämpft werden müssen, sinken ihre jugendlichen Erwartungen zusammen, an großen Durchbrüche direkt beteiligt zu sein. Mit dieser Hürde im Beruf ist für viele eine persönliche Krise verbunden. Viele Leute finden diesen Ansatz schlimm. Manche halten das nicht durch. Den Reduktionismus befolgen zu können, ist eine zentrale Prüfung auf dem Weg zum Forscherhabitus. also es sind nicht immer nur die schlechten, die das Studium schmeißen... Das Scheitern hat nicht immer mit fehlendem Können, Fleiß oder Intelligenz zu tun. (es sind die, die dann wirklich desillusioniert sind.) Es liegt an falschen Erwartungen, die nicht erfüllt
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werden können, jedenfalls nicht in der Biologie heute. Das ist interessant, weil Sattlers Einschätzungen unmittelbar die Frage nach den Dispositionen für den Forscherhabitus berühren. Sattler nennt mehrere Facetten dieser Erwartungen: Manchen Studenten ist die Diskrepanz zwischen Vorleistung im Studium und persönlichem Ertrag zu groß, diese ganze Chemie reinpauken, um vielleicht am Ende als Zoologe zu arbeiten. Das ist ihnen offenbar zu wenig oder sie wollten gerade Tiere beobachten und im Museum arbeiten, verstehen aber nicht, warum sie diesen großen Aufwand betreiben sollen. Sie machen irgendwann eine Gegenrechnung auf und brechen ab. Ihnen fehlt der lange Atem, das Durchhaltevermögen, weil ihnen entweder das Ziel nicht reizvoll genug erscheint, oder weil ihnen die Strecke zu anstrengend wird. Manche Studenten scheitern daran, dass die Biologie ihnen nicht die Aussicht bietet, ausreichend Ruhm und Ehre im Erkenntnisfortschritt ansammeln zu können. Der Beitrag des Einzelnen ist am Ende gar nicht sooo toll. Die Erwartung muss zurückgestuft werden, die Aussicht nimmt jedem naiven Ehrgeiz erst einmal den Schwung und zwingt zu einer Neuorientierung. Ohne Nüchternheit und die Haltung, sich auch mit kleinen Beiträgen zufriedengeben zu können, würde man nicht einmal das wenige erreichen, das möglich ist. Warum ist das so? Es ist so, weil die Biologie in ihrer Spezialisierung so weit fortgeschritten ist, dass eine individuelle Sonderleistung immer speziell ist. Es ist ein Ausdruck der methodischen Tiefenschärfe. Zugleich ist ihr Forschungsbetrieb ein weltumspannender Massenbetrieb, in dem viele Leute publizieren. Jeder Forschungsbeitrag wird von diesem Forschungsbetrieb so schnell absorbiert und überboten, dass die einzelne Leistung nur noch in Ausnahmefällen kurzzeitig Bestand hat und heraussticht. Die „Helden des großen Durchbruchs“ werden immer seltener. Und diese Art der Originalität lässt sich nicht planen und anstreben. Hat ein Student in diese Richtung Ambitionen, muss er früh erkennen, dass er sie in der Biologie gar nicht befriedigen kann. Aus diesen Gründen revidieren manche Studenten ihren Lebensplan und brechen das Studium ab. Wissenschaftler müssen Enttäuschungen aushalten können, von hochfahrenden Erfolgsträumen Abschied nehmen und sich mit wenig zufrieden geben. Wer das nicht kann, wird scheitern. Der junge Forscher geht also ein großes persönliches Risiko ein, ohne zu wissen, ob er belohnt werden wird. Es gibt Leute, die angesichts dieser Widrigkeiten aussteigen, was die Frage nur umso interessanter macht, was die anderen Wissenschaftler, die nicht aussteigen, mitbringen und die Hürden überspringen lässt. „Inspiration“ und „harte Arbeit“ als Quellen der wissenschaftlichen Wertschöpfung O: Ja, also als sie vorher äh von ihrem Genom äh projekt gesprochen haben und dass sie das in vier Monaten geschafft haben, ähm wie viel äh also wenn an (.) es gibt ja harte Arbeit, die besteht aus Routine und es gibt äh harte Arbeit die äh ja gewissermaßen dann auch die Inspi-
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ration mit sich bringt, (S: mhm) äh wenn man das# vielleicht kann man das ja mal unterscheiden diese beiden Komponenten ähm wir würden sie die gewichten S: Also bei dem Projekt jetzt brauchten wir beides, es hat so schnell geklappt, weil wir sicherlich hart gearbeitet haben, (O: ja) aber weil wir auch an jeder Stelle immer wieder alles hinterfragt haben, (O: ja) also ich seh jetzt bei andern Leuten äh ohne da ins Detail zu gehen (O: ja) wie sie sich dann verrennen, (O: ja) weil man# und das Risiko ist gerade bei diesen mole# hochbiolo# (O: ja), molekularbiologischen Projekten mit hohen Durchsatzraten das Risiko ist riesengroß, weil sie dann nicht mehr hinterfragen, (O: ja) sie machen das einfach (O: ja) ja
Harte Arbeit wird hier nach den Aspekten Fleiß und Opferbereitschaft, einerseits, und Zähigkeit in der geistigen Anstrengung, andererseits, unterschieden. Der Komponente des harten Abarbeitens von Routinen wird das Hinterfragen gegenübergestellt. Sattler greift das bereitwillig auf, offenbar steht ihm sofort ein Kontrastbeispiel vor Augen, das ein Problem beleuchtet. Gerade die harte Arbeit in den Routinen verführt dazu, sich in einem Arbeitsprogramm zu verlieren und nicht mehr mitzubekommen, wenn die harte Fleißarbeit zu Ergebnissen geführt hat, die den ursprünglichen Arbeitsplan überholt haben, weil die Prämissen nicht mehr stimmen. Laufende Arbeitsprozesse müssen deshalb immer wieder überprüft und auf das Forschungsziel hin angepasst werden. Macht der ursprüngliche Plan noch Sinn? Wo wollte man hin? Wo steht man jetzt? Welche Richtung hat das Projekt genommen? Stimmen die Ausgangsüberlegungen noch? Ist man noch auf dem Wege zum Ziel? Ist das Ziel überhaupt noch erreichbar? Und mit den gegebenen Mitteln? Laborforschung ist ein dynamischer Prozess. Jedes Resultat, jeder Befund stellt einen potentiellen Einschnitt dar, der eine Transformation der Ausgangsbedingungen bedeuten kann, weil es die Ausgangsbedingungen des Arbeitsprogramms verändern kann. Das kann die Entscheidung über eine Revision des Programms erforderlich machen. Dessen muss sich der Forscher immer bewusst sein. An jeder Stelle alles hinterfragen bedeutet daher, sich zum Herrn des Verfahrens zu machen und nach jedem Arbeitsgang die Gesamtstrategie zu überdenken. Der Wissenschaftler muss den Prozess mit einer gleichschwebenden Aufmerksamkeit verfolgen und ein waches Auge für den Bedarf nach Neuausrichtung behalten. Diese permanente Selbstkontrolle ist aber gar nicht so einfach zu realisieren. Sattler hat ein konkretes Projekt vor Augen, das seiner Meinung nach gerade dabei ist sich zu verrennen. Dies ist eine Gefahr für alle Forschungsprojekte. Er glaubt es von außen besser zu sehen als die Mitarbeiter des Projekts selbst. Das ist interessant, weil es ein Licht auf die professionsethische Selbstkontrolle wirft. Er geht nicht in die Details, aber Sattlers Urteil scheint nicht nur auf einem Verständnis für die konkrete Forschung dieses Projekts zu beruhen, sondern allein schon auf der Wahrnehmung, dass sich eine Routine verselbständigt hat und das notwendige Hinterfragen nicht wirklich klappt. Er nimmt es an den Arbeitsabläufen wahr, an der Art, wie über die Befunde geredet wird. Aus dem Beispiel muss man nicht schlie-
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ßen, dass die Mitarbeiter jenes Projekts nicht professionalisiert wären. Es gelingt ihnen aber im Moment nicht, eine notwendige Muße und Korrektur herbeizuführen, was die interessante und schwierige Frage aufwirft, wodurch sich dies strukturell gewährleisten ließe. O: Also das sind doch sozusagen äh äh äh wochenlang laufende Routinen, die sich ja S: Jaja, das ist immer wieder (O: ja) dasselbe, und die Kunst besteht dann halt wirklich trotzdem sich dem Detail zu widmen, wieder zu beobachten quasi und dann auch die TAs zu nerven und zu sagen, wie weit seit ihr denn jetzt, können wir das nicht schon auswerten und äh (O: mhm) hinterfragen wir doch mal, was denn jetzt da passiert ist, (O: ja) und ähm das hat sich im Endeffekt schon ausgezahlt, also im Grunde genommen ist es immer wieder auf anderer Ebene immer wieder genau dasselbe, man muss beobachten und Sachen hinterfragen und selbstkritisch hinterfragen, weil äh es nutzt natürlich nichts, nur nach der hohen Durchsatzquote zu schielen, wenn äh die Ergebnisse nicht dementsprechend sind ja
Große Mengen an Routineuntersuchungen verführen dazu, bewusstlos die Arbeitsschritte abzuarbeiten, die ein einmal aufgestelltes Arbeitsprogramm vorschreiben. Die Forschung droht dann in geistlosen Routinen zu erstarren. Das Entscheidende würde verfehlt. Dieser Tendenz zur Erstarrung muss der Forscher aus eigener Kraft entgegentreten. Der Forscher muss sich selbst hinterfragen, und das wird hier eine Kunst genannt. Es verweist darauf, dass es für das Problem keine Standardlösungen gibt. Die Kunst besteht darin, immer wieder das Bewusstsein einzuschalten, das den philosophischen Ausgangspunkt ins Gedächtnis zurückholt. Wir sind an dieser Stelle direkt beim Forscherhabitus. Es ist interessant zu beobachten, wie dieser Habitus sich auch auf das soziale Geschehen auswirkt. Die Dynamik muss auch in der Forschergruppe aufrechterhalten werden. Die TAs müssen in den Sog der Krise immer wieder hineingezogen werden. Hier spricht wieder der Projektleiter als Menschenführer. TAs stehen immer wieder in der Gefahr, ihr Handeln den Alltagsroutinen zu assimilieren. Sie haben den habituellen Antrieb zur Selbstkontrolle in der Regel nicht ausgebildet und müssen deshalb vom Projektleiter mitgenommen werden, wenn es darum geht, sich der Ausdeutung der Befundlage im Lichte des Forschungsprogramms zuzuwenden. Künstliche Naivität O: Also wenn man etwas bewundert so könnte man sagen, dann kann man das ja nur, solange man auch eine gewisse Naivität sich bewahrt, (S: ja) wenn man äh problemorientiert sozusagen da muss man# da ist das ja das Gegenteil von Naivität nicht
Der Interviewer stellt zwei Haltungen gegenüber und erläutert ihre Differenz über den Begriff der Naivität. Naivität meint weder die naturwüchsige Unwissenheit des
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Kindes, noch die törichte Ahnungslosigkeit eines Erwachsenen, der aus geistiger Unbeweglichkeit die Folgen seines Handelns nicht abzuschätzen gelernt hat. Es ist an eine Gabe des gebildeten Menschen gedacht, der sich trotz des von ihm erworbenen Wissens und der Kenntnis über Zusammenhänge eine Unvoreingenommenheit gegenüber dem einzelnen Erfahrungsmoment erhält. Naivität steht hier Wissen und Reflexion gegenüber und erscheint als eine Tugend, einfache Fragen formulieren und vermeintlich triviale Eindrücke mutig schildern zu können. Der Naive ist natürlich nicht wirklich unwissend, er kann sich aber den Dingen gegenüber so verhalten, als wäre er es. Er kann sich ihnen zuwenden, als wüsste er nicht, dass Antworten am Ende oft sehr komplex sind und viele Aspekte berücksichtigen müssen. Naivität meint also eine bewusste Abstinenz vom Gebrauch des Vorwissens. Es ist eine Methodik des Gebildeten, der sich den Blick für die elementaren Fragen nicht durch Wissen verstellen will. Unterstellt wird, dass dies nicht so leicht gelingt. Das Leben lässt die Naivität bei vielen Menschen verkümmern. Sie ist eine Eigenschaft, die zu verschwinden droht, wenn sie nicht praktiziert wird. Ihrer Gegner sind das Durchblickertum und die Halbbildung. Der Interviewer bringt mit seiner Äußerung also ein Modell der Naivität ins Spiel, das auf komplexen Vorannahmen beruht. Seiner Vorstellung nach ist Naivität die Voraussetzung dafür, etwas bewundern zu können. Offensichtlich sieht er die Kunst, sich den Blick für das Detail bewahren zu können, eher in einer Haltung begründet, die sich von Naivität leiten lässt und naiven Fragen Raum gibt, und weniger in einer Haltung, die darauf aus ist, praktische Probleme zu lösen. Der Interviewer stellt also implizit die Frage: Stimmt das so? Sehen Sie das auch so? S: Na man muss immer naiv bleiben, (O: ja), ja, wenn sie die Naivität aufgeben, ham sie verloren, (O: ja), also wenn wir vorher gefragt hätten, schaffen wir das denn jetzt, (O: ja) wie teuer wird denn das jetzt, wie lange dauert das denn jetzt, (O: ja) dann hätten wirs hätten wirs nicht hingekriegt, also die Naivität muss da sein, man darf auch nicht zu sehr fragen, wird denn das jetzt klappen, (O: ja) wenn man da zu pessimistisch drangeht, das
Der Stimulus wird auf interessante Weise etwas umgedeutet. Ohne einen Glauben an das Gelingen kommt ein Projekt nicht in Gang und kann nicht durchgehalten werden. Zuversicht und Selbstvertrauen sind konstitutiv, besonders in kritischen Phasen, wenn Schwierigkeiten und Hindernisse sich vor einem auftürmen. Naivität meint hier die Fähigkeit, sich nur auf das konzentrieren zu können, was unmittelbar anliegt, und alles andere auszublenden, so als wäre es gar nicht da. Auch hier geht es also um eine methodisch gewollte Naivität. Ausgedrückt wird eine Lebensweisheit. Man darf sich am Anfang eines Projekts nicht davon beeindrucken lassen, was alles passieren kann oder wie groß die Schwierigkeiten sind, weil man sonst zu zweifeln beginnt, ob die Sache überhaupt zu schaffen ist. Wenn nur Probleme und nicht auch Chancen in den Blick genommen werden, dann werden sie übermächtig.
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Man muss naiv bleiben heißt also auch, so zu tun, als wüsste man von all den Risiken nichts, obwohl man sie doch kennt. Das ist eine Frage der Einstellung gegenüber lebenspraktischen Problemen. Nur der bringt ein Vorhaben auf den Weg, der es nicht ständig unter dem Gesichtspunkt seines möglichen Scheiterns betrachtet. Es bedarf einer positiven Grundhaltung, eines Bewährungsmutes. Die sich darin äußernde Grundhaltung ist für den Forscherhabitus zwar konstitutiv, aber keineswegs nur bei ihm anzutreffen. Industrieforschung O: Würden sie da en Unterschied sehen wenn# ich mein aus aus ihrem Bereich äh gibt’s ja auch viele gute Leute, die dann irgendwann in die Industrieforschung gehen, würden sie da ne Differenz sehen? Also in der Industrieforschung könnt ich mir vorstellen wird einem doch eher abverlangt, dass man doch sehr strategisch vorgehen muss oder?
Der Industrieforscher wird als ein Kontrastfall eingeführt, an dem die Frage der Grundhaltung vertieft werden soll. Industrieforscher könnten sich von Grundlagenforschern darin unterscheiden, dass sie jene Naivität, vielleicht auch jene Bewunderung für die Natur nicht haben. Naivität kann man sich dort gar nicht leisten, wird unterstellt. S: Ach die meisten, die in die Industrieforschung gehen, müssen ja dann überhaupt nicht mehr denken, äh ich mein das ist ja der Grund warum se reingehen, (O: ja) äh und das# die Verantwortung auch auf andere Schultern zu legen, (O: ja) also ich glaube# ich kenne en paar Leute, die sind in die Industrie gegangen, weil se halt einfach zu frustriert waren, (O: ja) ich mein der der ganze Job ist natürlich# das ham wir bisher noch gar nicht diskutiert ist natürlich dahingehend sehr sehr kritisch, dass man sehr sehr lange auf nicht permanenten Stellen sitzt, (O: ja) das wissen sie ja selber auch, ähm und
Sattler hat einen bestimmten Typus des Wissenschaftlers vor Augen, der in die Industrie geht, weil er einer bestimmten Anstrengung des Forscherberufs ausweicht. Was ist hier sein Bild? Grundlagenforschung bringt es mit sich, dass man für alles Verantwortung trägt, immer die volle Selbständigkeit wahrnehmen muss, die Richtung immer selbst bestimmt, und somit auch das komplette Risiko des Scheiterns trägt. Dieser Herausforderung hat man sich zu stellen, man läuft sonst Gefahr, dass ein Projekt in die falsche Richtung läuft. Unter den Industrieforschern gibt es viele Wissenschaftler, die diese „Verantwortung“ nicht ausgehalten haben und sich deshalb ein Umfeld gesucht haben, in dem sie sich wie ein Angestellter als Auftragsnehmer verhalten können. Sie sind Spezialisten für irgendeine Methode und haben sich einen Chef gesucht, der ihnen sagt, für welche Arbeitsaufgaben sie ihr Können einsetzen sollen. Sattler wirkt in dieser Stelle etwas ungnädig, und wenn er
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nahelegt, dass in der Industrieforschung insgesamt weniger „gedacht“ würde, denn das ist gewiss überzeichnet. Aber Sattler geht es hier gar nicht um die Industrieforschung als solche, sondern um einen Typus des Wissenschaftlers, der zunächst in der Grundlagenforschung tätig war, um dann zu wechseln. Es wird unterstellt, dass es sich um ein Ausweichen handelt. Sattler merkt selbst, dass er etwas polemisch geworden ist und mildert die Strenge seiner Diktion wieder etwas ab, wenn er auf die prekäre Stellenlage in der Wissenschaft verweist. Aber im Grunde bekräftigt das seine Sichtweise nur noch. Natürlich ist es frustrierend, wenn man persönlich nicht weiterkommt, wenn man ständig auf prekären Stellen sitzt. Der Wunsch nach einem verlässlichen, höheren Einkommen, einer stabilen Arbeitsumgebung, klaren Vorgaben und einem Dauervertrag ist gut nachvollziehbar. Doch kann das für einen Forscher letztlich nicht ausschlaggebend sein. Der Forscherprofession verlangt Sattler ab, dass sie die frustrierenden Seiten des Berufs aushält, ohne die Verantwortung für die Sache zu vernachlässigen. Darin drückt sich eine geistesaristokratische Haltung aus. Ein Forscher muss sich auch charakterlich bewähren, er muss Moral zeigen. Wer Forscher sein will, darf dem nicht ausweichen. Das ist eine Haltung und es ist diese Haltung, die einen zum Forscher macht und die für die Professionalisierung mindestens so wichtig ist wie die intellektuelle Leistung. Sattler thematisiert also den gleichen Aspekt, der von Max Weber mit dem Hazard des Privatdozenten gemeint war, der in der mittleren Lebensspanne ohne feste, unbefristete Anstellung das ganze soziale Risiko einer ungewissen Karriere als Wissenschaftler zu tragen hat und der gerade in dieser Phase seine ganze Kraft in die Ausarbeitung eines neuen Sachgebiets stecken muss, ohne sich ablenken zu lassen. Auch Weber entwickelt das Argument so, dass es gerade die Standhaftigkeit in dieser Situation ist, die erkennen lässt, ob einer ein Forscher ist oder nicht. Das ist nicht berufsständisch gemeint, sondern analytisch. Man erkennt daran, ob einer die hinreichende ‚irrationale’ Leidenschaftlichkeit in der Sache schon entwickelt hat und mit seiner Forschung schon so verbunden ist, dass er gar nicht mehr aussteigen kann. Aber das ist in der Praxis natürlich immer auch eine Frage, welche Härten einer auszuhalten in der Lage ist und ob es überhaupt die materiellen Möglichkeiten (Stellen, Geld) gibt, in der Forschung zu bleiben. Die soziale Krise der Forscherexistenz stürzt Wissenschaftler ja regelmäßig in persönliche Krisen und Selbstzweifel, die ihnen immer wieder die Frage aufdrängen, ob die Forschung wirklich die richtige Tätigkeit ist. Es ist daher keine „Schande“, in die Industrie zu wechseln, aber dieser Entschluss drückt doch immer auch ein Scheitern aus, das in Bezug auf die Profession eine Entfremdung nach sich ziehen kann. Das merkt man hier ganz deutlich. Sattlers Reaktion ist heftig, weil ihn der Entschluss, in die Industrie zu gehen, auch ein wenig enttäuscht oder ärgert. O: Und und und es ganz unsicher ist nich, was äh S: Ja, das Risiko ist sehr sehr lange da, ist sehr sehr hoch und ich kenn also Leute, die sehr weit fortgeschritten waren (O: ja) und waren dann trotzdem nur zweiter Sieger obwohl sie gu-
386 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE te Sachen gemacht haben und die sind vor lauter Frust in die Industrie gegangen, (O: ja), aber im Großen und Ganzen sind es doch die Typen, die ähm (.) hervorragende Wissenschaftler sind, (O: mhm) aber die einfach diesen philosophischen Bezug nicht haben, (O: mhm) und die das wirklich dann als Job machen, das sind nicht die schlechteren Biologen, (O: ja), das ist# oder Chemiker, das ist schon ganz klar, (O: mhm) aber ähm die driften dann einfach dahingehend ab und sagen, ach ja, ich mach das jetzt# also ich hab zum Beispiel den besten molekularbiologischen Techniker den ich hatte das war en schwedischer Post-Doc, der dann nach drei Jahren# der hat das Projekt wunderbar gemacht, (O: mhm) hatte auch ein Wissen äh ohne das wir dieses Projekt nicht hätten machen können, also ein hervorragender Mann, aber der philosophische Bezug der war einfach nicht da, (O: mhm) ja der spulte das Programm ab, das war also alles wunderbar, mit einer riesigen äh mit einem riesigen Enthusiasmus auch und Liebe zum Detail, (O: ja) ähm und der arbeitete auch seine 12 Stunden täglich, das war alles nicht der Punkt, (O: mhm) aber der (.) der Bezug (O: mhm) zum zur philosophischen Grundfragestellung, der war einfach nicht da, und äh dementsprechend äh ist er dann in die Industrie gegangen, war glaub ich vielleicht auch ne richtige Entscheidung
Nun wird vollends klar, was Sattler meint. Es geht nicht um eine elitistische Schelte der Industrieforscher, sondern um eine Habitusdifferenz. Industrieforscher sind nicht schlechtere Fachkräfte. Es fehlt ihnen nur etwas im Habitus, was für den Forscher entscheidend ist. Das wird hier der philosophische Bezug genannt. Für uns ist diese Stelle besonders aufschlussreich. Was ist der philosophische Bezug? Das lässt sich zunächst nur residual bestimmen. Der Industrieforscher teilt mit dem autonomen Forscher die handwerklichen Eigenschaften, die man in der Wissenschaft braucht: Fachwissen, Techniken, Begabungen für Methoden, auch Enthusiasmus, Ausdauer, Fleiß usw. Er teilt mit ihm die akademischen Lernprozesse des Studiums. Aber in der Forschung wird etwas benötigt, sagt Sattler, was darüber hinausgeht. Wenn es nicht vorliegt, kommt es zu einer berufsbiographischen Krise und die Wege trennen sich. Industrieforscher studieren nicht auf den Job in der Industrie hin, sondern wechseln zu ihm hinüber, nachdem sich herausgestellt hat, dass sie die Praxis des Forschens nicht selbständig ausfüllen können. Das ist ein allmählicher Vorgang. die driften dann einfach dahingehend ab Irgendwann wird eine lebenspraktische Entscheidung getroffen. Das Wort abdriften unterstellt, dass es sich in erster Hinsicht nicht um eine Hinwendung zur Industrie, sondern um eine Abwendung von der Grundlagenforschung handelt, der die Suche nach einem Industriejob als Ersatzkarriere folgt. Es gibt eine Ideallinie der Forscherlaufbahn, die irgendwann nicht mehr gehalten werden kann. Aber was ist nun dieser „philosophische Bezug“? O: Ja, könnten wir das vielleicht noch mal en bisschen äh äh klären also was sie mit dem# weil das Wort ja jetzt schon en paar Mal gefallen ist, der philosophische Bezug &(uv)&
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S: & Der philosophische Bezug ist ja& natürlich die Natur draußen, (O: ja) ja ich mein wir sind ja alle Reduktionisten par excellence (O: ja) ja ich meine wir kümmern uns da um irgendwelche Moleküle oder Aminosäuren oder Nukleinsäuren in nem riesigen Molekül, (O: ja) aber ähm das Ganze ist natürlich Bestandteil eines riesigen biologischen Systems und wir wollen in Wirklichkeit ja dieses biologische System verstehen, (O: ja) ich will das zumindest, (O: mhm)
Der „philosophische Bezug“ : „die Natur draußen“ Mit dem „philosophischen Bezug“ ist also nicht gemeint, dass ein Forscher in die fachphilosophischen Debatten über seinen Gegenstand eingearbeitet sein sollte, sondern die Natur, wie sie einem Betrachter in ihrer unmittelbar sinnlichen Präsenz „draußen“ entgegentritt. Die Totalität der Natur in ihrer ästhetischen Erscheinung. Das ist nicht mehr überraschend, nachdem Sattler schon den Waldspaziergang erwähnt hatte. Das Adverb draußen vollzieht eine Ortsbezeichnung als Antwort auf die Frage nach dem Wo. Wo befindet sich etwas? Es kann aber auch die Bedeutung einer Richtungsanzeige annehmen: Man geht nach draußen (statt: in den Garten, ins Freie etc.) – als Antwort auf die Frage nach dem Wohin. Im vorliegenden Fall geht mit dem Wort eine Spezifikation einher, mit der andere Möglichkeiten ausgeschieden werden. Diese anderen Möglichkeiten könnten sein: die Natur ganz generell; die Natur drinnen. Nur wer ein Inneres kennt, kann auf etwas draußen verweisen oder nach draußen gehen. Die Natur draußen ist also die Natur außerhalb geschlossener Räume und Behausungen, d.i. die Natur in ihrer ursprünglichen Form, unter freiem Himmel, in freier Wildbahn, auch die Welt, in der man den Naturgewalten ausgesetzt ist. Gleichwohl diese Natur als eine Totalität aufzufassen ist, wird sie der menschlichen Praxis „drinnen“ gegenübergestellt. Berücksichtigen wir gleich, dass hier ein Laborwissenschaftler spricht, so lässt sich die Deutung wie folgt konkretisieren: Es gibt die Natur im Labor und es gibt die Natur außerhalb des Labors. Das eine ist die Natur im Reagenzglas und unter dem Mikroskop, die forschungstechnisch präparierte Natur, die unter das Schneidemesser gelegte oder zu Kontrastzwecken eingefärbte oder sonst wie manipulierte Natur. Das andere ist die freie Wildbahn, die reale Lebensumgebung eines Tieres, das Terrain der Beobachtung im Felde, die Natur, wie die Naturgeschichte und Evolution sie selbst hervorgebracht hat. Insofern die unberührte Natur, „die Natur selbst“, wie sie sich unabhängig von menschlichen Einflüssen entwickelt hat. Die Natur außerhalb des Labors ist eine Sphäre, in der ein neugieriger Beobachter Phänomene der Natur vor sich bringen kann, die er im Labor niemals zum Gegenstand machen könnte, und umgekehrt. Im Labor kann er alles das, was zu groß oder zu weit entfernt ist, was sich nicht transportieren lässt oder sofort kaputtgeht, wenn es verpflanzt würde, nicht untersuchen. Er muss selbst dorthin gehen. In der freien Natur kann er hingegen alles, was nur unter speziellen technisch kontrol-
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lierten Bedingungen untersucht werden kann, weiter erforschen. Was ist daran der „philosophische Bezug“? Konstitutionstheoretisch betrachtet bildet die Natur draußen den Ausgangspunkt der Forschung. Sie ist immer zuerst da, die ursprüngliche Daseinsform der Natur. Die Natur im Labor stammt von ihr ab, nicht umgekehrt. Methodologisch betrachtet wirft die Natur draußen aber einige zentrale Probleme auf. Sie ist gerade wegen ihrer Komplexität und unberührten Form nur schwer methodisch unter Kontrolle zu bringen. Sie ist ein flüchtiger, lebendiger, auch wilder und nicht domestizierter Gegenstand, zu komplex und vielschichtig, als dass er ohne weitere Operationen der Zerlegung und Isolation von Einzelsystemen untersucht werden könnte. Die Natur draußen ist die Natur, die mit den Mitteln des Labors nicht methodisch unter Kontrolle zu bringen ist. Sie ist die Sphäre der noch nicht prädizierten Xe, des Nichtidentischen. Den Laborwissenschaftler erinnert daher der Blick zur Natur draußen immer daran, dass die Natur stets mehr umfasst, als im Labor Berücksichtigung finden kann. Auf ihn bezogen ist der Ausdruck als eine Chiffre für den Gesamtzusammenhang der Natur zu verstehen, für das Ganze ihrer Ursache-Wirkungs-Beziehungen, ihre Komplexität und ursprüngliche Einheit, die schon in der Ausdifferenzierung der Naturwissenschaften in Physik, Chemie und Biologie aufgespalten wird, und die erst recht in den Labors, die immer nur einen Ausschnitt behandeln, verloren geht bzw. nur als gedanklich-begriffliche Abstraktion erhalten bleibt. Der Gedanke an die Natur draußen ist insofern das Korrektiv eines solipsistischen Reduktionismus im Labor, der sich einstellt, wenn das Wissen um diesen Gesamtzusammenhang verlorengeht. Voraussetzung dieser korrigierenden Wirkung ist natürlich, dass der Forscher einen persönlichen Bezug zur Natur draußen entwickelt hat und bewahren kann. Das könnte man so zuspitzen. Der philosophische Bezug bildet sich aus, wenn die Natur draußen als eine Sphäre erfahren wird, in der sich der Geist spekulativen Gedanken über sie hingeben kann, wenn sie selbst ein Ort der Muße und Anregung wird und der Sinn für die elementaren Fragen eines Fachs an diese ursprünglich sinnliche Erfahrung ihrer Totalität gebunden bleibt. Dann lassen die Erfahrungen in der freien Natur immer wieder die Komplexität der Zusammenhänge anschaulich werden und der Wissenschaftler behält den Respekt vor seinem Gegenstand und ein Bewusstsein für die bleibende Unvollkommenheit seiner Modelle. Das ist auch und gerade für die Fortentwicklung dieser Modell zentral, die ja von der Spannung zwischen dem schon Prädizierten und dem noch nicht Prädizierten angetrieben wird. Eine lebendige Beziehung zur Natur draußen erhält dem Laborforscher das Bewusstsein der unendlichen Vielgestaltigkeit der Natur, regt ihn aber auch dazu an, seinen Fragen immer wieder neue Fragen nachfolgen zu lassen und jene Spannung zu erfahren, wenn er sich nur zum Ausgangspunkt zurückbegibt. Ein Wissenschaftler muss dafür einen Sinn entwickelt haben. Er darf sich der Lust an spekulativen Gedanken nicht verschließen, die vielleicht während eines Spaziergangs in ihm aufkommen. Er muss den Dingen nachgehen und er muss sich
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das erlauben (können). Das setzt ein einigermaßen unverstelltes Verhältnis zum eigenen Unbewussten voraus. Neuartige Gedanken und Einfälle können sich nicht entwickeln, wenn sie immer schon unter den Verdacht der Wertlosigkeit gestellt werden oder wenn sie aus anderen Gründen einer innerpsychischen Zensur zum Opfer fallen. Sie müssen sich auch nach außen offen äußern können, was Sattler ja schon mit dem Waldspaziergang und seiner Tochter veranschaulicht hatte. Beides ist elementar: Der philosophische Bezug ist daher eine Disposition zu einem inneren Dialog, der sich in der freien Natur anregen lässt. Dieser innere Dialog hat irgendwann einmal in der frühen Kindheit und Jugend begonnen und setzt sich auch im Erwachsenenalter fort. Dieser innere Dialog ist es, was dem Industrieforscher fehlt. Ihm fehlt der innere Resonanzboden, die Sprache, die Musikalität dafür. Auch er macht interessante Beobachtungen, aber er erkennt sie nicht oder kann sie nicht mit theoretischen Gedanken und der laufenden Forschung verknüpfen, aus denen dann Projektideen entwickelt werden. Der autonome Forscher in der Grundlagenwissenschaft teilt mit dem Industrieforscher also die Einübung und die Beherrschung der Techniken, Methoden und Instrumente des Labors sowie das Interesse an ihrer Weiterentwicklung. Es unterscheidet ihn aber die Befähigung, einen inneren Dialog über die Natur bis zur Reife hypothetischer Konstruktionen fortdenken zu können, die es ihm erlauben, das Labor in den Dienst einer Überprüfung seiner Konstruktionen zu stellen. Mit dem Philosophen teilt er die innere Empfänglichkeit für spekulative Fragen und weitreichende theoretische Aussagen. Aber es unterscheidet ihn von ihm die Praxis einer methodisierten Geltungsüberprüfung und die Haltung, aufsteigende Spekulationen nach einer gewissen gedanklichen Klärungsphase sofort an das empirische Material heranzutragen und sie nicht für bare Münze zu nehmen: also jene fallibilistische Grundhaltung, die unter anderem im Labor ihre alltägliche („reduktionistische“) Arbeitsweise findet und die nur über solche Fragen sich theoretische Aussagen gestattet, die sich wirklich empirisch bearbeiten lassen. Die heutigen Biologen sind ja alle Reduktionisten par excellence, weil ihre Arbeit vom Labor und dort von der biochemischen und molekularbiologischen Methode beherrscht wird. Man ist deshalb auf irgendwelche Moleküle oder Aminosäuren oder Nukleinsäuren in nem riesigen Molekül spezialisiert. Das teilen die Forscher, die eine philosophische Fragestellung haben, mit den Industrieforschern. Aber in Wirklichkeit will der autonome Forscher nicht nur technisch mit diesen Molekülen umzugehen wissen, sondern das Ganze verstehen, dieses riesige biologische System. Das Molekül ist Bestandteil desselben, und jede Nucleinsäure-Sequenz, die man untersucht, ist bedeutsam nur deshalb, weil man annimmt, dass sie pars pro toto eine funktional bedeutende Rolle spielt. Ich will das zumindest (verstehen), also ich, Sattler, als Forscher. Darin drückt sich wieder der berufsaristokratische Habitus aus.
390 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE ja meine Doktoranden müssen das für die Zeit wo se hier sind (O: ja) und müssen sich dann selbst was suchen (O: ja) hinterher
Jene Grundhaltung überträgt sich über das Forschungsprogramm auch auf die Doktoranden. In seinem Verantwortungsbereich obwaltet der geistesaristokratische Gedanke. Was die Doktoranden hinterher machen, ist ihre Sache. Und Sattler deutet an, dass die Forschernaturen unter ihnen sich eigene Forschungsgebiete suchen werden, in denen sie eigene Verantwortlichkeiten entwickeln können. und ähm es gibt halt viele Leute, die (.) und das ist halt heute heutzutage auch leicht, ich meine äh die Biologie, die im Vorder# die am An# in vielen Länder ist die biologische Ausbildung ja gar nicht so intensiv, (O: ja), bei uns wird’s immer mehr abgebaut und man kommt dann immer schneller zu diesen Techniken, (O: ja) schon im dritten Semester lernen sie diese ganzen molekularen Techniken, dann sind se fit, die können wirklich alles, (O: mhm) aber mitunter ist dann wirklich nicht mehr klar, was man damit alles machen kann (O: ja) und welche Fragestellung dahintersteckt, (O: ja) und die müssen natürlich im im Vordergrund stehen, (O: ja) aber ich weiß auch nicht, ob man das wirklich auf die Systeme abwälzen kann, das ist halt individuell verschieden.
Jetzt folgt ein Seitenblick auf das Studium und dessen Bedeutung für die individuelle Verankerung eines Forschers in den philosophischen Fragestellungen. Hier haben Veränderungen gegriffen, die nicht nur zum Guten gewirkt haben. Die Einführung der Studenten in die grundlegenden Fragestellungen der Biologie ist in Deutschland im internationalen Vergleich zwar immer noch sehr gründlich, aber nicht mehr so wie früher. Es wird heute mehr Zeit darauf verwandt, die Kenntnisse in den molekularbiologischen Techniken aufzubauen und das setzt früher ein. Sattler bringt damit in Verbindung, dass nicht alle Studienabgänger ein klares Bewusstsein der elementaren Fragestellungen haben. Das molekularbiologische Handwerk ist hier und da zum Selbstzweck geworden, manche Absolventen wissen nicht immer, wofür sie die Techniken einsetzen sollen. Das Studium bringt MethodenIngenieure hervor, die keinen Forscherhabitus ausgebildet haben. Die Entwicklung folgt immer mehr dem Modell, ein „Fachmenschentum ohne Geist“ (Max Weber) für die Laborforschung hervorzubringen. Heute ist das Studium an den Universitäten nicht mehr alleine Bildungs- und Forschungsstudium, sondern immer mehr auch Fachhochschulstudium und Laborausbildung. Das erlaubt auch anderen Charakteren ein Hochkommen. Sattler ist sich aber nicht ganz sicher, ob das wirklich am Studium liegt und von der Studienordnung beeinflussbar ist. Im Fortgang der Passage nimmt er die Erklärungsreichweite seines Arguments zumindest wieder etwas zurück. aber ich weiß auch nicht, ob man das wirklich auf die Systeme abwälzen kann, das ist halt individuell verschieden. Mit System kann nur die Bildungsanstalt, die Universität, das
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Curriculum, die Studienordnung gemeint sein. Ob ein Forscher den Sinn für die philosophischen Fragen hat oder nicht, hängt gar nicht alleine an der universitären Lehre und der Gewichtung zwischen Labormethoden und klassischem Fachkanon. Es gibt da auch etwas, das nicht beeinflussbar und individuell ist. Den Sinn für die philosophische Fragestellung muss man schon mitbringen. Sattler betont hier die Defizite einiger Biologen, die in die Labors kommen, und er sieht eine mögliche Ursache dafür in der schlechter werdenden Ausbildung. Aber er schwankt auch und er fragt sich, ob man nicht auch einer Illusion anhängt, wenn man glaubt, es könnte jeder zum autonomen Forscher werden, wenn er nur eine gründliche Ausbildung genösse. Ein philosophischer Bezug ist das Resultat eines primären Bildungsprozesses, der auch außerhalb und vor dem akademischen Studium verwurzelt sein muss und letztlich auf einem persönlichen Entschluss beruht, dem man gar nicht beeinflussen kann. Davon war Sattler schon oben immer wieder ausgegangen. Er muss also schlussfolgern, dass der Forscherhabitus sich nicht beliebig planen, didaktisch initiieren oder sonst wie erzeugen lässt. Die Systeme Studium/Universität können diesen Habitus begünstigen oder sie können ihn behindern. Aber selbst initialisieren können sie ihn nicht. O: Ja (.) also was wäre bei ihnen sozusagen die philosophische Grundfrage, die äh äh
Die ursprüngliche Frage wird ins Persönliche gewendet und erfährt dadurch eine weitere Konkretion. Es wird nebenbei unterstellt, dass es individuell durchaus verschieden ist, welche philosophische Frage ein Forscher wirklich interessiert. S: Meine philosophische Grundfrage ist zu verstehen, warum das Leben so formenfältig ist (O: ja) wie es wirklich ist (O: ja) und wie das auf all den verschiedenen hierarchischen Ebenen wirklich zusammenspielt (O: ja) von der molekularen Ebene bis zu morphologischen.
Formenfältig, gemeint ist formenvielfältig. Das bezieht sich auf die Vielzahl der Grundformen von Lebewesen im Tier- und Pflanzenreich und die immense Variationsbreite dieser Grundformen. Die Vielfalt stellt selbst ein Phänomen dar, das erklärt werden muss. Sie fällt einem ganz unweigerlich auf, wenn man in die Natur geht. Sie ist aber noch viel größer, wenn man genau hinsieht. so formenfältig …wie es wirklich ist. Es verbirgt sich etwas dahinter. Aber was ist der systematische Grund dafür? Warum geht es nicht viel variationsärmer zu? Warum wird von der Natur eine Pluralität der Lebensformen begünstigt? Die Frage wäre kaum sinnvoll, wenn ihr nicht schon ein evolutionstheoretischer Gedanke innewohnte. Die biblische Vorstellung einer einmaligen Schöpfung der Arten, die fortan entwicklungslos existierte, würde die Frage kaum hervorrufen. Es bliebe dem Biologen nur, ‚Gottes Schöpfung’ im Einzelnen zu katalogisieren, was in sich irgendwann ermüden müsste. Wird das Leben jedoch als eine dynamische, fortwährend in Bewegung begriffene Entität gesehen und die Artenvielfalt als Resultat einer inneren Gesetzlichkeit des Lebens, dann
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stellt sich sofort die Frage, was diese Entwicklung antreibt, steuert und reguliert. Das hängt natürlich auch an der sinnlichen Präsentation der Formenvielfalt. Wenn man ein offenes Auge hat, sieht man sie auch in der freien Natur. Aber geradezu unabweislich wird sie, wenn man zum Beispiel in Naturkundlichen Museen viele verschiedene Arten ein und derselben Gattung nebeneinander sieht. Dann fallen einem unweigerlich viele Details auf, die eine evolutionäre Abstammung der Arten von gemeinsamen Vorfahren nahelegen. Wenn Sattler dann vom Zusammenspiel all der verschiedenen hierarchischen Ebenen spricht, hat er wieder eine Totalität vor Augen, und zwar eine Totalität der Strukturebenen eines Organismus. Den verschiedenen Ebenen entsprechen unterschiedliche Vertiefungsgrade des Gegenstandsbezugs und diesen unterschiedliche Herangehensweisen der Analyse, so dass man diese Ansätze wieder in einem Gesamtansatz zusammenführen muss. Die hierarchischen Ebenen stehen in einem geordneten Abhängigkeits- und Bedingungsverhältnis zueinander, ihnen entsprechen Ursache-Wirkungs-Gesetze. O: Ja (.) ja (.) würde man auch sagen können, sie möchten gerne die Evolution genau verstehen S: Das ist ein Teil der Evolution, die Evolution ist natürlich viel, ich mein der Vorwurf, der uns natürlich immer gemacht wird, ist, dass wir natürlich nicht verstehen (Kassettenwechsel) S: ...ja und ich mein viele Leute haben natürlich auch das humane (O: ja) also den menschlichen Bezug im Vordergrund, das sehe ich nicht so und (O: ja) mir ist das alles (.) diese ganze Diskussion dieser Zentralismus auf die menschliche Entwicklung, der ist mir also en bisschen fremd geworden
Die Lücke im Gespräch, die durch den Kassettenwechsel entstanden ist, lässt sich unschwer rekonstruieren. Es muss um einen Vorwurf gegangen sein, die Evolutionsbiologie könne nicht wirklich erklären, wie eine Gattung wie der Mensch wirklich entstanden ist, der Mensch als Kulturwesen, als homo sapiens sapiens. Das wird von vielen als eine offene Flanke der Disziplin gesehen, sie ergibt sich aber mehr durch einen anthropozentrischen Betrachtungswinkel, denn aus innerem Verständnis. Denn diese Frage, so die Aussage hier, steht nicht wirklich im Zentrum der Evolutionsbiologie. Die Humangattung spielt in der Evolutionsbiologie keine herausgehobene Rolle, sie ist nur eine unter vielen anderen Arten, die interessant sind. Der Anthropozentrismus entspringt einem natürlichen Interesse für die eigene Stellung und Genese, doch der Forscher bewegt sich mit der Zeit davon weg, wenn er nicht gerade speziell damit befasst ist. Dass er ihm ein bisschen fremd geworden sei, heißt ja, dass dem Homo sapiens im Alltag der Wissenschaft kaum eine größere Bedeutung zukommt, als der Maus, dem Fadenwurm oder dem Zebrafisch. Das hängt eben vom Modellsystem ab. Das Forscherinteresse hängt sich an diejenigen Arten, die für die exemplarische Erforschung universeller Gesetzlichkeiten beson-
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ders gut geeignet sind. Das ist beim Menschen nicht zwingend der Fall. – Hierin kommt also eine heuristische Perspektive zum Ausdruck, die den Anthropozentrismus als Klischee des populären Laienverständnisses und Rest einer Kulturfixiertheit in der Naturwissenschaft entlarvt. „Alte Meister“ O: Ja also die äh sozusagen Evolution unter dem sehr selektiven Gesichtspunkt der menschlichen ja (S: ja) ja (..) ähm (.) würden sie denn äh also sagen wir mal interessieren sie denn auch so äh oder ham oder hat sie das interessiert äh wissenschaftsgeschichtliche äh Aspekte also wie ihr Fach zu dem geworden ist, äh was es geworden ist S: Ja das ist natürlich en spannendes Thema, aber da hat man leider viel zu wenig Zeit heutzutage, (O: ja) äh im Studium hab ich en bisschen gemacht, (O: ja) aber ähm (.) und dann auch in der Doktorarbeit en bisschen für das eigene Fach, (O: ja) in dem ich dann promoviert habe, aber sonst ist das äh leider (.) (O: ja) ist das leider nicht mehr machbar.
Es wird versucht, dem Thema „philosophische Fragestellung“ noch einmal von einer anderen Seite auf die Spur zu kommen. Das Nebeneinanderstellen von Evolution und Geschichte des eigenen Fachs bietet die Deutung an, das Interesse könnte genetischen Prozessen als solchen gelten, also dem Werden von etwas und der Rekonstruktion des Gewordenen. Das wird im Prinzip auch bestätigt. Doch ins Auge springt auch die klare Prioritätensetzung. Die Arbeit an der eigenen biologischen Fragestellung hat absoluten Vorrang. In ihr findet die eigentliche Bewährung statt. Gerade in der Klage über die hochgradige Determiniertheit des modernen Forscherlebens kommt das zum Ausdruck. viel zu wenig Zeit heutzutage... deutet ja an, dass ein Bewusstsein von der Geschichte der eigenen Fachs und der eigenen Fragestellungen selbstverständlich dazugehört. Aber es ist eben nicht mehr so einfach möglich, die Kenntnisse wirklich zu vertiefen. Der Forscher muss auch in dieser Hinsicht Prioritäten setzen, will er vorankommen. O: Aber ich mein, so isses wie# ich weiß nicht, ich versuch mir das vorzustellen, so bei Biologen ist so Darwin muss doch so ein# ist doch wahrscheinlich immer ein großer Mann, nicht den man bewundert oder? S: Darwin ist ein gro# ja leider ist ja Darwin noch der Einzigste, den man so bewundert, (O: ja) äh da müsste man ja an und für sich noch ganz andere bewundern, in Deutschland
Jetzt verlässt das Interview etwas das Thema des philosophischen Bezugs. Es geht um die Identifikation mit den Meistern des eigenen Fachs. Welche Rolle spielt sie? Sattler beklagt eine mangelnde Kenntnis der nationalen Öffentlichkeit von den historischen Leistungen bedeutender Biologen in Deutschland. Die Bewunderung Darwins ist zwar berechtigt, aber zugleich Ausdruck eines Klischees, das sich
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längst verselbständigt hat. Aus Sicht der Fachgeschichte ist seine Bewunderung zwar angemessen, aber es gibt viele Gelehrte, die einen ähnlichen Rang einnehmen und völlig unbekannt sind. O: An wen denken sie? S: Ja ich mein generell, also ich mein es gab ja dann äh Weißmann, Boveri, (O: ja) ganz herausragende Biologen in Deutschland, in XYZ hat man das im Hauptstudium äh Gott sei Dank noch en bisschen mehr (O: ja) gelehrt bekommen, (O: ja) weil halt ähm viele Sachen in XYZ gemacht worden sind (O: ja) und da sind dann immer die (O: ja) ähm historischen Komponenten mit in die Ausbildung eingeflossen, (O: ja) und ich hab also auch noch# nee dat darf ich so gar nicht sagen, also ich bin noch in der Diplomprüfung in Mikrobiologie äh (O: ja) nach Nobelpreisen gefragt worden, (O: ja) ähm da hat er allerdings vorher gesagt, das müssen se jetzt nicht wissen, (O: ja) also ich leg ihnen das jetzt nicht negativ aus, wenn ses nicht wissen, aber (O: ja) so rein interessehalber, (O: ja) vieles kommt dann schon, also es fließt auch in meine Vorlesungen schon noch ein, aber es ist wirklich nicht durchgängig historisch, (O: ja) das kann man (.) kann man nicht sagen.
Der deutsche Biologe August Weißmann entdeckte den Zellkern als Sitz der Erbmerkmale. Theodor Boveri formulierte 1904 mit Sutton zusammen die Chromosomentheorie in der Weise, wie sie heute noch gültig ist: die Gene sind auf den Chromosomen linear aufgereiht. – Die Ausbildung in XYZ hält die historische Tradition zwar noch hoch und dies erneuert auch die Identifikation mit der Universität. Aber insgesamt ist die Tendenz des Rückbaus der Tradition unverkennbar. Wie sehr die Normalität der curricularen Zurückstufung historischer Bildung vorangeschritten ist, verdeutlicht die Anekdote. Da wird ein Vorgang berichtet, in dem ein Prüfer etwas fragt, das so rückständig ist, dass es lieber verschwiegen werden sollte, weil es jene Rückständigkeit peinlich offenbart. In Wirklichkeit wird es hier natürlich erwähnt, weil Dr. Sattler sich in der Frage, auf die er sich mangels curricularer Vorhersehbarkeit nicht vorbereitet haben konnte, offenkundig doch bewährt hat. Er kannte die Nobelpreisträger, zumindest einige. Und sein Prüfer hat geahnt, dass er dieses historische Wissen haben konnte, sonst hätte er nicht gefragt. Sattler nutzt das Thema also, um den eigenen geistesaristokratischen Anspruch zu untermauern. Aber es ist eben auch Bedauern über den Verlust einer Tradition im Spiel. O: Ja, gibt es jemanden, den sie bewundern, also der für sie en Vorbild ist äh (.) S: Als Biologe (..) och nee Vorbilder kann man an und für sich nicht sagen, weil man halt früher ähm (.) doch anders gearbeitet hat, (O: ja) also ich mein diese großen alten Meister, (O: mhm) die sich noch rein (O: mhm) (.) nur diesen philosophischen Grund# (O: mhm) äh oder Fragestellungen gefolgt sind, die haben natürlich in einer nicht-molekularen Zeit gearbeitet, (O: ja) und die mussten sich dann natürlich auch mit Lösungen (O: ja) zufrieden geben, die nicht rein mechanistisch waren, (O: mhm)
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Diese Passage ist nun wieder interessanter, denn Sattler skizziert einen Epochenwandel in der Biologie und bringt darin das Selbstbewusstsein der Biologie heute zum Ausdruck. Die alten Meister können keine Vorbilder sein, weil die Biologie heute auf erweiterter Stufenleiter wieder am Anfang ihrer Entwicklung steht, nachdem sie die Schwelle zu den molekularbiologischen Untersuchungsmethoden überschritten hat. Sie teilt die Aufgabenstellungen, aber ihre Herangehensweise hat sich so sehr gewandelt, dass man die Arbeitsweise nicht mehr vergleichen kann. Was Biologen früherer Epochen gefehlt hat, waren molekularbiologische Methoden, biochemische Analyseverfahren. Die großen alten Meister sind die Fragestellungen direkt virtuos angegangen und haben mehr oder weniger improvisiert ihre Untersuchungen angelegt. Sie waren Vorkämpfer, die Schneisen geschlagen und Probleme des Anfangs gemeistert haben und haben Fortschritte erzielt, ohne selbst auf Vorbilder oder ein Basiswissen zurückgreifen zu können. Doch sie hatten nicht die Befriedigung und den Grad der Gewissheit, den heutige Labortechniken ermöglichen. Der Geist der Zeit hat sich in dieser Hinsicht völlig gewandelt. Heute arbeitet und denkt die Biologie in viel strengerem Sinne kausalanalytisch. Ihr methodisches Wissen ist viel stärker kanonisiert und beruht auf tausendfach bewährten Modellerkenntnissen über die Grundlagen der Chemie, der Physik, der Zellstruktur, des Stoffwechsels, der Genetik und so fort. Das Ideal einer lückenlosen Erschließung von Kausalbeziehungen zwischen Genetik und Morphologie ist realistisch geworden. Das meint mechanistisch. und ich finde der Reiz heutzutage ist natürlich, dass es die Kombination ist, (O: ja) das ist auf der einen Seite die ähm philosophische Fragestellung, die man niemals ganz lösen kann, aber dafür doch dann halt die Chance, mechanistisch (O: ja) chemisch wirklich bis auf den Grund zu gehen (O: mhm)
Mechanistisch meint, dass ein Vorgang der Morphologie oder Zellphysiologie zugleich auf molekularer Ebene erforscht werden kann. Man kann zum Beispiel erforschen, was sich genetisch verändert hat, wenn eine Zelle nicht zum vorgesehenen Zeitpunkt abstirbt. Vorgänge lassen sich auf verschiedenen Ebenen parallel beobachten und kausalanalytische Zusammenhänge damit besser aufklären. Das liegt daran, dass man heute die Möglichkeiten hat, die Struktur und Genese von Zellen von ihrer molekularen Basis her zu betrachten. Man kann den Zellen ins Innere blicken und morphologische oder physiologische Vorgänge aus den Bausteinen der Gene bzw. aus den von den Genen gesteuerten Prozessen erschließen. Eine Wissenschaft, die noch rein nur philosophischen Fragestellungen gefolgt war, konnte das noch nicht. Der Reiz, von dem hier die Rede ist, geht aus von der Aussicht auf die Möglichkeit, bestimmte Teilfragen und Sachprobleme, die sich aus einer philosophischen Frage ergeben, mit der Chance auf eine abschließende Lösung zu untersuchen. Es sind nur einzelne Bausteine, aber immerhin solche, die gesichert sind.
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Diese Chance besteht, weil man bestimmte Einzelfragen aus dem Gesamtzusammenhang herauslösen und auf ein bestimmtes Format bringen kann, so dass sie mit Hilfe der molekularbiologischen Methoden bearbeitet werden können. Diese Möglichkeiten sind noch lange nicht ausgeschöpft und versprechen für die Zukunft noch interessante Entwicklungen. Der Reiz der heutigen Forschung, „dass es die Kombination ist“, besteht also für Sattler darin, mit den molekularbiologischen Methoden erstmals einen festen Boden unter den Füßen zu haben, auf dem man vorwärts gehen kann. Der moderne Forscher geht von seinen philosophischen Fragen aus und durchforstet die modernen Methoden daraufhin, welche Möglichkeiten sie ihm bieten, Teilfragen seiner philosophischen Frage zu bearbeiten. Gleichzeitig wird er sich der Grenzen dessen bewusst, was auf der Basis dieser Methoden wirklich machbar ist und was nicht. Deshalb sind die philosophischen Fragen der Ausgangspunkt. Doch zugleich wird behauptet, dass die philosophischen Fragen niemals ganz lösbar sein werden. Das ist nicht im Sinne eines dogmatischen Empirismus gemeint, sondern pragmatisch. Es ist eine erfahrungsgesättigte Einschätzung. Genau betrachtet sind aber mehrere Lesarten möglich. Im Sinne des Fallibilismus kann Sattler meinen, dass es eben Fragestellungen gibt, deren theoretische Beantwortung immer einen gewissen Restanteil spekulativer Annahmen nötig machen, die selbst nicht empirisch überprüft werden können, – sei es, dass es keine Ideen gibt, wie man sie in einem Experiment prüfen könnte, sei es, dass solche Experimente zwar gedanklich entworfen werden können, aber ihre Durchführung wäre so überdimensioniert und aufwendig, dass sie an praktischen Machbarkeitsproblemen scheitern. Beispiele für solche philosophischen Fragen wären die Debatte über den sexuellen Bimorphismus: Warum gibt es zwei Geschlechter und sexuelle Fortpflanzung? Warum hat sich dieses Modell neben der klonalen Reproduktion etabliert? Es liegt nahe, hier der Natur eine Strategie der Pluralisierung der Reproduktionsvariabilität zu unterstellen. Aber wie überprüft man das empirisch? Die Erfahrung der letzten Jahrzehnte mit den modernen Labormethoden hat also das Wissen darum reifen lassen, welche Fragestellungen wirklich lösbar sein werden und welche nicht. Deshalb ist auch das Bewusstsein für die Unlösbarkeit mancher Fragestellungen gewachsen. Eine andere Lesart lautet, dass philosophische Fragen deshalb niemals ganz lösbar sein werden, weil es niemals möglich sein wird, das Einzelwissen der naturwissenschaftlichen Disziplinen über die Totalität eines Gegenstandes abschließend in ein einheitliches Modell zusammenzuführen. Bezogen auf die Totalität der vorgängig ästhetisch erfahrenen „Natur draußen“ eröffnet die spezialisierte Einzelforschung immer wieder neue Folgefragen und macht bis dahin unbekannte Zusammenhänge sichtbar, so dass ein Streben nach abschließender Antwort und „Systembau“ in eine Enttäuschung oder Illusion führen muss. Auch diese Lesart beruht nicht auf einer dogmatisch empiristischen Haltung, die bestimmte Fragen für sinnlos oder inhaltsleer erklärt, weil sie zur Metaphysik ein-
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laden. Es geht vielmehr um eine pragmatische Einschätzung dessen, was mit den zur Verfügung stehenden Methoden konkret erreicht werden kann. Philosophische Fragen bleiben Antriebsquellen des Wissensdrangs, bleibende Rätsel und Aufgaben, die den forschenden Geist immer wieder dazu antreiben, weitere Bausteine einer Erklärung zu finden und einer Antwort näher zu kommen. Der Forscher darf aber nicht erwarten, dass er mit diesen Fragen irgendwann fertig werden wird. Eine letzte Befriedigung des Erkenntnisstrebens bleibt den Wissenschaftlern verwehrt. Wer sich in diesem Sinne ernüchtert, den erwartet an anderer Stelle Entschädigung. Die mechanistische Forschung entschädigt mit der Gewissheit des Fortschreitens in kleinen Schritten. Der moderne Forscher muss also den spekulativen Systemdenker endgültig hinter sich lassen, aber er bekommt dafür den Lohn einer empirisch bewährten Erkenntnis, auf der er theoretische Überlegungen neu errichten kann, die durchaus systematisch sind, auch wenn sie niemals etwas Abschließendes bekommen werden. Die Befriedigung liegt in der Chance, mechanistisch chemisch wirklich bis auf den Grund zu gehen… Einer der wichtigsten Antriebe des Forschers ist also, ein einzelnes Problem lückenlos aufzuklären, eine Antwort zu finden, der kein Rest spekulativer Prämissen mehr anhaftet. Darin drückt sich das regulative Ideal aus, dass Theorien unbefriedigend bleiben, solange ihnen Überzeugungen anhaften, deren Erfahrungsgehalt und Plausibilität sich nicht von den Personen ablösen lassen, die sie aufgebracht haben, die deshalb „geglaubt“ werden müssen, weil sie sich nicht empirisch prüfen lassen. und das ist an und für sich das Ziel, (O: mhm) ähm sich bei dieser Spezialisierung immer wieder Einzelpunkte dann rauszugreifen und zu sagen okay, das# diesen (O: ja) einen Aspekt, den will ich jetzt ganz genau wissen (uv)
Fasst man den Punkt zusammen, dann besteht die Aufgabe des gegenwärtigen Biologen darin, sich einen Teilkomplex aus den großen Fragestellungen vorzunehmen, der mit den modernen Labormethoden untersucht werden kann, und sich in der Gewissheit nicht beirren zu lassen, nur mit diesem Vorgehen am Ende auch etwas zur annäherungsweise weiteren Klärung der philosophischen Fragen beisteuern zu können. O: Und äh bei den Philosophen selbst gibt es da Leute, die äh für sie mal äh interessant waren? S: Bei den Philosophen (.) ähm ja die alten Griechen haben natürlich schon vieles (O: ja) äh (O: ja) hinterfragt (O: ja) und ähm ich bin jetzt# jetzt hab ich aber leider wieder den Namen vergessen von dem einen guten Mann ähm ja ich mein es gibt ja so generell O: In welchem Zusammenhang S: Äh das ist im evolutionsbiologischen Zusammenhang, (O: ja) ähm die schon relativ früh an und für sich eine Evolution vorausgesagt haben, (O: ja) ich wollt mir den Namen immer merken, aber ich vergess ihn immer
398 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE O: Nicht zufällig Parmeni Parmenides S: Nee, nee O: Anaximander war noch einer S: Anaximander, genau das war er, genau (O: ja) das war er, ähm und das hat mich schon beeindruckt, (O: mhm) ähm ich les jetzt gerade den Bertrand Russell, (O: ja) und das hat mich also schon beeindruckt, dass das äh (O: ja) da so klar formuliert war (O: ja) und an und für sich mit ner relativ leichten Begründung ja auch äh (O: jaja) klargelegt worden ist, (O: ja) also das war an# das man das dann 2000 Jahre oder noch länger einfach äh ignoriert hat, (O: ja) so nen einfachen logischen äh Zusammenhang, da fand ich schon äh überraschend.
Der Interviewer fragt nun nach den Philosophen selbst. Die Frage ist ganz konsequent, denn bisher hatte Sattler das Philosophische mit einer vorgängigen ästhetischen Erfahrung der Natur verknüpft, während er Philosophie im Sinne eines Systemdenkens eher als Problem und Illusion sieht. Sind also die Philosophen für ihn anregend? Braucht der Erfahrungswissenschaftler das Korrektiv einer ungehemmten spekulativen Weltsicht? Woher bezieht er die Ideen und Anregungen für theoretische Neuansätze? Und inwieweit hat die philosophische Reflexion über Theorien für ihn einen Nutzen? Sattler geht sofort auf die Frage ein und belegt seine philosophische Lektüre. Er liest grade Bertrand Russels „A History of Western Philosophy and Its Connection with Political and Social Circumstances from the Earliest Times to the Present Day“ von 1946. Russel interpretiert dort Anaximanders Naturlehre (610-546 v.Chr.), die die Ursprünge des Lebens der Tiere und Menschen aus dem Wasser annimmt, als eine Lehre der Balance zwischen verschiedenen Naturkräften (Wasser, Luft und Feuer). Das für uns Interessante daran ist der Gedanke, dass das Leben aus dem Streben nach Balance hervorgeht. Balance der Kräfte geht aus einer Entwicklung hervor und Entwicklung zielt immer auf das Erreichen einer Balance. Damit ist gesagt, dass man eine Struktur im Ganzen betrachten muss und dass es ihre Einzelelemente sind, deren Stellung zu- und Wirkung aufeinander eine Dynamik auslösen, die erst zu einer Ausgeglichenheit findet, wenn die Bedürfnisse aller Einzelelemente befriedigt sind. Das Ganze bleibt in Bewegung, solange dieser Zustand nicht erreicht ist. Anaximander operiert mit einem dynamischen Strukturbegriff. Sein Entwicklungsgedanke skizziert eine strukturelle Antriebsquelle für die Entwicklung des Lebens, auch wenn die Elemente Wasser, Feuer und Luft noch sehr animistisch anmuten. Es ist der logische Gedanke, den Sattler fasziniert. Es ist für ihn aber auch interessant, dass die Idee einer Entwicklung schon so früh ausgesprochen wurde und dass man sie so lange nicht berücksichtigt hat. Das rückt die eigene Tätigkeit in ein anderes Licht, denn man sieht plötzlich, dass die Grundgedanken schon lange da sind. Zum anderen zeigt es auch die Ignoranz und Widerständigkeit gegen Neues. Bis es wirklich zu Fortschritten im Wissen kommt, können Jahrhunderte vergehen
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und es können wertvolle Theorien sogar wieder in Vergessenheit geraten. Aber damit muss man sich als Wissenschaftler abfinden. O: Und unter den heutigen Philosophen wer äh (.) also hätten sie Lust mit denen zu diskutieren oder sind die ihnen einfach zu (.) zu unklar S: Na also wenn ich so lese, was in der Frankfurter Allgemeinen steht, glaub ich sind die deutschen Philosophen ja wohl sicherlich kein &(uv)& &(Gelächter)& O: An wen denken die gerade? S: Ja so an Herrn Sloterdijk und so, (O: ja) das ist also nicht (.) das was wir uns als Naturwissenschaftler so gerade vorstellen, (O: ja) das ist schade, dass das so weit auseinandergeht, is aber auch wieder typisch deutsch O: Ja Sloterdijk das ist … also wirklich totentraurig ja S: Und die deutsche Philosophie ist natürlich auch sehr historisch, das muss man ja schon sagen, (O: ja) ja und das ist in in Amerika schon ganz anders ja
Es konnte nicht recherchiert werden, auf welchen Artikel von oder über Sloterdijk sich Sattler bezieht. Zum Zeitpunkt des Interviews (Dezember 2001) finden sich in der FAZ mehrere Artikel, in denen über die Absicht des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF) berichtet wurde, ein sogenanntes „Philosophisches Quartett“ auszustrahlen, bei dem Sloterdijk als Moderator oder „Denker vor der Kamera“ fungieren sollte („Probleme genießen, statt lösen!“). Es gibt aber keinen Artikel mit dezidiert naturwissenschaftlichem Bezug. Die Kommentare zu Sloterdijk müssen nicht weiter ausgelegt werden. Beide Gesprächspartner sind sich einig, dass die deutsche Philosophie in der Person Sloterdijk keinen Vertreter hat, der einen sachhaltigen Beitrag zu liefern in der Lage wäre, mit dem die Fachwissenschaftler etwas anfangen könnten. Ausgangspunkt ist allerdings die Kritik an der FAZ, die Sloterdijk in ihrem Feuilleton Raum für seine Artikel gibt. Sattler hat sich offenkundig über etwas geärgert, was er mit der FAZ und ihrer Linie, die sie gegenüber den Naturwissenschaften verfolgt, in Verbindung bringt. Hintergrund dürfte der damals schwelende Streit um die embryonale Stammzellenforschung und Sloterdijks Thesen zum „Menschenpark“ gewesen sein.11 Sloterdijk wäre allerdings kaum erwähnt worden, wenn sein öffentlicher Medienerfolg nicht zugleich als Symptom für den Zustand der deutschen Philosophie im Allgemeinen betrachtet würde. Sattler sieht Sloterdijk als Sprachrohr für eine völlig verquere Sichtweise. Er sieht aber noch ein weitergehendes, strukturelles Problem. Die deutschen Philosophen sind sehr historisch, das heißt, sie üben sich in der Auslegung philosophischer Klassiker und den11 Der Philosoph Peter Sloterdijk hatte Ende der 1990er Jahre mit seinem Buch „Regeln für den Menschenpark“ eine Kontroverse über die Biotechnologie ausgelöst. Eine Darstellung der Kontroverse mit einer detaillierten Liste von Zeitungsartikeln finden sich in: http://de.wikipedia.org/wiki/Regeln_f%C3%BCr_den_Menschenpark.
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ken sehr von der Art und Weise aus, wie diese Probleme formuliert haben. Wer deren Sprache und Werke nicht kennt, versteht darum nicht so schnell, wovon geredet wird. Auch deshalb kommt ein Austausch nicht zustande, denn Naturwissenschaftler haben nicht die Zeit, um sich diesen Bildungskanon anzueignen. Auf diese Weise hat die Philosophie sich in Deutschland von den Erfahrungswissenschaften zu sehr entfernt und ist in eine gewisse Isolation geraten. Die deutschen Philosophen sind also entweder ins kulturindustrielle Feuilleton abgesunken, oder sie haben sich selbst zu einer Fachdisziplin entwickelt, die zu voraussetzungsreich argumentiert und ihre Debatten zu sehr exegetisch eingefärbt hat. Ihre Diskurse sind für Naturwissenschaftler zu hermetisch. Insgeheim wird gefordert, dass die Philosophen sich den Naturwissenschaftlern wieder mehr anbieten müssten, was ein gewisses Primat der Erfahrungswissenschaften unterstellt, ohne dass den Philosophen bestritten würde, auch sinnvolle Beiträge zur Diskussion von Problemen beisteuern zu können. Doch Sattler geht davon aus, dass die Philosophie viel lebendiger sein könnte, wenn sie sich direkt mit den Problemen auseinandersetzen würde, die sich aus den Erfahrungswissenschaften heute ergeben. O: Und erkenntnistheoretische Fragen wissenschaftstheoretische Fragen interessieren sie die S: Ja, die ham mich schon immer interessiert, (O: mhm) aber das ist natürlich en bisschen weit weg, äh da hatten wir ja auch jetzt mit unserem Fach Evolution und Entwicklung gehofft, (O: ja) dass da mehr Zusammenhänge wären, aber (.) es ist sowohl von den Evolutionsbiologen (.) (O: ja) kommt da wenig (O: ja) als auch von den Erkenntnistheoretikern, (O: mhm) das liegt glaub ich daran, dass die Molekularbiologie einfach zu kompliziert ist, (O: ja) und die Leute haben Angst, dass sie dann da Fehler machen, (O: ja) das ist generell so, ich mein man hat# ich hab jetzt sicherlich auch wieder viel zu viel über Gene geredet, ähm man redet sehr sehr viel über Gene, geht dann ins Detail, und wenn man dann keine (.) keinen wirklichen Hintergrund darin hat, (O: ja) dann kommt man natürlich schnell ins Hintertreffen und (O: ja) das gilt für viele Evolutionsbiologen klassischer Schule, (O: mhm) obwohl wir im Grunde genommen viel miteinander reden könnten, (O: ja) und (uv) also jetzt en Schwerpunktprogramm gehabt äh deutschlandweit um das zu fördern, (O: ja) es ist schwierig, (O: ja) es ist sehr schwierig O: Äh was war das S: Das war en DFG-Schwerpunkt Evolution und entwicklungsbiologische Prozesse, (O: ah so) wo wir wirklich versucht haben, (O: ja) molekulare Entwicklungsbiologen und Evolutionsbiologen zusammenzubringen, das ist schwierig, das Misstrauen ist da O: Warum? S: Ja weiß ich nicht ähm (..) es ist zum Teil wieder die molekularbiologischen Details und wir reden immer über Gene und (O: ja) so viel an Mutanten rauf und runter und dann hat man den Hintergrund nicht und die Leute ham manchmal Angst, den Mund aufzumachen, das ist leider schwierig, könnte alles viel besser sein.
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Die Schwierigkeiten, die Sattler bei den Philosophen konstatiert, gibt es also in anderer Gestalt unter den Biologen auch, sogar zwischen Gruppen, die sehr nahe verwandt am selben Gegenstand forschen. Es stehen sich die Evolutionsbiologen klassischer Schule und die Entwicklungsbiologie, die mit molekularbiologischen Verfahren arbeitet, gegenüber. Beide haben eine je eigene Erfahrungsbasis, aber es ist schwer ins Gespräch zu kommen. Man hat sich auseinanderentwickelt und kennt sich in den Forschungen der jeweils anderen Schule nicht mehr aus. Die Vertreter der klassischen Schule werden also keineswegs zum alten Eisen gerechnet, ihre Erfahrungsbasis ist für Sattler durchaus wertvoll. Aber es herrscht Sprachlosigkeit, es gibt keine gemeinsame Theoriesprache, in der man seine Forschungsresultate flüssig verständlich machen könnte. Es gibt also ein Übersetzungsproblem und die Biologen versuchen darum in Veranstaltungen eine Brücke zu schlagen. Sogar die DFG gibt Gelder dafür. Aber es scheitert bisher, ohne dass die Gründe leicht benannt werden könnten. Es gibt zwischen den Gruppen offenkundig auch eine gewisse Asymmetrie. Die avantgardistische Molekularbiologie hat längst eine hegemoniale Stellung erreicht und drängt die anderen Fächern zur Seite, zieht Geld, gute Leute und öffentliche Aufmerksamkeit an. Die klassischen Biologen fühlen sich in die Enge getrieben, taktieren ängstlich und fürchten Fehler zu machen und sich zu blamieren. Es wird ein typisches Problem sichtbar, das der Etablierung eines neuen Forschungsparadigmas häufig nachfolgt. Die Biologie zerfällt in zwei Lager: Auf der einen Seite das Lager derjenigen, deren Karriere mit dem neuen Paradigma mitgewachsen ist; auf der anderen Seite das Lager derjenigen, die auf die alte Vorgehensweise setzen und die ins Hintertreffen geraten sind, was Förderung und Drittmittel anbelangt. Aber die Sprachlosigkeit ist nicht nur durch diese Entfremdung bedingt, sondern auch in der Sache begründet. Es fehlt am Verständnis, am Sachverstand. Das blockiert die klassischen Biologen umso mehr. Und die Molekularbiologen machen den Fehler, dass sie ihre Gesprächspartner mit zu viel Fachdetails überfrachten, die sich dann zurückziehen. Es ist also noch nicht gelungen, eine gemeinsame Basis für ein Gespräch zu finden. O: Meinen sie dass# äh also dass da so ne Art äh ne Angst ist dass man sich blamiert oder dass man S: Dass man sich blamiert, (O: ja) dann ist natürlich# kommt auch dazu, dass die Forschungsförderung ne ganz andere ist (O: ja) in der Entwicklungsbiologie, (O: ja) wir kriegen natürlich viel mehr Geld als die (O: ja) klassischen Zoologen und äh O: Ach so, jaja, ja S: Da sind viele Animositäten im Spiel (O: ja) und das ist leider nicht so gut, wie es wie es sein könnte
Sattler bestätigt die Ungleichheit zwischen den Schulen.
402 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE O: Ja (.) und ähm (.) und so Debatten wie sie äh also die ja dann auch ganz populär geworden sind, also sagen wir# denken wir mal an (uv) das egoistische Gen äh (.) die Diskussionen, die sich daraus ergeben, die ja teilweise auch bis in Erkenntnistheorie dann (S: reingehen, ja) ja hat sie das# finden sie das interessant oder S: Ach ja mein Doktorvater war da zum Teil drin involviert (O: ja) weil der ist von Hause aus Populationsgenetiker (O: ja) ähm von daher hab ich das schon (O: ja) in ner Phase erlebt, wo man über die Extreme schon hinaus war (O: ja) und versucht hat, dann wirklich ne Quintessenz draus zu bilden, (O: ja) also das war vor meiner Zeit, (O: ja) also das O: Ja (.) und zum Beispiel# ich meine da, was ja für die Evolution dann noch# also solche Fragen, die sich# äh die etwa damit zusammenhängen also was sind die äh Vor- und Nachteile von klonaler sexueller Reproduktion, äh also die dann zum Beispiel für Soziologen auch interessant werden können, interessiert so# finden sie das äh S: Ja äh es gibt halt viele Fragen und das ist an und für sich eins der (O: ja) Hauptprobleme der Evolutionsforschung, es gibt halt viele Fragen, die sind (O: ja) jedem Menschen, auch jedem Nichtbiologen (O: ja) eingängig, (O: ja) aber die können wir nicht beantworten,
Der Interviewer bietet Sattler einige Themenkomplexe an, die als Beispiele für jene philosophischen Fragen angesehen werden können. Ihnen ist gemein, dass sie kontrovers verhandelt werden, dass innovative Vorschläge auf dem Tisch liegen und dass verschiedene Disziplinen und Schulen an der Diskussion beteiligt sind. Sattler steigt gar nicht direkt auf die Themen ein, sondern nimmt sie zum Anlass, um etwas gerade zu rücken. Wenn er vom Hauptproblem der Evolutionsforschung spricht, meint er ein Problem der Außendarstellung und Legitimation. Die Laien teilen mit den Fachbiologen das Interesse an den grundlegenden Fragestellungen, aber sie richten viel zu große Erwartungen an die Evolutionsforschung. Es gibt viele Fragen, deren Beantwortung spannend wäre. Aber es gibt keine Mittel, um sie wirklich zu klären. Das verstehen viele Laien nicht und deshalb verstehen sie auch nicht, wie die Evolutionsforschung ihre Themenschwerpunkte setzt. Die liegen nämlich ganz wo anders. Das Hauptproblem besteht also darin, dem Laien verständlich zu machen, dass die Forschung einer eigenen Agenda folgt und dass viele zentrale Fragen dabei gar nicht die oberste Priorität genießen. Sattler ist dabei, die Autonomie der biologischen Forschung zu verteidigen, und er fühlt sich durch den Interviewer dazu provoziert. Er reagiert etwas reflexartig, als ob er schon oft mit diesen Themen konfrontiert worden wäre. Das ist etwas ungerecht, denn die Frage nach den biologischen Grundlagen des Modells der sexuellen Reproduktion ist für die Soziologie tatsächlich von maßgeblicher Bedeutung. Und da wäre eine informierte Aufklärung darüber, warum die Entstehung des sexuellen Bimorphismus nicht entschlüsselt werden kann, schon wichtig. (O: ja) das ist ne spannende Frage, (O: ja) natürlich ist es spannend zu fragen, warum gibt’s Sex, (O: ja) ja natürlich sind da zig Bücher drüber geschrieben worden (O: ja) aber wir wer-
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den das nie rausfinden, (O: ja) weil ähm und das ist natürlich zum Teil auch en Fehler, der durch die Überinterpretation und die falsche Auslegung der Darwinschen Theorie kommt, (O: ja) es gewinnt nicht immer nur der Beste, (O: mhm) ja und es können viele Formen koexistieren in der Natur, (O: mhm) und es ist wirklich nicht so, dass man wirklich immer nur bes# der Beste sein muss, um zu überleben, (O: mhm) und äh da ist natürlich dann immer ähm gerade wenn’s um die sexuelle Reproduktion geht immer die Frage, ja warum gibt’s denn dann noch so viel anderes. (O: ja) und wenn es wirklich nicht von Vorteil ist, warum gibt’s das dann überhaupt noch, (O: ja) und in der Natur existieren halt viele Formen nebeneinander und
Sattler führt die falschen Erwartungen auf eine klischeehafte Auslegung der Darwinschen Evolutionstheorie zurück, die er bei Laien verbreitet sieht. Die Annahme nämlich, dass der sexuelle Bimorphismus, also die Fortpflanzung durch Paarung und Vereinigung von Samen und Eizelle, die eine Kombination unterschiedlicher Erbanlagen und eine Pluralisierung der Variabilität einer Art ermöglicht, eine irgendwie höherwertige Lösung für das Fortpflanzungsproblem darstellen würde, und dass die Natur hier eine Strategie entwickelt habe, die anderen Formen überlegen sei. Sattler widerspricht dem gar nicht prinzipiell, aber er sieht in dieser Annahme eine schiefe Sichtweise angelegt. Vermutlich will er sagen, dass es gar nicht so sehr darauf ankommt, ob eine Strategie komplexer ist und Pluralität fördert oder nicht, wenn man erklären will, warum eine Art in der Natur überlebt. Man muss nämlich immer ihre Lebensumgebung und die Kontextbedingungen berücksichtigen, in denen sie sich reproduziert. Da kann es sein, dass eine weniger komplexe Strategie erfolgreicher ist, während eine komplexere Strategie voraussetzungsreicher und daher anfälliger ist. Es hängt ganz von den Umweltbedingungen ab. Sattler geht es also nicht darum zu bestreiten, dass die sexuelle Fortpflanzung eine Strategie darstellt, die auf Grund ihres Pluralitätseffektes eine hohe Anpassungsfähigkeit einer Art gewährleistet. Doch kann die sexuelle Reproduktion auch Probleme mit sich bringen, die eine Art in echte Schwierigkeiten bringt. Die Fortpflanzungsstrategie ist also relativ. Die Biologie interessiert sich daher viel mehr dafür, warum es so viele Arten gibt, die nicht die Strategie der sexuellen Fortpflanzung hervorgebracht haben und trotzdem existieren. Würde Darwins Lehre vom Survival of the fittest so ausgelegt, dass die gesamte Naturgeschichte darauf hinstrebt, nur die besten Arteigenschaften zum Durchbruch zu verhelfen, dann würde diese Lehre an der Wirklichkeit der Formenvielfalt im tierischen und pflanzlichen Leben längst gescheitert sein. Die Entwicklungsbiologen interessieren sich gegenwärtig viel mehr für das Gleichgewicht von Artmerkmalen, also Anaximanders „Balance“, die eine Art in den von ihr vorgefundenen Kontextbedingungen ausgebildet hat, und die Mechanismen der Anpassung, wenn sich die Bedingungen wandeln. (O: ja) ähm also zum Beispiel wir haben gerade im Wurmfeld es gibt Gott sei Dank noch einen klassischen Nematologen in Deutschland, der wirklich nur rein morphologisch mit den
404 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE Tieren, (O: ja) und das Spezialgebiet von dem Mann ist die äh Besiedelung des Kuhfladens mit Würmern, (O: ja), ja und da können sie also# wunderbares kleines Ökosystem (O: ja) entsteht zigmal auf ner Kuhwiese, (O: ja) ist in vier Wochen ist alles vorbei und sie können da halt sehen, (O: ja) wie bestimmte Wurmarten nacheinander sukzessive in diesen Kuhfladen reinkommen. O: Und das ist ein ganzes System, was S: Ist en ganzes Ökosystem, so groß und ist ein wunderbares Ökosystem O: und man kann das als Totalität sozusagen untersuchen S: Ja, (O: mhm) und sie können dann halt also wirklich sehen# und die die Würmer, mit denen wir alle arbeiten, das sind Hermaphroditen, (O: mhm) das sind Zwitter, (O: mhm) selbstbefruchtende Zwitter, die sind zuerst Männchen und werden dann Weibchen, und das sind natürlich die Arten, die am Anfang zuerst mal gewinnen, die kommen da rein und dann vermehren die sich wies Donnerwetter, (O: mhm) und wenn sie zwei Wochen später hingehen, dann sind die alle nicht mehr da, (O: mhm) dann sind die alle nicht mehr da, und dann kommen die Spezialisten, und das sind dann wieder welche, die (O: ja) sexuelle Reproduktion haben, (O: ja) und die räumen dann den Kuhfladen wirklich auf, (O: ja) und die sorgen dafür, das alles wirklich abgebaut wird, (O: ja), und im Endeffekt muss alles zusammenspielen (O: ja) und das wird halt# und solche Fragen natürlich kann man da jetzt ewige Zeiten drüber philosophieren, aber ähm es ist wirklich keine Frage, die wirklich mit naturwissenschaftlichen Methoden wirklich gelöst werden kann, die Frage, warum es Sex gibt, die wird immer da sein, (O: ja) aber die werden wir nicht wirklich lösen können. (O: ja)
Der Kuhfladen steht für einen Mikrokosmos, an dem der Biologe einen selbstregulativen Prozess studieren kann, an dem verschiedene Kleinstlebewesen beteiligt sind, deren Fortpflanzung ganz unterschiedlich organisiert ist und die hierdurch in unterschiedlichen Phasen der Zersetzung und Verwertung des Kuhfladens Vorteile haben, aber dennoch nebeneinander, miteinander existieren, ja sogar aufeinander angewiesen sind, wenn man unterstellt, dass die Besiedelung und Vermehrung der Hermaphroditen im Fladen eine biochemische Voraussetzung darstellt für die nächste Wurmart, die ihn dann aufräumt. Von einer Höherwertigkeit des einen oder anderen Modells der Fortpflanzung kann aus der Perspektive auf diesen Mikrokosmos keine Rede sein. Das erklärt natürlich nicht, warum die Frage nach dem Sex nicht zu beantworten sein wird. Es verdeutlicht aber, dass diese Frage für Sattler gar nicht so relevant ist. Sie zu stellen folgt anderen Motiven, als sie sich aus der Sicht eines Biologen ergeben, der die Natur in Gestalt eines Kuhfladens schon einmal wirklich unter die Lupe genommen hat. – Das Beispiel wird bezogen aus einer Zusammenarbeit mit einem klassischen Zoologen, der nicht auf molekularer Ebene forscht und mit dem sich Dr. Sattler offenbar freundschaftlich austauscht. Es gibt also doch solche Kooperationen. Dieser Nematologe ist aber der letzte seines Fachs. Dieser Abschnitt endet mit einer auffallenden Häufung bekräftigender Wörter dafür, dass die Frage (nach dem Sex) nicht lösbar sein wird. Das Wort wirklich wird
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geradezu beschwörend viermal verwandt. Man kann daraus erneut die sehr strikte Auslegung methodischer Validität entnehmen, aber mehr noch, dass es für Sattler eine Frage der beruflichen Lebensführung darstellt. Er will nur an Aufgaben arbeiten, deren Lösung auch tatsächlich erreichbar ist. Darin drückt sich eine Leistungsethik aus, die am reellen Ertrag der Forschungsbemühungen ausgerichtet ist. Sie ist eine Ertragsethik, die die Forschungspraxis solchen Herausforderungen widmet, die wirklich gemeistert werden können, so dass sich neue Forschungen auf ihnen aufbauen lassen. Die Frage nach dem Sex ist für Sattler nicht von dieser Art. Man kommt nicht zu einem befriedigenden Abschluss und hat nicht einmal eine Aussicht darauf. (Die Antwort auf das Warum steht nach wie vor aus, aber man kann sich denken, dass Sattler keine experimentelle Handhabe sieht.) Die Beschäftigung mit solchen Fragen wird weder abgelehnt, noch wird deren Bedeutung empiristisch geleugnet. Es wird jedoch eine klare Priorität des Handelns gesetzt. F: Meinen sie auch grundsätzlich oder nur in der gegenwärtigen Lage? S: Grundsätzlich, (O: ja) weil es halt zu vielschichtig ist, (O: ja) es gibt nicht wie in der Physik am Ende en Gesetz, das immer die Lösung bringt, (O: ja), sondern es gibt immer viele Sachen, (O: ja) die parallel laufen.
Die Nachfrage von F. unterstellt, dass es sich um ein Problem der relativen Anwendungs- und Geltungsreichweite heutiger Methoden handeln könnte, um ein Problem, das morgen vielleicht schon nicht mehr existiert. Dr. Sattler sieht die Unlösbarkeit jedoch elementarer begründet. Sie ist ein Tatbestand, der akzeptiert werden muss. Am Ende der Bemühungen wird kein theoretisches Modell stehen, das ein Gesetz formulieren könnte, das erklärt, warum sich in der einen Art die klonale Fortpflanzung und in der anderen Art die sexuellen Fortpflanzung entwickelt hat und was die generalisierbare Strukturlogik dabei war. In der Physik gibt es solche Gesetze, weil es der Gegenstand erlaubt. In der Biologie erlaubt es aber der Gegenstand gar nicht. Im Grunde sagt Sattler hier, dass man in der Biologie die Arten und ihre Lebensprozesse viel mehr in ihrer je einzigartigen Gesamtkonstellation als Resultat einer fallspezifischen Genese betrachten muss und Strukturgeneralisierungen nur eingeschränkt möglich sind. Was er genau meint, ist an dieser Stelle aber nicht zu entscheiden. Sattler zeigt in diesem Punkt eine auffällige Entschlossenheit und fast militant zu nennende Haltung. Ein spekulatives Denken über diese Sachverhalte wird doch sehr zurückgedrängt und soll unter Kontrolle bleiben. Vielleicht werden diese Fragen auch als beunruhigend empfunden. Auffällig ist jedenfalls, dass die Bedeutung philosophischer Problemstellungen für den Grundlagenwissenschaftler einerseits herausgestellt und andererseits auf deren Unlösbarkeit apodiktisch beharrt wird. Ein spekulatives Nachdenken über Elementarprobleme des Fachs kann vor diesem Hintergrund nicht mehr ungehemmt erfolgen. Angesichts dessen stellt sich die Frage, wie die Biologie spekulativ gewagte, weiter-
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führende Hypothesen noch entwickeln können sollte, wenn sie jene Fragen von vorneherein unter dem Gesichtspunkt ihrer Unlösbarkeit behandelt. O: Aber sie können doch äh äh deswegen nicht sagen, das ist keine untersuchenswerte Frage, oder? S: Äh das ist schon ne untersuchenswerte Frage, aber es wird am Ende kein Statement geben (O: ja) in Form von ner Gleichung oder nem kleinen Aufsatz von zwei drei Seiten, wo die (O: ja) Lösung des Problems gegeben wird, ja und äh und die Diskrepanz die haben wir natürlich,
Sattler beharrt auf seiner Problemsicht. Der Widerspruch (Diskrepanz) von Wünschbarem und Machbarem, methodischem Ideal und erreichbarer Präzisionstiefe bleibt unaufgelöst. Es äußert sich hier auch eine persönliche Lebenseinstellung, die uns wieder auf die Ertragsethik verweist. Aus ihr scheint sich hauptsächlich die Überzeugung zu speisen, dass die Biologie ihre Priorität in der Erforschung derjenigen Fragen setzen sollte, die mechanistisch zu lösen sind. Das wird gar nicht weiter begründet. Es richtet sich gegen die Bereitschaft, weitreichende spekulative Theoreme zu ausführlich zu diskutieren und ihnen zu großes Gewicht zu geben. Das ist tendenziell eine Verschwendung von Zeit. Alle Kraft und Energie soll auf die Einzelforschung gelenkt werden. Von einem Denkverbot, das sich die Biologen damit selbst auferlegen würden, kann aber keine Rede sein. So weit darf man nicht gehen. Sattler geht ja von jenem philosophierenden Diskurs in der Biologie wie selbstverständlich aus. Aber er nimmt hier die korrektive Gegenposition des Laborforschers ein und die wird rigide vorgetragen, ohne dass alle Motive für diese Rigidität erkennbar würden. Eine mögliche Erklärung wäre vielleicht, dass aus Sattler hier der Laborleiter spricht, der seine Mitarbeiter und Doktoranden auf den „rechten Pfad der Tugend“ führen will, der einschließt, dass man einer Verführbarkeit des Wissenschaftlers für spekulative Systeme konsequent entgegentreten muss und eine Prioritätenlehre zu vertreten hat. Es wäre aber auch denkbar, dass Sattler eine persönliche Aversion gegen bestimmte ModeDiskurse hat, die beim Publikum gut ankommen und mehr Erfolge haben, als die fachwissenschaftliche Kleinarbeit im Labor, deren Ausdeutung und Verdichtung in systematischen Großtheorien im Grunde ständig hinter der Einzelarbeit hinterherhinkt, und die deshalb Schwierigkeiten hat, genau zu erklären, was gerade geschieht, obwohl das viel mehr von nachhaltiger Substanz und Präzision im Detail geprägt ist, als jene Diskurse. Aber wirklich befriedigend sind weder die eine, noch die andere Deutung. Es bleibt etwas rätselhaft. Ein neues Stadium der Professionskultur (O: ja) man kann gerade in der Evolutionsbiologie Kataloge aufstellen von tausenden Fragen, (O: ja) über die man sich ewige Zeiten äh (O: ja) unterhalten oder diskutieren kann, aber die kann man nicht mechanistisch (O: ja) lösen, (O: ja) ja und vieles, was wir heutzutage natürlich machen in der in der Wissenschaft und das ist an und für sich auch der Grund, warum die
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Biologie im Moment so populär ist, (O: ja) ist dass wir die Fragen rausgesucht haben, die man mechanistisch (O: ja) lösen kann (O: mhm) und bis zum Ende durchziehen kann, (O: mhm) und das ist an und für sich der große Erfolg und das ist auch der Grund, warums jetzt diese Biotechnologie und diese ganzen (O: ja) Start-up-Firmen gibt, (O: ja) weil halt jetzt auf einmal zum ersten Mal man wirklich wie in der Chemie auch Sachen mechanistisch lösen kann, (O: ja) damit löst man nicht alle Probleme der Biologie, will man auch nicht, (O: ja) aber aber doch immerhin einige.
Im Grunde bestätigt Sattler unsere Deutung, dass er sehr stark von einer Ertragsethik angetrieben wird. Er sieht seine Haltung in einer Transformation der Biologie begründet, die mit der Etablierung der molekularbiologischen Methoden einhergegangen ist. Die großen Theorieentwürfe, die eine elementare Frage des Fachs zu lösen versprechen oder auch nur eine Bresche zu schlagen versuchen, stehen heute nicht im Zentrum. Es geht vielmehr darum, die Potentiale der neuen Methoden konsequent auszuschöpfen. Und das führende Prinzip dabei ist die Aussicht auf die „mechanistische“ Lösung von Problemen. Das hat eine epistemische Seite und eine arbeitstechnische Seite. Das, was man untersucht, versteht man genau, man kann es methodisch kontrollieren. Die neuen Verfahren erlauben außerdem, Arbeitsschritte besser abzuschätzen, die bis zum Abschluss eines Projektes durchgeführt werden müssen, daher lassen sich Projekte besser planen und leichter kalkulieren. Das hat die Ertragsaussicht erhöht und eine hohe Dynamik ausgelöst, die bei den Forschern die Erwartung geweckt hat, dass man über den Umweg der Erforschung überschaubarer Arbeitsgebiete im ganzen weiter kommt, als wenn man sich mit den großen spekulativen Fragen direkt beschäftigt. Das hat auch viele Nachwuchswissenschaftler angelockt, was die Dynamik zusätzlich erhöht hat. Zugleich hat die hohe Dynamik zusammen mit der arbeitstechnischen und zeitökonomischen Kalkulierbarkeit von Projekten auch das Interesse von Unternehmern für die Biologie geweckt. Die Biologie ist dabei, sich als akademisches Fach enger mit der wirtschaftlichen und kommerziellen Sphäre zu verbinden, in ihrem Rücken hat sich eine biotechnologische Industrie und Geschäftsbranche aufgebaut, die wiederum ein starkes Interesse an ihrer Entwicklung als Forschungs- und Lehrfach zeigt. Die Biologie rückt damit zur Chemie auf, der dieser Schritt schon im 19. Jahrhundert gelungen war. Es hat sich herumgesprochen hat, dass es Potentiale für die Bearbeitung praktischer Bedürfnisse durch biotechnologische Verfahren gibt. Man kann die Forschungsergebnisse für die Entwicklung von marktförmigen Produkten nutzen. Das hat unternehmerischen Geist und Investitionskapital angezogen. Die Biologie ist heute eine Wissenschaft, mit der sich die Erwartung auf neue Märkte und Innovationen verbindet. (Das gilt natürlich immer noch, auch wenn man hinzufügen muss, dass Sattler dies 2001 sagt, also kurz vor dem Zusammenbruch des sogenannten Neuen Marktes. Viele der Start-up Firmen der Biotech-
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nologie-Branche, deren Aktien damals gehandelt wurden, gibt es heute schon nicht mehr.) Es ist interessant, wie Sattler hier die Zusammenhänge und Ursachen deutet. Am Anfang stand in seinen Augen die Entscheidung der Biologen, aus dem „Katalog der tausend Fragen“ diejenigen Fragen rauszusuchen, die man mechanistisch lösen kann. Das hat eine bestimmte „ertragsethische“ Forschungskultur nach sich gezogen, die stärker auf das belastbare Resultat konzentriert ist, die Umsetzung dieser Entscheidung hat der Welt gezeigt, wie leistungsfähig das biologische Labor geworden ist und dass man diese Leistung kalkulieren und für praktisch-technologische Problemstellungen nutzbar machen kann. Dem ist die Kapitalisierung der Bioindustrie nachgefolgt. Nicht die philosophischen Debatten haben der Biologie also ihren Aufschwung verschafft, sondern jene Methoden und ihre ertragsorientierte Ausschöpfung im Laboralltag. Das hat eine neue Professionskultur begründet, deren Kind Sattler ist und mit der er sich rückhaltlos identifiziert. Von der Euphorie des Anfangs zur Disziplin einer reifen Wissenschaft - Die Neurowissenschaft als Konkurrent O: Sie ham ja noch einen großen Konkurrenten momentan, das sind die äh ganzen Neurowissenschaften äh was so (S: ja) (.) und da hat man ja so den Eindruck, da sind also sozusagen die bildgebenden Verfahren der entscheidende Motor und jetzt wird erst mal ums mal etwas salopp äh auszudrücken doch stark auch rumgeballert nich (.) oder
Das Thema findet insofern eine Fortsetzung, als die Neurowissenschaften ein anderes hochdynamisches Forschungsgebiet innerhalb der Lebenswissenschaften sind, das von den neuen Methoden stark profitiert hat. In beide Fächer fließen viele Forschergelder, es gibt relativ viele Projekte und Stellen, viele Nachwuchswissenschaftler drängen in diese Fächer und beide erfahren über die Fachöffentlichkeit hinaus große Beachtung für ihre Debatten und Befunde. Auch eine kommerzielle Industrieforschung begleitet beide Fächer. Die Neurowissenschaften sind vielleicht noch mehr als die Evolutionsbiologie in einen öffentlichen Diskurs involviert, in dem über die Grundlagen unseres Verständnisses des menschlichen Geistes, der Willensfreiheit oder über ethische Fragen nach dem Machbaren und Erlaubten in der Biotechnologie, der Grundlagenforschung und in der Reproduktionsmedizin diskutiert wird. Von einem Konkurrenten kann man also sprechen sowohl was die Finanzmittel, als auch was die öffentliche Rolle als einer Leitwissenschaft anlangt. Die „bildgebenden Verfahren“ haben einen großen Schub ausgelöst. Man versteht darunter technologische Verfahren, die bestimmte Strukturen z.B. im menschlichen Körper oder in Kristallen oder in Galaxien, die normalerweise nicht sichtbar sind, mit Hilfe von Farbkontrasten oder Helligkeitswerten visualisieren. Bildgebende Verfahren machen sich Infrarotstrahlung, Licht, Radar, Röntgenstrahlen
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oder Radioaktivität zunutze und übersetzen Messdaten in einen Darstellungsmodus, der vom menschlichen Auge studiert werden kann. Ältere Beispiele der Bildgebenden Verfahren sind die photographischen Techniken oder die konventionellen Röntgenaufnahmen. Zu den neueren Verfahren zählen die Sonographie, die auf Schall und Ultraschall beruht, die Infrarotspektroskopie und Thermographie, die (Mehrschicht-)Computertomographie und Magnetresonanztomographie sowie die Kernspinresonanz oder die Positronen-Emissions-Tomographie, die auf Radioaktivität aufbaut. Das Wort rumballern legt nahe, dass diese Verfahren eine Euphorie ausgelöst haben, als man erkannte, wie groß ihr Einsatzspektrum ist. Es wird vieles ausprobiert und mehr oder weniger „wild“ geforscht. Das heißt, es gibt eine Vielzahl von Projekten und Ideen. Aber das Ganze folgt noch nicht einem systematisierten Forschungsprogramm, ist nicht immer von theoretisch reflektierten Hypothesen und ihrer Prüfung geleitet. Jeder versucht auf interessante Befunde zu stoßen und man hat sich in die Aktivitäten mehr oder weniger enthusiastisch hineingestürzt. Es wird hier die Frage berührt, wodurch ein Fach eigentlich zu einer systematischen und disziplinierten Forschung findet, wenn es einen Durchbruch dieser Art geschafft hat, der mit einer raschen Zunahme an Chancen und Erwartungen einhergeht. S: Ja aber das macht man natürlich überall, ich mein das ham wir ja jetzt auch in der Genomforschung, ich mein da ist auch (O: ja) äh jetzt mal zuerst investiert worden (O: ja) und wir sind natürlich als Biologen immer in ner Phase, wo man Daten sammelt, (O: ja) in riesigen Mengen Daten sammeln, (O: mhm) und äh das tun die Neurobiologen genauso wie wir auch, (O: ja) also da seh ich keinen großen keinen großen
Für Sattler ist daran also nichts Ungewöhnliches. Er sieht es auch nicht als Spezifikum der Neurowissenschaften. Die neuen Verfahren haben Investitionen notwendig gemacht, man hat die Technologien und Apparaturen in den Labors angeschafft und sich dann daran gemacht, eine hohe Durchlaufquote zu erreichen. Sattler deutet selbst an, dass die riesigen Mengen Daten nicht immer von einem konkreten Forschungsinteresse geleitet gesammelt werden. Aber das ist in seinen Augen ganz normal. Es gibt immer einen Überhang der empirischen Datenerhebung, die Interpretation und theoriebezogene Auswertung hängt stets hinterher. Und es kann auch nicht immer exakt vorhergesagt werden, ob die Datenmengen wirklich theoretisch relevant sein werden und wofür. Implizit bringt Sattler hier die Freiheit des Empirikers zur Geltung, der sich für seine Datenerhebung nicht rechtfertigen will. Die Datenerhebung ist von der Neugierde geleitet. „Rumballern“ ist also viel zu pejorativ. Sattler lässt sich auch nicht gegen die Neurowissenschaftler „ausspielen“. Das Thema Konkurrenz wird gar nicht weiter aufgegriffen. Das Datensammeln folgt nicht gradlinig den Regeln des Fallibilismus, sondern liefert Material, an dem sich der Fallibilismus allererst entfalten kann.
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Gründe für den Durchbruch in der Entwicklungsbiologie O: Ja (..) würden sie ganz# also die Entwicklung# die Entwicklungslogik ist sozusagen ne ähnliche ja (.) worin die sich befinden S: Ähm nee nicht nicht ganz, weil sie haben natürlich ähm in der# die Entwicklungsbiologie war ewige Zeiten zurück, (O: ja) und zwar deshalb, weil es keine Methodik gab, mit der man wirklich die interessanten anstehenden Fragen wirklich angehen konnte, (O: ja) die Genetik ist die Lösung, (O: ja) und das war der Grund für den Nobelpreis 95, das war der (O: ja) technische methodische Ansatz, (O: ja) ähm das Problem durchzuziehen und ist auch an die drei richtigen Leute gegangen, die das wirklich äh durchexerziert ham, die Neurobiologen haben dann
Sattler geht von vergleichbaren Entwicklungsstadien aus, die allerdings versetzt zueinander in Gang gekommen sind. Die Genetik ist für die Entwicklungsbiologie, was die bildgebenden Verfahren für die Neurowissenschaften waren, die er aber schon weiter fortgeschritten sieht. Der Entwicklungsschub in der Biologie kam erst später. Erst die Genetik hat dem Fach ermöglicht, dass man wirklich die interessanten anstehenden Fragen... angehen kann. Sie hat eine systematisch-planmäßige, in alltäglicher Laborarbeit organisierte Forschung erlaubt. Den Durchbruch haben Forschungsarbeiten einzelner Wissenschaftler gebracht. Sie haben die Genetik für die Fragen ihres Faches fruchtbar gemacht, und zwar weniger die Genetik als theoretisches Grundlagenwissen, denn dass die Evolution der Arten durch eine Veränderung (Mutation etc.) der Gene sich vollzieht, war seit langem Konsens. Die Leistung bestand vielmehr darin, die methodischen Instrumente der Genetik für die evolutionsbiologischen Fragestellungen in Anschlag gebracht und gezeigt zu haben, dass man wirklich damit arbeiten kann. (Sattler schildert die Hintergründe gleich noch etwas genauer.) Für diese Leistung ist der Nobelpreis vergeben worden, und zwar an Leute, die das wirklich durchexerziert haben. Es hatte vorher also keiner geglaubt, dass das möglich wäre und es hatte niemand gewagt, seine Karriere darauf zu verwetten. Es war eine Pionierleistung. Die Nobelpreisträger hatten konkrete Untersuchungsideen konzeptionell entworfen und sie gegen Widerstände und Risiken erfolgreich durchgeführt. Und das hat dem ganzen Fach eine neue Perspektive gegeben. Der Nobelpreis vollzieht eine offizielle Anerkennung dieser Leistung.12 Er ist auch an die drei richtigen Leute gegangen. Das heißt, er beinhaltet in Sattlers Augen eine richtige Rekonstruktion wissenschaftshistorischer Verdienste. Wie selbstverständlich nimmt Sattler aber ein unabhängiges Urteil in Anspruch. Das Nobelpreiskomitee, so wird unterstellt, kann auch daneben liegen und hat auch schon öfters die falschen geehrt. 12 Nobelpreis für Medizin 1995 an Edward Lewis, Christiane Nüsslein-Volhard und Eric Wieschaus “for their discoveries concerning the genetic control of early embryonic development”, so die offizielle Begründung des Nobelpreis-Komitees.
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Darin wird ein interessanter Unterschied deutlich zwischen dem offiziellen Reputationssystem, das sich in Preisen, Auszeichnungen, Ehrungen manifestiert und auch Außenwirkung in die allgemeine Kulturöffentlichkeit hinein hat, einerseits, und dem informell bleibenden, internen Reputationssystem, andererseits, das auf der Einschätzung des fachkundigen Wissenschaftlers beruht, der sich viel näher am Geschehen weiß und deshalb auch den Preisentscheid einer Jury hinterfragen kann. Es gibt also die offizielle Nobelpreisjury, die für die Profession und die Öffentlichkeit Ehrungen institutionalisiert und dabei auch Fehler machen kann, und eine unsichtbare Jury, die letztlich die Profession selbst ist. O: Ja und wenn man das dann# Entschuldigung wenn ich da noch grad noch# die das durch äh also dieses Kriterium an die richtigen Leute gegangen, ist das# jetzt muss man das eher drauf zurückführen, dass die äh gewissermaßen das auf der methodentechnischen Ebene richtig gemacht haben, oder hängt damit auch zusammen, dass sie gewissermaßen doch in einen größeren Zusammenhang auch einordnen konnten. S: Ja, ja, also die# der eigentliche Hauptnobelpreis das sehen wir natürlich in Deutschland jetzt en bisschen anders, (O: ja) aber der eigentliche Preisträger war Ed Lewis, (O: ja) ähm der noch aus der ganz alten Drosophila-Schule am (uv) (O: ja) äh mit Thomas (uv) der ja auch den Nobelpreis bekommen hat, (O: ja) und er also Ed Lewis war der erste, der Genetik eingesetzt hat, um entwicklungsbiologische Fragen zu analysieren, (O: mhm) ist in Amerika nie sehr berühmt gewesen, (O: mhm) hat schlecht publiziert, hat mit Müh und Not publiziert, weil die Leute das nie geglaubt haben, (O: ja) und ähm so viel anders wars für Frau Nüsslein dann auch nicht, ich mein sie hat dann gesagt, okay, wir können diese lang bestehende Frage (O: mhm) lösen, wenn wir hier jetzt genetische Methoden zugrunde legen, (O: mhm) und ?da ham die gesagt? das funktioniert nie
Sattler gewichtet zunächst die persönlichen Anteile am historischen Verdienst, also Differenzen, die sich im Nobelpreis selbst nicht widerspiegeln und dem Laien unbekannt bleiben. Ed Lewis kommt das Verdienst zu, als erster den eigentlichen Durchbruch gewagt zu haben. An der Kluft zwischen seiner realen Leistung und seiner zeitgenössischen Reputation zeigt sich, dass ihn seine Überzeugung zunächst in eine relative Isolation geführt hatte. Dieses Schicksal teilt er mit vielen Innovatoren des Wissenschaftsbetriebs, die sich gegen den Unglauben ihrer Zeitgenossen durchsetzen müssen. Lewis war dabei mehr oder weniger auf sich alleine gestellt, ein Außenseiter, der erst spät Anerkennung erfahren hat. Frau Nüsslein-Volhard hat durchaus ähnliche Erfahrungen mit dem Unglauben ihrer Kollegen machen müssen. – Es wird am Rande noch eine weitere Differenz erkennbar, nämlich dass man den Anteil von Nüsslein-Volhard in Deutschland höher einschätzt, als anderswo. Sattler sieht zwar Lewis als den Hauptpreisträger, weil er als erster die Genetik überhaupt angewandt hatte, aber Frau Nüsslein-Volhard hat in der Entwicklung eine ebenso
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bedeutende Rolle gespielt, weil sie sich auf Basis dieser Vorleistung von Lewis eine konkrete Fragestellung herausgegriffen hatte und diese gelöst hat. O: Also das Entscheidende war die Koppelung der Methoden S: Die Koppelung der Methoden und zu sagen, wenn wir uns (O: ja) also die Embryonalentwicklung von Drosophila ist äh 24 Stunden, nach 24 Stunden schlüpft die Larve, was sie verstehen wollte waren die ersten paar Stunden, (O: ja) aber was sie gemacht hat, sie hat nach Mutanten gekuckt, wo nicht Defekte nach den ersten paar Stunden auftreten, (O: mhm) sondern erst, wenn die Larve schlüpft, (O: mhm) und die Logik dafür war die zu sagen, wenn ich (O: mhm) halt irgendetwas was ich brauche, damit der Metabolismus funktioniert, (O: mhm) wenn ich das ausschalte, dann krieg ich ganz neuen Defekt, (O: mhm) ja schon nach zwei Stunden ist das Ei am Ende, (O: mhm) ist klar ja wenn ich keine Ressourcen mehr verarbeiten kann bin ich ganz früh (O: ja) am Ende, das will ich ja nicht, (O: ja) sondern ich will ja wirklich die Sachen machen, die die Muster gut bestimmen
Was ist das gedanklich Neue gewesen? Die Forschungen schlossen an die uralte Frage an, wie sich ein Lebewesen aus einem befruchteten Ei in seine komplette Gestalt entwickelt. Wie wird aus etwas sehr einfachem, das winzig klein ist und denkbar wenig Masse und Struktur besitzt, etwas so komplexes, wie es ein lebendiger Organismus mit seinem Körperbau, seinen inneren Organen und verschiedenen Funktionsbereichen ist. Man wollte also den embryonalen Wachstumsprozess verstehen, der zwischen der Befruchtung des Eis und der ausgereiften Gestalt eines Lebewesens liegt.13 Für die moderne Biologie stellt sich dieses Rätsel als Frage danach, wie sich aus dem befruchteten Ei Zellkerne und aus den Zellkernen ganze Zellen entwickeln, die sich dann aus ursprünglich totipotenten und pluripotenten Zellen weiter differenzieren zu verschiedenen Zelltypen, die unterschiedliche Funktionen haben, Knochen-, Muskel-, Nerven-, Haut- oder Herzzellen zum Beispiel. Woher wissen Zellkerne, zu welchem Zelltyp sie sich entwickeln sollen, in welchen Mengen sie sich vermehren müssen und wie sie sich anzuordnen haben? Man wusste in der Genetik schon seit einiger Zeit, dass die Gene selbst diesen Wachstumsprozess gar nicht erklären. Sie halten zwar die Steuerungsinformationen bereit, die dazu führen, dass sich ein Lebewesen zu dem entwickelt, was es ist, und nicht zu einem anderen. Aber wie innerhalb der Embryogenese die Zellen erkennen, zu welchem Typ und zu welcher Funktion sie sich weiterentwickeln sollen, kann mit Hinweis auf die Gene nicht erklärt werden. Jede Zelle eines Lebewesens ist dieselbe Erbinformation eingeschrieben. Man ist deshalb schon um 1900 zu der Überlegung gelangt, dass es bestimmte Stoffe geben müsse, Morphogene genannt, die während des Vermehrungsprozesses auf die Zellen oder Zellkerne einwirken und 13 Vgl. Nüsslein-Volhard, Christiane: Gradienten als Organisatoren der Embryonalentwicklung, in: Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1996.
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sie darin steuern, wie sie sich weiterentwickeln sollen. Diese Signalmoleküle lagern sich im Zellplasma oder um die Zellkerne herum ein und wirken auf sie, indem sie von den Genen spezifische Reaktionen abrufen, die dann ihrerseits bestimmte Folgeprodukte aussenden, welche die eigentlichen Wachstumsprozesse steuern. Es handelt sich um ein Kaskadenmodell. Theodor Boveri (1862-1915), der die Chromosomentheorie begründete, hat diesen Gedanken dahingehend präzisiert, dass es nicht beliebig viele morphogene Signalstoffe geben könne, sondern dass es vor allem die jeweilige Konzentration, also Mengenverteilung eines Morphogens im Körper ist, die dafür sorgt, dass sich die Zellen in differente Richtungen weiterbilden. Die Zellen antworten auf verschiedene Konzentrationsgrade im Körperinneren mit unterschiedlichen Folgeprozessen, die dann auf eine gewünschte Struktur hinführen. Wie genau diese biochemischen Prozesse ablaufen, wie sich die Stoffe aufbauen und ihre Menge an einer bestimmten Lokalität des Körpers stabil genug bleibt, damit die gewünschte Wirkung tatsächlich in verlässlicher Weise erzielt wird, blieb aber lange unklar. Hier kam die Taufliege Drosophila melanogaster ins Spiel. Dieses etwa drei Millimeter große Tier war labortechnisch vergleichsweise früh erschlossen worden. Es gibt etwa 1.500 Arten der Taufliege, von denen die schwarzbäuchige Taufliege seit 1910 im Labor gezüchtet und seitdem in der Genetik als Modellsystem für die Erforschung der Anordnung der Gene und der Chromosomen des Genoms untersucht worden war. Das Tier lässt sich im Labor leicht und schnell reproduzieren, hat viele Nachkommen, und wenn diese aus Kreuzungen hervorgehen, hat man einen hohen Pluralisierungseffekt, der es erlaubt, systematisch nach Mutanten Ausschau zu halten. Das Tier ist molekularbiologisch leicht zu untersuchen und kann erfolgreich gentechnisch moduliert werden. An Drosophila melanogaster wurden erstmals Morphogene entdeckt und genauer untersucht. „Genetische Untersuchungen an Mutanten haben sich bei der Aufklärung vieler Stoffwechselwege und regulatorischer Prozesse in Bakterien und Pilze als sehr leistungsfähig erwiesen. Vor zwanzig Jahren (ca. 1975, d.A.) haben Eric F. Wieschaus ... und ich diesen Ansatz auf Drosophila ausgedehnt: Wir suchten nach Genen, die die Entwicklung der segmentierten Gestalt der Larve kontrollieren. Diese Made ist mit etwa einem Millimeter Länge verhältnismäßig groß und aus wohldefinierten sich wiederholenden Einheiten, den Segmenten, aufgebaut, die innerhalb von nur 24 Stunden differenziert sind. Ihre Gestaltmerkmale geben dem Forscher entscheidende Hinweise, um Mutationen und experimentell ausgelöste Anomalien, die das Entwicklungsmuster beeinflussen, zu erkennen und zu interpretieren.“14 Wenn man sich für die molekularen und zellulären Vorgänge im frühen Stadium des Körperwachstums interessiert, dann muss man versuchen, einzelne Gene, die die Embryogenese steuern, zu identifizieren. Das macht man über den Vergleich zwischen Mu14 Nüsslein-Volhard (1996) S. 40.
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tanten und Normaltier. Aber welche Mutanten sind die richtigen und führen die Forscher weiter? Das ist die entscheidende Frage. Nicht in Frage kommen Mutanten, wenn deren Veränderungen zu früh in der embryonalen Entwicklung einsetzen und der Stoffwechsel (Metabolismus) gestört wird, denn dann gehen die Tiere zu früh ein. Man musste also nach Mutanten Ausschau halten, die erst später ihre Veränderungen ausprägen, wenn die körperliche Gestalt in der Embryoentwicklung bereits fortgeschritten ist. Von Interesse ist nämlich, welche elementaren Prozesse den Zellen signalisieren, wo im Körper vorne und hinten ist und entsprechend der Kopf oder das Hinterteil ausgebildet werden muss. Hatte man Mutanten zum Beispiel mit zwei Köpfen oder zwei Hinterteilen gefunden, konnten über die andersartige Gensequenz das nicht defekte Gen im Normalmodell identifiziert und dann gezielte Forschungen zu seiner Funktionsweise angestellt werden. „Durch die Untersuchung von Mutanten haben Forscher in verschiedenen Labors insgesamt 30 Gene entdeckt, die im mütterlichen Organismus aktiv sind und deren Produkte in spezifischer Weise zur räumlichen Organisation des Embryos beitragen. Nur drei dieser Gene codieren für Signalstoffe, die die Anordnung der Strukturen entlang der Längsachse festlegen, also zwischen vorderem (anteriorem) und hinterem (posteriorem) Ende. Jedes der drei molekularen Signale ist im frisch abgelegten Ei an bestimmter Stelle lokalisiert und lässt einen anderen morphogenetischen Gradienten (ein Morphogen, d. A.) entstehen. Dabei hat das Morphogen seine maximale Konzentration jeweils am Ort des entsprechenden Signals. Von diesen drei mütterlichen Signalen kontrolliert eines den vorderen Teil des befruchteten Eis, aus dem Kopf sowie Brustregion (Thorax) hervorgehen, ein anderes den hinteren Teil, aus dem sich der Hinterleib (das Abdomen) entwickelt, und das dritte schließlich die beiden Polregionen, aus denen Akron und Telson, Strukturen an den beiden äußersten Enden der Larve, entstehen.“15 Entscheidende Bedingung des Gelingens ist also die richtige Wahl der Mutanten. Man muss wissen, wonach man suchen muss. Dr. Sattler nennt das den entscheidenden philosophischen Aspekt. Damit ist nicht eine elementare Fragestellung gemeint, sondern ein operativer Zugang zum Untersuchungsfeld, der Approach, der den Erfolg bringen soll. Unter dem philosophischen Aspekt ist hier der Grundgedanke des Ansatzes zu verstehen, in sich etwas Spekulatives, das aber nicht den propositionalen Gehalt einer Hypothese bezogen ist, sondern darauf, wie man die Forschung ansetzen muss. Gute Ansätze sind Wegbeschreibungen ins empirische Material. O: Bei Chromosomendefekten hätte es nie evolutive äh Entwicklungen gegeben, die wären ja schon gleich ausgeschieden dann oder S: Zum einen mal das, (O: ja) zum zweiten mal gibt’s Hunderte von Mutanten, die denselben Phänotyp haben, also sie brauchen im Metabolismus so viele Komponenten, (O: ja) ja und äh 15 Nüsslein-Volhard (1996), S. 40 und 41.
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sie hat also gesagt, die (O: mhm) entscheidenden Komponenten, die bestimmen, wo vorne und hinten ist und wo oben und unten ist, (O: mhm) die werden zwar durch diese frühe Phase durchkommen, die sehen am Ende aber falsch aus, (O: mhm) ja das war der entscheidende philosophische Aspekt dabei, (O: mhm) und da hat die ganze Welt gesagt, das funktioniert nie, (O: mhm)
Aus dem Text lässt sich nicht restlos aufklären, was Sattler genau meint. Er schildert hier die Überlegungen, die Frau Nüsslein-Volhard im Vorfeld ihrer Forschungen angestellt hatte. Es geht immer noch darum, welche Mutanten geeignet sind. Offenbar ist Nüsslein-Volhard von einer Negativ-Bedingung ausgegangen. Man muss zunächst berücksichtigen, dass man Mutanten hat, deren Metabolismus sie lange genug leben lässt, damit sie überhaupt in Frage kommen. Aus diesen muss man aber solche Mutanten auswählen, die nicht die richtigen, sondern falsche oder umgekehrte Wachstumsprozesse zeigen. Dort, wo normalerweise Vorne und Hinten, Oben und Unten ist, ist es bei den entscheidenden Mutanten nicht so eindeutig oder Hinten ist sogar Vorne, Unten ist Oben. Also musste man sich diese Mutanten heraussuchen, bei denen die morphologische Gestalt verändert war. Dass die am Ende falsch aus(sehen), war eine hypothetische Annahme, eine Vermutung von Frau Nüsslein-Volhard, auf die sie aber ihr Forschungskonzept gestützt hat. Und da haben viele Kollegen gesagt, dass dieses Konzept nicht aufgehen wird. ja und äh das Feld, was wir jetzt bearbeiten bei der Vulva, das war ne ähnliche philosophische Fragestellung, also das Labor, in das ich gegangen bin der Mensch hat sich andere Mutanten rausgesucht (O: mhm) als die als die andern Leute und da gabs auch ne also bei den (.) wir studieren die Vulvaentwicklung und bei der Vulvaentwicklung wollte man dann wissen, welche Gene machen die Vulva, und also hat man nach Mutanten geschaut, in denen es keine Vulva mehr gibt, (O: mhm) und da gabs dann zwei große Gruppen, die einen hatten nur keine Vulva mehr und der Rest des Tieres war okay, (O: mhm) und die anderen hatten keine Vulva mehr, aber da fehlten auch andere Sachen, (O: ja), und das war dann auch so ne grundsätzliche philosophische Frage, welches sind jetzt die richtigen, (O: ja) und da sind wirklich wieder zwei Denkschulen aufeinander getroffen, und der Mensch bei dem ich# der hat gesagt, die die auch andere Defekte haben sind die richtigen, (O: ja) und da hat sein Chef, der wirklich weltberühmt ist, kurz vorm Nobelpreis steht, gesagt, nee dann nehmen se nur, (O: ja) das sind die falschen, (O: ja) und er hat äh recht gehabt, es waren die richtigen (O: ja) und ähm (.) aber das sind dann oft die Sachen, das kann man nicht vorher sehen.
Sattler schildert eine parallele Situation in seiner eigenen Forscherlaufbahn und das berührt auch die Frage, wie er zu seinem eigenen Forschungsprogramm gekommen ist. Er untersucht mit seinem Team nicht die beiden Wurmarten im Ganzen, sondern er hat sich ein bestimmtes Funktionssystem innerhalb der Wurmorganismen herausgegriffen, das ist die Vulva, also das äußere weibliche Geschlechtsorgan bzw.
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seine Entwicklung. Er hat also nochmals eine Reduktion der Komplexität innerhalb des Modellsystems vorgenommen. Ursprünglich war er in einem Forschungsinstitut, wahrscheinlich meint er Amerika, als Mitarbeiter. Sein damaliger Projektleiter hatte bereits ähnliche Fragestellungen und arbeitete mit Nematoden. Auch er war bekannt dafür, dass er bei der Auswahl der Mutanten alternative Wege einzuschlagen bereit war. Offenbar hatte sich die Fokussierung auf die Vulva schon dort ergeben. Es gab nun prinzipiell zwei Gruppen an Mutanten zur Auswahl. Beide hatten keine Vulva ausgebildet, was für eine Veränderung der verantwortlichen Gene sprach, die man daher rekonstruieren konnte. Die eine Gruppe hatte aber zusätzliche Veränderungen, während die andere Gruppe ausschließlich ein Fehlen der Vulva aufwies. Sattler musste nun entscheiden, in welche Mutantengruppe die Hauptarbeit zu investieren war. Sattler war auf Intuition und Einschätzung angewiesen, aber er hat sich auch Rat bei erfahrenen Leuten gesucht, der dann jedoch nicht einheitlich ausgefallen ist. Sein unmittelbarer Projektleiter und Mentor hat ihm geraten, die Mutanten zu wählen, die keine zusätzlichen Veränderungen aufweisen. Es gab aber auch den gegenteiligen Rat des „weltberühmten Chefs, der kurz vor dem Nobelpreis steht“. Auch unter den erfahrenen Wissenschaftlern herrschte keine einheitliche Meinung. Intuition stand gegen Intuition, Ratschlag gegen Ratschlag. Der Vorgang unterstreicht, dass die Entscheidung wirklich krisenhaft war und von Sattler selbst in die offene Zukunft hinein getroffen werden musste. Er musste sich letztlich auf seine eigene Nase verlassen. Der Sache nach ist er aber einem der beiden gefolgt. Es ist sprachlich jedoch nicht klar zu entscheiden, wenn er meint. Wer hat im Nachhinein „recht gehabt“? Es können beide Lesarten entwickelt werden. Das Personalpronomen „er“ in und er hat äh recht gehabt, es waren die richtigen kann sowohl auf den Chef, als auch auf den Projektleiter bezogen werden. In diesem Zusammenhang fällt der interessante Begriff „Denkschule“. Denkschulen beschreiben gewissermaßen Routinen für solche krisenhaften Situationen der offenen Entscheidungsfindung. Denkschulen folgen einer bestimmten Erfahrung und gewissen Regeln oder Prinzipien, die sich in vergleichbaren Situationen bereits bewährt haben, ohne dass man allerdings schon weiß, ob sie auch im vorliegenden Fall übertragbar sind. Einer Denkschule zu folgen heißt, sich auf Prinzipien zu verlassen, die von partikularen Erfahrungen und Dispositionen getragen werden, ohne dass man dies rational begründen könnte. Sie sind insofern Teil einer Habitusformation. Unterschiedliche Denkschulen deuten insofern auf Habitusdifferenzen hin. Ein einfaches Beispiel für den Unterschied zweier Denkschulen: Man fährt auf der Autobahn und hört im Radio eine Staumeldung. Welche Reaktion ist nun die beste, zeit- und nervensparende? Es gibt Leute, die grundsätzlich von der Autobahn abfahren und die Landstraße nehmen, während andere Fahrer ihr Auto lieber in den Stau hinein steuern, weil sie auf dessen Auflösung setzen. Dabei spielen habituelle Präferenzen eine Rolle. Die einen rechnen damit, dass sie schneller sein werden, wenn sie den Stau umfahren; sie vertrauen
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auf die Realistik der Staumeldung des Radios und darauf, dass die Umgehungsstraßen noch frei sind; sie wollen mobil bleiben, mögen Warten nicht und das Gefühl des Vorwärtskommens ist ihnen wichtig. Die anderen rechnen damit, dass auch die Landstraßen verstopft sein werden, weil viele Autos auf Ausweichstrecken abfahren, und nehmen lieber das Abwarten im Stau in Kauf. Sie spekulieren auf den Effekt der Zeitverzögerung, weil sich ein Stau in der Realität oft bereits aufzulösen beginnt, wenn er im Radio gemeldet wird. Er kann aber natürlich bereits noch länger geworden sein. Letztlich weiß man immer erst hinterher, welches Kalkül richtig war, und oft findet man es gar nicht heraus, weil man nur eine Option hat prüfen können und die andere mit ihr nicht verrechnen kann. Es lassen sich also keine eindeutigen Erfahrungswerte bilden. Da die Bedingungen von Stau zu Stau unterschiedlich sein können, kann man außerdem nicht bilanzieren, welche Denkschule auf Dauer gesehen besser fährt. Der Aufwand einer solchen wissenschaftlichen Bilanz ist für den Normalfahrer viel zu groß. Gleichzeitig kommt die Situation jedoch so oft vor, dass Autofahrer eine Routine brauchen, die ihnen sagt, wie sie sich verhalten sollen und die sie von der Ungewissheit in der Entscheidungssituation entlasten. Autofahrer bilden daher Präferenzen für die eine oder andere Vorgehensweise und diese Präferenzen beruhen keineswegs alleine auf rationalen Überlegungen, Wissen und Erfahrung. Sie haben auch viel mit der Persönlichkeit eines Fahrers zu tun. Denkschulen in der Wissenschaft sind ein großes Thema und noch viel zu wenig untersucht. Auch hier sind sie Routinen für die Bewältigung wiederkehrender Entscheidungssituationen und es fließen in sie Präferenzen ein, die auf individuellen Erfahrungen und Vorlieben beruhen, von denen man aber nicht weiß, ob sie auch im vorliegenden Fall tragen werden. Gleichwohl sind sie Gegenstand von Reflexion und Überlegung. Der Wissenschaftler weiß doch ungleich besser, dass er es mit einer ungewissen Entscheidung zu tun hat. Er versucht sich Rechenschaft abzulegen, Rat einzuholen und die Erfahrung anderer nutzbar zu machen. Raten und Ahnen O: Also da wären wir wieder beim Raten, wenn wir das Raten mal S: Raten ja nee, wenn sie den jetzt fragen, sagt der nee, das hab ich ihnen ja vorher sagen können ähm (O: ja) beide (.) beide Ansichten sind plausibel gewesen, (O: ja) jeder hatte ne andere (.) (O: ja) Begründung dafür, aber (O: wenn wir jetzt mal) irgendwo kann man sagen, es war geraten
„Raten“ wird als Beschreibung zunächst abgelehnt, weil Sattler den Begriff offenbar mit einem blinden Glücksspiel assoziiert. Es wird ihm damit zu wenig anerkannt, dass es sich um eine Intuition handelt, die mit dem Anspruch einherging, die Entscheidung begründen zu können. Es handelt sich also nicht um einen Dezisionismus. Die gebildeten Präferenzen waren einer Erfahrung entsprungen und wurden
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mit einer gewissen Schlüssigkeit vertreten. Sie entstammten also dem, was man eine Überzeugung nennt, einem an die Person und ihre Erfahrungsgeschichte gebundenen Glauben an die Richtigkeit der eigenen Einschätzungen. Sattler akzeptiert dann jedoch das Wort Raten, weil er sieht, dass beide Ratgeber vor der Durchführung des Projekts gar nicht wissen konnten, welche Mutanten die richtigen sein werden. Sie haben einen richtigen Riecher oder ein gutes Gespür gehabt und das Charakteristische daran ist, dass im Moment der Entscheidung die Begründung eben nicht rational gegeben werden kann. O: So wenn wir jetzt mal statt des Wortes raten S: Das ist klingt jaja O: Weil das ist ein bisschen da ist ein Zufallsgenerator darin, wenn man könnte# wenn man jetzt statt dessen ahnen sagen würde S: Ahnen ja natürlich ich mein man äh das isses ja ich mein man hat seinen Erfahrungsschatz, man hat sein Wissen, (O: ja) das man als Biologe von der Universität hat oder vom Naturverständnis oder was auch immer, (O: ja) und dann hat man halt ne bestimmte Ansicht, (O: ja), das ham wir auch oft hier im Labor, dass wir riesige Diskussionen haben und jeder mit seinem andern Erfahrungsschatz hat halt ne ganz unterschiedliche Vorstellung darüber, was da am Ende rauskommt, und mal hat der eine Recht und mal hat der andere Recht
Ahnungen sind ein Vorgefühl auf das Kommende, ohne dass genau gewusst würde, woher es stammt und wie es sich begründen ließe. Sattler verknüpft das Thema mit der Individualität des Erfahrungsschatzes eines Wissenschaftlers. Der Inhalt einer Intuition und Überzeugung hängt ab von den Erfahrungen, die ein Wissenschaftler im Laufe seiner Arbeit sammelt. Jeder Forscher hat Erfahrungen mit offenen Forschungssituationen, in denen zwischen verschiedenen Optionen entschieden werden musste. Er kennt typische Ausgangslagen und weiß, was aus den gewählten Wegen geworden ist. Er hat also Muster, Konfigurationen oder Gestalt-Vignetten solcher Situationen im Gedächtnis und bildet auf dieser Grundlage seine Einschätzungen. Oder man hat sein Wissen… von der Universität …oder vom Naturverständnis oder was auch immer. Doch diese Erfahrungen unterscheiden sich von Wissenschaftler zu Wissenschaftler. Denn jeder Forscher ist aufgrund seiner individuellen Bildungsgeschichte für andere Strukturen sensibilisiert und traut bestimmten Lösungswegen mehr zu als anderen. Die Erfahrungen sind nicht deckungsgleich und deshalb kommt es zu unterschiedlichen Einschätzungen. Für uns ist daran interessant, dass Sattlers Forscherteam den Erfahrungsschatz der Einzelforscher nutzt und ihre Einschätzungen in gemeinsamen Diskussionen mobilisiert, in denen man sich darüber austauscht, welchen Verlauf eine zu wählende Option nehmen würde, ob sie erfolgreich sein könnte und warum. Diese Diskussionen dienen nicht der Konsensbildung, sie realisieren vielmehr eine Pluralität der Einschätzungspotentiale, was zur Folge hat, dass die Entscheidungsoptionen klarer konturiert werden und die Überzeugun-
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gen deutlich gegeneinander gestellt werden. Dabei wird hier vorausgesetzt, dass die Wissenschaftler für ihre Meinungen Argumente mobilisieren, auch wenn alle wissen, dass es sich um vorläufige Einschätzungen handelt, deren Richtigkeit erst in der Zukunft sich herausstellen wird. Diese Begründungsleistung dient vielleicht der persuasiven Überzeugung anderer, in erster Linie zwingt sie aber die Wissenschaftler, ihre intuitiven Urteile überhaupt zu explizieren und die Gründe aufzudecken, die sie tragen. Dabei geht es sehr emotional zu, Sattler spricht von riesigen Diskussionen, es gibt also ein großes Engagement. Und es geht auch um einen Wettbewerb, wer am Ende mit seiner Meinung recht behält. Wichtigkeit des Beschreibens in der Biologie O: Also sie arbeiten auf einem Feld kann man sagen, da hat man ja immer# also ich stell mir das immer so vor grad bei ihnen auch äh also ich versuche meinen Studenten immer zu sagen, also Wissenschaft besteht nicht im Beschreiben, sondern äh im Erschließen, äh das Beschreiben ist ne Vorstufe, ist auch wichtig, aber das gibt’s auch außerhalb der Wissenschaft, äh man muss sozusagen das zu Beschreibende erschließen, dahinterkommen S: Jaja, aber dafür müssen sies erst mal richtig beschreiben, (O: ja), in der Biologie ist quasi alles erst mal Beschreibung, (O: ja) und die Molekularbiologen haben lange den klassischen Botanikern und Zoologen vorgeworfen, dass sie ja nur beschreiben, (O: ja), also deskriptive Forscher war also ein Schimpfwort, (O: ja) aber im Grunde genommen tun wir ja auch das jetzt wieder in der Molekularbiologie, wir beschreiben entweder Experimente, die wir dann machen, aber wir beschreiben die Ergebnisse und versuchen, daraus dann äh der Wahrheit nahezukommen und auf molekularer Ebene machen wir genau wieder das, also ich find beschreiben dann nicht wirklich abwertend, (O: mhm) sondern das ist schon die Basis des Ganzen.
Sattler scheint die Entgegensetzung von Beschreiben und Erschließen zu sehr darauf hinauszulaufen, dass das Beschreiben als vernachlässigenswerte Tätigkeit aus dem Blick geraten könnte. Dem tritt er entgegen. Man hört wieder den Projektleiter und Doktorandenbetreuer heraus, der seinen Mitarbeitern die Wichtigkeit des genauen Beschreibens zu vermitteln sucht. In dieser Passage, in der es eigentlich keine sachlichen Differenzen gibt, kommt ein interessanter Unterschied in der Gewichtung methodischer Operationen zwischen der Biologie und der Soziologie zum Vorschein. Die Soziologie (und Ethnologie) haben heute nicht mehr das Problem, ihren Gegenstand durch Beschreibung festhalten zu müssen. Ihnen stehen Aufzeichnungsgeräte (Audio und Video) zur Verfügung, mit denen sie im Prinzip jede naturwüchsige Interaktion protokollieren können. Der eigentliche Durchbruch besteht freilich darin, dass sie Methoden der hermeneutischen Sinnrekonstruktion entwickelt hat, die es erlauben, diese textförmigen Protokolle auszuwerten. Das Beschreiben selbst ist daher nicht überflüssig geworden, aber sie ist doch in den Hintergrund getreten. Nur wenn es um nicht-
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sprachliche Texte geht (zum Beispiel Bilder, Fotos oder Videos, aber auch Graphen aus massenstatistischen Daten), oder wenn eine Protokollierung aus forschungsethischen Gründen nicht möglich ist, muss zu einer Praxis des genauen Beschreibens zurückgekehrt werden. Dann muss zunächst verbalisiert werden, was man sieht, hört, beobachtet, bevor es ausgelegt werden kann. Und hierbei kommt es natürlich auf die Genauigkeit der Beschreibung maßgeblich an. In der Biologie liegen die Dinge insofern anders, als dem Biologen die Phänomene seines Gegenstandes immer in einer sinnlichen Qualität und Präsenz entgegentreten und folglich immer erst einmal verbalisiert werden muss. Das gilt für die Verhaltensweisen von Tieren in der freien Wildbahn wie für Vorgänge, die man unter dem Mikroskop oder an Bewegungsbildern eines MRT sehen kann. Die Beschreibung erzwingt es, sich zu fragen, um was es sich handelt und was eine zutreffende Beschreibung oder Prädikation wäre. Die Beschreibung bereitet alleine schon durch die sequenzielle Ausdrucksmaterialität der Sprache eine analytische Zerlegung des Beschriebenen vor, denn sie beschreibt das Gesehene hintereinander. Sie wirkt insofern wie ein Filter auf die Wahrnehmung zurück, denn sie lässt nur dasjenige durch, was gerade die Aufmerksamkeit erlangt hat. Gleichwohl muss das Beschreiben darauf achten, den zerlegten Gegenstand integral zusammenzuhalten. Deshalb ist jede Beschreibung eine Ansammlung von Sätzen des Musters x"p, wobei x den Gegenstand repräsentiert und x die verschiedenen Eigenschaften und Attribute, die an ihm wahrgenommen werden. Da sich alle Sätze auf dasselbe Objekt beziehen, müssen die p in einem inneren Zusammenhang stehen. Werden die Sätze komplexer und beschreiben auch innere Zusammenhänge, was schon der Fall ist, wenn einfache Strukturen beschrieben werden, geht jede Beschreibung bereits in eine Interpretation des Wahrgenommenen über. Der Biologe muss daher die Kritik seiner Beschreibung als eine wichtige Übung ansehen. Das Wahrgenommene muss so genau als möglich verbalisiert werden, und dies verlangt eine rekursive Bestimmung der Beschreibung am zu Beschreibenden. Sie muss angemessen differenziert und prägnant sein, eine präzise und umfassende Darstellung des Objekts widergeben und die Grenze zwischen Beschreibung und Interpretation markieren. Diese Leistung ist die Basis, im Grunde sagt Sattler hier, dass man das Erschließen und das Beschreiben kaum voneinander trennen kann, weil das Erschließen bereits mit dem Beschreiben einsetzt. Doch der Interviewer ist noch nicht zufrieden und setzt noch einmal nach: O: Mhm, aber man könnte doch sagen, wenn sie jetzt ihr Programm haben, dann gibt es gewissermaßen äh messbare Merkmale, die sie bewusst unter Kontrolle halten und die sie versuchen durchzuvariieren (S: ja) und auch festzustellen, und während sie das machen, lässt sich auch anderes beobachten (.) also das äh es gibt ja immer mehr im Beobachtungsfeld als das, was man (S: ja) ja und äh wenn man jetzt vom Ahnen spricht also äh
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Der Interviewer bringt erneut das Unerwartete, Nichtidentische, die nicht prädizierten Xe ins Spiel. Wie reagiert ein Forscher, wenn er neben seiner eigentlichen Erhebungsoperation Phänomene wahrnimmt, die gar nicht im Fokus seiner Aufmerksamkeit liegen und sich nicht innerhalb eines Plans zur Prüfung einer Hypothese interpretieren lassen? Was macht er, wenn er mit Dingen konfrontiert wird, die quer zum Erwarteten stehen? Es wird unterstellt, dass es ja immer mehr im Beobachtungsfeld (gibt) als das, was man (sieht). Von diesen unerwarteten Beobachtungen darf sich der Forscher einerseits nicht verwirren lassen, andererseits kann er sie als neugieriger Forscher auch nicht einfach wegdrücken. Wie geht er also damit um? Die Frage zielt erneut auf das Krisenhafte der Forschung. Der Interviewer will wissen, ob sich sein Gesprächspartner eine Offenheit für die ästhetische Erfahrung auch innerhalb des Forschungsbetriebs erhält. Die Frage hat mit dem Beschreibungsproblem eigentlich nicht mehr direkt zu tun. O. interessiert sich für Situationen, in denen unprädizierte Xe gewissermaßen nackt vor das Augen des Forschers treten und erste Images oder Vorahnungen gebildet werden müssen, die etwas darüber aussagen, worum es sich handeln könnte. Das Ahnen ist ein erstes Prädizieren von noch nicht Beschriebenem. Ist es noch ein Beschreiben oder ist es schon ein Erschließen? So könnte man die Frage am Ende zuspitzen. Der Fragesteller führt damit den Gedanken wieder zum Ausgangspunkt („Ahnen“) zurück. S: Ja da kommts dann ich mein das ham wir schon gehabt, wir ham zum Beispiel festgestellt, dass ähm in unserem Wurm ganz andere Zellen wichtig sind für die Vulvaentwicklung (O: mhm) als in dem andern Wurm, und das war die Leistung eines Doktoranden, (O: mhm) ja also der hat die Experimente gemacht (O: mhm) (.) und äh der hat dann gut beobachtet (O: mhm) und der hat dann gesagt, ich glaube, da ist irgendwas schief, die Zelle hat nämlich diese Funktion, (O: mhm) ich hätte ihm niemals sagen können, jetzt mach mal das Experiment, (O: mhm) ja weil er hat die entsprechenden Beobachtungen gemacht, (O: mhm) und basierend auf diesen Beobachtungen ist er dann halt zum Experiment gekommen (O: mhm) und hat das Experiment gemacht und dann ham wirs gesehen.
Sattler antwortet nicht direkt auf die obige Frage, sondern beispielhaft anschaulich. Er beschreibt einen Vorgang in seinem Labor, der übrigens prototypisch für das fallibilistische Vorgehen ist. Der Doktorand hatte die beiden Wurmarten unter dem Mikroskop beobachtet und ihm war plötzlich etwas aufgefallen. Man kennt bei beiden Arten die Anzahl der Zellen, die die ausgewachsenen Organismen haben (etwas mehr als 1000 Zellen), man kennt ihre Lage und Funktion und versucht nun herauszufinden, welche Zelle zu welchem Zeitpunkt gebildet wird, wann sie abstirbt und erneuert wird, und aus welchen potenten Vorgänger-Zellen sie im embryonalen Wachstumsprozess ursprünglich hervorgeht. Bis dato waren die Forscher davon ausgegangen, dass bei der Embryogenese beider Arten die Vulva aus denselben Ursprungs-Zellen hervorgeht. Doch daran hat den Doktoranden etwas zweifeln lassen.
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Irgendetwas hat ihn irritiert. Offenbar war dem Doktoranden aufgefallen, dass die Abläufe bzw. die Ablaufbilder von Zellteilungen/Zellvermehrungen in wichtigen Einzelheiten voneinander abwichen, obwohl sie das nicht gedurft hätten, wenn jene Annahme richtig gewesen wäre. Das ist ihm aufgefallen, als er wieder und wieder dieselben Vorgänge beobachtet hat. Erst hat ihn etwas ästhetisch irritiert (irgendwas ist schief), dann hat er gezielter seine Beobachtungen verglichen oder vergleichend beobachtet. Und schließlich hatte er die Gewissheit, dass die Vorgänge nicht identisch waren. Aber was das genau bedeutete, wusste er zunächst auch nicht genau und daher ist er zu Sattler gegangen, um dessen Rat zu erfragen. Warum hat er das überhaupt gemacht? Wie Sattler selbst sagt, hatte nur der Doktorand die Beobachtungen gemacht und konnte nur er ein Experiment konzipieren, um die Frage eindeutig entscheiden zu können. Sattler selbst konnte gar nichts inhaltlich beisteuern. Der Doktorand ist zu Sattler gegangen, um mit ihm die Sache zu diskutieren und von ihm eine moralische Unterstützung zu erhalten, der Beobachtung nachgehen zu können. Er hat um Ermutigung und Bekräftigung nachgesucht, um seinem krisenhaften Sinneseindruck wirklich vertrauen und etwas in die Sache investieren zu können. Natürlich haben beide ausdiskutiert, was die Beobachtung bedeuten könnte. Das Ergebnis war die Hypothese, dass die Vulva der beiden Arten nicht aus denselben Zellen heraus sich entwickelt, was ja übrigens doch eine erstaunliche Entdeckung ist, wenn man bedenkt, dass die Nematoden so nahe verwandte Tiere darstellen und so klein sind. Geht man davon aus, dass beide Wurmarten einen gemeinsamen Vorfahren hatten, dann muss die Vulvaentwicklung in relativ kurzer Evolutions-Zeit umstrukturiert worden sein oder der Vorfahre hatte gar keine einheitliche Vulvaentwicklung, das heißt sein Genom hatte die Entstehung der Vulva gar nicht einheitlich strukturiert. Die eigentliche Prüfung der Hypothese erfolgte dann in einem Experiment. Wie dies aussah, wird leider nicht geschildert. (Wahrscheinlich hat der Doktorand die Zellen irgendwie eingefärbt oder anders sichtbar gemacht und man hat ein Vorher und Nachher verglichen.) Sattler betont, dass nur der Doktorand das passende Experiment hat entwerfen können. Damit ist herausgestellt, dass das Erschließen von etwas Neuem ein integraler Prozess ist, der nicht arbeitsteilig gesplittet werden kann. Von der ästhetischen Irritation beim Beobachten über die Bildung einer Vorahnung, was anders sein könnte, bis zum Entwurf eines Experiments zur Prüfung der Hypothese muss der Vorgang in einer Hand liegen, auch wenn sich der Forscher jederzeit mit anderen austauschen kann und diesen Austausch auch benötigt, um seine Überzeugung zu bestärken, dass er einer richtigen Spur folgt. Das gilt zumindest für jüngere Forscher, die noch keine ausgedehnte Erfahrung mit solchen Momenten der Entdeckung von Neuem haben. Wie wir an Ed Lewis oder Christiane Nüsslein-Volhard studieren konnten, kann ein solcher Austausch unter Kollegen allerdings auch dazu führen, dass man keine inhaltliche Unterstützung erfährt („das funktioniert nie“) und erst mal alleine weitermachen muss.
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Was hat Sattler also zum Thema Erschließen und Beschreiben, Ahnen und Raten gesagt? (1) Er stimmt mit dem Interviewer überein, dass wichtige Entdeckungen aus einer zweckfreien und mußevollen Wahrnehmung hervorgehen, die sich auf das konzentriert, was gerade nicht dem erwarteten Muster entspricht. Das muss bei Forschern zu einer generalisierten Haltung geworden sein. (2) Das Neue tritt an den Tag in der sinnlich-ästhetischen Erfahrung von etwas, das abweicht vom Erwarteten. Das ist für Sattler zumindest im vorliegenden Fall identisch mit dem Aufdecken einer bislang ungenauen Beschreibung (der Zellstruktur und -Genese der Wurmarten), die darum verbessert werden muss. Die Quelle dafür ist aber weniger das Beschreiben selbst, als das genaue Beobachten. Beobachten und Beschreiben sind hier Komponenten eines einheitlichen Vorgehens des Erschließens von Primärphänomenen. (3) Die sinnliche Irritation löst eine gesteigerte Aufmerksamkeit für das Abweichende aus, das nun genau bestimmt werden soll. Der Beobachtung wird Bedeutung beigemessen, weil schnell der Verdacht (die Vorahnung) entstanden war, dass sie zu einer wichtigen Korrektur des Gesamtbildes (der Embryogenese der Wurmarten) führen könnte. Das reicht, um das fallibilistische Prozedere in Gang zu setzen. O: So und sie können# sie haben vorhin gesagt, sie kucken nicht mehr selbst ins Mikroskop äh also und sie müssen bei ihnen müssen die Informationen jetzt zusammenlaufen (S: ja) auf ner höher integrierten Ebene (.) äh gibt es da was Vergleichbares dann, also könnte ihnen da auch was entgehen oder könnte ihnen da was auffallen
Die Frage ist raffiniert und interessant. Gibt es das Spannungsverhältnis von Krise und Ahnung nicht auch oberhalb der unmittelbaren Beobachtungen am Mikroskop, also dort, wo die Modellbildung und theoriearchitektonische Synthesis der Einzelresultate vorgenommen wird? Diese Frage arbeitet wieder mit einer impliziten Provokation, denn würde sie verneint, dann bliebe nur eine Schlussfolgerung: Der Projektleiter hat im Erkenntnisgeschehen eigentlich keine materiale Funktion mehr. Er moderiert vielleicht noch und sichert den Überblick, er organisiert und trägt die Verantwortung nach Außen, vielleicht prüft er die formallogische Stringenz. Aber seine Tätigkeit fügt der Erkenntnis keine inhaltliche Substanz hinzu. Der Fragesteller geht natürlich davon aus, dass dem nicht so ist. Daher lautet seine Frage in Langschrift: Wie gelingt es dem Projektleiter, sich die Aufmerksamkeit für das Neue, das für die Modellbildung wichtig ist, zu erhalten, obwohl ihm der unmittelbar Kontakt zu den Befunden – und wie sie entstanden sind – oft fehlt? Gibt es komplementär zur Beobachtung am Mikroskop vielleicht auch auf der Ebene der theoriearchitektonischen Zusammenhänge Dinge, die einem auffallen können, wenn man offen genug für sie ist? Die Frage richtet sich an den Wissenschaftler, der bereits Erfahrungen in der Theoriebildung gemacht hat.
424 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE S: Also entgehen kann uns an vielen Stellen immer einiges (O: ja) logischerweise (.) ja ich mein im Grunde es kommt immer auf die Qualität der Mitarbeiter an, weil es ist an jeder Stelle kann einem äh kann man was übersehen.
Sattler scheint die Frage zunächst nicht ganz zu erfassen und sich nur auf den Aspekt zu verlegen, dass er etwas übersehen könnte. Fehler können immer passieren, konzediert er, und betont die strukturelle Abhängigkeit des Projektleiters von der Selbständigkeit seiner Mitarbeiter. Das ist mit Qualität gemeint. Damit könnte er aber den anderen Aspekt indirekt vorbereiten, nämlich ob er auch Dinge wahrnimmt, die ihm nur auffallen, weil er von der Bench etwas weg ist und das Gesamtgeschehen im Labor in den Blick nehmen muss. Indirekt könnte angedeutet werden: Es hängt von der Qualität der Mitarbeiter ab, ob ich als Projektleiter auf Entwicklungen gestoßen werde, die für die Gesamtarchitektonik des Programms wichtig werden könnten. O: Worauf achten sie wenn sie wenn sie sich (.) wenn sie sozusagen sich berichten lassen (..)
Der Interviewer bohrt nach und stellt erneut den Anteil des Projektleiters in den Vordergrund. Zu den Kontrollen im Labor S: Da geht’s wenn ich mir berichten lasse geht’s natürlich vor allen Dingen darum zu schauen, ob die Leute denn alle richtigen Kontrollen gemacht haben, das ist natürlich das Allerwichtigste (O: mhm) und dann ob sie denn auch wirklich alle potentiellen Quervernetzungen mit durchdacht haben, (O: mhm) und wenn dem nicht der Fall ist, müssen wir sie halt zurückschicken, dann müssen sies noch mal machen.
Der Aspekt der Kontrollen spielt sich in den Vordergrund und stellt den anderen Aspekt der Erkenntnis von Makroentwicklungen zunächst zurück. O: Also Messfehler is äh ne große Gefahr oder S: Och Messfehler nicht, aber sie müssen halt in der Molekularbiologie ähm wir ham so en hohen Durchsatz äh jede Komponente kann an jeder Stelle kaputtgehen und wir arbeiten halt zum Teil mit negativen Ergebnissen, (O: ja) ja das heißt sie schauen danach, ob en bestimmtes Produkt gebildet wird oder ob)s nicht gebildet wird (O: ja) und wenn’s nicht gebildet wird, könnte es auch daran liegen, dass die Komponente nicht mehr funktioniert und deshalb sie Kontrollen machen, (O: ja) ähm O: Also dass der Versuch unterwegs kaputtgegangen ist (S: ja) praktisch ja also man muss so
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zusagen systematisch unterscheiden können zwischen Falsifikatoren und äh sagen wir mal Destruktiven ja S: Ja richtig, ja (O: ja)
Eine Gefahr besteht also darin, dass aufgrund unsauberer technischer Arbeit nicht bemerkt wird, dass man mit Artefakten arbeitet. Die Laborarbeit besteht zu einem hohen Anteil in der Kontrolle der Befunde. Die Komponenten dürfen unterwegs nicht kaputtgegangen sein. Mit Komponenten sind z.B. die Organismen gemeint, die man für ein Experiment benutzt hat und von denen man wissen will, ob sie ein bestimmte Nucleinsäure produziert haben oder nicht. Das Fehlen der Nucleinsäure kann aber auch daher rühren, dass das Versuchstier bereits in einer Frühphase des Experiments eingegangen ist und gar keinen Stoffwechsel mehr hatte. Es muss daher Gegenkontrollen geben. Im Prinzip muss es für jeden einzelnen Schritt Routinen der Gegenkontrollen geben, damit man immer alle Faktoren der Beeinflussung eines Ergebnisses beherrscht. und ähm und das sind halt alles Sachen deshalb muss man noch nahe relativ nahe an der Bench sein und das verliert man natürlich im Laufe der Zeit, weil man# und ich lass mir auch# ich mein wenn neue Methoden kommen ich mein die kommen immer wieder neue Methoden (O: ja), sollen sie ja auch (O: ja) äh und dann lass ich mir die halt vorführen (O: ja) und das genau beschreiben und die werden dann auch im Laborseminar beim ersten Mal wenn so ne neue Methode kommt wird die genau (O: ja), ins kleinste Detail wird die dargelegt, damit jeder wieder auf dem neusten Stand ist, (O: ja), und denn da ist die Gefahr natürlich riesengroß wenn sie die Methode nicht mehr selbst beherrschen und nicht mehr im Kopf durchdenken können, (O: ja) dann können sie auch hinterher nicht mehr (O: ja) äh die nötigen Kontrollen wissen, (O: ja) die man machen muss und das ist ne sehr sehr wichtige Sache.
Voraussetzung für die Güte der Kontrollen ist, dass der Kontrolleur die methodische Vorgehensweise genau kennt. Er muss neue Methoden durchdacht haben, sich gedanklich in ihnen bewegen können und die typischen Fehlerquellen aus eigener Anschauung und Erfahrung genau kennen. Je weiter er sich von der Praxis im Labor entfernt, desto größer wird die Gefahr, dass er an neuen Entwicklungen nicht mehr hinreichend teilnimmt und folglich seine Kontrollen unsauber werden. Sattler steuert dem entgegen, indem er das Laborseminar zum Ort einer kollektiven Lernstätte für Methoden macht und selbst daran partizipiert. Es ist also ein Geben und Nehmen. Wissenschaftler, die eine neue Methode gelernt haben, übernehmen es, den anderen die Techniken in allen Einzelheiten beizubringen. O: Jetzt wenn sie sie kriegen von allen ihren Mitarbeitern sozusagen die Berichte und sie stehen# sie haben einen größeren Überblick äh kann es da passieren, dass sie sagen wir mal aus
426 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE der Konfiguration dessen, was da zusammenläuft dass da etwas für sich einfach nur qua Konfiguration auffällig wird und dass man anfängt nachzudenken
Das Gespräch wird nun wieder zur Ausgangsfrage zurückgeführt. Es geht um den intellektuellen Erkenntnisbeitrag von Projektleitern. Die Frage ist, woran ein aufmerksamer Projektleiter erkennt, worauf die Fülle der Einzelprojekte in einem groß angelegten Forschungsprogramm am Ende hinauslaufen wird. Bei ihm laufen die Einzelbefunde zusammen, und die Überlegung ist, ob sie im Zusammenhang betrachtet auf etwas hinweisen, das auf eine Lösung vorgreift; ob sich aus ihrer Gesamtbewegung erahnen lässt, welche Antwort am Ende stehen wird. Gibt es eine solche frühe und vage Form der Erkenntnis von Konfigurationen? S: Ja sicherlich, das ist äh glaub ich auch die Hauptaufgabe, die man hat, (O: ja) äh man kann von dem Doktoranden, der den tiefen Einblick noch nicht hat (O: ja) und auch noch nicht die lange Erfahrung hat (O: ja) nicht erwarten, dass er diese ganzen kleinen Teile zu nem riesigen Bild (O: ja) zusammensetzt und äh das ist an und für sich die (O: mhm) Haupt# eine der Hauptfunktionen die man hat.
Sattler hat die Frage spätestens jetzt verstanden. Seine Aufgabe als Projektleiter besteht darin, die Bedeutung von Einzelbefunden für das übergeordnete Forschungsprogramm zu erkennen und wie bei einem Mosaik oder Puzzle das Bild aus den einzelnen Elementen zusammenzusetzen. Der Projektleiter hat eine theoriearchitektonische Erfahrung, er verfügt über eine Sinninterpretationskapazität, die der Doktorand noch gar nicht haben kann. Ihm fehlen der tiefe Einblick und die lange Erfahrung. Was der Projektleiter dem Doktoranden voraus hat, ist mit einem Wort gar nicht zu sagen. Er kennt Entstehung eines Forschungsprogramms von Anfang an, hat einen Überblick über die Genese der Aktivitäten aus eigener Anschauung, kennt die Weichenstellungen und die Irrwege, die schon gegangen wurden. Er ist vor allem aber mit der Theorie mitgewachsen und hat ein Gespür für die Einzelbefunde, weil er sie im Lichte der Theoriearchitektur interpretieren kann. Seine Hauptfunktion ist es, diese Interpretationskapazität weiterzuentwickeln und die Doktoranden daran teilhaben zu lassen. Sattler bringt das in dem Begriff des riesigen Bildes zum Ausdruck. Das riesige Bild ist ein Begriff für die Totalität des Gegenstandes. Hier ist allerdings nicht die Totalität der „Natur draußen“ gemeint, sondern die Totalität, wie sie sich in den über einen Gegenstand erhobenen empirischen Daten und Protokollen darstellt. Das ist etwas anderes. Diese Totalität ist die Gesamtheit dessen, was wir „über einen Gegenstand wissen“. Es ist eine Totalität, die sich zunächst in der Vielzahl einzelner Daten präsentiert, deren Zusammenhang nicht von vorneherein ersichtlich ist. Das riesige Bild muss erst hergestellt werden, es ist das Ziel und Ergebnis einer Rekonstruktion der Zusammenhänge, und diese Zusammenhänge müssen im Rahmen einer theoretischen Modellbildung sichtbar gemacht werden.
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Denn die theoretische Modellbildung bietet einen Erklärungsansatz, auf den bezogen sich ein Datum sinnvoll interpretieren lässt. Die Leistung des Projektleiters besteht darum auch darin, das Ergebnis einer einzelnen Doktorarbeit auf eine theoretische Modellbildung zu beziehen. Theoriebildung wird als Strukturgeneralisierung der Einzelbefunde angesehen und Sattler unterstellt wie selbstverständlich, dass die Doktoranden auch diese Leistung ausfüllen müssen. Der Projektleiter übernimmt aber eine intellektuelle Führungsaufgabe, solange den Doktoranden die Erfahrung dazu noch fehlt. O: Ham sie manchmal Angst, ein zu großer Generalist irgendwann zu werden S: (..) Ach nee noch nicht, aber die Gefahr ist natürlich da, weil natürlich vor allen Dingen auch in der Presse heutzutage (O: ja) die Leute, die ganz große Generalisten werden, besser dastehen (O: ja) und man muss dem halt sehr sehr lange widerstehen und sagen, naja, da wird man halt nicht so berühmt und ähm (.) (O: ja) und stellt dann trotzdem die richtigen Fragen.
Ein zu großer Generalismus ist ein anderes Extrem. Der Doktorand ist noch zu nah dran an den Details, der Generalist ist schon zu weit weg. Während der Doktorand für sein Extrem nichts kann und es noch vor sich hat, sich die theoretische Dimension seines Gegenstandes zu erschließen, ist der hier gemeinte Generalist vom goldenen Mittelweg bereits abgekommen. Seine weitreichenden Aussagen sind bereits nicht mehr sachhaltig oder zumindest nicht mehr von der Forschungslage gedeckt. Sie sind entweder trivial, oder sie haben einen Überschuss an spekulativen Annahmen. Man könnte natürlich entgegenhalten, dass jede Wissenschaft ihre Generalisten und Großtheoretiker benötigt. Dann wäre ein Generalist derjenige, der eine aktuelle Tendenz der Forschung maximalistisch ausdeutet und mögliche Entwicklungsresultate spekulativ vorwegnimmt. Alle großen Wissenschaftler waren in diesem Sinne auch Generalisten. Der zu große Generalist geht aber für den Interviewer schon zu weit. Er behauptet Sachen als feststehend, die noch gar nicht erwiesen sind oder die auch außerhalb dessen liegen, was empirisch geklärt werden kann. Und er kümmert sich auch wenig um die empirische Einlösung. Der Interviewer legt nahe, dass es für jeden theoretisch ambitionierten Wissenschaftler eine Gefahr gibt abzudriften. Sattler hat das Problem jedoch noch unter Kontrolle, glaubt er. Er führt aber eine interessante Quelle der Gefahr an und damit geht seine Ausführung nahtlos in eine Erörterung des Verhältnisses zwischen dem Wissenschaftsberuf und der Kulturindustrie über. Es gibt eine systematische Ungleichbehandlung der Forscher durch die Öffentlichkeit. Es gibt zwei Reputationssysteme. Wissenschaftler mit den großen Entwürfen werden von der Laienöffentlichkeit viel mehr wahrgenommen und honoriert. Sattler unterstellt, dass sie gewollt oder ungewollt ein öffentliches Bedürfnis besser befriedigen, als die Erfahrungswissenschaftler, die sich eng an die Befunde der Empirie halten. Ihre Texte sind nicht methodisch zurückhaltend in der Ausdeutung empirischer Sachverhalte. Sie
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geben direkt Antworten in den zentralen Fragen ihres Faches, die naturgemäß auch die Laien am ehesten interessieren, und sie bedienen damit das Bedürfnis nach Auskünften, die für das Weltbild relevant sind. Das erhöhte Interesse der Presse für die Ostwalds, v. Ditfurths oder Chargaffs honoriert die großen Entwürfe zu sehr und dies verführt viele Wissenschaftler dazu, es den erfolgreichen Großtheoretikern gleichtun zu wollen. Es ist verlockend, gut dazustehen und Erfolg beim Publikum zu haben. Diesem Wunsch jedoch nachzugeben, würde dazu (ver-)führen, dass der Forscher aufhört, die dicken Bretter zu bohren und substanziell zu forschen. Vom Diskurs der Generalisten geht also ein Sog aus, der den Forscher aus seiner eigentlichen Tätigkeit herauszieht, sobald er sich auf ihn eingelassen hat. O: Also bedauern sie manchmal wenn also wie der Chargaff oder wenn die dann äh äh über alles Mögliche schreiben ja S: Ja, also das wird dann halt sehr sehr schnell zu generell (O: ja) auch jetzt ganz speziell in unserem Feld, (O: ja) ja ich mein es gibt Leute, die machen halt nicht so (O: ja) aus unserer Sicht schöne Experimente, bleiben viel mehr an der Oberfläche, (O: ja) machen generelle Schlussfolgerungen, die aber (O: ja) jeder hören will und publizieren am Ende besser, (O: ja), aber das muss man äh da muss man durch, das gehört dann einfach dazu.
Kulturindustrie und asketische Berufsmoral Sattler richtet sich nicht gegen eine Diskussion, die über den Tellerrand des Forschungsalltags blicken will. Er sieht aber den Wert dieser Diskussion anders als er sich in der Öffentlichkeit widerspiegelt. Die Binnenperspektive der Profession ist in diesem Punkt eine andere als die Außenperspektive der Journale und der Presse, die von den Wissenschaftsredaktionen der Zeitungen und Verlagen geprägt wird.16 Damit ist jedoch keine Medien- und Journalistenschelte verbunden. Sattler sieht das Hauptproblem wissenschaftsimmanent. Es ist in seinen Augen klar, dass manche Wissenschaftler den Diskurs in den Lebenswissenschaften öffentlich „bedienen“, in dem sie schreiben, was jeder hören will. Die Generalisten reiten also auf einer Welle des Mainstream. Sie liefern die Stichworte für Debatten, die allgemein in der Luft liegen, aber sie setzen dem Mainstream zu wenig Widerständigkeit entgegen. Sie machen Versprechungen, wecken zu große Erwartungen, z.B. in Therapien, oder machen pauschale Aussagen über das Weltbild, die für den Laien umstürzend 16 Der Interviewee geht auf den Namen Chargaff gar nicht ein, obwohl er ihm sicher geläufig ist. Erwin Chargaff, (1905 in Czernowitz geboren, 2002 in New York City gestorben), war ein aus Österreich-Ungarn stammender, später emigrierter US-amerikanischer Biochemiker, der als Wissenschaftler wichtige Beiträge zur Entschlüsselung der DNA-Struktur geliefert hat, um nach seiner Emeritierung eine Karriere als Essayist, Dichter und Autor gesellschaftskritischer und populärwissenschaftlicher Bücher zu beginnen.
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wirken, z.B. in der Willensfreiheitsdebatte. Sattler hat implizit sogar eine Theorie dieser wissenschaftsinternen Kulturindustrie. Der Erfolg der Generalisten beruht nicht etwa darauf, dass politische Entscheidungsträger sie hofieren würden (das vielleicht auch), dass das Feuilleton ihnen ein Publikum zuführt, das sie sonst nicht hätten. Es sind die Jurys der Fachzeitschriften, also Kollegen, die als Gutachter nicht genügend resistent sind. Es wird innerhalb der Wissenschaft honoriert, wenn einer zum Generalist wird und sich aller Skrupel vor großen Aussagen entledigt, die sich der Empiriker nie gestatten würde. Das Urteilsvermögen ist geschwächt, weil die Gutachter selbst nicht immer in der Experimentalpraxis hinreichend verankert sind. So muss man Sattler verstehen. Dass die Wissenschaftsjournalisten diese Entwicklung nicht korrigieren können, kann man ihnen, die selbst gar keine experimentelle Praxis haben, nicht vorhalten. Gegen die verführerische Macht des öffentlichen Erfolgs der Generalisten bringt Sattler eine berufsethische Forderung der Enthaltsamkeit vor. und man muss dem halt sehr sehr lange widerstehen und sagen, naja, da wird man halt nicht so berühmt und ähm und stellt dann trotzdem die richtigen Fragen. Die Forderung nach asketischer Zurückhaltung drückt das Sachhaltigkeitsethos aus. Enthaltsamkeit von Erfolgsprämien ist gefordert, um von der beruflichen Tätigkeit, der man sich verpflichtet hat, nicht abgelenkt zu werden. Diese Auffassung vom Beruf ist aristokratisch und zugleich universalistisch. Innerhalb der Kollegenschaft wird eine Differenz aufgemacht zwischen denen, die der Verführung erliegen, und denen, die es schaffen, ihr zu widerstehen. Letztere bilden den eigentlichen Adelsstand der Profession. Er ist weder im Ansehen, noch im institutionellen Einfluss, noch im publizistischen Verbreitungsgrad oder sonst irgendeinem äußeren Erfolgskriterium begründet, sondern ausschließlich in der Haltung, sich der sachhaltigen Forschung verpflichtet zu fühlen und dabei durch nichts ablenken oder irritieren zu lassen. Der Verzicht auf die Berühmtheit wird an dieser Stelle fast achselzuckend ausgesprochen (..naja, da wird man halt nicht so berühmt..) Es spricht hieraus keine Sondermoral, sondern eher die Überzeugung, dass man als Forscher gar nicht anders kann und dieses Opfer der entsagenden Eitelkeit eben bringen muss. Die eigentlich Ausgegrenzten sind diejenigen, die „zu früh zu große Generalisten“ werden. Sie werden nicht richtig ernst genommen. Zugleich ist angedeutet, dass ein gewisser Generalismus am Ende des Berufslebens erlaubt sein kann, wenn man über eine hinreichend breite empirische Erfahrung verfügt. Die Generalisten, die Sattler kritisiert, bohren also letztlich ihre Bretter nicht tief genug und geben ihrer Ambition zur großen Geste zu früh nach, wenn nicht sogar andere Kalküls der strategischen Karriereplanung im Spiel sind. Ihre Thesen helfen nicht weiter, sondern verunsichern nur den Blick für das Nötige, Machbare und die Forderung des Tages.
430 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE O: Was ist die Triebfeder also das# äh ich meine die Versuchung äh die Askese zu verlassen ist ja sehr vielfältig und sehr groß, nicht S: Ähm das wird langsam en Problem also ich hab am Tag (.) ... ja also mein erster Doktorand, den ich in XYZ hatte, der war noch da am Tag, als ich berufen wurde, als ich (O: ja) also am ersten April 99 und der ist dann in mein Office gekommen und hat gesagt: und jetzt? (Gelächter) Und da hab ich gesagt, ja, ist gebongt,
Mit dem Tag der Berufung begann nicht nur ein neuer Karriereabschnitt, sondern auch der Kampf gegen die Versuchung, die Forschung durch eine Zweitkarriere abzulösen. Das Direktorat wird als gefährdetes Amt gesehen. Das war dem Berufenen und seinem Doktoranden gleichermaßen in dem Moment bewusst, als die Berufung ausgesprochen war. Das heißt, das Problem war zuvor schon Gesprächsstoff zwischen den beiden gewesen. Sie hatten es an den Karrieren älterer MPI-Direktoren oder Universitäts-Professoren schon studieren können. Der Doktorand hat Sattler im Moment der Berufung dann scherzhaft daran erinnert. ist gebongt ist ein Ausdruck aus dem Jugendjargon der 80er und 90er Jahre, und meint: Ich habe es auf der Rechnung! Bong heißt ja Rechnungsbeleg. Das ganze Problem verfolgt Sattler demnach schon seit Jahren. ...und man merkt das schon, man merkt das schon und kann also jetzt der Peter Gruss, der jetzt neuer Präsident wird der Max-Planck-Gesellschaft mit 52, so jung wie noch kein anderer, (O: ja) aber der ist auch ich glaube mit 38 berufen worden oder so, wenn man das 14 Jahre gemacht hat ähm natürlich geht’s immer weiter, man kann noch mehr Paper noch mehr Paper noch mehr Paper aber wirklich was grundsätzlich Neues kommt natü nicht mehr, (O: mhm) also ich kann auch schon verstehen, warum manche jetzt mehr in diese anderen Aspekte abdriften, erst mal hat man ne Verantwortung der Wissenschaft gegenüber
Dr. Sattler hält sich nicht länger mit den kulturindustriellen Abweichlern auf, sondern befasst sich mit denjenigen Mechanismen, die während der wissenschaftlichen Laufbahn selbst den Forscher aus der Praxis des unmittelbaren Forschens herausziehen können: Die Ursachen der Verführbarkeit. Die wirklich innovativen Entwicklungen durchläuft ein Wissenschaftler in den ersten Jahren seiner Laufbahn. Danach wiederholt es sich irgendwann und andere Themen oder Tätigkeiten gewinnen an Reiz. Diese Schilderung ist interessant, weil sie den Blick darauf lenkt, dass die Neugierde sich sogar in der Forschung selbst nicht mehr hinreichend befriedigt finden kann, wenn sie den ursprünglichem Innovationsgrad nicht halten kann. Ein Schicksal, das viele Naturwissenschaftler ereilt, so Sattler. Ist für den Naturwissenschaftler der Punkt gekommen, an dem seine eigene Forschungsleistung nicht mehr grundsätzlich Neues erwarten lässt, so lockert sich der Kontakt zur Forschung „an der Bench“ immer mehr. Das Interesse wandert weiter zu Aufgabengebieten, die dem Wissenschaftler neue Herausforderungen bieten können: administrative Pla-
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nungsaufgaben, Forschungspolitik, Öffentlichkeitsarbeit, Lehre, Nachwuchsförderung. Auch dort ist die Sachlogik der Forschung zu fördern und kann man der Profession dienen. … aber ich mein, dass man das irgendwann mal macht so mit Mitte 50 (O: ja) wenn man Gott weiß wie viel Jahre Wissenschaft hinter sich hat is an und für sich verständlich (O: mhm) weil es sind natürlich immer wieder mechanistische Aspekte und jetzt im Moment ich will natürlich rausfinden, wie denn die Vulvabildung in (uv) funktioniert natürlich, das ist mein Lebensziel, (O: ja) aber in 15 Jahren wissen wir das hoffentlich und was dann kommt, müssen wir mal sehen.
Sattler plant auf lange Sicht. Er investiert sein ganzes wissenschaftliches Leben in die eine Frage nach der Entwicklung der Vulva zweier millimeterkleiner Nematoden. Was ermöglicht es dem Wissenschaftler, solche riskanten Festlegungen vorzunehmen? Ist es die frühe Berufung auf eine Lebenszeitstelle, die einen ungeheuren Vertrauensvorschuss darstellt? Die persönliche Überzeugung von der Richtigkeit des aufgelegten Programms und der Glaube an eine reelle Erfolgschance? Beides bedingt sich wohl gegenseitig. Das Lebensprogramm des Biologen ist fest an das Arbeitsprogramm gebunden. Ist die Genese der Vulva verstanden, kann sich Sattler vorstellen, etwas Neues zu machen, was ihn aus der Laborforschung herausführt. In dieser Klarheit zeichnet sich eine Lebensführung ab, die sich ganz der Berufsrolle verschreibt. Die Bindung an die Wissenschaft ist aber nicht verbissen, Sattler rechnet mit einem „Leben danach“, das er aber nicht beginnen will, bevor sein wissenschaftliches Lebensziel erreicht ist. O: Und was sie vorhin immer als philosophisch bezeichnet haben, würden# wie würde das# wenn sie das rausgefunden haben, äh heißt das, dass sie dann damit auch noch äh also sozusagen in Ruhe S: Dann können sie philosophische Quer# im Moment können wir philosophisch gar nicht so viel sagen, (O: ja) weil wir in diesem Puzzle sind, (O: ja) und wir haben jetzt gerade mal die Steinchen alle rumgedreht und müssen die jetzt zusammensetzen, und wenn wir das mal haben in 10 bis 15 Jahren, dann können wir natürlich ne philosophische Aussage treffen, (O: ja) indem wir die beiden Systeme vergleichen, im Moment ist es sehr begrenzt und sehr beschränkt. O: Also philosophisch würde in ihrem Verständnis den Begriff S: Der erkenntnistheoretische (O: ja) der erkenntnistheoretische Aspekt ist für mich der (O: mhm) der philosophische
Sattler lässt sich nicht dazu verführen, inhaltlich auf die Resultate seiner Forschung vorzugreifen. Er kann es nicht und will nicht spekulieren. Aber eine struktur-
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generalisierte Aussage ist und bleibt das Ziel des ganzen Unternehmens. Darauf läuft die Anstrengung hinaus. Das Verhältnis des Wissenschaftlers zur Religion O: Also das# äh und ganz entscheidend wäre dabei auch eben äh das äh Verallgemeinerungsfähige sozusagen was man über die Verfassung gewissermaßen der Welt als ganzer äh äh dabei gewinnt ja, (S: ja) und diese Welt ist für sie aber sozusagen das wäre immer ein immer die erfahrbare Welt oder noch mehr S: Och nö die erfahrbare Welt reicht mir da (Gelächter)
Das Philosophische wird nun zur anderen Seite seiner metaphysischen Bedeutung hin abgeklopft. Wenn ein Wissenschaftler allgemeine Aussagen über die Welt im Ganzen aufstellen will, dann gerät er auf ein Abstraktionsniveau, das auch andere Disziplinen des Geistes betritt: Theologie, Metaphysik, spirituelle Mystik. Wie verhält er sich dazu? Hat er dort auch Interessen, Motive? Die Frage legt nahe, es könnten auch noch andere, transzendente Ursprungsmächte des Lebens sein Interesse binden. Die Antwort zeigt aber sofort, dass Sattler nicht mit einer jenseitigen Welt rechnet, weder praktisch-religiös, noch intellektuell. Er kann sich sogar einen Scherz erlauben, der einem frommen religiösen Menschen wohl nicht über die Lippen gekommen wäre. Sein persönliches Weltbild ist also nicht auf der Vorstellung eines Wirkens höherer Mächte gegründet. Auf der anderen Seite ist er aber auch nicht Atheist oder religionskritisch eifernd. Der Witz, der gemacht wird, funktioniert überhaupt nur, weil unterstellt wird, es könnte vielleicht eine jenseitige Welt geben. Im Grunde drückt sich darin wieder die diesseitige Leistungsethik des Erfahrungswissenschaftlers aus. Sein Gegenstandsbereich ist so komplex, dass er in seinen Augen schon ein komplettes Ganzes darstellt. Angesichts dessen auch noch eine andere Welt erforschen zu wollen, kommt da einem maßlos überambitionierten Unterfangen gleich. O: Also sie gehören nicht zu den Leuten, die gewissermaßen im Hintergrund irgendwie noch theologische oder religiöse Fragen dabei haben nein S: Nee (.) nee, (O: das wäre) also die religiösen Aspekte sind ja immer wieder ähm (O: ja) schwierig ähm (O: ja) also da da soweit bin ich noch nicht, da lasse ich mir noch 10 Jahre ehe ich da anfange darüber nachzudenken
Die Antwort ist die eines vollständig säkularisierten Menschen. Sattler behandelt das Thema nicht weltanschaulich, sondern ganz methodisch. Er gesteht religiöse Aspekte der Biologie zu, letzte Fragen nach der Entstehung und dem Sinn des Lebens. Aber er selbst sieht das Thema noch nicht als wichtig für sein wissenschaftliches Arbeiten an. Er erwartet aber, dass religiöse Aspekte mit dem Lebens-
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alter an Bedeutung gewinnen könnten und leichter zugänglich werden, wenn die Lebenserfahrung zugenommen hat und wenn der Tod heran rückt. Er persönlich hat jedoch noch nicht das Alter erreicht. Er will nicht grundsätzlich ausweichen, sieht sich aber nicht in der Lage, etwas Sinnvolles beizutragen. O: Also zum Beispiel wie ihr ehemaliger Kollege Haeckel, der nach seiner Abstammungslehre dann glaubte, dass der Religionsunterricht geändert werden muss an den Schulen äh das äh S: Neinnein, neinnein, soweit darf man nicht gehen, also es gibt von Lewis Wolpert en schönes Buch, die (.) Unnatural Nature of Science oder so was (O: ja) und da geht er genau darauf ein, die Beziehung zwischen äh Religion und Wissenschaft, und ich finde das Faszinierendste ist ja, dass es unter den Naturwissenschaftlern sowohl hochreligiöse Menschen gibt als auch Leute, die Religion komplett ablehnen, (O: mhm) ja und ich finde, dass ist das Fas# es gibt da wohl keinen (O: ja) keine einzige Antwort drauf, sondern es ist beides möglich und es funktioniert auch irgendwie beides.
Haeckel hatte eine Grenze überschritten, weil er die Autonomie der öffentlichen Kultur nicht geachtet hat. Er hat mit Hilfe des Schulstaates eine weltanschauliche Politik betreiben wollen und die Bevölkerung im Namen der Aufklärung weltanschaulich bevormunden wollen. Er hat, wie Max Weber später sagen sollte, die Forderung nach Werturteilsfreiheit verletzt. Die Wissenschaft ist weltanschaulich neutral und es folgt aus ihren Resultaten weder politisch, noch moralisch etwas. Das wird hier als eine Strukturprämisse der Wissenschaft benannt. Die Wissenschaft ist gegen religiöse Überzeugungen indifferent. Man kann als religiöser Mensch oder als Atheist genauso forschen, wie als weltanschaulich neutraler oder religiös indifferenter Mensch. Sattler kennt jeweils Beispiele. Die Wissenschaft lässt beide gewähren. Das Bedürfnis nach einem stimmigen Weltbild, das eine Erklärung der großen Fragen der Menschheit bietet, wird von der Wissenschaft gar nicht abschließend befriedigt. Sie erlaubt es aber auch, das Bedürfnis offenzulassen und seine Befriedigung zurückzustellen. O: Herr Sattler, wir danken Ihnen herzlich für das Gespräch.
Auf ein Resümee wird an dieser Stelle verzichtet. Ich verweise auf die Zusammenfassung am Ende des Buchs. Wir wenden uns nachfolgend einem anderen Fall aus der Biologie zu, der einen interessanten Kontrast zum Fall Sattler erlaubt. Prof. Martens ist von Haus aus Chemiker und beschäftigt sich mit Proteinforschung. Wir werden das Interview nicht mehr komplett analysieren, sondern greifen uns einige ausgewählte Passagen heraus, die besonders aufschlussreich sind. Der leitende Gesichtspunkt soll sein, nach aufschlussreichen Kontrastfolien Ausschau zu halten und Aspekte zu vertiefen, die bei Sattler schon thematisch waren. Es geht also um Ge-
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meinsamkeiten und Differenzen und einen weiteren Feinschliff des Modells zum erfahrungswissenschaftlichen Habitus.
Fall 8: Prof. Dr. Martens, Proteinforscher und Forschungsdirektor Vorbericht Prof. Martens wurde 1963 geboren und hat von 1982-1985 Biologie studiert. Nach dem Studium der Molekularbiologie an einer Universität der Ivy League in den USA (1985-1990) wurde er 1991 dort promoviert. Er war von 1992 bis 1997 an einem Forschungsinstitut für Biochemie und hat anschließend vier Jahre (1997-2001) in einem großen amerikanischen Pharma-Konzern im Bereich der AntibiotikaForschung gearbeitet. Seit 2001 ist er Direktor und Wissenschaftliches Mitglied der Max-Planck-Gesellschaft und forscht zu den Grundlagen der Proteine. Seine Abteilung hat fast vierzig Mitarbeiter. Martens ist verheiratet und hat vier Kinder. Das Interview mit Hannes Martens ist in mehrfacher Hinsicht interessant.1 Martens ist ohne Zweifel ein herausragender Wissenschaftler. Ich kann vorwegnehmen, dass er eine überaus anspruchsvolle grundlagenwissenschaftliche Fragestellung verfolgt, deren Lösung eine bahnbrechende Bedeutung für viele Fächer haben dürfte. Er hat einen eigenen „philosophischen Bezug“ zu seinem Fach und entsprechende Erinnerungen an Urszenen, und er ist ähnlich wie Sattler als Leiter einer größeren Abteilung in der Grundlagenwissenschaft mit vielen Fragen der Organisation von Forschung betraut. Dabei vertritt er nicht immer dieselben Meinungen und Leitungsvorstellungen wie Sattler. Alles dies wird uns beschäftigen. Ein weiterer Grund, warum der Fall ausgewählt wurde, ist der, dass Martens nach seiner Promotion viele Jahre in einem namhaften pharmazeutischen Unternehmen in den USA gearbeitet hat und dort sogar ins Management aufgestiegen war. Er kennt also sowohl die Industrieforschung, als auch die Grundlagenforschung, hat Insider-Kenntnisse und kann informiert vergleichen. Er gehört zweifelsfrei nicht zu den Forschern, die – wie Sattler sie vor Augen hatte – in die Industrie gegangen sind, weil sie die Grundlagenforschung zu sehr frustriert hätte und ausgestiegen sind, damit sie ja dann 1
Das Interview wurde Anfang 2004 im Arbeitszimmer von Herrn Martens geführt.
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überhaupt nicht mehr denken (müssen) (Sattler). Er ist weder ein „Hardcore-Molekularbiologe“, der seine Karriere als Fachmenschen für Methoden und Labortechniken gemacht hat, noch ein Ingenieur der Life Sciences, dem es um praktische Problemlösungen für die Medizin, Pharmazie oder Ernährungsindustrie und ihre kommerzielle Verwertung ginge. Er ist ein autonomer Grundlagenforscher. Doch was waren seine Gründe dafür, in die Industrie zu gehen, und warum ist er wieder in die Grundlagenforschung zurückgekehrt? Was den Fall so interessant macht, ist die Tatsache, dass Martens lebensgeschichtlich eben keine gradlinige, rein innerakademische Karriere beschritten hat, sondern zwischen den verschiedenen Milieus der Wissenschaft gependelt ist und dabei auch die Logik einer kommerziell ausgerichteten Forschung auszufüllen verstanden hat. Er kennt die beiden Milieus, die sich nicht selten argwöhnisch voneinander abschotten, und hat dennoch durch beide seinen eigenen Weg erfolgreich gebahnt. Er gehört zu jener heute wachsenden Zahl an Naturwissenschaftlern, die ihre Laufbahn nicht mehr ausschließlich in Universitäten und Institutslabors machen, sondern Grenzgänger sind und den Schritt der Lebenswissenschaften zu einem auf mehreren Säulen ruhenden Forschungsbetrieb auch persönlich gegangen sind. Er hat darin eine habituelle Unabhängigkeit gewonnen, die es ihm erlaubt, die Institutionen sehr klar als „Instrumente der Forschung“ zu betrachten und nüchtern ihre strukturellen Vor- und Nachteile zu diskutieren. Das äußert sich in dem Interview. Im Laufe des Interviews lernen wir sehr deutlich, dass man nicht von der einfachen Gleichung ausgehen kann, dass Wissenschaftler in der Industrie letztlich dem Typ des Fachmenschen angehören, während Universitäts- und Institutsforscher dem Typ des autonomen Grundlagenforschers entsprechen. Es gibt beide Typen in beiden Milieus und auch die Industrie fördert, ja ermöglicht wenigstens zeitweise autonome Forschung. Das zwingt aber dazu, das Modell des Forscherhabitus noch weiter von den institutionellen Merkmalen abzulösen und die strukturellen Bedingungen stärker zu beleuchten, unter denen sich die Handlungsprobleme des Forschens jeweils zeigen. Aus dem zweieinhalbstündigen Interview zitiere ich nun fünf längere Abschnitte. Im ersten ist die Erfahrung in der Industrie thematisch. Im zweiten geht es um die Faszination der Proteinforschung und das konkrete Forschungsinteresse von Martens. Im dritten um die biographische Urszene. Der vierte Abschnitt behandelt das Verhältnis von Berufsrolle, Lebensentwurf und Familie. Und im fünften Abschnitt ist eine moderne Version des geistesaristokratischen Habitus des Wissenschaftlers Thema. Wir steigen in das Interview ein, nachdem bereits viele Probleme der Geschäftsführung, Teamleitung und Forschungsorganisation besprochen worden waren und Martens an dem Punkt ist aufzuzeigen, dass in seinen Augen viele promovierte Wissenschaftler auf die Aufgaben, die auf sie zukommen, wenn sie ein Team leiten sollen, nur ungenügend vorbereitet sind. Von Menschenführung, Doktorandenbetreuung, Projektbeantragung, Berichtswesen, „Closure“ (auf einen Abschluss hinarbeiten), Budgetplanung verstehen sie nicht viel. Das sind aber alles
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Dinge, die nach seiner Ansicht immer wichtiger werden. Er selbst habe sich vieles mehr schlecht als recht erarbeiten müssen und sei immer noch dabei, wobei ihm offenkundig seine Erfahrung in der Industrie geholfen hat. Darauf kommt er dann zu sprechen und schildert, wie zwei damalige Kollegen, die mit ihm ins Management aufgestiegen waren, mit den Bedingungen eines kommerziellen Unternehmens nicht zurechtgekommen sind. Wir nutzen dies als Einstieg in die Passagen, in denen die strukturellen Unterschiede zwischen der Industrieforschung und der autonomen Wissenschaft besonders gut sichtbar werden. Abkürzungen und Notationen F (Fragesteller): der Interviewer I (Interviewee): Prof. Dr. Hannes Martens HJK: Stadt in Süddeutschland (unv) unverständlich ?...? unsichere Verschriftung [...] gleichzeitig gesprochen # Wort abgebrochen + Heben der Stimme ___ betontes Wort (.) Pause (1Sek) I38 (Herr Martens): Als ich bei bei (uv) also in einer in der Firma, da bin ich relativ schnell ins Management aufgestiegen, wobei ich immer mein Labor weitergeführt hab, und äh einige der der anderen Laborleiter, die mit mir aufgestiegen sind, äh die haben relativ große Probleme entwickelt und zwei davon hab ich zu verschiedenen Zeiten [F: Mhm] mal bei nem Gespräch, als wir gar nicht am Campus waren, bei einem Bier hab ich die mal wirklich darauf angesprochen, ob sie jetzt glücklich sind mit den Entscheidungen, die sie getroffen haben und sie waren nicht, und sie waren im Stress und sie wussten nicht genau, wie’s weitergehen würde und so, [F: Mhm]
Martens unterscheidet also die Leitung eines Labors vom Management. Er und seine Kollegen leiteten Labors (mit jeweils ca. zehn Mitarbeitern) und waren als Forscher an der Durchführung und Auswertung der Datenerhebung beteiligt. Gleichzeitig hatten sie zusätzliche Aufgaben und ein Budget selbständig zu verwalten, für die korrekte Buchhaltung und das Controlling zu sorgen, Berichte zu schreiben und mit der Konzernleitung zu kommunizieren. Es kann sogar sein, dass Martens Managementaufgaben wahrgenommen hat, die über die Verwaltung seines eigenen Labors hinausgingen. Das ist hier nicht klar ersichtlich. Er war zusammen mit anderen Laborleitern aufgestiegen, der Konzern hatte ein neues Großprojekt aufgelegt und mehrere Forscher als Leiter befördert.
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Martens schildert nun, wie er bei seinen Kollegen eine berufsbiographische Krise heraufziehen sah. Er meinte, dass die beiden ihre Doppelaufgabe nicht gut vereinbaren konnten und darunter litten. Das hat er ihnen bei einer Gelegenheit außerhalb der Arbeitszeiten direkt gesagt und sie haben es ihm bestätigt. Er hat dabei nicht primär als Manager des Konzerns, sondern als Kollege mit ihnen gesprochen, er wollte wissen, ob sie glücklich waren mit dem, was sie tun. Welcher Natur war diese Krise? Offenbar haben die beiden gerne als Forscher im Labor gearbeitet, aber sie konnten die zusätzliche Managementaufgabe nicht zufriedenstellend bewältigen. Als Laborforscher haben sie an einer konkreten inhaltlichen Fragestellung weitergearbeitet. Als Manager mussten sie dafür sorgen, dass in einem bestimmten Zeitrahmen ein verwertbares Ergebnis vorlag und sie hatten nicht die Zeit und Muße, die Ergebnisse ihrer Arbeit reifen zu lassen, bis diese selber eine Klarheit erlangt hatten. Sie mussten vielmehr jeden Tag abschätzen, worauf die Befunde hinausliefen und ob sie im Sinne des projektierten Konzerninteresses einen verwertbaren Einzelbeitrag liefern würden oder nicht. Damit waren sie überfordert und es hat sie unter Druck gesetzt. und ich hab ihnen dringend geraten, wieder zurück ins Labor zu gehen. [F: Mhm] Meine Meinung war, bei der nächsten Fusion wird das mittlere Management durch die Fusion der zwei Firmen äh entrümpelt, [F: Mhm] und dass Leute wie sie einfach gnadenlos ausge(uv) werden. [F: Mhm] Und dass sie nicht nur unglücklich werden, sondern dass sie dann auch ihren Job loswerden. Und ehm der eine ist wieder ins Labor zurück, äh der andere ist dann freiwillig gegangen, (.) äh aber kurze Zeit später gab’s dann die Fusion mit (uv) und ich denke, der wäre entlassen worden. [F: Mhm] Ehm (.) aber ich fand, es war es war ohne Probleme abzusehen, [F: Ja] dass das kommen würde.
Martens wollte ihnen also helfen, rechtzeitig eine Entscheidung zu treffen, die für ihren persönlichen Werdegang gut war. Das beruhte auf der Einschätzung, dass die Firma mit einer anderen Firma fusionieren würde und das Management die Gelegenheit zur Auslösung einer Laborgruppe nutzen würde. Er sah eine Welle der kritischen Bewertung auf die Abteilungen zukommen und hatte eine schlechte Prognose für seine Kollegen. Die Krise war also doppelter Natur. Zum einen waren seine Kollegen persönlich unglücklich, weil sie den falschen Job machten. Zum anderen glaubte Martens, dass sie nicht mehr lange Zeit hätten, um darauf zu reagieren, denn es drohte ihre Entlassung. Vielleicht hatte er auch schon entsprechende Hinweise aus dem Management bekommen. Führend ist das Motiv, dass er eine persönliche Unvereinbarkeit zweier Aufgaben sieht, an der seine Kollegen litten. Es waren Forscher, keine Manager. F38 (Interviewer): Und die, also das war jetzt, Sie haben jetzt gesagt mittlere Ebene des Managements, das heißt jetzt aber [I: Ja] äh nicht äh die kaufmännische Seite natürlich, sondern
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die die /äh Planung, die Wissen#/ [I: /Nee Wissenschaftsmanagement/] das Wissenschaftsmanagement [I: Ja]
Martens widerspricht, als der Fragesteller die kaufmännische Seite und die wissenschaftliche Seite personell und administrativ aufspaltet. Wissenschaftsmanagement beinhaltet beides. Es bedeutet, dass ein Forscher im Labor arbeitet, seine Mitarbeiter leitet und gleichzeitig das Budget verwaltet und gegenüber der unternehmerischen Idee, die er vielleicht sogar selbst mit kreiert hat, Verantwortung zeigen muss. und äh also die Schwierigkeiten lagen dann darin, ehm aus der ja wo wo genau lagen da die Schwie# also sagen wa mal, warum lau# warum würden Sie sagen, dass Sie da etwas konnten, was die nich so konnten I39: Äh die hatten zwei Probleme, die mir sehr offensichtlich erschienen, die konnten, die hatten keine Vorstellung vom Closure, die konnten also Projekte nicht abschließen, [F: Mhm] äh und mindestens einer von ihnen hing emotional viel zu stark an seinem ?Fachgebiet? [F: Mhm] und ehm F39: Also an den großen Fragestellungen und I40: Nein eher an der kleinen Fragestellung. [F: Ah ja mhm] Also an dem wirklichen Zweck seines Labors, [F: Mhm] und ehm das is viel mehr in der in der Wirtschaft als als jetzt in der Wissenschaft so, dass man äh in einer Firma manchmal wirklich auf Befehl hin umstellen muss.
Die beiden Kollegen hatten folglich habituelle Schwierigkeiten, sich ihrer Aufgabe zu widmen. Was war aber genau das Problem? Für die Industrieforschung gilt im Prinzip dasselbe, was für die Grundlagenforschung auch gilt, dass nämlich zu Beginn eines Projektes nie genau vorhergesagt werden kann, wie die Forschung verlaufen wird. Es gibt zwar kalkulierbare Anteile, zum Beispiel kann man abschätzen, wie viel Zeit man benötigt, um das Genom eines Bakteriums labortechnisch zu sequenzieren, denn dafür gibt es Vergleichswerte. Man weiß, wie viele Nucleinsäuren bestimmt werden müssen und kann die Anzahl der nötigen Laborschritte abschätzen. Hierbei handelt es sich um standardisierte Operationen. Es gibt aber immer auch nicht kalkulierbare Anteile, die sich aus den je fallspezifischen Besonderheiten eines Projekts ergeben. Es gibt technische Unwägbarkeiten und man weiß nie, ob ein Bakterium nicht auch Überraschungen in sich birgt, die vielleicht sogar grundlagentheoretisch von Interesse sein könnten. Grundsätzlich unkalkulierbar ist zudem, ob sich eine Hypothese als tragfähig erweisen wird oder nicht, bevor man sie nicht getestet hat. Unsere Behauptung war daher, dass Wissenschaftler, die an grundlagenwissenschaftlichen Fragen arbeiten, notwendigerweise in eine offene Zukunft hinein forschen. Wenn sie sich auf die Erforschung eines Gegenstandes einlassen, können sie prinzipiell nicht wissen, wie lange und wie aufwendig sie for-
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schen müssen, wie viele Irrwege sie beschreiten und welche Ergebnisse sie erwarten werden. Sie wissen, dass die Dauer ihrer Forschung in erster Linie vom Gegenstand selbst bestimmt wird und erst in zweiter Linie von ihrem Arbeitseifer, den Ressourcen usw., auch wenn natürlich davon viel abhängt. Sie sind habituell auf eine zeitlich ungewisse Dauer der Erforschung ihres Gegenstandes eingestellt. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist, dass es sowohl äußere als auch immanente Gründe dafür gibt, die Forschung an einer Problemstellung zeitlich zu begrenzen. Jede Forschung muss von der Praxis alimentiert werden und die Praxis kann immer nur ein begrenztes Budget zur Verfügung stellen. Forschungsprojekte müssen schon allein deshalb rational organisiert werden. Es gibt aber auch die Gefahr einer Erstarrung in Routinen, wenn Projekte zu lange laufen oder gar auf Dauer gestellt sind. Ein lebendiger Forschungsprozess ist darauf angewiesen, dass es Zäsuren gibt und die Wissenschaftler sich Rechenschaft über das Erreichte ablegen. Die Notwendigkeit eines Closure ist daher auch in der universitären oder „reinen“ Grundlagenwissenschaft selbstverständlich gegeben. Im Prinzip ist das Abschließen eine Aufgabe, der sich jeder Doktorand am Ende seines Doktorats unausweichlich stellen muss. Mit dem Abschluss hängt zusammen, ein Thema, in das man sich jahrelang wie kein anderer eingearbeitet hatte, wieder abgeben zu müssen. Man muss damit leben können, dass der Gegenstand vielleicht noch nicht richtig ausgeforscht ist und es nur vorläufige oder Zwischenergebnisse sind, die man vorlegen kann. Man exponiert sich mit seiner Arbeit vor Gutachtern und einem Lesepublikum und trägt eine Verantwortung dafür, dass der Gegenstand die öffentliche Aufmerksamkeit bekommt, die er verdient. Es verdichten sich viele Momente einer Bewährung darin und der Abschluss ist daher in sich krisenhaft. Der Vorgang hat etwas von einer Geburt und Ablösung und ähnlich wie bei einer wirklichen Geburt zeigt sich darin die gesamte Palette der menschlichen Stärken und Schwächen im Gestalten von Übergängen. Closure bedeutet also mehr, als nur ein termingerechtes Einreichen von Manuskripten. Es verbirgt sich dahinter eine Schlüsselkompetenz des Forschers, die bereits im Studium bei Hausarbeiten geübt werden kann und spätestens in der Dissertation verbindlich gezeigt werden muss. Darin unterscheiden sich Industrieforscher und Grundlagenforscher gar nicht. In der Industrieforschung kommt allerdings noch etwas hinzu. Wie in der Grundlagenforschung auch trägt ein Laborleiter die Verantwortung dafür, dass ein von ihm geleitetes Projekt einen sinnvollen Abschluss findet. Aber das ist in der Industrieforschung noch einmal etwas anspruchsvoller, denn hier ist jeder Projektleiter letztlich einem Investor verantwortlich, der wissen will, ob eine unternehmerische Idee realisiert werden kann oder nicht, ob es reelle Aussichten auf ein marktfähiges Produkt gibt und wie viel man noch investieren müsste. Diesem Interesse muss sich ein Laborleiter verantwortlich fühlen. Er muss als Manager dafür sorgen, dass am Ende einer Frist ein verwertbares Ergebnis herauskommt. Seine Tätigkeit beinhaltet also eine spannungsreiche Doppelaufgabe:
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Als Laborleiter ist er der Aufgabe verpflichtet, eine wissenschaftliche Projektidee zu realisieren. Als Manager denkt er aber stellvertretend für den Investor und bewertet, was er als Laborleiter tut und ob es dem Konzern nützlich ist. Closure bedeutet in der Industrie daher gerade nicht, mit Zwischenergebnissen leben zu können. Es bedeutet, die eigenen Laborforschungen von vorneherein straff organisiert auf ein verwertbares Ergebnis hin zu steuern, das für die strategische Planung des Konzerns als Entscheidungsgrundlage dienen kann. Man ist verpflichtet, seine Berichte so zu verfassen, dass der Stand der Forschung unternehmerisch kalkulierbar wird. Und deshalb muss man als Laborleiter mit Verantwortung im Wissenschaftsmanagement gewissermaßen selbst eine Vorentscheidung treffen, ob ein nach einer bestimmten Zeit tatsächlich erreichtes Ergebnis ausreicht, um eine Fortsetzung der Forschung empfehlen zu können, oder ob das Gegenteil der Fall ist. Hierbei gibt es sicher Spielräume für Eigeninteressen, da letztlich nur der Laborleiter zumindest für eine gewisse Zeit die Resultate im Ganzen bewerten kann. Aber in the long run muss eine solche manageriale Einschätzung realitätsnah ausfallen und darf nicht zu riskant sein. Ein weiterer Unterschied ist folgender: Closure bedeutet in der Industrie nicht nur, dass man in der Lage sein muss, ein Forschungsthema abzugeben, auch wenn jenes Thema noch nicht ausgeforscht ist. Es bedeutet, dass man akzeptieren muss, wenn die Konzernleitung sich gegen die Fortsetzung eines Forschungsprojektes entscheidet, obwohl man selbst der Meinung ist, dass es sich auch unternehmerisch weiterhin lohnen würde und ein durchbrechender Erfolg schon im nächsten Quartal zu erwarten ist. Man muss es aufgeben können, obwohl man als Manager von ihm überzeugt ist, obwohl man als Wissenschaftler alle Interessen auf es konzentriert hat und das eigene Herz dran hängt. Wenn man also in der Industrie arbeitet, dann muss man sich im Klaren darüber sein, dass man sich mit einem Thema immer nur auf Abruf beschäftigt. Man darf sich von vorneherein emotional nicht zu sehr engagieren, weil man in einer Firma manchmal wirklich auf Befehl hin umstellen muss. Die beiden Kollegen von Martens hatten offenbar Schwierigkeiten, diese Doppelaufgabe zu bewältigen. Offenbar konnten sie die Logik unternehmerischen Handelns nicht in ihr Handeln als Laborleiter integrieren, haben nicht genügend interessenpolitisch gedacht und strategisch abgeklärt agiert. Martens hat das offenbar viel besser verstanden, er hatte Managerqualitäten und konnte zugleich als Forscher sein Labor leiten. [F: Mhm] Natürlich hat man Möglichkeiten, wenn einen etwas besonders interessiert, dann muss man schauen, dass man sich einen gewissen Freiraum schafft, um das noch nebenher, vielleicht mit ganz wenig Ressourcen zu machen, [F: Mhm] äh in der Hoffnung, dass man dann einen Erfolg hat, mit dem man dann das Ganze wieder auf den Tisch bringt. Das ist natürlich ein gewisses Risiko, aber man kann’s machen, aber man muss gleichzeitig bereit sein,
442 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE wenn man auf der Managementebene ist, das (uv) zu tragen, das ist der Wille der Firma und man ist im Prinzip in dieser Stellung angehalten, das umzusetzen. [F: Mhm]
Martens deutet an, dass sich seine beiden Kollegen auch ein wenig unklug verhalten haben. Ein Wissenschaftler muss seine eigenen Forschungsinteressen gar nicht verleugnen oder abtöten, wenn er in der Industrie arbeitet. Da der Wissenschaftsmanager eigenverantwortlich über seine Laborressourcen verfügt, kann er in einem gewissen Rahmen selbst bestimmen, woran gearbeitet wird. Er muss jedoch die Prioritäten beachten und sich seine Spielräume erst erarbeiten, indem er den Konzernwillen zufriedenstellend umsetzt. Wenn dann noch Zeit und Kraft bleiben, kann er sich mit seinen freien Kapazitäten nebenher seinerseits für eine eigene unternehmerische Idee engagieren. Er ist dann „Unternehmer im Unternehmen“ und trägt dafür auch das Risiko, dass es gelingt. Das wird von der Firma geduldet oder jedenfalls nicht kontrolliert, wenn die Gesamtleistung stimmt. Man will also gar nicht angepasste Angestellte, sondern selbständig denkende Forscher, die für ihr Unternehmen stellvertretend denken. Martens glaubt aber, dass seine Kollegen diesen Freiraum gar nicht nutzen konnten, weil sie mit der Gesamtkonstellation nicht fertig geworden sind. Sie konnten ihre Lage gar nicht mehr frei gestalten, weil sie mit der Doppelanforderung überfordert waren. Und ich war auf jeden Fall der Meinung, äh dass zumindest einer von denen nicht in der Lage sein würde, einen solchen Befehl umzusetzen, also einen solchen Wunsch, es wird ja nie als Befehl [F: Ja ja] formuliert, aber man weiß genau, was dahintersteht. [F: Ja] Und äh er hing so sehr an dem, was er jetzt grad gemacht hat, ehm dass ich ihm nicht zugetraut hab, dass er das wirklich machen würde, und das würde ihm sehr übelgenommen dann, [F: Mhm] äh und irgendwann, er würde nicht sofort entlassen werden, aber bei einer Restrukturierung wäre das natürlich ein Labor, das dann sofort gestrichen würde. [F: Mhm]
Martens sah voraus, dass es im einen Fall zu einer regelrechten Kollision zwischen Konzernrolle und Forscherhabitus gekommen wäre. Sein Kollege war zu sehr mit seiner Arbeit verwachsen, als dass er sich hätte umstellen können. Er hätte sich dem Befehl verweigert und das wäre sein Ende gewesen, glaubt Martens. Er hatte noch nicht die Erfahrung gemacht, dass von ihm eine radikale Umstellung erwartet werden könnte, die zur Folge haben konnte, dass er seine bisherige Forschung aufgeben müsste. Den Test darauf hatte es noch gar nicht gegeben. Er war mehr oder weniger naiv. Martens hatte hingegen begriffen, dass dies passieren konnte und er hat seinen Kollegen deshalb gewarnt. Interessant ist, was Martens über die Befehle im Unternehmen sagt. Es wird als eine bekannte Tatsache („ja“) unterstellt, dass eine Konzernleitung ihre strategischen Beschlüsse den Laborleitern niemals als Anweisung übermittelt, sondern als Wunsch. Dies ist eine Besonderheit der amerikanischen Unternehmenskultur.
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Der Wunsch drückt aus, dass dem Laborleiter eine weitgehende Unabhängigkeit und Entscheidungsautonomie zugestanden wird. Warum macht man das, obwohl doch jeder weiß, dass hierarchische Organisationen einen Entscheidungsspielraum in so wichtigen Fragen gar nicht zubilligen können, weshalb ja auch jeder weiß, dass der Wunsch als Direktive interpretiert werden muss und eine Nichtbefolgung ähnliche Konsequenz haben würde wie eine Befehlsverweigerung? Darin drückt sich aus, dass die Amerikaner ihre Firmen viel mehr als in Europa als Gemeinschaften ansehen, die sich hinter einer unternehmerischen Idee versammelt haben, zu deren Gelingen jeder auf seine Weise sein Bestes geben will. Von einem Mitarbeiter wird angenommen, dass er stolz darauf ist, zu seiner Firma zu gehören, und es wird stillschweigend erwartet, dass er strategische Entscheidungen der Firmenspitze aus eigenen Stücken mitträgt. Man will, dass die Gemeinschaft als ganze hinter einer Neuausrichtung steht und jeder einzelne Mitarbeiter aus freien Stücken mitzieht. Wenn sich ein Laborleiter also dem Wunsch nach Neuausrichtung seines Labors offen verweigert, ist er für seine Firma nicht mehr zu gebrauchen. Er gehört nicht mehr dazu. Die Ursprünge dieser Logik im protestantischen Sektenwesen Nordamerikas sind unschwer zu erkennen. Und ehm der andere, der hatte eben kein keine Vorstellung von Closure, und konnte deshalb immer wieder bei diesen Präsentationen nur Zwischenergebnisse auf den Tisch legen. Es war immer ein Zwischenergebnis, er hatte nie ein abgeschlossenes Projekt, wo er zeigen konnte, hier sind wir angekommen. [F: Mhm] Und ehm als Wissenschaftler ist das ja ok, das is ja nicht dann die eigene Verantwortung, man macht und macht und macht, das ist an dem Manager des Labors, die Verantwortung sicherzustellen, dass bestimmte Punkte erreicht werden. [F: Mhm] Aber sobald er eben zum Manager geworden ist, war es seine Verantwortung. [F: Mhm] Und ich war sicher, dass er zur Verantwortung gezogen würde. [F: Mhm ah ja] (.) Und er hat’s auch eingesehen, er ist dann wieder ins Labor gegangen. [F: Mhm] Und ist sehr glücklich. (.)
In den Präsentationen hatte sich mitgeteilt, dass Martens Kollege nicht verstanden hatte, worauf es der Firmenleitung ankam. Es fehlte die eigenständige Bewertung der Resultate im Sinne einer unternehmerischen Kalkulation. Er hat rhetorisch den Eindruck erweckt, dass er schnell wieder zurück ins Labor will, um weiterzuarbeiten, und die Bewertung anderen überlassen. Das war zu wenig. Er hätte zeigen müssen, dass er sich aktiv an der strategischen Planung beteiligt. Martens sieht darin eine Haltung, die man sich leisten kann, wenn man als Laborwissenschaftler keine Leitungsfunktion und keine Verantwortung gegenüber dem Management hat. Äh ich hab’s mir auch, also der der Grund, warum ich die beraten konnte, war, weil ich mir die Frage auch sehr intensiv gestellt hab, will ich das machen oder will ich das nicht machen. [F: Mhm]
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Jetzt kommt Martens auf sich selbst zu sprechen und es wird sichtbar, dass er sich vor eine ähnliche biographische Entscheidung gestellt sah wie seine Kollegen. Das ist nun sehr aufschlussreich. Erstens kann man daran ablesen, dass es eine Synchronie der Karrieren gab. Martens war ungefähr zur selben Zeit Laborleiter geworden, wie seine Kollegen, und er war zur selben Zeit mit dem Problem konfrontiert worden, ob die institutionelle Berufsrolle des Managers eigentlich zu seinem Lebensentwurf passte. Anders als seine Kollegen hat Martens das aber klarer gesehen. Er formuliert es als eine Frage der Authentizität. will ich das machen oder will ich das nicht machen Offenbar gab es widerstreitende Bedürfnisse und er hatte gemerkt, dass er auf Dauer eine der Bedürfnisse würde vernachlässigen müssen. Es ging für ihn darum, den Weg der Industrieforschung fortzusetzen und die Konsequenzen zu tragen oder ihn wieder zu verlassen. Die Kollegen verbindet daher zweitens mehr als nur ihre gemeinsame Firmenzugehörigkeit. Sie haben sich in einer kritischen Lebenslage geholfen, in der sie sich über ihre Lebensentwürfe ausgetauscht haben. Äh und ich bin gegangen, ich bin zur Max-Planck-Gesellschaft gegangen, ich hab entschieden, ich will das nicht machen, ich hänge zu sehr an meiner Fragestellung, [F: Mhm] und ich hab mir halt einen Job gesucht, wo ich das machen kann.
Auch Martens hat sich gegen die Managerkarriere in der Industrie entschieden und seine Rückkehr in ein grundlagenwissenschaftliches Institut angestrebt, weil er vorausgesehen hat, dass es ihn auf Dauer etwas kosten würde, wenn er seine Forschungsinteressen von Konzernbeschlüssen abhängig machen würde. Er hatte eine eigene Fragestellung im Kopf und er hatte gemerkt, dass sie ihm so viel bedeutete, dass er sich hätte verleugnen müssen, wenn er sich dauerhaft in den Dienst einer Firma gestellt hätte, die von ihm verlangte, auf Befehl auch andere Forschungen zu betreiben. Das hätte ihn wahrscheinlich irgendwann unglücklich gemacht. Martens hatte demnach eine habituell starke Verwurzelung in der autonomen Wissenschaft, die er aber erst in der Industrie wirklich begriffen hat. Dies wirft die Frage auf. Warum er überhaupt in die Industrie gegangen war. Die Entscheidung gegen die Managerkarriere dürfte ihm jedenfalls nicht leicht gefallen sein, denn er hatte bereits Familie, die an einen anderen Ort umziehen musste, und er dürfte ein sehr lukratives Einkommen aufgegeben haben. Die Rückkehr in die autonome Forschung war das Ergebnis einer Prüfung seines biographischen Lebensentwurfes, weil er bereits eine entwickelte Forschungsfrage im Kopf hatte, mit der er persönlich so stark verwachsen war, dass sie Teil seiner Identität geworden war. Martens schildert das hier als eine ganz rationale Entscheidung. Aber im Grunde hat er sein Herz entscheiden lassen und nicht den Kopf. („ich hänge zu sehr an meiner Fragestellung“). Die Stelle ist ein starker Beleg für unsere These, dass der Wissenschaftlerberuf nicht in der Berufsrolle alleine aufgeht, sondern immer den ganzen Menschen umfasst. Martens beschreibt dieselbe biographische Entscheidungskrise, die Sattler für
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die Industrieforscher unterstellt, nur unter umgekehrten Vorzeichen. Er ist nicht deshalb in die Industrie gegangen, weil er in der Grundlagenforschung gescheitert gewesen wäre: damit er „überhaupt nicht mehr denken“ muss. Er ist wohl davon ausgegangen, dass er auch in der Industrie an der ihn interessierenden Fragestellung weiterkommen würde, oder er hat gedacht, dass er unabhängiger operieren kann und seine Frage auch mal einige Jahre zur Seite legen kann. Er war demnach offen für verschiedene Lebensläufe und erst vor die Wahl gestellt hat er gemerkt, dass er ein Grundlagenforscher ist, der sich die geeigneten institutionellen Rahmenbedingungen suchen muss, um seiner Fragestellung optimal nachgehen zu können. Es war ein Lernprozess. Antibiotikaforschung F40: Also die, ehm (.) ja warum sind Sie denn äh überhaupt dann mal in die Wirtschaft gegangen, ehm [I: Ja ja äh] in die Industrie oder, was genau war war das für ne [I: Ja] Forschung, also das, war das Pharmazie oder+ I41: Ja, wir haben Antibiotika gesucht. [F: Mhm] Ehm dazu muss ich Ihnen sagen ehm, Antibiotika war früher ehm, das war Glückssache. Man hat natürlich äh ehm äh Systeme erkundet, [F: Mhm] äh Pilze und (uv) also Bakterien, äh vor allem ?Boden? (uv) und hat sich angeschaut, ob da nicht Substanzen produziert werden, die auf andere Bakterien toxisch wirken. [F: Mhm] Das sind Antibiotika. [F: Mhm] Und so haben wir alle unsere wichtigen Antibiotika gefunden, Penicillin und (uv) Chloramphenicol und diese ganzen Sachen. [F: Mhm] Sind alles natürliche, natural compounds, [F: Mhm] natürliche Substanzen, die gefunden wurden, die im La# Labor dann noch abgeändert wurden, damit sie eben besser verträglich sind, [F: Mhm] länger im Körper verweilen und so weiter, besseres Spektrum haben. Und ehm zu der Zeit, wo ich mich umgesehen hab, das war äh 1996, da war grad etwas sehr sehr Wichtiges in der Mikrobiologie passiert, es wurde das erste Genom eines Bakteriums sequenziert, [F: Mhm] das vollständige Genom. Man wusste also die gesamte Information, die im Bakterium vorhanden ist. Und es war klar, dass das jetzt zu einer sehr großen Welle werden würde und äh (.) eine Firma im Besonderen, also (uv) is da voll draufgesprungen, hat gesagt, ok, wir wir verlassen jetzt diesen alten Pfad und wir machen Antibiotika rational.
1996 war er wahrscheinlich gerade mit seiner Dissertation fertig und hielt nach einer geeigneten Stelle Ausschau. Er hatte damals verstanden, welche Möglichkeiten aus der DNA-Sequenzierung des ersten Bakteriums (1995 Haemophilus influenzae) für die Forschung erwachsen könnten und offenbar ist er auch deshalb in jene Firma eingetreten, weil sie als erste auf konsequente Weise diese Möglichkeiten umsetzen und nutzbar machen wollte. Er ist auf einen Zug aufgesprungen, den jene amerikanische Firma gerade anfahren ließ, und man kann gut erkennen, dass der Reiz von der Umstellung der Vorgehensweisen ausging. Wir machen Antibiotika rational bedeutet ja, dass man nicht mehr in einem Trial and Error-Verfahren die Natur nach
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toxischen Stoffen absucht, mit denen man Bakterien abtöten kann, sondern dass man die Suche von einem Verständnis des Genoms des Bakteriums ausgehen lässt und systematisch Stoffe entwirft, die die Reproduktion und Vermehrung der Bakterien im menschlichen Körper unterbrechen. Wir wir nehmen all unsere pathogenen Organismen, die Organismen, die wir töten wollen, wir sequenzieren deren Genome, dann wissen wir bei allen, was drin ist, dann vergleichen wir alle Proteine, die drin sind, und diejenigen, die in allen unseren pathogenen drin sind, die nehmen wir, das sind ?gute? Proteine, die können wir versuchen zu stören, [F: Mhm] wir schauen, welche von denen im Menschen sind, dazu nehmen wir uns auch das menschliche Genom soweit es vorhanden ist, wenn etwas natürlich im Menschen nicht vorhanden is, is es viel angenehmer, weil dann brauch man nicht Angst zu haben, dass irgendeine ?Cross-Reaktivität? vorhanden is, [F: Mhm] wo man auch den Menschen mit ?vergiftet?. (.) Und dann hat man eben ein Set von Genen, die kommen nur in pathogenen Bakterien vor und überall ?in denen?, und dieser die äh knockt man dann aus, genetisch nimmt man sie raus, und sieht, ob das Bakterium dann stirbt, wenn das Bakterium stirbt, dann sind diese Gene essentiell, man braucht die zum Leben, das heißt sie sind gut zum ?Vergiften? und diese geben wir dann in eine chemische ?Mühle?, wo sie alle durchseku# durchge- äh gescreent werden, [F: Mhm] mit Millionen von Chemikalien. [F: Mhm] Und dann finden wir irgendwelche Chemikalien, die eine Aktivität entfalten und anhand von denen arbeiten wir dann weiter und [F: Mhm] letzten Endes haben wir dann unser Antibiotikum. [F: Mhm]
Martens schildert das Programm wie einen großen Generalstabsplan, mit dem die Antibiotika auf der Basis einer kompletten Rekonstruktion der Genome aller bekannten schädlichen Mikroorganismen systematisch erschlossen werden soll. Man sucht nach Genen, die für die Genese (z.B. der Zellwandbildung) und Reproduktion (z.B. die Replikation der DNA) der Bakterien verantwortlich sind und zwar nach solchen, die nur in den Bakterien vorkommen. Ein Ansatz ist die Proteinforschung. Gene erzeugen und steuern Proteine, und wenn man in Bakterien Proteine identifiziert, die im Menschen nicht vorkommen, hat man nicht nur einen Ansatzpunkt, um das Leben bakterieller Organismen zu stören, ohne unerwünschte Wirkungen zu verursachen. Man kann auch die hinter den Proteinen stehenden Gene besser identifizieren. Das ist das eigentliche Ziel. Hat man Gene identifiziert, die nur in den Bakterien vorkommen, dann muss man im nächsten Schritt herausfinden, ob sie für das Leben der Organismen essentiell sind, indem man das Genom manipuliert und die Gene ausschaltet. Man erzeugt künstlich „Mutanten“ und beobachtet, ob sie lebensfähig sind. Wenn nicht, hat man die Gene herausgefunden, an dem man bei der Suche nach geeigneten Giften ansetzen kann. Man sucht nicht nur nach Chemikalien, welche z.B. die Proteinsynthese hemmen, sondern nach Stoffen, die die Gene direkt zerstören. Und diese Stoffe sucht man nicht alleine nur in der Natur, sondern unter allen bekannten Chemikalien. Im Grunde kann sogar an die Synthese
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neuer Chemikalien gedacht werden, wenn man die Eigenschaften kennt, die sie haben sollen. In dem Programm wird also ein rekonstruktives Vorgehen mit einem Ausschlussverfahren gekoppelt. Martens erzählt von dem Forschungsansatz, als sei es nach der ersten DNA-Sequenzierung eines Bakteriums eigentlich nur noch eine Routine und Frage des Aufwands gewesen, für alle pathogenen Mikroorganismen passende Antibiotika zu finden. Er hatte sich diesen Ansatz also zu eigen gemacht, sich in dessen Dienst gestellt. Und das klang auf Papier wunderbar. [F: Mhm]
Es hat also in der Wirklichkeit nicht so funktioniert, wie gedacht. Interessant ist der Imperfekt. Martens hatte sich damals für das Programm begeistert und an es geglaubt. Es gab einen gewissen Enthusiasmus unter den Wissenschaftlern, die von der Firma für das Programm angeworben worden waren. Irgendwann sind dann aber Schwierigkeiten aufgetreten und die anfängliche Begeisterung ist verflogen. Damit zeichnet sich auch ein Motiv dafür ab, warum Martens aus der Industrieforschung wieder ausgeschieden ist. Er war ernüchtert und hat die Schwierigkeiten gesehen, die ihn vermuten ließen, dass es mit dem Arbeitsprogramm so nicht weitergehen würde. Und ehm da hab ich mich daran beteiligt, das war ein Riesenprojekt, da waren über 300 Millionen Dollar darin investiert. Da wurden also Genome sequenziert, es wurde Bioinformatik getrieben, äh es wurde versucht eben zu verstehen, wie diese Organismen aufgebaut sind, es wurde Chemie gemacht, es war sehr in#, wissenschaftlich faszinierend. Sehr gute Genetik, alles auf breitester Stufe, [F: Mhm] so was kann man in einem Labor nicht (uv) an einer Uni oder so F41: Wie viel Leute waren da so beteiligt da I42: Es waren so 200 Mikrobiologen und 20 Bioinformatiker und 60 Chemiker und zehn Patentanwälte und so um den Dreh also, eine große Einheit. [F: Mhm] Viel Geld, viele Ressourcen, etwas, was wirklich nur in der Wirtschaft passieren kann. [F: Mhm] Und eben absolut Cutting edge ... modernste Wissenschaft [F: Ja ja] besser geht’s nicht.
Das Bild rundet sich ab. Als Martens 1996 in die Industrieforschung ging, geschah das in erster Linie, weil er ein persönliches Interesse am medizinischen Kampf gegen Krankheiten gehabt hätte. Es war eher die gigantische Dimension des wissenschaftlichen Projekts, die ihn fasziniert hat. Er hatte das Gefühl, bei einem ganz großen Ding dabei zu sein. Die Firma hatte sich am neuesten Stand der Entwicklung orientiert und viel Geld in die technologische und personelle Ausstattung investiert. Der Ausdruck „Cutting edge“ (eigentlich die scharfe Kante eines Metallstücks) bezieht sich ja auf die vorderste Front einer Bewegung – The position of greatest advancement. Die Firma hatte in allem die innovativsten Lösungen ge-
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wählt. Martens konnte Technologien und Apparate benutzen, die er noch nicht kannte und die auch nur selten an einem Platz versammelt sind. Die Laborarbeit war komfortabel, rationell. Man wurde nicht bürokratisch ausgebremst, wenn man eine neue Apparatur anschaffen wollte. Martens sagt selbst, dass ein wissenschaftliches Arbeiten in solchen Dimensionen an Universitäten (in Europa zumindest) undenkbar wäre. Es war also der Reiz der Rahmenbedingungen. Er wird sehr viel gelernt und persönlich profitiert haben. Und das scheint ein Hauptmotiv gewesen zu sein, als er in die Industrieforschung gegangen ist. Hinzu kam aber sicher auch, dass er es nicht als abschreckend, sondern als Herausforderung empfunden haben muss, in einem so großen Laden zu arbeiten. Nicht alle Wissenschaftler wollten und könnten das. Unter annähernd dreihundert Forschern, die alle demselben Programm zuarbeiten, zu forschen, kann anregend, aber auch kompetitiv sein. Es ist schwer, in einem solchen Rahmen einen sichtbaren Beitrag zu leisten. Offenbar war er aber so gut, dass er dies bewältigen konnte. Schließlich hat ihn auch damals schon die Managementaufgabe gereizt, die mit einem so großen Verbund sich stellt. Seine eigene Fragestellung ist bei alledem noch nicht sichtbar. Es muss sie aber schon gegeben haben, denn andernfalls wäre er nicht in jenen Konflikt geraten, von dem er oben spricht. Offenbar war es so gewesen, dass er mit einer Expertise zu der Firma gegangen war, die er sich während des Studiums und seiner Dissertation erarbeitet hatte und die auch für die Firma von Interesse war. Es gab Überschneidungen zwischen seiner bisherigen Forschung und der Antibiotikaforschung, die er eine Zeit lang auch für seine eigenen Forschungsinteressen nutzen konnte. I45: Äh was mich ebenfalls gereizt hat, war die Tatsache, dass äh ich extrem viel mehr verdient hab, (F: lacht) mein Gehalt ist also, locker auf’s Doppelte gestiegen. [F: Aha] Und ich muss sagen, also mit einem ?BAT2-Gehalt? und vier Kindern und einer Frau, die daheim is, is es knapp. [F: Mhm] Wir sind zwar gut über die Runden gekommen, ich hab, ich möcht mich nicht beklagen, aber in HJK [Stadt in Bayern] mit einem ?-Gehalt eine sechsköpfige Familie zu unterhalten, is schwierig. [F: Mhm] Und äh in den USA hatten wir unser eigenes Haus, ich hatte Geld und alles, das war kein Thema, also das war auch eine gewisse Attraktion. [F: Mhm] Äh dann muss ich sagen, hatt ich in Deutschland sehr wenig Chancen, also ich hab mich auch in Deutschland beworben, und äh es war da vollkommen unattraktiv zu bleiben. Also was was äh das einzige Angebot, das ich wirklich halbwegs noch für akzeptabel fand, war bei der Firma XXX in [Stadt in Süddeutschland]. [F: Mhm] Äh eine nich unähnliche Rolle, die ich dann in den USA gespielt hab, äh die mir aber nur einen Bruchteil des des Gehalts gebracht hätte, und viel mehr Auflagen. (.) Und (uv) gesagt also, na ja. Und die deutsche Firma hatte auch nicht die Ressourcen, um wirklich einzusteigen. [F: Mhm] Die hatten nicht 300 Millionen, um da richtig mal was zu tun.
Zwei andere Motive werden genannt. Bis 1996 hatte er eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter mit einem BAT 2a Gehalt. Er war also in irgendeinem zeitlich
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befristeten DFG- oder MPI-Projekt angestellt und das Netto-Einkommen betrug ca. € 2.800,-. In HJK war das Niveau der Mietkosten schon damals hoch und eine 4-5 Zimmerwohnung kostete je nach Lage zwischen zweieinhalb- und viertausend DM im Monat. Er hatte sich also mit seiner Frau und den Kindern wirklich einschränken müssen, der Schritt nach Amerika war eine finanzielle Befreiung aus einer beengenden Lage. Das Geldmotiv ist aber nicht das gleiche wie bei einem Manager, für den die Höhe des Einkommens nomineller Ausdruck eines Karriererekords ist, auf den er unbedingt achten muss. Martens hat in Deutschland einfach nicht das Auskommen gefunden, das er für ein sorgenfreies Leben seiner Familie benötigt hätte. Aber es spielt noch etwas anderes mit: Er wusste offenbar auch, dass er etwas zu bieten hatte und wollte sich in seiner fachlichen Entwicklung nicht unnötig ausbremsen lassen. Es sollte eine Stelle sein, bei der es ernsthaft um die Forschung ging, an der er interessiert war. Und das konnten ihm nur die Amerikaner bieten. In Deutschland gab es zu viele Hindernisse, auch solche bürokratischer Art. Wenn die Konditionen jedoch gestimmt hätten, wäre er auch in Deutschland geblieben. Martens ist nicht nach Amerika, weil er unbedingt dorthin gewollt hätte. [F: pro Jahr+] Nein nein 300 Millionen war der Gesamtrahmen. F45: Für für wie viel Perso# I46: Für die Sequenzierung und für diese /?Leute?/ F46: /Ja/ ach so und das war für g# für das Ziel /und wie lang es dauert (uv)/ I47: /Für dieses Ziel, ja/ ?350? Millionen (uv) [F: Ah ja mhm] für dieses Ziel, wobei das äh das waren, also das was man ?Verbrauchsmittel?, Sequenziermittel und so weiter, (uv) die die Angestellten, die Gehälter und so, die sind nicht in dieser Summe drin, die waren, die [F: Mhm] wurden von der Firma separat abgerechnet [F: Mhm] (uv). [F: Ah ja] Also da geht’s nur um die [F: /Projektmittel ja/] /Investitions-/ und Sachmittel ja. [F: Mhm] Und das war halt schon beeindruckend. Und da haben wir auch viel gemacht, das war [F: Mhm] sehr interessant. [F: Mhm] Äh ich hab mich damals, also ich muss sagen, ich bin im ersten Jahr schon ins Management aufgestiegen und ehm ich hab die Planung gesehen und wie das lief und mir ist damals klar geworden, in spätestens fünf Jahren muss ich da weg sein, weil dann meine Fragestellung ?zu genau wird? Und da hab ich mich eben konsistent und konsequent darauf beworben, dann wieder zurückzukommen. [F: Mhm] Aber ehm (..) ich hätte mich auch entscheiden können, in USA in der Wirtschaft zu bleiben, ich hätte nur dann meine Fragestellung aufgegeben und etwas ganz anderes gemacht.
Jetzt kommen wir wieder zum Ausgangspunkt zurück. Das Antibiotikum-Projekt hatte Martens ermöglicht, seinen Forschungsinteressen nachzugehen, und Bedingungen geboten, die er sonst nirgends angetroffen hätte. Er konnte sich also mit seiner Fragestellung, die ja noch nicht expliziert ist, weiterentwickeln, und zusätzlich soziale und finanzielle Bedürfnisse befriedigen. Aber er hat früh antizipiert, dass das Arrangement wieder aufgelöst werden müsste, und zwar nicht, wie wir
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bisher angenommen haben, weil er das Scheitern des Antibiotikaprojekts vorhergesehen hätte, sondern weil er ein Auseinanderdriften zwischen seinen persönlichen Forschungsinteressen und den Interessen der Firma vorausgeahnt hat. Das ist nun interessant. Bislang kam beides immer noch zur Deckung. Aber er hat offenbar von Anfang an seine eigene Fragestellung im Kopf gehabt und seine Anstellung in Amerika dazu genutzt, an ihr weiterzuarbeiten. Aber er hat erkennen können, dass er irgendwann in diesem Arrangement selbst nicht mehr weiterkommen würde. Martens hatte also einen autonomen wissenschaftlichen Lebensentwurf, er war mit der Firma eine strategische Allianz zum beiderseitigen Nutzen eingegangen. Er leitete für die Firma ein Labor und gleichzeitig hat er die Arbeit dort für seine persönlichen Interessen genutzt, indem er die Ergebnisse immer für seine Fragestellung mitausgewertet hat. Je weiter er dabei kam, desto eigenständiger wurde diese Fragestellung und desto größer die Notwendigkeit, ihr in einem eigenständigen Forschungsprojekt ohne Fesseln oder Einschränkungen nachgehen zu können. F47: Mhm, also ehm die Arbeit in Amerika das lag gewissermaßen äh noch innerhalb des /Spektrums Ihrer Interessen/ [I: /Ja das war direkt in der Richtung die/] und dann haben Sie aber antizipieren können, dass das irgendwann zu Ende geht [I: Ja] und dann dann haben Sie gewissermaßen, hätten Sie entscheiden müssen, ob Sie irgendwas sich von außen, mehr oder weniger, ehm [I: Genau] vorsetzen lassen sollen, oder Sie an Ihrem fest [I: Genau] ja I48: Gut, wobei das also das muss man differenzieren, ehm (.) als als ich mal die Zahlen einsehen konnte, bin ich sehr schnell zu der Überzeugung gelangt, dass man mit Genomen kein Geld machen kann. [F: Mhm] Äh ich war also sicher, dass dass man mit dem Programm kein Geld machen würde, die Frage war nur, wie lange würde es dauern, bis die’s merken. [F lacht) ja+, und [F: Mhm] das hab ich eben auf vier Jahre eingeschätzt, also fünf Jahre insgesamt [F: Mhm] äh F48: Das war Ihre private /uv/ I49: /Das war/ meine Einschätzung ja. [F: Ja] Und das stimmt auch, ein halbes Jahr nachdem ich weg bin, haben sie den ganzen Fachbereich abgewickelt, [F: Mhm] äh wobei mein Weggang das unter Umständen beschleunigt hat, aber ich bin sicher die hätten’s so oder so (uv) [F: Mhm]
Jetzt argumentiert er wieder als Manager und betont noch ein zweites Motiv für seinen Absprung. Er hat das Ende des Genomprojekts auch aus unternehmerischer Sicht kommen sehen. Ins Auge stechen seine berufliche Selbständigkeit und sein nüchternes Urteil, das von einem großen Selbstbewusstsein zeugt. Dass mit dem verfolgten Ansatz keine Gewinne zu machen sein würden, kann er nur deshalb früher gesehen haben, weil er näher an der eigentlichen wissenschaftlichen Arbeit dran war und die Kosten und zukünftigen Schwierigkeiten abschätzen konnte. Er sah sich deshalb vor eine biographische Weiche gestellt und hat sich für die Forschungsfrage entschieden.
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F49: ... und würden Sie dann sagen, ist, also was ist der wichtigste Unterschied äh zwischen den Wissenschaftlern, die da in der Industrie bleiben, ehm sich äh dort ihre Interessen äh suchen und sie auch finden und was ist die, ja was is das, was äh was Sie hierher zurückgeführt hat in die [I: Mhm] ja Grundlagenwissenschaft letztlich ja. (..) I50: Ja, äh ich glaub, das is alles recht multikausal. Äh zum Teil spielt (uv) also wenn man angefangen hat, an der Uni zu arbeiten, können sich viele Leute überhaupt nich vorstellen, die Uni zu verlassen. Äh das is so, wie die Mutter, die man dann nicht verlassen kann. (F lacht) Und und irgendwann is es dann zu spät, irgendwann will die Univer# äh will die Industrie einen nicht mehr haben, weil sie sagt, (uv) die sind verdorben, mit denen können wir nicht mehr arbeiten.
Martens antwortet nicht direkt auf die Frage. Stattdessen setzt er generalisierend an. Seine These ist, dass nicht ein Motiv alleine ausschlaggebend war, sondern mehrere, die zusammenkamen. Man sollte die Entscheidung also in der Gesamtkonstellation betrachten, in der sie getroffen wurde. Dann greift er sich ein erstes Motiv heraus und es wird nicht sofort ersichtlich, was sein Argument ist. Er kommt zunächst nochmals auf das Motiv zurück, überhaupt in die Industrieforschung zu gehen. Martens setzt eine strukturelle Differenz zwischen der Industrieforschung und der Universität voraus und skizziert vor diesem Hintergrund zwei Typen von Wissenschaftlern. Der eine Typus ist dadurch gekennzeichnet, dass er nach dem Studium in der Universität verbleibt und seinen Lebensentwurf vollständig auf dieses Milieu ausrichtet mit der Folge, dass er habituell mit der Institution verwächst und sich irgendwann nicht mehr von ihr lösen kann. Das wird exemplarisch für die Universität ausgeführt, aber es ließe sich vice versa auch für die Industrie konstruieren. Irgendwann ist der Zeitpunkt verpasst, an dem man noch wechseln kann. Es gibt für den Wechsel kriteriale Phasen und wenn diese verpasst werden, ist man für das jeweils andere Milieu nicht mehr zu gebrauchen (verdorben), weil man dann zu sehr in den jeweiligen Routinen habituell einbetoniert und nicht mehr flexibel und offen genug ist. Der andere Typus bildet eine Gruppe, die diese Phase für einen weiteren Bildungsprozess nutzen will, um noch einmal etwas anderes zu sehen und fremde Bedingungen kennenzulernen. Das war auch ein Motiv Martens, als er nach Amerika gegangen ist. Ihm entspricht ein normatives Modell. Martens findet es für die Reifung des Berufshabitus gut, wenn die Wissenschaftler nach ihrer Promotion sich nicht zu früh an die Universitätskarriere binden, sondern die Chance eines Wechsels nutzen, um eine innere Distanz zur Universität aufzubauen und sich von den strukturellen Besonderheiten dieses Karrieretypus abzulösen. Martens Argument lautet nicht, dass man unbedingt mal in der Industrieforschung gewesen sein sollte, sondern dass man überhaupt den Mainstream verlassen hat, um innerlich Alternativen zur Hochschullaufbahn zu entwickeln, damit man mehr Möglichkeiten hat. Das geht nur, wenn man sich mal in einem anderen Umfeld behauptet hat und weiß, dass man auch etwas anderes machen kann. Man ist dann freier. Für den Biologen
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ist die Forschung in der pharmazeutischen Life Sciences-Industrie ein geeignetes Bewährungsfeld. Aber es wären sicher auch andere Wege denkbar. Martens folgt hier dem Gedanken eines Bildungsprogramms, das auch schon vom Studenten fordert, mindestens einmal die Universität zu wechseln, in Vorlesungen fremder Fächer hineinzuhören und im Ausland zu studieren. Alles vergleichbare Bildungsprozesse, die den Horizont erweitern. Es folgt der Idee einer Grande Tour. [F: Mhm] Umgekehrt geht’s auch, dass jemand in der Industrie angefangen hat und sich an die Arbeitsweise gewöhnt hat und auch an das Gehalt und an (.) verschiedene Sachen äh, die damit einhergehen und eben nicht mehr an die Uni zurück kann oder an die Uni kann überhaupt, [F: Mhm] äh weil so viele der wichtige Grundpfeiler nicht mehr gegeben sind,
Unsere Cross-Over-Lesart wird explizit. Martens sieht wie Sattler in der Grundlagenwissenschaft und der Industrieforschung vollkommen differente Milieus. In beiden Milieus verwurzeln sich die Wissenschaftler mit spezifischen Alltagsgewohnheiten und Erwartungen und das geht bei manchen so weit, dass sie in das jeweilige andere Milieu aus habituellen Gründen nicht mehr hinüberwechseln könnten. Wenn sich die Gepflogenheiten eines Milieus erst einmal gewohnheitsbildend in der Persönlichkeitsstruktur niedergeschlagen haben, ist das kaum mehr aufzulösen, so das Argument. Dem Typus eines milieugebundenen Wissenschaftlers steht der andere Typus eines Forschers gegenüber, der sich eine persönliche Unabhängigkeit zu bewahren versucht, indem er eine zu frühe Bindung vermeidet und neue Herausforderungen sucht. Auch ihn gibt es in beiden Milieus, ist hier implizit gesagt. Es wäre falsch, wenn man annähme, dass in der Industrie nur die gescheiterten Grundlagenforscher und Ingenieure der Labortechniken arbeiten würden. Es gibt auch dort Wissenschaftler mit einer grundlagenwissenschaftlichen Einstellung und Interesse für elementare Fragen. Martens sagt aber, dass die Industrieforschung für diese Leute nur eine temporäre Etappe ihres Bildungsprozesses sein kann. Der Fall Martens bestätigt damit im Kern gerade Sattlers These von einer strukturellen Differenz zwischen Grundlagenforschung und Industrieforschung. Wissenschaftler, die sich dauerhaft für die Industrieforschung entscheiden, entfremden sich von der Grundlagenforschung und verlieren den Kontakt zu ihr, wenn sie überhaupt je Interessen an ihr hatten. Allenfalls Nischen können sie besetzen. Einen Grundlagenforscher erkennt man an seiner persönlichen Fragestellung, der er auf Dauer in der Industrie nicht nachgehen kann und die ihn zurück in die Institutionen der Grundlagenforschung zieht. Industrieforscher hingegen gehen in die Industrie oder bleiben dort, weil sie persönlich keine elementare Fragestellung haben, der sie selbständig nachgehen wollen. Ihnen fehlen wichtige Grundpfeiler. Martens widerspricht jedoch Sattler darin, dass Wissenschaftler aus der Grundlagenforschung in die Industrie gehen, weil sie „dann überhaupt nicht mehr denken“ müssten. Er sieht es als zusätzlichen Bildungsprozess und die Milieus sind durch-
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lässiger, als man denkt. Das ist ein wichtiger Unterschied. Martens zählt die Industrieforschung wie selbstverständlich und aus eigener Erfahrung zu den Karrieremöglichkeiten eines Nachwuchswissenschaftlers dazu. Es gibt sogar Forscher, die ihre „eigene Fragestellung“ außerhalb des akademischen Betriebs besser entwickeln können. Das gilt zum Beispiel für ihn selber. Er hatte ja erst in der Industrie die Erfahrung gemacht, wie wichtig für ihn diese Fragestellung ist, als er nämlich vor die Entscheidung gestellt war, ob er sie aufgeben könnte oder nicht. Das hat die Bindung an diese Fragestellung ungemein erhöht und viel größer werden lassen, als das vergleichbar für viele Wissenschaftler gesagt werden kann, die nach ihrer Promotion sich in das nächste DFG-Projekt stürzen und so von Projekt zu Projekt arbeiten und nicht mehr zum Nachdenken kommen, was ihnen selbst wirklich wichtig ist, weil sie irgendwann auch in den äußeren Karrieremustern gefangen sind, die es zwingend erforderlich machen, dass man den nächsten Projektantrag schon geschrieben hat. Das will er hier wohl sagen. Aber es hängt auch ab von günstigen Bedingungen für die Entfaltung eines dynamischen Forschungsgebiets. äh und dazwischen gibt es Leute eben, die wechseln können. Und ich zähl mich dazu, ich könnte glaub ich, jederzeit wieder vorwärts und rückwärts wechseln, [F: Mhm] äh und die dann eben immer äh zeitgebunden, die entscheiden müssen, was jetzt ihnen genau wichtig is.
Da er sich in beiden Milieus bewährt hat und bewegen kann, hat er zwei Standbeine und ist nicht erpressbar. Er muss keine Kompromisse machen, die ihm an die Substanz gehen. Das erhöht seine Unabhängigkeit von den Institutionen ungemein und er kann die Institutionen als Instrumente seiner Ideen betrachten. Habitusdifferenz: Industrieforscher und Universität Äh in der Industrie kann man eben mehr Mittel bewegen ehm, man hat einen größeren ?impact? auf bestimmte Projekte, äh man kann aber unter Umständen ge# weniger Freiheit haben bei der Auswahl der Projekte. Man muss bereit sein aufgrund von kaufmännischen Entscheidungen immer wieder umzustellen. Ehm und auch Fragestellungen, von denen man weiß, dass sie eigentlich wissenschaftlich faszinierend sind, loszulassen, weil man erkennt, dass jetzt kein Geld zu machen is. Nich+ das Ziel der Firma ist Geld und und das ist manchen Wissenschaftlern fremd. Ehm (.) und und solche Wissenschaftler, die landen eigentlich mehr oder weniger zwangsläufig an der Universität. Äh im Gegenteil gibt es Leute, die die äh äh Arbeitsweise an der Universität äh zur Weißglut treibt. [F: Mhm] Die Tatsache, dass man nichts umkrempeln kann, dass man unproduktive ?Gruppen? nicht zu machen kann, ehm das das macht einen (uv), also ich kenne Leute, die macht das ganz krank. [F: Mhm] Die können sich gar nicht vorstellen, außerhalb der Industrie (uv). (..) Also ich denk, das sind so die wichtigen Punkte, äh wie man sich seine Arbeit vorstellt und worauf man Wert legt, auf [F: Mhm] die Abläufe oder auf den Inhalt.
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Der Gedanke kehrt nun an seinen Ausgangspunkt zurück. Die Aussage ist klar. Langfristig verteilen sich die Typen des Wissenschaftlers auf die Industrie und die Universität und dies hat auch Ursachen in charakterlichen Dispositionen. Als letzte Motivlage wird dem aus der Industrie wieder ausscheidenden Grundlagenforscher, der mit dem Marktgeschehen nicht klarkommt, der Gegentypus des Antibürokraten gegenübergestellt, der an der Verknöcherung der Universität leiden würde. Er trennt sich von der Universität, weil ihn die relative institutionelle Autonomie von Forschungseinheiten stört und dass diese Autonomie für eine strukturkonservative Abwehr von Anpassungen an innovative Entwicklungen missbraucht werden kann, ohne dass es hiergegen eine Handhabe gäbe. Das ist ein interessanter Punkt. Diesen Typus gibt es natürlich, so wie es auch jene Verknöcherung gibt, auch wenn sich darüber diskutieren ließe, ob dieser Typus wirklich typisch für die Industrie ist Das Leiden an bürokratischer Verknöcherung findet sich ja auch bei Universitätsforschern, und strukturelle Widerstände gegen die Auflösung oder Neuausrichtung von Betriebseinheiten finden sich auch in Wirtschaftsunternehmen. Die antibürokratische Einstellung ist sicher nicht federführend bei der Entscheidung, in die Industrie zu gehen. Es handelt sich um eine nachträgliche und zusätzliche Rechtfertigung für die Entscheidung, der ein anderes Motiv vorausgehen muss. Aber das sagt Martens indirekt auch: Es kommt darauf an, worauf man Wert legt, auf die Abläufe oder auf den Inhalt. Die Abläufe: das ist der Wissenschaftsmanager, dessen Herzblut nicht an einer Fragestellung hängt und der sich von der inhaltlichen Forschung längst gelöst hat. Sein Ding ist die effiziente und ertragsorientierte Gestaltung hochdynamischer Betriebsabläufe. Der Inhalt: das ist der Forscher, der die Nachteile der Universität in Kauf nimmt und den die Abläufe nur nachgeordnet interessieren. F50: Ja, Sie heben jetzt sehr ab auf äh sagen wa mal Neigungen, die auch mit der Persönlichkeit, mit dem Charakter oder wie auch immer, wenn Sie das (uv) von der Art der Fragestellung her betrachten, gibt es da auch Unterschiede, also (...) I51: In in gewisser Weise ja, wenn wenn man eine Fragestellung hat, die sehr weit entfernt von jeder Anwendung is, dann kommt man ja auch in der Industrie nicht unter, das wär sehr schwer, [F: Mhm] im, eine [F: Mhm] einen (uv) zu finden, der einen finanziert. [F: Mhm] Wenn man dagegen Fragen hat, die (..) mehr oder weniger nahe an einer Anwendung liegen, hat man tatsächlich die Wahl, ob man das an der Uni macht oder an der, in der Industrie. Und da ist es durchaus auch eine Charakterfrage, wie man sich entscheidet, wie viel Risiko m# möchte man eingehen, äh wie viel Druck is man bereit auszuhalten, [F: Mhm] (.) wie viel will man wirklich jetzt konkret bewegen,
Die strukturellen Prämissen der Industrieforschung werden jetzt immer weiter ausbuchstabiert, doch im Kern beginnt sich das Argument im Kreise zu drehen. Die Industrieforschung ist natürlich an marktreifen Produkten interessiert. In Forschungen, an denen sie selbst auf lange Sicht nichts verdienen kann, investiert sie
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auch nichts. Das ist trivial. Deshalb haben überhaupt nur solche Grundlagenforscher eine Chance, in der Industrie eine Anstellung zu finden, deren Arbeit zur Grundlage für die Entwicklung von praktischen Problemlösungen werden könnte. Diese genießen allerdings ein gewisses Privileg, weil Konzerne und Universitäten miteinander wetteifern und sich ergänzen. Und das gibt ihnen die Möglichkeit der Auswahl. In diesen Bereichen findet auch in der Industrie eine nennenswerte Grundlagenforschung statt, auch wenn sie nicht als solche auf Dauer gestellt ist, sondern lediglich temporär organisiert wird. Für diese Personengruppe kann man sagen, dass bei der Wahl für oder gegen die Industrieforschung auch habituelle Dispositionen beteiligt sind, die gar nicht mit der Wissenschaft unmittelbar zusammenhängen. Martens ist hier dabei, feinere Differenzen innerhalb der Grundlagenforscher zu benennen, die noch elementarer sind, als der Forscherhabitus. Persönliche Risikobereitschaft, Belastbarkeit, Ehrgeiz und Zielstrebigkeit sind auch an Universitäten gefragt, doch in der Industrie sind sie unabdingbar, wird hier unterstellt. Und es kommt letztlich auf das konkrete Antriebsmotiv an. es gibt Leute zum Beispiel, die sich für eine Krankheit interessieren, aber eher vom Gesichtspunkt des intellektuellen Verständnisses, sie wollen wissen, wie es überhaupt zu der Krankheit kommt. Die sind manchmal in einer industriellen Umgebung fehl am Platz. Ehm dagegen gibt es Leute, die dieselbe Krankheit behandeln, die eigentlich wirklich den Patienten helfen wollen, und die sind dann oft in der Industrie sehr wohl am Platz, weil sie dann eben diese Projekte weitertreiben. Und immer ein Auge darauf haben, wo geht’s jetzt weiter, wo haben wir Erfolge, die wir verfolgen können.
Martens differenziert nun selbst Habitustypen nach ihrem intrinsischen Antrieb. Wissenschaftler, die in erster Linie helfen und heilen wollen, haben einen ungleich höheren Antrieb, ein Projekt voranzutreiben, das auf die Entwicklung von Medikamenten oder Heilverfahren hinausläuft, als Forscher, für die es auf den praktischen Erfolg gar nicht ankommt. Grundlagenforscher leiden nicht persönlich darunter, wenn ein praktisches Problem fortexistiert, sie leiden eher dann, wenn ein Sachgebiet intellektuell unklar zurückgelassen wurde. Wissenschaftler, die von kurativen Motiven getragen werden, leiden hingegen, solange eine Krankheit noch nicht besiegt ist. Martens skizziert im Grunde die Differenz zwischen einem ärztlichen oder kurativen Habitus einerseits und einem erfahrungswissenschaftlichen Habitus, andererseits, und diskutiert ihre Verwendbarkeit in der Industrie. Diese Differenz war schon im Interview mit Hellwein (Fall 1) thematisch. Hellwein sagt dort explizit, dass ihn die Apoptose (programmierter Zelltod) sehr interessiere, aber der Krebs und seine Bekämpfung überhaupt nicht. Und ich hab beide Leute, Typen von Leuten kennengelernt. Und das ist nicht absolut, man findet immer wieder die einen und die anderen, [F: Mhm] es ist keine hundertprozentige
456 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE Trennung, aber die Leute neigen dazu, sich so zu verteilen. [F: Mhm] In in die Macher und die Denker vielleicht [F: Mhm] kann man sagen.
Er sieht also eine gewisse Wahlverwandtschaft zwischen den Typen und den wissenschaftlichen Milieus: In die Industrie gehen eher die Macher, in die Universität eher die Denker. Der autonome Forscher folgt einer intrinsisch motivierten Leidenschaft für ein Forschungsgebiet. Der Wissenschaftler, der dauerhaft in der Industrie bleibt und dort zurechtkommt, folgt anderen Motiven und will eher heilen und retten oder am Markt unternehmerischen Erfolg haben. Das Bild rundet sich ab. Auch die Industrie bietet Chancen für grundlagenwissenschaftliche Aktivitäten, doch strukturell bieten Unternehmen nicht den geeigneten Rahmen für eine Grundlagenwissenschaft, weil sie diese nicht auf Dauer stellen können. Die Industrieforschung kann deshalb zwar Wissenschaftler aller Art gebrauchen und dazu gehören auch Forscher, die an einer eigenen Fragestellung hängen, aber für ihr Stammpersonal benötigt sie Wissenschaftler, die am Anwendungsnutzen einer Wissenschaft interessiert sind und an praktisch verwertbaren Problemlösungen mitwirken wollen. Die Unternehmen benötigen Fachleute, die bewusst zu einer Firma gehen, weil sie dort direkt an Produkten arbeiten können, die Menschen des Leben erleichtern oder gar retten können und dieser ingenieuriale oder ärztliche Berufshabitus folgt einem ganz anderen Antrieb, als der erfahrungswissenschaftliche Habitus. Die Faszination der Proteinforschung Im nachfolgenden Abschnitt erläutert Martens sein Forschungsprogramm. Es ist zwar relativ komplex, aber die Idee teilt sich dem Laien in den Ausführungen durchaus mit; (weiter unten wird außerdem dazu noch einiges erläutert). Unser eigentliches Interesse gilt dem Thema der Urszene, das hier vorbereitet wird. Martens schildert zunächst, wie sich die Fragestellung über einen längeren Zeitraum entwickelt hat. Es gab einen Prozess der Anbahnung und erst seit kurzem ist er in der Lage, eine verdichtete Formulierung zu präsentieren. Hilfreich war wohl, dass er anlässlich seiner Berufung zum Max Planck Direktor sich mehrfach aufgefordert sah, sein Forschungsprogramm darzulegen. Da er gezwungen war, seine Idee zu präsentieren, musste er ihr eine ästhetisch verdichtete, prägnante Gestalt verleihen und das hat auch dem Erkenntnisprozess geholfen. Interessant ist daran, dass die Intuition zu dem Programm schon viel früher gegeben war und über einen längeren Zeitraum herangereift ist. Das eröffnet die Frage, wie es dazu gekommen war. F77: Also ich würde gerne einen Aspekt äh nochmal aufgreifen, den Sie vorhin schon erwähnt haben, und den gerne nochmal vertiefen. Also äh Sie haben ja äh im Zusammenhang mit Ihrem äh Gang nach Amerika in die Industrie und wieder zurück, da auch äh da mal for-
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muliert, dass ehm dass Sie Ihre Fragestellung letztendlich in dieser entscheidenden Situation äh zurück zur Max-Planck-Gesellschaft geführt hat und äh, also das eine ist, äh was mich interessieren würde ist, äh w# was genau ehm diese Fragestellung ist und äh was Sie daran eigentlich fasziniert, oder was [I: Mhm ja] was das is, was Sie (uv) ja, gibt’s etwas, was Sie daran besonders fasziniert I78: Mhm. Ehm (....) sagen wa mal so, die die die Fragestellung hat sich immer wieder (..) verändert, also bzw. mein Blick auf sie.
Martens stockt zunächst und schickt dann eine Erläuterung voraus. Er hatte seine Fragestellung schon seit längerem im Kopf und immer wieder mit und an ihr gearbeitet. Nimmt man seine Rede wörtlich, dann ist dies nicht nur planvoll und zielstrebig abgelaufen. Es gab einen Reifungsprozess, in dem die Frage erst zu dem wurde, was sie heute ist. In Wirklichkeit hatte sich natürlich nicht die Substanz der Frage selbst verändert, sondern ihre konkrete Gestalt, die abhängig vom Erkenntnisstand des Betrachters ist. Dem Reifungsprozess entspricht ein Bildungsprozess auf Seiten des Wissenschaftlers. Martens korrigiert sich ja auch und sagt, also mein Blick auf sie (hat sich verändert). Er hat demnach über mehrere Jahre immer wieder neue Aspekte der Frage bemerkt und Zusammenhänge gesehen, an die er vorher nicht gedacht hatte. Das hat seine Vorstellung davon geschärft, worum es bei der Frage eigentlich geht und wie man sie stellen muss. Er hat die Frage in verschiedenen theoretischen Modellen auszudrücken oder mit verschiedenen Ansätzen zu beleuchten versucht. Jedenfalls hat sich sein Blick nicht nur einfach gewandelt, sondern weiterentwickelt. Und ich glaube, bis bis vor relativ kurzem hätt ich die Fragestellung gar nicht in einem Satz zusammenfassen können. Ich musste jetzt so oft über das berichten, was ich beabsichtige in dieser Abteilung und und rechtfertigen, was wir tun, dass ich inzwischen eine Formulierung gefunden hab, die das zusammenfasst, aber ich würde sagen, es war anfangs ein sehr diffuser Prozess und nach und nach hat es zu dieser (.) zu diesem Bild geführt, was ich jetzt hab. [F: Mhm]
Angespielt wird auf die Berufung zum Institutsdirektor. Martens musste sein Vorhaben mehrmals vor verschiedenen Gremien der Max Planck-Gesellschaft präsentieren und eine prägnante, eingängige Formel finden, die seine Fragestellung und sein Forschungsprogramm verdichtet zusammenfasst und auch Personen, die nicht eingearbeitet sind, verständlich macht. Er war gezwungen, seine Gedanken weiter zu ordnen, ein Kondensat des Wesentlichen herauszuarbeiten und die Eierschalen des Entstehungsprozesses wegzuschlagen. Man hört heraus, wie anspruchsvoll und selbstkritisch Martens dabei vorgegangen ist. Er war lange Zeit nicht zufrieden und ist es immer noch nicht ganz. Aber die jetzige Formel funktioniert und in pragmatischer Hinsicht ist Martens zufrieden mit ihr. Das freilich hat er sich mühsam erar-
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beiten müssen. Anfangs (war es) ein sehr diffuser Prozess, das heißt, der Wissenschaftler hat der Frage erst Struktur geben müssen. Es gab vage Vorstellungen und Beobachtungen und Martens ist anfangs nicht mehr als einer Intuition gefolgt, ohne zu wissen, ob sie tragen wird. Offenbar gab es aber sowohl eine gewisse Festigkeit im Glauben an diese Intuition, als auch Gelegenheiten, um sie zu testen und weiter aufzuklären, so dass Martens allmählich eine auf Argumenten begründete Gewissheit bilden konnte, dass seine Fragestellung wirklich Substanz hat. Äh als ich Student war, war ich schon als Molekularbiologe überrascht, dass so viele Molekularbiologen äh wirklich nur auf DNA-Ebene arbeiten, also auf Ebene der äh (uv) DNS. [F: Mhm] Auf DNS (uv) arbeiten, äh DNS-Ebene arbeiten, also auf der Ebene der Information. Und ehm und Genetik und molekulare Genetik und Mutationen und so weiter und für mich waren das eigentlich nur äh Änderungen in der fa# Information, aber eine Mutation in der DNS führt ja zu einer Veränderung in einem Protein und das Protein macht die Arbeit und weil das Protein verändert ist, deshalb gibt es irgendetwas. [F: Mhm] Sonst wäre die Mutation still. Und tatsächlich gibt es eine sehr sehr große Anzahl von Mutationen, die überhaupt keinen Phänotypen haben, also überhaupt keine Erscheinung, man sieht nicht, [F: Mhm] dass die Mutation stattgefunden hat. [F: Mhm] Ehm und deshalb hab ich mich auch sehr sehr früh für Proteine interessiert, als eigentlich um mich herum das Interesse relativ gering war.
Martens interessiert sich für den komplizierten Mechanismus, wie aus der genetischen Information des Erbgutes eine morphologische oder sonst wie geartete sichtbare Struktur des Organismus wird. Wie wachsen beispielweise die Augen einer Fliege und wie wissen die unzähligen Zellen, die zu diesem Zweck während der Embryogenese entstehen müssen, in welcher Zahl, an welcher Stelle und in welcher Anordnung sie wachsen müssen? Zwar sind es Gene, die diesen Prozess steuern und regulieren, doch der Blick auf die Genetik kann den Vorgang selbst nicht weiter aufklären, denn die eigentlichen Stoffe, die die Zellgenese steuern, sind nicht die Gene selbst, sondern Trägerstoffe, die von den Genen in einem komplizierten, mehrstufigen Prozess erzeugt werden und als Informationsvermittler die eigentliche Arbeit machen. Die meisten dieser Trägerstoffe sind Proteine, also chemisch gesehen sehr große, oftmals in sich komplex gefaltete Makromoleküle die sich aus Aminosäuren zusammensetzen. Martens hatte geschlossen, dass eine Mutation der Erbanlage, die zu einer sichtbaren Veränderung des Erscheinungsbildes eines Organismus führt, zwangsläufig auch Veränderungen bei diesen Informationsträgern aufweisen müsse. Nicht nur die beteiligten Gene müssen sich verändert haben oder fehlen ganz, sondern auch die Trägerstoffe, welche die Informationen im Prozess des Zellwachstums und der Regeneration steuern und regulieren. Eine sichtbare Mutation muss sich in den Proteinen und deren molekularer Struktur widerspiegeln. Martens Argument ist ganz einfach: Es gibt auch viele Mutationen des Erbgutes, die nicht zu einer sichtbaren Veränderung führen (also still sind). Das weiß man,
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weil Tausende Genetiker seit Jahren zielstrebig daran arbeiten, von sichtbaren Veränderungen eines Organismus auf die beteiligten Gene rückzuschließen, und dabei sind ihnen auch Veränderungen des Erbgutes aufgefallen, die gar keine morphologischen Folgen nach sich ziehen. Es muss aber einen Grund dafür geben, dass nicht jede Mutation eine Auswirkung im Organismus hat und dieser Grund ist vielleicht direkt in den Proteinen zu suchen, die Proteine sind ein Schlüssel zur Antwort. Man muss demnach ihre molekulare Struktur besser verstehen und lernen, warum sich diese Struktur bei bestimmten Mutationen des Genoms mitverändert, während dies bei anderen Mutationen unterbleibt. Dieser Befund bestätigt Martens’ Meinung nach, dass es nicht ausreicht, die Gene alleine zu studieren, wenn man Mutationen, Evolution und Entwicklung verstehen will. Martens sah sich aber während seines Studiums einem anders aufgestellten Mainstream gegenüber. Er bezieht sich auf die Zeit zwischen 1985-1990, als er in den USA Molekularbiologie studierte. Zu dieser Zeit haben die meisten Molekularbiologen seiner Wahrnehmung nach ausschließlich auf die Erforschung der DNA gesetzt und sich auf einen entsprechenden Forschungsansatz spezialisiert, der den Blick für die eigentlichen Prozesse, die man aufklären muss, verengt hatte. Martens hat aber nicht in Konkurrenz zur Genetik gedacht, sondern weitergesehen und überlegt, wie man auf der Basis einer entwickelten Erforschung der DNA die entwicklungsbiologischen Vorgänge in Organismen enträtseln könnte. Dass er überrascht war von jenem Mainstream, der wirklich nur auf DNA-Ebene arbeitet, verdeutlicht, dass er den Gedanken an die Erforschung der Proteine als Trägerstoffe der Folgeprozesse für eine naheliegende Überlegung hält, auf die auch andere hätten kommen können. Es unterstreicht einerseits seine Eigenständigkeit im Denken und andererseits seine Sicht auf jenen Mainstream, hinter dem er auch eine gewisse Uninspiriertheit und herdentriebartige Betriebsamkeit sieht. Und ehm (.) eine der wichtigsten Fragen, vielleicht die Frage überhaupt, die wir an Proteine stellen, ist, ehm wie führt die die lineare Information, die wir haben in der DNS, zu einer Struktur, einer gefalteten, dreidimensionalen, auch zum Teil sehr komplizierten Struktur, wie Sie sehen. [F: Mhm]
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Abbildung 1: 3D Struktur des Muskelproteins Myoglobin2
Der Interviewee zeigt mit der Hand auf eine Abbildung, die auf dem Tisch liegt und auf der eine Abbildung zu sehen ist, welches die dreidimensionale Struktur eines Proteins mit einer sogenannten Bänderdarstellung anschaulich machen soll. (Oben als Beispiel die Darstellung der Struktur von Myoglobin.) Martens spricht jetzt in der ersten Person Plural und äußert sich als Forscherautorität, die ein wissenschaftliches Rätsel zur Geltung bringt. Das „wir“ kann das Team des Labors und auch die internationale Fachkollegenschaft der Proteinforscher oder sogar die ganze Menschheit bezeichnen, als das universelle Gesamtsubjekt wissenschaftlicher Erkenntnis. Martens spricht stellvertretend für alle, die sich mit Proteinen befassen. Die Proteine werden dabei als eigenständiger Gegenstand eingerichtet und die genannte Frage in eine gewisse Hierarchie der Fragen eingereiht, die man an Proteine stellen kann. Martens stellt sie an deren Spitze und deutet damit an, dass mit jener Frage sogar die Entstehung der Proteine selbst berührt sein könnte. Was ist nun der Inhalt dieser Frage? Martens zielt auf den Zusammenhang zwischen der räumlich komplexen Struktur der Proteinmoleküle und ihrem Erzeugungsmechanismus in der Zelle, von dem man weiß, dass die DNS die Struktur 2
Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Myoglobin.png?uselang=de, Urheber Aza Toth
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vorgibt, sie „genetisch codiert“, wie man auch sagt. Proteine sind sogenannte Grundbausteine der Zellen. Sie sind für den Zellaufbau verantwortlich und regulieren innerhalb der Zelle unzählige Funktionen. Sie transportieren Nährstoffe, fungieren als Boten, sind Signalstoffe oder katalysieren bestimmte chemische Reaktionen, lösen sie aus und helfen sie abzuschließen. Proteine sind also für den „chemischen Lebenskreislauf“ einer Zelle unersetzlich. Sie setzen sich aus langen Ketten von bestimmten, dafür geeigneten Aminosäuren zusammen (beim Menschen sind heute zweiundzwanzig verschiedene Aminosäuren bekannt). Diese Ketten können bis zu mehrere Tausend Aminosäuren umfassen, die an sogenannten Peptidbindungen verbunden sind und sich ab einer gewissen Größe automatisch und in Sekunden zu teilweise sehr komplexen Gebilden falten und ineinander drehen, (wobei man vier Faltungsebenen unterscheidet, s.u.). Dabei ist es durch den genetischen Code vorherbestimmt, welche und wie viele Aminosäuren zusammengebunden werden. Diese Ketten bilden sich in einem komplizierten Vorgang, den man Proteinbiosynthese nennt und dem eine Translation („Übersetzung“) der genetischen Information der DNS zugrunde liegt. Zunächst wird von der DNS eine Art Abschrift (mRNS) erzeugt, welche die Information über die Aminosäurensequenzen beinhaltet. Diese Abschrift enthält die einem Gen entsprechenden Abschnitte mit Sequenzen von Nucleinbasen. In dieser Abschrift sind die Nucleinbasen jedoch nicht wie bei der DNS als Basenpaare verkettet, sondern „einseitig offen“, so dass sich die komplementären Basen anlagern können. Die Synthese geschieht an den Ribosomen, an die von einem Transporteur, der sogenannten tRNS, freie Nucleinbasen (Adenin, Guanin, Cytosin, Thymin, Uracil) herangebracht werden, so dass diese sich passend zu den Sequenzen der DNS-Abschrift anlagern können. Dieser Transporteur hat immer drei Basen gebunden, die er an die mRNS anlagert, und er führt dabei zusätzlich bestimmte Aminosäuren mit sich, die von diesen Basentripletts (auch Codons genannt) codiert sind. Das heißt, welche Aminosäuren es sind, hängt von den Basentripletts ab. In dem Moment, in dem ein Transporteur sein Triplett anlagert, löst sich die Aminosäure von den Basen und verbindet sich mit der Aminosäure, die vom vorangehenden Triplett angelagert worden war, wobei die beiden Aminosäuren mit einer Peptidbindung verknüpft werden. Auf diese Weise bildet sich ein neues Molekül, das mit jedem weiteren Anlagerungsvorgang immer größer und komplexer wird. Es entsteht Glied für Glied eine immer länger werdende Kette aus Aminosäuren. Das Besondere ist nun, dass das Ribosom, das diesen Prozess katalysiert, während des Vorgangs immer um ein Codon auf der mRNA weiterwandert und dabei die Information der DNS-Sequenz in die Kette der Aminosäuren übersetzt. Erst wenn die gesamte Information der mRNA abgearbeitet ist, löst sich das so entstandene Eiweiß vom Ribosom ab.
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Schaubild 2: Translation im Cytoplasma3
Die entstandene Kette von Aminosäuren muss nun aber eine komplexe räumliche Struktur entwickeln, die es in eine Stabilität bringt. (Das Schaubild oben veran¬schaulicht den Vorgang.) Die Proteinbiosynthese ist also das Ergebnis der Übersetzung einer linearen Struktur, die in der sequentiellen Abfolge von Nucleobasen auf der mRNS besteht und die ursprünglich von der DNS abgeschrieben wurde, in eine sukzessiv wachsende Aminosäurekette, die sich zu einer räumlichen Molekülstruktur weiterbildet und nach Abschluss des Vorgangs ein Protein darstellt. Martens interessiert sich für diesen Vorgang der Faltung, also jener räumlichen Strukturbildung, die einsetzt, wenn die Aminosäurenkette so lange wird, dass sie beginnt, sich ineinander zu drehen und bestimmte Strukturen zu bilden. Dieser Vorgang folgt eigenen Gesetzen. „Die Abfolge der einzelnen Aminosäuren ist die Primärstruktur. Während oder nach der Synthese falten sich diese Aminosäure-Ketten in eine definierte räumliche Struktur (Tertiärstruktur), die kleinere Strukturelemente (Sekundärstruktur) enthält. Bilden sich außerdem noch Oligomere aus mehreren Proteinen in Tertiärstruktur, so spricht man von einer Quartärstruktur. Während der Faltung nimmt die Kette von Aminosäuren innerhalb von Sekundenbruchteilen die einzig richtige [Konformation] aus einer sehr großen Anzahl möglicher Konforma3
Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ribosom_funktion.png?uselang=de, Urheber: National Human Genome Research Institute, National Institutes of Health (United States Department of Health and Human Services).
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tionen an. Der genaue Ablauf der Proteinfaltung ist noch nicht geklärt, aber es steht fest, dass das gefaltete Protein in der Regel die niedrigste Gibbs-Energie aller möglichen Zustände hat. Außerdem scheint der Weg dorthin über lokale Energieminima zu verlaufen. Unterstützt und für viele Proteine erst ermöglicht wird der Prozess durch Faltungshelfer (zum Beispiel Chaperone). Bei einigen Proteinen verläuft die Faltung auch über einen Zwischenzustand, der molten globule genannt wird. Dabei werden aufgrund des hydrophoben Kollaps (die hydrophoben Aminosäurereste lagern sich zusammen) innerhalb von einigen Millisekunden alle Sekundärstrukturen ausgebildet. Die Tertiärstruktur wird erst danach ausgebildet, was einige Sekunden in Anspruch nehmen kann.“4
Unter freier Enthalpie versteht man ein thermodynamisches Gleichgewicht, das die unabhängigen Variablen Temperatur, Druck und Stoffmenge in Beziehung zueinander setzt und daraus ein energetisches Potential zur Veränderung errechnet. Abbildung 2: Einfache Darstellung der Proteinfaltung5
Äh das muss, d# das muss ja in i#, schon in der in der linearen Information drinstehen, die man in drei Dimensionen faltet und das [F: Mhm] is eigentlich was ganz Faszinierendes und äh vor vielen Jahren dachte man ja, dass es so eine Art Code gibt. [F: Mhm] Einen Faltungscode, so wie es einen einen einen Code in der DNS gibt, wie die DNS Protein macht, ehm, dass es irgendeinen Faltungscode gibt, wie die lineare Information eine dreidimensionale Information spezifiziert. Und und eigentlich recht schmerzvoll und über viele viele Jahrzehnte der äh des Scheiterns hat man gelernt, dass es diesen Code wohl nicht gibt. [F: Mhm] Und ehm (..) deshalb ist es auch eins der ganz großen Geheimnisse der Biologie geblieben, wie lineare Information in eine dreidimensionale Realität übersetzt wird. [F: Mhm] Und ehm (...) letzten Endes ist das die Frage, die mich beschäftigt. [F: Mhm] Wie führt lineare Information zu einer dreidimensionalen Realität.
4
Zitiert aus: http://de.wikipedia.org/wiki/Proteinfaltung, in der Fassung vom 25.03.2012.
5
Quelle: upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/a/a9/Protein_folding.png
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Proteine sind nach immer gleicher Art gefaltet, ihre räumliche Struktur ist ein Signalement. Die Faltungen können allerdings auch fehlerhaft sein, womit man heute einige Krankheiten zu erklären versucht (Krebs, Parkinson, Alzheimer), so dass die Erklärung der Entstehung dieser dreidimensionalen Struktur ein Schlüssel zum Verständnis noch ganz anderer Vorgänge bietet und nicht nur grundlagentheoretisch interessant ist. Martens weist darauf hin, dass eine Erklärung noch aussteht. Erklärungsbedürftig ist vor allem, wie in Sekundenschnelle die für die Molekülstruktur günstigste, das heißt energieadäquate und gleichgewichtsrelevante Faltung gefunden wird, obwohl es rein rechnerisch Abermillionen von kombinatorischen Möglichkeiten gäbe, in denen die richtige zu finden ein Protein ca. tausend Jahre benötigen würde. „…die Anzahl der möglichen Faltungen eines Proteins (steigt) mit der Länge der Aminosäurekette exponentiell an. Selbst wenn jeder Aminosäurerest nur 2 Zustände annehmen könnte, gäbe es bei einer Proteinlänge von n schon 2n mögliche Faltungsvarianten. Nimmt man an, dass eine Änderung der Konformation etwa 10 − 13 Sekunden benötigt, so brauchte ein 150 Aminosäuren langes Protein im schlechtesten Fall 2150*10-13s=1,4*1032s=4,6*1024y, also über 1024 Jahre, um die optimale Konformation zu finden. In Wirklichkeit jedoch haben Proteine meist nur eine Halbwertszeit von wenigen Stunden bis Tagen, und die korrekt gefaltete (native) Form wird normalerweise schnell gefunden (Sekundenbruchteile bis Minuten). Die Faltung kann also nicht durch ein zufälliges Durchprobieren aller Möglichkeiten erklärt werden. Vielmehr gibt es natürliche Mechanismen, welche die Ausbildung der optimalen Faltung begünstigen.“6 Es lag also nahe, einen Faltungscode zu unterstellen. Martens drückt das Scheitern dieses Ansatzes interessant aus, denn wenn es schmerzhaft war und viele Leute ihre Energie in dieses Theorem investiert hatten, gab es immer wieder Rettungsversuche und Zweifel. Der Ansatz ist immer noch nicht gänzlich zusammengebrochen, es bleibt eine Ungewissheit, weil es noch keine neue, bessere Alternative gibt. Wenn es jedoch keinen Faltungscode gibt, der den Prozess DNS-seitig steuert, dann muss die Faltung nach irgendwelchen anderen Ordnungsprinzipien strukturiert sein. Die Biologie kommt mit ihren eigenen Ansätzen hier aber nicht mehr weiter. Es liegt die Vermutung nahe, dass die Faltung aus einer autopoietischen Selbstorganisation der Moleküle hervorgeht, deren Gesetzlichkeit eher in der physikalisch-chemischen Natur der Aminosäuren zu suchen ist. Wenn man dieses Rätsel aufklären könnte, dann könnte man vielleicht auch der naturgeschichtlichen Entstehung der Proteine auf die Spur kommen. Denn Proteine sind Moleküle, die in der anorganischen Natur nicht vorkommen. Sie müssen als Grundbausteine der Zellen irgendwie entstanden sein und sind somit selbst ein Schlüssel zum Verständnis der Entstehung des organischen Lebens.
6
http://de.wikipedia.org/wiki/Levinthal-Paradox, zitiert in der Fassung vom 16.03.2012.
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[F: Mhm] Was was übersetzt das. [F: Mhm] Und ehm (.) als ich mit meiner Doktorarbeit fertig war, hatt ich schon angefangen mich über diese sogenannten Sequenzstrukturbeziehungen äh zu kümmern. Also Sequenz ist die lineare Information, Struktur ist das dreidimensionale und diese Beziehungen zwischen den beiden waren damals schon für mich extrem wichtig und ich hab dann [F: Mhm] als ich nach VVV [Ort in Bayern] als Postdoc gegangen bin, äh angefangen viel konsequenter in diese Richtung zu arbeiten und zu versuchen, Strukturen zu verstehen, in ihren drei Dimensionen, und wie das ganze linear angeordnet ist. [F: Aha] Und als ich dann zu CCC [Name des US-amerikanischen Unternehmens] gegangen bin, bin ich gegangen, weil ehm ich in in bisher nie dagewesener Form auf Sequenzdaten Zugriff hatte, ich hatte plötzlich die vollständigen Daten von ganzen Organismen. Und für mich war das wahnsinnig interessant, das Ganze jetzt vergleichend anzugehen. [F: Mhm] Für die Firma war es sehr interessant, jemanden zu haben, der Strukturen versteht und der [F: Mhm] der ihnen Hilfen geben kann darüber, was das Protein macht, warum es so macht und welche Chemikalien man benutzen könnte, um es eben zu vergiften. [F: Mhm] Und äh das war deren Interesse, mich dahin zu holen. Mein Interesse war, vergleichende Studien an Proteinen zu machen. [F: Mhm]
Martens hatte also lange vor seiner Entscheidung, nach Amerika zu gehen, damit begonnen, sich für jene Fragestellung zu interessieren. Es gab bereits eine erste Konzentration der Bemühungen auf das Thema nach der Promotion. Die PostdocPhase ist ja auch die Zeit, in der ein Wissenschaftler heute seine eigenen Themen herauspräpariert. Martens hatte sich als autonomer Forscher also bereits formiert, als er nach Amerika gegangen ist, und es gab konvergierende Interessen, die eine strategische Allianz, ein Geben und Nehmen zwischen ihm und der Firma ermöglicht hatten. Die Firma hatte ein Datenpool, das für den Postdoktoranden Martens genau diejenigen Arbeitsmaterialien beinhaltete, die er benötigte, um seinen sich herauskristallisierenden Interessen an den Faltungsgesetzen der Proteine weiter nachzugehen. Nicht aufklären lässt sich, was er damit meint, wenn er sagt, es sei wahnsinnig interessant für ihn gewesen, das Ganze jetzt vergleichend anzugehen. Meint er Organismen oder Proteine oder beides? Die Firma war daran interessiert, den Aufbau von Proteinen zu verstehen, um sie vergiften zu können. Zu diesem Zweck hat sie sich Proteinforscher eingekauft, die die Faltungen untersuchten. Die Interessen liefen zusammen, waren aber nicht gleich motiviert. Im Hintergrund standen fundamental unterschiedliche Interessen, die sich als Habitusdifferenzen interpretieren lassen. Und ehm als ich mich entschieden hab, das eben in diesem Bereich kein Geld ist, ehm hab ich mich umgesehen nach einer Möglichkeit, diese Frage eben vielleicht sogar mit mehr Ressourcen und in viel breiterer Form anderswo anzugehen und da war eigentlich die Max-PlanckGesellschaft meine erste Wahl.
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Martens hat also von Anfang an in der Logik dieser strategischen Allianz agiert. Er konnte sich aufgrund seiner Fragestellung problemlos auf ein Arrangement in der Industrie einlassen und als er gesehen hat, dass die Bedingungen sich verschlechtern würden und er der Verlockung einer Industriekarriere mit ihren finanziellen Annehmlichkeiten zu große Opfer würde bringen müssen, hat er das Arrangement wieder gelöst und sich nach einem neuen Arbeitsgeber umgesehen, der ihm günstige Bedingungen für seine Forschungen zu geben in der Lage war. Diese hatten sich nun allerdings schon spezieller entwickelt und Martens war anspruchsvoll geworden und er hat die Max Planck Gesellschaft als richtigen Partner angesehen. Und äh als ich hierher angekommen bin, äh musst ich natürlich diese Frage immer immer präziser formulieren, um auch bei sehr kurzen Mitteilungen den Leuten klarzumachen, was ich jetzt eigentlich beabsichtige. [F: Mhm] Und was mir klargeworden ist in diesem Prozess, ist, dass (.) dass meine Interessen durchaus von vielen Leuten geteilt werden, die auch Proteine machen wollen irgendwie, die auch falten wollen (uv).
Martens hatte bis dahin gedacht, mit seinem Proteinansatz mehr oder weniger alleine dazustehen, er war überrascht oder hatte nicht damit gerechnet, dass es noch viele andere Wissenschaftler gab, die in eine ähnliche Richtung dachten. Das Thema lag also in der Luft, die mögliche Bedeutung der Proteinfaltungsforschung war erkannt worden, und das muss eine schöne Bestätigung für ihn gewesen sein. Es hat Martens aus der Einsamkeit des avantgardistischen Forschens herausgeführt. Es scheint aber einen Hacken zu geben, der mit dem Partikel durchaus angekündigt wird. [F: Mhm] Das Problem ist, die Proteiningenieure, für die ist der Weg überhaupt nichts, das das Ziel ist das Protein. Für mich ist der Weg das Ziel. Ich möchte verstehen, wie es dazu kommt.
Noch einmal eine schöne Umschreibung von Habitusdifferenzen. Martens ist Proteiningenieuren nicht nur in jener amerikanischen Firma, sondern auch in der Max Planck Gesellschaft begegnet und die Zahl der wirklich autonomen Forscher zum Thema ist gar nicht so groß. Die Einsamkeit des avantgardistischen Forschens hat sich also doch nicht ganz aufgelöst. Als er vor den Gremien der Max Planck Gesellschaft jene Tour d)explication durchlief, ist ihm viel Interesse und Zustimmung widerfahren, aber in letzter Konsequenz konnte er sich vielen Kollegen nicht verständlich machen, weil sie eine ganz andere Herangehensweise haben. Die „Proteiningenieure“ wollen Proteine erforschen, weil sie diese labortechnisch bearbeiten, synthetisieren oder manipulieren wollen. Sie wollen alles über ihren Aufbau und ihre Funktion wissen, aber nur, weil sie wissen wollen, ob und wie man Proteine einsetzen kann. Das ist der Unterschied. Martens will Proteine labortechnisch
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beherrschen, um sich etwas an ihnen zu erschließen. Für ihn sind die Proteine ein Gegenstand, mit dem eine bestimmte Frage verbunden ist, die man an den Proteinen untersuchen kann, doch diese Frage weist über die Proteine hinaus. Martens will verstehen, wie die Natur es eingerichtet hat, dass die Aminosäureketten während der Proteinsynthese zu einer energieeffizienten und stabilen räumlichen Struktur finden, die für das Leben der Zelle hochgradig funktional ist, und wie die Information darüber, welche Aminosäuren sich zusammenfinden müssen, in der DNS gespeichert werden konnten. Das Problem liegt darin, dass die Proteiningenieure in Martens Augen nicht die Geduld für eine wirklich systematische Herangehensweise haben. Man redet deshalb vom selben Gegenstand, aber oft genug redet man aneinander vorbei. Die Proteiningenieure wollen auch verstehen, wie die Faltung der Proteine zustande kommt, aber sie denken dabei immer schon und viel zu früh den biotechnologischen Nutzen. Und für mich äh scheint das das Logischste und und und Natürlichste zu sein, eben zu versuchen zu verstehen, wie die Natur es gemacht hat. Wenn ich feststellen kann, wie es in der Natur dazu gekommen ist, dass ?Falten der? Proteine sich ergeben, dann werd ich sicher viel mehr darüber verstehen, warum sie es falten und wie diese Information codiert ist. [F: Mhm] Das heißt, für mich ist der Weg das Ziel, ich möchte sehen, wie es abgelaufen ist. Und ehm und daher studieren wir eben jetzt hier die Evolution der Faltungen. [F: Mhm] Und das is der Inhalt, den den ich habe und das ist das Ziel, wie wie ist Faltung (uv).
Martens hat einen konstitutionstheoretischen Ansatz. Er sucht nach den Parametern und Faktoren, die gleich zu Beginn der Bildung einer Aminosäurenkette wirksam sind und die Kette durch adäquate Drehungen, Faltungen und Einschachtelungen zu einer optimierten Anordnung des Moleküls führen, welche dann energetische Spannungen ausgleicht oder ins Gleichgewicht bringt. Das maßgebliche Erklärungsproblem besteht darin, dass es sich um einen Prozess handelt, der auf vielfältige Weise an jeder Sequenzstelle in eine falsche Richtung laufen kann, so dass sich Spannungen aufbauen, die nicht mehr oder nur mit großem Energieaufwand korrigiert werden könnten, so dass das Makromolekül einfach irgendwann auseinanderreißen würde. Das unterbleibt aber in der Regel und es ist ein Rätsel, wie die Natur das macht. Dies verstehen zu wollen, scheint Martens das Logischste und Natürlichste zu sein, eine interessante Formulierung, die ausdrückt, dass er sich eine andere Herangehensweise gar nicht recht vorstellen kann. Es spricht ein Respekt für die Natur und ihren Lösungsweg daraus, und eine Skepsis gegen Versuche, das Geheimnis der Proteine durch direkte Interventionen zu lüften. Es drückt wieder eine Habitusdifferenz aus. Noch ein anderer Punkt tritt hinzu. Das Faltungsproblem hat einen physikalischchemischen Kern, es gibt eine Systematik dahinter, die man verstehen muss. Doch das Spannende ist, dass man mit diesem Verständnis der Physik der Faltung auch
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etwas erfährt, wie sich in der Naturgeschichte Proteine entwickelt haben könnten, und wie die Entstehung von Proteinen mit der Entstehung von Genen zusammenhängen könnte. Aus dem Kontext sei folgendes ergänzt: Martens geht davon aus, dass die heute bekannten Proteine das Ergebnis von evolutiven Prozessen sind und sich aus ursprünglich einfacheren Eiweißen entwickelt haben müssen. Die heutigen Proteine sind hinsichtlich ihrer Faltung so komplex, dass sie nicht am Anfang der Entwicklung gestanden haben können. Man kann weniger komplexe Proteine mit einfacheren Faltungen rekonstruieren. Das Ziel ist die Rekonstruktion von so etwas wie einfachsten Faltungsprinzipien. Dazu muss man die Faltungen der komplexen Proteine verstehen und auf jeweils einfachere Stufen reduzieren. Man kann versuchen, systematisch in der Komplexität der Molekülketten zurückzusteigen und damit auch die Faltungsbewegung zurückzuverfolgen bis zu einem Verständnis möglicher Anfangskonfigurationen, die so einfach sind, dass sie nicht noch weiter reduziert werden können, aber gleichwohl schon so komplex, dass sie eine Dynamik der Faltung auslösen. Darauf scheint es Martens anzukommen. Er versucht mit seinem Team mögliche Urproteine zu identifizieren, die nach ihrer Größe und räumlichen Struktur so einfach aufgebaut sind, dass alle anderen Proteine aus ihnen verstanden werden können. Dieser Ansatz ist nicht archäobiologisch motiviert, Martens will keine fossilen Überbleibsel oder Proteindinosaurier finden. Ihm geht es um das Verstehen, wie die Natur das macht. Hat man solche Urproteine identifiziert, kann man auch komplexere Faltungsbewegungen besser studieren und vielleicht jene Mechanismen besser untersuchen, die die Proteinbiosynthese hervorgebracht haben. Es folgt einem Ansatz, der vom Komplexen auf das Einfache und von dort wieder auf das Komplexe schließen will, es ist also ein rücksteigendes Zerlegen, die Analyse folgt den Komplexitätsstufen, jedoch in der Absicht, einen Schlüssel in die Hand zu bekommen, mit dem man für das Entstehen des Komplexen interpretieren kann. Da es sich um naturgeschichtliche Prozesse handelt, aus denen das Komplexe hervorgeht, haben wir es mit einer Rekonstruktionsmethodologie zu tun, die einem genetischen Strukturalismus gleicht, wie er auch in anderen Wissenschaften, etwa in der Entwicklungstheorie Piagets oder in der Linguistik bei Chomsky erkennbar ist. Es ist interessant zu sehen, wie sich die methodologischen Grundzüge ähneln und sich offenbar wie von selbst aus den vom Gegenstand ausgehenden Fragen und Rätseln ergeben, obwohl die Gegenstandsbereiche völlig verschieden sind. Biographische Ursprungskonstellation F78: Mhm (..) ehm (....) ja und also, wenn Sie jetzt mal den Blick auf die Genese dieser Faszination dafür lenken, ehm also Sie haben eben schon im Grunde genommen Ihren Ihre eigene Doktorphase als äh genannt da, [I: Mhm] äh also aber, hat das sogar noch Vorläufer, würden Sie sagen, wenn Sie jetzt mal (.) wirklich zurückblicken, äh also wie hat sich das so allmählich angebahnt [I: Ja] und äh ja
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I79: Ehm e# es is sicher eine eine intellektuelle Neigung von mir, äh ich hab immer Rätsel geliebt, Codes geliebt, ehm (..) Puzzles. Äh Dinge, wo man sich hinsetzt mit einer Reihe von Gegebenheiten, die irgendwie angeordnet werden müssen und daraus eben ein Bild schafft. Und ehm ich liebe auch in in der Literatur eben Kriminalnovellen und ähnliche Dinge, (.) wo man eben einem Rätsel nachgeht. [F: Mhm] Und ehm (..) das ist eigentlich das, was ich auch in meiner Arbeit tue, ich ich versuche, aus aus sehr vielen, auseinanderliegenden Stücken ein Bild zusammenzustellen, es ist eine Art Who done it, [F: Mhm] oder eher How done it, /wie wie ist gemacht worden./ [F: /Ja ja (lacht)/]
Diese Selbstbeschreibung des Forschers ist uns schon bekannt und muss nicht mehr ausgelegt werden. Die Faszination am Rätsel-Lösen, Code knacken, am Rekonstruieren von Zusammenhängen, die noch nicht sichtbar sind, am Erschnüffelns eines Kniffes, wie jemand (die Natur) es (die Faltung) angestellt hat, die Kriminalliteratur, das Legen von Puzzlebildern aus Einzelteilen; alles dies sind Elemente, die schon in den anderen Interviews thematisch waren und immer wieder auftauchen. Martens behandelt sie wie Versatzstücke einer generalisierten Haltung, einer Neigung, die sich verselbständigt hat und die eine lange Vorgeschichte kennt. Jene Eigenschaften, die er liebt, gehören zu seinem Leben, sind untrennbar mit ihm verbunden, mit seiner personalen Identität verschmolzen. Als Antwort auf die Frage kann man dem entnehmen, dass Martens jene intellektuelle Neigung immer schon an sich wahrgenommen hat und ihr auch immer nachgehen wollte und konnte. Seine berufliche Tätigkeit ist aus dieser Leidenschaft für Rätsel hervorgegangen und wird von ihr getragen. Und ehm das hat mich schon als Student sehr fasziniert, bevor ich eigentlich Proteine entdeckt hatte, hat mich an der Biologie die Tatsache fasziniert, dass eigentlich alle Daten um uns herumliegen, nur wir sie nicht interpretieren können.
Martens steigt jetzt allmählich in den Schichten seiner Erfahrung zurück. Vor der Proteinforschung, die schon eine Spezifikation darstellt, hatte er die Biologie als ein Betätigungsfeld entdeckt, auf dem er der Neigung des Code-Knackens besonders gut nachgehen konnte. Dabei stellt er auf interessante Weise die Bedeutung des Interpretierens heraus. Ein Physiker könnte heute nicht sagen, dass seinem Fach alle Daten bekannt seien und nur die richtige Interpretation fehle. Ob begründet oder nicht sieht Martens hier ein Spezifikum der Biologie. Er meint sicher nicht das Wissen über die Arten und alle ihre Lebensbedingungen, sondern die Genetik als Grundlage zum Verständnis der Entstehung und Entwicklung des Lebens. Unser Interviewpartner gehört nicht zu den Forschern, die das Entdecken neuer Tierarten oder Elementarteilchen oder Planeten fasziniert, den Goldschürfern also, die das positive Wissen bereichern wollen, sondern zu denjenigen, die eine große Fülle an Material in ihrem Kopf versammeln und es als Herausforderung betrachten, der un-
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entdeckten Ordnung dieser amorphen Datenwelt auf die Spur zu kommen, indem sie die Befunde in Beziehung zueinander setzen und nach schlüssigen Modellen suchen, die Vorgänge erklären können. Martens ist also nicht ein Typ, dem es darum geht, eine Fremdheit zu überwinden, sondern einen Schlüssel zum Verständnis zu finden. Er ist ein Champollion der Proteine. Ehm ich fand das auch sehr sehr interessant, als das ehm menschliche Genom sequenziert wurde und das hieß dann das Buch des Lebens und jetzt können [F: Ja] wir das lesen und so. Unsinn, wir können’s nicht lesen (lacht). [F: Mhm] Es ist zwar das Buch des Lebens, aber wir haben keine Ahnung, wie man das liest, [F: Mhm] oder nur ganz geringe Ahnung, also wir haben, wir können erst ein paar Wörter buchstabieren. Und ehm und das ist halt, was an der Biologie so fantastisch ist, das, alle Daten liegen um uns herum, [F: Mhm] in in millionenfacher Form. Aber zum Teil erkennen wir sie nicht, zum Teil wissen wir nicht, was sie bedeuten, es sind aber ?issues?, die herumliegen, die (.) die eine magische Bedeutung erlangen, sobald man eine Theorie hat, in die man sie einfüllen kann.
Martens ist also vom Erschließungsprozess selbst fasziniert. Er mag es, Gedankenhypothesen zu entwerfen und zu schauen, ob sie die Datenfülle stimmig zu interpretieren erlauben. Interpretationen müssen Daten aufschließen, sie zum Sprechen bringen. Das entspricht durchaus einem hermeneutischen Vorgang. Und der Impuls geht von den vielen geheimnisvollen Daten aus, die wie Hieroglyphen ohne Zusammenhang und verstandenen Sinn den Forscher umgeben. Was Martens fasziniert ist der Vorgang, dass ein Ding eine Bedeutung erlangt, wenn es gelingt, eine Metasprache zu bilden, die etwas über ihn aussagt. Diese Metasprache fügt der Objektsprache, die ein Gebilde beschreibt und ihm einen Namen gibt, etwas hinzu, was es in Zusammenhang treten lässt zu anderen Objekten und daher etwas an ihm aufschließt bzw. es für anderes aufschlussreich werden lässt. Das meint Martens, wenn er sagt, dass Daten eine magische Bedeutung erlangen, sobald man eine Theorie hat, in die man sie einfüllen kann. Diese Metasprache muss aber gefunden und aus der Interpretation eben dieser Daten selbst entwickelt werden. Das ist das Schwierige. Ihre magische Bedeutung erlangen Daten, wenn es gelingt, eine Deutung zu entwickeln, die nicht nur für die Daten selbst Erklärungskraft besitzt, sondern über sie hinausgreift und etwas Allgemeineres heraushebt, so dass einzelne Befunde tatsächlich in einen Zusammenhang zu anderem treten können. Martens reizt der Moment, wenn rätselhafte Befunde sich plötzlich aufhellen. Und das, glaub ich, hat mich daran fasziniert. In in vieler, in vielfältiger Weise ist die (.) ist die Sequenzstruktur-Beziehung äh eine Art destillierte Form des Rätsels, es is sehr simpel, man kann es man kann es in wenigen Sätzen erklären, ehm man braucht nur 20 Aminosäuren, also 20 Bausteine, es is ein relativ eingeschränkter Baukasten, es ist sehr [F: Mhm] übersichtlich, und trotzdem is es praktisch unlösbar. [F: Mhm] Oder war es bisher. Nicht+ ich glaub,
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das is äh auch das, was viele Leute am Schach sehr mögen, wobei mich Schach total kalt lässt, [F: Mhm] aber ich kenne viele Leute, die fasziniert die Tatsache, dass man mit so wenigen Steinen so unglaublich komplizierte Situationen herbeiführen kann. [F: Mhm] (..) Und ehm das ist eben auch bei Proteinen die Faszination.
Martens spielt auf Folgendes an: Die Proteine sind aus Aminosäuren zusammengesetzt. Dabei gibt es beim Menschen 20 Standardaminosäuren, deren molekulare Struktur genau bekannt ist. Die Proteine setzen sich aus Kombinationen dieser 20 Bausteine zusammen. Da diese 20 Aminosäuren miteinander kombiniert werden können, gibt es eine unvorstellbar große Zahl an Möglichkeiten. Man rechnet mathematisch mit der Fakultätsfunktion: 20! = 2.4*1018 Kombinationsmöglichkeiten nur für die zwanzigstelligen (sic!) Ketten, die der Chemiker noch gar nicht Proteine, sondern „Peptide“ nennt. Die größten Proteine haben jedoch bis zu 30.000 Aminosäuren. Damit erklärt sich auch, dass die Anzahl der Proteine sehr hoch ist. Alleine im Menschen gibt es über eine Millionen verschiedene Proteine. Wenn man den Gesetzen der räumlichen Strukturbildung (Faltung) der Aminosäurenketten auf die Spur kommen will, dann stand man bislang vor dem schier unlösbaren Problem, für jede dieser Kombinationsmöglichkeiten die Faltungsoptionen rekonstruieren zu müssen. Dies schien aussichtslos. Es wurde errechnet, dass es hierbei mehr Möglichkeiten gibt, als es Atome im Universum gibt. Doch wie Martens sagt, scheint es nun einen Schlüssel zu geben, der es ermöglicht. Es gibt einen Ansatz einer Reduktion der Komplexitätsgrade und offenbar auch eine Methode, wie man das bioinformatisch unterstützt schaffen kann. Dabei spielt der Computer eine große Rolle. Die Sequenz-Struktur-Beziehung ist die destillierte Form des Rätsels. In ihr sieht er den Schlüssel für ein Verständnis jenes „Buches des Lebens“, von dem oben die Rede war. Es geht Martens also in letzter Konsequenz um einen Ansatz, das entschlüsselte Genom lesen zu lernen und die aufgelisteten Informationen für die Enträtselung weiterer Grundfragen der Biologie zu nutzen. F79: Mhm (.) Ehm also bevor wir da mh da da da inhaltlich noch mal weiter äh nachfragen, (uv) weil wir grade schon dabei sind, wenn Sie jetzt also (.) das mit den Puzzeln und mit äh also (.) äh den Wegen, wie man die, wie man ein, wie man das lösen kann, wie man eine äh Interpretation gewinnen kann, wenn Sie da jetzt, äh gibt’s da sogar in Ihrer, vielleicht in Ihrer Kindheit sogar, würden Sie sagen, da hat da hat’s schon, gibt’s Erlebnisse, die Sie ehm da besonders geprägt haben, wenn Sie wenn Sie sich da mal dran erinnern, ehm, also vor dem Studium, vor der Schule I80: Also ich kann ich kann an nichts denken, was irgendwie prägend gewesen wäre. Äh ich bin auch dem Begriff Prägung sehr sehr skeptisch gegenüber. Ehm (.) wobei ich weiß, dass biologisch in manchen Systemen geht, aber ich glaub bei weitem die meisten intellektuellen Situationen haben keine Prägungs(uv). [F: Mhm]
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Die Frage ist etwas umständlich vorgetragen, lenkt den Blick aber auf die Sozialisation des Forschungsinteresses in der frühen Kindheit. Martens verneint es, Erinnerungen an ein konkretes Erlebnis zu haben. Mit der Bekundung einer Skepsis gegenüber dem Begriff der Prägung korrigiert er die Fragestellung gleich etwas. Sie ist aus seiner Sicht falsch gestellt. Er hat also über die Frage des Ursprungs intellektueller Interessen bereits nachgedacht und hält das Konzept der Prägung bei intellektuellen Situationen nicht für angebracht. Die philosophische Fragestellung dahinter Ehm ich hab ich hab immer eine Neigung zum Lebenden gehabt. (..) Ehm, aber aber nicht so, wie wie Leute, die dann Streichelzoos mögen oder so. [F: Mhm] Äh ich fand eher die die (uv) und uninteressant. Ehm ich war auch kein Schmetterlingssammler, wie soll ich sagen, es gibt Leute, die Insekten mögen, weil sie so vielfältig sind und [F: Mhm] man kann sie sammeln. [F: Mhm] Ehm das hat mich nicht daran angezogen, es war nicht die Systematik des Ganzen, die für mich interessant war, das war äh (uv) die Faszination der der Komplexität glaub ich.
Es scheint fast so, als beziehe sich Martens hier auf Sattler. Dem Typus nach hat er ihn vor Augen. (Ob Sattler und Martens sich kennen, konnte nicht recherchiert werden. Es ist aber durchaus möglich.) Entscheidend ist, dass er ihn wie auch den Tierliebhaber, von dem schon Sattler sich abgegrenzt hatte, zur Kontrastierung seines eigenen Werdegangs nutzt. Er skizziert seine eigene „philosophische Fragestellung“ im Kontrast zum „Modell Sattler“. Ihn hat nicht die Vielfalt der Formen einer Spezies fasziniert und welche Erzeugungsgesetzlichkeiten dahinterstehen, auch nicht das Problem von Tertium comparationis und Differentia specifica oder die innere Systematik der Stammesgeschichte. Keine persönliche Empathie zu Tieren hat ihn in die Biologie geführt, was andere vielleicht für Verhaltensforschung oder Tierschutz und Veterinärmedizin prädisponiert hätte. Ihn hat Komplexität fasziniert und das wird explizit im Kontrast zur Systematik des Ganzen genannt. Wenn gesagt wird, dass etwas komplex sei, dann meint man, dass eine Struktur so vielgliedrig, detailreich und groß, von so vielen Variablen und Faktoren bestimmt ist, die möglicherweise sogar in Wechselwirkung zueinander stehen, dass es aussichtslos scheint, die innere Ordnung dieser Struktur zu erfassen. Diese ist viel zu unübersichtlich. Der Satz: Dieser Gegenstand ist komplex! ist das Resultat einer Erfahrung des Scheiterns im Bemühen, ein System im ersten Anlauf zu verstehen. Es muss nicht heißen, dass der Versuch endgültig gescheitert ist, aber beim ersten Versuch haben sich bestimmte Widerstände gezeigt, die nicht überwunden werden konnten. Die Erfahrung der Komplexität geht also aus einer Krise hervor. Es lassen sich nicht einfache Ordnungsprinzipien feststellen. Der Faszination der Komplexität entspricht demnach eine Lust an der intellektuellen Herausforderung, dieser Krise Herr zu werden und sich durch die Vielzahl der einzelnen Parameter, Variablen, Fakto-
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ren und Interdependenzen hindurch zu finden, indem man sie alle im Einzelnen erforscht, bis man ihr Zusammenspiel verstanden hat. Komplexität gibt es in Verwandtschaftssystemen, im Wechselspiel von Volkswirtschaften oder in der Meteorologie. Der Begriff ist auch in der Mathematik, Informatik oder Systemtheorie gebräuchlich. Das Charakteristische ist, dass der Begriff ein System unterstellt, dessen Funktion man kennt, aber dessen Funktionsweise unbekannt ist. Wenn Martens sagt, nicht die Systematik des Ganzen, sondern die Komplexität habe ihn fasziniert, dann stellt sich die Frage, worin genau die Differenz liegt. Was unterscheidet ihn vom „Modell Sattler“? Sattler geht es keineswegs darum, eine klassifikatorische Systematik des Ganzen zu erstellen, sondern er will die Antriebsgesetze erkunden, die dafür verantwortlich sind, dass sich Artenreichtum entwickelt. Sein philosophischer Bezug nimmt seinen Ausgangspunkt jedoch von der ästhetischen Erfahrung der Formenvielfalt der Arten. Diese Erfahrung ist nicht die einer Komplexität, sondern die einer Differenzvielfalt im Tier- und Pflanzenreich. Hält man es gegeneinander, entsteht unweigerlich die Frage, ob es auch für Komplexität eine ästhetische Primärerfahrung gibt. Ehm (.) mir war schon als Kind sehr eingängig, dass es eine grundlegende äh äh Komplexitätsdifferenz zwischen belebter und unbelebter Materie gibt. [F: Mhm]
Die Formulierung ist auffällig. Wenn Martens sagt, es sei ihm schon als Kind etwas sehr eingängig gewesen, dann ist das etwas anders, als wenn er gesagt hätte: ich war schon als Kind fasziniert. Es behandelt jene Komplexitätsdifferenz als ein intellektuelles Phänomen, als einen schwer einsichtigen Sachverhalt, also nichts, was offenkundig für jeden ist, sondern auf das man hingewiesen wird und das man erst einmal begreifen muss. Die Aussage: Es war mir eingängig, bedeutet: ‚Es hat mir keine besonderen Schwierigkeiten bereitet’, ‚ich habe es gut nachvollziehen können’, und unterstellt, dass dies normalerweise nicht der Fall ist. Es ist also etwas Ungewöhnliches, das Martens an sich rückblickend wahrnimmt. Für ihn war dieses Verständnis für das Problem normal, aber im Nachhinein hat er gemerkt, dass es das nicht ist, es spricht ein besonderer Sinn daraus. Mit der Formulierung wird ferner deutlich, dass Martens sich nicht direkt auf eine ästhetische Primärerfahrung bezieht. Er beschreibt nicht ein eigenständiges Entdecken. Seine Formulierung unterstellt, dass das Phänomen bereits damals die Gestalt eines komplizierten intellektuellen Problems gehabt habe, als habe ihn jemand auf diese Komplexitätsdifferenz hingewiesen, und er habe darüber nachgedacht und es habe ihm eingeleuchtet, und von da an habe er einen Sinn dafür gehabt und es überall gesehen. Martens redet also so, als habe er schon als Kind an den intellektuellen Problemen von Erwachsenen partizipiert. Und es ist durchaus möglich, dass es jemanden gab, der ihn auf diese Differenz der belebten und unbelebten Materie aufmerksam gemacht hat.
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Doch was meint er genau mit Komplexitätsdifferenz zwischen belebter und unbelebter Materie? Das ist ja nicht der Ausdruck eines Kindes, sondern der eines erwachsenen Wissenschaftlers. Die Ausdrucksweise ist also sicher rückprojizierend. Doch nehmen wir ihn wörtlich. Martens muss früh ein Verständnis dafür entwickelt haben, dass die stoffliche Welt und alles, was uns umgibt, aus kleinsten Elementen zusammengesetzt ist. Jeder Apfel, jeder Stein und jede Flüssigkeit setzt sich aus kleinsten Dingen zusammen. Betrachtet man die stoffliche Welt aus dieser Perspektive ihrer kleinsten Bestandteile, sind alle Gebilde ungeheuer vielschichtig und verflochten. Alles hängt irgendwie mit allem zusammen, und dies macht es unübersichtlich. Die innere Ordnung erschließt sich einem nicht, aber man merkt es sofort, dass es eine Ordnung gibt. Diese Komplexität ist allen Stoffen gemein. Betrachtet man jedoch die Natur genauer, gibt es einen grundlegenden Unterschied. Die belebte Materie ist noch viel komplexer, als die unbelebte Materie, (oder umgekehrt). Sie hat einen grundlegend anderen Strukturaufbau, weist viel mehr innere Strukturen und Abhängigkeitsverhältnisse aus, als in der unbelebten Materie. Für diese Differenz hatte Martens, wie er sagt, schon als Kind eine Aufmerksamkeit gebildet. Martens „philosophischer Bezug“ ergibt sich also aus einer Betrachtung, die von vorneherein den Kontrast des Lebendigen zur unbelebten Natur in den Vordergrund stellt und nicht den Kontrast der Artenvielfalt innerhalb des Lebens. Das ist ein wichtiger Unterschied zu Sattler. Die Gestaltunterschiede nahe verwandter Schmetterlingsarten haben Martens weniger interessiert, dafür aber die Chemie der Stoffe, aus denen die belebte Materie besteht. Er sieht mit dem Blick eines Chemikers (oder gar Physikers) auf das Leben und mit dem Blick eines Biologen auf die Moleküle und Atome. Wenn er aber die Differentia specifica zur anorganischen Welt schon im Blick hatte, dann muss er auch eine Empfänglichkeit für den Gedanken eines Tertium comparationis gehabt haben, denn andernfalls hätte er die Differenten nicht aufeinander beziehen können. Es muss eine Folie geben, auf der er das Differente ausdrücken kann. In der Chemie der Erwachsenenwelt ist dies das Periodensystem der Elemente und die Atomtheorie, das Modell eines Moleküls, in dem Atome zusammenstehen und als Zusammenhänge einen Stoff ergeben. Aber was ist diese Folie in der Erkenntniswelt des Kindes? Ihr muss etwas entsprechen, das noch nicht theoretisch explizit ist. Eine ästhetische Qualität des Stofflichen, in der die Differenz aufscheint und womit sich die Vorstellung innerer Strukturen und kleinster Einheiten verbinden kann? Wir müssen es zunächst offenlassen. Die Passage ist auch deshalb aufschlussreich, weil man sie direkt auf das Sattler-Interview beziehen kann. Martens ist weder Tiermensch, noch Pflanzenmensch, sondern ein Molekülmensch. Er ist Biochemiker. Seine Verwurzelung in einem Stammfach ist noch elementarer, als es die von Sattler ist. Er ist nicht in der Botanik oder in der Zoologie beheimatet, sondern in der Chemie. Sein Zugang zur Chemie resultiert jedoch aus einer Faszination des Unterschieds zwischen belebter und
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unbelebter Materie. In Sattlers Augen wäre er daher vielleicht auch kein klassischer Biologe, sondern klassischer Naturwissenschaftler. Und ich weiß nicht, vielleicht ist es anderen Kindern überhaupt nicht naheliegend, ich hab’s nicht bei meinen ausprobiert, aber mich hat es schon als sehr kleines Kind beeindruckt, wie anders lebende Dinge von nicht lebenden sind. [F: Mhm]
Jetzt nähert sich Martens der ästhetischen Erfahrung an, die seiner Fragestellung zugrunde liegt. Er steigt in der biographischen Erinnerung noch etwas weiter zurück und spricht von sich als sehr kleinem Kind. Als solches hatte ihn etwas beeindruckt. Wenn man davon spricht, dass etwas beeindruckend sei, dann meint man, dass man mit einem Vorgang oder der Eigenschaft eines Objekts zwar gerechnet hatte, doch durch die Qualität und Deutlichkeit seiner Ausführung und Präsenz überrascht wurde, weil sie übertrafen, was man erwartet hatte. Was beeindruckt, hinterlässt einen bleibenden Eindruck und es wächst der Respekt oder die Ehrfurcht vor dem Phänomen. Man rechnet fortan viel stärker mit ihm und stellt seine Erwartungen um. Genau betrachtet hatte Martens also vorher schon wahrgenommen, dass lebende Dinge anders sind als nicht lebende. Aber es hatte ihn überrascht, wie deutlich diese Differenz zu Tage tritt, wenn man sich ihr erst einmal zuwendet, wie viele Dimensionen und Vergleichspunkte es gibt, an denen die Differenz schon auf der Oberfläche der Erscheinung markant sichtbar wird. Das hatte einen bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen. Es hatte sich ihm offenbart, dass die Differenz noch viel reichhaltiger und differenzierter sich darstellt, als es der erste Eindruck vermittelt. Wörtlich genommen hatte ihn also gar nicht die Differenz selbst beeindruckt, sondern die Tatsache ihrer Detailliertheit und Grundsätzlichkeit, was bereits auf den Gedanken vorgreift, dass den Differenzen auf der Oberfläche Differenzen in der Tiefenstruktur entsprechen müssen. Heute fragt er sich, ob die Differenz wirklich für alle Kinder beeindruckend sein muss. Er war lange Zeit wie selbstverständlich davon ausgegangen. Im Rückblick kommt ihm aber der Gedanke, dass sich dahinter eine gesteigerte Empfänglichkeit für das Thema bei ihm selbst verbergen könnte. Es könnte eine individuelle Besonderheit sein, dass er jene Komplexitätsdifferenz so früh und so nachhaltig wahrgenommen hat. Es stellt sich die Frage, bei welchen Gelegenheiten Martens jene Differenz hat bemerken und studieren können. An welchen Orten und Plätzen, bei welchen Gelegenheiten kann ein Kind auf jenen Kontrast aufmerksam werden? Zoobesuche kommen weniger in Frage, denn hier ist alles auf die Beobachtung der Tiere abgestellt und das Lebendige hebt sich nicht auffällig von der unorganischen Natur ab. Aber Wanderungen im Gebirge ab etwa 2000 Metern Höhe, wenn sich die pflanzlichen Formationen ändern und die Gesteinswelt sich abzuheben beginnt, so dass bodennahe alpine Gewächse und Gesteine kontrastreich sich abzeichnen, kommen in Betracht; ebenso Spaziergänge am Meeresstrand, den man entlang wandert und
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an dem man mit dem Kopf nach unten gewandt angeschwemmte Fundstücke danach durchmustert, ob das Gefundene mal gelebt hat oder nicht. In diesen Gebieten drängt sich die sinnliche Differenz von organischem Material und anorganischen Stoffen förmlich auf und jeder wird mit ihr konfrontiert. Auch kleinformatige, stadtnahe Randgebiete können anregen, wenn man sich dort länger aufhält: z.B. Baggerseen, stillgelegte Gleisanlagen der Eisenbahn, Baustellen und sogar Müllhalden, Brachfelder unter Autobahnbrücken oder überhaupt Grenzgebiete zwischen Asphalt und Bodengrund. Und natürlich kann man noch Schausammlungen in naturkundlichen Museen erwähnen, in denen geologische und zoologische bzw. botanische Präparate gemeinsam behandelt werden. Aber solche Museen gibt es gar nicht so viele. Es sind dies alles Orte, an denen man unbelebte und lebende Dinge kontrastreich nebeneinander betrachten kann. Sandmassen neben Muscheln, Steine neben moderndem Holz, Metalle neben pflanzlichen Fasern, Plastikreste und Glas neben Erdmassen und Gräsern, und man kann dort ihre Oberfläche und Farbtöne, Fasernstruktur und Elastizität, ihre Maserungen und Bruchkanten miteinander vergleichen. Es ist nicht leicht, die ästhetische Differenz dieser Erscheinungsformen adäquat zu beschreiben: - Die Oberflächenstruktur unorganischer Materie wirkt oft undurchlässiger, starr, unbiegsam, spröde, grobporig und scharfkantig. Belebte Materie ist oft elastisch und beweglich, sie ist faserig, weist von der Bewegung gezeichnete Musterungen auf. Man sieht ihr an, dass und wie sie gewachsen ist. Unbelebte Materie ist monochrom, das Farbspektrum reicht von Schwarz über alle Grautöne bis zu Weiß, dazwischen sind alle Spektralfarben als deckende Farben vertreten. Mischformen oder Einschlüsse zeichnen sich farblich scharf voneinander ab. Pflanzliches oder tierisches Gewebe hat einen transparenten Farbton, der für es charakteristisch ist und in dem die Farben Grün, Gelb und Braun, Braunrot, Braungrau überwiegen. Selbst Knochen oder Schalen weisen eine gewisse Gelblichfärbung auf. Die meisten Gesteinsarten und Metalle verschlucken das Licht oder werfen es abweisend zurück. Glas oder Edelsteine lassen es hindurch. Man sieht ihnen an, dass die Struktur ihrer Oberfläche mit der Struktur ihres Innenlebens kohärent ist. Organismen sieht man hingegen an, dass sich unter der Oberfläche (Hülle, Haut, Schale) eine differenzierte Binnenstruktur fortsetzt, die oftmals durchschimmert. Martens war alles dies aufgefallen und er hat irgendwann angefangen, darauf zu achten und über die Gründe dafür nachzugrübeln. Irgendwann hat ihn dann jemand auf das chemische Modell der Moleküle aufmerksam gemacht (6. Klasse, mit 10-12 Jahren) und er hat beides miteinander verknüpft. Das hat wie ein Verstärker oder Fokus der Wahrnehmung gewirkt und diese weiter angeregt. Plötzlich hatte Martens den Gedanken an mögliche „molekulare“ Tiefenstrukturen und er hat angefangen, die sichtbaren Oberflächen mit diesem Gedanken an tiefenstrukturelle Differenzen zu verbinden. Er lernte diese in jenen zu sehen. Er hatte eine Metasprache hinzugewonnen, mit der etwas interpretiert werden konnte, was schon da war. Die
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Chemie war also auf einen fruchtbaren Boden gefallen und hat die Aufmerksamkeit des Kindes noch weiter gesteigert; er wäre aber ohne eine schon existente Wahrnehmungsbereitschaft sicher nicht aufgegriffen und weiterverarbeitet worden. Martens hat folglich sehr früh in seinem Leben gelernt, den eigentlich abstrakten Gedanken an „Komplexität“ mit etwas sinnlich Konkretem zu verbinden, und das hat sich ihm eingeprägt, so dass er fortan immer darauf zurückgreifen konnte. Voraussetzung für diese Erfahrung ist natürlich, dass er an den genannten Orten tatsächlich verweilen und dort eine Muße für die Dinge entwickeln konnte. Er muss sich dort wohlgefühlt haben. Es liegt nahe, dass Martens als Kind während seiner Ferien häufiger solche Gegenden (Meer, Gebirge) besucht hat. Oder dass er am Rande einer Stadt lebte und sich gerne auf abgelegene Brachflächen zurückgezogen hat, um einfach mal alleine zu sein. Dabei ist er in eine Mußestimmung verfallen, die ihn für den Komplexitätsunterschied empfänglich werden ließ. Es muss aber noch etwas dazukommen, denn viele Kinder teilen diese Bedingungen, ohne dass sie einen Sinn für jene Komplexitätsdifferenz einen besonderen Entfaltungsraum entwickeln würden. Es liegt nahe, dass eine kindliche Erfahrung mit dem Tod den Sinn für die Differenz zwischen belebter und unbelebter Materie fördert. Martens betont, ihn habe schon als sehr kleines Kind beeindruckt, wie anders lebende Dinge von nicht lebenden sind. Legen wir die Altersangabe etwas weiter aus, dann bezieht sich Martens auf die Zeit zwischen dem dritten und vielleicht neunten Lebensjahr, also die Zeit erster bleibender Erinnerungen bis zum Ende der Grundschulzeit. Kinder werden in dieser Zeitspanne auf verschiedene Weise mit dem Tod konfrontiert: durch das Einschläfern eines Haustieres, durch tote Vögel oder Füchse usw. am Wegesrand oder natürlich durch den Verlust von Großeltern oder anderen nahen Angehörigen, Nachbarn oder Bekannten. Tote Tiere machen ihnen Angst, ziehen jedoch auch ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie wollen wissen, woran es gestorben ist und was mit dem Kadaver geschieht. Kinder können den Tod noch nicht begreifen und haben auch noch kein Zeitempfinden für die Endlichkeit des eigenen Lebens, das erst mit der Adoleszenz auftritt. Sie trauern aber und stellen sich vor, was mit einem Toten passiert. Da sie aber noch nichts vom Vorgang der Verwesung wissen, malen sie es sich aus. Ein bleibendes Problem ist, wo das Leben selbst ‚hingegangen, ist. Es scheint aus dem Körper einfach zu entweichen oder in ihm einzuschlafen, ohne wieder aufzuwachen. Aber warum? Und warum kann es nicht zurückkehren? Wird es ‚unterdrückt, oder einfach ‚zerquetscht,? Von diesen kindlichen Überlegungen bis zur Wahrnehmung der Materie ist es nicht mehr so weit. Es verlangt allerdings einen Perspektivenwechsel, der einer Intellektualisierung des Themas nachfolgt. Wenn man schon nicht klären kann, wohin das Leben gegangen ist, kann man umgekehrt immerhin sagen, ob etwas einmal gelebt hat oder nicht. Man kann die Spuren des Lebenden festhalten. Kadaver, Pflanzenreste, Holzstücke, verlassene Muscheln und Schneckenhäuser, Vogeleierschalen, Vogelfedern usw. finden sich überall. Zumal an den oben aufgelisteten Orten. Kinder erkennen daran,
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dass es zum Leben dazugehört, dass Tiere und Pflanzen (ab)sterben und das Leben insgesamt vergänglich ist. Sie lernen, von einem gefundenen Überrest des Lebens zurückzufragen und sich zu überlegen, zu welchem Tier oder zu welcher Pflanze es einmal gehört haben mag. Manchmal ist das gut erkennbar, manchmal nicht. Auf der Basis dieser feinsinnigen Unterscheidungen wird die Differenz zwischen belebter und unbelebter Materie möglich und virulent. Denn jetzt kann einem Kind auffallen, dass dem Lebendigen und dem nicht mehr Lebendigen eine Gemeinsamkeit anhaftet, die sie von dem, was noch nie gelebt hat und auch nie lebendig sein wird, grundlegend unterscheidet. Es gibt zwar auch eine Gemeinsamkeit zwischen toter Materie und abgestorbener Materie, nämlich dass in beiden kein Leben (mehr) vorhanden ist. Doch bezogen auf die Materie selbst ist jene erste Differenz elementarer. Die Einsicht in diese grundlegende Strukturdifferenz der Materie muss für Martens eine besonders aufregende Erkenntnis gewesen sein, denn er wollte ihr unbedingt nachgehen und mehr darüber erfahren. So wie er es schildert, hat er sich affektiv für das Lebendige interessiert, aber er wollte es unbedingt auch im Abgestorbenen noch erkennen. Und das ist ihm gelungen, sogar besonders gut gelungen, als er anfing, es mit der toten Materie zu vergleichen. Und wie schnell man feststellen kann, ob etwas lebt oder gelebt hat, [AF: Mhm] oder nicht, da muss man sich überhaupt keine Gedanken machen, [AF: Mhm] is sofort offensichtlich.
Es gibt also eine unverkennbare sinnliche Eigenqualität der Struktur des Lebens in der Materie. Man erkennt sie auch ohne Analyse der makromolekularen Tiefenstruktur schon mit dem ersten Blick. Diese Eindeutigkeit hat Martens sehr beschäftigt. Es ist interessant, wie er dies formuliert. Einerseits ist jene Eigenqualität so elementar, dass man sich überhaupt keine Gedanken machen muss, sie gehört also zu den Grundtatsachen der Welt, auf die man sich verlassen und über deren Geltung man nicht beunruhigt werden kann. Es ist eine sinnliche Gewissheit. Andererseits muss er sich doch einige Gedanken dazu gemacht haben, denn die Erkenntnis jener Eindeutigkeit erscheint hier als Resultat einer Prüfung. Es gab demnach eine Phase, in der Martens sehr darauf geachtet hat, ob etwas lebt oder gelebt hat oder nicht. Und diese Eindeutigkeit war ihm dabei sehr präsent gewesen. Sie hat ihn nicht zur Tagesordnung übergehen lassen, sondern innerlich sehr beschäftigt. Die Struktur des Lebendigen im Kontrast zum Toten und Unbelebten zu sehen, muss eine Art Attraktion für ihn gewesen sein, und es ist durchaus möglich, dass es auch etwas Bekräftigendes, vielleicht sogar Tröstendes hatte. Auf jeden Fall war es anregend. Es liegt nahe, dass diese Art der Wahrnehmung mit Gefühlen verbunden war, die im Zusammenhang mit Erlebnissen stehen, von denen wir hier noch nichts erfahren. Wir skizzieren daher rein spekulativ ein mögliches Szenario: Die Empfänglichkeit für die sinnliche Qualität der lebendigen Materie könnte damit zusam-
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menhängen, dass Martens eine sehr lebensfrohe Mutter hatte, die ihn zu seinen Streifzügen in die Natur angeregt und dabei begleitet hat und dass er sich schon früh über seine privaten Untersuchungen mit ihr ausgetauscht hat. Eine gar nicht so fernliegende Vermutung wäre, dass die Mutter in der fraglichen Phase den Verlust eines Angehörigen zu betrauern hatte und diese Situation auch mit einer Hinwendung zur Natur beantwortet hat, wie das viele Menschen tun, die einen Verlustschmerz bewältigen müssen. Alles, was lebt, hat in der Trauer etwas Tröstendes: deswegen die vielen Blumen auf einem Grab, die geschätzte Nähe zu Kindern, zu Tieren; die langen einsamen Spaziergänge in Parks und Wäldern. Bei einigen solcher Streifzüge in die Natur würde sie ihren Sohn mitgenommen haben können. Man kann sich leicht eine Szene ausmalen, in der die Mutter noch in frischer Erinnerung an den Tod eines geliebten Menschen während eines Erholungsurlaubs mit ihrem Jungen am Meer spazieren ging und angesichts der vielen toten Muscheln, Krebse und Schalentiere am Strand in Gedanken über Leben und Tod geriet. Sie hat ihren Jungen einbezogen und vor der Kulisse des Meeres wird ihr aufgefallen sein, wie gut man das Leben selbst dann noch erkennen kann, wenn es sich schon längst aus einem Körper zurückgezogen hat. Das Leben hinterlässt Spuren. Das ist ein tröstlicher Gedanke. Ein Kind kann den sublimierenden Sinn einer solchen Beobachtung kaum erfassen, weil es den Tod als eine beunruhigende Gegebenheit des Lebens noch nicht kennengelernt hat. Doch es bekommt mit, dass von ihm ein Trost ausgeht. Allerdings muss man sich den Spuren des Lebens zuwenden. Ein Kind jedoch, das sich diesen Spuren des Lebens zuwendet, hat selbst etwas Tröstliches. Und und das schien mir ein ein so so ewig tiefer Graben, der durch unsre Welt geht, [AF: Mhm] ehm (.) das hat mich fasziniert.
Eine auffällige Formulierung. Wenn jemand von einem tiefen Graben spricht, der durch unsere Welt geht, sieht er sich auf einer der beiden Seiten des Grabens. Martens sah auf die anorganische Natur wie auf eine fremde Welt hinüber, von der aus betrachtet die belebte Natur des Organischen allerdings ihrerseits unwahrscheinlich und überkomplex erschien. Martens sah zwei getrennte Kategorien der Materie und er konnte keine Verbindung zwischen ihnen erkennen. Heute weiß er, dass die Materie der belebten Natur irgendwann aus der nicht lebenden Materie hervorgegangen sein muss. Der Satz steht ja auch im Imperfekt. Aber damals sah er zwei Naturqualitäten, zwei Arten von Chemie vor sich, und konnte sich keinen Reim darauf machen. Ihm fehlten die Vorstellung von einem Atom- und Molekülmodell, in dem die Grundstrukturen von beiden Materien abbilden lassen, eine Theorie von der Entstehung der Organismen aus der anorganischen Materie. Was sich also hinter der Faszination des tiefen Grabens verbirgt, ist die Emergenz des Lebens in der Naturgeschichte. Sie wurde Martens damals zu einem Rätsel, an dem er heute noch arbeitet. Sein Zugang läuft über die Struktur der Moleküle, die das Leben bauen und ernäh-
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ren, und die irgendwann zu einer Komplexität gefunden haben müssen, die das Leben einer Zelle ermöglichen. Der Ausdruck Graben ist ein weiterer Beleg dafür, wie stark der Eindruck der „Komplexitätsdifferenz“ bei ihm gewesen sein muss. Er muss das Belebte schon immer als so viel komplexer und mehrdimensioniert gesehen haben, dass dies gar nicht in Kenntnissen der Chemie begründet gewesen sein kann. Es muss von Erfahrungen, wie sie oben hypothetisch skizziert wurden, unterfangen gewesen sein. (..) [F: Mhm] Schon als Kind bin ich sehr gerne in Naturkundemuseen und so gegangen, um mir die Formen anzuschauen, [F: Mhm] äh die Ausprägungen der belebten Materie. Und dann im Studium, ich ich hab auch, wie soll ich sagen, ich glaub, wenn ich wenn ich irgendwie geprägt worden wär oder so und und zielgerichtet gegangen wäre, wär es anders gewesen, aber ehm für mich waren diese Sachen anfangs extrem diffus, äh wenn ich Ihnen jetzt sage, dass mich fasziniert hat dieser tiefe Graben, dann ist das etwas, was mir vielleicht vor zehn Jahren eingefallen ist, sicher nicht als Kind. Äh als Kind war die Faszination da, nicht die Einsicht, dass sie aus aus diesen Dingen sich ergibt.
Unser Interviewpartner hat wie angenommen die Gelegenheiten von sich aus gesucht, um sich in Muße die Natur betrachten zu können. Es ging ihm nicht um Tiere und nicht um Pflanzenarten, sondern um die Formen des Stofflichen an ihnen. Und er bestätigt, dass das eigentliche Interesse den Ausprägungen der belebten Materie galt und nicht der unbelebten, die nur für die Kontrastbildung wichtig war. Das Thema hat sich jedoch erst allmählich konturiert. Was er jetzt darüber sagen kann, ist das Ergebnis einer autobiographischen Selbsterkenntnis und rückwirkenden Klärung. Das bedeutet, dass sein Bildungsweg anfangs nicht ausschließlich von diesem Thema beherrscht war und er viele andere Interessen verfolgt hat. Es gab keine Intention, das Thema systematisch zu verfolgen, es hat viele Umwege und Nebenschauplätze gegeben. Das gilt auch für das Studium, woraus man entnehmen kann, dass er ein Student war, der sich in der alten Humboldt-Universität sehr wohl gefühlt haben muss, weil diese wenige Vorgaben gemacht hat und Freiräume für das Selbststudium ließ. Erst vom Blick des reifen Proteinforschers aus kann er die Entwicklungslinie zurückverfolgen, die ihn zu seinem heutigen Forschungsprogramm geführt hat. Martens Darstellung entspricht also unserem Modell von der anfänglichen Vagheit („extrem diffus“) der Interessen, die auf günstige Entfaltungsbedingungen treffen muss, um sich geleitet von Erfolgserlebnissen weiter zu verdichten, so dass neue Gelegenheiten gesucht werden, um bestimmten Interesse nun gesteigert nachzugehen, bis sich eine Bildungsdynamik entwickelt hat, die sich selbst trägt. Die jugendliche „Faszination“ für die Komplexitätsdifferenz der Materie war eine Art Rohzustand der Erkenntnis, eine Form der diffusen Vorahnung eines Themas, das
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sich erst zu theoretischer Reife entwickeln musste. Martens hat daran gearbeitet, seine ursprüngliche Faszination theoretisch zu explizieren. Ehm ich hab dann angefangen, ich wollte Meeresbiologie studieren. Ich hab immer das Meer gemocht. [F: Mhm] Und ehm ich hab’s nicht getan, ehm weil ich dann nach Hamburg, Bremen oder Kiel hätte gehen müssen und ich wollte im Süden bleiben, bei meinen Eltern. /uv/
Das Meer war also Tatsächlich eine bevorzugte Stätte der Muße. Martens muss häufiger im Urlaub dort gewesen sein und sein Interesse reichte irgendwann über die Fundstücke am Strand hinaus sehr viel tiefer. Das Meer ist geheimnisvoll, weil man vom Festland oder Schiff aus die Reichtümer des Lebens nur erahnen kann, die sich unter der Oberfläche des Wasserspiegels verbergen. Meere sind Lebensräume, die völlig andere Lebensformen hervorgebracht haben, als das Festland. Es gibt auch im Meer eine reiche Zoologie (Fische) und Botanik (Algen, Farne, Korallen) und Mikrowelt, eigene geologische Formationen, Gebirge, Ströme und Landschaften; doch das Wasser beherrscht alles. Es ist ein eigener Makrokosmos, dessen Lebensformen von der Geologie und der Temperatur, den Strömungen, dem Tiefendruck und der Chemie des Wassers abhängen. Es gibt zahlreiche Wechselwirkungen und die kleinste Veränderung kann weitreichende Folgen haben. Morphologie, Nahrung, Fortpflanzung folgen eigenen Gesetzen. Für den Menschen ist das Meer einerseits Nahrungsquelle und Transportweg, andererseits eine lebensfeindliche, gefährliche Umgebung, die zu erschließen auch körperlich andere Anforderungen stellt. Vor allem ist das Meer also ein komplexes Biosystem und das wird Martens am meisten fasziniert haben. Offenbar hatte er aber ein sehr anhängliches Verhältnis zu seinen Eltern. Vielleicht wollte er sie aus Sorge nicht alleine lassen oder er hat Heimweh antizipiert, was jedoch weniger wahrscheinlich ist, denn später war er ja mehrmals einige Jahre in den USA, hat dort studiert und gearbeitet. Also wollte er die Eltern häufig besuchen und schnell bei ihnen sein können. Dies spricht für einen starken Zusammenhalt in der Familie. Martens hat Familiensinn. Ihm hat er seine ursprünglichen Interessen geopfert und sich im heimatnahen Studium so neuorientiert, dass er beides vereinbaren konnte. I81: ... Und und praktisch (.) schon am Anfang meiner Doktorarbeit wurde mir klar, ich will nicht eigentlich Biologe sein im klasch# klassischen Sinne. Organismen sind eigentlich nicht das, was mich interessiert, die Komplexität der Organismen kommt nicht (.) von (.) ihrem Charakter als Organismen, das kommt von unten, [F: Mhm] von den Zellen. [F: Mhm] Die Zellen sind schon wahnsinnig komplex. [F: Mhm] Und und äh da hab ich dann Molekularbiologie angefangen und da wurde mir klar, die Zellen sind komplex, weil die Bausteine komplex sind. Also für mich war das ein ein ständiges Zurückgehen. Und und die Komplexität der Zellen ergibt sich aus der Komplexität der Bausteine, das heißt wenn ich verstehen will, warum das Leben das Leben ist, dann muss ich die Bausteine verstehen. Und da is mir
482 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE dann eben aufgefallen, dass alle sich auf diese Informa# diese lineare Information der DNS stürzen, wobei das nur ein Proxy is, das is nur eine Art das festzuschreiben. Aber die wirkliche Komplexität generierende Form ist das Protein, das ist das, was macht, die Arbeit, die Struktur, alles. Und ehm deshalb wollte ich Proteine studieren.
Die Ausführungen zur biographischen Ursprungskonstellation kehren mit dieser Passage zu ihrem Ausgangspunkt zurück und Martens zeichnet den Bildungsprozess nach, der ihn zu seinem heutigen Forschungsprogramm geführt hat. Er beschreibt den intellektuellen Werdegang als ein Zurückgehen, und er meint die Ebenen, an denen er ansetzen wollte. Den Stein ins Rollen brachte eine persönliche Krise zu Beginn der Doktorarbeit. Wahrscheinlich hatte er ein Doktorthema angenommen, das noch der klassischen Biologie entsprach, und er muss gemerkt haben, dass seine eigenen Interessen in eine andere Richtung wiesen und das Thema ihn davon wegführte oder unnötig aufhielt. Er fühlte sich also ausgebremst und auch der Fakultät mit ihren klassischen Fragen und Herangehensweisen nicht mehr wirklich zugehörig. Die Einsamkeit des avantgardistischen Forschers hatte sich bemerkbar gemacht und er war auf dem Wege in eine fachliche Heimatlosigkeit. Im Nachhinein lassen sich zwei Dinge nennen, die sein Interesse gleitet haben: Komplexität und die Emergenz des Lebens aus der unbelebten Materie. Das war ihm 1988/89 noch nicht klar, aber er orientierte sich bereits daran, indem er anderes ausschloss. Er hatte Biologie in München studiert und war dann zum Studium der Molekularbiologie in die USA gegangen. Dieser Schritt folgte bereits einer ersten Entfremdung von der klassischen Biologie, nämlich dem Gedanken, dass die Entstehung des Lebens nicht an den Organismen selbst studiert werden könne, sondern von der Zelle ihren Ausgangspunkt nehmen müsse. Der Gang nach Amerika war sicher nicht nur dadurch motiviert, es ging auch um die Auslandserfahrung an einer reputierten amerikanischen Universität und die Qualität der dortigen Ausbildung. Also Ehrgeiz war schon auch im Spiel. Doch das Studium der Molekularbiologie bot eine gute Entfaltungsbedingung für seine Interessen und hat seinen Bildungsprozess beschleunigt. Am Ende des Studiums war Martens klar geworden, dass die Zelle nur übergangsweise seine Interessen binden konnte, weil er in ihr die Antwort auf die Frage nach ihrer Entstehung gar nicht finden kann. Denn Zellen sind Gebilde, deren komplexe Struktur von noch kleineren Mikrostrukturen bestimmt und gesteuert wird, und eigentlich wäre die Molekularbiologie ein günstiges Umfeld gewesen, um diesem Gedanken weiter zu folgen. Doch hier verzweigen sich die Wege. Martens sah, dass die Molekularbiologen in seinen Augen immer noch zu sehr an der klassischen Biologie hängen, weil ihr Ansatz auf die Erforschung der DNS und die Genetik gestützt ist und letztlich immer noch an der Evolution der Arten, also der Organismen ausgerichtet ist. Das hält er, wie wir schon wissen, für sein Thema nur für begrenzt fruchtbar. Er wollte, was natürlich die Genetik und Analyse der DNS voraussetzt, die Bausteine verstehen, aus denen sich Zellen zusammen-
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setzen und die die Informationen der DNS tragen und ausführen, also Makromoleküle wie Proteine, Peptide und Aminosäuren. Sein Interesse zielt nicht einmal auf deren Funktionsweise, sondern auf deren strukturelle räumliche Qualität. Wie können so komplexe Moleküle entstehen und stabil bleiben? Er hat jene Doktorarbeit aber durchgezogen und ist erst anschließend in ein Institut für Biochemie wieder nach Deutschland gewechselt. Das war 1990. In diesem Zurückgehen spiegelt sich erneut jene autobiographische Rekonstruktion, von der oben schon die Rede war, und es zeichnen sich jetzt ungefähr die Stationen ab, auf denen er seine ursprünglichen Intuitionen geschärft und sich zu Bewusstsein gebracht hat. Berufsrolle und biographischer Lebensentwurf, Familie und privates Glück Abschließend wenden wir uns dem Verhältnis von Berufsrolle und ganzem Menschen zu. Martens deutet in einer späteren Passage des Interviews einen Konflikt an, der ihn sogar zum Verlassen der Wissenschaft bewegen könnte, wenn er sich nicht mehr lösen ließe. Es geht um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Wissenschaftler haben keinen Achtstunden-Arbeitstag, der um fünf endet. Sie sind im Grunde dauernd mit ihren Forschungen beschäftigt und können ihrer Familie nicht immer verlässlich die Aufmerksamkeit schenken, die sie benötigt. Selbst wenn sie zu Hause sind, sind sie oft „in Gedanken“. Die Familie braucht den ganzen Menschen; aber auch die Forschung braucht den ganzen Menschen. Beide stehen daher in ständiger Konkurrenz zueinander, und das bedeutet eine Zerreißprobe für den Wissenschaftler, für seine Ehe und seine Beziehungen zu den Kindern. Martens schildert diesen Konflikt. I99: … es gibt Dinge an der Wissenschaft, die mich sehr stören. Und ich hab mir auch als Student mal wirklich sehr ernsthaft überlegt, ist es das überhaupt, was ich machen will. [F: Mhm] Äh die Tatsache, dass einen eine Frage fasziniert, ist nicht unbedingt eine ausreichende Begründung, etwas auch wirklich zu tun. Nicht+ es gibt noch viel mehr,
Ein erstaunlicher Lebensrealismus wird sichtbar. Offenbar war Martens während des Studiums mit seinem bisherigen Lebensentwurf in eine Krise geraten, als er vorausahnen konnte, welche Konflikte und Beanspruchungen auf ihn zukommen würden, wenn er den Wissenschaftlerberuf wirklich ergriffe. Das hatte er vielleicht an älteren Professoren beobachten können. Er wollte nicht einfach seiner Faszination weiter folgen, ohne die Folgen für sein Leben im Ganzen bedacht zu haben. Offensichtlich dachte er an eine Partnerin und an die Gründung einer Familie. Er hat das Problem der Vereinbarkeit von Familie und Beruf vorausgesehen. Vielleicht war er sich damals auch nicht sicher, ob er so gut war, dass er eine Familie wirklich würde ernähren können. Es kommt hier also etwas ins Spiel, das elementarer ist, als eine
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auf die Wissenschaft hinführende Bildungsdynamik. Martens will dem Beruf nachgehen, aber es soll ihn nicht unglücklich machen und es muss mit der Sittlichkeit in Einklang zu bringen sein. Der Konflikt ist interessant, denn faktisch ist Martens ja seiner Faszination doch gefolgt, obwohl es Dinge an der Wissenschaft (gibt), die ihn sehr stören. ich sagte Ihnen ich bin ein Familienmensch, für mich ist die Familie sehr wichtig, ich hab mir (.) zum Beispiel auch die Frage gestellt, kann ich überhaupt die Familie, die ich mir vorstelle, mit einem Beruf als Wissenschaftler vereinbaren. Mit der Mobilität, die ich brauche, mit der Zeit, die ich brauche, mit der Verantwortung und und so weiter. [F: Mhm]
Zwei Bedürfnisse stehen sich gegenüber: Einerseits ist Martens Familienmensch, das heißt er wollte Frau und Kinder, wollte den Kontakt zu Verwandten pflegen und nicht das Leben eines Single oder Junggesellen leben oder eine Wochenendbeziehung führen; andererseits ist er Forscher, er arbeitet auch am Wochenende, auch mal nachts an einem Vortrag, ist oft auf Kongressreisen und wenn er über einem Projektbericht brütet, ist er vielleicht unausstehlich oder kaum ansprechbar. Er hatte die Konflikte vorhergesehen, die daraus erwachsen, und er weiß, dass der Beruf seiner Frau und seinen Kindern und auch ihm selbst viel abverlangt; wobei man übrigens gar keinen Anlass hat anzunehmen, dass es sich um außergewöhnliche Konflikte oder Belastungen handeln würde. Es geht um die Belastungen, die jede Familie mit kleinen Kindern durchzustehen hat. Seine Frau wird mit vier Kindern einige Jahre sehr wenig geschlafen und ihren Mann oft vermisst haben, wenn der mit seiner Arbeit beschäftigt war. Das gilt erst recht, als die Familie in Amerika war, weit weg von den Großeltern und anderen Verwandten, die hätten einspringen können. Wenn Martens dann auch noch auf einer Tagung war und zwei Kindern bekamen gleichzeitig die Grippe oder Masern, wird die Familie schnell an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gekommen sein. Diese Phasen sind konfliktreich, weil Eltern im Grunde keine Lösung haben und die Situation einfach nur durchstehen müssen. Die Gatten müssen sich gerade in den täglichen Reibereien, die ja hauptsächlich darum gehen, wer die größeren Belastungen zu ertragen hat und darum Vorrang bei der Entlastung beanspruchen darf, immer wieder als Paar formieren, auch der Erziehung wegen gegenüber den Kindern, und das gelingt nur, wenn die Eheleute aus dem Geschlechterkampf wieder herausfinden und die Anstrengung wechselseitig anerkennen und sich Entlastung gewähren. Bekanntlich sind die Scheidungsraten in den ersten beiden Jahren nach der Geburt eines Kindes signifikant erhöht, was ohne Zweifel damit zusammenhängt, dass viele Paare dieses Kunststück nicht hinbekommen. Und ehm (..) ich weiß nicht, ich weiß nicht, wie ehrlich man sich selbst Antworten gibt,
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Martens bereitet einen bestimmten Gedanken vor. Er hatte sich damals, in der Zeit, als er sich die Frage der Vereinbarkeit von Familie und Wissenschaft vorgelegt hatte, gesagt, dass er es schaffen werde. Er hatte sich gesagt, dass seine Kräfte für alle Belastungsproben ausreichen würden, und das war mit einem bestimmten Selbstappell verbunden gewesen. Er hatte sich eine Lösung zurechtgelegt, nach der er sich verhalten wollte, wenn er wirklich vor die Wahl gestellt werden würde. Doch er misstraut heute jenem Selbstappell von damals, dessen Inhalt nur darin bestanden haben kann, dass er den Wissenschaftsberuf aufgeben und sich für die Familie entscheiden wollte, bevor diese auseinanderbrechen würde. Er weiß nicht, wie er sich in einer wirklichen Ehekrise verhalten hätte, die ihn tatsächlich vor die Wahl zwischen Familie und Berufe gestellt haben würde. Das heißt, die Bindung an die Forschung ist ähnlich stark wie die an die Familie. Es ist ein wirklicher Konflikt und Martens weiß nicht, wie er ihn in einer Krise auflösen würde. Er ist einer der Dämonen, die den Forscher begleiten, welcher sich für eine Familiengründung entschieden hat. deshalb weiß ich auch nie, wie ehrlich damals meine Antwort gewesen ist (.) an mich selbst, aber äh ich hab mich damals überzeugt, dass es geht. [F: Mhm] (.)
Das nie ist wörtlich genommen aus einem Obersatz abgeleitet, doch in Wirklichkeit zeugt es davon, dass jene Ungewissheit schon die ganze Zeit Martens begleitet. Er wäre gerne entlastet von der Ungewissheit und würde gerne seinen Selbstappellen uneingeschränkt vertrauen können. Doch das ist eine Illusion. Er lebt mit jenem potentiellen Konflikt, seit er Familie hat, und wahrscheinlich ist das Gefühl für den Konflikt mit jedem Kind, das geboren wurde, und mit jedem Erfolg in der Forschung weiter gewachsen. Auffällig ist die Formulierung: aber äh ich hab mich damals überzeugt, dass es geht. Es müsste sprachlich korrekt heißen: „Ich habe mich damals davon überzeugt, dass es geht.“ Letztere Formulierung würde nur dann einen Sinn ergeben, wenn man unterstellte, dass Martens sich bei älteren Wissenschaftlern, die er auch privat kannte und die für ihn zum Vorbild wurden, überzeugt hatte, dass es prinzipiell möglich sein kann, Beruf und Familie zu vereinbaren. Das kann aber nicht mehr als eine schwache Überzeugungskraft gehabt haben, denn man muss den Glauben an ein Gelingen ja vor allem aus seiner eigenen Beziehung schöpfen. Ohne das Partikel davon hört sich der Satz an, als habe Martens sich eher überredet. Ehm aber wenn ich einen echten Konflikt gespürt hätte, also mehr als nur die täglichen Reibereien, die man noch lösen kann, wär ich ausgestiegen.
Jetzt spricht Martens den Inhalt des Selbstappells aus. Er deckt die zuvor aufgedeckte Ungewissheit im Konflikt wieder zu, indem er sein Verhalten nachträglich
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eindeutig macht und so tut, als hätte er sich in jedem Falle gegen die Wissenschaft und für die Familie entschieden. Das kann er sich leisten, weil zum Zeitpunkt des Interviews die größte Anspannung überwunden zu sein scheint, denn Martens spricht im Imperfekt („wäre ich ausgestiegen“). Der Konflikt hat nachgelassen und es ist klar, womit dies zusammenhängt: Am größten werden die Belastungen in der Postdoc-Zeit gewesen sein, als die Eheleute mit einem BAT 2a Gehalt vier kleine Kinder großziehen und Martens um die Karriere kämpfen musste. Das höhere Einkommen in der amerikanischen Industrieforschung wird die Lage verbessert haben, weil die Familie sich ein Haus leisten konnte und die Perspektive auf eine Managerkarriere offen stand. Aber wirklich entspannt hat sich die Situation erst mit seiner Rückkehr nach Deutschland, der Berufung auf eine Lebenszeitstelle und eine Dienstwohnung, die in nächster Nähe zu den Labors gelegen ist, so dass er zum Mittagessen oft nach Hause gehen kann und für seine Familie ansprechbar ist. Die Großeltern wohnen außerdem nicht so weit weg und vor allem sind die Kinder mittlerweile etwas älter und „aus dem Gröbsten raus“. Dass die Ehe die Belastungsproben ausgehalten hat, spricht natürlich dafür, dass Martens Ehefrau nicht nur opferbereit für die Kinder da war, sondern auch den Spagat, den ihr Mann zwischen Beruf und Familie empfindet, mit ihm zusammen ausgehalten hat und aushält. Sie ist eine Wissenschaftlergattin. Martens hatte den Gedankengang ursprünglich damit eröffnet, dass ihn an der Wissenschaft auch Dinge störten. Man kann jetzt erahnen, was er meint. Die Konflikte mit dem Familiensinn und die vielen Regelungen und institutionellen Strukturen, die eine Vereinbarkeit erschweren. F100: Mhm (..) um die Familie sozusagen zu erhalten und äh I101: Ja für mich ist die Familie an erster Stelle (uv) (....)
Er hat also eine starke Bindung an seine Familie und sieht sich, nachdem er geheiratet und Kinder bekommen hat, unbedingt in der Pflicht, die Familie nicht scheitern zu lassen. Gleichwohl steht dieser Sittlichkeit seine personale Identität gegenüber, die ihn auch zum Forscher macht. Das ist der Konflikt. Ich ich bin zum Beispiel auch, das ist so ein ein eine Eigenheit von mir, aber ich war in der Schule sehr unglücklich.
Martens setzt etwas überraschend zu einer Erklärung an. Sein Familiensinn hat eine Wurzel, die er schildern will. Es geht um einen Charakterzug, den Martens mit seiner Schulzeit verbindet.
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In NNN [Herkunftsort] extrem unglücklich, das war eine sehr repressive Schule. [F: Mhm] Aber auch hier, ich hab mich sehr gelangweilt, ich fand das alles (uv), ich fand die Lerninhalte nicht angemessen.
Martens war mit seinen Eltern erst während der Grundschulzeit in eine Stadt in Süddeutschland gezogen. Er hatte also einen Schulwechsel erlebt, der mit einem Kulturwechsel verbunden war. Seine Eltern stammen ursprünglich aus Südosteuropa. Über die Gründe für ihre Migration erfahren wir nichts, doch da der Umzug vor dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Zusammenbruch des sowjetischen Machbereichs erfolgt ist, liegt es nahe, dass sie verfolgt waren oder unter der kommunistischen Herrschaft gelitten haben. Das Unglück des Jungen in der repressiven Schule kann mit dem Ausreisebemühen zusammenhängen, es kann aber auch eine der Gründe für den Weggang gewesen sein. Offenbar hatte Martens dort richtig gelitten. Die Schule stand im Dienste des Regimes. Interessant ist aber, dass die deutschen Schulen für Martens keine wirkliche Verbesserung gebracht haben. Er war wissbegierig und seine Neugierde fand er weder hier noch dort gefördert. Äh nicht+ zum Beispiel haben wir seit der neunten Klasse jedes Jahr das Dritte Reich durchgenommen. Mal in Geschichte, mal in Sozialkunde, mal in Deutsch. Und ich mein, nach dem ersten Jahr wollt ich eigentlich dem Lehrer sagen, ich bin nicht blöd, ich hab’s kapiert, Dankeschön, [F: Mhm] jetzt möcht ich was anderes machen ja+. Und äh es ging nicht, das war einfach vorgegeben. [F: Mhm]
Ihn störte also, dass das Curriculum nicht flexibel gehandhabt wurde und nach den Bedürfnissen der Kinder ausgerichtet war, sondern auch anderen Aufgaben verpflichtet war. Mehrfache Wiederholungen des gleichen Themas hat er als Vergeudung von Zeit empfunden. Dass er gerade das Thema Drittes Reich erwähnt, ist natürlich interessant, denn als Junge, der nicht in Deutschland geboren war, wird ihm aufgefallen sein, dass das Thema nicht nur sachlich verhandelt wurde, sondern dass sich mit ihm auch moralische und politische Wertungen verbinden. Dafür hat er sich nicht interessiert. Es war ihm nicht anregend genug. Er konnte nicht nachvollziehen, warum das Thema einen so großen Stellenwert einnahm und hat es als indoktrinär empfunden. Angedeutet wird überdies, dass der Lehrer vielleicht sogar auf seine Wünsche eingegangen wäre, doch die Vorgaben des Schulamtes haben ihn daran gehindert. Auch in andern Bereichen wurden manche Sachen immer wiedergekaut, äh oder auf einer Ebene gemacht, die für mich total uninteressant war. [F: Mhm] Und ich hab eigentlich unter der Schule richtig gelitten, ich war sehr glücklich als ich raus(uv). Äh am Tag, nachdem die Schule zu Ende war, hab ich alles gesammelt, was ich aus der Schule hatte, noch alte Bücher, Hefte und (uv) [Geste für Verbrennen]. [F: Mhm] Ehm ich war ich war ein sehr glücklicher
488 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE Student, und zwar deshalb, weil die Uni gar nicht wie die Schule war. [F: Mhm] Ich musste nicht in die Vorlesung gehen, es hat sich kein Schwein um mich gekümmert, ich konnte tun, was ich wollte, das fand ich fantastisch. [F: Mhm]
Martens war also der klassische Typus des Studenten der Humboldt-Universität, der es als innerer Freiheit empfindet, sich in dem Chaos der mannigfaltigen Lehrangebote und Studienmöglichkeiten ein eigenes Curriculum zusammenzustellen und eigenen Bildungsinteressen nachzugehen. Viele Wissenschaftler schildern das Ende ihrer Schulzeit als Befreiung. Martens hatte es herbeigesehnt und er wollte durch nichts mehr an die Schule erinnert werden. Äh deshalb wäre ich auch im amerikanischen System unglücklich gewesen, weil dort die sch# das Studium das Grundstudium viel stärker verschult is. [F: Mhm] Das hätt mir überhaupt nicht gefallen. Ich fand die anonyme sch#, das anonyme Studieren in Deutschland wunderbar. (uv) [F: Mhm]
Dem Gefallen am anonymen Studieren in Deutschland entspricht natürlich, dass der Student selbst für den Fortschritt eines Bildungsprozesses sorgen kann und auch weiß, welche Basics er am Ende des Studiums nachprüfbar erlernt haben muss. Das System der deutschen Universität setzt daher eine relativ große Selbständigkeit voraus, die es dem Studenten abverlangt. Amerikanische Universitäten strukturieren viel mehr das Studium und machen Vorgaben, was in welcher Zeit erlernt worden sein muss. Martens stört es aber, wenn dem Studenten durch Vorgaben die Selbständigkeit institutionell abgesprochen wird. Und ehm als wir dann äh mit den kleinen Kindern in die USA gezogen sind, haben wir (uv). Äh auch aus einer gewissen Notwendigkeit heraus, weil ich unbedingt wollte, dass sie Deutsch sprechen, und ich beobachtet hatte, dass Kinder, die ins amerikanische System gehen, ?aktiv? das Deutsche ablegen, als Anpassung an ihre Umgebung. [F: Mhm] Und ehm wir haben mit der Heimschule extrem gute Erfahrungen gesammelt. Und ich hab mir eigentlich bei meiner Rückkehr hier vorgenommen, wenn meine Kinder mit dem deutschen System ähnliche Schwierigkeiten haben sollten, wie ich es hatte, würd ich wieder weggehen. Und ich steh dazu, ich will (uv) beobachten, derzeit scheinen sie eigentlich relativ glücklich zu sein, sie haben’s offensichtlich nicht so aufgenommen wie ich, aber wenn sich solche Probleme ergeben sollten, bin ich weg.
Der ganze Vorspann diente dazu, eine weitere Maxime zu erläutern, nach der Martens seine Lebensführung ausrichtet. Er will seinen Kindern das Unglück der eigenen Schulzeit ersparen. In Amerika hatten er und seine Frau die gesetzliche Lage ausgenutzt, die keine Schulpflicht, sondern nur eine Unterrichtspflicht kennt, und hatten ihre Kinder selber zu Hause unterrichtet. Offenbar hatte seine Frau darin ei-
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nige Fähigkeiten. Zurück in Deutschland unterliegen die Kinder der Schulpflicht und gehen zur Schule. Und Martens ist auf Habachtstellung. Alle diese Beispiele zeigen weniger Dinge, die an der Wissenschaft selbst störend sind, als vielmehr, dass Martens neben seiner Faszination für die Forschung noch anderen Bedürfnissen folgt, nach denen er sein Leben steuert. Er hat also auch gegenüber seiner eigenen Leidenschaft für die Forschung eine innere Distanz und sieht das Leben als Gesamtheit von teils widerstreitenden Interessenlagen und Bedürfnissen, die in Einklang gebracht werden müssen. Die Kindheitserfahrung ist hierbei ein wichtiger Kompass, weil er seinen Kindern bestimmte Leiden ersparen will. F101: Mhm (..) um denen das zu ersparen, was in Ihrer I102: Ja ich find’s auch unvernünftig, also ich war als Kind richtig unglücklich. [F: Ja das ging ?mir genauso ja?] Ja. [F: Ja] Also (uv) und es gibt noch andere, also es gibt viele Faktoren, [F: Ja] die eine Rolle spielen [F: Mhm] und äh auch in der Wissenschaft, also nur wenn man als Wissenschaftler arbeitet, gibt es Punkte, die mich sehr stören. (.) Ehm und da, also ich hab mir die Antwort gegeben, es ist mir wert und ich mach es, weil ich [F: Mhm] diese Frage bearbeiten will, aber es war keine offensichtliche Antwort, also ich hätt mir schon vorstellen können, was anderes zu machen.
Was es genau ist, was ihn an der Wissenschaft stört, führt er gar nicht mehr aus. Unter der Hand hat sich ohnehin gezeigt, dass es nicht mehr darum geht, sondern um Autonomie. Martens will sagen, dass er den Wissenschaftlerberuf nur insoweit ausüben will, solange dieser die Autonomie von ihm und seiner Familie nicht einschränkt. Autonomie und deren Entfaltung ist auch der Nenner, auf den man die Ausführungen zur deutschen Universität bringen kann. Seine persönliche Autonomie ist ihm wichtiger als die Möglichkeit, als Forscher tätig zu sein. Das bezieht seine Frau und seine Kinder mit ein. Seine Kinder sollen sich uneingeschränkt entfalten können. Die gesetzliche Schulpflicht in Deutschland kann für eine solche, eigentlich nicht einmal besonders radikale, sondern nur konsequente Haltung zum wirklichen Ärgernis werden, wenn es den Kindern nicht gelingt, sich zu integrieren. Geistesaristokratie und Autonomie des modernen Wissenschaftlers F102: Mhm (..) würden Sie auch sagen, dass Ihnen das, vielleicht das erst überhaupt ermöglicht hat, oder wenn Sie mal an andere Kollegen gucken, ehm die da vielleicht so eine ja, innere Freiheit äh haben, sich, weil eine innere Freiheit hat man ja glaub ich nur, wenn man wirklich auch sich echt wirklich äh Alternativen überlegt. [I: Mhm] Ehm (.) also gibt Ihnen das eine gewisse äh f# Freiheit gegenüber der Wissenschaft, [I: Mhm] ehm na ja is blöde Frage eigentlich /es geht (uv)/ I103: /Ja, nein nein, nein/ die Frage is schon richtig. Ja, ja. Ich ich ich hab das Gefühl, das is anders als viele meiner Kollegen, ich hab das Gefühl, I can just walk away. [F: Mhm] Ich
490 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE kann einfach aufstehen und weggehen. [F: Mhm] Äh ohne dass ich andere Aspekte meines Lebens riskiere. [F: Mhm] Sicher das ist eine große Freiheit, die ich hab.
Martens glaubt die Schattenseiten des Wissenschaftlerberufs nüchtern in den Blick nehmen zu können, er fühlt sich sozial und beruflich unabhängig. Er ist weder erpressbar, noch überidentifiziert. Er hat eine innere Distanz zum Beruf gewahrt. Sein Gefühl der Unabhängigkeit beruht auf dem Gefühl, die berufliche Position wechseln zu können. Er hat Alternativen, und das stärkt die Unabhängigkeit seines Urteils gegenüber der konkreten Wirklichkeit seines Berufs. In Martens Sätzen drückt sich eine geistesaristokratische Haltung aus, die allerdings vollkommen verschieden ist, wie die der Gentlemen und adeligen Laienforscher früherer Jahrhunderte. Um das zu verstehen, muss man sich kurz erinnern, dass ein wissenschaftliches Handeln nur möglich ist auf der Basis einer sozialen Existenzform, die Mußekrisen zu kultivieren erlaubt, und das geht nur, wenn der Wissenschaftler alimentiert wird und entlastet ist von der notwendigen Arbeit der materiellen Existenzvorsorge. Der Beruf des Wissenschaftlers setzt entweder ein großes privates Vermögen oder eine bürgerliche Anstellung voraus. Die frühen „Natural Philosophers“ des 17. und 18. Jahrhunderts waren allesamt Adelige oder Kleriker, die rechtlich und ökonomisch privilegiert waren und ihre Vermögen dazu nutzen konnten, einem wissenschaftlichen Interesse nachzugehen. Erst im 19. Jahrhundert wurde der Beruf des Wissenschaftlers in der Folge des Ausbaus der Universitäten auch für Angehörige bürgerlicher Schichten ohne Erbvermögen und Zinseinnahmen eine reelle berufsbiographische Option, denn es entstand an Universitäten, in der staatlichen Verwaltung und in der Industrie ein akademischer Arbeitsmarkt mit vielfältigen Möglichkeiten. Die wissenschaftliche Laufbahn konnte daher auch von diesen Schichten riskiert werden und es setzte die Transformation des Wissenschaftlers hin zum Berufsforscher mit bürgerlicher Leistungsethik ein. Die Verberuflichung der Wissenschaft hatte jedoch zur Folge, dass „bürgerliche“ Wissenschaftler auf den Erfolg ihrer Forschung innerhalb des akademischen Systems angewiesen sind. Sie müssen sich innerhalb der vorgefundenen Alimentationssysteme absolut konform verhalten, weil sie es nicht riskieren können, aus dem System herauszufallen. Da lange Zeit die Universität die alleinige Institution alimentierter Wissenschaft war, determinierte ihr Berufungs- und Fachsystem das Laufbahnverhalten der Wissenschaftler. Das hat bis heute wirksame Einschränkungen der Forschungsfreiheit zur Folge. Forscher folgen natürlich nicht immer nur den Interessen, die sie aus ihrer Arbeit autonom entwickeln, sondern es gibt auch Anpassungsstrategien und es gibt Modethemen, unter die sie ihre eigenen Interessen bringen müssen, wenn sie nicht an den Rand gedrängt werden wollen. Martens kennt die Schwierigkeit des „bürgerlichen“ Wissenschaftlers, eine persönliche Autonomie gegenüber dem Beruf zu wahren. Ihm geht es hier gar nicht um wissenschaftspolitische oder inhaltliche Fragen, sondern um die lebenspraktische
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Autonomie insgesamt. Anders als viele seiner Kollegen glaubt er eine Unabhängigkeit bewahrt oder erstritten zu haben. Er verkörpert einen neuen Typus des Geistesaristokraten, der seine Unabhängigkeit nicht aufgrund von Vermögen erreicht hat, sondern weil er sich durch seine Tätigkeit in der Industrie eine materielle Alternative erarbeitet hatte und wechseln könnte. F103: Und wo womit glauben Sie hängt das zusammen, ist das eher (.) ehm ich mein (.) vielleicht was auch was Triviales, aber Sie können sich’s auch offenbar leisten, also im Sinne einer Begabung und offenbar können Sie Sprachen sehr schnell lernen, äh oder gut lernen und äh ehm also (..) könnte das auch damit zusammenhängen mit, dass wenn, also (.) da# dass Sie sich es eben auch leisten können diese Doppelte (..) also was is mit der Begabung, [I: Ja] wie würden Sie das einschätzen I104: Oh ich bin überzeugt das is essentiell. (.) Ich mein, die Fähigkeit, bestimmte Dinge zu tun gibt eben einem eben auch die Freiheit, diese Dinge zu tun.
Die Unabhängigkeit des Geistesaristokraten beruht also zum einen auf Begabungen, die bestimmte Leistungen ermöglichen, die anderen verschlossen bleiben, zum anderen aber darauf, diese Begabungen in unterschiedlichen beruflichen Milieus auf die Probe gestellt zu haben, so dass das Erbringen einer beruflichen Leistung nicht an die Rahmenbedingungen eines Milieus gebunden bleibt. Geistesaristokratisch ist also weniger eine tatsächliche finanzielle Unabhängigkeit, als die habituelle Unabhängigkeit, im Bewusstsein eigener Leistungsqualitäten die Optionen nüchtern ins Kalkül ziehen zu können und im Zweifelsfall die Freiheit zu haben, ein Arrangement wieder aufzulösen, um seinem Lebensentwurf treu zu bleiben. Ehm wenn man die Dinge nicht tun kann, dann ist die Freiheit (uv) [F: Mhm] Äh ich kann einem Menschen nicht sagen, er soll einfach davonfliegen, weil er nicht fliegen könnte, zumindest nicht ohne Hilfsmittel. [F: Mhm] Das heißt, die Freiheit haben wir nicht, wenn es Menschen geben würde, die fliegen könnten, dann hätten sie eine zusätzliche Freiheit dadurch, dass sie eben diese Eigenschaft haben, die andere nicht haben. [F: Mhm] Und ich geh genauso davon aus, dass ich Eigenschaften habe, die andere eben nicht haben. Ehm ich bin daher sehr vorsichtig, wenn ich zum Beispiel meinen Mitarbeitern sage, das ist doch ganz einfach, das müsst ihr können. Ich versuche das nie zu sagen, weil es ist nicht offensichtlich, dass die das tatsächlich können, erstmal müsste man prüfen, dass sie’s können, [F: Mhm] bevor man ihnen einen Vorwurf macht, dass sie’s nicht getan haben. [F: Mhm]
Es ist interessant, wie das Geistesaristokratische sich bei Martens wie selbstverständlich mit der Sittlichkeit verbindet. Er geht selber davon aus, dass er mit überdurchschnittlichen Begabungen ausgestattet ist. Das sieht er als Privileg, nicht als „Vorteil“. Er rechnet es sich nicht als Leistung an. Aus dem Privileg erwächst für ihn jedoch automatisch eine Verantwortung im Umgang mit anderen. Martens
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denkt hier als Institutsdirektor, dem Macht über seine Mitarbeiter zukommt, die er auch unsachlich einsetzen könnte, wenn er überzogene Forderungen erheben würde, die gar nicht erfüllt werden können. Das wäre ungerecht und es würde auch gar nicht funktionieren. Man darf sich also nicht selbst zum Maßstab machen! Als Postdoc hatte er sich darüber noch keine Gedanken gemacht und im freien Wettbewerb der Wissenschaftler seine eigenen Begabungen ausgespielt. Doch jetzt trägt er Verantwortung für seine Mitarbeiter und er musste sich umstellen. Die Begabung des Einzelnen wird ihm da plötzlich zu einer Frage, die individuell beantwortet werden muss. Das Bild vom Fliegen soll dies veranschaulichen. Ehm und das Können das ist auch so eine Sache, also anfangs dachte ich, man muss nur die die Grundvoraussetzungen haben. Inzwischen bin ich davon abgekommen, es gibt auch einen einen inneren Willen, ein äh a driving force, die von innen kommt
Der Gedankengang führt Martens direkt zum Forscherhabitus und zur Frage, was einen erfolgreichen Wissenschaftler ausmacht. Zu Beginn seiner Tätigkeit als Institutsdirektor glaubte er, dass es ausreiche, wenn Doktoranden über eine solide Grundausbildung verfügen und dass sie dann wie von selbst in der Lage sein würden, auf eine wissenschaftliche Aufgabenstellung zuzugehen und sie aus eigenen Stücken voranzubringen. Heute weiß er, dass diese Annahme nicht stimmt. Er hat also mittlerweile viele gut ausgebildete, inspirierte Wissenschaftler kennengelernt, die über Grundvoraussetzungen wie Methodenkompetenzen, theoretischem Tiefenverständnis und experimentellem Virtuosentum verfügen, aber dennoch keine eigene Aufgabenstellung selbständig aufschließen konnten. Es hat immer an etwas gefehlt, das alle Aktivitäten auf ein Ziel ausgerichtet und sie vorangetrieben hat. Dieser innere Wille kann nicht von außen vorgegeben oder abverlangt werden. Er kann daher auch nicht als Wissenskomponente im Rahmen eines Studiums erlernt oder gelehrt werden. Entsprechende kompetenztheoretische Annahmen wären vollkommen irreführend. Der innere Wille ist vielmehr etwas Individuelles und muss sich in der Bildungsgeschichte von selbst eingestellt haben. Es gibt hier zwei verschiedene theoretische Komponenten. Die driving force beruht demnach auf hereditären Befähigungen. Aber: Es handelt sich zugleich um das Ergebnis einer je spezifischen Individuierungs- und Bildungsgeschichte. Dies entspricht unserem Modell, das ja davon ausgeht, dass der Forscherhabitus aus einem spezifischen Bildungsprozess hervorgeht. Es gibt zu Beginn einen vagen Spielraum von Möglichkeiten, der auf einer kindlichen Neugierde und Faszination für einen Gegenstand beruht, und diese Möglichkeiten verbinden sich, wenn sie auf günstige Entfaltungsbedingungen treffen, mit einer Erfahrung des erfolgreichen Erschließens und Entdeckens eigener Begabungen, so dass sich eine Disposition bildet, die nach Gelegenheiten sucht, um der Faszination weiter nachzugehen, so dass sich eine Bildungsdynamik entwickelt, in der das Bildungssubjekt die Kriterien des eigenen Er-
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folgs immer weiter steigert, bis es irgendwann diese Dynamik soweit verinnerlicht ist, dass es ihr habituell weiter folgt. Die Bildungsdynamik wird Bestandteil der personalen Identität. Ihre driving force ist eine biogene Antriebsbasis und ein kulturell erzeugter Habitus, der auf der Neugierde beruht, die er immer wieder selbst anregt und zum Erfolg führt. Das Kulturelle ist aber die auf eine Steigerung hin angelegte Bewährungsdynamik dieses Bildungsprozesses, in dem das außeralltäglich Neue immer schneller sich bewährt und der Hunger nach Neuem immer weiter gesteigert wird. Damit ist allerdings nur ein, wenngleich das für den Forschungshabitus zentrale Moment der driving force benannt. Für einen Erfolgswillen ist es entscheidend, dass Antriebsmotivationen hinzutreten, die nicht spezifisch für die Wissenschaft sind: Ehrgeiz, Aufstiegswille, Selbstbehauptung, Wunsch nach Anerkennung und Integration, usw. Auch diese Motive sind individuell höchst verschieden ausgeprägt und lebensgeschichtlich motiviert. Wenn sie sich aber mit einer in die Forschung hineindrängenden Bildungsdynamik verbinden, dann können sie diese weit voranbringen. Die driving force des Forscherhabitus beruht also immer auf einer Gesamtheit von Antriebsmotivationen, die letztlich Ausdruck einer Fallstrukturgesetzlichkeit ist und nur im Rahmen einer Fallrekonstruktion erschlossen werden können. und ehm das is so wie beim beim, das Benzin beim Fliegen. Es langt nicht, dass Sie einen Propeller und Flügel haben, es muss auch irgendetwas sein, was das antreibt. [F: Ja] Und äh die Tatsache, dass ich dann feststelle, dass jemand Propeller und Flügel hat, heißt noch lange nicht, dass er fliegen kann.
Das Bild ist nicht wirklich angemessen, viel zu technisch-apparativ und komponententheoretisch gedacht. Man sieht aber, wie der Proteinforscher sich bereits sehr weit in die Problemlage vorgedacht hat. Er kann etwas isolieren, welches hier mit der Metapher Benzin umschrieben wird, auf das es bei einem guten Forscher ankommt. Aber es wird noch zu dinglich vorgestellt, in Wirklichkeit ist es eine habitualisierte Bildungsdynamik, die von der Fallstruktur insgesamt getragen wird. Für unser Generalthema ist interessant, dass der Forscherhabitus sich in dieser Passage gerade dadurch ausdrückt, dass er sich hier selbst thematisiert. Martens offeriert seine Überlegungen zum Thema, die aus seiner praktischen Erfahrung als Institutsdirektor stammen, als der er Mitarbeiter zu beurteilen und ihre Potentiale richtig einzuschätzen hatte. Aber sie gehen doch weit darüber hinaus. Er interessiert sich für die Frage und geht es wie ein Forscher an. Allerdings ist er Naturwissenschaftler und nicht Soziologe. Er will die Frage nicht wirklich ergründen und hat ja auch die Methoden dafür gar nicht zur Verfügung. Deshalb bleibt sie letztlich in eine private Überlegung eingebunden.
494 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE Und das war mir lange Zeit nicht klar, aber inzwischen is es mir klar. [F: Mhm] Es muss auch von innen die Möglichkeit bestehen, die [F: Ja] Fähigkeiten zu nutzen. Ich finde, man kriegt immer wieder Leute mit ganz erstaunlichen (.) Fähigkeiten, ehm und dann sagt man, ja der Mann ist gescheitert, der hat der hat das nicht zum Tragen gebracht. Und ich denke, manchmal ist man da vielleicht zu hart. [F: Mhm] Ich glaub, da urteilt man vielleicht an an (.) eben der Situation, dass man den Propeller und die Flügel sieht, aber der Mann hatte halt keinen Treibstoff und deshalb konnte er das gar nicht (uv).
Wieder äußert sich das praktische Bedürfnis. Es geht Martens darum, gerecht zu urteilen und eine unangemessene Härte aus der Bewertung von Kollegen herauszunehmen. Er will niemanden als gescheitert ansehen, der gar nicht die Fähigkeit hatte, eine schwierige Aufgabe zu meistern. Auch das ist interessant. Es nimmt den ganzen Menschen in den Blick, nicht nur den Berufsmenschen, der sich in einem Wettbewerb behaupten soll. F104: Ja. Was ist der Treibstoff, wenn Sie das I105: Tja, wenn ich das wüsste /also das is ja/ [F: /für sich und andere besetzen/] Was ist der Treibstoff, das ist eine sehr gute Frage, ich glaub nicht, dass ich eine Antwort darauf hab. Ehm ich (..) ich weiß es nicht. (...) F105: Das is äh die Frage meiner Habilitation ja (lacht) I106: Ja was ist der Treibstoff, was treibt die Menschen ja. F106: Ja aber wenn ich Ihnen die Antwort geben könnte, hätt ich die Arbeit schon abgegeben ja also (lacht) I107: Ja eben genau (lacht) das äh, ja es tut mir leid, ich kann Ihnen da nicht helfen, ich weiß nicht, was der Treibstoff ist.
Der Interviewer setzt natürlich nach. Doch Martens muss passen, obwohl die mehrmaligen Pausen im Sprechen verraten, dass er sein Inneres nach Ansätzen für Antworten absucht. Er erliegt nicht der Versuchung, irgendeine Spekulation zu entwickeln, sondern ist professionalisiert und lässt die Frage einfach unbeantwortet. Abschließend nimmt dieses Thema der inneren Antriebskräfte des geistesaristokratischen Wissenschaftlers noch einmal eine überraschende Wende. I110: ... Ehm ich bin davon überzeugt, wenn wenn mich morgen ein Bus überfahren würde, würde zwar meine Familie sehr drunter leiden, die Wissenschaft würd es ?nicht merken?. [F: Mhm] Die Wissenschaft ist eine dermaßen große Aktivität geworden, in der alle Bemühungen soweit parallelisiert worden sind, dass das (.) Genie des Einzelnen in meiner Auffassung fast keine Rolle mehr spielt. [F: Mhm] Ehm Wissenschaft ist ein echter Beruf. (.)
In der Passage wird das Argument entfaltet, dass das „System Wissenschaft“ eine so große Aktivitätsbreite erreicht hat, dass es auf das einzelne Forscherindividuum
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nicht mehr ankommt. Es ist aber nicht so gemeint, dass die innovative Dynamik der Wissenschaften nicht mehr avantgardistische und exzentrische Positionen benötigte. Im Gegenteil. Es ist aber so, dass diese Positionen sofort wiederbesetzt werden, wenn jemand ausfällt, der diese Position zunächst erschlossen hatte. Das heißt, der Antrieb, eine öffentliche Reputation auf das Werk zu erlangen, läuft heute schon aus strukturellen Gründen ins Leere und der Forscher, der vielleicht einmal mit dem Ehrgeiz angetreten war, Ruhm und Ehre einzustreichen, muss sich damit abfinden, dass er niemals als Individuum aus der Menge der Kollegen wird herausragen können. Indirekt wird erkennbar, dass Martens sich der Sache nach an sehr großen Vorbildern orientiert. Aber das wird ganz nüchtern distanziert berichtet. Es hat eine wirkliche Transformation stattgefunden und es gibt keine Heroen mehr; die Verberuflichung der Wissenschaft ist abgeschlossen. Ehm und mir is eigentlich egal, wenn Sie, wen Sie mir nennen, sein Tod würde auf die Biologie als als (.) Entwicklung [F: Mhm] fast keinen Einfluss haben, oder keinen. Äh manche Sachen würden vielleicht etwas später entdeckt, dafür aber vielleicht andere Sachen früher, weil seine Stelle an jemand anderen gehen würde, [F: Mhm] der jetzt in diese Richtung geht. [F: Mhm] Is schwer zu sagen. Aber jedenfalls in der globalen Dynamik wird sich nichts ändern. [F: Mhm]
Der Grad an Aktivitäten hat sich so erhöht, dass Ideen nicht lange auf einen einzelnen Forscher beschränkt bleiben, es gibt unzählige andere Forscher, welche gleichzeitig nach Ansätzen für neue Entwicklungen suchen und unter diesen Bedingungen kann sich eine individuelle Forscheroriginalität kaum dauerhaft etablieren. Es ist auch gar nicht nötig. Die globale Dynamik gleicht Verluste aus und hat sich gegenüber dem Einzelnen weitgehend verselbständigt. Die Biologie tritt dem einzelnen Biologen als objektiver Geist gegenüber. Das hatte schon Frau Bertram so geschildert. Dies hat aber Folgen für das Selbstbild der Wissenschaftler. Sie dürfen sich keine falschen Hoffnungen machen, als Einzelpersönlichkeit mit ihrer Entdeckung noch berühmt zu werden, oder glauben, dass die globale Dynamik von ihnen abhinge. Äh ich glaube dasselbe (.) könnte man äh in in ganz gleicher Weise auch von der Physik und der Chemie sagen, wenn deren Entdeckungen zu einer Zeit (uv). Wir hätten keinen Newton, wir hätten keinen Galilei, wir hätten keinen Einstein, wir hätten all diese Leute nicht, nicht in dieser Form, sie wären keine universellen Beruhmt# Berühmtheiten. [F: Mhm] Äh sie wären nach wie vor große Denker. Aber eben große Denker, ehm die nur durch ganz kleine Schritte bekannt würden, weil alle anderen sind schon von andern gemacht. [F: Mhm] Nicht+ Sie müssen sich mal vorstellen, dass dass jemand wie wie Darwin, der 20 Jahre an seiner Theorie gearbeitet hat, (.) jetzt nicht in seiner Umgebung gearbeitet hätte, sondern in der heutigen Umgebung. Wo er eine eine in der Royal Society irgendeine Mitteilung über über diese Fin-
496 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE ken schreibt, oder über irgendetwas anderes. [F: Mhm mhm] Und da sind 100 Biologen da, die darauf herumhacken. [F: Mhm] Die hatten die Idee gar nicht, aber die erkennen die Idee als wirk# als wichtig und die machen das. [F: Mhm] Jemand wie er hätte überhaupt keine Chance, der wäre total (..) [F: Ja, ja ja, (uv)] der wäre (uv) [F: Vollkommen klar] Äh heutzutage ein ein ein Genie, welches 20 Jahre für seine Arbeiten braucht, hat heutzutage meines Dafürhaltens keine Chance mehr. (.)
Der Kontrast ist interessant und hilfreich. Worum geht es hier also? Hätten Forscher wie Newton, Einstein oder Darwin unter heutigen Bedingungen gearbeitet, wären sie gar nicht bekannt geworden. Sie wären trotzdem Genies gewesen. Aber es hätten nicht mehr so viele Leute bemerkt, weil sie gar nicht mehr dazu gekommen wären, den Ansatz ihrer Ideen komplett alleine zu entwickeln, so dass man die Etablierung und Ausarbeitung einer neuen Theorie mit ihrem Namen verbindet. Unter heutigen Rahmenbedingungen werden geniale Ideen sofort absorbiert und andernorts aufgegriffen, so dass man gar nicht die Möglichkeit hat, eine Idee bis zu ihrem Ende zu folgen und das Ergebnis mitzuteilen. Der Wandel bedeutet nicht den Untergang des wissenschaftlichen Genius, aber seine raschere Diffusion und Veralltäglichung, die vergleichbare Inszenierungen von Personen nicht mehr zulässt. Ich seh’s auch auch an dem, was wir machen, ich glaub, dass unsere Idee wirklich tragfähig ist, das ist jetzt meine persönliche Meinung. [F: Mhm] Ehm wenn ich zu einer anderen Zeit gearbeitet hätte, hätt es sogar sein können, dass ich irgendwann einmal in die Geschichtsbücher eingegangen wäre. Heutzutage hab ich überhaupt keine Illusionen darüber. Jeder Erfolg von uns wird hundertfach nachgemacht und der Rest vorgekocht. [F: Mhm]
Martens ist also wirklich überzeugt von seinem Ansatz. Er ist hier nicht unbescheiden, sondern nutzt die Selbsteinschätzung seines Projektes für das Thema, um das es geht: Man darf sich keine Illusionen über die persönlichen Reputationschancen machen. Deshalb ist Reputationsstreben auch kein guter Antriebsmotor in der heutigen Wissenschaft. Wer so denkt, wird irgendwann aufwachen und merken, dass andere sich an die eigene Entwicklung angehängt und sie selbständig weitergeführt haben. Wer sich da betrogen oder kopiert fühlt, hat den Wissenschaftsbetrieb nicht verstanden. Es gehört zur Professionalität hinzu, dass man sich illusionslos der eigenen Entwicklung widmet, aber gleichzeitig die Streuung der Ideen in andere Institute akzeptiert. Das verlangt eine ganz andere Mentalität als in früheren Phasen der Wissenschaftsgeschichte, in denen Forscherideen über Jahrzehnte gegen massive Anfeindungen durchgesetzt werden mussten. Es geht alles viel schneller und der Genius ist anonymisiert. Nicht+ sobald man merkt, dass jemand von A nach B geht, man braucht ja nicht die ganze Strecke zu sehen, sobald man sieht, dass er den ersten Schritt nach B tut, genügt das, dass von
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den Tausenden von Wissenschaftlern, die meine Artikel lesen, äh zehn sich entscheiden, dass sie den gleichen Weg gehen wollen. Und die Chance, dass ich den Weg, dass ich den nächsten Schritt noch alleine tue, ist sehr gering, [F: Mhm] und den übernächsten noch als erster tue, ist fast verschwindend. [F: Mhm (.) ja ja ich verstehe ja] Genau, das heißt, (..) sollte es so sein, dass die Erkenntnis von A nach B zu gehen, extrem wichtig ist, hätte ich dafür überhaupt keinen credit. [F: Mhm] Es würde auch den meisten überhaupt nicht bekannt, dass ich den ersten Schritt getan hätte, [F: Mhm] das wäre ein eine ein Zufall und ein Glück, wenn das irgendwie bekannt würde. [F: Mhm mhm] (.) Ehm wir wir stutzen all unsere Geistesgrößen herunter, durch diese kollektive Anstrengung. F110: Ja, und es is unvermeidlich, es is kein I111: Ja. Es liegt im [F: Ja ja] System begraben.
Es klingt abschließend doch ein Bedauern durch, wenn Geistesgrößen heruntergestutzt werden, denn das impliziert auch, dass sie keine hinreichenden Entfaltungsbedingungen mehr finden, die ihrer Kapazität angemessen wäre. Martens leidet also auch etwas unter der kollektiven Anstrengung. Er glaubt jedoch nicht, dass irgendjemand etwas daran ändern könnte. Es liegt im System begraben. Martens berührt damit Max Webers „stählernes Gehäuse der Hörigkeit“ von einer unerwarteten Seite. Der begabte Mensch muss sich damit abfinden, dass er zwar das System mit Ideen versorgt, aber es wird ihm nicht mehr gedankt und es wird nicht einmal mehr sichtbar. Er wird dadurch gezwungen, ohne fremde Anerkennung seiner Arbeit auszukommen und daraus erwächst eine neue Stufe der Bewährungsdynamik. Der ideenreiche Forscher muss das Opfer bringen, das Austragen und Großziehen seiner Ideen mit anderen zu teilen, und seine persönliche Integrität nicht mehr so stark mit seinen Ideen zu identifizieren. Auch an dieser Stelle verweisen wir für ein Resümee auf das Schlusskapitel.
Kapitel 3. Die reife Profession Der Forscherhabitus in der Astrophysik
Fall 9: Privatdozent Dr. Arens, Astrophysiker, Forschungsgruppenleiter
Vorbericht Das nachfolgende Interview mit Herrn Arens wurde in einem Max-Planck-Institut geführt, das sich mit astronomischer Forschung befasst. Arens leitete dort eine Nachwuchsgruppe, die sich mit der Entstehung von Galaxien, Planeten und interstellaren Konstellationen befasste und dabei insbesondere neuere Verfahren der Computergestützten Simulationen zum Einsatz brachte. Die Nachwuchsgruppe hatte über zehn Mitglieder. Arens ist 1959 geboren und in Bayern aufgewachsen. Er studierte bis 1986 Physik und Astronomie in Süddeutschland und war nach seiner Promotion 1989 zu mehreren Aufenthalten an Universitäten in den USA (1989/90/91). Bevor er 1995 die Nachwuchsgruppe übernahm, war er Postdoc in einem astrophysikalischen Institut. Mittlerweile ist er zum Professor einer deutschen Universität berufen worden. Nachwuchsgruppen sind eine selbständige Einrichtung der Max Planck-Gesellschaft zur Förderung besonders begabter Nachwuchswissenschaftler, die zeitlich befristet einen festen Etat mit Personalstellen und Sachmitteln erhalten, um ein eigenständiges Forschungsprogramm auf den Weg zu bringen. Die Nachwuchsgruppen sind Instituten angegliedert, arbeiten aber selbständig. Das Interview wurde im Dezember 2001 in den Institutsräumen der Forschergruppe geführt. Vieles, was thematisch wird, ist bereits aus den vorangehenden Kapiteln bekannt. Die Analyse wird sich deshalb auf das neu Hinzutretende konzentrieren. Abkürzungen und Notation I Interviewer A Arens +...+ gleichzeitig gesprochen . Stimmsenkung ? Stimmhebung (.), (2) kurze Pause, Pause in Sekunden
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und und [uns.] (unv.)
betont nicht sicher zu identifizieren nicht zu identifizierendes Wort
I: äh ja ähm was mich interessiert ist ähm ganz einfach was Sie an Ihrer beruflichen Tätigkeit fasziniert A: (2) ja also ähm (2) des was also was mich an der (1) an an der Wissenschaft fasziniert des iss natürlich äh das Unerforschte? das Rätsel? (I: ach ja) mh äh des äh das des es einfach da ein ein Problem gibt das man das man knacken möchte mein das iss macht man ja auch wenn man wenn man zu Hause an nem Puzzle sitzt in gewisser Weise macht das einfach Spaß? äh da die die die dies Intellektuelle und das Geistige was das jetzt hinter steckt da vor ner Aufgabe zu stehen
Das Interview beginnt ähnlich wie die anderen Fälle mit der Frage nach der Faszination der beruflichen Tätigkeit. Arens antwortet mit Formeln für diese Faszination. Er sieht sich durch ein gegebenes Problem geistig herausgefordert. Die Wissenschaft wendet sich dem Unbekannten, Unerforschten zu. Sie bearbeitet Rätsel. Und Arens betont den Spaß, den er damit hat. Er versucht diese Faszination zu übersetzen, indem er ein Beispiel aus der Lebenswelt der Laien anführt und das Puzzeln nennt. Der Reiz der Wissenschaft ist, so unterstellt er, eigentlich jedermann bekannt und nicht weiter ungewöhnlich. und äh das macht natürlich noch umso mehr Spaß je weniger ähähäh äh je weniger Leute es gibt die das wissen nicht?
Exklusivität als Antrieb Der Reiz wird also gesteigert, weil das Rätsellösen in der Wissenschaft sich mit Exklusivität verbindet. Es befriedigt einen Originalitätsdrang. Doch was meint Arens mit wissen? Was ist der Referent für das Pronomen das? Dem Genus nach bietet sich kein Wort im vorangehenden Satz an. Es kann das Puzzle oder die Aufgabe gemeint sein, aber auch die Lösung der Aufgabe. Die Wissenschaft bearbeitet folglich Rätsel, die noch niemand gelöst hat. Nur wenige Leute verstehen, worum es geht und sind mit ihnen befasst. Je exklusiver das Problem, umso mehr Spaß macht es, an ihm zu arbeiten. Am größten ist der Reiz, wenn man an einem Problem arbeitet, das noch niemand kennt. Dann arbeitet der Wissenschaftler in dem Bewusstsein, dass er alle Schritte auf dem Weg zur Lösung als Erster geht. Diese Einzigartigkeit des Forschers ist etwas, das Arens fasziniert. und und wenn man jetzt in der Wissenschaft arbeitet da weiß es eigentlich keiner. und da könnte man der der Erste sein der das weiß.
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Als Erster eine Lösung gefunden zu haben, kann aus zwei Gründen ein Anreiz sein. Darin manifestiert sich zum einen eine persönliche Bewährung, man hat einen unverfälschten reinen Nachweis des eigenen Könnens, weil es keine Vorbilder gibt. Darüber hinaus weiß sich der Forscher für einen Moment im Besitz eines Wissens, das sonst niemand hat und das ihn weiter in den Gegenstand hineinblicken lässt, als es anderen möglich ist. Das sind verschiedene Facetten von Originalität. Man steht an der Spitze eines Wettbewerbs. Man ist aber auch als Einzelindividuum dem Erhabenen sehr nah. Dieser Originalitätsdrang ist vergleichbar mit dem der Alpinisten, für die eine Erstbesteigung eines Berggipfels ähnliche Bedeutung hat. und das iss noch wesentlich besser als a Puzzle von dem es vielleicht äh ne halbe Million Kopien gibt und jeder weiß im Prinzip wie es ausschaut weil ja vorn auf’m Deckel schon das Bild drauf ist
Arens bleibt bei seinem lebensweltlichen Beispiel und arbeitet den Unterschied heraus. Das gekaufte Puzzlespiel ist hochgradig standardisiert und das Ergebnis steht schon fest. Der Reiz beschränkt sich darauf, das Bild aus den Einzelteilen wieder zusammenzulegen, und dieses Spiel ist bei Tausenden von Käufern das gleiche, was auch jeder weiß. aber in der Wissenschaft haben Sie immer Puzzle vor sich? wo Sie die noch gar nicht mal die einzelnen Bausteinchen kennen. und Sie erst mal gar nicht wissen was für’n Bild entstehen wird und da tragen Sie dazu bei und gibt’s es immer wieder mal Situationen da sind Sie der Einzige in de auf der Welt der das neue Puzzlesteinchen kennt und das ist natürlich schon sehr sehr spannend. und das fasziniert.
Die Herausforderung ist also ungleich größer. Es gibt eine bleibende Ungewissheit, ob sie die richtigen Einzeldaten zu einem richtigen Bild zusammensetzen. Der Normalfall ist, dass der einzelne Wissenschaftler einen bescheidenden Beitrag dafür liefert. Es kommt aber immer wieder mal vor, dass er sich an die Spitze dieser professionellen Erfahrungsgemeinschaft stellen kann und dieser Anreiz, der Erste zu sein, ist ein sportives Motiv und eine ästhetisch reizvolle Erfahrung zugleich. Man ist der erste Mensch, der etwas Bestimmtes gemacht hat, und das vermittelt ein Gefühl persönlicher Bedeutsamkeit. Erste persönliche Dispositionen und dann gibt’s die verschiedenen (.) Aspekte mein ich ich äh ich seh meinen äh meinen (.) äh also dass das grad Astronomie bei mir iss das würde ich gar nicht so als besonders wichtig ansehen ich kann mir genauso gut andere Themen vorstellen die mich sehr interessieren würden.
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Arens will das Thema Faszination weiter auffächern, indem er auf die Besonderheiten der Astronomie eingeht. Er hält jedoch inne und hebt den exemplarischen Charakter des Fachs hervor. Er legt seine Gedanken also sehr kontrolliert vor, greift mögliche Missverständnisse auf und betont, worauf es seiner Meinung nach ankommt. Das Fach Astronomie ist für ihn persönlich gar nicht so zentral, das führende Interesse gilt dem Forschen als solchem. (Wir kennen das alles schon.) Gleichzeitig steht damit aber die Frage im Raum, was ihn denn dann in die Astronomie geführt hat. also in der Meteorologie oder in der Biologie und wie son Armeisenhaufen sich entwickelt also ’n Frosch zerlegen das tät mir jetzt nicht so Spaß machen. (I: mhm) also die Bestandteile das interessiert mich weniger.
Indem er alternative Fächer anführt, wird eine erste persönliche Disposition erkennbar. Arens interessiert sich für komplexe Strukturen und deren Funktions- und Bewegungsgesetze. Es geht ihm um das Zusammenspiel unendlich vieler Einzelkomponenten, die ein Ganzes ergeben. Und er will wissen, wie sich komplexe Gebilde entwickeln. Die Komplexität ist hier wieder das Thema. Diese könnte man an verschiedenen Entitäten und Fachwissenschaften untersuchen. Der Frosch bildet ein Gegenbeispiel zum Ameisenhaufen als dem Beispiel aus der Biologie. Dabei scheint es nicht auf einen moralischen Tierschutzgedanken anzukommen. Arens scheint diese Art Gegenstand nicht komplex genug zu sein, er ist ihm zu überschaubar. Hinzu kommt, dass ihm das Aufschneiden und Zerlegen nicht liegt, bei dem ein Gebilde zerstört werden muss, damit es untersucht werden kann. Für das biologische Labor wäre er damit in der Tat ungeeignet. Damit werden interessante Differenzen sichtbar. Um Biologe werden zu können, muss man tatsächlich einen Willen haben, einem intakten Organismus unter die Oberfläche der Haut zu schauen. Man muss in einen Organismus eindringen und sein Innenleben erkunden. Das ist in der Astronomie nicht der Fall. aber (.) wie wie jetzt äh die ebenso die die da äh (.) die Logistik in so’m Ameisenhaufen abläuft und wie die da zusammenwirken können und dann was Ganzes das tät mich auch interessieren
Der Ameisenhaufen steht in Parallele zum Sternenhaufen einer Galaxie, mit denen sich Arens ja in Wirklichkeit beschäftigt. Das Gemeinsame ist das Zusammenwirken unzähliger Einzelgebilde, die ein Ganzes bilden. Im Ameisenhaufen kommt hinzu, dass der Staat in sich eine Art Organismus ist, der arbeitsteilig seine Funktionen erfüllt, ohne dass es eine zentrale Steuerungsinstanz gäbe. Das Wort Logistik umschreibt diese Arbeitsteilung und ihre Organisation.
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Notwendigkeit der Spezialisierung und da könnt ich mir also vieles vorstellen. also äh drum denk ich mir jetzt und (.) man muss sich halt in der Forschung heutzutage konzentrieren auf ein Thema. (I:mhm)
Eine starke Neugierde reicht nicht aus. Für den Forscherberuf ist es zentral, seine Neugierde auf ein Sachthema fokussieren zu können. Man muss das eine opfern, um das andere gewinnen zu können. Für uns sind diese Aussagen längst nichts Neues mehr, umso interessanter ist es zu sehen, wie sich der identische Inhalt in jedem Interview doch ein bisschen unterscheidet. Bei Arens wird dies alles mit einer gewissen Lakonie und Selbstverständlichkeit formuliert, als sei es doch jedem klar. Man muss sich halt konzentrieren. Gleichwohl bleibt interessant, wie das gemeint ist. Muss man sich konzentrieren, weil der Grad der Arbeitsteilung einen Spezialbeitrag fordert und anders eine Karriere nicht möglich wäre? Oder muss man sich konzentrieren, weil man mit seiner Neugierde sonst nicht weit kommen und immer an der Oberfläche bleiben würde, wenn man überall nur „hineinschnuppert“? Beides ist möglich. Das Adverb heutzutage legt nahe, dass früher einmal etwas anderes gegeben war und das Konzentrieren-Müssen aus dem heutigen Stand der Entwicklung der Wissenschaften herrührt. Aber wann soll dieses Früher eigentlich gewesen sein? Schon bei Max Weber 1920 findet sich der Gedanke einer notwendigen Spezialisierung der Forschungsleistung als eine bereits lange feststehende Tatsache und Forderung des Wissenschaftsberufs ausgesprochen. Und faktisch ist schon das 19. Jahrhundert davon beherrscht. Es ist also kein Spezifikum der Jetztzeit. Was kommt in der Äußerung also zum Ausdruck? Sie bringt in erster Linie das Konzentrieren auf ein Thema als Forderung des Wissenschaftsberufs zur Geltung, erhebt sich aber zugleich über frühere Zeiten, indem es suggeriert, dass diese Forderung sich heute in einer nie dagewesenen Radikalität stellt. Das Opfer der Neugierde ist also groß, die Tiefenschärfe ist heute größer. Dies aber ist weniger der Forscherhabitus selbst, als ein Selbstbild des gegenwärtigen Wissenschaftlers, der sich auch etwas in Szene setzt. und wenn man irgendwo weltführend werden will dann kann man das net überall machen das iss’n ganz spezielles spezifischer Bereich und das iss auch in der Astronomie selbst dort muss man sich spe weiter spezifizieren und äh weil man äh sonst äh eben nicht an die an die Spitze kommt. weil es eben sehr (.) Detailwissen ist gefragt (.) intensive Arbeit auf diesen Detailaspekt ist notwendig und des da reicht gerade mal ein Forscherleben dazu aus.
Arens gibt sich also nicht mit Nischen oder halben Sachen zufrieden. Er will, dass seine Arbeit wirklich bedeutsam ist. Und bedeutsam ist sie nur, wenn man vorne mitspielt. Man darf sich also nicht verzetteln, muss sich diszipliniert auf diejenigen Forschungsfragen einlassen, für die man sich entschieden hat. Denn der Weg zur
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Spitze führt nur über die geduldige Detailarbeit, diese Arbeit kostet Zeit und verbietet ein Abschweifen und neugieriges Vagabundieren. Der moderne Berufsastronom muss seine gesamte Karriere auf dieses Forschungsgebiet setzen und macht nur mit diesem Einsatz eine Karriere. – Führend ist jedoch immer noch der Gedanke, dass man mit der Wahl auch etwas opfern muss. es iss e nich so wie damals (.) wo man eben (.) nich? der Humboldt oder so der alles wusste und und in und äh äh äh Newton der auf den verschiedensten Gebieten gearbeitet hat die Zeiten sind leider vorbei?
Es klingt ein Bedauern darüber an, aber Arens hält sich nicht lange damit auf. Er nutzt den Vergleich zu Newton oder Humboldt eher, um den radikalen Systemwechsel in den Rahmenbedingungen des modernen Forschens zu unterstreichen. Ein Polyhistor zu sein kann sich heute niemand mehr leisten. Unterschied zum Natural Philosopher alter Prägung (.) so fundamentale (.) Fragen gibt’s schon noch aber aber die sind ja auch so komplex äh nich das kann ein einzelner gar nicht mehr lösen. das sind dann ganze Forschergruppen die an den fundamentalen Fragen arbeiten müssen.
Es gibt also Kontinuitäten und Brüche. Gleichgeblieben ist, dass auch heute noch Fragen bearbeitet werden, die das naturwissenschaftliche Weltbild im Ganzen, die großen Fragen betreffen. Unterstellt ist, dass die Universalgelehrten wie Newton und Humboldt in ihrer Zeit sich vor allem diesen Fragen zugewandt hatten. Heute sind es dem Inhalte nach Fragen von ähnlich philosophischer Reichweite. Allerdings hat sich die Vielfalt an Teilproblemen erweitert, die berücksichtigt werden müssen. Jedes dieser Teilprobleme verlangt die Aufmerksamkeit der Wissenschaftler, aber man muss sich spezialisiert haben, um ernsthaft weiterzukommen, so dass ein Forscher alleine diese Vielfalt im Ganzen nicht mehr bearbeiten kann. Das ist hier gemeint. Die komplexen Fundamentalfragen machen es außerdem erforderlich, dass die Einzelforscher ihre Aktivitäten in einer Gruppe koordinieren. Das wirft die Frage auf, die die Diskussionen oberhalb der Spezialgebiete eigentlich zusammenlaufen. Arens deutet an, dass dies gar nicht immer mehr gelingt. ja und (.) drum also der der einfach die Freude an an an dem Unbekannten und die Suche nach dem die fasziniert mich dies macht mir einfach sehr viel Spaß und die Astronomie ist halt eins der Gebiete die mir besonders gefallen hat und es ist jetzt halt grad die Astronomie geworden. (lacht) so würde ich das ähm dann einengen. (1) nich und dann wie man das in der Astrono welches Gebiet in der Astronomie des dann iss dass es jetzt grad die Theorie iss da hatt ich mich irgendwie mehr zu Hause gefühlt als jetzt von der Beobachtung her muss ich sagen.
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Arens betont nochmals den exemplarischen Charakter des Forscherhabitus. Er ist in erste Linie Forscher und erst in zweiter Linie Astronom. Dann nähert er sich seinem spezifischen Werdegang an. Es gab ein gewisses Spektrum der Naturwissenschaften, das ihm gefallen hat, ihm lag die Astronomie, aber auch andere Fächer. Geisteswissenschaften waren nicht in Frage gekommen. Dass es die Astronomie wurde, scheint ihm selbst fast zufällig, aber er hat sich konsequent darauf eingelassen, als die Entscheidung gefallen war. Innerhalb der Astronomie gab es eine weitere Verzweigung, und es wird eine persönliche Disposition sichtbar, wie er andeutet. Er stellt die Theorie der Beobachtung gegenüber. Theorie und Beobachtung als zwei Habitusformationen in der Astronomie Beobachtung meint natürlich die ins Universum gerichtete Wahrnehmungstätigkeit der Astronomen, die mit Hilfe von Observatorien, Teleskopen und Radioteleskopstationen, die mittlerweile auch satellitengestützt operieren, den Himmel beobachten. Offenbar hat ihn diese Tätigkeit nicht so sehr angezogen, was erst einmal verwundert, denn mit Astronomie verbindet der Laie immer erst einmal die Faszination einer weit in das Universum vordringenden Beobachtertätigkeit. – Theoretiker gehen anders an ihren Gegenstand heran. Theorie und Beobachtung werden gebraucht wie zwei Synonyme für Milieus innerhalb der Astronomie, die sich durch verschiedene Arbeitsweisen unterscheiden. Die Theorie konstruiert und arbeitet mit Modellen. Sie erzeugt die Beobachtungsdaten nicht selbst, sondern konzentriert sich auf die theoretische Interpretation und Erklärung von Himmelserscheinungen. Theoretiker sind Astronomen, die auf der Grundlage der modernen Physik simulatorische Modelle entwickeln und mit Hilfe des Computers durchrechnen lassen, und in dieser Herangehensweise hat er sich irgendwie mehr zu Hause gefühlt, muss ich sagen. Das heißt, er weiß auch nicht genau warum, aber die Beobachtung lag ihm einfach nicht. Er hat auch an Teleskopen gearbeitet, doch es hat ihm nicht denselben Spaß gemacht, war nicht vom selben Erfolg gekrönt. Diese Passage ist vergleichbar mit der im Interview, in dem Sattler die Biologen in Tiermenschen und Pflanzenmenschen unterscheidet und die persönliche Verbindung von Gegenstand und habitueller Disposition heraushebt. Hier ist es weniger der Gegenstand, als die Herangehensweise und die primäre Arbeitsmethodik. Es geht wieder um die Verwachsenheit von personaler und beruflicher Identität. Bedeutung der Professoren für die Berufssozialisation des Nachwuchses das hat sich auch so wahrscheinlich etwas ergeben vom Studium her und dann hat ich halt einen einen Doktorvater der mir sehr gefallen hat der halt nu mal Theorie gemacht und man
508 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE das hängt dann auch damit zusammen. nich wo man (.) äh in welcher Fakultät man groß wird? und was da für Professoren sind? die einen dann mehr oder weniger faszinieren da kann man da nimmt man einfach den der einfach faszinierender ist (I: ja) und wenn es ein Beobachter wär wär es in der Beobachtung und wenn es ein Theoretiker ist dann wird man automatisch geht man in Richtung Theorie o ja mh und äh und das hat sich eben bei mir ebn dann so in in Richtung Theorie eh entwickelt (I: mh) das so würd ich mal sagen
Arens widerspricht sich etwas, denn er hatte eben noch davon gesprochen, sich in der Theorie mehr zu Hause gefühlt zu haben, jetzt betont er wieder mehr die Abhängigkeit von äußeren Rahmenbedingungen, die zufällig gegeben sind (in welcher Fakultät man groß wird). Er will also seine persönlichen Verhältnisse nicht weiter offenlegen, als unbedingt nötig. Sein Bericht illustriert seine Theorie des Bildungsprozesses mehr, als dass er seinen persönlichen Bildungsweg konkret beschreibt. Gleichwohl ist seine Schilderung interessant und aufschlussreich. Arens glaubt, dass die Personen, mit denen ein Student in Berührung kommt, generell von Bedeutung für die Entwicklung und Themenwahl sind. Dieser Aspekt ist neu. Bislang ging es um die Faszination für einen Gegenstand, für die Tätigkeit des Forschens, für das Rätsellösen; nun geht es um Menschen, die die Forschung verkörpern: Professoren und, als der Betreuer, der Doktorvater, mit dem ein Student die engste Verbindung eingeht. Schon das Wort lässt anklingen, dass die Beziehung zu ihm familienähnlichen Charakter hat; es sind sowohl Anteile einer rollenspezifischen wie einer diffusen Sozialbeziehung dabei. Studenten werden in ihrem intellektuellen Werdegang davon geleitet, welchen Themen die Professoren nachgehen, auf die sie treffen. Doch umgekehrt gilt auch, dass die Studenten sich diejenigen Professoren aussuchen, die sie am meisten faszinieren. Diese Faszination gilt anfangs mehr der Person und weniger dem Gegenstand, den sie beforscht, unterstellt Arens. Es ist also die Art und Weise, wie ein Professor seine Vorlesungen hält, wie er sein Spezialgebiet zu präsentieren versteht und wie interessant die Aussichten sind, bei ihm gefördert zu werden. In wenigen Zügen skizziert Arens damit die Bedeutung des Schüler-Meister-Verhältnisses für den Professionalisierungsprozess. Er vollzieht sich über eine persönliche Bindung an einen oder einige wenige Professoren. Diese müssen nicht nur den Forscherhabitus authentisch verkörpern. Für den Studenten werden Professoren als Menschen interessant, wenn sie den Studenten ein Forschungsgebiet eröffnen, in dem sie sich selbst weiterentwickeln können. Sie müssen ihr Forschungsgebiet im Großen interessant machen und gleichzeitig unbearbeitete kleinformatige Forschungsprojekte anbieten können, die ein Student zum Thema seiner Abschluss- oder Doktorarbeit machen kann, so dass sich ihm auch beruflich eine Option eröffnet. In Arens’ Fall war es ein Vertreter der Theorie, welcher in am meisten angezogen hat. Durch dessen Lehrstuhl war das Spektrum der weiteren Forschung vorgezeichnet. Wir wissen aber schon, dass Arens auch eine persönliche Disposition
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für die Theorie hatte und der Weg eines Beobachters nicht nur aus Gründen des Zufalls nicht beschritten wurde. Ausdifferenzierte Einheit: Der Theoretiker und der Beobachter I: und ähm wie würden Sie den Zusammenhang zwischen Beobachtung und Theorie sehen oder würden Sie sagen das sind also (A: mhm)+ zwei äh komplett A: also sagen wir +mal die I: getrennte+ Gebiete?
Der Interviewer stellt eine Verständnisfrage. Er will wissen, welche Position die Theorie in der Astronomie einnimmt. A: es iss schon so das das man im Prinzip die (1) die Daten der Beobachter verwendet der Theoretiker natürlich +(I: ah ja) weil+ er ja die interpretieren muss. und ohne die is man ja verloren weil man dann ja unendlich viele Möglichkeiten hat und man muss da schon von von nem realen Zustand ausgehen und sagen jetzt jetzt hab ich da son Bild vor mir? da da iss mh offensichtlich was passiert jetzt möchte ich verstehen warum des (.) so iss. ähh weil und des ist sonst kann man sonst geht’s ins Uferlose sonst weiß man gar nicht wo man anfängt und aufhören will.
Arens vermutet wahrscheinlich ein Missverständnis, als stünden die Theoretiker außerhalb der Empirie, und dem tritt er sofort entgegen. Theoretiker sind Modellkonstrukteure, die sich mit ihren Modellen auf die empirischen Beobachtungsdaten beziehen. Ausgangspunkt ihrer Arbeit ist das Protokoll einer Beobachtung, ein Bild, das aufgezeichnet wurde: Also eine Fotoplatte, auf der Lichtquellen im All (Sterne, Nebel, Galaxien usw.) zu sehen sind, bzw. ein Datenträger, auf dem Aufzeichnungen von Radio- oder Infrarotwellen festgehalten sind. Dem Beobachter ist etwas aufgefallen, das Bild weist eine interessante Signatur auf. Es zeigt z.B. eine Galaxie, deren Arme merkwürdig auseinanderdriften. Die „Theorie“ greift diese Daten auf und schaut, ob sie die Signatur in einer Simulation adäquat erklären kann, und dazu entwirft sie Modelle, um diese Simulation rechnen zu können. Die Theorie folgt dabei einer eigenständigen Herangehensweise und Aufgabe, sie ist nicht Appendix der Observatorien oder deren Dienstleister. Sie will die Gesetze, nach denen sich Himmelkörper bilden und wieder verändern, erschließen. Es geht ihr darum, die Physik hinter den Phänomenen im Universum zu verstehen. Ihre Modellkonstruktionen „bauen“ das Universum simulatorisch nach, um seine Bewegungen besser studieren zu können. Diese Modelle bestehen aus riesigen Formelgleichungen, die unzählige Parameter berücksichtigen. Sie sind so komplex, dass es immer die Gefahr gibt, dass sie die wirklichen Vorgänge im Universum nicht mehr richtig treffen, weil irgendwelche Variablen nicht richtig sind. Daher benötigt der Modell-
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konstrukteur die Vorgaben der realen Welt. Nur über sie kann er sein Modelle kontrollieren. Dies ist interessant, denn die numerische Astrophysik ist eine Wissenschaft, die sich mit ihren Simulationen hauptsächlich in hypothetischen Welten bewegt und aus ihnen ihre Schlüsse zieht. Die Astronomie hat sich also ausdifferenziert in den Typus des „Theoretikers“ und den des „Beobachters“. Arens gehört zu einer Gruppe von Astronomen, die sich schwerpunktmäßig auf die Theorie konzentrieren und vielleicht gar nicht mehr selbst am Teleskop arbeiten, sondern nur noch auf Protokolle der Beobachtung zurückgreifen, die ihnen geliefert werden. „Theorie“ und „Beobachtung“ stehen für eine bestimmte Herangehensweise, die Spuren im Habitus hinterlässt. aber wie jetzt die Beobachtungen erstellt werden was ’n sehr mühseliger Prozess iss (I: mhm) nich da müssen Sie ja erst mal Beobachtungszeit bekommen an einem der großen Teleskope dann müssen’s dahin fahren dann muss das Wetter stimmen und dann haben Sie da en Daten(.)satz den müssen Sie erst mal interpretieren da müssen se erst mal alles das rausschmeißen was das Teleskop verursacht +hat (I: mhm)+ und also die Daten reduzieren und +die glätten und alles
Kampf mit den Alltagsroutinen: Der Beobachter Arens lenkt den Blick weg von der Theorie auf die Beobachter und schildert deren Schwierigkeiten, die überwunden werden müssen, um überhaupt zu verwertbaren Daten zu gelangen. Die Beobachtung muss gut geplant und vorbereitet werden. Es gibt nur begrenzte Nutzungszeiten an den Teleskopen, die nach einem Zeitbudget vergeben werden. Die Termine werden zugewiesen. Teleskope stehen in Spanien oder Chile in schwer zugänglichen Bergregionen. Das macht manchmal eine beschwerliche Anreise erforderlich, wenn man nicht über Internet die Koordinaten einstellen und Aufnahmen ordern kann. Dann gibt es Unwägbarkeiten wie das Wetter, das man nicht beeinflussen kann. Das Teleskop und die Atmosphäre hinterlassen Spuren auf den Aufzeichnungen, daher müssen mehrere Aufnahmen erstellt werden, die dann digitalisiert werden, so dass man die Störfaktoren mit Hilfe des Computers herausrechnen kann. Ähnlich wie im biologischen Labor müssen Beobachtungen also ständig auf Artefakte und Unreinheit hin geprüft werden. Mit diesen Schwierigkeiten des Beobachters hat der Theoretiker nur noch eingeschränkt zu tun. Es gibt Leute, denen dies mehr liegt und die daher auch besser sind. Arens kennt aber diese Schwierigkeiten natürlich und er vertritt sein Fach dem Interviewer gegenüber ohne Einschränkung als Ganzes. I: (unv.) die Stör+ die Störquellen A: die Störquellen beseitigen und dann des (.) des des Epsilon an Information rausholen was noch kein anderer rausgeholt hat. weil es iss ja je natürlich schon wiederum ist man muss ja
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Cutting-edge-Wissen Wissenschaft machen und da müssen sie besser sein als was die anderen gmacht haben und das sind dann schon (.) oft eben eben Features und Signaturen die am am Limit der Auflösung sind weil so jedes andere hätt ja jeder andere gmacht.
Wörtlich meint „Cutting edge“ wie erwähnt die scharfe, schneidende Bruchkante eines Metallstücks. Im übertragenen Sinne meint der Ausdruck „ganz vorne mit dabei“, „das Neueste vom Neuen“. Der Beobachter muss also etwas liefern, das noch keiner zuvor gesehen hat. Und er muss es belegen, also sichtbar gemacht haben können. Er muss in der Lage sein, unscheinbare, randunscharfe Phänomene, von denen er glaubt, dass sie aufschlussreich sein könnten, hervorzuholen, indem er die Kontrastdimensionen seiner Aufnahme so moduliert, dass das Erahnte sichtbar wird. Das ist vergleichbar mit einem Feinakustiker einer nachrichtendienstlichen Abhorchstation, der auf einer schlechten Aufnahme, auf der für den Laien nur Rauschen zu hören ist, durch Wegfiltern verschiedener Frequenzen doch noch gesprochene Stimmen hörbar macht, die dann interpretiert werden können. Oder mit einem Radiologen, der aus unscheinbaren Schatten an der Nervenstruktur auf der Aufnahme eines Magnetresonanztomographen eine morphologischer Veränderung des Gewebes erkennen kann. Man muss also mit den Wiedergabemedien zu arbeiten verstehen und ein Gespür haben, wo etwas zu holen ist. Der Ansporn ist, etwas herauszuholen, was noch keiner gesehen hat. Denn es gibt eine ausgeprägte Überbietungslogik in der Astronomie, bei der man sich nicht viele Blindversuche erlauben kann. Seinen Ahnungen zu folgen birgt ein gewisses Risiko, weil es so zeitaufwendig ist, Features und Signaturen, die am Limit der Auflösung sind, wirklich gut sichtbar hinzubekommen. Man muss diese Beobachtungskunst beherrschen, um in der Astronomie eine anspruchsvolle Karriere machen zu können. Diese ästhetische Begabung schätzt Arens hoch ein, aber er selber hat sie nicht. Die Typendifferenz zwischen dem Beobachter und dem Theoretiker wurzelt also in elementaren Unterschieden der Arbeitsweise, für die es persönliche Dispositionen gibt, welche eine Person auf ein bestimmtes Arbeitsgebiet festlegen. Für die Biologie hatte Sattler diese Habitusdifferenzen wie gesagt von der Lebensform her entworfen. In der Astronomie geht Arens eher von der Differenz der Arbeitsmethodik aus. (I: mhm) und des dann rauszufieseln iss iss da braucht man ne Menge Know how und ne Menge Geduld (I: mhm) und wenn man des macht kann man wiederum nicht die Theorie + dazu (I: ja) + machen weil des so viel Zeit hat man nicht. von daher (.) iss schon ’n Unterschied da. der Eine hat halt das Know how dann in der Beobachtung (I: ja) der Andere hat das Know how in der Simulation in numerischen Modellen oder was wir da gerade eben (.) machen um um und in in in mathematischen Bereich der das dann eben so verstehen kann. aber Theoretiker und Beobachter sind eigentlich (.) ergänzen sich (I: ah ja) nich der Beobachter
512 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE der will ja auch wissen was das bedeutet. der iss also mit dem der der iss ja dran interessiert mit dem Theoretiker dann zusammenzuarbeiten und umgekehrt
Die Ausdifferenzierung der beiden Typen resultiert aus dem Anforderungsprofilen der Arbeitsweisen, die es nicht erlauben, in beiden Tätigkeiten gleichzeitig erfolgreich zu arbeiten. Die Differenz zwischen Beobachtern und Theoretikern ist daher keine Frage des Interesses, sondern eine der persönlichen Ressourcen. Beide sitzen an denselben Fragen, wollen verstehen, was ihre Befunde bedeuten, und brauchen die jeweils andere Seite als Helfer. Es ist ein Geben und Nehmen, es gibt kein Statusgefälle. Die Arbeitsteilung ist also nicht dieselbe wie in einem tayloristisch organisierten Industriebetrieb. I: das heißt der äh Beobachter versucht also möglichst äh gereinigte Daten äh Beobachtungsdaten +zuu A: zu erstellen+ I: erstellen A: die er natürlich auch +schon mal I: die er+ dann dem A: +Theoretiker gibt I: Theoretiker+ liefert A: richtig. I: der darauf dann aufbaut. A: ne detaillier [uns.] wobei der Beobachter natürlich auch (.) schon n Modell äh äh vor Augen hat (I: ah ja) iss ja nit so dass der einfach nur Photonen äh also so äh äh Lich Lichtteilchen zählt sondern der (.) hat schon ne Idee und warum er grad des Objekt beobachtet. dass +da (I: mhm)+ was Interessantes iss (I: mhm) und der weiß natürlich von den theoretischen Modellen dazu und versucht mit seinen Beobachtungen dann die zu widerlegen oder zu bestätigen
Beobachten ist also nicht bloß ein deskriptiver Vorgang. Der Beobachter sieht mit einem theoretisch gebildeten, hypothetischen Blick in den Himmel. Die Beobachtung, von der hier die Rede ist, ist nicht ein selbstgenügsames Ausspähen des Himmels, sondern Teil der fallibilistischen Hypothesenüberprüfung. Sie dient dazu, gezielt nach Objekten oder Phänomenen zu suchen, deren Existenz oder Nichtexistenz aus einer Theorie hypothetisch prognostiziert werden kann. Der Beobachter ist also in denselben methodenkritischen Diskurs eingebettet, wie der Theoretiker, er ist am gleichen Gegenstand und an denselben Erklärungsproblemen orientiert. Er beteiligt sich an der Diskussion und Kritik der Modelle, er ist aber nicht darauf spezialisiert, diese selbständig weiterzuentwickeln. Sein Schwerpunkt liegt eher darin, in den Features und Signaturen kritische Punkte aufzuzeigen, die auf Schwachstellen oder
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Inkongruenzen der theoretischen Modelle hindeuten. Aber er kann sich in den theoretischen Modellen selbst nicht so virtuos bewegen wie der Theoretiker. aber die Details die muss der Theoretiker dann ausarbeiten.
Der Beobachter rezipiert also eine Theorie und sagt dann: Das kann nicht sein! Meine Beobachtungen sagen etwas anderes! Und dann schlägt er Änderungen an der Theorie vor, doch dabei geht er nicht über einen groben Entwurf hinaus. Die mathematische Kongruenz ist die Sache der Theoretiker. und ähm man Theoretiker gehen halt dann noch weiter die suchen sich halt dann aus dem Sammelsurium von Beobachtungen die Kombination raus die äh deren Theorie bestätigt und und sagen dann auch neue Sachen voraus das kann der Beobachter dann natürlich nicht machen die Vorhersage dass aus der Theorie des und des folgen sollte (I: mhm) der Beobachter nimmt dann diese Vorhersagen und (I: mhm) schaut dann (.) schaut dann weiter.
Die prognostische Bedeutung der Modelle hatten wir schon unterstellt. Man kann sagen, dass der Theoretiker wie der Beobachter Hypothesen zum Gegenstand erschließen. Doch der Theoretiker hat sich darauf spezialisiert, diese Hypothesen konsequent in numerische Modelle zu übertragen, die exakte Berechnungen erlauben. Er lässt es nicht bei bloßen Ideen bewältigen. Auch er hat dabei ein Gespür für Signaturen entwickelt, doch bezieht er sich dabei auf mögliche Kongruenzen von Modellen und Datenkombinationen. Er denkt die Vorgänge am Himmel in einem unabhängigen numerischen Szenario und entwirft Formeln, die auf bestimmten Prämissen beruhen, aus denen eine Parameterkonstellation folgt. Diese Parameterkonstellation lässt er dann mit allen möglichen Variablen durchrechnen, in der Hoffnung, dass sein Modell die realen Himmelsbewegungen richtig oder annäherungsweise simuliert. Das Ziel ist also, eine Kongruenz von Modell und Beobachtungsdaten herzustellen. Wie kommt er aber zu diesen Parameterkonstellationen? Da die Daten ein ungeordnetes Chaos in der Mannigfaltigkeit abgeben und unzählige Parameterkonstellationen ermöglichen, ist es nicht erfolgversprechend, in den vorhandenen Daten nach Konstellationen zu suchen, die sich rechnen lassen. Der Modellkonstrukteur muss sich vielmehr Parameterkonstellationen ausdenken, von denen er meint, dass sie nicht nur zu den vorhandenen Beobachtungsdaten gut passen, sondern deren Prämissen es auch erlauben, hypothetische Aussagen über Sachverhalte zu machen, die man durch Erhebung neuer Beobachtungsdaten gezielt überprüfen kann. Es dient dazu, das Erheben von Daten in den Dienst der theoretischen Erklärung eines Sachverhalts zu stellen. Auch der Beobachter kann natürlich Prognosen abgeben, doch das bliebe mehr intuitiv. Der Theoretiker hat zumindest einen Ansatz, denn in seine Parameterkonstellation sind Prämissen eingeflossen, die numerische und physikalische Gesetzlichkeiten implizieren. Arens nimmt
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hier indirekt in Anspruch, dass der Theoretiker der konsequentere Fallibilist ist. Doch die beiden Typen werden hier nicht gegeneinander ausgespielt, sondern eher die Ergänzung betont. es gibt auch äh [unv.] Leute die machen im Prinzip beides intensiv (I: ach ja) die Beobachten und gehn machen Theorie dazu das geht in manchen Fällen sehr gut und in mal in anderen Fällen geht’s eben nicht so gut und das kommt auch n bisschen drauf an was für’n Temperament ma hat und was ma halt äh (.) äh wie man das ’n bisschen sich einteilen möchte (.) nich man hat ja nur eben auch begrenzte Zeit und da muss man halt sehen ähm wo wo kann man sich engagieren (.)
Es gibt auch den Alleskönner. In bestimmten Sachgebieten ist das noch möglich. Unterstellt ist jedoch, dass es die Ausnahme darstellt und dass wirklich komplexe, schwierige Aufgaben eine Konzentration unbedingt erforderlich machen. Der dritte Typus des Astronomen: der Instrumentenbauer und dann kömmt der dritte Aspekt der in der Astronomie noch wichtig ist sind die Instrument äh ist die Instrumentierung. denn äh man (.) es iss so dass der Astronom ja selber seine seine Teleskope baut. des gibt man zwar an Firmen? die die tun dann den Spiegel (2) sagn wir mal ähm gießen und so weiter aber die Spezifikationen und die physikalischen Gegebenheiten die werden vom Astronomen selber weil der ja am besten weiß (I: ja) wohl was er braucht. und des sind dann iss wiederum ne Gruppe von Astronomen die sich halt stark mit der Instrumentierung befassen. die dann so Infrarotkameras bauen die [unv.] von von Astronomie ne Menge Ahnung haben aber die sich darauf spezialisiert haben. diese dritte Gruppe gibt’s auch noch. die also Instrumentierung machen.
Der Ingenieur und Konstrukteur der astronomischen Instrumente forscht nicht selbst, ist aber gleichwohl in die Forschung eingebunden und muss in ihr zu Hause sein, weil er ihr die Geräte bedarfsgerecht bauen muss. Dieser Typus ist ein interessanter Grenzfall. Einerseits Ingenieur und selbst nicht forschend tätig, andererseits nicht außerhalb des Faches stehend, sondern integraler Teil der Profession und Kollege. Das ist interessant, denn es wirft die Frage auf, ob die Instrumentenbauer nur aus organisatorischen Gründen Teil der Profession sind, oder ob sie wirklich eine eigenständige Ausprägung des Forscherhabitus darstellen. Arens geht wie selbstverständlich davon aus und er nennt selbst einige Argumente. Es gibt Dienstleistungen, die sich auslagern lassen. Man kann z.B. in die Industrie Brenngläser für die Teleskope bestellen, dafür gibt es Fachfirmen, die auf standardisierbare Produkte und Herstellungsverfahren spezialisiert sind. Aber die astronomischen Geräte im Ganzen kann nur der Astronom selbst herstellen. Der Astronom „weiß am besten, was er braucht“. Aber ist das nur eine Frage der Detailkenntnis? Nein. Astro-
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nomische Instrumente sind unmittelbar mit der fallibilistischen Überprüfung von Hypothesen verknüpft. Sie dienen der Datenerhebung und erweitern technologisch die Möglichkeiten, Protokolle von Beobachtungen herstellen zu können. Die technologische Entwicklung der astronomischen Instrumente ist daher auf das Engste mit dem Stand der Forschung verbunden und neue Techniken sind oft passgenaue technische Lösungen für aktuelle Experimentalanordnungen. Der Instrumentenbauer ist zwar Ingenieur, aber ihn unterscheidet vom Konstrukteur in der Industrie, dass er Problemlösungen entwickelt, die nur für die Forschung von Bedeutung sind. Er bezieht seinen Erfindungsgeist auf Problemlagen, die sich vielleicht nie wiederholen werden, und er kann auch nicht davon ausgehen, dass seine Technik zu einer standardisierbaren Lösung für andere Probleme werden wird. Die Instrumentenbauer haben sich darauf spezialisiert, die technischen Instrumente, mit denen die Forscher die Möglichkeiten der menschlichen Sinne erweitern, fortzuentwickeln. Sie sind in erster Linie Forscher, die eine ingenieuriale Begabung für die experimentelle Apparatur entwickeln. Es sind also nicht von Haus aus Erfinder, die sich in die Astronomie hineinbewegt haben, sondern astronomische Physiker, die technische Problemlösungen nutzen, um den Spielraum ihrer Wissenschaft zu vergrößern. Der Fall Bertram (Tüftler) entsprach diesem Typus in den Neurowissenschaften. Technische Problemstellungen, die außerhalb der wissenschaftlichen Praxis liegen, interessieren sie nicht. Das wäre zumindest das Kriterium. Folglich müsste die Faszination dieser Tätigkeit davon ausgehen, tiefer mit optischen Geräten in das All vorzudringen, Aufnahmen detailreicher und kontrastschärfer zu machen, oder auch ganz neue Signalquellen im All, die außerhalb des menschlichen Spektrums der Sinne liegen, zu erschließen. Es ist ein Handwerk. Arens spricht von der Instrumentierung und bringt damit zum Ausdruck, dass die Instrumentenbauer ihre Kollegen mit Geräten nicht nur ausstatten, sondern wie ein Bratschenbauer die Klangmöglichkeiten eines Orchesters die Forschung mit ganz neuen Möglichkeiten für Experimente bedienen, von denen die anderen Forscher vielleicht noch gar nichts geahnt haben, so dass eine neue Generation von Instrumenten zu Fragestellungen anregt, die bis dahin außerhalb des Blickfeldes lagen. Die Instrumentenbauer sind eine eigenständige Quelle der Innovation und des wissenschaftlichen Fortschritts und erweitern den Zusammenklang des wissenschaftlichen Orchesters. (.) die äh die dann die Instrumente im Prinzip iss es en Art Servicearbeit weil die stellen die Instrumente dann der Community zur Verfügung. und sind dann schon wieder am nächsten Instrument (.) äh die nutzen das gar nicht selber aus. (.) des iss dann eher so dass das Institut das ausnützt. also wir bauen hier am Institut Instrumente? die kommen auf äh irgendwelche neuen an irgendwelche neuen Teleskope dran? und dann kriegen wir dafür garantierte Beobachtungszeit. an diesen neuen Teleskopen die können dann die Beobachter unseres Institutes nutzen. (.) der der dieses Instrument gebaut hat der nutzt des dann gar nicht mehr aus. der
516 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE iss dann schon weitergegangen woanders hin des iss also kommt dem Institut zugute. und dann natürlich die Theoretiker nutzen dann wieder die Beobachtungen die da gemacht wurden von den Beobachtern aus um dann die entsprechenden Modelle weiterzuentwickeln. also es iss da so ne Art Symbiose ne Einheit.(I: ja)
Einerseits operieren die Instrumentenbauer wie hausinterne Dienstleistungsanbieter und arbeiten einem bestimmten Institut zu. Andererseits haben sie eine eigenständige Professionalität entwickelt, die sich gegenüber den Teildisziplinen innerhalb der Astronomie verselbständigt hat und von sich aus technische Problemlösungen zur Erweiterung der Möglichkeiten in der Aufnahme- und Beobachtungstechnik in den Fokus nimmt. Die Instrumentenbauer sind also Erfinder, Bastler und Tüftler, die sich von einzelnen Forschungsprojekten anregen lassen und auf jede technische Problemstellung, die einer experimentellen Idee abgelesen werden kann, draufspringen, und dann weiterziehen, wenn ein neues Gerät entwickelt wurde. Der Instrumentenbau ist Selbstzweck, zugleich dient er der Forschung unmittelbar. Das hat eine „gemeinwirtschaftliche“ Seite, denn neue Instrumente werden der internationalen Astronomen-Gemeinde zur Verfügung gestellt. Im Gegenzug wird dem gesamten Institut ein höheres Budget an Beobachtungszeit an den Teleskopen eingeräumt. Damit wird anerkannt, dass es das Max Planck Institut ist, welches den Instrumentenbau bezahlt. Es ist eine Art Naturalienhandel, ein Äquivalententausch in der Währung Apparatespende gegen Nutzungszeit. Es gibt jene Gemeinwirtschaft aber auch innerhalb der Max Planck Gruppe, denn die Leistung der Ingenieure kommt gar nicht diesen, sondern den Beobachtern zugute. Was ist die Gegenleistung, die den Instrumentenbauern zugutekommt? Oder anders gefragt: Warum lösen diese sich nicht aus dem ganzen Arrangement heraus und machen sich selbständig, um ihre Servicearbeit marktförmig gewinnbringend anzubieten? Weil die Instrumentenbauer mit dem Forschungsinstitut identifiziert sind und es ihnen nicht auf Gewinn ankommt, sondern auf die wissenschaftlichen Erkenntniserfolge, denen ihre Instrumente dienen, die sie überhaupt nur bauen können, weil sie in die Forschungsprojekte integriert sind. Das Wort „Symbiose“ unterstreicht diesen Aspekt der Gemeinschaftlichkeit der Profession. Jede Gruppe führt ein autonomes Leben in einer diffusen Einheit mit den anderen und alle sind voneinander abhängig. so läuft das also im Prinzip ab. und und wenn man sich ähm es ist ja auch heutzutage alles ähm nich ich mein man hat halt hat halt nicht mehr jeder sein eigenes Teleskop im Gegenteil es gibt n paar (.) in Teleskope sagen mal bei der Es gibt diese Europäische Südsternwarte da gibt’s eben diese neuen Teleskope (1) und ähm die sind stehen der ganzen eu ganz Europa zur Verfügung. ich glaub das sind dann drei vier und da versucht jeder dann Beobachtungszeit zu kriegen. (2) das sind son Großprojekt (I: mhm) (3) ja. (1) s sind vielleicht des was man dazu sagen +könnte (I: ja)+ wies so’n bisschen abläuft? (3)
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Die europäische Südsternwarte (European Southern Observatory, ESO) ist ein Gemeinschaftsprojekt europäischer Länder, das Teleskope in Chile auf dem Berg La Silla und dem Cerro Paranal (2635 m) unterhält, von wo aus der Südsternenhimmel gut zu beobachten ist. Es gibt sogenannte Beobachtungssemester, für die zwei Mal im Jahr Nutzungszeiten beantragt werden können. Je nach Teleskop übersteigt die beantragte Zeit die zur Verfügung stehende Zeit um das Zwei- bis Fünffache. Ein Gremium entscheidet über die Zuteilung nach dem Kriterium wissenschaftlicher Qualität der Antragsbegründungen. Das ESO mit Hauptsitz in Garching bei München versteht sich als ein Projekt der europäischen Astronomie, das Großteleskope und andere Facilities errichtet und finanziert. ja ich weiß jetzt nicht wenn Sie sagen von der Faszination wenn Sie da noch mehr wissen wollten äh (I: ja) was da mh (2) also äh Sie habn ja auch das Thema angesprochen (2) ähm die (.) die Kreativität und wie so’n Beruf abläuft. i mein des iss ja wohl des iss ja wohl die die Frage die Sie (.) jetzt äh stellen wie wie wenn ich jetzt hier reinkomme was habe ich da zu tun.
Arens kommt zu einem ersten Abschluss. Er hat mit wenigen Strichen ein Gesamtbild der gegenwärtigen Astronomie gezeichnet. Dann setzt er noch einmal an und kommt auf ein Thema zurück, das bereits berührt wurde. Er glaubt die Frage noch nicht ausgeschöpft zu haben. Er ist sehr auskunftswillig und regt sich selbst zu einer weiteren Antwort an, nicht ohne sich zu versichern, ob diese Aspekte auch gemeint waren. Da der Interviewer aber nicht unterbricht, fährt er fort. Nun kommt der alltägliche Ablauf im Institut ins Spiel. Wie sieht der Arbeitsalltag in der Astronomie aus? nicht ich würd denke das wird Sie vielleicht (I: ja) interessieren. dann iss es schon so dass es sehr viele Routinearbeiten gibt.
Wie in den anderen Interviews wird das Vorherrschen der Routinearbeit betont. Arens führt es an, weil es in seinen Augen unbedingt dazugehört, wenn man eine Soziographie des Alltags betreiben will. Karrierezyklus in der Astronomie speziell wenn man mal äh also s iss läu so ne Karriere äh in äh in der Astronomie beim Theoretiker läuft wohl so ab man fängt als Doktorand an dann arbeitet man in einer Gruppe? und macht Aufgaben die auch n bisschen abgesprochen sind mit dem Betreuer? und dann kommt man in diese Postdoc (.) Tätigkeit rein da iss man dann n paar Jahre Postdoc da arbeitet wandert man von Gruppe zu Gruppe? (.) kennt iss schon ausgezeichnet in einem gewissen Gebiet was man sich erarbeitet hat als Doktorand wo man scho Expert iss die Gruppen freuen sich
518 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE dass sie dann den Jeweiligen kriegen weil der neue Expertise reinbringt aber man macht im Wesentlichen schon sein eigenes Arbeitsgebiet, weil man wo man dann halt auch Experte ist wo weswegen die Leute einen brauchen aber man macht mehr oder weniger mehr frei was man machen will es ist eigentlich die schönste Zeit man hat noch keine Aufgaben? man hat also keine Pflichten
Arens grenzt zunächst die Phasen eines typischen Karriereverlaufs in der Astronomie voneinander ab. Am Anfang steht der Doktorand. Er übernimmt Aufgaben, die sich aus einem Projekt ergeben, welches sein Betreuer leitet. Die Fragestellung ist noch nicht selbst entwickelt, der Grad der Vorgaben ist relativ hoch, doch innerhalb der gestellten Aufgabe gibt es hohe Freiheitsgrade. Der Postdoc hat eine nächste Stufe erreicht. Diese Phase dauert einige Jahre und ist von wechselnden Zugehörigkeiten geprägt. Der Postdoc löst sich aus seiner Herkunftsgruppe, ist relativ selbständig, schließt sich nacheinander verschiedenen Projektgruppen an, mit denen er aber nur eine lockere Partnerschaft unterhält. Er ist attraktiv für diese Gruppen, weil er mit seinem Fachwissen anregend für sie ist. Im Kern geht er aber seinen eigenen Fragestellungen weiter nach. Der Grad der Selbstbestimmung ist in dieser Phase so hoch wie in keiner anderen. Aber der Postdoc muss auch flexibel und mobil sein. man kann also wirklich Wissenschaft pur machen und muss auch zeigen dass man Wissenschaft pur machen kann und da sehr gut ist. und dann (.) fängt man an äh komm äh kleine Gruppen aufzubauen. dann kriegt man Gelder und beantragt man Mittel und dann baut man Gruppen auf und dann wird’s immer mehr ne Managementaufgabe in die man reinwächst. dann man muss man diese Gruppen dann muss man Gelder für die Gruppen kriegen dann muss man Computer anschaffen und äh hat dann dafür zu sorgen dass die Leute dann auch reisen und muss das koordinieren und so und dann wird immer mehr der der Zeit dafür verwendet dann.
Der Postdoc genießt eine Forscherexistenz, die frei von Belastungen durch Lehre und administrativen Pflichten ist. Das ändert sich, sobald diese Phase vorbei ist. Deshalb muss der Postdoc in dieser Phase seine Karriere zimmern. Am Ende der Phase muss etwas Vorzeigbares vorliegen. Er muss die Freiheiten für innovative Forschungen nutzen, der Bewährungsdruck ist besonders hoch. Wer sich hier verzettelt oder nachlässt, wird nicht weiterkommen. Gelingt es ihm aber, rückt er automatisch in die Position eines Gruppenleiters auf, der die Verantwortung für ein Forschungsprojekt übernimmt. Er kann Doktoranden Fragestellungen offerieren, die diese dann mit ihm und für ihn ausarbeiten. Das Forschungsprogramm erweitert sich. Zugleich wachsen ihm administrative Aufgaben zu, die ihn von der eigentlichen Forschung wegführen. Wir erinnern uns an Sattlers Ausführungen dazu („Bench“). Es wiederholt sich hier, nur dass Arens die Karriere als festgefügten Ab-
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lauf schildert. Die Karrieren laufen selten atypisch, es gibt wenig Quereinsteiger oder Spätberufungen. Und es ist ein zyklisches Modell, dessen Phasen von Generation zu Generation immer wieder durchlaufen werden. Daher weiß man in der Astronomie auch ganz genau, wann die entscheidende innovative Lebensphase des Faches ist. Der Wissenschaftsmanager: Fatum des Forschers es also also [sehr leise] gerade so Proposal schreiben und ja einfach fürs Geld sorgen und in der ganzen äh Wissenschaftsmanagement mitarbeiten. auch dann dann äh lan län landweit also nicht (unv.) ich bin da in diversen Gruppen die über die Zukunft der Astronomie in Deutschland nachdenken und wo man die Gelder herkriegt und wie viel Gelder man braucht und wie man das finanziert da sitzt man halt dann mit drin (klopft) (.) und und da ist das verschlingt ne Menge Zeit. das ist dann sehr so (.) Routinesachen die man da machen muss. das is der Wissenschaftsmanager (klopft)
Arens deutet an, dass er vieles als lästige Pflicht ansieht, und damit ist klar, dass die Forschertätigkeit für ihn immer noch das Maßgebliche darstellt. Auf der anderen Seite sind es gleich mehrere Gruppen der Forschungspolitik, an denen er sich beteiligt. Es scheint also nicht nur von Übel zu sein und ihm auch Spaß zu machen oder etwas einzubringen. Es geht in den Gruppen darum, für laufende und projektierte Forschungen die Finanzierung zu sichern. Der Bedarf ist demnach größer als die verfügbaren Mittel und es muss über Strategien nachgedacht werden, wie man von der öffentlichen Hand und von privaten Partnern, Stiftungen und anderen zusätzliche Geldmittel bekommt. Die strategische Planung ist in der Astronomie also Gegenstand einer gemeinschaftlich-kollegialen Diskussion. Die Profession ist formiert. Man überlässt es nicht dem Spiel freier Kräfte, sondern versucht eine gemeinschaftliche Linie zu finden, die für das Fach im Ganzen gut ist. Dennoch klopft Arens bedrohlich mit dem Finger auf den Tisch und schließt seine Rede dazu mit dem Satz: Das ist der Wissenschaftsmanager ab, als wäre damit ein unabwendbares Fatum verbunden. Die Verwaltung und Forschungsstrategie des Faches ist also Gegenstand einer eigenen Planungsebene geworden, die einen neuen Typ des Berufshandelns in der Wissenschaft hervorgebracht hat. Der „Wissenschaftsmanager“ widmet sich ganz der Forschungsadministration und ist nur noch mit der Organisation der Routinen beschäftigt. In diesem Sinne stellt das Wort „Wissenschaftsmanager“ ein Schreckbild dar. Das Klopfen auf den Tisch untermauert die Zwangslage, in der sich jeder Forscher befindet, der mit diesen Aufgaben konfrontiert wird, weil es ihn unweigerlich von seiner ursprünglichen Forschung wegzieht. und dann (.) da machen sozusagen die Doktoranden die man dann hat wieder die Wissenschaft +für einen (kratzt mit etwas bzw. schiebt etwas auf dem Tisch) für einen+ mit natürlich
520 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE weil man die eigenen Ideen die man dann hat gar nicht selber (. ) ausarbeiten kann im Detail man man nimmt sich dann immer gewisse Themen raus die man gerne selber macht aber es nur en Teil von dem was man eigentlich gerne machen würde und dann hat man wiederum seine Gruppe und dann da wachsen dann wieder Neue heran die dann in der Gruppe die dann wiederum nach außen weggehen und so das iss so im Wesentlichen der Lauf eines Wissenschaftlers. (2) ja.
Das Kreislaufmodell der Laufbahn in der Astronomie erweitert sich um die Forschergruppe, der ein Postdoc vorsteht. Sie wird zum eigentlichen Subjekt der Forschung. Hinter dem Gruppeleiter wachsen zwar wieder jüngere Wissenschaftler nach, die ihm zuarbeiten, so dass sich die Forschungspraxis auch fortsetzt und sogar weiterentwickelt. Er selber muss sich aber beschränken und kann nicht mehr allen Ideen nachgehen. Die Jüngeren treten in die Startpositionen für einen neuen Durchlauf. Es ist ein Generationenmodell und der Zyklus beginnt von neuem. Kampf mit den Alltagsroutinen: der Theoretiker und auch ich denke auch Rout viele Routine iss dabei bei der mh äh Analyse der Daten zum Beispiel ne ich mein das sind vorgeschriebene Wege die man da geht und wenn man die Daten analysiert (.) oder wenn man unsere numerischen Prog äh Programme laufen lässt dann hat man nume dann hat ma (.) mit Numerik zu tun dann muss man erst mal die Programme testen wie lauf wie läuft des stimmt alles was man da macht? iss das Universum was man da studiert auch des was was mit der Wirklichkeit zu tun hat da iss viel [sehr schnell] auch an an Routine dabei an an gewissen einfach (.) Anwenden des Wissens. (.)
Analog zur Beobachtung kennt auch die Theorie ihre Routinen der Prüfung, um Artefakte zu verhindern. Die Wege sind „vorgeschrieben“, man hat also standardisierte Arbeitsschritte der Kontrollen gewissenhaft durchzuführen. Es ist jedoch interessant, wie Arens dies beschreibt, denn es zeigt, dass auch hinter diesen standardisierten Kontrollen ein krisenerfahrener Habitus steht, der weiß, dass zum Beispiel neue Simulationsprogramme sehr verführerisch sind und dazu einladen, das vom selbst geschriebenen Computerprogramm erzeugte Szenario vorschnell für die Realität zu halten. Man darf also nie vergessen, dass es sich nur um Modelle handelt, gleichzeitig sollen diese sich aber der Realität annähern. Man muss also Gegentests machen und gerade einem erfolgreichen Modell lange misstrauen. und dann wird’s aber da aber getrieben wird das Ganze von von dem (.) von dem Wunsch etwas zu entdecken.
Arens lenkt den Blick wieder auf die andere Seite des Routinebetriebs und erinnert daran, wofür das Ganze eigentlich unternommen wird. Der Antrieb eines jeden ein-
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zelnen Forschers vom Doktoranden bis zum Projektleiter wurzelt in der Logic of Discovery. Die mühsame Alltagsarbeit dient nur diesem Zweck. und dann gibt’s immer wieder diese (.) Momente wo man halt wirklich dasitzt und überlegt Mensch wie passt denn das zusammen und wie könnte das sein was fehlt mir noch in meinem Modell wo wo iss wo iss einmal der Knackpunkt von diesem Problem. und die sind natürlich die schönen Momente dann +die (I: ja)+ man dann hat und die die gibt’s es ist aber nit so dass man da jetzt jeden Tag zwölf Stunden da (.) sondern des sind Momente des geht amal eine halbe Stunde da oder ne Stunde da diskutiert mit jemanden und das sind dann diese Sachen und dann geht man wieder zurück und macht da seine Routine und sei schreibt seine Emails und und so Sachen. s iss also (2) son Forscher der sitzt nicht nur da die ganze Zeit unterm Apfelbaum und und denkt nach. sondern da isses (1) da gibt’s viel (.) äh viel zu tun. (1) nich ja
Der Apfelbaum steht für einen Ort der Muße. Arens argumentiert gegen ein Klischee an, das den Wissenschaftler fortwährend von erregenden Geistesblitzen erhellt sieht und nicht die trockene Alltagsarbeit sehen will, die dahinter steht. Die Momente im Forscherleben, die nicht von den notwendigen Routinen beherrscht werden, sind selten. Es sind aber immer glückliche Momente, in denen sich dem Forscher ein Problem in größerer gedanklicher Klarheit präsentiert, so dass er über es nachdenken und austauschen kann. Arens will sagen, dass man sich diese Situationen mühsam erarbeiten muss. Sie ergeben sich nicht, weil man sich dazu entschließt, sondern weil man unzählige Arbeitsschritte abgearbeitet hat und der intellektuelle Prozess von sich aus zu diesem Punkt vorstößt, an dem es notwendig wird, über ein Problem neu nachzudenken, weil sich inzwischen die Konfiguration des Erfahrungswissens verändert hat. Wissenschaftler bringen sich diese Veränderungen quasi zwischendurch zu Bewusstsein. Wie kommt der Theoretiker in der Astronomie zu seinen Erkenntnissen? Das Beispiel der „Cold dark matter“ I: und ähm wie würden Sie als Theoretiker sagen ist der Schritt zu so einem neuen Modell oder einem erweiterten Modell zu einer neuen wissenschaftlichen +Erkenntnis (A: ja)+ ähm (.) durch Daten letztlich angestoßen oder unabhängig davon äh so dass dann die Daten eher zur Überprüfung (A: mhm) äh des äh der neu entwickelten Erkenntnis (.) äh A: ja +also ich I: herangezogen+ werden
Der Interviewer stellt zwei Modelle wissenschaftlicher Erkenntnis gegenüber. Woher kommen die Inspirationen für ein neues theoretisches Modell? Die Frage wird nicht vollends klar, suggeriert aber einen Gegensatz zwischen zwei Modellen und das provoziert den Theoretiker, seine Vorgehensweise zu erläutern.
522 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE A: ja. ich de glaub es ist doch schon so wies ähm (2) da gibt’s ja einige Bücher dazu auch wie s wie wie Wissen geschaffen wird und das ist kein linearer Prozess das heißt Sie sammeln nicht Informationen an und je mehr Informationen umso mehr Wissen. sondern Sie sammeln viel Informationen an und es geht erst mal gar nicht weiter. weil die ganze Information erst mal zu keinem (.) konsistenten Bild führt. es ist einfach nur zusätzliche mh äh Ingredienzien die erst mal gewisse Theorien bestätigen und dann irgendwann mal kommt Information dazu die nicht reinpaßt. (.) die wo irgendwas nicht stimmt. und dann ähm versucht man (.) dann samm +sammelt
Arens verweist auf einige Autoren der Wissenschaftstheorie, deren Namen er dann nicht nennt, die in seinen Augen aber den Vorgang schon richtig beschrieben haben. Dass Erkenntnis kein linearer Prozess sei, kann man unschwer als Zeugnis gegen den Induktionismus interpretieren. Man muss das aber handlungslogisch übersetzen. Arens beobachtet, dass die Erkenntnisprozesse krisenhaft sind und in einer Dialektik von Kontinuitäten und Brüchen verlaufen. Die Astronomen sammeln unentwegt Beobachtungsdaten, um in einer bestimmten Frage eine Klärung zu erreichen. Doch die gesammelten Informationen lassen sich nicht sinnvoll interpretieren. Der Prozess kommt ins Stocken, die Forscher bekommen Zweifel, ob sie auf der richtigen Spur sind. Sie wissen nicht weiter. Man kann die gegebenen Informationen in gegebene Theorien eintragen, aber diesen Theorien wird aufgrund anderer Informationen längst misstraut. Der Erkenntnisprozess tritt dann in eine Phase der Neukonzeption und Rekonstruktion der Modelle ein, und diese Operation führt auch dazu, dass mit einem gewandelten Blick auf die Empirie die Sammlung der Informationen neu ausgerichtet wird. I: was [uns.]+ ist das dann für Information eher dann +Beo sind das dann [uns.] A: ja das sind+ I: Beobachtungsdaten +eher oder A: ne von beiden+ I: oder von +von beiden auch (unv.) A: es es iss eine Kombination+ also we (unv.) ein Beispiel iss (.) jetzt ähm im im Universum da gibt’s neben der sichtbaren Materie noch die dunkle Materie. (I: mhm) das ist das was man nicht sieht und man weiß die dunkle Materie dominiert im Universum. und man weiß nicht aus was die besteht. die neunzig bis neunundneunzig Prozent des Universums iss dunkle Materie und man kennt den Stoff einfach nich. man weiß der ist wichtig? ohne den gäb’s uns nich ohne den gäb’s keine Galaxien gar nichts. des weiß man. und man entwickelt dann hat einfache Modelle entwickelt um (.) die Strukturbildung und die Entwicklung dieser dunklen Materie zu beschreiben. des sind so cold-dark-matter-Modelle heißen die. die sind so vom Urknall (.) entwickeln sich die. und die liefern relativ gute (.) Vorhe Vorhersagen über des was man und des kann man gut vergleichen mit den Beobachtungen und (.) jetzt gibt’s jetzt
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äh gibt’s versucht man die diese cold-dark-matter-Modelle zu verfeinern und äh Vorhersagen zu machen was man die man noch nicht beobachtet hat.
Arens gibt ein Beispiel. Bei der Untersuchung der Entwicklung von Galaxien im Universum hat man festgestellt, dass die Masse der Materie dieser rotierenden Gebilde sehr viel größer sein muss, als es diejenige ist, die im sichtbaren Bereich liegt. Als es möglich wurde, die Rotationsgeschwindigkeit auch sehr entfernter Außenbereiche der Galaxien (z.B. Spiralarme) immer genauer zu berechnen, hat sich gezeigt, dass die Zentrifugalkräfte, die in den äußeren Armen herrschen, das Gebilde zerreißen müssten, weil sie größer sind, als die Gravitation der sichtbaren Materie im Zentrum. Die sichtbare Materie reicht nicht aus, die Galaxien zusammenzuhalten. Also hat man geschlossen, dass es noch eine andere als die sichtbare Materie geben muss. Ihre Existenz ergibt sich zwingend aus den Gravitationsverhältnissen im Universum und diese Annahme wurde noch an vielen anderen Phänomenen erhärtet. Man kennt die physikalische Natur dieser Materie aber nicht. Man weiß nicht, aus welchen chemischen Substanzen sie besteht und warum sie weder Wärme noch Licht noch sonst messbare Strahlungen von sich gibt. Deshalb cold dark matter. Hier berührt sich die Astronomie mit der Elementarteilchenphysik. Man kann allerdings die Gravitation dieser Materie errechnen und kann auf ihre Masse rückschließen. Als die Existenz dieser Materie nicht mehr zweifelhaft war, sind die Astronomen dazu übergegangen, die dunkle Materie bei der Rekonstruktion der Entstehung und Genese des Weltalls zu berücksichtigen. Man hat sie in die Simulationen der kosmologischen Entwicklung des Alls einbezogen, die die Ausdehnung des Universums und die Verteilung der Galaxiengruppen, Galaxien und Sterne seit dem Urknall simuliert und am Computer „nachstellt“. (Wie das gemacht wird, wird weiter unten etwas deutlicher.) Diese Simulationsmodelle beschreiben eine Entwicklung des Alls, die annäherungsweise mit der übereinstimmt, die man aus den vorhandenen Beobachtungsdaten erschließen kann. Gegenwärtig geht man einen Schritt weiter und versucht die Modelle so zu verfeinern, dass man Vorhersagen machen kann für Phänomene, über die es noch keine Beobachtungsdaten gibt, die man aber gleichwohl erheben will. Gelingt dies, würde sich das Maß an Evidenz dieser Modelle erheblich erweitern. und dann gibt’s manchmal gibt’s eben gewisse mh Resultate die sind ganz global. das heißt ganz unabhängig von den Details dieses Modells (.) ähm äh ääh kommt immer wieder dasselbe raus. und das ist natürlich ne schöne Vorhersage da kann man sagen im Rahmen dieses Modells muss des so sein des geht gar nit anders. weil oft hat man die Schwierigkeit man dreht n bisschen an den feinen Parametern die man noch hat und dann haut’s wieder hin. und dann weiß man jetzt nicht iss jetzt des halt zufällig grad so oder nicht. das ist sehr un äh unbefriedigend denn dann kann man nie was vorhersagen denn man hat ja immer einen Parametersatz da haut’s ja grade hin ma da weiß man nicht warum’s grad der sein muss. (I: mhm) aber
524 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE manchmal findet man in der Theorie eben Vorhersagen die so global sind da führt kein Weg dran vorbei bei das muss einfach so sein. und des wurde in dem Rahmen des cold-darkmatter-Modells gemacht.
Die Simulationsmodelle folgen einer einfachen Überlegung. Man hat eine reale Bewegung im Universum, zum Beispiel die Bewegung unseres Sonnensystems mit der Sonne und ihren Planeten, die auf Umlaufbahnen um die Sonne kreisen und die ihrerseits Monde haben, die um sie kreisen. Diese Bewegung versucht man mit Hilfe komplexer mathematischer Algorithmen nachzustellen, indem man Formelgleichungen entwickelt, die vom Computer durchgerechnet werden, der dann als Ergebnis ein Bewegungsbild am Bildschirm erzeugt. Dabei hofft man, dass dieses Bewegungsbild der realen Bewegung, die man mit Hilfe der Teleskope beobachten und aus den Beobachtungen erschließen kann, irgendwann gleichen wird. Das Geheimnis besteht darin, die richtigen Parameter in die Rechenprogramme aufzunehmen und die richtigen Datensätze in das Bezugssystem der Parameter einzugeben. Es gibt Parameter, deren Wertebelegung feststeht, und es gibt Parameter, deren Werte hochgradig variabel sind. Man kennt die Gesetze der Gravitation, die Masse des Sterns und der Planeten, der Monde und anderer Objekte; man weiß, dass das Sonnensystem in eine Galaxie eingelagert ist, dass es Nachbarsysteme gibt, die ihrerseits gravitativen Einfluss auf die Bewegung haben. Und man kann aus den Umlaufgeschwindigkeiten auf die Interferenzen der Gebilde schließen. Das muss man alles berücksichtigen. Aber es gibt auch Bewegungsfaktoren, die weitgehend unbekannt sind und gerade diesen Größen will man sich annähern. Da es unzählige Parameter sind, die berücksichtigt werden müssen, gibt es zahlreiche Möglichkeiten, zu einem und demselben identischen Bewegungsbild zu kommen. Es kommt also nicht nur darauf an, die Parameter mit verschiedenen Zahlen durchzurechnen, bis man ein richtiges Bewegungsbild hat, das den Signaturen eines Beobachtungsbildes entspricht. Man muss auch die richtige Parameterkonfiguration finden, die wirklich hinter der realen Bewegung im Sonnensystem steht. Das ist die eigentliche Schwierigkeit in der numerischen Astronomie. Am Anfang der Operation steht also durchaus ein Trial and Error-Verfahren. Dann versucht man jedoch, aus mehreren Parameterwertekonfigurationen, die das gewünschte Ergebnis liefern, die richtige Konfiguration herauszufinden. Manchmal gelingt dies, wenn bestimmte Wertbelegungen einzelner Parameter das gesamte Bild so deutlich determinieren, dass es nicht so viel ausmacht, wie die Wertbelegungen ausfallen. Diese Resultate nennt Arens ganz global. Es sind „Clear Cases“, die es erlauben, andere Parameterkonfigurationen auszuschließen. Das sind dann „schöne“ Modelle. Und dann hat man es geschafft, eine Akkommodation des Modells an die Realität zu erreichen. mh also mh des äh in dem Fall iss es so dass diese cold-dark-matter sehr sehr dichte Strukturen liefern mussten. und ähm des kann man beobachten. und des kann man mit den Be-
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obachtungen vergleichen und die Beobachtungen liefern dieses Resultat nicht. (.) da die die Beobachter sagen ne das kann net so sein.
Dass die cold dark matter sehr dichte Strukturen liefern mussten, war eine Vorgabe, die sich aus der bisherigen Forschung ergeben hatte. Die Modelltheoretiker mussten dies umsetzen und haben es auch geschafft, numerische Modelle zu entwickeln, die diese dichten Strukturen abbilden. Die Simulationen hat man weiterlaufen lassen und daraus Vorhersagen entwickelt. Doch die Beobachter, die nach dem entsprechenden Bewegungsbild zur Bestätigung der Vorhersage gesucht haben, konnten es nicht finden. Also musste an dem Modell irgendetwas nicht stimmen. Ein klassischer Fall fallibilistischer Wissenschaft. Paradigmenwechsel, oder: Wie sich ein Meinungsumschwung ankündigt äh und dann versucht man natürlich erst mal das zu verstehen. der der cold-dark-matter(.) also der der Theoretiker versucht noch mal geht noch mal seine Modelle durch iss des denn wirklich so? und kann man das nicht anderweitig lösen weil man wills natürlich möglichst schnell ne Lösung haben und aber (.) und dann gibt’s manche die sagen dann jaa das geht ja doch die sagn in in ihren Mo Modellen kommt’s raus und das wird dann aber überprüft von anderen Gruppen wieder und die sagen nee da habt ihr’n Fehler gemacht und da kristallisiert sich dann nach einiger Zeit so ne gewisse Atmosphäre also es ist fast ne Atmosphäre. so so’n Gefühl raus des kann einfach des geht net das kann man net so lösen.
Geschildert wird das langsame Sterben eines Ansatzes. Zunächst gehen die Theoretiker in sich und versuchen, das Modell zu retten. Sie suchen den Fehler in randständigen Faktoren, die Prämissen bleiben unangetastet. Es setzt ein Wettbewerb der Rettungsversuche ein, doch die Versuche scheitern an der Kritik der anderen Gruppen und es setzt eine produktive Zerstörung ein, der alle Vorschläge zum Opfer fallen. Arens stellt es als einen schleichenden Prozess dar, der irgendwann zu einem Umschlagpunkt kommt. Wenn zu viele Rettungsversuche gescheitert sind, setzt sich allmählich die Ansicht durch, dass das vorhandene Modell nicht zu der gesuchten Lösung führen wird. Arens beschreibt dies als einen kollektiven Meinungsumschwung. Es gibt eine dynamische Wechselwirkung zwischen der Meinungsbildung des Einzelforschers und dem Diskurs der Fachgemeinschaft. Der Einzelforscher orientiert sich an der Mehrheitsmeinung im Diskurs und beobachtet ihn in der Annahme, dass die Chancen eines Modells noch nicht wirklich ausgereizt sind, solange die Kollegen noch in das Modell Zeit und Rechenkunst investieren. Irgendwann schlägt aber die Kollektivmeinung um, und das kündigt sich an. In der Astronomie ist dieser Vorgang so häufig, dass Arens ein Sensorium für solche Umschwünge entwickelt hat. Im Begriff „Atmosphäre“ kommt das zum Ausdruck.
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Die Astronomie ist also ein Berufskollektiv von autonom forschenden Einzelindividuen, die angespannt im Wettbewerb miteinander stehen, zugleich aber an denselben Problemstellungen arbeiten. Ihre Meinungsbildung ist sehr eng mit dem Diskurs verbunden, in dem sich der Stand einer Problemlösung mitteilt. Diese „Außengeleitetheit“ des Forschers ist nicht heteronom, sondern beruht auf der Einschätzung, dass die Kollegen verschiedene Lösungsoptionen durchspielen. Wenn es aber einige dieser Lösungsversuche gegeben hat, dann ist es gerade dasselbe Vertrauen in die Kollegen, die die Einschätzung vorbereitet, dass die Fehler in dem Modell selbst begründet liegen. im Rahmen des cold-dark-matter-Modells iss tatsächlich die diese Universalität so gegeben. und bei den Beobachtungen iss es ähnlich da sagt natürlich jemand ja dann hast du’n Fehler in deinen Beobachtungen gemacht das kannst du ja gar net genau auflösen des siehst du jetzt gar nicht so genau. vielleicht iss es en spez en spezielles Objekt ähm und dann machen die anderen Beobachter schaun wo anders hin (.) und auch in den bei den unter den Kreisen der Beobachter kristallisiert sich dann so’n so’n Gefühl heraus ja kann man des jetzt lösen ist das n Beobachtungsproblem? oder ist das in der Tat nicht in Übereinstimmung mir dem colddark-matter-Modell.
Es geht um die gleichen theoretischen Modelle, die verteidigt und kritisiert werden. Die Theoretiker hatten ein Modell zu den cold dark matter aufgestellt, das eine dichte Struktur lieferte. Doch die Vorhersagen trafen in den Augen einiger Beobachter nicht zu, die auf widersprechende Daten hinwiesen. Das hatte bei den Theoretikern jene Rettungsversuche ausgelöst, die in Modifikationen der Modelle bestanden. Doch parallel dazu melden sich Forscher zu Wort, die bezweifeln, dass jene angeblich den Modellen widersprechenden Beobachtungsdaten überhaupt richtig gedeutet wurden. Wo liegt also der Fehler? Auch dies löst eine Suchbewegung aus. Die beiden Gruppen ziehen sich auf ihre jeweilige Binnenmethodik zurück und suchen den Fehler bei sich. Ein methodenkritischer Geltungsdiskurs kommt in Gang. Am Ende läuft der Diskurs jedoch wieder zusammen, wenn sich ein Gefühl herausbildet, ob und inwiefern man den Beobachtungsdaten vertrauen kann. und und des (.) man spürt das dann wenn man zu Konferenzen geht. dann am Anfang wenn das erste Mal das aufkommt iss jeder ein bissl konfus. da (.) sagt der eine des und der andere bietet die Lösung an? und da geht man’s nächste mal nach’m halben Jahr wieder zu ner Konferenz und dann gibt’s schon diese Gruppen die sagen so iss des da kann man nicht dran rütteln wir haben’s überprüft hundertmal? und verglichen es ist einfach so da gib äh wir finden in der Beobachtung des und die Gruppe der Theoretiker die sagt wir können auch net dran ändern es iss in der Theorie so dass diese andere Lösung eben gilt. und we und dann wird’s langsam interessant. dann kann man sagen ja jetzt lohnt’s sich’s (.) drüber nachzudenken wo wo die Lösung steckt.
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Arens kennt die Diskursverläufe schon und hat eine eigene Haltung entwickelt, ab wann es sich für ihn lohnt, selbst in die Debatte einzusteigen und etwas zu investieren. Zwei Punkte sind daran bemerkenswert. Zum einen zeigt sich hier, wie sich ein wissenschaftliches Problem mit der lebenspraktisch-biographischen Entscheidung über eigene Forschungsaktivitäten angesichts knapper Lebenszeit verbindet. Arens will an den Lösungen mitarbeiten, aber er steigt nicht zu früh ein. Er bedenkt genau, wann es sich für ihn lohnt, Arbeit zu investieren. Zum anderen zeigt sich seine Arbeitsweise. Arens misstraut den frühen Lösungsvorschlägen, weil er davon ausgeht, dass die Phase der ersten Konfusion und „wilden“ Rettungsversuche überwunden sein muss. Er steigt erst ein, wenn die einzelnen Gruppen eine ernste Binnenprüfung ihrer Modelle bzw. Beobachtungsdaten durchgeführt haben. Wenn sich festere Überzeugungen bilden, dass die Lösung sich aus ihrem Ansatz jeweils ergeben muss, dann wirdҲs langsam interessant. Es stehen sich dann nämlich mehrfach geprüfte Lösungen unvermittelt gegenüber und Arens unterstellt, dass sich in diesem Stadium schwelender Widersprüchlichkeit die Prämissen der jeweiligen Lösungen kontrastreicher abzeichnen, so dass es eine Chance gibt, über die Grundlagen neu nachzudenken. Das Problem, wird übersichtlicher, die Lösungsoptionen sind logisch analysiert. Für diese entscheidende Phase hat Arens ein Gespür entwickelt. Es ist die Stunde der Theoretiker. Daraus spricht viel Erfahrung mit dem Erkenntnisprozess und Diskursgeschehen. denn vor ab (.) kann ja noch ein Fehler sein bei den Beobachtern bei den Theoretikern sein. also man ma glaubt jetzt eigentlich keiner einzelnen Gruppe mehr. man iss ja so ma [unv.] es muss bestätigt werden? und wenn sich des bewahrheitet und mehr und mehr Gruppen dasselbe finden dann kann man sagen jetzt wird’s iss es Wert mal vielleicht ’n halbes Jahr reinzustecken und nach nem neuen Ansatz zu suchen der das Problem lösen könnte.
Die widerstreitenden Überzeugungen müssen sich schärfer konturiert haben. Das ist dann der Fall, wenn die verschiedenen Gruppen ihre Binnenprobleme geklärt haben und das Spektrum der möglichen Lösung abgesteckt ist. Arens wartet auf diesen Moment der Paradigmenkrise, weil er davon ausgeht, dass sich darin zugleich Ansätze zu ihrer Überwindung andeuten. Arens ist also ein theoretischer Konstrukteur, der Probleme gut bearbeiten kann, wenn er schon vorbereitete Vorschläge vorfindet und sich eine bestimmte Richtung abzeichnet, in der die Synthese oder Auflösung widerstreitender Prämissen gesucht werden muss. I: und bei diesem Beispiel also +(A: mhm) die+ die Theorie die dann äh nich übe in Übereinstimmung zu bringen war mit den +Beobachtungsdaten (A: mhm)+ ist die dann wieder wie ist und das ist ja auch ne neue Theorie dann gewesen wie ist die zustande gekommen aus anderen +theoretischen (A: ja)+ Annahmen äh abgeleitet A: ja also +in diesem
528 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE I: geworden+ A: Fall iss es dann so dass es erst dass man wenn man da so dieses Problem wirklich vor sich sieht? (.) dann versucht dann gibt’s zuerst mal verschiedene Möglichkeiten das zu lösen. und die werden halt dann durchgegangen. und ähm (.) wiederum iss es so dann gut die Gruppen sind dann sehr schnell bieten dann Lösungen an denn mit jeder Lösung wird dann natürlich der Name der Gruppe verbunden und das ist natürlich toll dann heißt es die haben das gefunden. aber natürlich gibt’s die anderen Gruppen die dann andere Lösungen anbieten die versuchen dann die einen Gruppen wiederum zu widerlegen um zu sagen Leute wir haben ne andere Lösung und unsere ist besser als eure Lösung weil eure hat diese Schwierigkeit die kann man nicht lösen. das heißt dann iss wiederum diese diese Wahrheitssuche? da dass man sagt welche der möglichen Lösungen ist denn nun die wahrscheinlichste. od oder gibt’s überhaupt iss überhaupt eine von diesen möglichen Lösungen es iss ja immer so das Universum iss so komplex dass es sehr viele Möglichkeiten gibt. wie man da gewisse Sachen lösen kann. und ähm (.) dann wird es eben genau überprüft. ja? das iss dann die Schwierigkeit.
Der Interviewer hat immer noch seine wissenschaftstheoretische Frage im Kopf. Arens antwortet aber nicht erkenntnistheoretisch, sondern soziologisch. Er beschreibt die soziale Organisation des Fallibilismus in der Astronomie als Logik von Opponenten und Proponenten, die allmählich widerstreitende Prämissen freilegt. Es gibt eine Pluralität der Zentren, und sie ist in der Astronomie besonders ausgeprägt. Die soziale Pluralität garantiert, dass die möglichen Lösungen auch wirklich auf den Tisch kommen. Die Forschergruppen stehen in einem Wettstreit untereinander und versuchen jeweils der erste zu sein, der die richtige Lösung findet. Wenn es gelingt, ist das „toll“. Der Wettstreit spornt an und sorgt dafür, dass die Gruppen sich mit ihrem Lösungsvorschlag zu profilieren suchen, was dem Ausarbeitungsgrad der Modelle zugutekommt. Nach außen bewirkt der Wettkampf, dass sich die Gruppen gegenseitig kritisieren und die Schwachstellen der Modelle aufspüren. Es gibt also einerseits den Ansporn, so schnell wie möglich einen guten Lösungsvorschlag vorzulegen. Aber andererseits fungiert der Diskurs wie ein Korrektiv, indem er die logische und methodische Kritik mobilisiert. Dieser Wettstreit ist getragen von der regulativen Idee der Wahrheit. „Wahrheitssuche“ bedeutet hier, dass die Astronomen sich immer wieder an den Ausgangspunkt erinnern müssen, wenn sie im Wettstreit der Modelle nicht mehr weiterkommen, weil mehrere Lösungsvorschläge logisch möglich sind. Dann muss der Forscher die Lösungsoptionen in einen größeren Zusammenhang stellen und einen neuen Ansatzpunkt suchen, von dem aus er sie neu beurteilen kann. Wahrheit meint ohne rhetorische Emphase, dass es eine Realität gibt, der die Modelle genügen müssen. – Der Interviewer hatte allerdings danach gefragt, woher die neuen Lösungen kommen.
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Logische und psychologische Erfahrungen im Erkenntnisprozess es iss also jetzt net so dass man dann daher gehen kann und genau weiß wo die Lösung sein muss meistens iss es so dass die einfachste äh Lösung die beste iss. die wo man sagt ja ach ja äh stimmt ja muss ja so sein hätt man sich eigentlich vorher denken können ist gar net so spannend weil man hats einfach nur vergessen dass des natürlich eine Rolle spielen könnte. das äh frustriert oft. das ist oft net so dass man nu wirklich Spannendes Neues entdeckt man hat einfach nur was vergessen was man halt (.) nicht wusste das ist nicht so wichtig des +nich das nich aber (I: mhm (zweifaches Piepen))+
Der Forschungsprozess ist also ein Irrgarten, man muss viele Fehlläufe ausprobiert haben, bevor man die Lösung findet. Und Arens weist darauf hin, dass sich die Wissenschaftler oft selbst im Wege stehen, weil sie eine außeralltägliche, ungewöhnliche Lösung suchen. Es ist ein Erfahrungswert, dass die einfachste Lösung sich oft als die beste herausstellt. Einfachheit bedeutet hier zum einen, dass man mit relativ wenig Annahmen auskommt, um etwas zu erklären, zum anderen, dass die Lösung naheliegt und unspektakulär ist. Arens deutet damit an, dass Forscher sich von dem unbewussten Wunsch verführen lassen, eine besonders schöne oder bahnbrechende Lösung zu finden. Wenn er davon spricht, dass der Wissenschaftler die einfache Lösung oft deshalb nicht sieht, weil er wichtige Kleinigkeiten einfach vergessen hat, dann ist dies Vergessen motiviert. Er hat sich zu sehr auf eine spektakuläre Lösung konzentriert. Die Lösung lag bereits in dem Wissen verborgen, das ihm zur Verfügung stand. Es ist also eine überschießende, krisensüchtige Haltung des Forschers, die hier beschrieben wird. Arens plädiert gar nicht dafür, dieser Haltung etwas entgegenzusetzen, sondern er zeigt nur auf, dass dieser Forscherhabitus immer wieder seine Frustrationen erlebt, weil der Alltag es gar nicht hergibt, ständig etwas Spannendes, Neues zu entdecken. das iss eigentlich ganz logisch wenn man drüber nachdenkt des Universum iss extrem einfach wenn man wenn man das verstanden hat dann sagt man sich ja klar. nich +is (klopft auf den Tisch)+ warum auch nicht muss +ja so sein (I: lacht kurz)+ aber das (.) vergisst man oft auf dem Weg dorthin und äh dann bau und des iss äh und des sieht man dann schon wenn der einfache also wenn die Lösungen sehr kompliziert sind viele Prozesse ’ne Rolle spielen müssen bis das mal so hinhaut. wo mir dann keiner sagt warum denn der +Prozess (klopft auf den Tisch)+ und des und des alles zusammenwirkt dann ist man eigentlich relativ (.) kritisch. und wenn sich dann so was Einfaches ergibt wo ma hier wo man dann die Karten hinlegt und des sieht man scho (.) des iss dat äh akzeptiert man dann sehr schnell. des iss dann der Durchbruch nich? das iss eben diese diese Wahrheitssuche
Die Erfahrung, dass einfache Lösungen am Ende die richtigen sind, hat also ein Fundamentum in re, glaubt Arens. Dem Erfahrungswert entspricht die Logik des
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Universums, ihre extreme Einfachheit hat sich schon vielfältig gezeigt und ein Stimmigkeitsgefühl für die Lösungen hervorgebracht. Der Wissenschaftler misstraut deshalb Lösungen, wenn diese zu kompliziert und unübersichtlich werden. Dies ist ein weiterer Grund, weshalb Arens länger zuwartet, bis er sich in eine Fachdebatte einschaltet. Sein Gespür für die Reife eines Problems orientiert sich daran, wann die Einfachheit einer Lösung in den Blick kommt. Die Logik hat hier eine eigene Ästhetik. Flüchtiges Glück und Übergang in eine neue Routine: Der Moment des Verstehens und der Durchbruch da sieht man das Licht und da geht ma durch und dann hat man’s verstanden und dann iss hab ich’s scho wieder vergessen weil es ein (.) Teil des ganzen Bildes geworden iss und dann ist dieses Puzzlesteinchen nicht mehr wichtig wenn es Teil vom ganzen Bild iss. und da sieht man’s gar nich mehr weil ma das Bild wieder sieht und dann sucht man das nächste Puzzlesteinchen.
Der Moment des Verstehens ist ein Moment flüchtigen Glücks. Mit jedem Teilerfolg rückt das große Ganze wieder in den Vordergrund. An ihm ist der Astronom in Wirklichkeit interessiert. Er kehrt also aus konkreten, aber partiellen Teiluntersuchungen zurück zum Ausgangspunkt und wendet sich dem nächsten Problem zu. Arens vergisst die konkreten Einzelheiten wieder ganz schnell. Übrig bleibt das generalisierte Wissen über eine Struktur, das in die Systematik der Theorien über das Universum aufgeht. also das sind so diese (.) Schritte das geht man geht dann ziemlich lang durch’n Wald und dann auf einmal kommt der Durchbruch und dann bietet sich eine einfache Lösung an und dann hat sich das (.) und dann geht ma weiter und dann sucht und dann äh baut sich jetzt mit diesen (.) Puzzlesteinen ein neues ein neues Problem auf was man dann wiederum (1) äh untersucht. und wie gesagt es ist wirklich sehr viel Gefühl dabei.
Man merkt, dass der Gedankengang zu einem gewissen Abschluss drängt. Immer wieder betont Arens das Erfahrungswissen, das Erahnen einer richtigen Lösung, die Wichtigkeit des Gefühls, und widerspricht damit Vorstellungen, die in der Forschung ein logisches Kalkül sehen. Aber er lässt auch die Luft aus der Vorstellung, das die Wissenschaft als großes Heureka-Erlebnis beschreibt. Die Durchbrüche sind nicht dazu da, lange gefeiert und inszenatorisch ausgeschlachtet zu werden. Sie eröffnen ein neues Feld, in das der Betrieb weiterdrängt.
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also man (.) man geht zu (unv.) sind so Konferenzen sehr wichtig wo man einfach die verschiedenen Meinungen hört und in jeder Konferenz (2) gibt es irgendwo wiederum einen Durchbruch weil nämlich die Leute sich man sieht die Leute einigen sich langsam auf irgend nen Thema und auf äh irgendeine mögliche Lösung. in jeder dieser Konferenzen findet so was statt. und wenn man das mitkriegt dann weiß man auch schon in w geht man also nach Haus und hat wieder was gelernt und weiß in welche Richtung man weitermachen soll. also diese Kommunikation ist sehr sehr wichtig (2) in dem Fall. so läuft denk ich mal die Wissenschaft und die und die und die äh Suche nach Wahrheit ab äh also in diesen Sprüngen (I: ja) die häufig ä (.) auf ner Konferenz stattfinden.
Der Besuch von Konferenzen ist für den Einzelnen also nicht nur deshalb wichtig, um zu erkennen, wohin der Tross zieht, dem er aus Karrieregründen zu folgen gezwungen ist, sondern er erkennt auf den Kongressen, in welches Problem die Profession einen Großteil ihrer Energien investiert. Und da er an Problemlösungen arbeitet, die so komplex sind, dass er von vorneherein auf die kollektive Aktivität angewiesen ist, erfährt er auf Konferenzen Anregung und Orientierung für seine Arbeit. Die Konferenzen haben darüber hinaus die Funktion, dem Einzelnen zu Bewusstsein zu bringen, dass Fortschritte stattgefunden haben. Sie bieten nicht nur Gelegenheit, die Aktivitäten der anderen zur Kenntnis zu nehmen, sondern selbst ein Moment der Muße und helfen, über die eigene Arbeit im Kontrast zu der anderer nachzudenken. es gibt Ausnahmen. es gibt immer Leute die arbeiten still in ihrem Kämmerlein nich mein da zum Beispiel das fermatsche [uns.] Problem ich weiß nicht ob Sie davon gehört haben das ist ein mathematisches Problem was gelöst wird und da hat eben der eine Kollege neun Jahre lang sich zurückgezogen und vielleicht ist es bei den Mathematikern noch eher so die da (.) ihre ihr äh Sachen ausixen können ohne (1) viel äh viel Kontakt zu anderen. wobei der glaub ich auch en Kontakt hatte und mit jemand zusammengearbeitet hat. aber in der (.) Astronomie wo alls so vielfältig iss da kommt man alleine schlecht zurecht.
Arens skizziert wieder Typen. Es gibt auch den Einsiedler. Er führt den britischen Mathematiker Andrew Wiles als Beispiel an, der im Jahre 1994 den „Großen Fermatschen Satz“ bewiesen hat, nach dem es keine Lösung gibt für x- + y- = z-, wenn n größer als 2 ist. Wiles hatte in Cambridge relativ abgeschieden knapp acht Jahre an dem Problem gearbeitet. Das Beispiel der Mathematik dient Arens jedoch nur dazu, um den Normalfall der engen sozialen Kommunikation in der Astronomie zu unterstreichen. weil das hat vielleicht damals der Einstein noch machen können mit der Relativitätstheorie und gewisse Leute machen des aber des sind äh sagen mer mal äh Außenseiter das sind also
532 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE gewisse Probleme die man damit löst. aber global gelöst geht’s eigentlich nur in Ko äh in Kommunikation. und wenn alle drüber nachdenken. (3)
Arens sieht hier also eine strukturelle Notwendigkeit für die kollektive Arbeit und ihre Vernetzung durch Kommunikation, und diese Notwendigkeit ist in der Natur der Forschungsprobleme begründet, die zu komplex geworden sind, nicht im Naturell der Forscher. man sieht es dann auch es iss einfach so dass (.) dass (1) die Kombination von vielen Hir Gehirnen mehr schafft als die Summe der Einzelnen. des und des iss ganz deutlich wenn ma sieht man dass wenn man allein schon wenn man mit jemanden anderes redet dann (.) der also einen Kollegen +redet (klopft auf den Tisch)+ dann kommen Ideen auf an denen man selber gar nicht auf die man selber gar nicht kommt.
Das Interview berührt an dieser Stelle Eckpunkte einer soziologischen Theorie des Geistes. Arens hat dabei eine Theorie vor Augen, die von gemeinsamen Nutzeneffekten einer sozialen Kommunikation ausgeht. Arens These lautet: Die Kombination schafft mehr als die Addition der Einzelleistungen! Sie scheint das Sprichwort abzuwandeln: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Doch das wäre etwas zu schwach ausgelegt. Es geht nicht um eine Entität, sondern um eine Dynamik. Was Arens fasziniert, ist der qualitative Sprung, der sich vollzieht, wenn mehrere Forscher gemeinsam über ein Problem nachdenken und sich austauschen. Das beginnt schon bei zweien. Man kommt zusammen auf Gedanken, die man alleine nicht gehabt hätte. Wie kommt das eigentlich? Offensichtlich erhöht der Austausch die Kapazitäten des Einzelnen, denkbare Ansätze für die Problemlösung zu mobilisieren und sich bewusst zu machen. Die Forscher treffen mit unterschiedlichen Bildungsverläufen aufeinander und jeder bringt einen etwas anders gelagerten Erfahrungsschatz, andere Hintergrundüberzeugungen und Sachbegabungen mit. Forscher haben eine jeweils eigene Sicht auf die Dinge. Wenn sie sich austauschen, kommen solche Differenzen automatisch zur Geltung. Dies ist anregend. Es bringt die eigene Ansicht in eine Krise und zwingt zur Neuordnung und Integration des fremden Arguments. Wenn Wissenschaftler den Ideenaustausch dann gemeinsam vorantreiben, entwickelt sich etwas Neues, das keiner von beiden alleine hätte entwickeln können. Es ist die Reziprozität, die das Neue hervorbringt. Aber warum das so ist, erscheint Arens selbst als ein Rätsel. des iss irgendwie faszinierend weil man sich immer denkt man denkt ja au net man iss ja auch nicht schlauer geworden wenn der da sitzt. aber die Kombination von zwei verschiedenen Gehirnen bringt einfach so viel mehr als wenn da ein Einzelner drüber nachdenkt. (1) es fasziniert mich immer wieder. aber so iss des. also (2) des iss in der Wissenschaft das A und O. ja? ich denke auch das iss eben der Einzelne trägt jetzt immer n bisschen was dazu bei aber
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Einzel (.) äh Aktivitäten also sie gibt’s es sehr selten dass da so ein einzelne ne einzelne Gruppe wirklich da (.) den Durchbruch erzielt. es iss also die Gruppe profitiert von dem Gespräch mit den anderen und es ist mehr so n gemeinsames (.) Suchen nach der Wahrheit. in der Astronomie zumindest.
Arens Faszination der Forschung ist auf einer Metaebene angekommen. Es sind die sozialen Erkenntnisprozesse selbst, die Logik des Diskurses. Er verbindet mit dieser Einsicht auch eine professionsethische Schlussfolgerung. Es ist in der astronomischen Forschung uneffektiv, sich in die Abgeschiedenheit einer Klause zurückzuziehen. Die Kultur ist dynamisch und erhöht auch für den einzelnen Forscher den Input. Man sollte das Gespräch suchen und sich austauschen. Jede einzelne Forschergruppe und die gesamte Profession profitieren davon. Nochmals Cold Dark Matter I: ähm wenn ich nochmal an das äh Beispiel anschließen darf mit der kalten Materie was ich da äh noch nicht äh richtig verstanden hab weil diese Theorie kann ja nicht aus der Beobachtung aus der Beobachtungsdaten (A: mhm) äh abgeleitet sein weil es gab ja ne Kontroverse dass (A: mh) also Voraussagen der äh Theorie äh in Widerspruch äh eigentlich standen zu den Beobachtungsdaten (A: mhm) und wie genau diese äh diese Theorie selbst dann äh (2) entstanden ist (A: ja) die ja dann (.) eben (.) nich wiederum auf Beobachtungsdaten ähm +basiert
Der Interviewer interessiert sich immer noch primär für die erkenntnislogischen Vorgänge und will wissen, wie die Hypothese entstanden ist. Er unterstellt, dass es eine von Empirie unabhängige Quelle gegeben haben muss. Eine Art Strukturahnung, die eingegangen ist. A: ja+ ja die ähm Theorie entstand (.) erst mal weil einer äh da war schon einer der mh der dieses äh Modell vorgeschlagen hat der kalten Materie. das ist ein relativ einfaches Modell. ma wa (.) (klopft auf den Tisch) man äh da hat man sich einfach (.) vorgestellt weil man nix weiß über die kalte und dunkle Materie sind das einfach Teilchen die keine Strukturen haben fertig. und man weiß die kalte dunkle Materie die iss die gravita die äh hat ’ne Gravitationsanziehung mit der sichtbaren Materie deswegen weiß man dass es sie überhaupt gibt? und man sieht dass es da zum (klopft) Beispiel Objekte die kreisen sehr schnell um irgend en Zentrum und man sieht nix im Zentrum des ist also +dunkel (klopft)+ aber +die (klopft)+ werden gravitativ angezogen. also offensichtlich +gibt’s des (klopft zweimal)+ das wusste man
Die Theorie ist also aus einer Beobachtung hervorgegangen, weil man ein Gravitationszentrum unterstellen musste, das man nur nicht sehen konnte. Gleichzeitig ist diese Annahme aus Theorien abgeleitet, die sich seit langem bewährt haben: die
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Gravitationstheorie, die lehrt, dass dort, wo es Anziehung gibt, auch eine Materie vorhanden sein muss, von der diese Anziehung ausgeht. Der oben in der Frage suggerierte Gegensatz bzw. die Annahme einer unabhängigen Quelle der Hypothese ist also etwas irreführend. Die Annahme einer Cold dark matter ist indirekt erschlossen, doch gleichwohl kann man dieses Gravitationszentrum sehen, weil man sichtbare Materie um es herum kreisen sieht.1 und da hat man einfach gesagt wir haben gravitative Teilchen die nur gravitativ wechsel mitmiteinander wechseln und des war ois. des war die einfachste Theorie die man sich bauen konnte. und dann aufbaue und dann hat man versucht damit die Strukturbildung +im (klopft)+ Universum zu verstehen und hat dann so +Teilchenrechnungen (klopft)+ gemacht. und da hat ma die Teilchen simuliert und deren Bewegungen simuliert und geschaut wie die kalten Teilchen sich klumpen würden. und das war dann im Wesentlichen der Vergleich.
Geschildert wird die Entstehung der Theorie aus ihren Anfängen heraus. Es ging zunächst darum, eine Schneise ins Dickicht zu schlagen, und das hat man mit sehr einfachen Annahmen versucht. Denn man weiß über die Natur jener unsichtbaren Materie nichts. Welche Art von Teilchen, welche Massendichte und Energie, welche physikalischen Eigenschaften? Sofort kommt jedoch die Computersimulation ins Spiel. Man hat hypothetische Gleichungen erstellt, in denen man versuchte, das beobachtete reale Bewegungsbild nachzustellen und aus den Bewegungen der sichtbaren Materie auf die Wechselwirkungen dieser mit der unsichtbaren Materie zurückzuschließen. Dazu wurde der unbekannten Materie eine bestimmte hypothetische Struktur gegeben, also bestimmte Parameter mit festen Wertbelegungen: Eine bestimmte Masse und Gravitation, aus der man glaubte die Wechselwirkungen mit der sichtbaren Materie errechnen zu können. Damit von einer Materie Gravitation 1
Im Jahre 1933 beobachtete der Schweizer Astronom Fritz Zwicky, „dass der ComaHaufen (ein Galaxienhaufen, bestehend aus über 1000 Einzelgalaxien, mit großer Streuung der Einzelgeschwindigkeiten und einer mittleren Entfernungsgeschwindigkeit von 7.500 km/s) nicht durch die Gravitationswirkung seiner sichtbaren Bestandteile (im Wesentlichen der Sterne der Galaxien) allein zusammengehalten wird. Er stellte fest, dass das 400-fache der sichtbaren Masse notwendig ist, um den Haufen gravitativ zusammenzuhalten. Seine Hypothese, dass diese fehlende Masse in Form dunkler Materie vorliege, stieß in der Fachwelt auf breite Ablehnung. Die Analyse der Umlaufgeschwindigkeiten von Sternen in Spiralgalaxien durch Vera Rubin seit 1960 zeigte erneut die Problematik auf: Die Umlaufgeschwindigkeit der Sterne müsste mit zunehmendem Abstand zum Galaxiezentrum viel niedriger sein, als sie tatsächlich ist. Seitdem wurde die Dunkle Materie ernstgenommen und aufgrund detaillierter Beobachtungen in fast allen großen astronomischen Systemen vermutet.“ http://de.wikipedia.org/wiki/Dunkle_Materie. Zitierte Version 22.Mai 2012.
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ausgehen kann, muss sie eine bestimmte Massendichte erreichen, sie muss sich aus losen Verteilungen in wolkenähnlichen Raumfeldern klumpen, d.h. zusammenziehen. Es wurde also berücksichtigt, wie die Gravitation der unsichtbaren Materie auf sich selbst wirkt, bevor sie auf die Umgebung hat wirken können. Das von der Computersimulation errechnete Bewegungsbild wurde dann mit den real beobachteten Bildern verglichen. äh und des war also eine Theorie die eigentlich straight forward war ma weil man nicht mehr wusste.
Man ist einfach drauflos marschiert. „Straight forward“ meint den Mut zu Trial and Error. und jetzt kommen die Probleme auf und dann sagt und jetzt geht man dran zu sagen ja o.k. die Teilchen sind vielleicht nicht so einfach strukturiert. da es vielleicht noch andere (.) Wechselwirkungen spielen ne Rolle oder die ham irgendwas woran wir nicht gedacht haben. und jetzt gibt man den Teilchen mehr Struktur. die braucht man jetzt dazu um eben äh (.) diese Beobachtung zu klären.
Die erste Parameterkonfiguration war fehlerhaft oder unvollständig. Man hat deshalb die ursprünglichen Annahmen erweitert, die in die Gleichungen einfließen sollten. Die Modellkonstrukteure standen aber nicht wieder am Nullpunkt. Sie haben die gescheiterten Modelle ausgewertet und diese Informationen für die Bildung der neuen Modelle genutzt, so dass es eben nicht ein blindes Trial and Error-Verfahren ist, dem gefolgt wird. und jetzt sagt man sich natürlich welche Struktur gibt man denen. und da geht man zu den Teilchenphysikern zu den (.) Hochenergiephysikern weil die beobachten lauter Teilchen in ihren Beschleunigern und die finden neue Teilchen sagen neue Teilchen voraus und dann hat man schon mal ne Gruppe von Teilchen die äh wo aus einem ganz anderen Gebiet kommt die man dann untersuchen kann. und dann kann man versuchen zu verstehen welche Gruppe denn nun in dieses Bild reinpassen würde und dann lernt man langsam die Natur der Teilchen kennen. also dieser Schritt wird jetzt gerade gemacht. man versucht jetzt verschiedene Teilchengruppen herauszuholen aus diesem Pool den diese diese Elementarteilchenphysiker uns noch liefern die alles dunkle Teilchen sein könnten und versucht zu verstehen welche dieser Gruppen (.) vielleicht jetzt die sind diesen Widerspruch erklären könnte (I: ahja)
Man wollte von den Teilchenphysikern wissen, welche Materie überhaupt in Frage kommt und die unterstellten physikalischen Eigenschaften besitzen könnte. Die Teilchenphysiker haben verschiedene Kandidaten angeboten, auf die sie in ganz
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anderen Zusammenhängen gestoßen sind; einige Teilchen sind noch rein hypothetischer Natur (sogenannte „Axione“), deren Existenz theoretisch naheliegt, aber noch nicht bewiesen ist. Es konvergieren also verschiedene Forschungsstränge der Physik miteinander und verbinden die Bemühungen. Das muss einen Physiker natürlich faszinieren, denn hier kommen Makrophysik und Mikrophysik wieder zusammen und können sich gegenseitig befruchten. Die angebotenen Teilchenkandidaten haben bestimmte Eigenschaften, die man in Parameterkonfigurationen übersetzen kann, und nun beginnt der Prozess der Simulation von Neuem. Wieder ein Trial and Error, aber auf einer erweiterten Komplexitätsstufe. Auch die Teilchenphysiker profitieren davon, weil die Computersimulationen des Klumpens der Teilchen Rückschlüsse über deren physikalische Eigenschaften nahelegen, die man anders nicht kennenlernen würde. Die Modelle werden also immer riskanter, weil immer mehr theoretische Physik hypothetisch in sie einfließt, doch einen anderen Weg gibt es nicht. und da des iss also sehr schön ne interdisziplinäre (.) Geschichte dann. und die man vorher hat man’s nicht gebraucht weil es hätte uns nur verwirrt wenn man da noch zusätzliche Sachen dazu genommen hätte welche Gruppe hätte man denn jetzt gewählt wie hätte man denn wissen können ob eine Gruppe besser ist als ne andere aber jetzt hat man da n Widerspruch mit dem einfachsten Modell jetzt braucht ma jetzt kann man das machen. des iss also wir (.) so lief das in dem Fall äh ab. +(4) (klopft dreimal)+ mh ja also (4) ja also so im Wesentlichen so läufts so läuft Wissenschaft denk ich halt ab
Die Entwicklung folgt einer Sparsamkeitsregel. Man nimmt nur Annahmen, die man logisch und empirisch in der Simulation beherrschen kann. Zum Schneise schlagen gehört also auch der Mut, am Anfang bewusst einfache und „naive“ Modelle zu entwerfen, von denen man schon ahnen kann, dass sie nicht ausreichen werden. Doch dieses Vorgehen ist notwendig, weil die Komplexität der Modelle kontrolliert wachsen soll und dies setzt voraus, dass man mit den Modellen einen Lernprozess durchläuft. Die Wissenschaftler wollen das Verhalten eines Modells im Computer erst genau studieren und sich mit den logischen Möglichkeiten seiner Erklärung vertraut machen, bevor sie weitere Annahmen hinzunehmen. Sie benötigen rasch eine konkrete Hypothese, welche Parameter richtig sind und welche falsch oder ungenügend. Außerdem benötigen sie einen konkreten Ansatz für die Erweiterung. Dieser ist mit dem Widerspruch (zwischen dem simulatorischen Modell des Klumpens und den Beobachtungsdaten) gegeben, und man kann ausgehend von einer Grundgleichung gezielt einzelne Parameter erweitern. Das setzte aber voraus, dass man schon einen Durchlauf mit konkreten Simulationen hatte. Es geht also darum, ein Terrain, in dem es unübersichtlich viele Möglichkeiten der Lösung gibt, stabil zu halten und methodisch kontrolliert aufzuschließen.
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und ich mein [uns.] man versucht man geht dann ’n Schritt ein Schritt weiter ein Schritt weiter am aber wie jetzt diese dunkle Materie wie des im Detail entstanden iss also ich denke da war natürlich die Beobachtung da da war erst mal die Beobachtung da dass er eben offensichtlich da Materie existieren muss weil man da nix sieht.
Arens führt aus, was wir oben schon erschlossen hatten. Die Theorie über die dunkle Materie ergab sich aus einer Beobachtung, die allerdings gemacht wurde, weil der gravitationstheoretisch gebildete Beobachter dort etwas sehen zu müssen meinte, was nicht da war. und dann hat sich dieses Modell schne sehr schnell entwickelt. es wurde von dem Beobachter schon selbst vorgeschlagen. der (.) hat uns selbst [unv.] gesagt ja muss also Materie sein und des also Materie besteht aus Teilchen also müssen das dunkle Teilchen sein. aber dann han äh de kam der Theoretiker und hat dann mal diese dunklen Teilchen genauer untersucht. und wie die klumpen würden und was die machen würden. (.) dann iss da en ganz neuer Forschungszweig entstanden die Kosmologie in in der Richtung dann. die sich da auf aufgebaut hat. (2)
Spezielle Arbeitsgebiete: Entstehung von Galaxien und Planeten I: und ist das auch Ihr spezielles Arbeitsgebiet A: ja (I:äh) die dunkle Materie ist eins der +Arbeitsgebiete (I: ja) an denen ich arbeite wir arbeiten (1) an (.) drei vier verschiedenen auf drei vier verschiedenen Gebieten. und das geht weil wir ’ne relativ große Gruppe sind und dann kann man die Expertise die man auf einem Gebiet hat auch verwenden für andere Gebiete. also wir untersuchen auch die Entstehung von Sternen und die Entstehung von Planeten iss ja nun auch ein interessantes Thema weil man jetzt Planeten ja entdeckt im Universum und da möchte man verstehen wie die entstehen ob da Leben drauf sein kann und so Sachen das iss sehr interessant. und des (klopft) ja des sind so die verschiedenen Arbeitsbereiche und das Schöne iss halt der Theoretiker (.) hat halt ähm (2) hat (I: mh) halt gewisse Programme die er für alle möglichen Themen anwen Bereiche anwenden kann. des iss +wie wenn sie I: Computer+ programme A: Computerprogramme sind des. die (.) da sim eben so de kann man so Teilchensysteme simulieren. da kann man dann diese dunkle Materie untersuchen und wie die klumpt. da kann man aber untersuchen wie sich Sternsysteme verhalten weil Sterne sind nichts weiter als Teilchen (.) die man halt sieht. und dann kann man untersuchen äh wie Galaxien entstehen des ist auch wiederum so was Ähnliches wie die dunkle Materie nur das läuft e bissel anders ab und da muss ma in Physik rei die kann man einbauen. und da im Prinzip kann man dann in diesen äh Simulationen die man äh in diesen Programmen die man hat sehr viele (.) sehr viel verschiedene Aspekte untersuchen.
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Arens definiert sich nicht über eine Einzelfrage, sondern über seinen methodischen Ansatz, mit dem sich parallel zu mehreren Untersuchungsfeldern arbeiten lässt. Er und seine Mitarbeiter erschließen sich ihre Forschungsaufgaben von der Methodik her. Die heterogenen Forschungsgebiete weisen strukturell ähnliche Problemstellungen auf. Der Ansatz beruht darauf, computergestützt numerische Simulationen durchzuführen. Arens ist jemand, der die Möglichkeiten, die der Computer an Rechnerkapazitäten bietet, für die kosmologischen Fragestellungen ausschöpft. Das ist seine Spezialität, mit der er seine Karriere gemacht hat. Die Kosmologie beschäftigt sich als Teilgebiet der Astronomie mit der Struktur und der Entstehung des Universums als Ganzem, seiner Entwicklung von den Anfängen („Urknall“) her sowie den einzelnen Gebilden in ihm. Sie interessiert sich für die Entstehung einzelner Galaxien und ihre Wechselwirkung mit anderen Galaxien, mit Galaxienhaufen, mit einzelnen Sonnensystemen und ihren Planeten, sowie der Entstehung dieser Gebilde aus materiereichen Gaswolken oder ihrem Vergehen am Ende eines langen Verbrennungsprozesses. Sie ist ein physikalisches Fach, das auch auf die Elementarteilchenphysik angewiesen ist, und berührt zugleich philosophische Fragen der Schöpfung und hat insofern Vorläufer im Mythos. Die Kosmologie interessiert sich für die Makrowelt und wendet sich den im All am weitesten ausgedehnten Raum- und Zeit-Dimensionen zu. Die heute am weitesten vordringenden Aufnahmen zeigen Galaxien im Stadium ungefähr 800 Mio. Jahren nach dem angenommenen Urknall vor ca. 13,7 Mrd. Jahren. Computersimulationen sind deshalb sehr geeignet, um kosmologische Prozesse zu untersuchen, weil es um große Massen an Materie geht, die sich zu dichten Strukturen verbinden und eine Gravitation entwickeln, die sie in Wechselwirkung zu anderen Gravitationszentren treten lässt. Man kann diese Bewegungen auf Algorithmen zurückführen, und deshalb bietet es sich an, kosmologische Prozesse zu simulieren. Im Unterschied zu den Forschungen zur dunklen Materie kann man bei Galaxien und Sternen in die Parameterkonfigurationen komplexere Annahmen aus der Physik einfließen lassen; man bewegt sich auf sicherem Gebiet. das sind Simulationen. da starten da wissen Sie noch gar nich selber das Ergebnis. was Sie machen iss Sie (.) Sie stecken (.) Sie diese Sie Sie fangen mit äh mit einer Teilchenverteilung an stecken ein bissl Physik rein und schauen sich an wie sie ja was aus dieser Teilchenverteilung wird. und ob da Strukturen entstehen wie die Milchst wie unsere Milchstraße. und dann fangen Sie mit Gas an und dann ne sagen Sie o.k. wenn das Gas so dicht wird dann bildet es +Sterne (klopft)+ und dann versuchen Sie zu verstehen wie die Entstehung abläuft und am Ende des Tages schauen Sie in Ihrem Computer nach und dann haben Sie ne gewisses Struktur gebildet und dann vergleichen Sie des mit den Beobachtungen. das heißt Sie stecken im Prinzip die ganze Physik rein? irgendwelche Anfangszustände und lassen das da dann im Computer brodeln? und versuchen das dann rauszukriegen ob das was da rauskommt irgend-
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was mit zu tun hat mit dem was Sie da oben sehen. und wenn das so ist dann wissen dann können Sie zurückgehen und die ganzen
Das Vorgehen der Simulationsphysiker folgt einer sehr einfachen Rekonstruktionslogik, die auf sukzessiver Annäherung beruht. Arens nutzt den Computer, um Bewegungsbilder zu erzeugen. Ausgangspunkt ist wieder ein reales Gebilde und seine Signatur auf einem Aufnahmeprotokoll. Er will diese Signatur auf dem Bildschirm nachstellen und fängt mit sehr einfachen Algorithmen an. Diese lässt er durchrechnen und dann vergleicht er das reale Bild mit der Computersimulation. Anfangs geht es noch nicht darum, sofort das ganze Bild exakt zu treffen. Arens fängt mit ein bisschen Physik an. Er will sich also sukzessive und kontrolliert annähern. Die Richtung geht vom Groben zum Feineren, vom Globalen zur Detailauflösung. Zuerst muss das Hauptschema einer Signatur getroffen werden, dann geht man weiter. Der Approximation entspricht handlungslogisch eine Sequenzialität von Operationen von Simulation, Vergleich, Auswertung, neuer Simulation und neue Auswertung. Dabei handelt es sich nicht alleine um Trial and Error, denn in die Algorithmen einer Simulation gehen physikalische Gesetze ein, denen ein hypothetisches Verständnis der realen Vorgänge unterliegt. Irgendwann entspricht die simulierte Signatur der realen Signatur, und der Astronom hat eine Konfiguration von Algorithmen, die er interpretieren kann. Die eigentliche Arbeit geht dann erst los, denn es geht immer darum, die Physik hinter den Bewegungsbildern zu verstehen. Die numerische Simulation ist also nur ein Instrument der Rekonstruktion von physikalischen Gesetzlichkeiten, die bei der Entstehung und Genese von Sternen und Galaxien beteiligt sind. Der Theoretiker muss seine Simulationen immer interpretieren und wieder in astrophysikalische Modelle rückübersetzen. Ganz interessant ist hier die Sprache: ein bissl Physik reinstecken, brodeln lassen. Es ist die Alltagssprache eines Labormilieus, in dem der Computer ein vertrautes Arbeitsgerät und ein ständiger Kommunikationspartner ist. Er ist eine Blackbox, die am Ende etwas auswirft, das nicht vorhergesehen werden kann und vom menschlichen Gehirn nicht hätte ausgerechnet werden können. Ein Kochtopf, der einen Stoff verwandelt. Man lässt ihn brodeln so wie die Chemiker ihre Stoffe kochen oder sprudeln lassen. Man bringt ihn zu einem Siedepunkt und lässt ihn etwas auswerfen. Brodeln ist einerseits metaphorisch, andererseits recht präzise, denn brodeln bedeutet, etwas in Bewegung und Unruhe zu versetzen, das seinen Zustand ändern soll. Man sagt auch, man lässt es ‚kriseln,. Der Computer stellt also die Naturprozesse selbst nach. I: ist das ne gewisse Bestätigung der Theorie weil +(A: ja) im [unv.]+ Computerprogramm ja eigentlich die äh +(A: ja) da die+ Theorie äh doch +(unv.) A: richtig+ ja de +sicher I: eingeht+
540 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE A: ja es ist bestätigt im Wesentlichen wenn dasselbe rauskommt wie man da was man sieht dann sagt man man hat die richtigen Ingredienzien gewählt und man hat die richtige Physik (klopft, I: ja) gewählt. man weiß aber jetzt dann immer noch nicht im Detail warum’s so abgelaufen iss. das hat ja der Computer? einfach +nur (I: mh)+ nachsimuliert (I: ja) ja ich mein (.) dann muss ma jetzt äh da so der wichtige Schritt iss das man jetzt im Prinzip seine (.) Computer äh seine Simulationen beobachtet. da wird der Theoretiker zum Beobachter seiner eigenen Simulationen. und versucht dann zu verstehen? warum das jetzt so abgelaufen iss warum das jetzt eben so zusammengefallen iss und nicht anders
Diese Methodik setzt voraus, dass der Theoretiker mit der Annahme von Gesetzmäßigkeiten arbeitet, die er in die Simulationen gesteckt hat. An den Simulationen beobachtet er dann, wie sich die Bewegungssignatur verändert, wenn eine Funktionsvariable verändert wird. Das ist das eigentliche Experimentieren: Der Theoretiker versucht seine Gleichungen in die wichtigen Funktionseinheiten zu zerlegen, deren Variabilität eine Signatur bestimmen, und die richtigen Wertebelegungen zu identifizieren, mit denen sich eine Simulation den realen Beobachtungen angleicht. Der Theoretiker setzt wie ein Hermeneut vor den Bildschirm und versucht die theoretischen Zusammenhänge hinter seiner Parameterkonfiguration zu erahnen. Er muss sich vom eigentlichen Simulationsexperiment wieder lösen und in die hineingesteckte Physik hineindenken. I: das heißt er kann auch wahrscheinlich dann gewisse Momentaufnahmen A: natürlich I: äh machen und die dann Schritt für Schritt äh A: richtig +man macht dann Bil I: (unv.) analysieren+ A: ganz wichtig + sind jetzt Filme (I lacht)+ man macht Filme dann schaut man sich im Detail an wie aus der Suppe am Anfang dann eben diese Kondensate entstehen konnten und dann geht man her und und äh nimmt sich gewisse Teilberei Teilbilder raus? und (.) analysiert im Detail wie die Kräfteverhältnisse in dem System zu dem Zeitpunkt sind und wie sich das dann (.) entwickeln konnte. und erst dann kommt der Aha-Moment.
Der Computer ist also nicht nur Rechenmaschine, sondern liefert auch das bildgebende Instrument. Die ästhetische Anschaulichkeit einer Signatur ist unabdingbar. Der Computer kann (noch) nicht selbst die Strukturgleichheit (Isomorphie) von simulierten und reellen Bewegungsbildern feststellen, das bleibt eine Aufgabe des Menschen. Doch es gibt immer wieder technische Neuerungen, die ihm dabei helfen. Filme erlauben die Darstellung von Bewegungen. Filme zeigen die ‚dynamische Umgebung’ einer Stand- oder Momentaufnahme, sie zeigen den Übergang von einer vorangegangenen Konstellation und in eine Konstellation, auf die sie hinstrebt. Und dies erweitert die Interpretationskraft des Astronomen, weil er so besser
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lernt, die Bewegungsoptionen eines starren Bildes zu erkennen. Dies kommt auch der Fähigkeit zugute, reale Beobachtungsbilder besser verstehen zu lernen. Man isoliert einzelne Aufnahmen der Simulation und untersucht sie gesondert. An den Teilbildern lässt sich studieren, welche Gesetzlichkeiten im Einzelnen wirksam sind. natürlich kommt erst mal das Aha-Erlebnis ja tatsächlich des entwickelt sich so wie ich’s mir gedacht hab. äh aber im Detail ham wer’s ja noch net (unv.) verstanden. dann sitzt man also da ma noch’n halbes Jahr und versucht zu verstehen warum sich des +so (klopft)+ entwickelt hat. und erst dann iss sozusagen das analytische Verständnis da (.) das man dazu braucht.
Arens operiert implizit mit einer Unterscheidung, die vergleichbar ist mit Chomskys Unterscheidung in der Linguistik zwischen deskriptiver und explanativer Adäquatheit einer Theorie. Die Theorie muss eine Struktur entwickelt haben, von der aus man die Phänomene nicht nur adäquat metasprachlich beschreiben kann, man muss sie auch erklären können. Ein Aha-Erlebnis stellt sich erst ein, wenn die anfangs hypothetisch hineingesteckte Physik tatsächlich verstanden ist. Man muss die physikalischen Gesetze hinter den kosmologischen Prozessen verstanden haben. also der Computer äh reproduziert im Wesentlichen die Abläufe im Universum. und des Universum iss ja im Wesentlichen äh unfertig. +nich (klopft)+ sie ham am Anfang (.) alle Ingredienzien da. und das Universum entwickelt sich ja selber es weiß ja selber noch net wo es hinläuft. nich? und des und Sie machen genau dasselbe Sie nehmen einfach alle Ingredienzien und dann lassen Sie die sich entwickeln und erst dann verstehen Sie warum ne Struktur so herauskommt und nicht anders. das weiß des Universum auch net des macht’s halt einfach drauf los nich? des entwickelt sich halt da und da hin und so machen wir’s auch. (.) nich äh (.) und dann hoffen mer das das mer dann verstehen warum das Universum sich so entwickelt und nicht anders aufgrund der Ingredienzien die wir da haben. also so so läuft das ab. das iss dann (.) die numerische Simulation sagt ma da also numerische Astrophysik. (3)
Arens skizziert seine Rekonstruktionsmethodologie, die sich der Natur des Gegenstandes anschmiegt und ihre zukunftsoffene Verlaufsbewegung nachzubauen versucht. Das ist hauptsächlich methodologisch gemeint, aber es enthält auch eine konstitutionstheoretische Annahme über das Universum selbst. Wie bei jeder Methodologie gibt es eine Entsprechung im Gegenstand. Die Astronomen schauen in einen laufenden Prozess hinein, dessen Ergebnis noch nicht festgelegt ist. Es ist ein offener Prozess, in dem es Determinanten gibt, deren Wirkung von der Gegebenheit bestimmter Konfigurationen abhängt, und eine zukunftsoffene Emergenz solcher Konfigurationen, die in keinem Bauplan des Universums festgeschrieben wären.
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Die methodische Bedeutung des Computers die mh und des iss auch sehr schön man kann nämlich die so Gebilde die man da erzeugt sehr gut mit den Beobachtungen vergleichen und kann sich wie ’n Beobachter (.) in die Ferne begeben und des Objekt dann in Projektion anschauen da hat man weniger Information als wenn man es wirklich dreidimensional sehen würde? und dann kann man dieses projizierte Bild direkt vergleichen mit dem Bild das der Beobachter sieht. und dann sieht man ob’s stimmt. und dann kann man sagen ja gut aber ich hab den Vorteil ich kann ja auch von der anderen Seite draufschauen. und ich kann Dir dann sagen wie es ausschauen müsste wenn des von der anderen Seite sehen würdest. und äh dann kann man noch sagen wenn ich es jetz aber so anschaue wie Du dann würde ich wenn ich des dann so analysieren würde noch diese Vorhersage machen. ja?
Ein weiterer Vorteil der Computersimulation besteht darin, dass simulierte Bildprojektionen sich drehen lassen und aus verschiedenen Perspektiven, von hinten, von oben, von einer Seite aus betrachtet werden können. Das kann der Beobachter der Gestirne am Fernrohr nicht, ihm stellen sich die Galaxien immer nur in der Ansicht dar, die durch den Winkel der abgesendeten Lichtstrahlen gegeben ist. Der Winkel ist an die partikulare Position des Beobachters geknüpft. Es lassen sich mit den Simulationen also Perspektiven gewinnen, die von der Erde aus und für den Menschen niemals einzunehmen sein werden. Vorausgesetzt man hat eine Galaxie im Simulationsproramm adäquat abgebildet, erweitert der Computer und das Theoriemodell also auch die Möglichkeiten der Beobachter selbst. Die dreidimensionale Betrachtung erlaubt eine bessere Veranschaulichung der Raumverhältnisse und letztlich auch der Bewegungen einer Galaxie. und dann kann der Beobachter hergehen und da nochmal hinschauen.
Der Beobachter bekommt also Vergleichsmöglichkeiten aus seinem eigenen Material, das er ohne die Simulationen nicht hätte, und lernt die Beobachtungsdaten damit viel besser interpretieren. Die Simulationen, die einem Beobachtungsobjekt verlässlich entsprechen, stellen Erweiterungen des Protokollierten dar und erweitern damit auch die methodische Funktion des Protokolls, die ja darin liegt, dass man etwas, das normalerweise flüchtig ist, immer wieder ansehen kann. Das ist ein großer Vorteil. naja Sie haben ja auch das Problem Sie sehen ja äh immer nur ein äh sie sehen sie wissen nich was individuell iss und was global iss.
Arens stellt eine methodische Gemeinsamkeit zwischen dem Astronomen und dem Soziologen her und glaubt, dass das unterstellte Problem vergleichbar ist. Analy-
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siert man eine Galaxie, hat man genau genommen ein einzelnes Exemplar mit unverwechselbaren Besonderheiten vor sich, dessen konkrete Entwicklungsdynamik sich zwar aus allgemeinen Naturgesetzen beschreiben lässt, deren konkrete Gestalt sich aber aus den je fallspezifischen Rahmenbedingungen ergeben, unter denen sie ihre Wirkung entfalten. Man hat das Problem von Typ und Token vor sich. In der Soziologie ist es ähnlich: Man interviewt einen Wissenschaftler, hat aber zunächst nur einen einzelnen Fall mit seinen Besonderheiten vor sich. Wie lässt sich unterscheiden, was an ihm ein allgemeines Strukturmerkmal ist, das auch bei anderen Fällen (Wissenschaftlern bzw. Galaxien) vorliegt und insofern auf einen allgemeinen Typus verweist, und was fallspezifische Besonderheiten sind, die dem singulären Fall zuzuschreiben sind? Die Antwort ist gar nicht so einfach. Man vergleicht verschiedene Fälle, und versucht Gemeinsamkeiten und Differenzen besser unterscheiden zu lernen. Je detaillierter die Analyse des Einzelobjekts, desto größer die Chance, bei der Analyse eines anderen Objekts Gemeinsamkeiten und Differenzen besser wahrnehmen zu können. Arens unterstellt eine methodologische Gemeinsamkeit der Fächer, die über die Regeln des formal logischen Schließens hinausgeht. Die Möglichkeiten der Astronomen waren lange dadurch eingeschränkt, dass sie ihre Bewegungsbilder nur aus der Perspektive der Erde machen konnten. Mit den Mitteln des Computers ist es nun möglich geworden, simulierte Bilder zu erstellen, die durch ein Drehen auch andere Betrachtungswinkel ergeben, so dass man eine diachrone Entwicklungsdynamik in ihrer synchronen Struktur besser vergleichen kann, weil man nun Entwicklungsdynamiken zwischen Galaxien zum Beispiel selbst vergleichen kann. wenn Sie sich eine Galaxie anschauen dann hat die gewisse Strukturen. das ist dann das kann in der anderen das kann jetzt global für alle Galaxien gelten das kann aber nur speziell für diese Galaxie gelten. des könnt sein dass Sie die die Struktur da sehen in der anderen Galaxie (.) die (.) die genau so ähnlich aufgebaut iss wie die Galaxie Sie sehen die Struktur nicht weil Sie von nem anderen Winkel drauf schauen. Sie wissen also nicht was jetzt (.) Projektionseffekte sind die Sie einfach so sehen weil Sie ja nur ein Beispiel haben und ein anderes aber das kann der +Theoretiker (klopft)+ machen der kann sich jetzt natürlich (.) die Galaxie drehen und dann wieder in Projektion drauf schauen und sagen dasselbe Feature schaut unter anderer Projektion so aus und wenn er das (.) dann so sieht in ner anderen Galaxie isses nur ne andere Projektion von demselben. und diese ganzen Details die kann man dann (.) die kann man erforschen und da iss ja auch wiederum eben die Zusammenarbeit mit den Beobachtern sehr gefragt. (3) (klopft) ja (4)
Die Beobachtungsaufnahmen haben Irrtumsanfälligkeiten, die man mit Hilfe der Dreheffekte der Simulationen umgehen kann. Man kann besser differenzieren, ob eine Erscheinungsform zu den singulären Merkmalen einer Galaxie gehört, oder ob
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es nur so aussieht, weil der Betrachtungswinkel es so erscheinen lässt. Es bleibt also dabei: die Computersimulation erweitert auch die Möglichkeiten und die Präzision der empirischen Beobachtung in der Astronomie. Das aktuelle Forschungsgebiet: Entstehung von Sternen aus Molekülen und Gaswolken. 26 I: könnten Sie ja noch ’n bisschen was über Ihre aktuelle Forschungsarbeit oder die (A: mhm) Forschungsarbeit der Gruppe (.) äh (.) der +Sie vorstehen 26 A:
ja also die+
27 I: erzählen 27 A: die aktuelle was wir jetzt zur Zeit eben machen ist eben diese Natur der dunklen Materie was ich Ihnen erzählt hatte (.) versuchen zu verstehen dann n ein ganz wichtiger Aspekt den wir studieren ist die Entstehung von Sternen denn wenn Sie am Anfang haben Sie ja nur Gas nur die (.) nur äh nur Mol sagen wir mal Wa Wasserstoffatome und Moleküle im Universum und des klumpt sich dann zu Wolken und in den Wolken kondensieren Sterne aus. und wie die und wie dieses Auskondensieren stattfindet das iss bisher nicht genügend erforscht das weiß man nicht im Detail und also wie die Sterne entstehen unsere Sonne entstanden iss das sind die Fragen die wir simulieren.
Im Grunde muss man nicht weiter explizieren. Arens exemplifiziert den Untersuchungsansatz, der die ganze Zeit schon thematisch ist, für ein spezielles Forschungsgebiet. Die Entstehung von Sternen ist dem Ansatz nach nicht verschieden von der Entstehung von Galaxien. Ein zentraler Parameter ist die Natur der Moleküle und ihre Quantität. Offenbar interessiert sich seine Gruppe für das spezielle Entwicklungsstadium, der eine erste Verdichtungsphase bereits vorausgeht, in der sich Wolken gebildet haben. Es ist also der Übergang thematisch aus einer amorphen Struktur mit noch wenigen Reaktionen in eine in sich mehr gefügte Struktur, bei der die Moleküle bereits eine Massenstruktur bilden, aus der emergente physikalische Eigenschaften wie elektromagnetische Strahlungen, Verbrennungsprozesse usw. folgen. Dieser Übergang wird Kondensieren genannt. da äh versuchen zu simulieren da nehmen wir (.) ein so ne Gaswolke an und dann lassen äh äh nehm wir an dass die dass da die Gravitationskraft die Schwere die die Schwer äh die Anziehungskraft ne Rolle spielt? ja? und dann (.) dann lassen wir die sich +entwickeln (klopft)+ und und sehen wie da son Sternehaufen entsteht ein kleiner Haufen von Sterne und vergleichen das mit den Beobachtungen.
Ein Parameter ist die Masse der Moleküle, die man variabel einsetzen kann. Eine weitere der Ingredienzien ist die Gravitation von Wasserstoffatomen, die man für variable Dichten errechnen und eingeben kann. Abhängig von der Masse der Atome
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ergibt sich daraus die Wechselwirkung der einzelnen Teilchen. Dann spielt wahrscheinlich auch die räumliche Anfangsverteilung der Atome in der Wolke eine Rolle. Von ihr hängt ab, ob aus einem gegebenen Teilchenquantum ein oder mehrere Sterne entstehen und wie die räumliche Struktur dieser Sterne angeordnet ist. Das lässt man nun mit verschiedenen Parameterbelegungen durchspielen und nimmt sich dann diejenige Konfiguration, deren Verlaufsbild am ehesten mit einer real beobachteten Sternenkonstellation konvergiert. und dann noch ein wichtiger Aspekt ist die Planetenentstehung? wenn weil die Planeten entstehen dort wo die Sterne entstehen das muss man gemeinsam betrachten und des untersuchen wir auch. wenn dann da bildet sich dann so ne Gasscheibe um jenen Stern und in der Gasscheibe entstehen dann kondensieren die Planeten aus? und dann versuchen wir zu verstehen wie wahrscheinlich unser zum Beispiel die Entstehung unseres Sonnensystems ist wie es dazu gekommen iss wie die Planeten die man jetzt +beobachtet (klopft)+ entstehen konnten und wie sich die weiterentwickeln. des sind alles so numerische Simulationen
Man muss also Parameterkonfigurationen finden, die Kondensationen zeigen, bei denen um einzelne Sternkondensate genügend Materie übrigbleibt, die vom Hauptkondensat nicht gebunden wird, so dass sie sich zu eigenen Trabanten klumpen kann, ohne jedoch die Masse und Energie zu besitzen, um selbst ein eigenständiger Stern zu werden. Die numerischen Simulationen in der Astronomie sind ein Anwendungsgebiet der numerischen Mathematik (oder „Numerik“), die sich mit der Konstruktion und Analyse von Algorithmen beschäftigt, die kontinuierliche mathematische Probleme beschreiben sollen. Numerische Simulationen kommen auch in der Wetter- und Klimaprognose, in der Strömungsforschung oder in Simulationen von Gebäudeverhalten, Kernfusionen oder militärischen Szenarien uvm. zum Einsatz. und äh Simulationen. und dann entwickeln wir auch neue Programme um mehr im Detail diese ganzen Sachen zu verstehen. (1) (klopft) also eine äh (.) ein (.) Puzzle an dem wir zur Zeit arbeiten iss die ist die ist die Irregulärität im äh im Gas. also wenn Sie sich so ne Gaswolke anschauen? dann ist die geklumpt und das Gas bewegt sich mit Überschallgeschwindigkeit in alle möglichen Richtungen. und wir können zeigen dass die Physik die dahinter steckt diese Überschallgeschwindigkeit ganz wichtig ist für die Sterneentstehung. was für ein Stern entsteht. ob so was wie ne Sonne entstehen kann. das hängt da ab von dieser turbulenten Bewegung dieses (klopft) dieses Gases ab. aber man weiß nicht was diese diese Turbulenz antreibt. man kennt den Mechanismus nicht der zu diesen irregulären Bewegungen führt. da gibt’s keine Energiequelle die ausreichen würde um des zu erzeugen. (klopft) und wir sind da gerade dabei (.) zu verst des äh zu verstehen? und eine Lösung die wir untersuchen iss dass es vielleicht diese dunkle Materie +iss (klopft)+ die dazu führt. weil die dunkle Materie also diese Gaswolken sind +eingebettet (klopft)+ in dunkle Materie. des wissen wir weil die da ihre Gravitationskraft drauf wirkt und die dunkle Materie die umgibt die iss auch die iss +geklumpt (klopft)+ das sagen die kosmologi-
546 Ň DISZIPLIN DER N EUGIERDE schen Rechnungen vorher. und diese Klumpen? die wandern durch diese Gaswolken durch. die sehen wir natürlich nicht weil se dunkel sind. aber wenn die durchwandern dann stören die dies Gas (klopft) und diese +Störungen (klopft) können diese hohen +Geschwindigkeiten erzeugen (klopft mehrfach)+ das ist die +Idee (klopft) dahinter.
Man erkennt auch als Laie, wie hochkomplex diese Forschung ist und wie viele hypothetische Annahmen in die Modelle einfließen. Arens drückt aber nicht nur sein sehr weitreichendes Vertrauen in die Methode der numerischen Simulationen aus, sondern er kann seine Forschungen auch einfach und plastisch schildern, so dass man schnell zumindest eine Ahnung davon bekommt, um was es geht. Im Übergang einer Gaswolke zu einer sternenförmig kondensierten Dichtestruktur der Materie gibt es verschiedene Verläufe; nur einige führen zu demjenigen Sternentypus, den wir als Sonne kennen. Es gibt auch noch andere. Die Bewegungsdynamik, die für das Klumpen verantwortlich ist und im Klumpen beibehalten wird, ergibt sich nicht aus der Eigengravitation des Gases selbst. Es ist keine autochthone Entwicklung. Es gibt zusätzliche Bewegungsimpulse, die irgendwo herkommen müssen. Arens und seine Gruppe verbinden an dieser Stelle die Problemstellung mit der Forschung zur dunklen Materie und stecken alles, was sie über diese wissen, in ihre Gleichungssysteme als hypothetische Parameter, weil sie die Hypothese verfolgen, dass diese unbekannte Materie in Wechselwirkung zum kondensierten Gas getreten sein könnte. Sie rechnen also buchstäblich ihre Simulationen mit Einflussfaktoren, deren Existenz noch gar nicht bewiesen ist. und jetzt gilts +das (klopft)+ zu zeigen es gilt zu zeigen dass wenn ich also so dunkle Materieklumpen durchwandern lasse durch mein Gasgebiet dann erzeugt das die richtigen Störungen?
Mit der Idee ist also eine echte Bewährung verbunden. Das Projekt läuft gerade. Arens ist von der Idee überzeugt und will, dass der Ansatz gelingt. Der Ausruf Jetzt gilts! unterstreicht, dass alle Vorbereitungen abgeschlossen sind und es nun auf die Umsetzung ankommt. Es ist wie ein Selbstappell: Alle Grübeleien einstellen und voll auf die Durchführung konzentrieren. Zugleich zeigt sich der zukunftsoffene Charakter der Unternehmung. Es ist eine Sprache der Krisenbewältigung. Der offene Ausgang wird nun abgewartet. 28 I: und das zeigen Sie anhand von +Computersimulationen 28 A: das zeigen wir jetzt mit+ Computersimulationen. da nehmen wir einfach ne Gaswolke die hier erst [unv.] mal so dasitzt und nix hat. und dann dann schießen mer dunkle Teil dunkle Klumpen durch? und die sollen dann durch die Gravitation durch die Anziehungskraft das Gas beschleunigen und ablenken und +stören (klopft)+ und dann untersuchen mer die Störungen die wir kriegen und +vergleichen (klopft)+ die mit den Beobachtungen? und wenn’s stimmt dann kam ma haben mer gezeigt dass diese Klumpen das erzeugen können? und dann untersuchen wir
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wie die Störungen zu Sternen (klopft) kondensieren. und dann können wir sagen die Sterneentstehung und dass sie entstanden sind das hängt ja alles mit diesen dunklen Klumpen zusammen und wenn’s die nicht gäbe dann gäb’s uns nicht und dann hat man da ne +Assoziation (klopft)+ und und des sind also die Simulationen die man dann da dazu durchführt.
Mit der zu zeigenden Assoziation von Sternenentstehung und Existenz der dunklen Materie ist eine wirkliche avantgardistische These verbunden. Die Folgen wären relativ weitreichend, weil sich nicht nur die Plausibilität der Existenz jener dunklen Materie erhöhen würde, sondern auch ein neuer Zugang zum Problem der Entstehung kosmischer Gebilde überhaupt. Es wäre ein neuer Generalansatz im Spiel, den man für viele Entstehungsprozesse kosmischer Gebilde durchspielen könnte. Arens weiß das geschickt zu verkaufen, denn er stellt sofort die Verbindung zwischen der dunklen Materie und dem Menschen als dem Bewohner des Sonnensystems her. Es setzt ihn zur dunklen Materie in Beziehung und erhöht damit deren Bedeutung, auch wenn sie noch hypothetischer Natur ist. Nutzen der teuren Forschung I: ja (3) wa was würden Sie auf den Einwand den man sich ja leicht äh denken kann antworten weil das ja alles ziemlich äh diese Instrumente die Sie verwenden sehr teuer iss (A: mhm) äh Forschungszeit äh kostet viel Geld äh was würden Sie auf den Einwand sagen ja wozu muss man eigentlich wissen was nützt äh unserer Gesellschaft die das finanziert es eigentlich zu wissen woraus äh schwarze Materie (A: mhm) besteht A: mhm ja ich denke des kommt immer drauf an ähm was das höchste Ziel ist +(I: mhm) des man+ hat. (klopft) wenn das höchste Ziel ist dass man gut isst und und dann Spiele spielt und so dann iss dann braucht man das alles nich. aber wenn das höchste Ziel äh mh äh es iss dass man dass man äh also kulturell sich weiterbildet dass dass man versteht äh auf wie man aufgebaut iss also des iss sehe ich eigentlich mehr als das höchste Ziel
Die Frage ist gut gestellt. Arens rechtfertigt die teure Grundlagenforschung aber gar nicht erst und definiert die Frage nach ihrem Nutzen als eine Frage der Wertentscheidung der Gesellschaft um. Die Wissenschaft kann also die Antwort auf die Frage gar nicht selbst geben. Die Praxis muss selbst entscheiden, was ihr die zweckfreie Wissenschaft wert ist. Und damit ist es automatisch eine Entscheidung, die mit dem Selbstbild der Handlungssubjekte verknüpft wird. Arens führt kontrastiv den Genussmenschen an, der die Astronomie eigentlich nicht braucht. Er unterstellt unausgesprochen, dass man dessen Lebenshaltung nicht zur Maxime des Gemeinwesens und der Kultur machen kann, ohne die Kultur zugleich aufzugeben. Es geht um eine Tätigkeit, die um ihrer selbst willen geschieht. Seine persönliche Werthaltung ist dabei klar und eindeutig und verwundert ja auch nicht: Wissenschaft ist unabdingbar; die Autonomie der Kultur sollte das höchste Ziel des
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menschlichen Handelns sein. Es überrascht vielleicht, wie selbstverständlich hier ein zeitgenössischer Naturwissenschaftler sich „getraut“, die Autonomie der Wissenschaft bildungshumanistisch zu begründen. In den einschlägigen Milieus der Wissenschaftssoziologen würde er dafür wahrscheinlich mehrheitlich belächelt und als naiver Sonderling betrachtet. Oder es würde ein ideologischer Charakter solcher Äußerungen betont, mit denen den ihrerseits naiven Laien das Geld für kostspielige Sternenspiele aus der Tasche gezogen werden soll. In der hier geäußerten Haltung drückt sich aus, dass Arens auf solche Vorbehalte keine Rücksicht nehmen kann und will. Er macht keine Konzessionen und bleibt dadurch einfach und klar. dass man künstlerisch tätig iss +dass man (I: ja)+ einfach ähm ja (.) mit äh vollem Verstand durchs Leben geht. ja? nicht wie en Regenwurm der einfach von einem zum nächsten sondern wirklich als als als ein ein ein ein sich selbst bewusstes Wesen durch die Welt geht.
Die Autonomie der Kultur ist gar nicht alleine in der Wissenschaft verwirklicht, sondern auch in anderen Bereichen. Es geht auch gar nicht um die Wissenschaft alleine, sondern um eine Grundhaltung, die mit ihr befolgt wird. Diese Haltung ist auf die Entfaltung von Potentialen ausgerichtet, die dem Menschen gegeben sind: Kreativität und Einfallsreichtum, Verstand, Selbstbewusstsein. Der Mensch soll diese Begabungen einsetzen, um sich über seine Verhältnisse und Abhängigkeiten Klarheit zu verschaffen. Hinter den humanistischen Idealen steht die Autonomie selbst. Die Wertschätzung der Autonomie der Kultur dient der Wertschätzung der Autonomie der Lebenspraxis. Das ist ihr höchster Nutzen. Ihre Vernachlässigung gleicht den Menschen dem Tiere wieder an. Das sind natürlich klassische Topoi der Aufklärung und des Bildungshumanismus, die heute vielen Menschen unglaubwürdig erscheinen. Arens unterstellt aber ihre uneingeschränkte Überzeugungskraft. Er hat ein ganz naives und selbstbewusstes Verhältnis zum wissenschaftskritischen Diskurs der Sozialwissenschaften, von dem er sich nicht beeindrucken lässt. dann äh kann ich mir kein höheres Ziel vorstellen als genau diese +(I: ja) ge+ Stetigkeit und das ist im Prinzip ein Luxus den sich die Gesellschaft leisten muss (I: mhm) um um eben mh ä bisschen besser zu sein als rein reine ne Horde von Affen nich un und das denk ich mir halt [uns.](.) wenn mer des nich mehr uns leisten können iss schlecht bestellt um uns. so würde ich des +einfach (I: mhm)+ sehen
Luxus ist eine konsumtive Ausgabe, die man nicht als Investition verbuchen kann, die um eines berechenbaren Gewinns wegen erfolgt. Der Gesellschaft sollte also klar sein, dass sie ihr Geld weggibt, ohne eine Gewähr für einen reellen Nutzen als Gegenleistung zu haben. Sie ist Mäzen, der die Wissenschaft alimentiert und dies um seiner selbst willen tut. Gleichzeitig bekommt sie aber etwas. Doch was dieses Etwas sei, kann Arens nur residual bestimmen, als Überwindung des Affen-Da-
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seins. Die Haltung wird jedoch in einer Unverstelltheit vorgetragen, die heute eher überrascht. Normalerweise wird der Praxis vorgerechnet, welchen indirekten Nutzengewinn Volkswirtschaft, Medizin und Staat aus der Grundlagenforschung ziehen. Arens benutzt das utilitaristische Argument überhaupt nicht, obwohl das ja auch möglich und legitim wäre. Seine geistesaristokratische Haltung ist ganz ohne strategisches Kalkül, fast elitär. Zugleich ist er überhaupt nicht eifernd, er argumentiert aus der historischen Gewissheit heraus, dass die Finanzierung der Wissenschaften durch die Nationen nicht wirklich in Frage gestellt ist. Seine Argumentation ist rhetorisch darauf angelegt, eine wissenschaftsskeptische Haltung mit einfachen, aber drastischen Vergleichen in die Schranken zu weisen. Biographische Ursprungskonstellationen: Die Bedeutung der Freunde und Vorbilder für die Wahl des Berufs I: ja leuchtet mir sehr ein ähm ja also vielleicht zum Abschluss dann noch äh will ich noch mal anschließen an etwas was Sie ganz am Anfang äh gesagt haben Sie sagten also Sie hätten sich auch was anderes äh vorstellen können es hätte jetzt nicht die Astrophysik oder Astronomie äh sein müssen sondern eventuell auch die Biologie (I: mhm) äh und trotzdem haben Sie sich ja dann äh für die Astronomie entschieden und gibt’s da vielleicht äh also irgendwie (.) nen Anknüpfungspunkt in ihrer Kindheit oder Jugend schon wo sie im Nachhinein sagen würden ja das äh war letztlich äh der Anlass äh also +äh (A: mhm)+ warum ich den (1) Beruf äh die wissenschaftliche Disziplin die ich gewählt hab dann äh tatsächlich gewählt A: ja ich +denke es gab (I: habe)+ schon. es gab schon ähm (.) in der Jugend da hatt ich n guten Freund der war bissl älter als ich und der hat sich sehr für Astronomie interessiert.
Arens hatte schon in einer früheren Passage darauf hingewiesen, dass seiner Meinung nach die Wahl des Doktorthemas sehr von dem Professor abhinge, der einen am meisten fasziniere. das hängt dann auch damit zusammen. nich in welcher Fakultät man groß wird und was da für Professoren sind die einen dann mehr oder weniger faszinieren da kann man da nimmt man einfach den der einfach faszinierender ist (I: ja) und wenn es ein Beobachter wär wär es in der Beobachtung und wenn es ein Theoretiker ist dann wird man automatisch geht man in Richtung Theorie. Der hier erwähnte Freund scheint eine ähnliche geburtshelferische Rolle im Leben von Arens gespielt zu haben, nur in einem früheren Stadium. Arens Weg in die Wissenschaft ist also von Personen geleitet, die ihm eine jeweils nächste Stufe des Sachinteresses erschlossen haben. Wir haben damit einen sozialen Aspekt der Bildungsdynamik vor uns, der bisher noch nicht so deutlich hervorgetreten war. Nur Sattler hatte einen Freund und dann den Biologie-Lehrer als Vorbild erwähnt, der ihn im Vorfeld der Teilnahme am „Jugend forscht“-Wettbewerb gefördert hatte. Arens Freund war etwas älter, wie er eigens erwähnt; unabhängig vom wirklichen Altersunterschied empfand Arens eine Differenz der Reife. Der Freund hatte einen
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gewissen Erfahrungsvorsprung, er durfte und konnte schon mehr und war vielleicht von den Eltern etwas weiter abgelöst. Arens konnte sich mit ihm gemeinsam in Erfahrungszonen vorwagen, in die er alleine noch nicht gegangen wäre. Wir haben hier also einen bestimmten Typus der Peergroup vor uns, für den die Altersdifferenz wichtig ist. Freundschaften unter Jugendlichen sind generell eingebettet in die adoleszente Ablösungskrise. Die Peergroup hat immer die Funktion, die einzelnen Jugendlichen in ihren Ablösungskonflikten mit dem Elternhaus zu stützen und gibt ihnen Gelegenheit, eigenständige Sozialbeziehungen zu pflegen, in denen sie affektive, sexuelle und soziale (berufliche) Identitätsentwürfe erproben können, die für den Jugendlichen noch krisenhaft sind. Die Freundschaft zwischen Arens und jenem Freund wird uns aber nicht unter diesem Gesichtspunkt vorgestellt, sondern unter dem einer sich entwickelnden Interessengemeinschaft, die potentiell schon aus der Adoleszenz herausführt. Arens Interesse für die Astronomie ist in dieser Freundschaft geweckt worden. Es hat viele gemeinsame Aktivitäten gegeben und die Freunde werden sich astronomische Bücher geliehen oder gemeinsame Ausflüge zu Sternwarten oder nachts auf einen Hügel unternommen haben, um ein Teleskop aufzubauen. Arens wird davon profitiert haben, dass seine Eltern dem älteren Freund vertraut haben und ihren Sohn mitgehen ließen. Dabei kann es sein, dass er schon eine spezielle Neugierde für astronomische Dinge hatte, doch der Freund scheint eine entscheidende Rolle dabei gespielt zu haben, diese Neugierde zu verstärken und in eine bestimmte Richtung zu lenken. Das entscheidende Strukturmerkmal ist, dass es eine gemeinschaftliche Neugierde war. Eingebettet in die Logik der Peergroup wurde die Freundschaft zur Nähr- und Pflegstätte einer Mußeaktivität. Gemeinsam haben sich die Freunde angeregt und viele Gelegenheiten geschaffen, um sich mit Astronomie zu beschäftigen. Wir können übrigens schließen, dass die Freundschaft nicht mehr besteht oder nicht mehr denselben Charakter hat, denn es wird im Imperfekt berichtet. Es war also eine an die Adoleszenz gebundene Freundschaft. und der hat mir dann auch mal die Sterne (unv.) gezeigt
Das auch mal bedeutet‚ dass es viele gemeinsame Aktivitäten der Freunde gab und die Astronomie nicht der einzige Inhalt war, mit dem man sich beschäftigt hat. Das entspricht der Logik der Peer-Group, die eine diffuse Sozialbeziehung ist und keine rollenspezifische Beschränkung der Themen kennt. Ein wichtiges Charakteristikum dieser Freundschaft ist die Eröffnungsfunktion. Der ältere Freund hat Arens öfters zu Aktivitäten mitgenommen, die dieser noch nicht kannte, was ein besonderes Vertrauensverhältnis voraussetzt und zeigt, dass Arens gerne sich auf solche Eröffnungen eingelassen hat. Er war neugierig und hat sich in dieser progredienten Konstellation sicher gefühlt. Eine zweite mögliche Lesart soll nicht unterschlagen werden: Es kann auch sein, dass der ältere Freund auch noch anderen Jugendlichen
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die Sterne gezeigt hat und Arens irgendwann einmal auch in den Genuss gekommen ist. Das auch würde sich dann nicht auf die Aktivitäten, sondern auf andere Freunde beziehen. Die erste Lesart scheint mir aber sehr viel wahrscheinlicher. – Was haben die beiden Freunde also gemacht? Der Freund hatte Arens eines Nachts auf einen Hügel mitgenommen und sein Teleskop aufgebaut. Er hat ihn an einer Situation teilhaben lassen, in der sich eine Muße gegenüber dem Sternenhimmel entwickeln kann. Diese Mußekrise muss für Arens sehr anregend gewesen sein. Die Nacht stellt für Jugendliche ja generell eine neu zu entdeckende, fremde Tageszeit dar. Es ist dunkel, normalerweise schlafen die Menschen und alle Aktivitäten ruhen. Für Jugendliche ist es interessant zu entdecken, wie viel dennoch in der Nacht geschieht. Die Nacht lädt also für sich genommen zur Muße ein. Zugleich herrschen in ihr spezifische Bedingungen vor. Die Zensur und Kontrolle des Unbewussten ist herabgesetzt, was sich in Traumbildern, freier Gedankenassoziation und lebendiger Phantasie ausdrücken kann. Kinder haben Gefühle von Angst und Gefährdung zu überwinden, wenn sie nachts aktiv sein wollen. Dieser Punkt ist hier sogar noch gesteigert. Astronomen müssen ja in der Nacht in die freie Natur hinaus, weil sie einen klaren Sternenhimmel benötigen. Ihre Teleskope stehen entfernt von den Lichtquellen der Häuser, um Störquellen zu minimieren. Man macht also eine Nachtwanderung in die Dunkelheit hinaus. Das ist für Kinder und Jugendliche immer ein großes Abenteuer. Arens und sein Freund haben sich aber gar nicht für die nächtliche Natur der Erde interessiert und sie haben sie auch nicht als Gefährdung wahrgenommen. Sie hatten weder vor der Dunkelheit oder wilden Tieren, noch vor nächtlichen Traumgestalten Angst oder sie haben sie bezwungen, weil sie ein größeres Ziel vor Augen hatten. Arens’ Freund muss darin eine große Selbstsicherheit ausgestrahlt haben. Bedenkt man diese mehrfache Rahmung der nächtlichen Mußekrise der Sternenbeobachtung, dann kann man ermessen, wie anregend dieses erste Mal gewesen sein muss, als Arens die Sterne gezeigt bekam. Der junge Arens durfte durch das Teleskop schauen und wurde auf Lichtpunkte und Sternbilder hingewiesen, an denen ihm verschiedene Zusammenhänge erläutert wurden. Der Freund teilte mit ihm sein Wissen und das wird diesen selbst angeregt haben, weil er einen aufmerksamen Zuhörer hatte. Es war ein Geben und Nehmen und die gemeinschaftliche Mußekrise wird beide an viele Themen herangeführt haben, die nicht nur die physikalische Natur der Sterne im engeren Sinne betrafen. Die beiden werden gemeinsam darüber philosophiert haben, ob das All endlich ist oder nicht, ob es noch anderes Leben da draußen darin gibt und wie alles entstanden sein mag, oder was passiert, wenn ein Stern „stirbt“ oder was ein „schwarzes Loch“ ist. Die Sterne verkörpern das Ferne und Erhabene, der sie betrachtende Mensch wird sich der Vergänglichkeit und verschwindenden Größe seiner Existenz bewusst. Dann hat der Freund das Gerät erläutert und Arens bekam eine erste Einführung in die handwerklichen Schwierigkeiten der Sternenbeobachtung. Dieser Freund muss bereits von einer
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gewissen Ernsthaftigkeit und Leidenschaft beherrscht gewesen sein, denn andernfalls würde sich der Berufsastronom Arens nicht an ihn erinnern. und der hat mich einfach für das Thema fasziniert.
Zwei Sätze sind hier aufschlussreich zusammengeschoben. „Der hat mich fasziniert“ und „Der hat mich für das Thema [begeistert, oder interessiert].“ Man sagt nicht, A hat B für etwas fasziniert. Daraus spricht die Verschmelzung der Faszination für die Person mit der Faszination für die Sache. Beides war am Anfang untrennbar und kann auch heute noch von Arens kaum auseinandergehalten werden. Der ältere Freund muss also eine besondere Ausstrahlung gehabt haben, wenn er sich mit den Sternen beschäftigt hat. Doch vom Freund alleine hing es nicht ab. Es gab auch ein vom Freund unabhängiges eigenes Interesse für die Astronomie, und man kann nicht sagen, dass Arens sich für Schiffsbau oder Bienenzucht interessiert hätte, wenn sein Freund zufällig eben diese Leidenschaften gehabt hätte. Umgekehrt ist die Tatsache, dass Arens von der Person des Freundes fasziniert war, nicht alleine damit begründet, dass dieser genau diejenigen Interessen bedient hat, für die Arens empfänglich war. Es war darüber hinaus auch die Art und Weise, wie der Freund sich mit der Astronomie beschäftigt hat, die Arens begeisterte. Sie kam ihm besonders entgegen. Der Freund muss einen besonderen Stil oder ein gewisses Tempo gehabt haben, das Arens gefallen hat. Die individuellen Charaktere haben also gut zueinander gepasst. Und dies war in dieser frühen Phase der Entdeckung einer Leidenschaft für die Astronomie sehr wichtig. Die Weckung der eigenen Leidenschaft ist also mehrfach geschachtelt. Es ist dabei übrigens keineswegs zwingend, dass jener Freund selbst ein Berufsastronom geworden sein muss. Er hatte wohl auch eine Disposition für die Forschung. Es kann aber auch sein, dass der Freund eine besondere Begabung in der Vermittlung des eigenen Wissens hatte und dieser Begabung später gefolgt ist. Vielleicht ist er Physiklehrer geworden. des wir habm sehr [unv.] viel zusammen gemacht der war (.) vier Jahr älter? und der hat einfach es war einfach schön. also (.) des hat mich hat mir einen Anstoß gegeben wenn der Freund jetzt gerad Biologie gemacht hätt +wer ich (I: mhm)+ vielleicht Biologe geworden des hat also (.) in die Richtung ging es dann
Der Altersunterschied war demnach beträchtlich und spricht dafür, dass Arens durchaus schon ausgeprägte Interessen gehabt hat. Er muss intellektuell seinem Alter weit voraus gewesen sein, denn der Freund dürfte in der Schule drei oder vier Klassenstufen über ihm gewesen sein. Er konnte intellektuell zumindest mithalten und muss auch seinerseits etwas Anregendes für den Freund gehabt haben, der sonst das Interesse sicher irgendwann verloren hätte. Die Freunde waren sich also
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trotz des Altersunterschieds als Gesprächspartner ebenbürtig. Und andere Themen der Pubertät und Adoleszenz werden eher neutralisiert und ausgeklammert gewesen sein. Die beiden Freunde haben sich auf naturwissenschaftliche Interessen konzentriert. Arens hebt extra heraus, dass der Charakter der gelingenden Freundschaft zentral war. Er hält ihn für so wichtig, dass er sogar glaubt, dass der Inhalt des Sachinteresses davon abhängig war und ein anderes Studienfach denkbar gewesen wäre. Dies unterstreicht, dass es die forschende Grundhaltung und Neugierde war, die die Freunde miteinander verband. Der junge Arens ist seinem Freund heute noch dafür dankbar, dass der ihm damals über einen längeren Zeitraum so viele Gelegenheiten verschafft hatte, dem Bedürfnis kontinuierlich nachgehen zu können. Wir wissen aber aus der Formulierung eben, dass Arens trotzdem eine unabhängige Neugierde für Astronomie hatte. Es entspricht der Vagheit anfänglicher Entwicklungsprozesse, dass es auch andere Interessen gab, die sich durchaus auch hätten entwickeln können. Das schließt sich gar nicht aus. Die Freundschaft beinhaltete jedenfalls eine Erfahrung, die sich auch nach der konkreten Beziehung zu dem älteren Jungen fortgesetzt hat. Arens hat an dem Schönen einer gemeinsamen Mußesituation mit Anderen festhalten können und vermag vergleichbare Erfahrungen auch heute noch einzurichten. Er erinnert es nicht wehmütig, sondern als Beginn von etwas, was noch anhält. und äh (.) dann ähm hat mir also dann hat mir die Physik viel Spaß gemacht und wenn man Physik studiert dann geht man dann automatisch in die Richtung. ähm ja ich mh denk das war’s wohl das waren Anstöße?
Arens geht einen Schritt weiter. Die Sterne haben ihn fasziniert, aber gleich auch die naturwissenschaftlichen Grundlagen. Er hatte also mathematische und modellbildende Begabungen. Wenn man erst einmal Physik studiert und außerdem ein Faible für Astronomie hat, dann ist der spätere Beruf fast determiniert, sagt er hier. Dann geht man automatisch in die Richtung. Arens wird also in der gymnasialen Oberstufe ab Klasse 12 einen „Leistungskurs Physik“ belegt und gute Noten gehabt haben. Danach hat er ein Physikstudium aufgenommen, dem sein Interesse für Astronomie von vorneherein eine bestimmte Tendenz und Richtung verlieh. Seine Aufmerksamkeit war davon gesteuert, welches Wissen er für eine Vertiefung des astronomischen Verständnisses nutzen konnte, was nicht bedeutet, dass er nur diesen Blick hatte. Andere Interessen können nebenbei mitgelaufen sein. Unterstellt ist aber, dass das Physikstudium noch nicht mit dem Ziel begonnen wurde, Astronomie zum späteren Beruf zu machen. So vorentschieden war Arens noch nicht. Er hat damals das Physikstudium begonnen, ohne genau zu wissen, wohin es ihn führen wird. Erst im Nachhinein scheint es für ihn klar vorgezeichnet gewesen zu sein. Er hat das Studium als ein klassisches Bildungsstudium betrieben, das ihm auch ganz andere Möglichkeiten eröffnet hat. Es gab nur eine Determinante, die offenbar früh
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feststand, und das ist sein Antrieb, in die Forschung hineinzugehen. Das lässt sich daran ablesen, dass der eigene Lebensweg nur aus der Perspektive rekonstruiert wird, welche anderen Forschungsfächer in Frage gekommen wären. Eine andere Berufswahl ist gar nicht thematisch. Strukturebenen der Sozialisation des Forscherhabitus: (1) Das studentische Milieu, das Department einer Universität… man hat halt einfach ’n gewissen (.) Bekanntenkreis gehabt und dann natürlich auch +wiederum (klopft)+ mh die ich denke die Fakultät also der die die Universität hat sehr viel Einfluss auf +was daraus (I: mhm) aus den Leuten wird wenn sie ne schlechte Astronomiedepartment haben dann werden nich so viele Astronomie studieren und später Astronomen werden wie wenn sie n gutes haben.
In den Blick kommt die Bedeutung des Milieus, in dem sich der Student an der Universität bewegt. Der Bekanntenkreis wird während des Studiums durch das Fach geprägt. Arens war mit Leuten zusammen, deren Bildungsinteressen sich mit den seinen überschnitten, wodurch er sich zusätzlich in die Richtung seines späteren Berufes getragen fühlte. Er war viel mit Leuten zusammen, die ihrerseits Physiker, Astronomie und Mathematik studierten und offen für Diskussionen über Sterne und Galaxien waren, sich Lesefrüchte oder Entdeckungen mitgeteilt und große Theorien erklärt haben. Es war ein Vorgriff auf spätere Kollegenschaft, aber noch ohne den Zwang zur beruflichen Bewährung. Arens glaubt dies generalisieren zu können. Diese studentischen Peer-Groups sind typisch für die Universität. Sie sind Teil des Professionsmilieus, in das man hineinwächst. Man teilt die professionsspezifischen Bildungsprozesse und sucht sich darin Unterstützer, Mentoren, Widersacher. Mit der Qualität eines Fachdepartments kommt eine weitere Strukturebene in den Blick. Gute Studenten entfalten ihr Potential dort, wo es interessant ist und wo gute Forschung gemacht wird. Arens’ Diktion ist eindeutig: Wo es keine anregende Forschung gibt, kann es auch keine gute Lehre geben, und dann taugt auch die Betreuung von Studenten und Doktoranden nichts. Ob es so ist, teilt sich den Studenten schon früh mit. Sie haben einen Riecher dafür, wo etwas interessant ist und halten sich an den Ruf einer Universität oder gehen einfach gar nicht erst hin, wenn er nicht gut ist. Das hängt immer auch an den Personen. Wo es aber interessant ist, lassen sich viele für die Astronomie begeistern. Diese Behauptung impliziert wieder den exemplarischen Charakter des Forscherhabitus. Viele Studenten kommen mit Forschungsinteressen an eine Universität, die noch nicht festgelegt sind, und sich in viele Richtungen entwickeln könnten. Es ist ein vager Spielraum von Möglichkeiten. Welches Fach sie wählen, hängt davon ab, wo eine lebendige Forschung erfahren wird und wo Gelegenheiten bestehen, in sie hineinzuwachsen. Astronom
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wird man nur, wenn ein Student auf günstige Bedingungen trifft, um seinen Forscherhabitus exemplarisch in die Astronomie hinein entwickeln zu können. (2) … die Professoren und Projektleiter wenn da der äh wenn da n Biologe gewesen wär we wenn ich aus (klopft) irgendwelchen Gründen oder n Meteorologe sagen mer mal ich hätte (.) äh ne Vorlesung über +Meteorologie (klopft)+ gehört das hätt ich schon immer hören wollen? und da me wär n bekannter Meteorologe dann hätt ich die mir vielleicht mal im Detail angehört? dann hätt mich der vielleicht so fasziniert dann hätt ich Meteorologie (.) vielleicht (I: mh) studiert. also ähm ich denke die das hängt wirklich davon ab was für Kapazitäten und Koryphäen an den Universitäten sind. also (.) die Vorbilder spielen am Anfang ne wichtige Rolle.
Koryphäen sind Professoren, die ihr Fach auf höchstem Niveau vertreten und virtuos weiterentwickeln. Nebenbei wird nochmals sichtbar, dass Arens sich immer schon an der höchsten Qualität der Forschung orientiert hat. Er wollte zur Spitze der Forschung vorstoßen und ein Maximum an Anregungsreichtum erfahren, um sich entwickeln zu können. Außerdem wird zum wiederholten Male der exemplarische Charakter der Fächerwahl unterstrichen. Der Gedanke ist Arens sehr wichtig. Es ist auffällig, dass er immer wieder die Personen betont, die Vorbild sein können. Deren Bedeutung für die Entwicklung ist in seinen Augen größer, als vorgebildete Gegenstandsinteressen des Novizen, so als ob es fast zufällig wäre, welches Fach man wählt. Dies trifft natürlich nur bedingt zu, und man sieht ja an den Beispielen (Meteorologie), dass auch Arens die Alternativen nur innerhalb eines spezifischen „Korridors“ von naturwissenschaftlichen Sachgebieten entwirft. Eine individuelle Neigung zur numerischen Mathematik und Simulation scheint er immer schon gehabt zu haben. Innerhalb des durch ihre Anwendungsgebiete beschriebenen Möglichkeitsraumes sieht er im Nachhinein verschiedene Entwicklungslinien, die er hätte beschreiten können. Er vertritt hier also eine spezifische Theorie der Entstehung einer Bildungsdynamik und was sie voranbringt. Arens sieht die Fachidentität maßgeblich durch Schüler-Meister-Verhältnisse heranreifen, in denen der Schüler eine schon bestehende Praxis antrifft, deren lebendige Forschung ihn fasziniert, deren Inhalt ihn zugleich aber auf ein spezifisches Sachgebiet festlegt, innerhalb dessen er dann seinen weiteren Bildungsweg bestreiten wird. Es ist ein Individuierungsschritt, der untrennbar mit einer Gefolgschaft für ein bestehende Forschungsprogramm verbunden ist. Zwei Prämissen sind hierbei schon vorausgesetzt: Es liegt eine habituelle Disposition für die Logik der Forschung als solche schon vor. Studenten suchen sich auf dieser Grundlage ihre Meister selbst aus, und zwar danach, wie gut, wie anregungsreich, wie exponiert sie ihre Sache vertreten. Dies ist nicht Gegenstand rationaler Planung, sondern hat auch eine affektive Seite. Die Novizen binden sich – zeitweise und vorübergehend – an die Person des Professors, die sie als sol-
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che fasziniert, und müssen sich folglich auch irgendwann wieder von ihr lösen. Die Schüler-Meister-Beziehung hat also auch diffuse Anteile. Die zweite Voraussetzung ist, dass der Professor seinerseits den Studenten annehmen muss, damit es zu einem Arbeitsbündnis kommt. Es beruht auf einer reziproken Freiwilligkeit. Dies impliziert nicht nur, dass Kapazitäten (Stellen) frei sind, um einen Doktoranden an sich binden zu können; der „Meister“ muss den Studenten auch für geeignet und fähig halten, sich in seinem Arbeitsumfeld entwickeln zu können. Professoren verfolgen hierbei natürlich sehr verschiedene Stile, Interessen und Vorlieben. Objektiv betrachtet bedeutet jedoch die Annahme eines Arbeitsbündnisses immer, dass einem Studenten/Doktoranden prinzipiell zugetraut wird, in ein Forschungsgebiet hineinwachsen zu können. Es drückt ein Urteil über Entwicklungspotentiale aus und beinhaltet deshalb eine professionsethische Verantwortung. Arens erkennt die Logik der Gefolgschaftsbildung auf verschiedenen Ebenen wieder. Sie entspricht seiner Erfahrung und seinem Typus. (3) Die Wahl des Doktorthemas da (unv.) (klopft) es gibt manche die wissen des schon von vornherein. aber ich denke das iss eher die Seltenheit. viele lassen sich einfach von jemanden faszinieren. und von einem Thema faszinieren
Man kann die Logik also nicht uneingeschränkt generalisieren. Es gibt auch Ausnahmen von Forschern, die schon sehr früh auf ihr Spezialgebiet festgelegt scheinen oder das jedenfalls von sich behaupten. Diese Wissenschaftler lassen sich von Personen kaum in ihrer Themenwahl anregen oder beeinflussen. Sie sind für Gelegenheiten der Anregung einfach nicht offen oder meiden diese Gelegenheiten sogar. Arens ist aber davon überzeugt, dass dieser Typ die Ausnahme darstellt. Der Normalfall ist, dass Studenten zu ihren Themen finden, weil sie von einem erfahrenen Wissenschaftler dazu angeregt werden, der sie ihnen aus seiner eigenen Arbeit heraus eröffnet und zwar auf eine Weise, dass sie die Themen nicht als Auftrag übernehmen, sondern ein eigenständiges Interesse entwickeln. Es sind also Themen, die eine offene Perspektive haben, ein Forschungsfeld, kein abgeschlossener Wissenskanon. und ich denke es geht auch (.) im Kleineren jetzt so weiter also die (.) Themen die ich jetzt für meine Doktoranden auswähle? die ich meinen Doktoranden vorschlage? des wird später deren (.) Hauptthema werden jedenfalls ne lange Zeit die werden darauf ihre Karriere +aufbauen (klopft)+ und werden später auf dem Gebiet arbeiten. damit (.) gebe ich schon die Richtung vor und wenn ich n Thema anbiete? was äh für die gut geeignet wär und ich biet’s schlecht an dann nehmen ses nich weil se sagen ja so was Langweiliges dann iss es nur eigentlich meine Schuld dass se das Thema nicht wählen wenn ich es gut angeboten hätte mit
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viel Elan und mit Spannung? hätten ses genommen? und damit hab ich im Prinzip deren Laufbahn vorherbestimmt.
Arens buchstabiert die spiralförmige Aufstufung der Bildungsdynamik weiter aus. Der nächste größere Schritt ist die Wahl des Doktorthemas, die innerhalb eines größeren Forschungsprogramms des Betreuers gefunden wird. Es führt einerseits in das Arbeitsbündnis noch weiter hinein, andererseits trägt es schon den Keim des Themas in sich, mit dem der Doktorand aus ihm wieder heraus und zu einem eigenen Forschungsgebiet finden und seine eigenen Forscherkarriere bestreiten wird. Arens spricht auch professionsethische Verantwortung des Projektleiters direkt an. Er ist selber in der Position, Themen ausloben und Arbeitsbündnisse anbieten zu können. Er sieht zwei Formen der Verantwortung: Einmal gegenüber der Person des Doktoranden, und einmal gegenüber der Entwicklung der Forschung selbst. Ein Betreuer muss bedenken, dass die Wahl eines Doktorthemas für den fachlichen und persönlichen Lebensweg des Doktoranden folgenreich ist und ihn erst einmal festlegt. Arens führt gar nicht aus, welche Konsequenz daraus folgt, aber es ist klar, dass es darum geht, sich überhaupt des Folgenreichtums bewusst zu sein. Der Professor hat eine gewisse Macht über Menschen und Schicksale und darf sie deshalb nicht gedankenlos einsetzen. Er muss den Doktoranden z.B. über die Randständigkeit eines Themas und die Chancen, damit eine Normalkarriere bestreiten zu können, aufklären. Er muss die Bearbeitbarkeit des Themas umreißen. Das ist eine soziale Verantwortung. Betreuer können ein Thema aber auch verbrennen, wenn es ihnen nicht gelingt, es Doktoranden nahezubringen. Das ist eine Verantwortung, die sie gegenüber der Forscherprofession haben. Die Herausforderung besteht darin, Doktoranden dazu zu bringen, sich eine Frage so zu eigen zu machen, dass sie selbständig an ihr weiterforschen. Das ist ein hochinteressanter und sehr krisenhafter Vorgang. Arens geht (a) davon aus, dass es eine kriteriale Phase gibt, in der Doktoranden offen für Themen sind. Es ist an eine lebensgeschichtliche Phase gebunden, in der sie auf der Suche sind. Er unterstellt (b) ferner, dass ein Angebot, das in dieser Phase einem Doktoranden ein Thema nahelegt, auf einer Einschätzung seiner individuellen Potentiale und Interessen beruht. und wenn ich n Thema anbiete? was äh für die gut geeignet wär… Das impliziert (c) wie selbstverständlich, dass Doktoranden nur dann an einem Forschungsthema selbständig arbeiten, wenn es sie wirklich interessiert und sie nicht nur aus Pflichtgefühl oder Statusehrgeiz sich des Themas annehmen. Es muss zu ihnen passen und dies verlangt (d), dass der Doktorvater bei der Wahl und Vorbereitung eines Doktorthemas ein Passungsverhältnis zwischen den von ihm bearbeiteten Themen, die für eine Doktorarbeit in Frage kommen, sowie der Person mit ihrer je konkreten Bildungsgeschichte erahnen muss. Dabei geht es immer um die Einschätzung der Person, ihrer Fähigkeiten und Schwächen. Für Arens geht es jedoch um etwas anderes: er betont die Verantwortung für das Wecken des Interesses.
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Arens hat offenbar die Erfahrung eines Misslingens solcher Situationen schon gemacht oder beobachtet und kennt daher die Besonderheiten dieser kritischen Phase eines Arbeitsbündnisses. Er denkt in der Logik einer geschickten Menschenführung, die weder direktiv noch manipulativ, sondern quasi geburtshelferisch operiert und anders ja auch gar keine Chance hat, zum Erfolg zu kommen. Es ist sein Geschick in Verbindung mit einer authentischen Fürsorge für die Person und das Thema, das die Verbindung herstellt. Man hat hier ein soziologisches Modell für die sozialen Prozesse der Themenfindung in der Wissenschaft. Neugierde und Faszination sind die entscheidenden Weichensteller und somit ist ein maßgeblicher Faktor der Wissenschaftsgeschichte die Fähigkeit, die Neugierde der Doktoranden auf bereitliegende Themenfelder zu lenken. wenn ich (.) des gut mache dann nehmen ses dann ist das deren Laufbahn wenn ich’s schlecht mache dann nehmen ses nicht weil se einfach nicht begeistert sind wie ich des mach? und dann machen se was anderes.
Es kommt alles darauf an, eine Forschungsfrage suggestiv zu präsentieren und offene Ansätze aufzuzeigen, wie man eine interessante Frage bearbeiten könnte. Doktoranden sind wählerisch. Sie wollen in einem Thema an ihre bisherigen Bildungsprozesse anschließen und zugleich über sie hinausgehen. Sie folgen ihrer Neugierde, aber sie wollen auch ein Thema, mit dem sie in die Laufbahn hineinkommen. Ein Projektleiter hat nur einen kurzen Zeitraum, in dem er Doktoranden für seine Themen begeistern kann. Wenn dieser Zeitpunkt verpasst wird, ist die Gelegenheit vertan. Doktoranden sind in diesem Modell die Umworbenen. Sie suchen sich andere Optionen, wenn ihnen keine interessanten Themen angeboten werden. Dies begründet auch einen gewissen Wettbewerbsdruck, der auf den Professoren lastet. Wer gute Doktoranden an sich binden will, muss im Sinne der Arensschen Logik im Besitz vieler guter Ideen sein und verbindlich in der Betreuung Angebote machen können, was natürlich auch Stellen meint. also solche äh Schritte werden laufend gelenkt von von Leuten an denen man äh sich äh so Vorbilder [unv.] (I: ja) ich denk und so war äh so ist des in vielen Sachen. (I: mhm)
Es ist wirklich interessant, wie Arens sein Argument entwickelt. Er denkt in einem mikrosoziologischen Grundmodell, dass einerseits eine Bildungsdynamik beim Doktoranden schon gegeben sieht, die diesen von sich aus auf weitere Gelegenheiten einer gesteigerten Bewährung und Individuierung hindrängen lässt, der andererseits die Fähigkeit von Professoren und Projektleitern gegenübersteht, wirklich geeignete Gelegenheiten anzubieten, die es damit in der Hand haben, ihr eigenes Forschungsprogramm zu befördern, von dem sie glauben, dass es die astronomische Forschung im Ganzen voranbringt. Dieses Modell sieht er hundertfach realisiert.
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drum kann ich mir nich vorstellen dass es ähm (1) für viele zutrifft die sagen ja ich war schon immer als Astronom das war schon vorherbestimmt. ich glaub das nich. (lacht) also für viele. (I: ja) ähh und dann selbst im in in der Astronomie die Richtung iss auch net vorherbestimmt des iss dann doch das hängt einfach davon ab was wie sich das so ergibt.
Noch einmal wird das Modell einer Bildungsdynamik bekräftigt, diesmal gegen Wissenschaftler, die eine frühe Determination oder Prägung unterstellen. Offenbar hat er sich schon mit einigen Astromomen ausgetauscht. Arens hält diese Selbstbilder für Legenden. Seine Erfahrung sagt etwas anderes. In Wirklichkeit verlaufen berufsbiographische Bildungsprozesse viel weniger zielgerichtet und erfahren erst über viele einzelne Weichenstellungen eine thematische Verdichtung. Dabei spielen Vorbilder immer eine große Rolle, und dieser Prozess setzt sich sogar nach der Fachwahl fort. und äh im Prinzip iss ja auch wurscht weil ich mein (.) man sollte das doch so sehen dass man es viel wichtiger iss dass man einfach Forscher iss. ich betracht mich jetzt nicht unbedingt als Astronom. ich seh mich mehr so als Forscher. dann iss scho wurscht (A und I lachen)
Arens bricht ab. Er findet den Streit darüber, ob ein Forscher über einen allmählichen Bildungsprozess zu seinem Fach gekommen ist oder ob er von vorneherein festgelegt war, letztlich unerheblich. Er nimmt den Streit nicht als Debatte über Modelle wahr, sondern unter dem Gesichtspunkt des berufspraktischen Selbstbildes, das daraus spricht. Arens kommt es darauf an, dass der Wissenschaftler sich mit dem Beruf als solchem identifiziert. Jener Streit rückt für ihn viel zu sehr die individuellen Differenzen der Fachidentität in den Vordergrund. Typologie von Karrieren in der Astronomie I: mhm Sie haben jetzt gerade auch äh die Laufbahn angesprochen also (.) Sie wählen äh Themen für ihre Doktoranden aus und die müssen dann ihre Karriere äh +(A: mhm) ja+ machen wie äh wie sind denn die Karrierechancen äh die A: ja ich +denke I: in der+ Astronomie A: ich denke es iss halt doch ähm (2) es kommt immer drauf an die un [unv.] äh jede Gesellschaft leistet sich den Luxus ne gewisse Zahl von Astronomen zu beschäftigen um eben da weiterzukommen. und es kann nur ne begrenzte Zahl sein das iss +auch (I: ja)+ ganz klar und dementsprechend gibt’s Konkurrenzkampf. iss auch ganz klar. kann nit jeder werden. wär ja auch irgendwo wie beim Fußball da kann net jeder en guter Fußballer werden und bezahlt werden. des geht halt einfach nicht. und des muss ausgewählt werden
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Abschließend kommt noch ein neues Thema zur Sprache. Im Prinzip ist das Argument ganz einfach: Die Profession hat ein Budget, das ihr von der Gesellschaft zur Verfügung gestellt wird, und diese Mittel reichen nicht aus, um allen Kollegen eine gleichwertige soziale Existenz innerhalb der Profession zu ermöglichen. Deshalb konkurrieren die Nachwuchswissenschaftler miteinander in dem Wissen, dass es nicht jeder schaffen wird, in der astronomischen Forschung Karriere zu machen. Das ist im Prinzip auch gut so, denn es sorgt dafür, dass sich alle anstrengen. Nur die relativ Besten werden die Forschung zu ihrem Beruf machen können. Dies wirft natürlich die Frage auf, welche Voraussetzungen ein Wissenschaftler erfüllen muss und wie die Auswahl und Berufung praktisch organisiert ist. und man muss (.) viel arbeiten man muss flex ich denke ganz wichtig in der Astronomie ist die Flexibilität man darf nicht immer am selben Ort sitzen und man darf nicht sagen ich muss (.) sagn wer mal in Heidelberg möchte ich meine Karriere beenden und da möcht ich sitzen weil das geht net. äh (I: mhm) da kriegt man bestimmt keine Stelle in Heidelberg. es wäre sehr unwahrscheinlich das was frei wird und das se grad für einen stimmt. man muss also flexibel sein man muss mal ins Ausland gehen können und dann hat ma gewisse Voraussetzungen och den Beruf einzuschlagen. mh des iss ganz wichtig? (räuspert sich) und da scheiden sich schon mal viele mh die Geister also es gibt (.) Doktorranden die gehn nich (.) die gehen weg einfach weil sie sagen meine Frau die ist Lehrerin (.) in Baden-Württemberg oder wo und die hat find wo anders kein Job und die möchte den Job weitermachen es iss mir sehr wichtig. Familie iss mir sehr wichtig ich möchte hier bleiben die gehn dann weg. die selbst wenn se gut wär’n. aber die würden’s nie schaffen weil die einfach nicht flexibel sind. ähm (.)
Ein Kriterium ist die Leistungsbereitschaft, ein Arbeitsethos und Fleiß. Ein anderes Kriterium ist die Bewährung in unterschiedlichen Arbeitsumgebungen und die Fähigkeit, die Standorte nach eigenen Bedürfnissen zu suchen und dabei auch den heimischen Standort wechseln zu können. Man muss sich der Stellenlage anpassen und sich diejenigen Projekte suchen, die zu einem passen. Man muss in der internationalen Forschung zu Hause sein, was man nur erreicht, wenn man mehrere Standorte und auch das Ausland kennengelernt hat. Flexibilität setzt voraus, dass es keine lokale Sesshaftigkeit gibt, an die der Forscher gefesselt ist. Lebenspartner, die beruflich gebunden sind, Kinder, die man nicht mehr aus ihrem Freundeskreis herausreißen möchte, können zu einem wirklichen Hindernis der Karriere werden. Erfolgreiche Forscher müssen sich ein familiäres Milieu um sich herum aufbauen, das jene Flexibilität mitträgt. Dies setzt Einvernehmen zwischen den Ehepartnern voraus und auch, dass den Kindern ein mehrmaliger Umzug zugemutet werden kann. Das schaffen einige Kollegen jedoch nicht. und dann gibt’s die andere Gruppe die (1) wo man schon sieht dass die einfach nich so viel aufstecken. die die machen ihre Sachen und so aber da fehlt einfach bissl die Intuition dafür
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die äh die ähm äh die die sehen da keine Perspektiven die wüssten jetzt alleine net was se eigentlich als nächstes machen sollen warum wie des weiterlaufen soll (.) nich? also die die kommen auf keine Ideen? für die iss des auch nicht geeignet.
Der erste Typus war der unflexible, an sein lokales Herkunftsmilieu gefesselte Wissenschaftler. Der zweite Typus ist der wenig inspirierte, wenig kreative Forscher, der sich nicht selbständig neue Fragestellungen erschließen kann und deshalb immer von anderen Forschern abhängig bleibt und im Schatten eines Forschungsprogramms steht, das andere aufgestellt haben. Er wird auch dann, wenn er mehrere Standorte kennengelernt hat, kein eigenständiges Profil entwickeln. Dieser Typus konvergiert mit dem Molekularbiologen, den Sattler meinte, als er über die Wissenschaftler sprach, die in die Industrie gehen, weil sie dann überhaupt nicht mehr denken müssen. und dann gibt’s die dritten? die eben wirklich erstmal flexibel sind die (.) des machen die auch engagiert sind die eigene Ideen entwickeln und die haben ne gute Chance. und des sind dann äh dann äh können’s auch wiederum nicht alle werden. das iss dann immer noch wird dann ausgewählt? und manche die wandern dann von einem Posten zum nächsten immer so auf Zeitverträgen? kommen dann vielleicht auch irgendwann unter oder manchmal auch nicht. das ist dann natürlich (.) das iss die Gruppe die die iss relativ arm dran.
Die dritte Gruppe erfüllt alle Kriterien, ist also qualifiziert genug, flexibel, war mal im Ausland und hat eigene Projektideen entwickelt. Aus ihr rekrutieren sich die Berufsforscher, aber es gibt selbst hier kein automatisches Weiterkommen, weil die Stellen nicht ausreichen. Deshalb bildet sich innerhalb dieser Gruppe ein akademisches Proletariat, das sehr lange auf Zeitverträgen sitzt, ohne klare Aussicht auf eine Lebenszeitstelle zu haben und in der Profession ein prekäres und zermürbendes Schicksal tragen muss. (I: mhm) die gibt’s immer wieder mal. es immer so es gibt’s alles. man kann einfach da nicht für alle sorgen es iss immer noch zu wenig. nich? äh das ändert sich jetzt etwas weil ja jetzt die Dienstrechtsreform kommt? wie sie vielleicht wissen Hochschulrahmengesetz da wird es jetzt so sein dass man nach zwölf Jahren iss Schluss. also bisher konnte man immer noch auf Zeitverträgen da und da und da fünf Jährchen machen? und inzwischen iss es so dass man mit Doktorarbeit mh insgesamt nur noch zwölf Jahre machen kann und dann (.) iss a iss Sense. und des iss also en gewisses Ende. da kann man nur noch auf Projektverträgen für zwei Jahre sitzen das ist natürlich (1) werden viele versuchen? iss aber net unbedingt sehr gut und ich mein ich find’s gut dass man irgendwo mal sagt Leute ihr müsst euch das überlegen macht’s denn überhaupt noch Sinn habt ihrs seht ihr denn noch ne Chance weil wenn man älter wird wird’s auch immer schwieriger. und wenn ma ma sagen wir mal fufzig iss und immer noch ka Stelle gefunden hat dann würd ich mal äh iss es im Prinzip schon vorbei
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Arens bezieht sich auf die Neuregelungen zum Dienstrecht, die von der rot-grünen Bundesregierung in der Amtszeit von Kanzler Schröder und der Ministerin Edelgard Bulmahn zwischen 2002 und 2006 umgesetzt wurden. Die angesprochene Regelung besagte, dass Wissenschaftler nur noch 6 Jahre vor einer Promotion und 6 Jahre nach einer Promotion an Universitäten angestellt werden dürften, wobei 2 Jahre „geschoben“ werden konnten, wenn der Promotion nur 4 Beschäftigungsjahre vorausgingen. Zeitweise hatten sich die Institutionen der Drittmittelfinanzierten Forschung diese Regelung zu eigen gemacht, doch dann wieder schrittweise aufgehoben. Zum Zeitpunkt des Interviews war diese Regel jedoch aktuell und beherrschte lebhaft die wissenschaftspolitische Diskussion. Arens enthält sich im Prinzip einer politischen Stellungnahme, kann der Regel aber doch einen Sinn abgewinnen, weil er von ihr den Appell ausgehen sieht, eine schlechte Routine zu durchbrechen, die er bei vielen seiner Kollegen offenbar sieht, die trotz schwindender Chancen auf eine feste Stelle innerhalb der wissenschaftlichen Karrieremusters verbleiben und ihre Ausstiegschancen damit von Jahr zu Jahr vermindern. Arens nimmt hier nicht die Perspektive der Wissenschaftspolitik ein, welche das System Wissenschaft mit der Novellierung des HRG steuern wollte, sondern die private Perspektive der Kollegen und Professionsangehörigen. und der Nachteil ist der mit fufzig findet man in der Industrie auch nix mehr. des iss dieses Problem mit diesen (.) Leuten was macht ma dann mit denen. nich ähm des iss schon ein Problem. gibt’s immer wieder.
Es ist ein Dilemma, weil die Betroffenen einerseits aus eigener Kraft eine Vollkarriere nicht schaffen und dauerhaft in einer prekären Lage verharren werden. Andererseits gehören sie aber zur Profession dazu und man kann sie nicht einfach kalt „abservieren“. Denn es gibt eine soziale Fürsorgepflicht der Profession für alle ihre Angehörigen. Die Frage unterstellt dies: Was macht man mit denen? Arens hat aber auch keine Lösung und wendet sich wieder den Kriterien für eine erfolgreiche Karriere zu. aber ich würde mal sagen wenn einer sehr engagiert iss (I: ja) und wirklich was aufsteckt und man sieht das auch ähm man sieht ja wie die Leute mit einem reden man kann immer jemand fragen wie findst du mich und ich sag meinen Doktorranden klipp und klar wie wie ich sie sehe. ob se im Mittelbaufeld sind ob se extrem gut sind das sage ich denen weil nur so können se planen. des muss man fairer Weise sagen +und nur (I: ja)+ der Betreuer de (.) sagt des.
Es gibt zwar Kriterien, deren Erfüllung die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Karriere erhöhen, doch es gibt keine Gewissheit, dass es wirklich klappen wird. Mit dieser Ungewissheit muss der Forscher leben, und darum benötigt er eine gute Selbsteinschätzung seiner Potentiale und seiner Qualität. Um diese Selbstein-
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schätzung geht es hier. Es gibt Anzeichen, die man wahrnehmen und bedenken sollte, und die man abfragen sollte. Man sollte vor dem Problem eines möglichen Scheiterns nicht die Augen verschließen und sich naive Illusionen machen, sondern auf die Fremdeinschätzungen durch andere hören. Es gibt auch hierbei eine professionsethische Pflicht der Projektleiter und Doktorandenbetreuer, die Nachwuchswissenschaftler darüber aufklären sollten, wo sie stehen. Diese Pflicht ist manchmal leicht und manchmal unangenehm, wenn man ein illusionistisches Selbstbild zerstören muss. Es geht aber nicht anders, wenn man zu der Überzeugung gelangt ist, dass sich jemand verrennt. also wenn Sie da zum Kollegen gehen der wird Ihnen net sagen ja Du vergiss es doch. des iss doch ganz klar. des sagt er sagt der doch nich so. ich mein man hört’s aber natürlich indirekt schon raus wenn (.) wenn ma was getan hat und man wird einfach nicht zitiert. dann hat ma schlechte Karten.
Die Pflicht des Betreuers ist sogar nochmals gesteigert, weil er der einzige ist, den man wirklich um ein Urteil bitten und eine ehrliche Antwort erwarten kann. Kollegen, die nicht befreundet sind, verhalten sich sehr viel zurückhaltender und würden von sich aus niemals ihr Urteil offen aussprechen, sofern sie überhaupt eines haben. Man kann es aber indirekt erschließen, wenn die eigenen Beiträge im Diskurs keinen Widerhall finden und nicht berücksichtigt werden. Dies ist natürlich ein schwieriges Argument, denn es kann ja auch immer sein, dass eine bedeutsame Leistung einfach vom Betrieb ignoriert wird. Arens hat hier eine sehr hohe Meinung von der Qualität des Diskurses in der Astronomie. Wenn etwas nicht aufgegriffen wird, ist dies in seinen Augen ein Anzeichen dafür, dass der Beitrag eine Debatte nicht weitergeführt hat, und darauf kommt es an: dass ein Autor zu dem Ruf gelangt, eine Debatte stellvertretend für die Profession weitertreiben zu können. Wenn ihm dies nicht gelingt, bleibt er ewig randständig und wird auch nie wissen, ob seine Arbeit eine Bedeutung für den Erkenntnisfortschritt hat. Zitiert werden ist also das Anzeichen einer gewissen Bewährung, aus dem wiederum abgeleitet werden kann, ob man in dem Konzert der Mitstreiter eine Chance auf eine Professur hat. das dann läuft’s einfach nicht so wie man es gerne hätte dann liegt’s vielleicht am Betreuer? liegt’s am (.) weil Amerikaner zitieren einen ja so und so? die zitieren sich nur selber nich das ist diese alte Geschichte ne man kennt seine Pappenheimer aber man hat so’n (.) man kriegt da schon so n Gefühl wie kommt man denn so an (.) und ähm ich denke wenn man man kann des mit mit fünfundreißig weiß man schon (.) ob man’s schafft dreißig fünfunddreißig das. da weiß man +eigentlich (klopft)+ ob ma wie gut die Karten sind. (.)
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Arens erwägt verschiedene naheliegende Einwände. Der Diskurs ist nicht immer authentisch. Auf manche Anzeichen kann man sich nicht uneingeschränkt verlassen. Es gibt Zitierkartelle. Doch auf lange Sicht hält Arens das Kriterium für aussagekräftig, dass eine fachliche Bewährung innerhalb des Diskurses Widerhall finden wird. ja also ich würd sagen die die wirklich sehr engagiert sind die kriegen auch ne Stelle. (I: ahja) also es liegt viel an einen selber. wie (.) (klopft) was man da macht. aber offen kann man viel ich denke man kann auch viel mit Fleiß machen. was man also nicht mit Intuition machen kann kann man doch mit Fleiß auch schaffen. (.) das iss (.) das iss halt sehr hart. also (.) des iss das Problem (3) ja 40
I: ja +(unv.) (Klappern)+ würd ich sagen
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A: ja? machen wir Schluss?
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I: ja machen wir Schluss
Kapitel 4. Die Wissenschaft als Profession Zusammenfassung und Ausblick
Von der Fallrekonstruktion zur Theoriebildung
Die Methode der Fallrekonstruktion stellt den Wissenschaftler vor spezifische Herausforderungen. Eine davon ist das Darstellungsproblem, eine andere die Gesamtauswertung. Wofür steht jeder einzelne Fall, wofür stehen alle Fälle zusammen? Während eines Projekts sammelt sich eine Vielzahl an Fällen an, deren innere Ordnung sich erst allmählich aufklärt. Dazu muss man die Fälle aufeinander beziehen und nach Gemeinsamkeiten und Differenzen fragen. In dieser Arbeit ist dies bislang erst eingeschränkt erfolgt. Die einzelnen Fallanalysen standen im Vordergrund. Nun soll die Perspektive gewechselt werden und die Gesamtheit der Fälle im Zusammenhang betrachtet werden. Mit diesem Schritt gehen wird von der Fallrekonstruktion zur Strukturgeneralisierung über. Die verschiedenen Fallanalysen werden nochmals aufgerufen. Im Vordergrund stehen aber nicht mehr die Details der Fälle, sondern die strukturellen Konvergenzpunkte, die in den Fallanalysen immer wiederkehren.
R EVIEW
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Die von uns behandelten Fälle entstammen drei Fachgruppen: Neurowissenschaftlern, Entwicklungsbiologen und Astrophysikern. Die ersten Interviewpartner waren Wissenschaftler eines neurowissenschaftlichen Forschungsgroßprojekts, das an einem anatomischen Institut angegliedert war. Diese Interviews bildeten das Material, an dem sich die ersten Kontrastverhältnisse zeigten. Ein erster wichtiger Befund gleich zu Beginn erfolgte in Reaktion auf die Frage danach, ob es etwas gebe, das die Interviewpartner an ihrer Arbeit fasziniere. Alle Befragten bestätigten dies, wenn auch auf verschiedene Weise. Je älter und erfahrener die befragten Wissenschaftler, desto mehr wird deutlich, dass es die Forschertätigkeit selbst ist, ihre Dynamik und Krisenhaftigkeit, von der die Faszination ausgeht, und nicht, was ja auch erwartbar gewesen wäre, in erster Linie der konkrete Untersuchungsgegenstand, an dem je aktuell gearbeitet wird. Das kann man in sich als Ausdruck einer habituell
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auf Dauer gestellten Hinwendung zu immer wieder neuen Forschungsprozessen werten. Sodann ist es die Herausforderung, einem Geheimnis auf die Spur zu kommen, ein Rätsel zu lösen, Licht in ein Dunkel zu bringen, Entdeckungen machen zu können. Die eigentliche Faszination ist darin begründet, dass die Forschung immer einen Schritt weiter geht, dass sie Neuland erschließt und schon der Weg zu diesem Neuland nicht vorgezeichnet ist und erst gefunden werden muss. Die Interviewpartner haben für diesen Aspekt der Logic of Discovery verschiedenste Redewendungen, die wir schon in der Zwischenbetrachtung zusammen getragen haben. Einer Sache auf die Schliche kommen, auf die Spur kommen; ein Geheimnis lüften, etwas aufdecken; ein Rätsel lösen, ein Puzzle zusammenlegen, eine Nuss knacken, einer Sache auf den Grund gehen, das Würzele wissen wollen, den Schlüssel zu einem Geheimnis finden, eine Tür aufstoßen; ins Innere vordringen; ein Fenster öffnen; in die Tiefe gehen, etwas herausbekommen. Alle Redeweisen unterstellen eine Widerständigkeit der Realität, die durch Klugheit und Überlegung, aber auch durch Erproben und Erfahrung überwunden werden soll. Der erste Fall, Hellwein, ist auch deshalb instruktiv, weil es sich um einen Forscher handelt, der eine Entwicklung von der medizinischen Praxis über eine gerichtspathologische Option zur Hirnforschung genommen hat. Diese Herkunft nutzt er, um die Krisenzugewandtheit zu skizzieren. Um ihretwegen ist er in die Wissenschaft gegangen. Ärztliches Handeln ist ihm noch zu sehr von Routinen geprägt, langweilt ihn letztlich, weil sich die intellektuelle Herausforderung irgendwann in Routinen auflöst, meint er. Die Blinddarmoperation war sein Beispiel. An der Forschung fasziniert ihn die permanente Erneuerung der Herausforderung, dass man, bedingt durch die Erkenntnisdynamik, heute noch nicht weiß, was man übermorgen tun wird, aber schon davon ausgehen kann, dass man nicht dieselben Fragen und Materialien bearbeiten wird, weil sich diese aus der gegenwärtigen Arbeit erst ergeben werden. Hellwein hat ein klares Bewusstsein von der Forschung als einer auf Steigerung angelegten, sich ins Zukunftsoffene hinein entwickelnden und erst noch bewährenden Krisenlösung, aber er kennt zugleich sehr genau die enormen Unwägbarkeiten des Gelingens der Forschung und die immensen Mühen, die die Alltagsroutinen dem Wissenschaftler abverlangen, bevor man zu einem und wenn auch nur winzig kleinen Befund kommt, den man verwerten kann und der einen weiterbringt. An Hellwein lässt sich ablesen, dass der Forscherhabitus (bei ihm) schon in der Jugend vorbereitet wird, da der Vater, von Hause aus Anästhesist, ihn in der entscheidenden Phase adoleszenter Berufsfindung rät, ein Praktikum im Labor seiner Klinik zu machen. Diese Episode reicht schon aus, uns klar vor Augen zu führen, dass er die Routine der Medizin nicht will, aber sehr wohl den Reiz der Labortätigkeit. Erkrankungen des Blutes, der Blutzellen werden zum Einstieg in die Welt der molekularbiologischen Forschung. Hier ist das Thema der biographischen Ur-
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sprungskonstellation wie nebenbei vorbereitet, ohne dass nach ihm gefragt worden wäre. Es dient der Illustration einer frühen Verzweigung der Habitusbildung. Ebenfalls durch Hellwein wird das Thema des exemplarischen Charakters des eigenen Forschungsgegenstandes eröffnet. Er kann sich problemlos auch andere Interessengebiete vorstellen, auf die ihn sein Forscherdrang hätten führen können, auch wenn er dort (etwa in der Geschichte, Archäologie) notgedrungen Laie geblieben ist. Auch dieses Motiv taucht später immer wieder auf (z.B. bei Bertram, Sattler, Martens) und am deutlichsten vielleicht bei Arens, der sagt, dass es im Grunde gleichgültig ist, woran man forscht. Für ihn ist die Betonung früher Festgelegtheit auf den eigenen Forschungsgegenstand eine falsche Überinszenierung eigener Fachidentität, die das allgemein Berufsförmige der Wissenschaft nur verdeckt. Für Arens kommt es darauf an, „dass man Forscher“ ist. Der zweite Fall, Frau Bertram, war für uns interessant, weil sie Hellweins Modell von der Faszination der Wissenschaft einerseits bestätigte, andererseits im ersten aufschlussreichen Kontrast dazu die zukunftsoffene und nie stillstehende Dynamik der Forschung mehr vom Persönlichen aus betrachtete. Dies fügte der Faszination Hellweins, ansonsten damit identisch, eine zusätzliche, nahezu religiöse Dimension hinzu, welche die untrennbare Kopplung von Beruf und ganzem Menschen zusätzlich heraushob. Für Frau Bertram besteht die Herausforderung darin, mit der Dynamik der Forschung und ihren weltweit operierenden, den Stand der Forschung ständig vorwärtstreibenden Kraftzentralen mitzuhalten. Dies abverlangt ihr einige Anstrengungen. Sie will diese aber aufbringen, ja muss es, weil sie sich vor einem Lebensentwurf bewähren will, der von ihr fordert, sich als ganze Person stets weiterzuentwickeln, „fachlich, persönlich und menschlich“, was sich für sie in der Wissenschaft realisiert, wenn man mit deren Dynamik mithält. Die Herausforderung der Wissenschaft erschien vor diesem Hintergrund auch als eine Art Korrektiv gegen das vorzeitige Erlahmen und Erstarren des Lebens in Routinen des Status quo. Gleichzeitig kennt Frau Bertram den Horror, mit ihren Kräften den Anforderungen der Wissenschaftsdynamik irgendwann nicht mehr gewachsen zu sein. Sie muss heute schon kämpfen. Daraus spricht eine Auffassung, die das Leben selbst als einen in die offene Zukunft hineinführenden Bildungsprozess begreift und an diesem Prozess dauerhaft partizipieren möchte. Krisenbewältigungsprozesse sind für Frau Bertram etwas Gutes, eine Quelle von Kraft und Erneuerung. Dabei hat sich dieser Lebensentwurf untrennbar mit dem Wissenschaftsberuf verkoppelt. Er ist das Feld der Bewährung, das es ihr ermöglicht, sich als ganzer Mensch weiterzuentwickeln und alle Dimensionen, die ihr wichtig sind, abzufordern. Ein ganz anderer Punkt ist die Nicht-Standardisierbarkeit der Problemlösungen, die ihr in der Wissenschaft abverlangt werden. Angesichts dieser Nicht-Standardisierbarkeit muss sie sich aus einem kaum überschaubaren rasanten Forschungsgeschehen immer wieder passende Methoden und Instrumente für ihre Projekte her-
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aussuchen. Dies ist eine große Belastung. Frau Bertram ist Mutter eines Kindes, aber die Faszination ist doch so kräftig, dass sie den Spagat zwischen Forschungslabor und Muttersein, Projektarbeit und Kinderfürsorge irgendwie aufrechterhält. Ein weiterer Aspekt ist ihre Verankerung in der Nachwuchsbetreuung. Sie ist stolz, von ihrem Fach zur Lehre berufen worden zu sein. Das ist für sie ehrende Anerkennung und Verantwortung zugleich. Sie repräsentiert ihr Fach, gibt ihr Wissen weiter, das zugleich als kanonisiertes Wissen des Fachs durchgearbeitet sein muss. Eine Professionalisierung spricht insbesondere daraus, dass sie Studenten nicht als Schüler, sondern als Kollegen behandelt und sich nicht bloß als Wissensvermittlerin sieht, die ein Curriculum transferiert und abprüft, sondern dass sie Novizen auch beizubringen hat, was der Beruf an menschlichen Anforderungen mit sich bringt, z.B. mit Frustrationen über Rückschläge und Irrgänge umgehen zu müssen, die unausweichlich und völlig normal sind. Herr Fendel, unser dritter Fall, Habilitand der Neurowissenschaften, wendet das Faszinosum des Unbekannten wiederum so, dass ihn die sich urplötzlich dargebotenen Chancen besonders reizen, einer Sache auf die Schliche zu kommen. Es sind Chancen, die durch einen Durchbruch bei der Entwicklung von Instrumenten und Methoden eröffnet wurden, ohne den es keinen Ansatz gegeben hätte, eine Forschungsfrage in ein konkretes Untersuchungsdesign zu übersetzen. Fendel, der offenkundig ein hochqualifizierter, ambitionierter Forscher ist, tut sich dennoch schwer, seine Faszination, die ihm klar vor Augen steht, sprachlich gewandt auszudrücken. Er hatte sich jene Frage nach dem Faszinierenden bislang selbst noch nicht vorgelegt und nimmt mehrere Anläufe. Ein methodischer Durchbruch, von dem er sehr profitiert, hat seinem Forscherleben enorm Auftrieb gegeben. Er ist in diese sich auftuende Lücke hineingestoßen und ganz und gar damit beschäftigt, die Implikationen des Durchbruchs forschungspraktisch auszuarbeiten. Für metatheoretische Reflexionen darüber, was er eigentlich tut, hat er kaum Zeit und Muße. Dennoch oder gerade darum werden eine ganze Reihe von Aspekten der Professionalisierung deutlich sichtbar. Fendel reizt der sportive Wettbewerb, der sich aus dem Wissen ergibt, dass es in demselben Forschungsgebiet viele Mitstreiter gibt und man die richtigen Lücken besetzen muss, obwohl man zugleich auf die Kooperationen mit diesen Konkurrenten angewiesen ist. Wie schwierig eine solche Kooperation sein kann in seinem Forschungsgebiet, zeigt sich an seinen Schilderungen. Das erfolgreiche Labor in Göttingen musste die Mausmutante bekanntgeben, wollte aber zugleich die nächsten Verwertungsoptionen für sich, was ihm in gewissen Grenzen von der Fachcommunity auch zugestanden wurde. Es konnte aber gar nicht alle sinnvollen Anschlussforschungen alleine ausführen, weder von den Ressourcen und Kapazitäten her gedacht, noch intellektuell. Zugleich gab es das Labor von Fendel, das die Mausmutante für seine Zwecke gut gebrauchen konnte. Bevor es zu
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einer Partnerschaft kam, mussten jedoch Gegenleistungen definiert sein: die Leute mussten herausfinden, ob sie „miteinander können“ und Vertrauen in die wissenschaftliche Redlichkeit und Qualifikation der Gegenseite haben. Die Entdeckung sollte nicht aufgrund von Unfähigkeiten reputationslogisch „verbrannt“ werden. Solche Verhandlungen vollziehen sich ähnlich wie geschäftliche Kooperationen zwischen Unternehmen, allerdings unter der Vorbedingung, dass es letztlich nicht um einen kommerziellen Gewinn geht, sondern um das Abschöpfen eines Potentials zum Vorteil des wissenschaftlichen Gemeinwohls, dem man verpflichtet bleibt. Der vierte Fall, Herr Bertram, Biologe und Teilprojektleiter, gibt dem auch bei ihm anzutreffenden Forscherhabitus die spezielle Note einer geforderten Bereitschaft zum Tüfteln und experimentierfreudigen Aufgeschlossen-Sein für neue Techniken und Methoden als Schlüssel zu neuen Ansätzen der Laborforschung. Er könnte als stumpfer Handwerker und Ingenieur der Labortechniken missverstanden werden, den Sattler als hochqualifiziert, aber ohne philosophische Fragestellung charakterisierte. Doch das Gegenteil ist der Fall. Bertram kommt es nur darauf an, dass die Wissenschaft nicht alleine unter dem Aspekt ihrer inhaltlich aufregenden Herausforderung betrachtet wird, sondern auch aus der Perspektive, dass die Forschungsdynamik sich aus einer immer wieder von Neuem zu erweiternden, zugleich von Erstarrung und Ausgereiztheit bedrohten labortechnischen Seite her ergibt und das Arbeiten an zu erprobenden Erhebungs- und Messverfahren ein unverzichtbarer Lebensquell aller Forschung ist; ein eigener, wenn auch hinter den großen Entdeckungen verdeckter Strang des wissenschaftlichen Bildungsprozesses. Darin erweist er sich nicht als Bricoleur, der losgelöst von inhaltlichen Fragen vor sich hin werkelt, vielmehr als jemand, der seine Studenten und Doktoranden frühzeitig in diese wichtige Herausforderung hineinziehen will. In ihm kommen die Lust an der Erschließung neuer technisch-apparativer Möglichkeiten zusammen mit einer außerordentlichen Akribie und Detailtreue im Laboralltag. Geerdet ist dies in der Forschung zum Nervus Opticus als des Modellsystems, an dem sein SFB arbeitet. Da er offenbar ein begabter Laborpraktiker ist, ist er als Ansprechpartner bei seinen Kollegen sehr beliebt und der heimliche Leiter der Labors seines Sonderforschungsbereichs. Aus dieser Sonderstellung als Homo paedagogicus innerhalb der Forschung entfaltet sich seine Schilderung des Forscherhabitus. – Auch Bertram verweist auf eine früh schon in der Schule einsetzende Entschlossenheit zum Forschen, auch wenn er sich zugleich nicht auf Biologisches festgelegt sieht, was erneut das Exemplarische des Bildungsweges unterstreicht und aufzeigt, dass seine eigentliche Faszination in der Logic of Discovery selbst begründet ist, die man bei ihm in besonderer Form von ihrer labortechnischen Seite belegt findet. Herr Schluchter, der fünfte Fall, stammt aus einem bildungsfernen Elternhaus und ist zunächst, auch nach dem Studium noch nicht auf eine Laufbahn innerhalb der
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Wissenschaften vorbereitet. Er ist Sportler und wählt mehr notgedrungen denn aus eigenem Antrieb das Studienfach Biologie, denn in Vorbereitung auf das Lehramt benötigt er zwei Standbeine. Auch im Studium erschließt sich ihm diese Naturwissenschaft nicht. Erst als er im Referendariat seinen Schülern biologische Sachverhalte nahebringen soll, eröffnet sich ihm dieses Fachgebiet, weil er gezwungen ist, sich bereits erworbenes Studienwissen aus der Perspektive lernender Kinder und Jugendlicher klar zu machen. Eine erneute, zweite Aneignung, die ihm den Sinn vieler Entdeckungen überhaupt erst nahebringt. Doch eine zweite gegenläufige Erfahrung besteht in einer fremdbestimmten Routine des Lehreralltags. Er will sich nicht ein Leben lang willkürlichen Lehrplänen unterordnen. Viel zu sehr regen sich sein Autonomiestreben und ein Ideal von Sachhaltigkeit, die ihn in die universitäre Wissenschaft zurückleiten. Denn hier hatte er bereits erste Erfahrungen mit Forschungsvorhaben gemacht, in einer an der Optimierung von Trainingsmethoden und -Geräten interessierten Untersuchung zum Skilanglauf, die Teil seines Examens in den Sportwissenschaften war. Dort hatte er, ohne dass er eine Existenz in der Forschung sich schon hätte vorstellen können, den Reiz des Datenerhebens, Messens und Auswertens kennengelernt und eine an Statusautorität oder rhetorische Präsenz und Lautstärke nicht gebundene Diskussionskultur, in der die Geltungskraft der Argumente aus der Objektivität und Sachhaltigkeit von Daten sich bezieht. Vor dieser Kultur sind alle gleich – ein wichtiges Motiv bei Herrn Schluchter. Das damit verbundene Kommunikationsklima, das wechselseitige Anerkennung und die Lust am kollegialen Austausch fordert und honoriert, fand er in der schulpädagogischen Praxis zu wenig realisiert, sogar konterkariert. Es wäre für Schluchter auf eine Unterwerfung hinausgelaufen. Erst diese negative Schulerfahrung jedoch treibt ihn in die Wissenschaft zurück, der vom Herkunftsmilieu vorgezeichnete Berufsweg ist versperrt. Also muss er nach Alternativen Ausschau halten. Der Gang zurück in die Biologie wäre gleichwohl nicht möglich gewesen, wenn es nicht die positive Erfahrung gegeben hätte, zum erlernten Studienwissen erstmals eine persönliche Beziehung entwickelt zu haben. Er hat sich im Erklären-Müssen vor den Schülern die Fragen des Fachs neu angeeignet, man kann sagen: ihre Krisenhaftigkeit erschlossen, und dadurch nachholend und über Umwege eine intrinsische Beziehung zum Fach doch noch ausgebildet, was zeigt, dass eine biographische Ursprungskonstellation der Wissenschaftslaufbahn keineswegs immer in der frühen Jugend lokalisiert sein muss, sondern auch später (sogar nach abgeschlossenem Studium) noch erfolgen kann. Allerdings scheint es ein universeller Sachverhalt zu sein, dass sie irgendwann vor oder während des Doktorats einsetzen muss. An Schluchter kann man – wie auf andere Weise an Sattler – studieren, dass es möglich ist, auch ohne eine entsprechende Vorbereitung im sozialisatorischen Herkunftsmilieu in die Forschung hineinzufinden. Darin zeigt sich die Wirksamkeit einer „Professionalisierung von unten“, die sich in der mutigen Hinwendung an die gestellten Handlungsprobleme der Forschung auch dann vollzieht, wenn eine wis-
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senschaftliche Laufbahn weder beabsichtigt, noch erhofft wird, sondern als biographische Option sich eher unerwartet auftut. Schluchter hatte jedoch verstanden, dass er sich diese Option erschließen kann, wenn er sich gegen alle Unwägbarkeit auf sie einlässt. Diese ersten fünf Fälle liefern eine weitreichende erste Bestätigung unserer professionalisierungstheoretischen Grundthese von der Krisenzugewandtheit des erfahrungswissenschaftlichen Habitus. Auf der Folie ausgeprägter Differenz in der Milieuherkunft und den Umständen zeigt sich dieser Habitus als etwas Allgemeines, auf das hin alle Fälle konvergieren. Es machte vor diesem Hintergrund gar keinen Sinn, die Reihung der Fälle auf dieselbe Weise fortzusetzen, vielmehr war angezeigt, solche Fälle zu suchen, die das sich abzeichnende Bild irgendwie noch korrigieren oder aufbrechen oder auf weitere Dimensionen hin beleuchten könnten. Der sechste Fall, Frau Glasner, kann als ein solcher Überprüfungsfall gelten. Frau Glasner, Doktorandin der Biologie, hatte bereits mehrere Stellen in ihrem Heimatland und anderen Max Planck-Instituten inne, bevor sie zu der Forschergruppe stieß. Ihre Antwort auf die Eingangsfrage fiel als einzige der Interviews so vage und unkonkret-programmatisch aus, dass fraglich schien, ob sie von der Forschung als solcher wirklich fasziniert sein könnte. Sie faszinierte „das Leben“ als System. Ohne Zweifel eine begabte und lerneifrige Schülerin interessierte sie sich für biologische Systeme nicht aus Freude an der Erschließung von etwas Neuem, sondern weil sie ambitioniert wie zur Selbstvergewisserung ihrer enzyklopädistischen Lernbegabung stets an der vordersten Linie des wissenschaftlichen Wissens dabei sein wollte. Im Grund war sie aber auf der Stufe einer Gymnasialschülerin stehen geblieben und hängt einer Naturbewunderung an, die sich immer erst aus dem feststehenden Wissen über die Komplexität der Natur ergibt. Dabei schien sie auf der einen Seite sehr naiv, ohne rechten Sinn dafür, woher jenes Wissen eigentlich kommt und wie viele Einzelschritte und Mühen erforderlich sind, damit es einen Grad an Geltung erfährt, der vor den Fachkollegen der Biologie Bestand hat. Auf der anderen Seite schien ihr eine quasi-kindliche, an den Naturerscheinungen ästhetisch interessierte Naivität völlig abzugehen. Diese Dimension der Natur fehlt bei ihr völlig. Sie präsentierte sich mehr marketingmäßig als Naturfreundin, als dass sie eine solche wirklich gewesen wäre. Hakte man im Interview nach, zeigte sich ihre ganze Ambivalenz und Verzweiflung angesichts eines Forschungsprojekts, in dem sie zwar ihre Dissertation schreiben will, aber keinen Zugang findet zu einem Laboralltag, der einen bis in den Abend und über die Samstage hinweg fordert und deren Protagonisten sie darum auch nicht würdigen und als Vorbilder ansehen kann. Sie sieht sich vielmehr in ein Milieu versetzt, in dem Leute den Ton angeben, die in ihren Augen borniert und überehrgeizig um der Karriere willen sich gegenseitig ausstechen würden und kein Leben außerhalb des Labors mehr kennen. Wie dort
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echte Erkenntnis entsteht, will ihr nicht recht einleuchten, sie hält alles für Taschenspielertricks, nichts genügend diskutiert und theoretische Aussagen letztlich von Autoritäten vorentschieden. Da sie sich auf die Logic of Discovery nicht wirklich einlässt, fehlt ihr ein Verständnis für die Forschung als eine ins Ungewisse vorgewagte Krisenlösung, deren Unwägbarkeiten nur derjenige kennt, der sich in ihr selbst bewegt und Schritt für Schritt vortastet, während sie demjenigen verborgen bleiben muss, der wie Frau Glasner immer nur vom schönen Ergebnis aus denkt und für die Unwägbarkeiten keine Geduld aufbringt. Ihre Kollegen sind für sie daher scheuklappenverengte Laborknechte, welche sich für weitergehende kulturelle Geschehnisse nicht interessieren, während sie sich ihnen subjektiv darin überlegen fühlt, weil sie über den Tellerrand des Labors hinaus schaut und die großen Theorien im Blick hat. Die Vergemeinschaftung mit diesem Milieu, die sie ursprünglich wohl suchte, misslingt, weil sie von gänzlich falschen Erwartungen ausgeht und diese dann philosophisch überfrachtet, aber auch, weil sie das Feld nicht zu betreten wagt, das sie zum Mitspieler machen würde. Denn um dazuzugehören, muss man natürlich ein Mosaikstein beitragen. Man kann am Fall Glasner besonders gut studieren, wie sich angesichts eines drohenden beruflichen Scheiterns, das unverkennbar im Raume stand, bereits eine Legende über die Ursachen vorbereitet. Glasner zeigt eine Bewusstseinsformation, die sie über die Laborrealität auf der Folie einer kulturkritischen Intellektualität aus urteilen lässt. Sie tut so, als wüsste sie immer schon alles vorher. Sie kann das Nichtwissen nicht aushalten. Ihre Sache ist die große Theorie. Wenn sie diese nicht im Handumdrehen bekommt, kann auch der lange Weg, auf dem die dicken Bretter gebohrt werden, nichts wert sein. Dieser muss darum entwertet und in seinen Wahrheitsansprüchen in „schlechter Verallgemeinerung“ grundlegender angezweifelt werden. Es ist eine Haltung, die letztlich zu konstruktivistischen Relativierungen der Wahrheitsfähigkeit jeder Wissenschaft neigen muss, weil sie selbst einmal an ihr gescheitert ist, aber es sich nicht eingestehen kann. Die Möglichkeit ihres Gelingens muss begrifflich zerstört werden, weil nicht begriffen wurde, warum und woran man persönlich gescheitert ist. Diese Intellektualität ist einerseits eine Reaktion auf das Scheitern, birgt andererseits aber auch schon die Ursache des Scheiterns in sich, denn wenn die Konfrontation mit der Anforderung abgewehrt wird, sich im Forschungsprozess auf das Detail zu konzentrieren, nimmt sie sich selbst jede Chance, etwas Substanzielles zur Entwicklung übergreifender Theorien beitragen zu können. Das Detail ist das Nadelöhr empirischer Forschung, und die Forschung ist das Nadelöhr jeder Theoriebildung von substanziell bleibendem Wert. Eine kulturkritische Intellektualität steht diesem Verständnis von Erfahrungswissenschaft zugleich gekränkt und kämpferisch gegenüber, sie muss ihr den Anspruch auf Wahrheit bestreiten, oder sich zurückziehen. Hinter der immer wieder in neuem Gewand auftretenden skeptizistischen Wissenschaftskritik steht daher wissenssoziologisch betrachtet oftmals auch ein persönliches Scheitern und Ausschluss
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von Gelehrten, die, wie man es hier angedeutet findet, trotz großer geistiger Begabung den Einstieg in eine professionalisierte Forschungspraxis nicht finden oder an ihren Spannungen scheitern, ohne dass sie ihre intellektuelle Ambition aufgeben könnten. Für die Geschichte der Erfahrungswissenschaften ist ein Scheitern an ihren sich steigernden Anforderungen keineswegs selten. Oft war die Philosophie ein Auffangbecken für eine intellektuelle Wissenschaftskritik, und deren Vertreter waren für die Geschichte der Erfahrungswissenschaften keineswegs immer unbedeutend oder unproduktiv. Man muss aber doch genau unterscheiden: Die Philosophie hat sich immer wieder auch als Korrektiv gegen etablierte Weltbilder im Wissenschaftsbetrieb behauptet, wenn es ihr gelang, eine im Forschungsbetrieb systematisch vernachlässigte Dimension der Totalität eines Gegenstands material sichtbar zu machen. Nietzsche oder Marx, Wittgenstein oder Merleau-Ponty waren auf ihre Weise Wegbereiter der Erschließung einer neuen Gegenstandsdimension, und ihr Werk führt letztlich in die Erfahrungswissenschaften zurück. Und das gilt erst recht für avantgardistische Wissenschaftler wie Mead, Peirce oder Freud, die jeder auf ihre Weise Ausgeschlossene oder Gescheiterte am etablierten Wissenschaftsbetrieb waren und zugleich hochproduktive Erneuerer. Man wird ihnen sogar eine gesteigerte Professionalisierung kaum absprechen wollen. Auf der anderen Seite kann das Scheitern am Wissenschaftsbetrieb jedoch auch unproduktive und zerstörerische Folgen für die Professionalisierung annehmen, wenn Vertreter einer kulturkritischen Intellektualität in der Erfahrungswissenschaft verbleiben und sie nicht verlassen, um „von Innen die Scheiben einzuwerfen“. Das heißt, wenn sie mit ideologiekritisch entlarvendem Impetus die Diskurse vor sich hertreiben, und dabei Argumente benutzen, die nur oberflächlich an einem empirischen Material gewonnen sind, letztlich aber ein Aufschließen von Strukturen aus einem Material fortdauernd bestreiten. Für eine hochgradig professionalisierte Wissenschaft wie die Biologie war zu prognostizieren, dass Leute wie Frau Glasner nicht lange in ihren institutionellen Karrierepfaden verbleiben könnten, ohne mit ihrem Scheitern offen konfrontiert zu werden. Aber gilt dies heute noch für alle Fächer? Der Fall Glasner wurde auch deshalb ausführlich behandelt, weil er als interessanter Falsifikator anzusehen war. Wie kann das Ausscheiden Frau Glasners, das ja tatsächlich erfolgte, interpretiert werden? Wir hatten es nicht als Scheitern des Modells, sondern als Scheitern der Disposition von Frau Glasner an der geforderten Professionalisierung der Biologen gewertet, und methodologisch argumentiert, dass man zwischen Falsifikationen des theoretischen Modells durch einen konkreten Fall und dem praktischen Scheitern eines Handlungssubjekts an diesem Modell in der Realität selbst unterscheiden müsse. Eine zugegeben schwierige, aber notwendige Unterscheidung. Im ersten Fall wäre das Modell widerlegt, im zweiten jedoch im Gegenteil seine Gültigkeit nur umso stärker herausgearbeitet. Denn am praktischen Scheitern sieht man, dass dem Modell in der Realität eine harte Widerständigkeit
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und Unhintergehbarkeit der Strukturlogik wissenschaftlichen Handelns korrespondiert. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Frau Glasner nicht nur an ihrer Forschergruppe sozial, sondern ebenso an ihrer Forschung selbst intellektuell gescheitert ist; und dieses Scheitern wäre völlig fehl interpretiert, wenn man darin im Sinne einer sozialkonstruktivistischen Sichtweise nur ein anderes Konzept von Wissenschaft gescheitert sähe, das für sich genommen funktionieren würde und nur aufgrund lokaler Umstände aufgelaufen ist. Vielmehr kann aufgezeigt werden, dass mit der Haltung, die im Interview zum Ausdruck kommt, eine auf Erkenntnisfortschritt ausgerichtete Forschung unter keinen Umständen vorstellbar ist. Wir haben es mit einer Strukturlogik zu tun, an der man in der Praxis selbst scheitern kann, und dieses Scheitern liegt hier vor. Man sollte diese Tatsache nicht durch ein entsprechendes Frisieren oder Weichspülen der Modelle kaschieren oder leugnen, vielmehr als Bestätigung der Annahme ansehen, dass eine Professionalisierung der Erfahrungswissenschaft nur gelingt, wenn es zu einer echten Verbindung von Berufsrolle und ganzer Person, von konkreter Forschung und persönlicher Bildungsgeschichte kommt. Nur wenn ein Mensch an den typischen Handlungsproblemen in die Routinen der Forschung hineinwächst, entwickelt er einen Habitus. Damit ist nicht gesagt, dass es auch problematische Verhaltensweisen von Laborchefs oder Kollegenverhältnisse geben kann, die einen an sich auf die professionalisierte Forschung erfolgversprechend hinstrebenden Karriereweg erschweren oder zur Hölle machen können. Oder dass manche Naturen hieran sogar scheitern können. Aber dies ist kausalanalytisch etwas anderes und muss auch so diskutiert werden. Es gibt nicht wenige professionalisierte Wissenschaftler, die sich nach zermürbenden Niederlagen aus der harten akademischen Karriere zurückgezogen und auf Ratsstellen oder in Bibliotheken Nischen im Wissenschaftsbetrieb gesucht haben, ohne dass man deshalb irgendwelche Abstriche bei ihrer Professionalisierung machen müsste. Was also in den ersten fünf Fällen als Gemeinsames des Forscherhabitus konvergierte, zeigt sich auch noch am Fall Glasner, nur ex negativo, also daran, dass etwas fehlt. Obwohl sonst alle institutionellen Kriterien einer wissenschaftlichen Professionalität vorliegen (wie ein erfolgreiches Studium, Zeugnisse, Aufnahme als Doktorandin), ist etwas Entscheidendes nicht gegeben: der Forscherhabitus. Diese Haltung kann man leicht übersehen, wenn man sich an den klassifikatorischen Merkmalen der Professionsdebatte orientiert und keinen begrifflichen Zugang zu dieser Habitusformationen mitbringt. Man geht den Parolen und Selbstbildern auf den Leim und wird von programmatischen Äußerungen leicht in die Irre geführt. In der Zusammenschau der ersten sechs Fälle zeigt sich, dass es ganz und gar falsch wäre, den hier sichtbar werdenden Habitus als Ausdruck einer verinnerlichten Instruktion oder institutionellen Norm zu begreifen, so als würde uns hier nur präsentiert, was eine berufslegitimierende Diskursstrategie von Wissenschaftlern fordert oder was sie um der positiven Rechtfertigung ihrer Existenz willen sagen müssen,
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wenn sie nach ihrem Beruf gefragt werden. Wir haben es hier weder mit strategischen Äußerungen, noch, mit Ausnahme einer Passage bei Arens, mit programmatischen Selbstbildern zu tun, sondern mit einer Disposition, die nur in den geringsten Anteilen bewusst reflektiert ist, und manchmal noch gar keine Sprache für das hat, was sie sagen will. Daher die spontanen Improvisationen. Aus den Äußerungen spricht die Verankerung in einer Handlungslogik, in der sich die Interviewpartner und auch noch Frau Glasner aufgrund ihrer Forschungstätigkeit bewegen, wenngleich Frau Glasner als einzige jene Handlungslogik nicht verinnerlichen kann und als sicher fremdbestimmend empfindet, weshalb sie sich von ihr ja auch wie von einem einzwängenden Korsett lösen muss. Für die anderen zeigt sich diese habituelle Disposition als Folge eines sukzessiven Hinweingewachsenseins in die Handlungsprobleme, deren verinnerlichte Routinen von einer positivierten, vom persönlichen Erfolg getragenen Bildungsgeschichte angetrieben werden. Der siebente Fall, Herr Sattler, machte den komplexesten und auch umfassendsten Fall aus. Seine Bedeutung liegt weniger darin, ein neuer Kandidat der Falsifikation zu sein, zu schnell zeigt sich das Gegenteil. Sein Gewinn liegt vielmehr im Facettenreichtum und der Anschaulichkeit komplexer innerer Zusammenhänge des Forscherhabitus, die in zahlreichen seiner Handlungsdimensionen ausbuchstabiert werden, was nur möglich wird, weil wir auch auf die Fragestellung seiner Forschung inhaltlich einzusteigen bereit waren. Eine Fallvignette kann hier nur noch abkürzend wiedergegeben werden. Sattler leitet als vergleichsweise jung berufener Direktor eines international renommierten Instituts eine Forschergruppe mit etwa 20 Mitarbeitern. Seiner Gruppe liegt ein Forschungsansatz zugrunde, der als ein Durchbruch erachtet werden kann, wenngleich dieser Ansatz innerhalb seiner Disziplin noch nicht zum Mainstream geworden ist. Ausgangspunkt ist eine Entwicklung, die vor ca. dreißig Jahren einsetzte und damals neue, aus der Genetik gewonnene molekularbiologische Verfahren mit der Erforschung der Evolution der Arten zu verbinden strebte: Die Erforschung der Arten auf der Ebene des Genoms. Wie sind die anatomischen und morphologischen Merkmale einer Art im Genom abgebildet und wie kommt es dort zu Veränderungen, die langfristig neue Merkmale oder gar Arten hervorbringen? Das Neue war, dass man solche Fragen im Labor angehen konnte. Man benötigt hierzu eine exemplarische Tier- oder Pflanzenart, ein sogenanntes Modellsystem, dessen Genom entschlüsselt ist und das sich aufgrund seiner Eigenschaften für die Laborforschung eignet. An einigen wenigen solcher Modellsysteme, z.B. an der Fruchtfliege untersuchte man zahlreiche Mutanten und wie diese Mutationen im Genom sich darstellten. Eine der überraschenden Einsichten war damals, dass sich die Arten hinsichtlich ihrer Gene viel weniger unterscheiden, als man von der makroskopischen Differenz der Arten aus erwarten müsste. Entgegen den Erwartungen entsprechen den großen morphologischen Unterschieden nicht große Unterschiede
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im Genom. Eine weithin geteilte Konsequenz dieser Forschungslage war, dass der Zusammenhang zwischen Genom und Ontogenese besser untersucht werden müsse, und die Evolutionsbiologen begannen, sehr differente Arten – „Fliegen“ und „Elefanten“ – miteinander zu vergleichen. Herr Sattler gehörte zu den ersten, die aus diesem Weg ausscherten und alternativ dazu den Vergleich von in der Abstammungslinie sehr nahen Verwandten propagierten. Er war der Ansicht, dass nur so eine Chance besteht, Verzweigungsstellen wirklich aufdecken zu können. Dies hatte auch zu tun mit einer Deutung der damaligen Forschungslage. Da offenbar schon eine kleine Differenz im Genom ausreicht, um jene großen morphologischen Unterschiede zu bewirken, sagen die Gene selbst über diese Differenz offenbar noch nicht so viel aus, und es gibt noch weitere, aufsattelnde Mechanismen der Embryo- und Ontogenese, die trotz gleicher Gene zu differenten Entwicklungen führen. Ein und dasselbe Gen macht einmal dies und das andere Mal etwas anderes; „bei der Fliege die Flügel, bei der Maus das Bein“. Man kommt der Evolution jener Folgemechanismen allerdings nicht auf die Spur, wenn man allzu weit entfernte Artverwandte miteinander vergleicht. Man hat keine Vergleichsfolie, die man kontrollieren kann. Man benötigt einen Vergleichspartner, der demselben Vorläufer entstammt und es erlaubt, auf den gemeinsamen Vorläufer zurück zu schließen, um eine nach verschiedenen Richtungen vollzogene Abstoßbewegung zu rekonstruieren. Es geht nicht um Analogien, sondern um „Homologien“, wie Sattler dies nennt. Sattlers Arten sind die Nematoden. Diese Würmer sind mikroskopisch klein, lassen sich leicht züchten und haben einen überschaubaren Organismus. Es gibt zahlreiche Mutanten und die Arten zeichnen sich durch eine hohe Polymorphie aus. Außerdem sind Sattlers Arten Hermaphroditen. Das Vorgehen sieht so aus: Man sucht Mutanten beider Arten, diese nutzt man, um eine Funktion der Morphologie mit dem für sie verantwortlichen Gen in Verbindung zu bringen. Ein Mutant wird mit seiner nicht mutierten Stammlinie morphologisch verglichen und das veränderte Gen identifiziert. Hat man ein Gen und eine Funktion zugeordnet, kann man zwischen den beiden Wurmarten vergleichen. Was macht ein bestimmtes Gen in der einen Art und was in der anderen? Sind an einer Funktion immer dieselben Gene beteiligt oder weichen die Arten voneinander ab? Was wären dann mögliche Ursachen? Alles zielt darauf ab, eine gemeinsame Grundstruktur zu entschlüsseln, die wahrscheinlich auch dem Abstammungsvorfahren zugrunde lag, um auf dieser Folie die Verzweigungen erklären zu können. Dieses Vorgehen wird nochmals heruntergebrochen in der Konzentration auf die Genese der Vulva. Was Sattler in seinem auf viele Jahre angelegten Vorhaben rasch bestärkte, war die überraschende Tatsache, dass trotz denkbar enger genetischer Verwandtschaft der Nematoden die morphologischen Unterschiede riesengroß waren. Es zeigten sich reichhaltige Unterschiede der Onto- und Zellgenese sowie der Funktionen einzelner Gene. Dies bestätigte die Annahme, dass viele Gene mehrere Funktionen ha-
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ben und bei verschiedenen Effekten beteiligt sind. Es wurde erneut deutlich, dass die Funktion der Gene nur verstanden werden kann, wenn man die artspezifische Morphogenese jeweils genau analysiert. Für die Biologie geht damit auch eine Phase zu Ende, in der erhebliche Mittel auf die Entschlüsselung des Genoms verwandt wurden, was nicht selten medial überinszeniert als entscheidender Durchbruch beim Verständnis des Lebens propagiert worden war. Denn es stellt sich nun heraus, dass man mit der Sequenzierung der DNA das Leben noch nicht verstanden hat, oder, wie Martens es ausdrückte, man hat damit nur die Buchstaben und vielleicht einige Grammatikbausteine gewonnen. Aber lesen kann man den Text noch nicht. Sattler spricht sehr viele Handlungsprobleme des Laboralltags an, die wir nicht noch einmal alle detailliert ansprechen können. In der Zusammenschau mit den anderen Fällen treten allerdings einige Probleme besonders hervor und lassen sich weiter herauspräparieren. Diesen Handlungsproblemen ist eigen, dass Forschen als ein Rätsellösen in eine offene Zukunft hinein sich beständig zwischen den beiden Polen des Standardisierbaren und des Nicht-Standardisierbaren, von Krise und Routine bewegt und diese beiden Pole sich in unvermeidlichen Antagonismen niederschlagen, die im Forschungsalltag ausgehalten und im Gleichgewicht gehalten werden müssen. Die Professionalisierung des wissenschaftlichen Handelns besteht vor allem darin, diese Antagonismen nicht einseitig aufzulösen, sondern als unvermeidbare Normalität anzuerkennen, ihnen gegenüber eine Haltung einzunehmen und sie als Herausforderungen beständig ernst zu nehmen. Folgende Polaritäten lassen sich benennen: Der Wissenschaftler hat mit großer Geduld eine Masse von Einzeldaten zu erheben; zugleich darf er nie aus den Augen verlieren, für welche Frage und Hypothesenprüfung die Daten erhoben werden. Er hat sich auf ein einmal gewähltes Teilproblem sowie die stets begrenzte Aussagenreichweite der auszuwertenden Daten zu konzentrieren, zugleich hat er seine Befunde ständig auf eine übergeordnete Fragestellung rückzubeziehen und in ein großes Ganzes einzutragen. Das Zustandekommen und die sinnvolle Vergleichbarkeit der Daten muss akribisch geprüft werden, die Konzentration gilt der Validität und Genauigkeit eines Protokolls; zugleich darf man in der Beachtung auch noch so kleiner Details nicht ermüden und muss sich einen Sinn bewahren für das, was auf etwas Unbekanntes verweist und noch nicht gedeutet werden kann. Die Auswertung von Daten ist nüchtern und kritisch gegen jede Form von Übergeneralisierung zu schützen, sie muss exakt und detailtreu erfolgen; zugleich darf man Einladungen zur spekulativen Überlegungen nicht ausschlagen, wenn sie sich ergeben. Datenerhebung und -Auswertung muss kontrolliert erfolgen und den Regeln einer Methode entsprechen; zugleich muss ein Datenmaterial gegen den Verdacht eines Irrtums auf seine Authentizität hin getestet werden. Messungen, Aufzeichnungen, Experimente müssen wieder und wieder durchgeführt werden, denn bei einer Erhebung kann technisch gesehen ständig etwas schief gehen, z.B. können Präparate kaputt
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gehen. Dabei darf man sich nicht zu schade sein, auch stumpfsinnige Prozeduren mehrfach zu wiederholen. Zugleich darf der Routinealltag sich aber nicht verselbständigen und muss bei jeder Operation klar bleiben, wie sie sich zum Gegenstand der Gesamtuntersuchung verhält. Deshalb müssen spektakuläre Befunde gewissenhaft gegen jede Ungeduld wieder und wieder auf ihre Belastbarkeit überprüft werden, zumal wenn sie substanziell neue Einsichten versprechen. Einerseits gilt es, die Grenzen des natürlichen Wahrnehmungsapparates durch technologische Innovationen zu überschreiten und tiefer in das Unbekannte vorzudringen; andererseits muss der Wissenschaftler seinen Geräten misstrauen und seine gerätevermittelten Aufzeichnungen gegen den Verdacht des Artefakts prüfen. Bei alledem haftet dem erheblichen zeitlichen Aufwand stets eine nicht restlos tilgbare Ungewissheit an, ob der Aufwand letztlich lohnen wird. Wissenschaftler bewegen sich darum zwischen einer enthusiastischen Begeisterung für neue Daten und Befunde, auf deren Wert für ihre Erkenntnisinteressen sie sich begierig stürzen, einerseits, und einem professionellen Misstrauen gegen die Daten und ihr Zustandekommen, andererseits. Sie verfügen über eine aus Schaden klug gewordene Vorsicht, die die Zuverlässigkeit der Befunde lieber einmal zu viel prüft, als sich zu früh mit einer Entdeckung aus dem Fenster zu lehnen und zu blamieren. Die hieraus entstehenden Kontrollroutinen beherrschen den Alltag des Labors zu 90 Prozent. Sie „verfolgen“ auch noch die Institutsdirektoren und Laborleiter, weil diese ihre Doktoranden und Mitarbeiter, von denen sie eine solche Akkuratesse noch nicht erwarten können, zu ihr anhalten und engmaschig nachkontrollieren müssen, was „ihr Labor“ verlässt. Denn letztlich fallen Fehlleistungen auf sie selbst zurück. Zum professionellen Misstrauen gegen die Daten gesellt sich ein professionelles Misstrauen gegen die Methoden. Dieses Misstrauen ist nicht pauschal wissenschaftsskeptisch, sondern ein Korrektiv der zugrundeliegenden Überzeugung von der rationalen Erschließungskraft der Methoden. Das Misstrauen erwächst aus einem Verständnis für die Irrtumsqualitäten und typischen Artefakte einzelner Methoden und einem Bewusstsein davon, dass einzelne Daten nie die Totalität eines Gegenstandes wiedergeben. – Sattler hebt an mehreren Stellen die Wichtigkeit eines genauen Beobachtens hervor. Dahinter verbirgt sich die Forderung nach dem Öffnen der Sinne für den Gegenstand, wie er sich der ästhetischen Primärerfahrung vor aller methodeninduzierten Datenzugerichtetheit präsentiert. Die Widerständigkeit einer nicht in Begriffen aufgehenden Gegenstandswelt soll sich darin bemerkbar machen können. Es ist ein lustvoll erschließendes, kein voyeurhaft auf bekannte Effekte wartendes Beobachten. Maßgeblich an ihm ist eine Aufmerksamkeit für das Unbekannte. Das beginnt wieder als Geduldsprobe. Wissenschaftler müssen sich darin üben, ihre Sinne z.B. am Mikroskop oder in der freien Wildbahn stundenlang auf ein Untersuchungsobjekt zu konzentrieren, um mit der Neugierde für das Unscheinbare jeder Äußerung eines vielleicht noch nicht Bekannten nachzugehen. Das Beobachten ist also kein unmotiviertes Öffnen der Sinne für ein Durchströmen
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willkürlicher Eindrücke, vielmehr ein Sehen, das gezielt auf ein im Bekannten sich dartuendes Unbekanntes achtet und nachschaut, wenn sich etwas zeigt, das so nicht erwartet worden war. Ein fallibilistisches Sehen, davon geleitet, das erwartete Wissen auf eine Probe zu stellen, um es zu erweitern. Das setzt voraus, dass jeder Stein immer wieder von neuem umgedreht werden muss, auch wenn er schon oft umgedreht wurde. Für Sattler als Biologe ist die Beobachtung der Anfang vieler wichtiger Entdeckungen und eine schwierig einzulösende Forderung, mehr eine Gabe, als eine handwerkliche Technik. Dies hängt damit zusammen, dass es zu einer habituellen Übung geworden sein muss, die für die Wissenschaft typische Umkehrung des Verhältnisses von Krise als Normalfall und Routine als Grenzfall bis in die Wahrnehmungsorganisation des Wissenschaftlers hinein immer wieder zu vollziehen. Auch Wissenschaftlern gelingt dies nicht als Ausfluss einer Routine. „Es sind schon viele Leute an großen Entdeckungen vorbeigegangen.“ Die Polarität besteht in einem genauen Beobachten und gleichzeitig einer gewissenhaften Konzentration auf das Herstellen eines Protokolls der Beobachtung. Die Beobachtung alleine ist nichts. Sie findet ihre Vollendung erst im genauen Beschreiben einer Beobachtung. Denn wie bereits in der Einleitung argumentiert wurde und sich hier bestätigt, wird ein Ereignis erst in einem Protokoll der Flüchtigkeit seines Erscheinens entrissen und methodischer Auswertbarkeit zugänglich. Für die Naturwissenschaften gilt allerdings anders als für die Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften, deren Gegenstand selbst sprachlich konstituiert ist, dass Beobachtungsdaten aufgrund ihrer nichttextförmigen indexikalischen Natur überhaupt erst verbalisiert werden müssen. Ohne dies wüsste man gar nicht, worüber genau eigentlich verhandelt wird. Ein genaues Beschreiben fordert eine möglichst große Gestaltgenauigkeit, und die hierbei gewählten Prädikate und Begriffe müssen über deiktische Formeln hinausgehen und etwas aufschließen. Was Sattler hauptsächlich sagen will, ist: Das genaue Beschreiben schult die Genauigkeit der Beobachtung selbst, denn unter dem Zwang, dem „Kind einen Namen“ geben zu müssen, betrachtet man sich etwas nicht nur genau; man fragt auch sprachkritisch danach, ob es im Arsenal der Theoriesprachen eigentlich schon angemessene Begriffe gibt, die eine Sache ausdrücken. Die Polarität von Repräsentanz und Repräsentiertem, von Sprache und unprädiziertem Gegenstand wird damit selbst einer methodisch kontrollierten Operation unterworfen. Der Forscher ist dazu angehalten, die Sprache seiner Beschreibung an die ästhetische Erfahrung zurückzubinden und damit geht umgekehrt seine sprachvermittelte, durch die Möglichkeit der Prädikation von etwas Unbekanntem konstituierte Erkenntnisfähigkeit in die Wahrnehmungsorganisation seiner Beobachtung selbst schon ein, die als Modus der sinnlichen Erkenntnis der begrifflichen Erkenntnis eigentlich vorweg geht, und leitet sie an. Darin wiederholt sich eine Polarität, die man nun eigens herausheben kann. Wissenschaftler dürfen bei allen Anforderungen den Blick für das Ganze nicht verlieren, obwohl sie sich die meiste Zeit mit der Analyse von Details befassen. Sattler
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arbeitet diese Spannung genau heraus und liefert ein entsprechendes Modell für die Biologie. Man kann es aber auf die anderen Wissenschaften problemlos übertragen. Die Laborwissenschaft bewegt sich zwischen den beiden Polen der Zerlegung der Phänomene bis herunter auf kleinste Einheiten; in Sattlers Fall noch unterhalb der Zelle auf die Ebene der Enzyme und Proteine, einerseits; und einer „philosophischen“ Idee des Forschungsgegenstandes, die das Ganze der Natur selbst repräsentiert, andererseits. Sattler ist sich völlig im Klaren darüber, dass jenes Zerlegen und Forschen am Detail als Folge eines bewussten Herunterbrechens der Großforschungsfrage auf die Ebene molekularer Vorgänge auch große Gefahren des Verzettelns und des Sich Verlierens in einer an Theorie verarmenden, empiristisch verkümmerten Detailforschung mit sich bringt. Dennoch propagiert er diesen Weg und hält ihn für den einzig gangbaren und zeitgemäßen. Denn die heutigen molekularbiologischen Methoden erlauben eine „mechanistisch“ lückenlose Erschließung entwicklungsbiologischer Kausalitätsbeziehungen, also eine theoretische Aussage über Evolutionsprozesse aus der Untersuchung einzelner Arten und Modellsysteme. Sattlers Korrektiv ist die Treue zu einer allgemeinen biologischen Fragestellung, in der er persönlich fest verankert ist und die für ihn eine Art Kompass darstellt, mit dem er sich immer wieder erdet. Ohne eine solche persönliche Verankerung in einer philosophischen Ausgangsfrage würde sich kein Fundament für eine Projektforschung bilden, und derjenige, der sie nicht erfahren hat, stößt auch nicht zu den wirklich interessanten Spezialfragen seines Fachs vor. Die Verankerung in einer solchen Frage resultiert letztlich aus der ästhetischen Erfahrung und im Falle Sattler bereits mit der Kindheit einsetzenden Bewunderung für ein elementares Rätsel der Natur, aus der sie ursprünglich hervorgeht und an der sie sich auch in der Gegenwart immer wieder erneuert. „Der philosophische Bezug? Das ist die Natur draußen!“ Die Rückwendung an jene ästhetische Ausgangsbasis ist wie ein Korrektiv aller die Natur auf dem Seziertisch des Labors bis ins Kleinste zurechtschneidenden methodischen Zurichtung. Diese ist gleichwohl notwendig, um in den Gegenstand weiter vorzudringen. Wir brauchen an dieser Stelle nicht eigens herausheben, wie gut diese Befunde zu der These von der Mußekrise und ihrer Verankerung in der ästhetischen Erfahrung passen. Wichtig ist, was durch den Fall Sattler hinzukommt: Ohne dieses Korrektiv würde der Wissenschaftler sich und seinen Gegenstand irgendwann in vereinzelten und zusammenhanglosen Teilprojekten verlieren. Die Verankerung in einem elementaren Forschungsfach – Botanik, Zoologie, Mikrobiologie – ist nach wie vor wichtig. Es würde nichts Neues mehr aus der Laborforschung erwachsen, wenn der rahmende Bezug nicht mehr hergestellt werden könnte. Sattler ist hier ein Zeuge gegen die Vorstellung, Forschung würde sich im Zuge fortschreitender Ausdifferenzierung in betriebsförmige Einzelprojekte auflösen, deren Personal nur noch durch technische Skills, angeeignete „Kompetenzen“
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und handwerkliche Methodenfertigkeiten, nicht mehr durch persönliche Leidenschaft und Bindung an die Sache geleitet würde. Um diesen Punkt klar zu machen, wählt Sattler den Vergleich zwischen dem mit einem Rätsel verheirateten Forscher und einem diesbezüglich „ledigen“ Industrieforscher, der irgendwann aus der Grundlagenwissenschaft abwandert, weil ihm eine Gabe zur Erneuerung aus einem philosophischen Bezug heraus abgeht. Fraglos sind die Industrieforscher nicht die schlechteren Wissenschaftler, oftmals sogar besser qualifizierte, arbeitsverrückte Methodenspezialisten. „Aber der philosophische Bezug, der ist einfach nicht da!“ und deshalb kann sich jener Industrieforscher auf Dauer gesehen immer nur in den Dienst einer Aufgabe stellen, die andere ihm vorgeben. Von ihm selbst aus erneuern sich die Forschungsfragen nicht. Er ist ein Handwerker der Methoden, dessen geistige Fruchtbarkeit sich letztlich auf diese beschränkt. Sattler schildert seine eigene philosophische Frage, die nach der Formenvielfalt des Lebens als die entscheidende, alles begründende Frage der Evolutionsbiologie. Wir wissen aus anderen Interviews, von Martens, dass es auch noch andere Zugangswege zur Biologie gibt. Für Martens ist es die Differenz von belebter und unbelebter Materie. Es kann an dieser Stelle aber nicht darum gehen, aus dieser Abweichung einen Streit darüber zu konstruieren, ob es eine einzige erste und letzte Frage einer jeden Disziplin gebe und welches diese sei. So ist es auch weder von Sattler, noch von Martens gemeint. Vielmehr sollte an dieser Stelle herausgehoben werden, dass es einen solchen philosophischen Bezug unabdingbar geben muss. Er ist daran gekoppelt, dass es eine in der Lebensgeschichte verankerte persönliche Überzeugung von der Elementarität und Wichtigkeit der Frage gibt, und diese Überzeugung wurzelt nicht alleine in einer ästhetischen Erfahrung, sondern resultiert auch daraus, dass ein Wissenschaftler sich sein gesamtes Fachwissen unter dem Eindruck dieser ästhetischen Angeregtheit für einen Sachverhalt erschlossen hat. Er stößt sein ganzes Leben immer wieder auf dieselbe Grundgestalt einer sich erst allmählich abzeichnenden Frage, die er am Anfang theoriesprachlich vielleicht noch gar nicht prägnant ausdrücken kann und deren formelhaft verdichtete Präsentation immer das Resultat einer nachträglichen Rekonstruktion ist. Es ist die Rekonstruktion dessen, was einen immer schon fasziniert hat und was man hinter den Diskussionen und Detailforschungen seines Fachs als roten Faden wiedererkennt. – Zu einer solchen Rekonstruktion seiner Faszinationsgründe dringt nicht jeder Wissenschaftler vor und wahrscheinlich kommen auch nicht alle zu einer formelhaften Verdichtung, sondern vor allem diejenigen, die sich mit ihrem Forschungsprogramm besonders exponieren und ihre Forschungsidee in der Lehre oder anlässlich eines Drittmittel- oder Berufungsverfahrens vor einer Jury vertreten müssen. Hier ist es nämlich gefordert, dass man eine Antwort auf die Frage nach den Grundfragen diskursadäquat und präsentationslogisch herausgearbeitet hat und in den berühmten fünfzehn Minuten so suggestiv sagen kann, was einen beschäftigt, dass die
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Frage eine Gefolgschaft findet. Auch dies ist ein Aspekt der Krisenhaftigkeit des Wissenschaftsberufs: Wissenschaftler sind Protagonisten ihrer Fragestellung. Aber sie sind nur dann keine Steckenpferdforscher, wenn ihre Frage zugleich eine Frage des Fachs ist und dieses voranbringt. Es gibt sicherlich nicht beliebig viele dieser philosophischen Fragen, was für sich genommen interessant ist: Was sind die gleichbleibenden konstitutiven Grundfragen eines Faches? Und was sind, wenn man an unser Ausgangsargument denkt, ästhetische Erfahrungen und Phänomene, an denen sie sich entzünden können? Diese Fragen stellen sich nicht nur für die Biologie, sondern für alle naturwissenschaftlichen Fächer, und natürlich auch für die Geschichte, Ökonomie, Ethnologie oder Soziologie. So reizvoll es wäre, dieser Frage hier weiter nachzugehen: Eine Antwort müssen wir an dieser Stelle nicht leisten. Für die Professionsforschung ist immerhin interessant, dass eine verbindliche Antwort in der akademischen Praxis selbst gegeben werden muss, und zwar von denjenigen, die ihr Fach in der universitären Lehre vertreten, von den Dozenten und Professoren. Diese sind es ihren Studenten schuldig, jene Fragen suggestiv einzurichten, wenn sie ihren Ehrgeiz darauf setzen, ihr Fach als Forschungsfach einzurichten. Dabei würde eine Studie zweifelsfrei ergeben, dass es eine kanonische Einheitlichkeit in Vorlesungen und Seminaren kaum gibt. Gleichwohl sollte man sich davon nicht täuschen lassen und nicht auf eine Beliebigkeit schließen. Letztlich oszilliert ein Fach um seine Kernfragen und konvergieren die je individuellen Zugangsweisen. Es muss sie sich allerdings angesichts eines je aktuellen Forschungsstandes immer wieder neu aneignen, und wie man die Fragen genau einzurichten hat, ist natürlich selbst Gegenstand der Kritik und des Streits in einer Disziplin. Schließlich: Der Fall Sattler wirft die schwierige Frage nach den sozialisatorischen Voraussetzungen für die Heranbildung eines Forscherhabitus auf, eine Frage, die von der Sozialisationsforschung bislang kaum gestreift wurde. Im Zusammenhang mit der Genese eines Habitus orientiert man sich letztlich am Konzept der Rollenübernahme, mit dem man die hier in Frage stehenden krisenhaften und die ganze Person in Einheit mit der Berufsrolle fordernden Bildungsprozesses kaum fassen kann. Wir wurden durch das Sattler-Interview auf die Frage gestoßen, wann jener Bildungsprozess eigentlich einsetzt und haben mit der Annahme einer in die Kindheit und Jugend zurückreichenden Vorgeschichte hierzu viel Material gefunden, wenngleich kein Interview eine komplette Bildungsgeschichte auch nur annäherungsweise sichtbar werden lässt. Um den falschen Eindruck einer einmaligen Prägung zu vermeiden, die einen Lebensweg deterministisch wie in einem dramatischen Schlüssel- und Konversionserlebnis quasi-traumatisierend für immer und alternativlos nicht mehr abzuschütteln festlegt, hatten wir das ursprünglich bei Freud entliehene Konzept der Urszene wieder fallengelassen, da es zu stark von einer Hypostasierung geleitet scheint, welche die eigentliche dynamische Entwicklungsgesetzlichkeit eher verschleiert. Stattdessen orientieren wir uns an biographischen
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Ursprungskonstellationen, die anfangs als ein Spielraum von vagen Optionen sich darstellen, die auf günstige Entfaltungsbedingungen treffen und zur Entdeckung eigener Begabungen und Interessen führen, denen erfolgreich nachgegangen werden kann, so dass diese Erfolgserlebnisse dazu führen, dass aus eigenem Antrieb nach weiteren Gelegenheiten für eine Erneuerung und Wiederholung gesucht wird, wobei die persönlichen Erfolgskriterien dabei immer weiter gesteigert und anspruchsvollere Herausforderungen gesucht werden, bis sich wie in einer selbsterfüllenden Prophezeiung diese auf gesteigerte Bewährung an Krisen der Muße ausgerichtete Bildungsdynamik soweit selbst bekräftigt hat, dass das sich bildende Subjekt irgendwann gar nicht mehr anders kann, als dem so entstandenen „inneren Ruf“ weiter zu folgen und in beruflichen Institutionen der Wissenschaft gezielt und karriereorientiert nach weiteren Erfüllungsbedingungen zu suchen, die es ihm erlauben, seiner Disposition auf Dauer gestellt nachgehen und einen bürgerlichen Beruf mit ihr begründen zu können.1 Wir haben in den Interviews mehrere dieser biographischen Ursprungskonstellationen gesehen. Sie ließen sich durchaus unterschiedlichen Alters- und Entwicklungsphasen zuordnen, immer standen sie aber strukturell in Zusammenhang mit erfolgreichen Schritten bei der Bewältigung sozialisatorischer Ablösungskrisen, seien es solche vom Elternhaus, in der Peer Group oder in der Schule. Der mit solchen Ablösungsschritten einhergehende Zugewinn an persönlicher Autonomie vollzog sich stets so, dass eine auf die Wissenschaften vorbereitende Leidenschaft sich erfolgreich einen zuvor irgendwie krisenhaften oder emotional prekären Freiraum erobern konnte, aber in einer Weise, die die Zustimmung der sozialen Umgebung erreichen konnte und zugleich die Hinwendung an die diesen Freiraum ausfüllende Sache zu steigern vermochte, so dass sich die sich anbahnende Identitätsformation untrennbar mit dieser Sache verband. Uns stellte sich dies als je individuelle Faszination für eine Sache dar. Dabei kann diese Faszination von einem Gegenstand, einem Phänomen oder auch einer historischen Epoche ausgehen und sich beispielsweise in einer Sammelleidenschaft niederschlagen. Man umgibt sich gerne mit solchen Objekten und ist ihnen nahe. Sie haben eine ähnliche Bedeutung für die Identitätsbildung wie Übergangsobjekte2, nur dass es sich weniger um Ersatzobjekte der Vertrautheit handelt, als um rätselhafte und faszinierende Fremdgebilde, deren Rätselhaftigkeit sich immer noch weiter steigert, wenn man sich mit ihnen beschäftigt. Es sind auch Gebilde, die eine Krise der Langweile überwinden helfen. So auch bei Sattler. Bei ihm entzündete sich sein mit Bewunderung für die Schönheit und Raffinesse der Natur gepaartes Interesse an der Sammelleidenschaft für Insekten, der an Formenvielfalt größten Gruppe an Arten der Fauna. Es war aber 1
Ich verdanke Ulrich Oevermann nicht nur in diesem Punkt wichtige Klärungshilfen.
2
Zum heutigen Stand der psychologischen Diskussion über Übergangsobjekte liegt die instruktive Arbeit von Habermas, Tillmann: Geliebte Objekte, Frankfurt 1999 vor.
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seine Mutter, die im Konflikt und Kompromiss um die Einhegung des ausufernden Sammelgebarens die sozial sanktionierten Schmetterlinge durchsetzte und somit unbeabsichtigt half, das Objektfeld der sich übenden quasi-wissenschaftlichen Neugierde auf ein produktives Maß zu verkleinern. Bei Hellwein war es die Episode des medizinischen Praktikums im Kliniklabor seines Vaters, dessen Anästhesie zu beerben damit eigentlich nahegelegt schien, doch die kurze Episode reicht aus, um ihn davon zu lösen und eine eigene Spur folgen zu lassen. Bei Arens, dem Astrophysiker, war es in einer späteren Entwicklungsphase die Bekanntschaft zu einem älteren Freund, der sich für Sterne interessierte und ihn am späten Abend bei Dunkelheit zu einem günstigen Observationsplatz in freier Natur mitnahm, um ihm an seinem Teleskop die Sterne zu zeigen. Der Freiraum muss hier von den Eltern nicht erstritten werden, ist schon zugestanden, und das Prekäre liegt eher in der Freundschaft zu dem älteren Jungen, die in vielfältiger Hinsicht auch hätte schiefgehen können. Die Entdeckung der Leidenschaft vollzieht sich in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung von nicht Gleichaltrigen, und setzte ein hohes Maß an Vertrauen voraus, das nicht enttäuscht wurde und somit als erfüllendes Erlebnis einer ersten auf spätere Kollegenbeziehungen vorgreifenden Gemeinschaft von astronomisch Gleichgesinnten in Erinnerung blieb. Schließlich nochmals Sattler, der für eine ähnliche Phase der Vergemeinschaftung eine Episode aus seiner Oberstufenzeit und seinen (damals noch nicht frustrierten) Lehrer anführt, der ihn forderte und zur Teilnahme am „Jugend forscht“ Wettbewerb animierte. Hier sind es Ältere, die in einer späteren Phase, in der sich die Bildungsdynamik schon selbstläuferisch fortentwickelt hat, zu Geburtshelfern, Steigbügelhaltern, Mentoren werden, ohne die es bei manchen Stufen nicht geht. Arens steuert hierzu eine implizite Theorie des Arbeitsbündnisses zwischen Professor und Student/Doktorand bei, die darauf beruht, dass der Betreuer eine große Verantwortung hat, weil ihm Doktoranden in eine Projektforschung hinein blindlings zu folgen bereit sind, wenn er ein Sachthema interessant machen kann, was ihn zu gewissenhafter Sachhaltigkeit zwingt, dass er es aber auch verbrennen kann, was eine Verantwortung gegen sein Fach nach sich zieht. Frau Bertram hatte ähnliches gesagt. Diese biographischen Ursprungskonstellationen sind immer lebensgeschichtlich konkret. Sie sind wie gesagt mit sozialisatorischen Ablösungskrisen verbunden, die auch andere Sozialisanden auf ihrem Weg zum Erwachsenenstatus bewältigen müssen. Das Besondere an ihnen hier ist, dass eine sich bildungsdynamisch steigernde Hinwendung an die Sache der Wissenschaft Teil der Lösung dieser Krisenbewältigungsprozesse ist und somit in die Identitätsformation eines Menschen unauflöslich mit eingeht. Das entspricht unserer These von der für die Professionen typischen Untrennbarkeit von Berufsrolle und ganzem Menschen. Eine naheliegende Schlussfolgerung hieraus lautet, dass die Bildung einer Disposition zum professionalisierten Habitus des Erfahrungswissenschaftlers spätestens erfolgt sein muss, wenn die Adoleszenz als die letzte der Ablösungskrisen be-
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ziehungsweise ihr Moratorium des Studiums abgeschlossen ist. Oder anders gesagt: Man wird Wissenschaftler nicht mehr auf dem zweiten Bildungsweg, wenn man vorher wirklich etwas anderes gemacht hat und eine entsprechende Leidenschaft und philosophische Fragestellung nicht hat rechtzeitig entwickeln können. Man wächst sonst in die Handlungsroutinen des Fachwissens nicht mehr hinein. Das Doktorat ist die letzte entscheidende Phase, und wie wir gesehen haben, wird sie für Frau Glasner tatsächlich zum Exodus, während Herr Schluchter, der Sportler, erst kurz zuvor seine vorher verstellte persönliche Leidenschaft zur Forschung entdeckt und den an sich auch institutionell schon eher unwahrscheinlichen Weg aus dem Schulreferendariat zurück in die Forschung gerade noch schafft. Meine These ist: Menschen, die später solche Bildungsprozesse in die Wissenschaft vollziehen, schaffen es nicht mehr, in sie wirklich hineinzufinden. Wie soll das auch gehen angesichts der enormen Fülle an Fachwissen, das man nicht nur lernen, sondern – auf der Folie einer philosophischen Fragestellung – auch begriffen haben muss. – Dieses Argument gilt auch für andere Professionen, die auf einer Verbindung von Berufsrolle und ganzer Person angewiesen sind. Umgekehrt ist ein Lebensentwurf, der erst einmal auf die Bildungsdynamik der Wissenschaften ausgerichtet ist, auf den Erfolg und die Bewährung im Beruf der Wissenschaften „auf Gedeih und Verderb“ verpflichtet. Diese habituelle Entschiedenheit bringt auch Härten und Missstände mit sich, von denen schon Max Weber im Zusammenhang mit dem Hazard des Privatdozenten sprach. Der akademische Flaschenhals, durch den alle drängen, der immense Wettbewerb um quantitativ knappe Stellen an Universitäten, fast nur noch zeitlich befristete Stellen für den akademischen Mittelbau, der bei Anträgen für die Drittmittelförderung auf Professoren angewiesen bleibt, machen es insbesondere für Wissenschaftler mit einem von der akademischen Normalkarriere abweichend verlaufenden Lebenslauf immer schwieriger, wenigstens eine Nischenexistenz am Rande des Mainstreams zu führen. Dabei sind es gerade die schrulligen Außenseiter, die exzentrischen Typen, die stets etwas verstiegen und in Organisationsfragen eher hilflos wirken, aber alles über die altisländische Edda oder über die Honigpapageien (Loris) wissen, die eine lebendige Wissenschaft bereichern. Sie sind es aber auch, die als erste auf der Strecke bleiben, wenn ein Anpassungsverhalten an die konformistische Logik des marketingförmigen Selbst-Announcements gefordert ist. Der heute geforderte Spezialisierungsgrad macht solche Wissenschaftler für andere Praxisformen vielleicht nicht aus fachlichen Gründen, wohl aber habituell unbrauchbar. Ein beruflicher Wechsel, der einem Ausstieg aus der Bildungsdynamik der Forschung gleichkäme, ist eigentlich kaum denkbar, es sei denn, es findet sich irgendeine kompensatorische Lösung. Doch dies ist in den meisten Fachgebieten schwierig. Die Industrieforschung, die einem hier für Naturwissenschaftler einfallen könnte, nimmt zwar auch Leute auf, die aus der Grundlagenforschung kommen. Aber der Normalfall ist dies schon lange nicht mehr, und es kommt ab einem bestimmten Alter auch nicht mehr in Frage,
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wie Martens unterstreicht. So müssten die Wissenschaftsinstitutionen eigentlich auch für diejenigen Sorge tragen, die aus welchen Gründen auch immer an der Normalkarriere einer Professur gescheitert sind, wie Arens andeutet. In vielen Fällen tut sie dies auch. Doch es bleibt ein schwieriger Spagat zwischen der Forderung nach Exzellenz und der Pflicht zur Fürsorge für alle Angehörigen einer Profession, wenn sich der Berufsmarkt wie in den Wissenschaften weitgehend auf staatliche Forschungsinstitutionen verengt. Eine weitere Überlegung, die sich an die Frage nach den biographischen Ursprungskonstellationen anschließt, ist die nach der individuellen Empfänglichkeit für eine Sache. In einer Faszination drückt sich aus, dass es zu einer Akkommodation habitueller Dispositionen an die Natur eines Gegenstands bereits gekommen ist. Doch warum sind es im Fall Sattler die Insekten, bei Arens die Sterne und bei Martens die Algen und Krebsbeine auf Quarzsand. Diese Frage ist so schwierig zu beantworten, dass wir sie hier nicht beantworten können. Offensichtlich gibt es auch einen Zusammenhang zu den bereitliegenden intellektuellen Sonderbegabungen, die schon gegeben sein müssen, damit sich frühe Erfolgserlebnisse in der Erschließung einer Sache einstellen können, und diese Begabungen haben gewiss auch eine Wurzel in hereditären Voraussetzungen des Gehirns. Aber es soll nicht ausgeschlossen werden, dass es auch noch lebensgeschichtlich früher verwurzelte Sinnmotivierungen für die Wahl von Objekten gibt. Worin diese aber bestehen und wie man sie näher untersuchen kann, muss an dieser Stelle offenbleiben. Aus dem hier verarbeiteten Material sind keine triftigen Aussagen herzuleiten, und man müsste sich einige Forscherbiographien gezielt vornehmen und auch deren frühe Kindheit nach Spuren absuchen. Autobiographische Texte namhafter Forscher gibt es genug. Immerhin scheint eines klar: Geeignet sind Anschauungs- und Sammelobjekte, die sich für ein frühes intellektuelles Üben z.B. im Bestimmen von Tertium comparationis und Differentia specifica besonders eignen. Oder eine durch den Beruf der Eltern bedingte Nähe zu Werkstätten, in denen z.B. bestimmte chemische Prozesse anschaulich studiert werden können, wie am Leben und Werk Louis Pasteurs gut abzulesen ist, der in der Gerberei seines Vaters neben handwerklichem Geschick im Umgang mit chemischen Veredelungsprozessen tierischer Substanzen wohl den Sinn für die Frage nach den Gärungen, Fäulnisprozessen und dem Rätsel ihrer chemischen bzw. biologischen Ursachen gewonnen hat.3 Aber es gibt sicher auch biographische Konstellationen, die aufgrund der Bildungsnähe und Profession der Eltern auf eine Tätigkeit der Krisenbewältigung besonders vorbereiten, weil sie zu Hause sozusagen als etwas Normales erfahren wird und es nur darauf ankommt, in der Ablösung vom Elternhaus sich ein eigenes berufliches Bewährungsfeld zu suchen, auf dem man sich jenseits des Berufs der Eltern mit einem eigenen Inhalt
3
Vgl. Debré, Patrice: Louis Pasteur. London 1998, S.1-28.
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behaupten kann. Dies gilt für Ärzte- und Juristenfamilien sicher genauso wie für Wissenschaftler. Ich hatte in der Einleitung argumentiert, dass der Forscherhabitus nichts anderes ist als eine Verinnerlichung der Handlungslogik der Forschung, die sich aus drei Komponenten zusammensetzt: (1) aus einer Logik des Erahnens guter Hypothesen als möglicher Lösungen für ein wissenschaftliches Rätsel (Abduktion); (2) einer fallibilistischen Logik der methodischen Geltungsüberprüfung; und (3) einer davon nochmals zu unterscheidenden Logik des Erkundens und Ertastens, die sich in der Umsetzung von (1) und (2) in einer logisch nicht eindeutig ableitbaren Sequenz von Schritten entlang einer sich ständig neu darbietenden Alternanz von Möglichkeiten und Bedingungen einen praktischen Lösungsweg erschließt. Für diese Logic of Discovery haben wir viele aufschlussreiche Stellen geliefert bekommen. Sattlers Ansatz, mit zwei nahe verwandten Würmern zu arbeiten und damit etwas Neues zu probieren, kann als Beispiel einer Antwort auf die Frage gesehen werden: Wie komme ich am besten zu einem Ansatz, einer Initialfrage, mit denen ich ein bestelltes Forschungsfeld vor dem Hintergrund des bestehenden Wissens erneut und weitergehend als bisher aufschließen kann? Sattler baut auf der vorangehenden Forschung auf, stößt sich aber ab und geht über sie hinaus, muss hierbei aber viele handwerkliche Forderungen erst einmal abarbeiten. Die zweite Wurmart zoologisch bestimmen; dann als Modellsystem etablieren; dann – nach einem Rückschritt bei der Sequenzierung des Genoms – die Entscheidung treffen, ein Genomzentrum selbst aufzubauen. Auf diesem Weg sind zahlreiche weitere Probleme zu bewältigen, die im engeren Sinne mit der Erkenntnislogik nichts zu tun zu haben scheinen, aber gleichwohl notwendig und aufs Engste mit dem Forschungsgang verzahnt sind. Sattler hatte nach seiner Berufung sehr schnell zahlreiche organisatorische Entscheidungen zu treffen; ob man die Genomsequenzierung an private Firmen vergeben oder selbst durchführen sollte; ob man das Genomzentrum wird aufbauen können; welche Apparate hierzu angeschafft und welche Leute eingestellt werden sollten; wie die Labors organisiert werden müssten. Alles Fragen, die sich mit jedem konkreten Forschungsprogramm neu und in jedem Projekt auch anders stellen. Auf Sattler kamen zahlreiche zeitraubende Aufgaben der Selbstverwaltung zu, denn die Aufgabe der Leitung eines MPI zirkulierte unter den Abteilungsdirektoren. Diese Aufgaben fordern umso mehr große Zeiteffizienz und Organisiertheit, als jeder Wissenschaftler darum bemüht sein muss, so lange wie möglich die Managementaufgaben nicht übermächtig werden zu lassen und „an der Bench“ zu bleiben. Der Laborleiter muss über das Geschehen detailliert und zeitnah informiert werden. Denn seine Hauptaufgabe besteht darin, stellvertretend für die Gesamtgruppe die Relevanz von Details für das Gesamtprojekt zu ermessen und die Tagesforschung mit der „philosophisch“ reflektierten Theoriearchitektur zu verknüpfen. Die Ausgangsüberlegung
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muss immer wieder in Erinnerung gerufen werden, damit der Gruppe im Ganzen ermöglicht wird, die intellektuelle Kontinuität zu wahren und auch nachrückenden, jüngeren Forschern, Doktoranden einen Einstieg zu ermöglichen. Daher das Mittwochskolloquium, die offenen Türen zu den Gängen, die Einführungsseminare für neue Kollegen. Sicher persönliche Stilfragen, die in anderen Instituten ganz anders geregelt sind. Dennoch kann man eine Handschrift erkennen und diese mit der Logik der Forschung in Verbindung bringen: Es geht um Pluralismus, Effizienz der Verkehrswege, eine Atmosphäre der Offenheit und eine ständige Bereitschaft für Neues an der Spitze, bei der deshalb auch alles, was neu und interessant ist, zusammenlaufen soll. Zugleich gibt es eine Institutsöffentlichkeit, die ein Eigenleben führt, die anerkannt wird und nicht unterdrückt werden soll. An deren Dynamik muss die Leitung partizipieren, wenn sie nicht abgehängt werden will. Das ist die Bewährung des Institutsleiters. Die gesamte Labororganisation dient dem Zweck einer Innovations-, Leistungs- und Diskussionsfreudigkeit. Aber natürlich gehören auch Momente einer Laborregie und Menschenführung dazu, die auf eine Minimierung störender Anteile der Gruppendynamik abgestellt sind. Da ihn das Management mächtiger fordert, als er will, kommen viele weitere Aufgaben, die er in seiner Stellung her ebenfalls sachlich geboten sieht, in Bedrängnis. Sattler müsste auch die Geschichte seines Faches stärker in seine Metaüberlegungen einbeziehen, weil in ihr Verzweigungsstellen der Biologiegeschichte sich zeigen, die auch für die jetzige Arbeit plötzlich wieder aktuell werden könnten oder bereits beschrittene Irrwege vermeiden lassen. Der Projektleiter sollte sich außerdem mehr den großen Diskussionen seines Faches stellen, den tatsächlich in die akademische Philosophie hinüberreichenden Debatten über den Anfang des Lebens, den Darwinismus oder die spektakulären Fragen, die eine Laienöffentlichkeit mit der Biologie verbindet, z.B. die Frage nach dem Sex bzw. warum es zwei Geschlechter gibt. Hier nimmt Sattler eine erstaunlich klare und in ihrem Verzicht auf mögliche kulturindustrielle Selbstinszenierungschancen forschungsasketisch disziplinierte Zurückhaltung ein. Sie ergibt sich aus seiner Haltung zum Ideal empirischer und heute bis zur Möglichkeit mechanistischer Erklärung vorgedrungener Detailforschung. Medial wirksame, aufs große Publikum schielende Übergeneralisierungen lehnt er ab. Alle Fragen, die sich nicht auf die Ebene der mechanistischen Erklärung herunter brechen lassen, sind für ihn keine Fragen und ernsthaftere Debatten überflüssig, ja sie stören, weil sie sich nicht verbindlich führen lassen und letztlich nur den illusionistischen Eindruck einer möglichen Beantwortbarkeit anfüttern. Diese professionsethische Askese von der Verführung des großen Publikumserfolgs hat zwei Seiten. Sie setzt auf den langen Weg, durch möglichst weitreichende Zerlegung des Evolutionsprozesses in seine molekularen Einzelheiten den großen Fragen dort näher zu kommen, wo dies tatsächlich möglich ist; die anderen Fragen sind interessant, aber bleiben unverbindlicher Spekulation ausgesetzt und müssen warten, solange es keine vergleichbaren Ansätze ihrer Erforschung gibt.
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Der andere Aspekt: Sattler hält es aus erzieherischen Gründen für schädlich, der Verführung voreiliger Spekulation nachzugeben, weil es zu einer professionalisierten Haltung gehört, die Grenze zwischen der prekären Spekulation und dem wissenschaftlich Erklärbaren um keinen Preis zu verwischen. Beides ist immer sauber getrennt zu halten und mit Blick auf einen wirklich substanziellen Fortschritt der Wissenschaften sind die verfügbaren Kräfte nur dort einzusetzen, wo es eine Aussicht auf diesen Fortschritt real gibt. Daraus spricht eine eigene Form der Leistungsethik, die sich nur für bewährt hält, wenn sie an unzweideutig substanziellen Problemlösungen mitwirkt. Problematisch mag daran erscheinen, dass man es auch als Verbot oder Tabuisierung spekulativer Debatten interpretieren könnte, denn woher sollten weiterführende, einen Gegenstand aufschließende Hypothesen kommen, wenn solche Spekulationen nicht mehr sein dürften. Aber als ein zensierendes Verbot muss man Sattlers Haltung gar nicht auslegen. Er steht eher in der langen Tradition von Naturwissenschaftlern, die mehr zur Selbstbesinnung ihrer Disziplin und zur Erziehung des Nachwuchses in immer wiederkehrenden Kampfdebatten den Weg reduktionistischer Detailforschung propagierten angesichts unklarer Debattenlagen, die bis in die Profession hinein ihre verführerischen Wirkungen zeigen. Schon Justus von Liebigs schroffe Gegnerschaft gegen die romantischen Ärzte und die spekulative Naturphilosophie Schellings war weniger inhaltlich oder antispekulativ begründet, als darin, dass er von jenen die Grundüberzeugung aller Erfahrungswissenschaften missachtet sah, dass wissenschaftliche Aussagen sich einer methodischen Geltungsüberprüfung zu stellen haben und die Forschungspraxis von solchen Rätseln aus zu konzipieren ist, die sich im Labor oder an einem anderen Ort der Empirie methodisch kontrolliert angehen lassen. Dies ist eine Grundhaltung. Man sieht hieran, dass es eine fortwährende Spannung gibt zwischen einer empirisch noch nicht eingelösten, tastend spekulativen Herangehensweise an ein Rätsel, für das sich ein forschungspraktisch gangbarer Approach, der sich in betriebsförmig abzuarbeitende Arbeitsschritte umsetzen ließe, noch nicht klar abzeichnet, einerseits, und dem letztlich vom regulativen Ideal der Wahrheit abgeleiteten Bestreben, den jüngsten Stand der Rationalisierung von Methoden und Techniken unbedingt auszuschöpfen und als nicht mehr zu hintergehender Standard empirischer Kausalanalytik in der Detailforschung zu realisieren, indem von ihm aus ein konkreter Approach gesucht wird, andererseits. Der Forscherhabitus kann diese unvermeidbare Polarität nicht einseitig auflösen, ohne im Erkenntnisstreben insgesamt zu erlahmen. Das geschieht unweigerlich, wenn spekulative Aussagen unter der Hand zu Wahrheiten erhoben werden, ohne dass sie auf eine empirische Überprüfung durch Falsifikationen ausgerichtet sind, oder wenn umgekehrt eine empirische Betriebsamkeit entfaltet wird, die ohne Rückbindung an ein sich von philosophischsubstanziellen Fragen herleitendes Forschungsprogramm nur auf das Entdecken und Sammeln spektakulärer Daten mit neuesten Erhebungsmethoden aus ist, ohne dass
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diese Daten auf die Überprüfung hypothetischer Konstruktionen abgestellt wären. Es gibt in revolutionären Phasen des Etablierens neuer methodengeleiteter Forschungsparadigmen auch ein überschießendes und theorieblind erscheinendes Herumtesten und effektgieriges Ausprobieren der Möglichkeiten dieser Methoden. Es ist Aufgabe des Forschers, diese von der Euphorie der Neuheit geprägten wilden Anfangsjahre in die Bahnen einer substanziellen fallibilistischen Wissenschaft zurückzulenken. Diese leistungsethische Haltung verlangt, die philosophischen Fragestellungen auf konkrete Detailuntersuchungen herunterzubrechen und sich damit abzufinden, dass deren Klärung lediglich kleine Bausteine auf einem langen Weg der Beantwortung großer Fragen darstellen kann. Dies erfordert vom Forscher, ohne falsche Bescheidenheit die „Welträtsel“ anzugehen, sich aber zugleich mit der Aussicht abzufinden, mit der eigenen Forschung selbst nur einen verschwindend kleinen Beitrag zur Enträtselung der Welt beisteuern zu können und die abschließende Klärung großer Fragen wahrscheinlich nicht selbst erleben zu können. Ferner, als achter Fall, sahen wir Herrn Martens, der wie Herr Sattler Direktor einer Forschungsabteilung der Max Planck Gesellschaft ist und gerade vor dem Hintergrund institutioneller Nähe zahlreiche Kontrastverhältnisse im Werdegang und im fachlichen Selbstverständnis deutlich werden lässt. Martens hat seinerseits einem wichtigen neuen Forschungsvorhaben zum Durchbruch verholfen, aber er ist später berufen und war zuvor lange in der pharmazeutischen Industrie tätig. Sein Interesse gilt seit seiner Dissertation der Frage, wie die lineare Information der DNS sich in die dreidimensionale Raumstruktur der Proteine übersetzt, die in der Proteinbiosynthese entstehen und die Informationen der Gene im Organismus umsetzen, anleiten, transportieren und regulieren. Diese dreidimensionalen Gebilde sind in mancher Hinsicht rätselhaft, ihre hochkomplexen Gitterstrukturen weisen eine innere, gleichsam auf energieeffiziente Balance hin ausgerichtete Spannung auf, deren Stabilität sich nicht schon aus der linearen Information der DNS selbst automatisch ergibt und deren regelmäßiges Zustandekommen darum eigens erklärt werden muss. Die große Anzahl an Proteintypen zu unterscheiden und ihre Entstehungsgesetzlichkeiten zu rekonstruieren, ist auch darum eine immense Aufgabe der Proteinforschung, weil diese Bausteine des Lebens in sich einen Schlüssel abzugeben scheinen, wie man den naturgeschichtlichen Übergang der unbelebten Materie zur belebten Materie auf der Ebene chemischer Strukturen erklären kann. Martens hat sich dieser Aufgabe verschrieben. In ein Forschungslaboratorium der US-amerikanischen Pharmaindustrie ist er eingetreten, weil dort mit der denkbar besten Ausstattung auf höchstem Niveau an der systematischen Erforschung von Antibiotica gearbeitet werden sollte und gezielt nach Proteinen und Enzymen gesucht werden konnte, die Bakterien und andere Erreger aufgrund toxischer Eigenschaften zerstören. Das geschah nicht nach dem Trial and Error-Verfahren,
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sondern „rational“, das heißt unter Einsatz der Genanalyse und mit der Absicht zur biotechnologischen Herstellung labortechnisch optimierter Antibiotika. Von den dort gemachten Erfahrungen hat Martens vielfach profitiert. Für uns ist dieser Fall deshalb so wichtig geworden, weil Martens, der in seinem Anspruch und seiner Spitzenstellung Sattler gleichzustellen ist, nicht nur eine ganz andere Ursprungskonstellation aufweist – mit seinem Interesse für die Differenz zwischen der unbelebten und belebten Materie, - sondern weil er auch einen denkbar anderen Lebensweg eingeschlagen hat. Sattlers These von den Industrieforschern, die aufgrund eines Fehlens philosophischer Fragestellungen dorthin gegangen seien, scheint er zu falsifizieren. Dies erweist sich aber bei genauem Hinsehen als Trugschluss. In Wirklichkeit bestätigt Martens sogar Sattlers These auf noch differenziertere Weise, weil er zwar einsichtig macht, dass auch in der Industrieforschung eine autonome Wissenschaft zumindest eine Zeitlang möglich ist und Grundlagenwissenschaft betrieben wird, was die alte Gleichung, nach der die Industrie kommerzielle Anwendungsforschung betreibt und die Grundlagenforschung Sache der staatlichen Universitäten oder der Max Planck-Gesellschaft sei, als grob vereinfachend und letztlich falsch erscheinen lässt, und eben nicht jeder, der in die Industrie geht, sich damit als ein der Grundlagenforschung entfremdeter, für diese ungeeigneter Methodenhandwerker anzusehen ist. Aber Martens zeigt auch, dass in der Industrie doch sehr spezielle Bedingungen vorgegeben sind, die eine Grundlagenforschung nur dann zulassen, wenn sich mit ihr die Aussicht auf ein Erreichen der kommerziellen Verwertungszone und Produktreife innerhalb eines unternehmerisch vorgegebenen Budgetrahmens verbindet, so dass nur derjenige in der Industrie an seinem Forschungsthema autonom weiterarbeiten kann, der es versteht, auf einer solchen Welle mit zu segeln und die guten Bedingungen für sich zu nutzen. Das können nicht alle, wie Martens an verschiedenen Beispielen deutlich macht. Vor allem muss man damit leben können, dass die Investitionsprojekte von den Managern ad hoc und aus rein wirtschaftlichen Gründen abgebrochen werden können und der Laborforscher sich ohne Abschluss plötzlich einer anderen Aufgabe zuwenden muss. Eine autonome Forschung lässt sich in der Industrie aufgrund dieser Bedingungen strukturell nicht auf Dauer stellen. Aber es zeigt auch, dass die biotechnologischen und pharmazeutischen Konzerne Teil der Profession sind und eine Mitverantwortung für die Entwicklung der Disziplin tragen, so wie dies Sattler bereits für die chemische Industrie angeführt hatte. Was immer schon galt, dass nämlich auch Ingenieure Entdeckungen machen, die für die Grundlagenwissenschaft wichtig werden, ist nun auch in den Lebenswissenschaften auf eine neue Grundlage gestellt. Auch private Firmen tragen wissenschaftsimmanent zum Erkenntnisfortschritt bei, und beide Sphären hängen koevolutionär zusammen. Martens zeigt, dass auch ein Rätsel, das in die autonome Forschung zurückführt, in der Industrie förderliche Rahmenbedingungen der Entfaltung finden kann, wenn es nur einen stabilen Forschungshabitus bereits gibt, der
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sich die Bedingungen strategisch zunutze machen kann. Dies funktioniert aber nur auf der Basis einer strategischen Allianz. Ein möglicher Einwand, dass Martens bis zu seinem Ausscheiden biographisch gar nicht entschieden hatte, ob er autonomer Forscher oder Industriemanager werden wollte, lässt sich dahingehend entkräften, dass er sich gerade nicht deshalb aus der Pharmaforschung zurückgezogen hat, weil er dort angesichts des Scheiterns seine Karriere als Manager nicht hätte fortsetzen können. Im Gegenteil hätte er langfristig auch bei Abbruch bleiben und aufsteigen können. Allerdings hätte er damit auf seine Forschungsvorhaben irgendwann verzichten müssen und dies hat ihn veranlasst, sich schon vor dem Scheitern der Antibiotikaforschung nach Europa zurückzuorientieren, auch wenn sein vorzeitiger Weggang zum Abbruch des Antibiotikaprojekts selbst mit beigetragen haben mag. Der Forscherhabitus war letztlich die treibende Kraft. Dem widerspricht auch nicht, dass Martens als Familienvater einer siebenköpfigen Familie den biographischen Konflikt zwischen der Existenz in der autonomen Forschung und der viel besser dotierten Managerkarriere mit sich offen ausgefochten hat. Dies zeigt aber nur, dass er beruflich nicht auf das akademische Milieu festgelegt ist und seine biographischen Entscheidungen von einer höheren Warte aus betrachten kann, die ihn das Ganze des Lebens besehen lassen. Es spricht sein radikaler Autonomie- und Souveränitätsanspruch daraus, der sich ja auch in manch anderer Hinsicht manifestierte. Vor ihm stellt sich sogar die vergleichsweise große institutionelle Unabhängigkeit eines deutschen Max PlanckDirektorenpostens oder die breite kulturelle Verankerung der Wissenschaft in Deutschland als vorläufige und stets neu zu bewertende Rahmenbedingungen dar, die strategisch abgewogen sein wollen. Vor diesem Hintergrund einer autonomen Lebensführung erweist sich der Fall Martens letztlich vielleicht als der radikalste Fall von Professionalisierung. Das vermeintliche Widerlegungspotential des Falls Martens dreht sich also erneut um. Der neunte Fall führt die Analyse abschließend noch einmal auf ein ganz anderes Forschungsgebiet, das der numerischen Astrophysik. Der Wert des Interviews mit Herrn Arens, damals Leiter einer Nachwuchsgruppe, heute Professor, liegt aber kaum mehr in einer möglichen Falsifikation. Der Reiz besteht vielmehr darin, dieselbe Strukturlogik noch einmal auf einem komplett anderen Gebiet erfahren zu können und zu sehen, wie rasch man sich in ihm zurechtfindet, wenn man schon weiß, worauf man zu achten hat. Die Unterschiede zum Bisherigen liegen auf der Hand: Ging es bislang um eine in kleinste Mikrowelten vordringende Laborforschung, geht es nun um die ins Äußerste ausgedehnte Makrowelt des Kosmos; ging es bislang um die Entstehung und die Evolution irdischen Lebens, geht es nun um die dem Leben fremd und unwirklich gegenüberstehende Welt kosmischer Gebilde mit ihren unvorstellbar kalten wie heißen Aggregatzuständen und räumlichen Ausgedehntheiten. Geht es in der Biologie um Prozesse, in denen sich Organismen
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und Arten selbst erhalten und verändern, hat es die Kosmologie mit „toten“ Massen zu tun, die von physikalischen Gesetzlichkeiten beherrscht sind. Vor diesem Hintergrund ist es für einen Laien erstaunlich zu sehen, wie ähnlich der Habitus ist. In Arens Schilderungen werden sehr anschaulich verschiedene Probleme der heutigen astronomischen Forschung sichtbar. Mit dem Beobachter, dem Theoretiker und dem astronomischen Geräteingenieur werden drei grundverschiedene Typen des Astronomen herausgearbeitet, die sich weniger hinsichtlich ihres gemeinsamen Interesses, als durch ihre Spezialisierung auf methodische Herangehensweisen und damit verbundene Apparaturen und Aufgaben unterscheiden. Vor allem Beobachter und Theoretiker bilden eine spannungsreiche Einheit und stehen in einer arbeitsteiligen Interaktion, die erst als Zusammenhang die Astronomie ausmacht. Beobachter sind darauf spezialisiert, an Großteleskopen und Radioteleskopen Protokolle von Himmelserscheinungen zu erheben, deren Daten sich für die Erschließung der sie bedingenden physikalischen Gesetzmäßigkeiten auswerten lassen. Dabei geht es immer um Entstehung, Entwicklungsdynamik und Vergehen und was die Konstellationen, die daraufhin immer wie Momentaufnahmen eines viele Hundertmillionen Jahre währenden Prozesses zu sehen sind, aussagen. Die Protokolle sind so komplex, dass sie durch bloße Anschauung nicht interpretiert werden können und daher sind die Beobachter auf die Arbeit der theoretischen Astrophysiker angewiesen, die in mathematischen Modellbildungen versuchen, sich jenen Bewegungsgesetzlichkeiten konkreter Konstellationen anzunähern, indem sie diese Modelle in Simulationsprogramme des Computers übersetzen, dort durchrechnen lassen und so am Bildschirm „künstliche“ Konstellationen und „Bewegungsbilder“ erzeugen, die dann mit den realen Bildern verglichen werden können. Das Ziel ist es, durch iterativen Vergleich der Modelle mit Protokollen zu einer Koinzidenz zu kommen. Die in sie hineingesteckte theoretische Physik ist Grundlage der Modellbildungen. Auch der theoretische Astrophysiker geht von ästhetischen Erfahrungsdaten („Signaturen“) aus. Gleichzeitig bewegt er sich in hypothetischen Welten, die fiktiv blieben, wenn sie nicht auf jene Beobachtungen bezogen würden. Exemplarisch wird die enorme Bedeutung des Computers. Er ist nicht nur Rechenmaschine. Die Computerprogramme liefern heute die Möglichkeit, die Grade der Anschaulichkeit in der Astronomie selbst zu erhöhen, indem man Gebilde, die in der Realität dreidimensional plastisch sind, aber in der Photographie immer nur als zweidimensional erstarrtes Abbild einer fixen Perspektive wiedergegeben werden, im virtuellen Raum des Computerbildschirms auch dreidimensional tiefenräumlich darstellen, drehen oder von rückwärtigen Perspektiven betrachten kann, so dass es möglich wird, zum Beispiel auch bizarre Signaturen als Kollision zweier Spiralnebel anschaulich zu erkennen, wenn man zuvor eine solche Kollision im Modell erfolgreich simuliert hat. Außerordentlich interessant sind Arens Schilderungen, wie sich in seinem Fach ein Paradigmenwechsel allmählich anbahnt und eine zunehmende Spannung von
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altbewährten theoretisch eingearbeiteten Überzeugungen und ihnen widersprechenden, das bisherige Gesamtbild löchernden Einzelbeobachtungen entsteht, die den Debatten eine ganz eigene Dynamik verleihen, weil Forschergruppen around the world sich ehrgeizig an Deutungen des Phänomens versuchen und in wilder Jagd Einzeluntersuchungen zu Teilproblemen oder Phänomenen beisteuern, auf die sich die Aufmerksamkeit der Community abwechselnd in der Hoffnung richtet, einem Durchbruch zum Verständnis näher zu kommen. Die Dynamik ist so groß, dass sich auf jeder der vierteljährlich stattfindenden Kongresse neue Meinungsphasen abzeichnen, wobei auch interessant ist, dass Arens angesichts dieser Hyperdynamik ein arbeitsstrategisch abwartendes Verhältnis dazu entwickelt hat und erst einsteigt, wenn eine Debatte aufgrund eines erreichten Reifegrades eine Investition lohnt. Dazu müssen die ersten „Schnellschüsse“ abgearbeitet, erste Lösungsoptionen entkräftet sein und das Problem eine schärfere Kontur gewonnen haben. Es wird daran eines besonders deutlich: dass nämlich ein Forscherhabitus immer beides zugleich ausmacht: das Aushalten von Unklarheit im Forschungsprozess, der von mehreren miteinander konkurrierenden Beobachtungsdaten und Deutungen geprägt ist und erst in der Zukunft auf Lösungen von Bestand stoßen wird, einerseits, und ein Vertrauen in die Gerichtetheit und schlussendliche Entschiedenheit des Forschungsgeschehens, am Ende sich der Lösung trotz ursprünglich differenter Meinungspräferenzen kollektiv anzunähern, wenn nur die einzelnen Forscher ihren je eigenen Überzeugungen folgen und in einem dialogischen Hin und Her von Argumenten und Gegenargumenten die logisch denkbaren Deutungsoptionen einer Datenlage gründlich gegeneinander richten und ausbuchstabieren. Darin vollziehen sie den fachöffentlichen Diskurs, und diese Externalisierung des Erkenntnisprozesses in Kongressen und Fachjournalen ist hilfreich und notwendig, weil dieser Diskurs der verbindliche Bezugspunkt aller partikularen Bildungsprozesse der Wissenschaftler bleibt, die auf ihn hin immer wieder konvergieren oder ihre abweichende Meinung erneut mit Argumenten spannungsreich zu rechtfertigen gezwungen sind. Auf diese Weise entsteht eine herrschende Meinung des Fachs, ein State of the Art, ein Status, der gleichsam immer unabgeschlossen und dynamisch bleibt. Es ist darum auch wichtig, dass Überzeugungen tatsächlich artikuliert und nicht aus Scheu vor dem „Eingemachtwerden“ in der Schlangengrube der Kritiker zurückgehalten werden, die einen erwartet; dass andererseits der Diskurs von einer Auffassung von Kollegialität getragen wird, die sich am Prinzip der bedingungslosen, auf falsche Rücksichtsnahmen und „Wir haben uns alle lieb“ -Rhetorik verzichtenden sachlich harten Kritik orientiert und jedes Argument ernst nimmt. Was am Fall Arens heraussticht, ist die Überdeutlichkeit einer geradezu humboldtianischen, fast idealistisch klingenden Grundlagenforschungshaltung, die die Berechtigung der Astronomie als einer doch immense Summen verschlingenden Tätigkeit wie selbstverständlich jenseits aller Nützlichkeitserwägungen aus den Forderungen der Kultur bezieht und sie als Ausdruck eines universellen Bildungs-
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prozesses der Menschheit versteht, deren Nichtvollzug – im Grunde gar nicht denkbar für den, der einmal damit begonnen hat – in die Bewusstlosigkeit des Tierreichs zurückkatapultieren würde. Dabei wird diese Wissenschaftsautonomie keineswegs borniert aus einem ständischen Privileg oder indirekt aus einem Nutzeneffekt für die Raumfahrt oder die Katastrophenabwehr vor einschlagenden Meteoriten oder durch sonst irgendwelche hilflosen Konstrukte gerechtfertigt. Vielmehr fällt auf, dass Arens ganz frei von Legitimationszwängen dieser Art argumentiert. Die hieraus sprechende geistesaristokratische Souveränität als einer Äußerungsform der Macht des Geistes muss umso höher veranschlagt werden, als die Astronomie wahrscheinlich eine der letztlich doch am wenigsten Output erzeugenden Wissenschaften ist und in Relation zu den eingesetzten Mitteln vor dem Hintergrund öffentlicher Angriffe auf den Elfenbeinturm der Wissenschaft am ehesten gefährdet sein müsste, von Einspardebatten zum Wissenschaftsbudget nervös angegriffen zu werden. Doch ganz im Gegenteil begegnet man hier am deutlichsten einer Wissenschaftshaltung, die man eher von den Geisteswissenschaften des frühen neunzehnten Jahrhunderts erwartet hätte und die heute doch erheblichen Angriffen ausgesetzt ist. Wie erklärt sich diese doch erstaunliche Tatsache? Man kann es wohl darin begründet finden, dass die Astronomie nicht nur eine der ältesten Kulturveranstaltungen der Wissenschaften ist, sondern hinsichtlich ihres Grades an weltumspannender Forschungsdynamik wahrscheinlich auch eine der am längsten und weitesten professionalisierten Forscherkollektive überhaupt darstellt, so dass es gar nicht alleine die inhaltliche Bedeutung astronomischer Fragen für unser Weltbild ist, die einem Astronomen sein Fach berechtigt erscheinen lassen, sondern es ist ebenjene Erfahrung einer funktionierenden autonomen Fachöffentlichkeit, die den Antworten jener Fragen mit unbeschreiblich drangvoller Macht entgegenstrebt und so konzentriert und ernsthaft daran arbeitet, dass es diese an sich verwunderliche Kulturleistung selbst ist, die jedem, der mit ihr einmal in Berührung gekommen ist, Respekt und Erstaunen abringt und resistent macht gegen jede Form des utilitaristisch relativierenden Hinterfragens ihrer Berechtigung. Die Astronomie ist hierin nur der exemplarisch gesteigerte Fall einer Bedeutung, die die Wissenschaften insgesamt für die Kultur haben: - Deren Autonomie aus sich selbst heraus anschaulich begründen zu können. Der Sinn der Kulturleistung „Wissenschaft“ besteht darin, den unter den gesellschaftlichen Bedingungen von freier Zeit erzeugten Krisen durch Muße bewusst nachzugehen und sie als Herausforderung des Geistes und der Kultur selbst anzunehmen. Der Naturwissenschaftler nimmt hierin wie selbstverständlich die Haltung eines Geisteswissenschaftlers ein, während dieser von zahlreich gerittenen Attacken auf seine Elfenbeinexistenz heute eher mürbe geworden jene Haltung kaum mehr öffentlich zu zeigen sich traut. (In den Sozialwissenschaften war dieses Selbstbild von Vorneherein nie weit verbreitet.) Auch für den Fall Arens lässt sich schließlich indirekt eine biographische Ursprungskonstellation benennen, bzw. einige Wegmarken derselben. Es war zunächst
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jene seine Adoleszenz prägende Freundschaft mit einem Älteren, mit dem er seine Neugierde für die Dechiffrierung von Naturphänomenen geteilt hat. Schon hier ist die Logik hervorgehoben, dass die Faszination zuerst der Person galt. Er hatte in seinem Freund ein Vorbild gefunden, das ihm eine lebendige Forscherhaltung sowie untrennbar damit verbunden ein von ihm latent schon favorisiertes Interessengebiet erstmals erschlossen hat. Dieses Muster sieht Arens in allen weiteren Stationen im Prinzip sich wiederholen. Es ist eine gelingende Sozialbeziehung, in der ein gemeinsames Interesse für das neugierige Forschen, die Natur des Universums, die Astronomie als Fach die Basis abgibt und offenkundig auch die Beziehung selbst trägt und ihr Nahrung gibt. Auch für die Arbeitsbündnisse, die später im Studium wichtig werden, wird diese Logik des Gelingens der Sozialbeziehung herausgehoben. Arens nennt die Arbeitsbündnisse zwischen Studenten untereinander (studentische Peer-Groups am Department), zwischen Studenten und Professoren und schließlich zwischen Doktoranden und Betreuern, in denen sich das vage Forscherinteresse immer weiter verdichtet, bis es bei einem selbständigen Forschungsthema angelangt ist. Immer folgt die Schilderung der gleichen Logik. Arens scheint dieser Logik sogar noch zu folgen, wenn er selbst längst durch alle Stationen hindurch – die makrostrukturelle Dynamik der Fachdiskurse der weltweit operierenden astronomischen Forschergruppen beschreibt und die soziologische Theorie entfaltet: Zwei Gehirne denken zusammen weiter als jedes Gehirn für sich alleine. Es ist darin eine Faszination für die Praxis des Forschens als eines sozialen, auf Reziprozität beruhenden Prozesses enthalten, und diese Faszination hat etwas Ansteckendes.
P RÜFUNG DER H YPOTHESEN Damit sind wir erneut durch die Fälle hindurchgegangen. Es soll an dieser Stelle nur kurz darauf hingewiesen werden, dass der Arbeit ursprünglich noch viel mehr Fälle, nämlich insgesamt fünfundzwanzig Fallanalysen zugrunde lagen und viele interessante Kontrastfälle dem Darstellungsproblem des irgendwie ja zu begrenzenden Umfangs zum Opfer gefallen sind. Mit ihnen würde sich das Modell des Forscherhabitus noch weiter verfeinern lassen. Wir konnten aber darauf verzichten, weil das wichtigste Gesamtergebnis nicht mehr berührt wird. In der Einleitung zu dieser Arbeit waren insgesamt sechs Hypothesen genannt worden, an denen das professionalisierungstheoretische Modell zu überprüfen war. (1) Die erste Hypothese war schon mit den ersten sechs Fallanalysen weitgehend erhärtet, denn immer zeigte sich eine krisenzugewandte, die Routine als Grenzfall empfindende Haltung. Daran hat sich auch bei den anderen Fällen nichts mehr geändert. Diesem Kriterium der Professionalisierungstheorie (stellvertretende Krisenbewältigung) entspricht die Wissenschaft also uneingeschränkt.
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(2) Es ist auch deutlich geworden, dass sich die Handlungslogik trotz unterschiedlicher Inhalte in den verschiedenen Fächern wiederholt und vergleichbare Handlungsprobleme bewältigt werden müssen. Die meisten dieser Handlungsprobleme äußerten sich anhand detaillierter Beispiele, die ad hoc im Gespräch gebildet waren. Meistens ließ sich an der Art und Weise, wie die Beispiele geschildert wurden, das Habituelle deutlich erkennen. (3) Die These einer professionsethischen Selbstkontrolle ist nicht so einfach abzuhandeln. Nicht dass ich nicht glaubte, dass sie sich erhärtet hätte. Aber woran macht man das genau fest? Vielleicht zunächst daran, dass keiner der Interviewpartner an irgendeiner Stelle erkennen ließ, dass er nicht selbstgesteckten Standards der Qualität, sondern außengeleitet den Vorgaben der Marktkonkurrenten oder den Kontrollwünschen einer staatlichen Administration Folge leisten würde. Etwas Derartiges spielt einfach überhaupt keine Rolle. Wettbewerb wird von vielen Interviewees als etwas Gutes unterstellt, namentlich von Sattler, Martens, Arens. Aber dieser Wettbewerb ist nicht derselbe wie der eines Marktes, es geht nicht darum, Konkurrenten durch bessere Angebote einer vergleichbaren Leistung hinter sich zu lassen. Es geht immer um Leistungen, die einzigartig sind und als erster geschafft werden wollen. Sind sie erst einmal geleistet, kommen sie auch den Kollegen zugute. Sie werden nicht exklusiv zurückgehalten und patentiert. Die Professionsethik äußerte sich gerade an Grenzphänomenen. Ein Labor darf eine Mausmutante nicht zu lange für sich zurückhalten! Eine zu starke Kompetitivität unter Doktoranden und Postdocs stört die Laborkultur und muss im Zaum gehalten werden! Beide Beispiele drücken nicht die Normalität einer Marktgesetzlichkeit aus, sondern sind Ausdruck einer gerade geforderten professionsethischen Selbstkontrolle, die im Falle der Doktoranden, da sie manchmal noch nicht hinreichend ausgeprägt ist, durch eine geeignete Laborregie und geschickt gesetzte Veranstaltungen hervorgelockt werden muss. Dabei geht es darum, ein gemeinwohldienliches Verhalten zu verselbständigen. (Nur Frau Glasner hatte zur Kompetitivität eine gegenteilige These angedeutet.) – Sattler, Martens und Arens sind durchaus Verfechter einer administrativ straffen Leitung der Forschergruppe. Kontrollen müssen sein: Zur Not muss man einen Doktoranden wieder zurückschicken. Es gibt aber keine einzige Stelle, in der unterstellt würde, dass irgendjemand anderes als dieser Doktorand selbst besser wissen könnte, wie genau ein Experiment zu der Beobachtung durchzuführen wäre, die er gerade gemacht hat, oder in der irgendjemand anders als die Wissenschaftler selbst die Qualitätsmaßstäbe ihrer Arbeit festlegen sollten oder auch nur könnten. Es gibt Hierarchie, aber dieses institutionelle Gefälle gehorcht nicht der Logik: Oben die Krisenbewältigung, unten die Routinearbeit; oben die große Theorie, unten die Mühsal der Details. (Nur Frau Glasner hatte eine solche Phantasie gegen Ende ihres Gesprächs geäußert.) In Wirklichkeit ist die Hierarchie daran gebunden, wer ein Forschungsprogramm intellektuell vertreten kann. Ein Abrücken von der
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Bench nach Oben in die administrative Leitung und Professionspolitik kann da zum großen Problem werden, wenn ein Laborleiter nicht mehr genau und zeitnah („Mittwochsseminar“) einschätzen kann, was in seinem Labor geschieht. Weitere Äußerungen der Professionsethik zeigen sich an vielen Stellen. Die aufgezeigten Handlungsprobleme des Wissenschaftsberufs sind so zahlreich, dass ich darauf verzichten will, sie alle eigens nochmals zu nennen. Sinnvoll ist aber eine grobe Einordnung in einem System von Handlungsproblemen, an denen sich eine professionsethisch zu nennende Selbstkontrolle entwickelt. Dabei ist wie schon angedeutet charakteristisch für sie, dass sie sich als Einheiten widerstreitender Anforderungen beschreiben lassen. Folgende Ordnung legen die Fälle nahe: (a) Handlungsprobleme im engeren Zusammenhang der Forschungslogik: z.B. Aufdecken und Einrichten eines neuen Forschungsproblems durch geduldige Hinwendung an das Unbekannte und seine theoriesprachliche Übersetzung vs. Gegenprobe, ob es sich wirklich um ein neues Problem handelt, z.B. durch Lektüre der Literatur. Bildung einer Überzeugung und Entwurf einer Hypothese durch Verortung und Entgegensetzung zur vorherrschenden Meinung vs. Überprüfung dieser Hypothese in einer empirischen Untersuchung. Entwurf einer konkreten Forschungsidee und Anlage eines Forschungsprogramms auf der Basis etablierter Methoden vs. Kunstlehre des Ertastens konkreter Schritte in eine offene Zukunft hinein. Anspruch auf mechanistische Erklärung vs. Rückbindung der Details an eine philosophische Fragestellung. Herunterbrechen großer Fragestellungen auf überschaubare Forschungsprobleme vs. Rückbezug der Details auf die große Theorie. (b) Handwerkliche Routinen des Forschungsalltags: z.B. Pflege der Apparaturen und Versuchsmodelle (Tiere), Akribie der Befundprüfungen, Sorgfalt bei der Durchführung von Experimenten, wiederholte Gegenproben von Messwerten, Misstrauen gegen Artefakte vs. Offenheit für unerwartete Beobachtungsdaten und Notwendigkeit, den laufenden Datenstrom immer wieder auf seine Bedeutung für das Ganze hin zu befragen; Pflicht zum ständigen Rezipieren laufender Publikationen, vs. nicht mehr zu bewältigender Fluten an Publikationen. (c) Handlungsprobleme im Zusammenhang mit der Fachöffentlichkeit: z.B. Pflicht zur sachhaltigen Kritik an Kollegen vs. Abwarten des besten Zeitpunkts für den Einstieg in eine Debatte; methodische Kritik vs. praktische Kritik, „Werturteilsfreiheitsproblem“. Pflicht zur Kenntnisnahme von Forschungsergebnissen in Journalen und Kongressen vs. Primat der eigenen Forschungsanstrengung; Pflicht zur Weitergabe von Entdeckungen vs. begrenztes Zugeständnis an Verwertungschancen; Pflicht zur Beteiligung an den großen Debatten des Fachs und zugleich Askesepflicht gegen die kulturindustrielle Verführung massenmedialer Präsenz. (d) Binnenprobleme und soziale Organisation einer Forschergruppe: z.B. Menschenführung, Laborregie, Korrektiv der Gruppendynamik. Laborinterne Pflege einer Kultur des Austauschs und der Kooperation („Mittwochskolloquium“) vs.
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Wettbewerb der Mitarbeiter um Erfolge für das Forschungsprogramm; soziale und intellektuelle Binnenidentität einer Forschergruppe durch Bindung der Mitarbeiter an das avantgardistisches Arbeitsprogramm und Abgrenzung der Gruppe vom Mainstream oder konkurrierenden Ansätzen vs. Kooperationen mit anderen Forschergruppen und Pflege eines Blicks nach außen. (e) Bereitstellung von Arbeitsbündnissen und Schüler-Meister-Verhältnissen in der Lehre: z.B. Ehre, das eigene Fach zu vertreten und darin Anerkennung eigener Forschung vs. Pflicht ihrer Durcharbeitung bis zum Grad kanonisierter Lehre; Studenten und Doktorandenbetreuung: deren Behandlung als Kollegen; Suche nach guten Doktoranden vs. Pflicht zur Betreuung auch schlechter Studenten; Verantwortung bei der Themenvergabe: Gebot zur möglichst interessanten Präsentation eines Themas vs. Wahl der geeigneten Doktoranden; Heranführen an reale Krisenbewältigung vs. Betreuung und Supervision in Kolloquium. (f) Selbstverwaltung bzw. Wissenschaftsmanagement: z.B. Übernahme von Aufgaben der administrativen Leitung vs. Willen, „an der Bench“ zu bleiben; Gutachterpflichten im Peer Review-Verfahren: Verantwortung für befreundete Forschungsprojekte vs. Verantwortung gegen den alimentierenden Souverän/die Profession; Wirtschaftlichkeitsgebote vs. Bereitschaft zur Finanzierung riskanter Forschung bzw. risikofreudige Entscheidung für riskante Investitionen. (g) Pflege der Profession: z.B. Pflicht zur Aneignung der eigenen Fachgeschichte vs. Primat der aktuellen Forschung; Kooperation mit anderen Instituten/Universitäten: Pflege guter Kontakte vs. Konkurrenz um gute Doktoranden. (h) Karriere: z.B. „Nicht verzetteln“: strenges Verfolgen des eigenen Arbeitsplans vs. Anforderungen zur Übernahme von Diensten für ein Institut; Wettlauf um eine Erstentdeckung vs. Gebote zur Hilfe des Nebenmanns am Laborplatz; Gebot der Publikation möglichst vieler guter Forschungsergebnisse vs. Gebot zur sparsamen Publikation nur solcher Ergebnisse, die wirklich relevant sind; Mitarbeit am Forschungsprogramm des Instituts vs. Herausschälen eines eigenen Forschungsthemas, und auf der Seite des Laborleiters: Bereitstellen von Freiräumen für Postdocs vs. Inanspruchnahme für Aufgaben der Laborleitung (Kontrollen, Gegentests, Expertise). (i) Soziale Folgen der Professionalisierung für das Privatleben: der Wissenschaftler ist rund um die Uhr Forscher: Drohende Entfremdung von Ehe und Familie vs. Familie als Quelle der Erneuerung vorakademischer Gegenstandsbezüge („Sattlers Waldspaziergang mit der Tochter“). Resignatio des Alters. (4) Die vierte Hypothese besagte, dass Wissenschaftler in erster Linie Fragen nachgehen, zu denen sie ihre Neugierde anhält. Hier hatte die Diskussion zur habituellen Differenz von Wissenschaftlern in der Grundlagenforschung und in der Anwendungsforschung einige Erhellung gebracht: Die These, dass diese Differenz entlang der Linie Universität/Institut hier und Industrie dort verläuft ist in jeder Hinsicht falsch oder irreführend. Gleichwohl gibt es diese habituelle Differenz. Wichtig ist,
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ob ein Wissenschaftler in einer eigenen philosophischen Fragestellung verankert ist und einer an ihr laborierenden Bildungsdynamik folgt. Darum sind die Industrieforscher aber keineswegs weniger professionell. Sie folgen aber meist anderen Motiven, darunter auch kurativen oder ärztlichen Absichten. Man kann die These also dahingehend zuspitzen, dass nur am Forscherhabitus überhaupt zu erkennen ist, ob einer dem Typus nach ein Vertreter der autonomen Forschung ist oder nicht. (5) Der erfahrungswissenschaftliche Habitus ist fächerübergreifend universell. Ein naheliegender Einwand gegen diese These könnte sich darauf richten, dass hier nur Naturwissenschaftler untersucht worden sind. Wie verhält es sich mit dem Forscherhabitus in den Geistes-, Kultur und Sozialwissenschaften? Ist eine vergleichbare Gegebenheit dort nicht eher unwahrscheinlich und hätte es dies nicht gerechtfertigt oder gar zwingend erforderlich gemacht, auch Interviews mit Ethnologen oder Historikern oder Soziologen zu führen? Natürlich, das ist ein Desiderat der Untersuchung. Allerdings dürfte der Gewinn nicht darin liegen, dass sich eine grundlegend andere Haltung zeigt. An die Stelle der Schmetterlinge tritt lediglich die Faszination für das mittelalterliche Ritterwesen oder das Interesse für fremde Milieus und Sprachen und an die Stelle der Nematoden treten handschriftliche Papyri, an die Stelle des stundenlangen Beobachtens eines Fotos eines hochauflösenden Teleskops tritt das „Jagdfieber“ und „Sitzfleisch“ des Historikers im Archiv. Ich glaube nicht, dass sich die Grundhaltung wirklich unterscheidet. Um jedoch ein anderes Argument nicht schuldig zu bleiben: Fragt man danach, ob nicht ein möglicher Falsifikator des Modells darin bestanden haben könnte, dass es in den Geschichtswissenschaften zum Beispiel Gegenstände gibt, die sich aufgrund ihres schrecklichen Charakters einer Faszination gerade nicht anbieten, so dass die Rede davon geradezu lästerlich und jedenfalls unangemessen wäre und ein professionalisierter Habitus dort auch nicht auf Faszination und Leidenschaft für die Sache der Forschung selbst gegründet sein könne, so verweise ich auf das Buch des amerikanischen Historikers Raul Hilberg, des Historikers der Massenvernichtung der Juden im Zweiten Weltkrieg, über „Die Quellen des Holocaust. Entschlüsseln und Interpretieren.“4 Er drückt dort an vielen Passagen aus, wie sehr ihn die zahlreichen Akten, Dokumente und anderen Quellen aus Archiven der deutschen Wehrmacht, SS und Regierungsstellen natürlich nicht ob ihres Inhalts, sondern ob ihrer Auswertbarkeit und den sich bietenden Möglichkeiten fasziniert haben, das Großverbrechen auf seine Details heruntergebrochen rekonstruieren zu können. Hilberg „entdeckte“ den eigenständigen Charakter der Quellen nach eigener Aussage (S. 9) erst fünfzig Jahre nach Beginn seiner Studien zur Massenvernichtung, nachdem bereits tausende von Dokumenten auf der Suche nach Belegen für ein4
Hilberg, Raul: Die Quellen des Holocaust. Entschlüsseln und Interpretieren. Aus dem Amerikanischen von Udo Rennert. Frankfurt 2001.
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zelne Vorgänge durch seine Hände gegangen waren. Dennoch ist diese „Faszination“ wohl von Anfang an da gewesen und hat ihm den Umgang mit diesen Papieren des Grauens überhaupt erst ermöglicht. Eine naheliegende Überlegung ist, dass ein frühes biographisches Erlebnis hierbei ausschlaggebend war. Als Sohn eines 1939 aus Wien nach New York emigrierten Juden war Hilberg in die amerikanische Armee eingetreten und mit seiner Division an der Befreiung des KZ Dachau beteiligt gewesen. Kurz nach dem Krieg stieß er im „Braunen Haus“ in München, in das er einquartiert war, auf Teile der Privatbibliothek Adolf Hitlers. Da war er den verantwortlichen Personen persönlich schon sehr nahe gekommen. Aus der Armee entlassen kam er zum War Documentation Department, dessen Aufgabe in der Recherche von Dokumenten bestand, die es erlauben sollten, Kriegsverbrechen strafrechtlich verfolgen zu können. Auch hier führt der Weg in die Forschung über die Kriminalistik, doch anders als bei Hellwein nicht über gerichtspathologische Spurensuche, sondern über Papiere, Archive und bürokratische Zeugnisse des Geschehens. Hilbergs ganze Arbeit belegt, dass ihn nicht persönlicher Rachedurst leitete, sondern das Interesse an einer wissenschaftlich hinreichenden Erklärung und Aufdeckung des Geschehens. Dabei mag wichtig gewesen sein, dass er lebensgeschichtlich betroffen war, in seinen Arbeiten geht es aber weder darum, irgendwen zur Strecke zu bringen, noch den Opfergang der Juden als solchen zu schildern, als vielmehr um ein geduldiges „Entschlüsseln und Interpretieren“ der Dokumente, mit Hilfe derer man dem Gesamtgeschehen in seiner Monstrosität, die viele ja für letztlich unerklärlich halten, auf die Spur kommen kann. Das Argument lautet also, dass selbst bei solchen Großverbrechen gegen die Menschlichkeit und sogar bei persönlicher Betroffenheit es eine Leidenschaft für das Enträtseln ist, das die Arbeit leitet und ohne diese verselbständigte Haltung mit ihrem Sinn für den versachlichenden Quellencharakter der Funde und Schriftstücke wäre eine solche bewunderungswürdige Arbeit wohl auch kaum zu bewerkstelligen. Ein Einwand ganz anderer Art ist schon angesprochen worden. Ist die Annahme eines fachübergreifenden Forscherhabitus nicht illusionär oder irreführend angesichts des heutigen Grades der funktionalen Ausdifferenzierung der Wissenschaften? Eine entsprechende These scheint, wenn ich es recht verstehe, Stichweh zu vertreten. Seine Argumentation, dass die Profession der Wissenschaft aufgrund fortschreitender funktionaler Differenzierung sich auflöse und in einer globalen epistemischen Kultur aufgehe, muss der These des Forscherhabitus nicht zwingend widersprechen und könnte vielleicht sogar mit ihr konvergieren. Allerdings ist die These an ganz anderen Einschätzungen ausgerichtet. Stichweh nennt fünf Argumente dafür, dass die alten Professionen seit Mitte des 20. Jahrhunderts ihre gesellschaftsbestimmende Kraft verlieren würden und als Disziplinen ihre frühere Iden-
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tität nicht mehr fortführen könnten.5 (1) Das Entstehen der großen Massenuniversitäten, Großkliniken oder Forschungsverbände habe den Siegeszug der Organisation gebracht. Mit ihm habe sich ein Zwang zur Hierarchisierung eingestellt und die Verwaltung zum mächtigen Gegenspieler der Professionen erhoben, was zum Abbau korporativer Berufswelten und freiberuflicher Autonomie geführt habe. (2) Die Wissensordnungen seien nicht mehr alleine an die Wissenschaftsdisziplinen gebunden. Wissen bilde sich orthogonal in allen Funktionssystemen; fast alle Berufe seien wissensbasiert oder verwissenschaftlicht; die Disziplinen könnten daher nicht mehr ein Monopol beanspruchen. (3) Der Nationalstaat und seine Gesetze seien nicht mehr das alleinige Bezugssystem der Professionen, sondern ein globalisierter Markt mit seinen weltweit tätigen Gesundheitskonzernen oder Kanzleien und international konkurrierenden Universitäten. (4) Man könne im Tätigkeitsprofil der Professionen einen Rückgang der Klientenbezüge beobachten, dem eine Ausweitung der Beanspruchung als Experten für Fachgremien gegenüberstehe. Und (5) die Professionen müssten angesichts der Ausweitung von Evaluation, Auditoring oder leistungsorientierter Mittelzuweisung den Verlust ihrer Selbstkontrolle hinnehmen. Diese Beobachtungen treffen natürlich reale Veränderungen. Geht man von unseren Fällen aus, so stellen sich die Dinge allerdings in einem ganz anderen Licht dar. Blickt man zum Beispiel auf den Fall Arens, so kann von einem Verschwinden oder Rückgang der Bedeutung der Profession oder Disziplin für den Wissenschaftsbetrieb der Astronomie trotz oder gerade angesichts weltumspannender globaler Aktivitäten in einem Fach, das angesichts seiner riesigen Teleskopanlagen auf die Rationalität formaler Organisation unbedingt angewiesen ist, überhaupt keine Rede sein. Arens sieht weniger die Astronomie, als immer noch die Wissenschaft im Ganzen als Profession an. Er ist in informellen Zirkeln der nationalen Forschungsplanung tätig, gestaltet die Entwicklung dort schon mit, als er noch nicht Professor ist. Noch deutlicher ist dieser Punkt bei Sattler. Die Max Planck-Gesellschaft hat offenbar einen Weg gefunden, einen Forschungsbetrieb, der auf Institutsebene 200 Wissenschaftsstellen umfasst, mit nur sechs Verwaltungsstellen zu meistern. Auch wenn die Zentrale in München wichtige Aufgaben der Beschaffung etc. übernimmt, ist dies immer noch ein hervorragender Schlüssel und ein Geheimnis ihrer erfolgreichen Forschungspolitik. Auch Sattlers Äußerungen zum Wissenschaftsmanagement bestätigen eher die Fortexistenz der Profession, auch wenn die administrativen Anforderungen immer größer werden und auch etwas Drückendes haben. An den Universitäten stehen die Dinge etwas anders. Hier hat die Jahrzehnte andauernde Unterausstattung im wissenschaftlichen Personal bei gleichzeitig im5
Nach meinen eigenen Notizen eines mündlichen Vortrags von Rudolf Stichweh auf der Tagung „Der Stellenwert der Professionen in der Gesellschaftstheorie“ an der Universität Frankfurt a.M., 7. und 8. Mai 2010. Der Vortrag trug den Titel: „Epistemische Communities und die Globalisierung der Expertise. Zur Zukunft der Professionen.“
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menser Zunahme von Verwaltungs-, Gutachter-, Lehr- und Betreuungsaufgaben schon lange dazu geführt, dass die Selbstverwaltung, das Peer Review im Drittmittelverfahren auch bei wohlwollender Betrachtung nicht mehr richtig funktioniert.6 Die jüngere Universitätsreform hat in der Tat Elemente administrativer Kontrolle eingeführt, deren Schwierigkeit weniger darin besteht, dass die Kontrolle von außen erfolgen würde, als vielmehr, dass sie die innere Selbstkontrolle bürokratisch formalisiert und ungemein aufgebläht hat. So findet, als ein Beispiel, in Deutschland universitätseigene Forschung heute praktisch nicht mehr statt, sondern muss durch Drittmittelverfahren eingeworben werden, deren Erfolgsquote wiederum über den Status eines Wissenschaftlers an seiner Universität bestimmt. Dem immensen Zuwachs an Anträgen und Verfahren stehen die Anforderungen und Zahlen an Gutachtern gegenüber, die die Anträge bewerten müssen. Bei beidem, Anträgen und Gutachten, mussten die Wissenschaften längst erhebliche Qualitätsabstriche hinnehmen. Hinzukommt, dass der immense Machtzuwachs der Gutachter und das ganze Prozedere eine strategische Anpassungshaltung der Antragsteller nach sich gezogen hat. Man kann beobachten, dass Antragsteller bemüht sind, sich möglichst dadurch unangreifbar zu machen, dass sie vermeiden, sich mit allzu riskanter, aneckender Forschung zu exponieren: Themen werden nahe an praktischen Problemlagen gewählt; Projektanträge werden in einer Sprache eingerichtet, die sich nahe an etablierten Diskursen hält; viele Anträge „kennen“ bereits Ergebnisse oder stellen sie in Aussicht; schroffe Entgegensetzungen gegen andere Positionen werden vermieden. Alles dies unterhöhlt die Professionskultur, keine Frage. Aber im Grunde gab es vergleichbare Phänomene schon immer. Es gehört zur Geschichte der Professionen dazu, dass ihre Professionalisierung unvollkommen ist. Hier geht es um die Frage, ob diese Phänomene den Schluss zulassen, dass es so etwas wie einen professionalisierten Habitus nicht (mehr) gibt. Meines Erachtens kann davon keine Rede sein. Unterhalb der institutionellen Ebene gibt es vielmehr interessante Entwicklungen, die der These einer fortschreitenden funktionalen Differenzierung widersprechen. Sowohl das Beispiel der theoretischen Astrophysik, die mit der Elementarteilchenphysik immer mehr kooperieren muss, als auch die Beispiele der Entwicklungsbiologie und der Neurowissenschaften, in deren Forschungsgruppen heute Chemiker, Informatiker, Neuroanatomen, Molekularbiologen, Mediziner usw. zusammenkommen, deuten ein immer stärkeres Zusammenwachsen ehemals getrennter naturwissenschaftlicher Forschungsfächer an. Das Interview mit dem Proteinforscher Martens zeigt an den Stellen, in denen es um die Industrie geht, wie sehr neben der Chemie heute die Life Sciences damit beschäftigt sind, als Profession über die akademische Welt hinauszuwachsen und zwischen den Konzernen 6
Vgl. hierzu Münch, Richard: Akademischer Kapitalismus, Über die politische Ökonomie der Hochschulreform. Frankfurt a.M. 2011.
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und den Instituten der Grundlagenforschung die Barrieren abzubauen oder durchlässiger zu machen. Gleichwohl kann überhaupt keine Rede davon sein, dass die beiden Sphären dabei seien, miteinander zu verschmelzen, wie in der Debatte um den Mode 2 hartnäckig suggeriert wird.7 Auf der institutionellen Ebene mag dies stimmen, aber habituell gibt es klare Grenzen, die sich auch innerhalb der Sphären erhalten und sichtbar gemacht werden können. Hier ist die entsprechende Wissenschaftssoziologie empirisch einfach nicht genau genug. Letztlich sorgt diese habituelle Grenze aber dafür, dass das Primat der Forschung in den nicht kommerziellen Forschungseinrichtungen immer dafür sorgen wird, dass Leute mit einem wirklichen philosophischen Grundlagenproblem mehrheitlich in diese Einrichtungen zurückkehren werden und sie darum auch die Führung der autonomen Wissenschaft behalten werden. Historiker wie Steven Shapin unterschätzen daher m.E. die bleibende Bedeutung der universitären Grundlagenforschung, wenn sie die (zugleich) wachsende Bedeutung der privaten Forschung für den Fortgang der Wissenschaft betonen.8
AUSBLICK Abschließend soll ein kurzer Ausblick gewagt werden. Die Stärke der gewählten professionalisierungstheoretischen Herangehensweise besteht m.E. darin, eine Perspektive auf die Wissenschaft einzurichten, die konsequent die wissenschaftliche Praxis zum Gegenstand macht und alle weitergehenden Untersuchungen zur Vergangenheit und Gegenwart der Forschungsdisziplinen von einer basalen Analytik ausgehen lässt, die die in dieser Praxis bearbeiteten typischen Handlungsprobleme und die ihnen innewohnende Strukturlogik und -Dynamik ins Zentrum rückt. Der Ansatz kombiniert dabei ein fallrekonstruktives Vorgehen mit einer strukturanalytischen Modellbildung, die das wissenschaftliche Handeln als einen herausgehobenen Typus der Krisenbewältigung behandelt und das wissenschaftliche Forschen daher von vorneherein als einen offenen, ungewissen und im Ergebnis nicht vorhersagbaren Fall des Handelns betrachtet. Daraus ergeben sich keineswegs grundsätzlich andere Fragen, als sie in der klassischen Wissenschaftssoziologie
7
Nowotny, Helga/Scott, Peter/Gibbons, Michael: Re-Thinking Science. Knowledge and the Public in an Age of Uncertainty. Oxford 2001; Gibbons, Michael u.a.: The New Production of Knowledge: The Dynamics of Science and Research in Contemporary Societies. London 1994; Nowotny, Helga u.a.: Mode 2 revisited: The New Production of Knowledge. In: Minerva. 41, 2003, S. 179-194.
8
Shapin, Steven: The Scientific Life: A Moral History of a Late Modern Vocation. The University of Chicago Press, Chicago, Ill. 2008.
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schon immer thematisch waren. Viele dieser Fragen lassen sich aber doch neu angehen. Eine Frage allgemeiner Natur ist die Frage, welche strukturellen Bedingungen ein Gelingen jener an sich doch eher unwahrscheinlichen Krisenbewältigungsprozesse begünstigen und wie man ein solches Gelingen in seinem sequenziellen Vortasten und Erproben, Auswertung und Anpassen an Resultate an konkreten Fällen der wissenschaftlichen Praxis rekonstruieren kann. Hier geht es um die alte Frage nach dem Innovationsgrad wissenschaftlicher Labors, Universitäten und nationaler Wissenschaftssysteme, wie man ihn messen und kausalanalytisch erklären kann. Dies ist schon mit einem indikatorentheoretischen Ansatz außerordentlich anspruchsvoll. Der fallrekonstruktive Ansatz bietet hier eine Ergänzung, weil er – methodisch über die Fallstudie, die lediglich Effekte illustriert, die vorab schon bekannt sind, hinausgehend – verschiedene Komponenten wieder sichtbar macht, die man ohne detaillierte Fallanalyse nicht hinreichend scharf ins Visier nehmen könnte. Er erweitert die Möglichkeiten um mikrosoziale, gruppendynamische und biographische Aspekte, ohne jedoch die makropolitischen und institutionellen Gegebenheiten deshalb vernachlässigen zu müssen. Denn das fallrekonstruktive Vorgehen nimmt ein Projekt immer in seiner Totalität als konkrete Lebenspraxis in den Blick und versucht, jene Komponenten in ihrem fallspezifischen Zusammenhang zu sehen und aus einer Deutung der Gesamtkonstellation einer Forschungspraxis zu verstehen. Viele dieser Komponenten wurden in dieser Arbeit nur gestreift, aber es sollte doch anschaulich geworden sein, dass man jeden der Aspekte, also auch wissenschaftsimmanente, erkenntnislogische durchaus hätte vertiefen können, wenn dies unsere Fragestellung gewesen wäre. Auch wir sind ja einem „reduktionistischen“ Ansatz insofern gefolgt, als die Interviews im Hinblick auf das Habituelle und die es betreffenden Fragen ausgewertet worden sind und auch schon mit diesen Fragen geführt wurden. Es ließe sich aber auch etwas anderes vertiefen. – Ausgehend von den konkreten Befunden bieten sich mehrere Folgeprojekte an, die ich kurz skizzieren will. (1) Ein naheliegendes Projekt bestünde in einer exemplarisch vertiefenden Auswertung einiger Wissenschaftlerbiographien, deren Ursprungskonstellation viel gezielter und detaillierter aufzuklären wären, als wir dies in dieser Arbeit leisten konnten. Die vielen Autobiographien von Wissenschaftlern liefern hierzu interessante Beiträge, aber es käme doch darauf an, mit einigen Forschern in mehreren Anläufen die Erinnerung bis in die frühe Kindheit immer weiter zurückzutreiben und auch solche Episoden zu heben, die normalerweise nicht in Lebensdarstellungen eingehen. (2) Ein vergleichbares Projekt betrifft die persönlich-krisenhaften Bildungsprozesse von Studenten und Doktoranden im akademischen Setting. Als Beispiel aus den Anfangssemestern des Medizinstudiums kann der Präparationskursus dienen. Wie
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führen die Dozenten ihre Novizen an die typischen Handlungsprobleme heran und welche Hilfestellungen gewähren sie ihnen? Was lässt sich als strukturell dabei herausarbeiten und welche persönlichen Stile gibt es? In welchen Phasen dominieren Bildungsprozesse und wie helfen sich Studenten untereinander (in studentischen Peergroups) oder mit sich alleine? (3) Ein Desiderat des professionalisierungstheoretischen Ansatzes sind die sogenannten „normativen Wissenschaften“ wie die Pädagogik, die Theologie oder die Rechtswissenschaft. Man könnte auch die Medizin dazuzählen, weil auch sie eine Wissenschaft ist, die einer praktischen Profession dient und insofern nur bedingt selbst Grundlagenwissenschaft betreibt, als sie auf der Basis eines spezifischen wertgebundenen Erkenntnisinteresses tätig ist. Wie genau stellt sich aber der erfahrungswissenschaftliche Habitus in diesen Fächern dar, wenn der Gegenstand der Forschung nicht in der Natur angetroffen werden kann, sondern eine Werthaltung der Praxis immer schon voraussetzt und insofern auch nicht alleine in einer ästhetischen Erfahrung begründet sein kann? (4) Eine Fortsetzung der Ergebnisse dieser Arbeit wäre die Untersuchung des Innenlebens von Forschungs-und Laborgruppen und wie es gelingt, ihre innere Dynamik aus Wettstreit und Opposition zu entfesseln und zugleich auf das erstrebte Ziel einer gemeinschaftlichen Arbeit am Forschungsprogramm hin zu lenken. Hierbei müssten mehrere kontrastiv ausgewählte Forschergruppen miteinander verglichen werden und jeweils erhoben werden, wie diese Gruppen mit Handlungsproblemen der Menschenführung und Laborregie, der sozialen Krisenintervention bei Konflikten und Gruppendynamik (auf Seiten der Laborleiter), und des geforderten Kooperationsgebarens und der Integration neuer Doktoranden, der Binnenpflege (auf Seiten der Mitarbeiter) umgehen. Welche Arrangements fester Termine („Mittwochskolloquium“) sichern den Binnendiskurs, wie ist der Außendiskurs gewährleistet, und welches persönliche Regime herrscht im Laboralltag? (5) Eine andere Fortsetzung mit Überprüfungscharakter ist die Untersuchung des Habitus in der Industrieforschung. Ich erwarte hier keine wirkliche Korrektur der Befunde dieser Arbeit, doch eine solche Untersuchung wäre durchaus lohnenswert. Der Gewinn wäre vermutlich eher darin zu sehen, die anderen Motivationslagen genauer zu bestimmen, mit denen die Akademiker und Methodenhandwerker „ohne philosophische Fragestellung“ in der Industrie ihren Projekten nachgehen. Dies wäre nicht nur für eine feindiagnostische Bestimmung der Gemeinsamkeiten und Differenzen von Erfahrungswissenschaftlern und Ingenieuren, Unternehmern und Ärzten interessant, sondern – auf dieser Basis – wichtig für die Mikrosoziologie der spezifischen Milieus der Industrielabors und was sie zusammenhält. Martens hatte hierzu viele interessante Hinweise gegeben.
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(6) Ein ganz anderer Anschluss ergibt sich im Hinblick auf die Selbstverwaltung und Forschungspolitik. Schon immer hat die Soziologie interessiert, über welche Mechanismen ein Wissenschaftssystem die Leute (und mit ihnen die Themen) auswählt, die die Forschung in Zukunft in den wichtigsten Zweigen bestimmen werden. Das Grundproblem ist: Die Bewerber müssen einerseits hinreichend qualifiziert und exzellent sein, andererseits ist jede Entscheidung auch eine Wette auf die Zukunft, weil ein Berufener die Hauptleistung noch vor sich haben sollte. In Deutschland ist die Berufung von Professoren und Direktoren lange Zeit der entscheidende Vorgang gewesen und ist es gewiss immer noch. Doch das Prozedere hat sich mit den jüngeren Universitätsreformen geändert. Trafen früher die Professoren in Berufungskommissionen die Entscheidung und wurden von einem Minister-Letztentscheid dazu angehalten, Listen mit Schülern („Hausberufung“), schwachen Kompromisskandidaten usw. zu vermeiden, haben heute die Dekane und vor allem Universitätspräsidien an Macht gewonnen und Aufgaben übernommen, aus denen sich die Ministerialbeamten weitgehend zurückgezogen haben. Die Präsidien tragen strategische Verantwortung und können das Profil ihrer Hochschule gestalten. Aus professionalisierungstheoretischer Sicht verbindet sich damit jedoch die Frage, wie diese Leitungsebene mit der Krisenhaftigkeit dieser Entscheidung umgeht und wie sie ihre strategischen Entscheidungen trifft. Diese bleiben ja eine riskante Festlegung von Ressourcen auf bestimmte Forschungsgebiete und Ansätze und müssen in einem hochkomplexen Umfeld eingefädelt werden.
Sach- und Namenverzeichnis
N AMENVERZEICHNIS Altenstein, Karl Sigmund Franz Freiherr vom Stein zum Altenstein (1770-1840), preußischer Kultusminister Althoff, Friedrich Theodor (1839-1908), preußischer Kultur- und Universitätspolitiker Anaximander (um 610 v. Chr. - nach 547 v. Chr.), vorsokratischer griechischer Philosoph Apel, Karl Otto (1922), deutscher Philosoph Aristarchos von Samos (um 310 v. Chr.- um 230 v. Chr.), griechischer Astronom und Mathematiker Aristoteles (384 v. Chr.-322 v. Chr.), griechischer Philosoph Avicenna, Abu Ali al-Husain ibn Sina-e Balkhi (latinisiert Avicenna) (980-1037), persischer Arzt, Physiker und Philosoph. Bacon, Francis (1561-1626), englischer Philosoph und Staatsmann. Bourdieu, Pierre Félix (1930-2002), französischer Soziologe Boyle, Robert (1627-1691), irisch-englischer Naturforscher; Mitbegründer der Royal Society Carnap, Rudolf (1891-1970), deutscher Philosoph, Hauptvertreter des logischen Empirismus Carr-Saunders, Alexander, englischer Soziologe Chargaff Erwin (1905-2002), österreichisch-amerikanischer Biochemiker und Schriftsteller Charles II. (1630-1685), König von England seit 1660 Crick, Francis (1916-2004), englischer Physiker und Biochemiker, der zusammen mit James Watson die Molekularstruktur der DNA entdeckte Darwin, Charles (1809-1882), britischer Naturforscher Durkheim, Émile (1858-1917), französischer Soziologe Eibl-Eibesfeldt, Irenäus (geb. 1928), österreichischer Verhaltensforscher und Ethnologe
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Einstein, Albert (1879-1955), deutsch-schweizerisch-amerikanischer Physiker Freidson, Eliot, (1923-2005) amerikanischer Medizin- und Professionssoziologe Freud, Sigmund (1856-1939), österreichischer Arzt und Begründer der Psychoanalyse Feyerabend, Paul Karl (1924-1994), österreichischer Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Gay-Lussac, Joseph Louis (1778-1850), französischer Chemiker und Physiker Gouldner, Alvin Ward (1920-1980 ), US-amerikanischer Soziologe Gruss, Peter (geb. 1949), deutscher Zellbiologe, seit 2002 Präsident der MaxPlanck-Gesellschaft Habermas, Jürgen (geb. 1929), deutscher Philosoph und Soziologe Haeckel, Ernst (1834-1919), Evolutionsbiologe, Anhänger Darwins Hallstein, Walter (1901-1982), deutscher Politiker und Jurist Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770-1831), deutscher Philosoph Hughes, Ewerett (1897-1983), US-amerikanischer Soziologe Alexander von Humboldt (1769-1859), deutscher Naturforscher Humboldt, Wilhelm von (1767-1835), deutscher Staatsmann, Sprachwissenschaftler, Mitbegründer der Universität Berlin Kant, Immanuel (1724-1804), deutscher Philosoph Kuhn, Thomas S. (1922-1996), US-amerikanischer Wissenschaftstheoretiker und Wissenschaftshistoriker Lamarck, Jean-Baptiste de (1744-1829), Biologe Lewis, Edward Bok (1918-2004) - US-amerikanischer Genetiker, Nobelpreis für Medizin 1995 Liebig, Justus von (1803-1873), deutscher Chemiker Lorenz, Konrad (1903-1989), vergleichender Verhaltensforscher Lüst, Reimar (geb. 1932), deutscher Astrophysiker, Präsident der Max-PlanckGesellschaft von 1972–1984 Luhmann, Niklas (1927-1998), deutscher Soziologe Marshall, Thomas Humphrey (1893-1981), britischer Soziologe Markl, Hubert (geb. 1938), Zoologe, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft (1996– 2002) Marx, Karl (1818-1883), deutscher Sozialphilosoph und politischer Journalist Montessori, Maria (1870-1952), italienische Ärztin, Reformpädagogin Müller, Johannes (1801-1858), deutscher Physiologe, Meeresbiologe und vergleichender Anatom Neurath, Otto (1882-1945), österreichischer Philosoph, Soziologe und Ökonom Nüsslein-Volhard, Christiane (geb. 1942), Biologin und Genetikerin, Nobelpreis für Medizin 1995 Oevermann, Ulrich (geb. 1940), deutscher Soziologe Oken, Lorenz (1779-1851), deutscher Mediziner und Naturforscher. Gründer der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte
V ERZEICHNISSE Ň 613
Parsons, Talcott (1902-1979), US-amerikanischer Soziologe Pasteur, Louis (1822-1895), französischer Chemiker und Mikrobiologe Petty, William (1623-1687), britischer Ökonom Piaget, Jean (1896-1980), schweizerischer Entwicklungspsychologe Platon (427 v. Chr.-347 v. Chr), antiker griechischer Philosoph Popper, Karl (1902-1994), österreichisch-britischer Wissenschaftstheoretiker Ptolemäus (um 100- um 175), griechischer Mathematiker, Geograph, Astronom, Astrologe und Musiktheoretiker Ranke, Leopold von (1795-1886), deutscher Historiker Rüschemeyer, Dietrich (geb. 1930), deutsch-amerikanischer Soziologe Savigny, Friedrich Carl von (1779-1861), deutscher Rechtsgelehrter Schelling Friedrich Wilhelm Joseph Ritter von (1775-1854), deutscher Philosoph Schelsky, Helmut (1912-1984), deutscher Soziologe Schlick, Moritz (1882-1936), österreichischer Physiker und Philosoph Siegrist, Hannes (geb. 1947), deutscher Historiker Thales von Milet ( um 624 v. Chr.-um 546 v. Chr.), griechischer Naturphilosoph, Staatsmann, Mathematiker, Astronom und Ingenieur Virchow Rudolf Ludwig Karl (1821-1902), deutscher Arzt, Pathologe und Politiker Watson, James Dewey (geb. 1928), amerikanischer Biochemiker, entdeckte mit Francis Crick und Maurice Wilkins die Molekularstruktur der DNS Weber, Max (1864-1920), Jurist, Nationalökonom und Soziologe Wieschaus, Eric Frank (geb. 1947), US-amerikanischer Evolutionsbiologe, Nobelpreis für Medizin 1995 Wiles, Andrew (geb. 1953) britischer Mathematiker Wolpert, Lewis (geb. 1929), südafrikanisch/britischer Entwicklungsbiologe Wren Christopher (1632-1723), britischer Astronom und Architekt Zacher, Hans (geb. 1928), Jurist, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft (19901996)
V ERZEICHNIS Abdomen Acron Arthropoda Axon Codon
NATURWISSENSCHAFTLICHER
S ACHBEGRIFFE
Bauch, Bauchraum, beim Menschen der Bereich des Rumpfes zwischen Brustkorb und Becken. auch Prostomium oder Kopflappen; Bezeichnung für die Körperspitze der Gliederfüßer. Gliederfüßer, zu denen Insekten, Tausendfüßer, Krebse, Entenmuscheln, Spinnen, u.a. Tierarten gehören. faserartiger Fortsatz einer Nervenzelle, der elektrische Nervenimpulse vom Zellkörper wegleitet. eine Sequenz von drei Nucleotidbasen der mRNA.
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Dopamin
Wichtiger Neurotransmitter, biogenes Amin aus der Gruppe der Katecholamine. Drosophila Schwarzbäuchige Taufliege, gehört zur Familie der Taufliege, melanogaster etablierter Modellorganismus in der Biologie. Diphtherie Infektion der oberen Atemwege mit gefürchteten Bakteriengiften. Epiglottitis Lebensbedrohliche Kehldeckelentzündung. Epistasis Eine Form der Gen-Interaktion nach der Definition von Bateson. Ecdysozoa Häutungstiere Gen Abschnitt auf der Desoxyribonukleinsäure (DNA), Träger einer Erbinformation. Genexpression im weiteren Sinne die Ausprägung des Genotyps zum Phänotyp eines Organismus oder einer Zelle, im engeren Sinne die Synthese von Proteinen aus den genetischen Informationen der DNA. Genom Gesamtheit des Erbgutes eines Lebewesens in der DNA. Genprodukt molekulare Produkte, die das Resultat einer Genexpression sind, Proteine und mRNA. Gradient Maß der raumbezogenen Änderung der Konzentration eines chemischen Stoffes in einem Raum, in der Biologie in einer Zelle. Hämatologie Lehre von der Physiologie und den Krankheiten des Blutes und der blutbildenden Organe. Hämozytoblast Blutstammzelle des Knochenmarks, relevant für die Blutbildung. Hermaphroditen Bezeichnung in der Biologie für das Vorkommen von doppelgeschlechtlichen Individuen. Heteroneura Großschmetterling Homoneura Kleinschmetterling Hysterie Veralteter Fachbegriff für eine neurotische Störung. Jugum Schüppchen am Hinterrand des Vorderflügels eines Schmetterlings. Knock-out-Maus Maus, bei der durch genetische Manipulation ein oder mehrere Gene ausgeschaltet wurden. Die Manipulation wird an den embryonalen Stammzellen vorgenommen, die in die Keimbahn eingebracht werden. Kortex Rinde Zerebraler Kortex Rinde des Großhirns Leukämie Blutkrebs Mausmutante Maus mit verändertem Genom. Metabolismus Stoffwechsel Modellsystem Analog zum Modellorganismus ein Lebewesen oder ein Organ oder Funktionsbereich in einem Organismus, das sich für Forschungszwecke im Labor eignet und etabliert ist. Beispiele sind die Maus, die Taufliege, der Nervus opticus.
V ERZEICHNISSE Ň 615
Morphogen
Signalmolekül, welches die Musterbildung während des Zellwachstums in vielzelligen Lebewesen steuert. mRNA messenger-RNA, auch Boten-RNA, eine Abschrift (Transkript) der RNA. Mutagene Stoffe oder Einwirkungen, die Mutationen oder Chromosomenaberrationen auslösen. Mutation Veränderung des Erbgutes eines Organismus, durch die die in der DNA gespeicherte Information verändert wird. Mutationsrate Zahl der spontanen oder induzierten Mutationen (auch der extranukleären), die sich in einer Zell-Stichprobe während einer bestimmten Zeitspanne ereignen. Nematoden Fadenwürmer Phänotyp Erscheinungsbild als Summe aller äußerlich feststellbaren Merkmale eines Individuums. Protostomia Urmünder Pseudo-Krupp Entzündung der oberen Atemwege im Bereich des Kehlkopfes. Rasterelektronen Mikroskop, bei dem ein Elektronenstrahl über ein vergrößert mikroskopie abzubildendes Objekt geführt (gerastert) wird und Wechselwirkungen der Elektronen mit dem Objekt zur Erzeugung eines Bildes des Objekts genutzt werden. Thorax Lunge Telson Grenze, Grenzfurche, Segment am Hinterleib vieler Krebse und der Insekten Translation Synthese von Proteinen in Zellen lebender Organismen. tRNA transfer-RNA, vermittelt in der Proteinbiosynthese während der Translation die richtige Aminosäure zum Codon auf der mRNA. Vulva Äußeres primäres Geschlechtsorgan eines weiblichen Organismus ZNS Zentrales Nervensystem
Verzeichnis der Schaubilder und Abbildungen
S CHAUBILDER Schaubild 1, S. 67: „Die drei Foci des professionalisierten Handelns“. Quelle: Leicht abgewandelte Version eines Schaubildes aus: Oevermann, Ulrich: Wissenschaft als Beruf, Einführungsvortrag auf einem Symposium der Studienstiftung des Deutschen Volkes und der Hochschulrektorenkonferenz in Bonn am 31.1.2003, unveröffentlichtes Manuskript. Gekürzte Fassung in: Studienstiftung des Deutschen Volkes (Hg.), Jahresbericht 2002 - Fakten und Analysen , 2003, S. 20-38 (2005) S. 22. Schaubild 2, S. 462: „Translation im Cytoplasma”. Quelle:http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ribosom_funktion.png?uselang=de, Urheber: National Human Genome Research Institute, National Institutes of Health (United States Department of Health and Human Services).
ABBILDUNGEN Abbildung 1, S. 460: „3D Struktur des Muskelproteins Myoglobin“. Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Myoglobin.png?uselang=de, Urheber Aza Toth. Abbildung 2, S. 463: „Einfache Darstellung der Proteinfaltung“. Quelle: upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/a/a9/Protein_folding.png
Literatur
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