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German Pages [308] Year 1990
Adalbert Elschenbroich Die deutsche und lateinische Fabel in der Frühen Neuzeit
Adalbert Elschenbroich
Die deutsche und lateinische Fabel in der Frühen Neuzeit
BAND II
Grundzüge einer Geschichte der Fabel in der Frühen Neuzeit
Kommentar
zu den Autoren und Sammlungen
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1990
630.8
E 492 du
V₁
Gedruckt mit Unterstützung der Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort
2
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Die deutsche und lateinische Fabel in der Frühen Neuzeit. - Tübingen : Niemeyer. Bd. 2. Grundzüge einer Geschichte der Fabel in der frühen Neuzeit : Kommentar zu den Autoren und Sammlungen / Adalbert Elschenbroich . – 1990 NE: Elschenbroich, Adalbert [Mitverf. ]
ISBN 3-484-10614-x (Band 1 + 2 ) © Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG , Tübingen 1990 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen , Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen . Printed in Germany. Satz: Lichtsatz Walter, Tübingen-Lustnau Druck: Allgäuer Zeitungsverlag , Kempten Einband: Heinr. Koch, Tübingen
GL 7810258 GER 11-24-93 add.vd.
Inhalt
GRUNDZÜGE EINER GESCHICHTE DER FABEL
IN DER FRÜHEN NEUZEIT
I. Einleitung: Die lateinische Fabel des Mittelalters .
3
Goethes „ Labores juveniles" - Lateinische Voraussetzungen: Romulus Anonymus Neveleti - Esopus moralisatus II. Deutsche hoch- und spätmittelalterliche Tradition
8
Tierbîspel - Heinrich von Mügeln - Hugo von Trimberg - Ulrich Boner Gerhard von Minden - Magdeburger Aesop - Leipziger Aesop - Nürnberger Aesop - Spirituelle Sinndeutung III. Heinrich Steinhöwels frühhumanistischer lateinisch-deutscher ,,Esopus" ..
13
Lessings Wiederentdeckung des „ Ulmer Aesop" - Vita Esopi Fabulatoris Clarissimi - Romulus-Fabeln in Vers und Prosa, Extravagantes, Rimicius (Rinuccio d'Arezzo), Avian in Vers und Prosa, Parabeln und Exempel Übersetzungsgrundsätze - Rezeption - Getrennte lateinische und deutsche Drucke
IV. Der niederdeutsche Prosa-Aesop
17
Äußerer Anschluß an Steinhöwel - Veränderte Erzählweise , Kompositionstechnik und Auslegung - Veränderter Verwendungszusammenhang , ländliches Publikum, soziales Engagement - ,,De sedelike syn“ – „ De gestlike syn"
V. Die Übersetzungen nichtaesopischer Fabelkompendien
21
Die Inkunabeldrucke des ,,Buchs der Natürlichen Weisheit“ und des ,,Buchs der Beispiele der alten Weisen"
Der Übersetzer Ulrich von Pottenstein und der frühhumanistische Kreis am Wiener Hof - Die Frage nach dem Autor des „, Speculum Sapientiae“ - Seine Intention - Figürliche Ableitung der gesamten christlichen Sittenlehre aus der Natur anhand parabolischer Einzelszenen mit jeweils eigenem Thema -
22
1. ,,Das Buch der Natürlichen Weisheit"
22
VI
Inhaltsverzeichnis Naturphilosophische Grundlage: die Natur als Spiegel von Vernunft und Weisheit - Ausweitung der Lehre von der göttlichen Ebenbildlichkeit auf alle Naturerscheinungen und -vorgänge - Die Natur als Tugendlehrerin – Zusammenfügung zum „ Tabernakel“ der vier Kardinaltugenden sapientia, magnanimitas, iustitia, temperantia – Antike Herkunft der Lehre von den christlichen ,,angeltugenden“ - Zusätzliche Beweisführung mittels typologischer Allegorese aus dem Alten Testament - Gegenüberstellung der Kardinaltugenden mit den Kardinallastern stultitia, superbia, avaritia, luxuria - Systematisierende Aufteilung in vier Bücher - Handlungsschema der Begegnung zweier Antipoden - Dialogischer Charakter der Argumentation – Identität von Tugend und Weisheit, Laster und Torheit 2. ,,Das Buch der Beispiele der alten Weisen"
26
Der Übersetzer Antonius von Pforr und der frühhumanistische Kreis um die Erzherzogin Mechthild in Rottenburg - Auftrag des Herzogs Eberhard von Württemberg zur Verdeutschung des ,,Directorium vitae humanae" von Johannes von Capua - Gewinnung eines Prosawerks von weltliterarischem Rang für die deutsche Literatur und die europäischen Nachbarliteraturen durch Pforrs sprachkünstlerische Leistung – Freiheit von dogmatischen Auslegungszwängen - Verbindung humanistischer Geisteshaltung mit volkstümlicher Vortragsweise - Vorgabe des Gesamtcharakters durch die orientalische Stoff- und Textgeschichte - Das sanskritische Grundwerk: Fürstenspiegel in fünf Büchern (,,Pañcatantra“ ) - Eindringen Realistisches mit Übernatürlichem vermischenden Erzählguts durch buddhistische Mönche und Wanderprediger Wandlung des ursprünglichen Lehrbuchs der Herrenmoral zur allgemeingültigen Verhaltenslehre - Entstehung persisch-arabischer Fassungen - Bearbeitung durch Abdallah Ibn al Moqaffa – „ Kalilah wa Dimnah“ oder „ Fabeln des Bidpai“ – Hofkritik im politischen Tierepos, Fabeln als Binnenerzählungen – Griechische, hebräische, spanische Übersetzungen , mittellateinische Fassung des Johannes von Capua - ,,Anwar-i- Suhaili“ – „ Les Fables de Pilpay" - Wirkungsbreite und -dauer der Pforrschen Übersetzung - Begründung und Zielsetzung in der Vorrede - Ethische Maximen - Gliederung des ,,Buchs der Beispiele" - Schema der Frage-Antwort- Situation -Verschachtelung der Binnenerzählungen - Fabeln als Antworten - Selbständige Existenz der Binnenfabeln vor ihrer Einbeziehung in das indisch-arabische Lehrbuch der Welt- und Menschenkenntnis und neue Verselbstän-
VI. Die großen humanistischen Sammlungen
3335
digung in der Rezeption des 16. Jahrhunderts bei Fortbestand übergreifender Sinnbezüge und deren Mitbestimmung der erzählerischen Funktion
1. Italienische Vorbilder Laurentius Valla - Rimicius (Rinuccio d'Arezzo) – Abstemius - Accursiana Das „,Corpus Fabularum Aesopicarum" des Aldus Manutius 2. Anfänge der neulateinischen Fabeldichtung . Sebastian Brants ,,Apologi sive Mythologi“ und deren deutsche Übersetzung durch Johannes Adelphus
36
Inhaltsverzeichnis 3. Die philologisch-stilkritische Sammlung: ,,Aesopus Dorpii“
VII
38
Der niederländische Humanistenkreis in Löwen und die Restitutio der antiken Form - Der Grundstock der Sammlung: G. H. Goudanus, H. Barlandus, Erasmus von Rotterdam - Die Erweiterungen der späteren Ausgaben zur umfassendsten lateinischen Fabelanthologie der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts 4. Die philologisch-pädagogische Sammlung: Joachim Camerarius
42
Die lateinische Fabel im Gymnasial- und Universitätsunterricht - Melanchthons Rede ,,De utilitate fabularum" - Erweiterung der Aesop-Vita zur wissenschaftlichen Biographie mit Textbeispielen - Vom Fabelanhang zum Fabelkompendium - Didaktische und unterrichtsmethodische Grundsätze : elegantia und perspicuitas der ,mittleren Rede ' , Eindeutigkeit des Wertekanons, variatio und inventio 5. Von der Restitutio zur Heuristik 5.1 . Nicolaus Gerbelius und die Anregung Petrarcas 5.2. Die Fabel unter den lateinischen Facetien Heinrich Bebels .
48 48 50
53
VII. Konfessionelle und politische Fabelallegorien Die Fabel als Propagandainstrument und Kampfmittel in weltlicher und geistlicher Deutung
550
1. Hans Sachs : „ Die Wittenbergisch Nachtigall"
55
2. Huldrych Zwingli : ,,Fabelisch gedicht von eim ochsen“
57
3. Martin Luther: ,,Vom Lawen und Esel"
58
VIII . Martin Luthers Coburger Aesop und die mündliche Tradierung von Fabeln in den „,Tischreden“ 1. ,,Vom rechten Nutz und Brauch desselben Buchs"
683
Erasmus Alberus: ,,Von dem Löwen und Esel" - ,, Schertz mit der Warheyt" - Wolfhart Spangenberg : „ Esel König“ – Herders Bearbeitung
63 63
Die Funktion der Fabel in Luthers Zwei-Reiche-Lehre Anekdotische Lehrinhalte ,,vom eusserlichen Leben in der Welt" - Stichwort-Stil der dreizehn Ausarbeitungen
2. ,,Aesopi commendatio"
66
Vorschlag zu einer neuen Gattungsgliederung nach dem Gewicht der Aussagen
3. Sekundärüberlieferung Kollektive Verbreitung der Fabel im 16. Jahrhundert – Mündlich situativer Gebrauch - Gemeinbesitz zu politisch-diplomatischer Verwendung und als Entscheidungshilfe - Überlieferungsformen der „ Tischreden“ : Protokollarische Aufzeichnungen, Tagebücher, Stenogramme, „ Gespräche“, erzählerische Ausgestaltungen für die Publikation - Aurifaber und Mathesius
67
VIII
Inhaltsverzeichnis
IX. Die protestantische Versfabel .. 1 . ,,Das Buch von der Tugend und Weisheit" des Erasmus Alberus
74 75
Theologische Begründung - Die neue Form der versepischen Erzählung -Der Rahmen: Heimat und Gegenwart - Der Gehalt: Evangelische Lebensführung in Haus und Familie - Antirömische und antischwärmerische Polemik des Lutheraners 2. Der ,,ganz neu gemachte Esopus" des Burkard Waldis in vier Büchern ..
80
Der Einfluß der Lebensschicksale des Dichters – „ Aesopus Dorpii“ und die späteren Quellen - Fabelerfindungen - Waldis im 18. Jahrhundert - Grundproblematik: Verhältnis von weltlicher Klugheitsmoral und Absolutheitsanspruch des Christentums - Am Anfang private zwischenmenschliche Konfliktsituationen, später Forderung der Übereinstimmung politischer Ethik mit dem Evangelium - Alternativen, Kompromisse, Widersprüche, ausweichende Varianten im ,,Morale" 3. Die Fabel im kunsthandwerklichen Dichten des Hans Sachs ... Unveränderlichkeit der Form
89
Gleichbleibende bürgerliche didaktische
Zielsetzung: ,,gemainer nüecz“ - Stoffliche Einbeziehung der gesamten Überlieferungsbreite antiken, mittelalterlichen, cyrillischen und indisch-arabischen Fabelguts (,,Buch der Natürlichen Weisheit“ , „ Buch der Beispiele der alten Weisen" ) - Annäherung von Fabel und Schwank - Spruchgedichte und Meisterlieder - Esop im Fastnachtspiel X. Die Fabel als literarische Gebrauchsform im lateinischen Humanismus: Philipp Melanchthon ...
94
1. Die Fabel in der akademischen Rede
94
94 1.1 . Im forensischen Gebrauch : ,,De Asino et Navicula“ 1.2. In der Rechts- und Soziallehre : ,,De Simiis urbem condendis“ 98 2. Die Fabel in selbstbiographischer Verweisungsfunktion : ,,De Serpente , Rustico et Vulpecula"
XI. Fabelsammlungen der zweiten Jahrhunderthälfte
100
113
Nathan Chyträus: „ Hundert Fabeln aus Esopo“ – Daniel Holtzman: „ Spiegel Alte Newe Zeitung -- Eucharius Eyering: der Natürlichen Weisheit" ,,Proverbiorum Copia“
XII. Die Verwendung der Fabel in der Predigt und ihre Verbindung mit ... 118 erzählender Kurzprosa Hinweis auf andere Binnenfunktionen der Fabel im Kontext von belehrenden Abhandlungen (Justus Menius, Johann Fischart), Sprichwörtersammlungen (Johannes Agricola, Sebastian Franck) und in der Tierdichtung (Reynke de vos, Fischart, Rollenhagen)
IX
Inhaltsverzeichnis 1. Petrus Alphonsus , Odo von Cheriton , Jacob von Vitry
119
2. Fabelerzählung und Fabelinterpretation in den Predigtzyklen Johann Geilers von Kaysersberg ...
120
3. Johannes Pauli: ,,Schimpf und Ernst"
126
4. Hans Wilhelm Kirchhof: ,,WendUnmuth"
127
5. Fabelerzählung und Fabelinterpretation in der „, Sarepta“ und den ... 130 ,,Luther-Historien" von Johannes Mathesius
XIII. Die poetischen Fabeln der Neulateiner
135
Zusammenhang mit dem Rhetorikunterricht - Umformbarkeit poetischer Gegenstände 1. Die Fabelelegie: Hieronymus Osius
135
2. Die Fabel als protestantischer Schulactus: Lucas Lossius
137
3. Das Fabelepigramm: Johannes Posthius und Hartmann Schopper 139 4. Die Fabelode : Pantaleon Candidus . XIV. Die nachhumanistische Endsumme : ,,Mythologia Aesopica" des Isaac Nicolaus Neveletus
142
145
Der Schriftstellerehrgeiz des Anthologisten - Nevelets Förderung durch - Anonymus Neveleti Janus Gruter - Fabelkodices der Bibliotheca Palatina – - Der verkannte „,Ulmer Aesop“ Steinhöwels - Lessings Aufsatz ,,Romulus und Rimicius" - Zuwachs: Phaedrus und Aphthonios - Spätzeitklage
KOMMENTAR ZU DEN EINZELNEN AUTOREN UND SAMMLUNGEN
Deutsche Fabeln
Ulrich von Pottenstein
153
Antonius von Pforr .
156
Heinrich Steinhöwel ..
161
Niederdeutscher Aesop
164
Reynke de vos
166
Johann Geiler von Kaysersberg
174
Johannes Pauli
179
Huldrych Zwingli
182
Martin Luther .
185
X
Inhaltsverzeichnis
Justus Menius
197
Erasmus Alberus
198
Burkard Waldis .
203
Hans Sachs
206
Johannes Agricola
210
Sebastian Franck
213
Johannes Mathesius
218
Joachim Magdeburg
222
Nathan Chyträus .
224
Daniel Holtzman
226
Hans Wilhelm Kirchhof ..
227
Johann Fischart
230
Alte Newe Zeitung. Von der Welt Lauff
235
Georg Rollenhagen
236
Eucharius Eyering
239
Lateinische Fabeln
Esopus moralisatus cum bono commento
241
Sebastian Brant / Johannes Adelphus
242
Heinrich Bebel
246
Nicolaus Gerbelius / Burkard Waldis
248
Aesopus Dorpii Martinus Dorpius Guilielmus Hermannus Goudanus Hadrianus Barlandus
250 251
Erasmus von Rotterdam
252
Joachim Camerarius .
256
Philipp Melanchthon
258
Hieronymus Osius
269
Lucas Lossius
271
Johannes Posthius / Hartmann Schopper Michael Beuther / Hartmann Schopper Pantaleon Candidus
249
272
. 276 278
Inhaltsverzeichnis
Abgekürzt zitierte Literatur Allgemeine Literatur zu Theorie und Geschichte der Fabel Namenregister
Nachbemerkung
XI
281 .. 287
. 291 295
1
GRUNDZÜGE EINER GESCHICHTE DER FABEL
IN DER FRÜHEN NEUZEIT
I. Einleitung : Die lateinische Fabel des Mittelalters
Unter den handschriftlich erhaltenen ,,Labores Juveniles" des Knaben Goethe befinden sich zwei Übersetzungen der Fabel vom ,,Wolf und Lamm“ , die erste trägt den Autornamen des Aesopus , die andere den des Phaedrus . ' Die benutzten Vorlagen lassen sich nicht mehr mit Sicherheit feststellen, doch spiegeln die beiden Fassungen eine jahrhundertealte Tradition der Überlieferung aesopischer Fabeln wider: Zum einen die Versuche der Rückführung auf die verlorene griechische Urform ,3 zum anderen das Fußen auf ihrer römischen Umgestaltung zur Kunstpoesie im 1. Jahrhundert n. Chr. Der aesopische Typ ist härter, unerbittlicher, mehr durch Tatsachen als durch Reflexionen beweisführend. Die griechische Fassung des Babrios ( 1./2 . Jh . n. Chr. ) hat ihn in Choliamben festgehalten: EinWolf sah einst ein Lamm, das sich verirrt hatte. Er wollte - diesmal - mit Gewalt es nicht packen Und suchte seiner Feindschaft gute Vorwände. ,,Ein Jahr ist's, daß du mich, ein Knirps noch, bös schmähtest!" ,,Ein Jahr? Da kam ich grad erst auf die Welt, bitte!" ,,Und weidest du nicht immer meinen Saatacker?“ ,,Nichts Grünes wüßt ich, das ich je abfraß." „ Und hast du nicht getrunken da, wo ich trinke?“ ,,Der Mutter Euter war's, das mich bis jetzt nährte!" Da packte er das Lamm. Es gierig auffressend , Sprach er: „ Der Wolf wird deinetwegen nie hungern, Auch wenn du jeden Vorwurf leicht zurückwiesest! " Wo, wie bei Goethes Vorlage, der knappen Erzählung ein Epimythion angeschlossen ist, da besteht es aus der lapidaren Feststellung eines Sachverhalts , der als immer wiederkehrende Erfahrung verallgemeinert wird: Der Wolf sah ein Schaaf, aus einem Bache trincken, und dachte darauf es unter dem Schein der Gerechtigkeit zu verzehren , und ob er gleich höher stund beschuldigte er ' Derjunge Goethe. Neu bearb. Ausg. in 5 Bdn. Hrsg. v. H. Fischer-Lamberg. Berlin 1963. Bd. 1 , S. 63f. 2 Vgl. ebd., S. 448. 3 Kritische Edition der ältesten überlieferten Fassungen von B. E. Perry: Aesopica; ferner sind zu vergleichen Halm u . Hausrath. – Als Vorlage der Übersetzungsübung des etwa neunjährigen Goethe ist auch für die griechische Fassung eine lat. Aesopausgabe anzunehmen. Krit. Ausg. des Phaedrus v. A. Guaglianone; zweisprachig: Liber Fabularum. Fabelbuch. Hrsg. v. O. Schönberger. " Babrii fabulae Aesopeae. Rec. O. Crusius , Nr. 89. – Dt . Übersetzung v. L. Mader, S. 260.
1. Einleitung: Die lateinische Fabel des Mittelalters
4
doch das Lam, als wenn es ihm das Wasser trübte, und ihn am Trincken verhinderte. Aber da es sprach, es träncke ia nur mit den äussersten Lippen , und es sey auch sonst unmöglich, da es unten stehe, das Wasser oben zu trüben ; da verliess der Wolf, diese Klage und sprach: aber vor einem Jahr hast du meinen Vater gelästert. Da war ich noch nicht gebohren versetzte das Schaaf, und der Wolf sagte bey sich selbst, du behältst zwar recht, aber ich werde mich doch nichts darum bekümmern. Die Fabel zeigt, dass gegen die Ungerechten , keine Gerechte Sache schützt. Phaedrus stellte diese Fabel an denAnfang seiner Sammlung. Ihr geht ein Prolog von wenigen Zeilen voran, der die beiden Wirkungsabsichten des Dichters nennt : ,,quod risum movet / Et quod prudentis vitam consilio monet“ . Gelächter hervorrufen könnte ,,Lupus et Agnus" freilich allenfalls in bitterster Weise; einen nützlichen Rat kann hingegen der Belehrung suchende Leser der Erzählung ohne Mühe entnehmen : diejenigen nämlich, die ,wölfische Absichten erkennen lassen, zu meiden. Persönliche Erfahrung mag den Dichter zur Vorsicht gegenüber solchen ,Wölfen ' veranlaßt haben . Andeutend gibt er ihnen zu verstehen, daß sie in dieser Fabel ihr eigenes Tun und Treiben abgebildet finden sollen: Ad rivum eundem lupus et agnus venerant Siti compulsi; superior stabat lupus Longeque inferior agnus. Tunc fauce improba Latro incitatus iurgii causam intulit. ,,Cur" inquit ,,turbulentam fecisti mihi Aquam bibenti?" Laniger contra timens: ,,Qui possum, quaeso, facere, quod quereris, lupe? A te decurrit ad meos haustus liquor.“ Repulsus ille veritatis viribus: ,,Ante hos sex menses male" ait ,,dixisti mihi.“ Respondit agnus: ,,Equidem natus non eram ." ,,Pater hercle tuus“ ille inquit ,,male dixit mihi“ . Atque ita correptum lacerat iniusta nece. Haec propter illos scripta est homines fabula, Qui fictis causis innocentes opprimunt." Goethe übersetzte die Fabel vermutlich nach der Burmannschen Ausgabe von 1698 , die in der Bibliothek seines Vaters stand. Die Prosaauflösung zeigt noch deutlich Elemente des jambischen Maßes: Es kam an einen Bach ein Wolf und Schaf, vom Durst getrieben : oben stund der Wolf, weit unter ihm das Schaaf. Mit Lügen fing der gier'ge Räuber Händel an. Was trübst du, sprach er, da ich Trincke, mir den Fluss. Das Schaaf versetzt mit Zittern: Ich bitte Wolf, du klagst, wie kann ichs thun, dasWasser fliesst von dir zu meinem Mund. Der Wahrheit macht schlug ihn zurück . Doch sprach er du hast mir geflucht, sechs Monat sinds. Da war ich nicht gebohren sagt das Schaaf. Eh nun so wars dein Vater der mir fluchte; und mit dem Worte raubt er und zerreist den Armen. Die Fabel deutet auf die Menschen, die mit Erdichtungen die Unschuld unterdrücken. Die Fabeln des Phaedrus sind in ihrer originalen Gestalt erst 1596 in Troyes durch Pierre Pithou unter dem Titel ,,Fabulae Aesopiae" ediert worden . Bis dahin waren
" Ed. Schönberger, S. 4.
I. Einleitung: Die lateinische Fabel des Mittelalters
5
sie nur in den Prosaauflösungen der ,,Romulus"-Versionen, die ihre Benennung nach dem möglicherweise fingierten Namen des Verfassers einer Einleitungsepistel tragen, oder in metrischen Rückverwandlungen aus lateinischer Prosa bekannt. Der älteste „ Romulus“, dessen handschriftliche Überlieferung mit dem 12. Jahrhundert einsetzt, entstand wahrscheinlich im 5. Jahrhundert in Gallien (Recensio gallicana) . Auf die verwickelte mittelalterliche Textgeschichte kann hier nicht eingegangen werden ,' nur die wichtigsten Dependenzen seien kurz charakterisiert. Dabei überrascht, wie wenig über lange Zeiträume hinweg das neue christliche Weltbild umprägend eingewirkt hat. Der ,,Romulus Nilantinus“ (11. Jh. ) , dem Lessing ,,Mönchsspuren" nachsagte , ist zwar in seiner Gesamttendenz darauf gerichtet, die Kontrahenten in den aesopischen Fabeln als Böse und Gute nach christlicher Ethik zu bewerten¹º, an die Möglichkeit einer geistlich-allegorischen, d. h. heilsgeschichtlichen Auslegung hat er jedoch nicht gedacht. Die weiteste Verbreitung gewann im späteren Mittelalter eine gegen Ende des 13. Jahrhunderts entstandene Prosaversion, der man die textgeschichtliche Signatur ,,Romulus LBG" gegeben hat " . Sie steht am Anfang erzählerischer Ausgestaltung der bis dahin kargen Handlung und wurde aus diesem Grunde von den volkssprachlichen Fabeldichtern der Folgezeit gegenüber den anderen Versionen deutlich bevorzugt. Durch vermehrte Anschaulichkeit, Ausbau des charakterisierenden Dialogs, Einführung retardierender Momente erhielt die Erzählung gegenüber der bloßen Hinführung zu der beabsichtigten Belehrung einen eigenen Wert. Während der „ Romulus Nilantinus" seine Epimythien allgemeingültig formulierte , hat der „ Romulus LBG“ durch schärfere Entgegensetzung der Partner die sozialkritische Komponente betont. Neben die Prosaversionen des „ Romulus" -Corpus ist eine vermutlich im 12. Jahrhundert in England entstandene , formal sehr anspruchsvolle Verfassung getreten, deren Ansehen in den kommenden Jahrhunderten die Beliebtheit des ,,Romulus LBG" noch erheblich übertroffen zu haben scheint, da von ihr mehr als hundert Handschriften erhalten sind . Sie trägt, nachdem trotz vielen Rätselratens ihr Verfasser bis heute unbekannt geblieben ist, den Namen ihres ersten Herausgebers Isaac Nevelet¹² . Der „ Anonymus Neveleti“ hat die drei ersten
7 Vgl . hierzu die einleitenden Untersuchungen von G. Thiele in: Der Lateinische Aesop des Romulus. Die beste Gesamtorientierung gibt jetzt der zusammenfassende Überblick bei K. Grubmüller: Meister Esopus (s. Allg. Lit. ) , S. 58-85. * Benannt nach dem ersten Herausgeber Johann Friedrich Nilant : Fabulae antiquae ex Phaedro fere servatis ejus verbis desumptae, et soluta oratione expositae ... Accedunt Romuli Fabulae Aesopiae . Leyden 1709. ⁹ In seinem Aufsatz ,,Romulus und Rimicius“ in den ,,Wolfenbütteler Beiträgen“ ( 1773). G. E. Lessing: Werke . Bd . 5. München 1973 , S. 585. 10 Vgl. H. R. Jauß: Untersuchungen ( s. Allg. Lit. ) , S. 24–55 . " In London, Brüssel und Göttingen liegen die wichtigsten Handschriften . U. d . T.: Romuli Anglici Cunctis Exortae Fabulae. Hrsg. v. L. Hervieux , Bd. 2 , S. 564–648 . 12 Mythologia Aesopica. Hrsg. v. Isaac Nicolaus Neveletus. Frankfurt a. M. 1610, S. 486-530 u. d. T.: „ Anonymi Fabulae Aesopeae". Krit. Ausg . v. W. Foerster.
6
1. Einleitung: Die lateinische Fabel des Mittelalters
Bücher des „ Romulus “ (Fabeln 1-60) in Distichen übertragen, und die Einprägsamkeit dieses Metrums mag die Hauptursache dafür gewesen sein, daß sich in den Klosterschulen Versfabeln zu Übungszwecken noch mehr als Prosaauflösungen empfahlen . Am Handlungsverlauf hat der „,Anonymus Neveleti" wenig verändert; sein Streben galt einer artifiziellen Sprachgestaltung, die sich vor allem im Einsatz rhetorischer Stilmittel bekundet. Von Anfang an hatten die Klosterschulen bei der Erlernung des Lateinischen die aesopischen Fabeln als Übersetzungsvorlagen, zur Wortschatzerweiterung durch Einsetzübungen, zur syntaktischen Schulung durch Abwandlungen des Satzbaus, zur Stilbildung durch Ausschmücken , Paraphrasieren und Wechsel der Redeformen benutzt¹³ . Wie das Metrum dem Memorieren und der Declamatio entgegenkam, so im fortgeschrittenen Lateinunterricht die Rhetorisierung der Schulung des Ausdrucksvermögens durch Nachbildung. Dem paßte sich auch das Epimythion an. Es wurde zur Sentenz, die Allgemeingültiges formuliert, ihrem Wesen nach parteilos ist und reale Spannungen, seien sie sozialpolitischer Art oder auf sittliche Postulate gegründet , überdeckt. Auch die Sentenz besitzt rhetorischen Charakter wie die Satzfiguren des Erzählteils, für sie ist das Distichon die prägnanteste Aussageform. Der ,,Anonymus Neveleti" hat seine Sentenzen stets in ein abschließendes Distichon gefaßt. Solche Verwendung der aesopischen Fabeln zur formalen Sprachbildung macht es verständlich, daß die dem Ideal christlicher Lebensführung vielfach zuwiderlaufenden Einsichten und Ratschläge ihrer Epimythien die geistlichen Lehrer an mittelalterlichen Klosterschulen offensichtlich nicht beunruhigt haben. Durch ihre Rhetorisierung wurden die Fabeltexte schwierig und erklärungsbedürftig. Das hatte Folgen für ihren weiteren Gebrauch als Arbeitsmittel . Mit der beginnenden Druckgeschichte treten sie in der Publikationsform des ,,Esopus moralisatus cum bono commento", bei dem es sich um Schulbuchcharakter annehmende Bearbeitungen handelt, offen in Erscheinung¹4 . Den Inhalt kennzeichnet das Impressum einer Ausgabe von 1492 mit den Worten : ,, Esopus fabulator preclarissimus cum suis moralizationibus ad nostri instructionem pulcherrime appositis“. Der Text, von dem die instructio ausgeht , gibt die Versfassung des „ Anonymus Neveleti“ aus dem 12. Jahrhundert nahezu wortgetreu wieder¹ . Kommentiert wird sie zunächst durch Interlinearversionen. Daß diese nicht, wie man am Ende des 15. Jahrhunderts wohl erwarten könnte , in
13 Vgl. hierzu G. Glauche: Schullektüre im Mittelalter. Entstehung und Wandlungen des Lektürekanons bis 1200 nach den Quellen dargestellt. München 1970 (Münchener Beiträge zur Mediaevistik und Renaissanceforschung 5) ; Grubmüller, S. 87-97. 14 Der Gesamtkatalog der Wiegendrucke nennt 34 Ausgaben bis 1500 (GW 382–395 als ,,Esopus moralisatus“ , 398–417 als „ Esopus moralisatus cum bono commento“ ). 15 o. O. [ Köln: Heinrich Quentell ] . Wolfenbüttel. Aus: 171.14 Quodl. Auf dem Titelblatt hat Lessings Wolfenbütteler Sekretär die Distichen fälschlich Avian (um 400 n. Chr.) zugeschrieben, E. Th. Langer, Goethes Leipziger Studienfreund und Lessings Nachfolger in Wolfenbüttel, diese Angabe durch Verweis auf die Neveletsche Ausgabe von 1610 berichtigt .
1. Einleitung: Die lateinische Fabel des Mittelalters
7
deutscher Sprache, sondern ebenfalls lateinisch abgefaßt sind, läßt auf den Verwendungszusammenhang schließen. Dieser „,Esopus moralisatus“ kann nur für geistliche Leser und für Schulen bestimmt gewesen sein, in denen auch die Unterrichtssprache strikt lateinisch war. Die stichwortartig gegebenen Erklärungen sind angesichts des hochstilisierten Wortgebrauchs semantisch orientiert. Soweit für das Inhaltsverständnis Schwierigkeiten durch den rhetorischen Satzbau auftreten, wollen sie diese durch Orientierungshilfen zum Handlungsverlauf beheben. Der anschließende Prosakommentar ist in sich dreiteilig. Sein einleitender Satz hat die Funktion eines Promythions, er erläutert das Schlußdistichon des ,,Anonymus Neveleti". Sodann wird jedoch keineswegs, wie es die Formulierung ,,Moralisationen zu unserer Unterweisung“ erwarten läßt, eine in die Einzelheiten gehende Auslegung nach jenem vorformulierten Leitsatz gegeben, sondern statt dessen eine Wiederholung der Erzählung in Prosa. Die Fabel dient als konkreter Fall, an dem sich die Richtigkeit des vorangestellten Satzes erweist . Sie wird selber zur Anwendungssituation, so daß sich eine Zuhilfenahme zeit- und ortsgebundener Verhältnisse erübrigt. Methodisch entspricht das eingeschlagene Verfahren dem zur Interpretation antiker poetischer Autoren meistgeübten: der Paraphrase , d. h. der Erklärung einer Versdichtung durch umschreibende Wiedergabe in verständlicherer Prosa. Der Bearbeiter des ,,Esopus moralisatus" brauchte hierfür keinen eigenen Text herzustellen, denn unter den Prosaauflösungen des Mittelalters stand der „ Romulus LBG" an Autorität, der wahre Aesop zu sein, dem „,Anonymus Neveleti“ kaum nach. So erklärt sich die Formulierung des Impressums, der mithin die Annahme zugrunde liegt, der gleiche Esopus habe seine Fabeln in zwei Fassungen hinterlassen, in einer poetischen und einer prosaischen . Tatsächlich stimmen die Paraphrasen des „,Esopus moralisatus“ mit dem Text der Erzählteile des ,,Romulus LBG“ überein. Gleiches gilt für das Epimythion, wenn es unter dem Stichwort ,,Moraliter" gegeben wird. In nicht wenigen Fällen schließt jedoch der „ Esopus moralisatus“ die Paraphrase ohne besondere Kennzeichnung mit dem „ Romulus “ -Epimythion ab und läßt eine zusätzliche Auslegung unter dem Stichwort ,,Allegorice" folgen. Damit überträgt er das Verfahren der Bibelallegorese, die Auslegung nach dem mehrfachen Schriftsinn, auf einen weltlichen Text. Das ,,Romulus"-Epimythion ergibt dann den weltlichen, die zweite Deutung den geistlichen Sinn. So stehen also hier die beiden Hauptversionen der mittelalterlichen AesopTradition, lateinische Prosa und lateinische Rückübertragung in Verse, die man als getrennte Überlieferungsträger zu betrachten pflegt, beisammen und bilden im funktionellen Bezug zwischen Kunstform und Paraphrase eine textliche Einheit. Darüber hinaus wird, spät erst, die spirituelle Exegese, wenn auch nicht systematisch, so doch exemplarisch einbezogen. Die Schlüsselstellung, die mit dem ,,Esopus moralisatus" ein Schulbuch als kompilatorische Gebrauchsliteratur gewonnen hat, seine durch die Vielzahl von Drucken der Inkunabelzeit bezeugte nachhaltige Wirkung läßt sich aus dieser Zusammenführung und dem dadurch erhöhten ,Gebrauchswert' wohl begreifen.
II . Deutsche hoch- und spätmittelalterliche Tradition
Die deutschsprachige Fabeldichtung des Mittelalters tritt als kurze Verserzählung in Reimpaaren nach Art der Mären und des Bîspels, in mehrstrophigen Sangsprüchen und als einprägsame Einlage im moraldidaktischen Lehrgedicht auf. Den älteren Spruchdichtern, Freidank vor allem, genügten oft auch bloße Anspielungen für ihre belehrende Absicht. Prosafassungen kamen erst im 15 . Jahrhundert hinzu . In ihren ,,Altdeutschen Wäldern" veröffentlichten die Brüder Grimm 1816 einige Reimpaarfabeln stofflich aesopischer Herkunft aus einer Wiener Sammelhandschrift des 13. Jahrhunderts ' . Sie stehen dort ohne Unterscheidung ihrer Gattungszugehörigkeit zwischen anderen Arten erzählender Kleindichtung und gehören in den Umkreis der ,,Tierbîspel“ des Strickers. Ihre Verfasser blieben, wie in einem ähnlich beschaffenen Karlsruher Corpus des 14. Jahrhunderts², anonym . Dagegen erhob der mit den späthöfischen politischen Gegebenheiten des Herrendienstes vertraute Heinrich von Mügeln mit seinen Bearbeitungen aesopischer Fabeln in strophischen Spruchgedichten den Anspruch individueller künstlerischer Gestaltung . Vielleicht hat er sie selber schon so , wie sie überliefert sind, zu einem Fabelbuch zusammengefaßt, ohne allerdings damit einen deutschen Aesop in Analogie zu den lateinischen Sammlungen anzustreben . Zur Veranschaulichung einer systematisch angelegten Sittenlehre hat Hugo von Trimberg in seinem Alterswerk ,,Der Renner“ sich des überlieferten Fabelschatzes bedient. Sein Lehrgedicht , das eine lebenspraktische Moraldidaktik bieten wollte, galt der Schilderung der sieben Hauptsünden und des sie begleitenden Gefolges menschlicher Laster und Torheiten . Er suchte sich die von ihm nacherzählten Fabeln unter dem Gesichtspunkt der abschreckenden Wirkung aus* . Da er in stadtbürgerlicher Umgebung lebte und seine Wertungen aus dieser Perspektive traf, hat ihn das 16. Jahrhundert sehr geschätzt und häufig als Gewährsmann zitiert.
1 Altdeutsche Wälder. 3. Bd. , Frankfurt 1816, Reprint Darmstadt 1966. Zur Überlieferungsgeschichte des Wiener Fabelcorpus vgl . Grubmüller, Meister Esopus, S. 125-146. 2 Krit. Edition: Codex Karlsruhe 408. Bearb. v. Ursula Schmid. Bern/München 1974 (Bibliotheca Germanica 16); vgl . Grubmüller, S. 389–410. 3 Krit. Ausg. v. K. Stackmann; vgl . hierzu K. Stackmann: Der Spruchdichter Heinrich von Mügeln. Vorstudien zur Erkenntnis seiner Individualität. Heidelberg 1958 (Probleme der Dichtung 3 ) ; Grubmüller, S. 280–296. 4 Ausg. v. Ehrismann- Schweikle; vgl . hierzu E. Seemann: Hugo von Trimberg und die Fabeln seines Renners . Eine Untersuchung zur Geschichte derTierfabel im Mittelalter. München 1923 (Münch. Arch. f. Philol. d . Mittelalters u. d . Renaissance 6); Grubmüller, S. 253-279.
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Viel ausgeprägter als bei Heinrich von Mügeln stellte sich in Ulrich Boners um die Mitte des 14. Jahrhunderts entstandener Sammlung von hundert Reimpaarfabeln der Wille zu kompositorischer Geschlossenheit eines Fabelwerks dar." Durch den Buchtitel Der „ Edelstein“ und seine Erklärung mittels der Eineinem hanen und einem edelen steine" bekundete Boner diesen gangsfabel ,,Von ,, Willen ebenso wie durch Prolog, Epilog und einen systematisierenden Untertitel zu jeder Fabel . Der Dichter, ein Berner Dominikanermönch, war wohl der erste Geistliche, der aesopische Fabeln in deutscher Sprache schrieb. Sie sollten Angehörige aller Stände erreichen: Adel, Klerus, Stadtbürgertum und Landbevölkerung. Vielzahl und Streuung der erhaltenen Handschriften bezeugen, daß Boners Fabeln weit über den schweizerischen Raum hinaus Verbreitung gefunden haben. In Bamberg wurden sie 1461 als erstes illustriertes Buch in deutscher Sprache gedruckt . Das 18. Jahrhundert entdeckte sie neu . Im Rahmen einer ,,Moralphilosophie der Deutschen im Mittelalter" veröffentlichte Joh. G. Scherz in Straßburg 1704-1710 eine Reihe Bonerscher Fabeln , ihm folgten 1757 in Zürich Bodmer und Breitinger mit ihrer Ausgabe ,,Fabeln aus den Zeiten der Minnesinger" , dann Lessing mit seinen philologischen und literarhistorischen Studien in den ,,Wolfenbütteler Beiträgen“ ( 1773 und 1781 ) . In seinem zweiten Aufsatz über Boner zitierte Lessing die einer von ihm in der Wolfenbütteler Bibliothek aufgefundenen Handschrift vorangestellte Titel- und Inhaltsangabe ihres Schreibers , in der die auf alle Stände gleichermaßen gerichtete Wirkungsabsicht hervorgehoben wird : ,,Hie vahet an das puch das ist genant der welt lauff und es hat ein Meister gemacht genandt Esopus, und haysset der guldein stein und strafet reich und arm geystlich und werltlich kunig und kayser und alle welt“.7 In der Geschichte der deutschsprachigen Fabel des späteren Mittelalters wurde das Bestreben vorherrschend, Gesamtausgaben herzustellen , die in Vers oder Prosa gleichrangig neben die bisherigen lateinischen Sammlungen treten könnten . Ihre Verfasser scheinen sämtlich Geistliche gewesen zu sein, die ihre Bearbeitungen zum volkspädagogischen Gebrauch anfertigten . Niederdeutschland hat dabei eine führende Rolle gespielt . Formal setzte sich zunächst die Tradition der Reimpaarfabel fort. Die Reihe beginnt um 1370 mit dem „,Wolfenbütteler Aesop“ , der nur in einer mittelfränkisch überformten Handschrift des 15. Jahrhunderts vollständig überliefert ist. Als Verfasser, der eine lateinische Romulusprosavorlage in mittelniederdeutsche Verse nach dem stilistischen Leitbild der spätmittelhochdeutschen Dichtersprache übertrug , darf ein Dekan Ger-
5 Ausg. v. F. Pfeiffer; vgl . Grubmüller, Meister Esopus, S. 297-374 ; U. Bodemann u. G. Dicke (s . Allg. Lit. ) , S. 424–468. 6 Neudruck: Ulrich Boner. Der Edelstein. Faksimile der ersten Druckausg . Bamberg 1461. 16. I. Eth. 2° der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Mit e. Einl. v. Doris Fouquet. Stuttgart 1972. 7 ,,Über die sogenannten Fabeln aus den Zeiten der Minnesinger. Zweite Entdeckung“ (G. E. Lessing: Werke . Bd . 5 , München 1973 , S. 644). 8 Vgl. den abschließenden Überblick b. Grubmüller , S. 411-433 . 9 Vgl. G. Cordes: Alt- u. mittelniederdeutsche Literatur. In : Dt. Philologie im Aufriß. Bd . 2, 2. Aufl. , Berlin 1960 , Sp. 2496f.
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hard von Minden gelten, über den freilich nichts Näheres bekannt ist. In der Lehrhaltung ohne geistliche Akzentuierung seiner Quelle nahebleibend, formulierte er alle Epimythien, wohl der Einprägsamkeit wegen, nach Art von Merkversen in Vierzeilern¹º. Ausdrücklich auf Gerhards ersten Versuch eines niederdeutschen Fabelcorpus hat sich am Beginn des folgenden Jahrhunderts ein namentlich unbekannter Dichter im Prolog seines gleichgearteten Unternehmens berufen , das sprachlich weit originalgetreuer in einer Magdeburger Handschrift erhalten geblieben ist und deshalb der „,Magdeburger Aesop" genannt wird " . Es war ein Alterswerk , in das Erfahrungen aus weltlichem und klösterlichem Leben eingegangen sind, wobei jedoch auch dieser geistliche, vermutlich in der Grafschaft Hoya beheimatete Verfasser ebensowenig wie sein Vorgänger an eine spirituelle Sinndeutung gedacht hat. Als Vorlagen benutzte er außer Gerhards Reimpaarfabeln die Prosaparaphrasen des „,Esopus moralisatus“, für die Formulierung der Epimythien hat er sich wohl von den Schlußdistichen des „,,Anonymus Neveleti“ anregen lassen . Ein drittes Corpus aesopischer Reimpaarfabeln , in den zwanziger Jahren des 15. Jahrhunderts entstanden , stammt aus Leipzig. Vielleicht handelt es sich bei dem erhaltenen Textzeugen sogar um eine Originalhandschrift¹?. Die Sprache dieses „ Leipziger Aesop“ ist ostmitteldeutsch mit einzelnen niederdeutschen Bestandteilen . Der gleichfalls anonym bleibende Verfasser berichtet, daß er als ,,armer kranker brudere“ im Siechenhaus diese ,,heidenischen bispil“ für sich und zur nützlich-unterhaltsamen Lektüre seiner Leidensgefährten in deutsche Verse gebracht habe. In seinem ,,Prologus in Esopum theutunicalem" stellt er die Fabeln neben die Bibel:
Di heilige schrift uns gibet raet, das wir uns hüthen vor missetat unde üben uns in guten werken, domete wir unse sele sterken . Och vinde wir heidenischer meistere vil, die geben uns vil guter bispil, di och leren ere unde zucht. Wer derselbigen recht gebrucht, her mag dar uẞ nemen lere unde och lernen zucht unde ere. 13 Geistliche und weltliche Zielsetzungen widersprechen sich hier also nicht, sie sind vielmehr einander angenähert, so daß, beeinflußt durch den „,Esopus morali-
10 Ausg. v. A. Leitzmann. Die Datierung stützt sich auf eine Angabe im Prolog des folgenden ,,Magdeburger Aesop". Leitzmann hat e . Schreibfehler angenommen u. die Entstehung des ,, Wolfenbütteler Aesop“ auf 1270 zurückverlegt. 11 Ausg. v. W. Seelmann unter dem vom Hrsg. selbst in seiner Einleitung, S. XXff. als falsch erwiesenen Autornamen Gerhard von Minden (s. Magdeburger Aesop. Belege zu B u. V im Komm . erscheinen unter dieser Sig. ) . 12 Ausg. v. K. Eichhorn u. d. T. „,Mitteldeutsche Fabeln“ (s. Leipziger Aesop. Belege zu B u. V unter dieser Sig. ) . 13 Ebd. , S. 6 .
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satus", das Kennwort ,,Moraliter" für das Epimythion gelegentlich austauschbar wurde gegen ,,Allegorice“ und „,Moraliter aut allegorice". Die spirituelle Deutung der Fabeln in Anlehnung an die Praxis der Bibelallegorese, die bis dahin nur gelegentlich und in Ansätzen auf die Behandlung des überlieferten antiken Fabelgutes eingewirkt hatte, tritt in dem noch ungedruckten ,,Nürnberger Aesop" offenbar zum erstenmal als prinzipielles Auslegungsverfahren in Erscheinung. Die heute in Wolfenbüttel aufbewahrte Handschrift dieser vermutlich auch frühsten Prosafassungen in deutscher Sprache stammt aus dem Klarissenkloster in Nürnberg¹¹. Man darf annehmen , daß die Klarissinnen sie als Erbauungsliteratur verwendet haben . Eine annalistische Notiz von gleicher Hand wie der Text berechtigt dazu , die Entstehung um das Jahr 1412 anzusetzen. Ähnlich wie der ,,Leipziger Aesop" hat diese deutsche Prosabearbeitung ihren Fabelbestand der ,,Romulus“ - und „ ,Anonymus Neveleti“ -Überlieferung entnommen, sowie den über Prosaauflösungen auf Babrios zurückgehenden Versfassungen des Avian's . Seinen Epimythien stellte der ,,Nürnberger Aesop" das Stichwort ,,Gaistleich“ voran. Damit übersetzte er das lateinische, den sensus spiritualis formulierende ,,Allegorice". Die von Origenes und Augustinus begründete, die mittelalterliche Exegese leitende Lehre vom mehrfachen Schriftsinn unterschied zwischen dem buchstäblichen oder historischen Sinn ( sensus literalis oder sensus historicus) und der höheren zeichenhaften, auf Geistiges verweisenden Bedeutung (significatio , bezeichenunge ) 16. Die Aufdeckung des geistlichen Sinnes (sensus spiritualis) konnte sich in drei Dimensionen vollziehen: als allegorischer, tropologischer und anagogischer Sinn . Dies galt für Dinge (res) und Ereignisse (gesta) gleichermaßen. Der allegorische Sinn enthält deren heilsgeschichtliche Bedeutung, der tropologische die ethische Belehrung für die Lebensführung des einzelnen Menschen, der anagogische die Jenseitserwartungen und alle damit verbundenen Vorstellungen. Zuerst nur dem Verständnis biblischer Texte dienend, griff die Auslegung nach dem spirituellen Sinn bald auf die gesamte Natur über, weil diese als Gottes Schöpfung in jedem Ding, jeder Eigenschaft, jedem Vorgang Göttliches enthalten muß. Ebenso richtete sie sich auf die Geschichte , in der Absicht, jedem weltlichen, historisch- politischen Geschehen den ihm bestimmten Platz in dem einen großen Ablauf der Heilsgeschichte zuzuweisen. Diese Erweiterung ermöglichte dem Mittelalter auch die Anerkennung und spirituelle Deutung der 14 Wolfenbüttel 81.16. Aug. fol . , Bl . 39 ′-68 . Beschreibung v. O. v. Heinemann: Die Augusteischen Handschriften IV. Wolfenbüttel 1900 , S. 30–32 (Kataloge der Herzog August Bibliothek 7) . Vgl. Grubmüller, S. 413 , 417f., 423. 15 Krit. Ausg. v. A. Guaglianone: Aviani Fabulae. 16 Die beste Einführung in die fächerübergreifende Bedeutungsforschung als Teildisziplin der Mediaevistik hat ihr Begründer F. Ohly 1958 selbst gegeben: ,,Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter“ . Wiederabdruck in : F. O. , Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung. Darmstadt 1977 , S. 1-31 ; ferner ders.: Probleme der ma. Bedeutungsforschung und das Taubenbild des Hugo de Folieto, ebd. , S. 32–92 u . ders .: Einleitung zu des Hieronymus Lauretus „ Silva allegoriarum totius Sacrae Scripturae“, ebd. , S. 156-170.
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II. Deutsche hoch- und spätmittelalterliche Tradition
antiken heidnischen Literatur. Wie die Gestalten und Ereignisse des Alten Testaments typologisch verstanden wurden, d . h. als Präfigurationen Christi, der Apostel und ihrer Gegenspieler, so, wenngleich in größerem Abstand, auch die Überlieferungen antiker Dichtung und Geschichtsschreibung. In ihnen sind die Verheißungen des Alten und die Erfüllungen des Neuen Testaments in noch dunkler, aber schon erkennbarer Vorausdeutung als ihr geistiger Sinn enthalten. So läßt sich verstehen , daß einem mittelalterlichen Philologen geistlichen Standes, als welcher der Verfasser des „ Nürnberger Aesop“ anzusehen ist, der Gedanke kommen mußte, den vorhandenen Fabelcorpora weltlicher Provenienz ein geistliches an die Seite zu stellen . Die mittelalterlichen Tierbücher, allen voran der ,,Physiologus“17, hatten ihre Aufgabe darin gesehen , gemäß den Sätzen des Alanus ab Insulis „,Omnis creatura significans"18 und Hugos von St. Victor ,,Omnis natura Deum loquitur* 19 mit der Beschreibung der Tiere, ihrer Eigenschaften und Verhaltensweisen Beiträge zu einer universalen spirituellen Naturdeutung zu leisten. Sie stellten dem geistlichen Fabelinterpreten reiches Material zur Verfügung. Ein gleiches taten die enzyklopädischen allegorischen Wörterbücher20. Verweise auf historisch- politische Fakten lagen in den Epimythien des überkommenen Fabelbestandes in offener oder versteckter Form reichlich vor; es handelte sich nur noch darum, ihre Bedeutung für den Weg zur Verwirklichung des göttlichen Heilsplans und damit ihren spirituellen Sinn zu erkennen . Dazu gab die augustinische Geschichtstheologie Fingerzeige. Schwierigkeiten bestanden fast nur in Bezug auf den Literalsinn . Denn anders als die Geschichtsschreibung und das Epos ist die Fabelerzählung ,uneigentlich " , nach poetologischer Begriffsbestimmung eine Handlungsallegorie, nur zur Veranschaulichung einer Einsicht oder Lehre erfunden, auf die es eigentlich ankommt. Ihr fehlt mithin ein buchstäblicher Sinn . Da aber die Auslegung nach dem mehrfachen Schriftsinn , ihrer Herkunft von der Bibelexegese zufolge , sowohl den Buchstabensinn als auch den Spiritualsinn verlangt , mußte bei ihrer Anwendung auf die Fabel eine weltliche Lehre den sensus historicus vertreten; es stand dem Fabelinterpreten frei, die weltliche Lehre seiner Erzählung voranzustellen und das Epimythion ganz dem sensus spiritualis vorzubehalten oder dieses in eine weltliche und eine geistliche Auslegung aufzuteilen.
17 Dt. Text: Der altdeutsche Physiologus. Die Millstätter Reimfassung und die Wiener Prosa. Hrsg. v. F. Maurer. Tübingen 1967 (ATB 67) . - Literatur: M. Wellmann: Der Physiologus. Eine religionsgeschichtlich-naturwissenschaftliche Untersuchung. Leipzig 1930 (Philologus . Suppl. - Bd. 32,1 ) ; N. Henkel: Studien zum Physiologus im Mittelalter. Tübingen 1976 (Hermaea NF 38) ; D. Schmidtke (s. Allg. Lit. ) , S. 51-68. 18 Zit. nach F. Ohly, Vom geistigen Sinn, S. 5f. 19 Zit. nach F. Ohly, Vom geistigen Sinn, S. 5f. 20 In photomech. Nachdruck liegt vor: Hieronymus Lauretus , Silva Allegoriarum totius Sacrae Scripturae (Barcelona 1570). München 1971 ( nach d . 10. Ausg . Köln 1681 ) .
III. Heinrich Steinhöwels
frühhumanistischer lateinisch-deutscher ,,Esopus"
Wesentlich anderer Art, bereits ein Werk der frühen Neuzeit, ist der „ Ulmer Aesop" Heinrich Steinhöwels ( 1412-1478 ) . Was die Holzplastiken Jörg Syrlins d. Ä. im Chorgestühl des Ulmer Münsters vergegenwärtigen - Kontinuität des Mittelalters und Rückgewinnung der Antike, im deutschen Frühhumanismus als widerspruchsfrei und miteinander vereinbar erfahren - das kennzeichnet auch die literarischen Unternehmungen des aus Weil der Stadt gebürtigen Ulmer Stadtarztes, der in Padua zum Doktor der Medizin promovierte. Mit Albrecht von Eyb und Niklas von Wyle schuf er durch Übersetzungen aus der lateinischen und italienischen Literatur eine frühneuhochdeutsche Kunstprosa. Der „ Esopus“, 1476/77 gedruckt, war sein letztes Werk ' . Darin gelang ihm am besten seine Absicht,,,nit wort uẞ wort, sunder sin uẞ sin , um merer lütrung wegen des textes oft mit wenig zugelegten oder abgebrochnen worten" zu übertragen². Man möchte vermuten, bei der Auswahl der antiken Porträts für das Chorgestühl habe Steinhöwel seine Hand mit im Spiel gehabt; wenigstens würde es heute niemanden sonderlich verwundern, fände er dort neben Terenz , Cicero , Vergil, Quintilian, Seneca, Ptolemaeus und den Sibyllen auch das Bildnis des legendären Erfinders der nach ihm benannten Fabeln³ . Es ist dem „ Ulmer Aesop“ in einem ganzseitigen Holzschnitt vorangestellt. Bei Lessings Wolfenbütteler Vorarbeiten zu seiner geplanten Geschichte der Fabel war dieser „,Ulmer Aesop" nach Boner seine zweite buchgeschichtliche Entdeckung. In dem Aufsatz über „ Romulus und Rimicius“ hat er das Wolfenbütteler Exemplar der Erstausgabe zunächst nach der äußeren Buchgestalt, dann aber vor allem inhaltlich exakt beschrieben . Mit dessen Hilfe gelang es ihm , den schlüssigen Beweis zu führen , daß Romulus und Rimicius, deren Vermengung große Verwirrung in der Textgeschichte angerichtet hatte, ganz und gar nichts miteinander zu tun hatten. Ohne Anspruch auf dichterische Neugestaltung verfolgte Steinhöwel zwei für den süddeutschen Frühhumanismus charakteristische Ziele : ein philologisch¹ Neudrucke, Bibliographie u. Literaturhinweise werden zu Steinhöwel und allen in die Auswahl aufgenommenen Autoren im Kommentar jeweils anschließend an die Kurzbiographien nachgewiesen. 2 Steinhöwels Aesop. Hrsg. v. Oesterley, S. 4. 3 Vgl. W. Vöge: Jörg Syrlin der Ältere und seine Bildwerke . Bd . 2 : Stoffkreis und Gestaltung. Berlin 1950. G. E. Lessing: Werke, Bd. 5. München 1973 , S. 591–601 .
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III. Heinrich Steinhöwels frühhumanistischer lateinisch -deutscher „ Esopus “
antiquarisches und ein volkspädagogisches. Er wollte nach den mittelalterlichen Vorlagen und nach neuen, durch die italienische Renaissance erschlossenen Quellen ein repräsentatives Corpus des antiken Überlieferungsgutes bereitstellen und dieses durch Eindeutschung breiteren Leserschichten zugänglich machen. So schuf er das Vorbild zweisprachiger Textausgaben und hat erreicht, daß seine Sammlung zur meistbenutzten Quelle der deutschen Fabeldichtung des 16. Jahrhunderts wurde . Durch Luthers parteiische , zweifellos auf Steinhöwel zielende Polemik gegen den ,,Deudschen schendlichen Esopum “ , der ,,nicht den Nutz und Kunst in den Fabeln gesucht / sondern allein ein Kurtzweil und Gelechter daraus gemacht“ und „, schendliche unzüchtig Bubenstück darein gemischt“ habe, darf man sich den Blick für Steinhöwels Leistung nicht verstellen lassen". An den Anfang stellte Steinhöwel eine ,,Vita Esopi Fabulatoris Clarissimi". Es handelte sich um einen Aesoproman nach einer griechischen Handschrift, die der gelehrte byzantinische Mönch Maximos Planudes Ende des 13. Jahrhunderts nach Italien gebracht haben soll. Diese ,Vita ' war durch Rinuccio d'Arezzo (Rinucius, Rimicius) in die lateinische Sprache übersetzt und 1774 in Mailand veröffentlicht worden?. Steinhöwel schloß seinem Abdruck eine deutsche Übersetzung an. Die ,Vita ' , von Luther ,,legend Esopi“ genannt, wurde durch Steinhöwel zuerst in Deutschland bekannt und fortan den meisten Fabelsammlungen vorangestellt. Auch Autoren wie Erasmus Alberus und Burkard Waldis, bei deren Fabeln es sich um Neudichtungen in Versen handelte, gaben sie entweder in verkürzter Form als Prosaeinleitung oder formten sie zu einem vorangestellten erzählenden Spruchgedicht um . Steinhöwels deutscher Text enthält schon in der ,Vita Holzschnitte zu einzelnen Episoden , wie danach zu jeder Fabel, wo sie jeweils eine charakteristische Situation szenisch veranschaulichen . Ihre Urheber müssen der Syrlin-Werkstatt nahegestanden haben. Durch sie wurde der ,,Ulmer Aesop“ zu einem Meisterwerk des frühen Buchdrucks . Mit achtzig Fabeln des Romulus in vier Büchern eröffnet Steinhöwel sodann, getreu der überkommenen Ansicht, daß diese Prosaauflösungen der Fabeln des Phaedrus den aesopischen Urfassungen am nächsten stünden, seine Fabelkollektion. Er wählte unter den verschiedenen Romulusversionen eine die Handlung in
5 Die mutmaßlich auf Steinhöwel beruhenden deutschen Fabel-Bearbeitungen des 16. Jahrhunderts verzeichnet P. Carnes (s . Allg. Lit. ) . Darüber hinaus gibt Carnes einen Motiv-Index aller ihm bekannten dt. Fabeln des 16. Jahrhunderts mit dem Ziel der Erstellung eines Gesamtcorpus. In der Zählung folgt er Perrys ,,Aesopica“ . 6 Martin Luthers Fabeln. Hrsg. v. Steinberg, S. 85f. 7 Zur Überlieferung und zum Verhältnis zwischen Vita und selbständigen griech. Fabelsammlungen vgl. B. E. Perry : Studies in the Text History of the Life and Fables ofAesop. Haverford/Pa. 1936. Die Zuschreibung an Planudes als Verfasser oder auch nur als Überlieferer der griech. Handschrift hat die Forschung allgemein übernommen (u . a. Hausrath, Perry) , beides wurde jedoch neuerdings entschieden bestritten (vgl. Pauly/Wissowa, Realenzyklopädie, Supplementbd . XIV, 1974 , Sp. 23f.) . 8 Die Illustrationen des ,,Ulmer Aesop" sind vollständig abgebildet bei A. Schramm : Der Bilderschmuck der Frühdrucke, Bd. V ( 1923) : Die Drucke von Johann Zainer in Ulm, Nr. 107-313 . Vgl. auch: Der Frühdruck im deutschen Südwesten 1473-1500 . Ausstellung der Württ. Landesbibliothek Stuttgart. Katalog v. P. Amelung . Bd. 1 : Ulm. 1979 .
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III. Heinrich Steinhöwels frühhumanistischer lateinisch-deutscher ,, Esopus “
knapper Form wiedergebende; welche Handschrift er dabei zugrunde legte , ist immer noch unklar . Buch 1 bis 3 geben jede Fabel in dreierlei Gestalt: zuerst die lateinische Prosa, danach Steinhöwels Übersetzung, abschließend lateinische Verse in elegischen Distichen . Daß es sich bei den letzteren um die Fassungen des ,,Anonymus Neveleti“ handelt, hat wiederum Lessing entdeckt, ebenso daß sie identisch sind mit den Versfabeln des ,,Esopus moralisatus“ 10. Diesen für zweifelsfrei authentisch angesehenen ließ Steinhöwel weitere siebzehn folgen , die er als „,extravagantes antique" bezeichnete und von denen er sagte : ,,ascripte Esopo, nescio si vere vel ficte" . Lessing hat sie für unecht gehalten¹²; nur für einige von ihnen konnte die Herkunft seither ermittelt werden. Dagegen galt der nächsten Gruppe, die Steinhöwel als „ Esopi fabule nove translationis Remicii“ einführt, Lessings besonderes Interesse . Nach der einseitigen Bevorzugung des Lateinischen im Mittelalter hatte der italienische Humanismus die Aufmerksamkeit wieder auf die griechische Literatur gelenkt. Nichts war natürlicher, als daß man jetzt auch nach griechischen aesopischen Fabeln suchte , die nicht durch den römischen Filter gegangen waren . Zusammen mit der ,Vita Esopi' hatte Rinuccio hundert angeblich auch durch Planudes nach Italien gebrachte Fabeln ins Lateinische übertragen . Siebzehn davon - nur solche, von denen keine Version im ,,Romulus“ enthalten war - nahm jetzt Steinhöwel in den ,,Ulmer Aesop" auf und machte dadurch als erster einen Teil dieser Fabeltexte in deutscher Sprache bekannt. Mittelalterlicher Tradition folgte er dann wieder mit einer Auswahl aus den von Phaedrus- Versionen unabhängigen, auf Babrios zurückgehenden Versfabeln des Avian, die er in deutsche Prosa übertrug. Den Abschluß bilden Parabeln und Exempel aus der „,Disciplina clericalis“ des Spaniers Petrus Alphonsus (gest. 1106), sowie einige ,,Histörchen“, wie Lessing sie nannte¹³ , aus Poggios ,,Facetien" 14. Der ,,Gesamtkatalog der Wiegendrucke“, bestätigt die Richtigkeit der Vermutung Lessings , daß der Erfolg des ,,Ulmer Aesop" die Verleger alsbald dazu veranlaßt habe , getrennte lateinische und deutsche Ausgaben herzustellen, um so aufeinfachste und kostensparende Weise aus einem Buch drei Bücher zu machen. Aber diese für die Druck- und Wirkungsgeschichte der Steinhöwelschen Sammlung folgenreiche Zerschlagung ihrer lateinisch-deutschen Einheit, von Lessing ausschließlich verlegerischem Geschäftsinteresse zugeschrieben, deutete doch zugleich auch eine Tendenz an, die das 16. Jahrhundert in der Fabelliteratur bestimmen sollte: das Nebeneinanderhergehen lateinischer und deut-
9 Vgl. dazu G. Thiele (Anm. 7) , S. CXC-CXCIV. 10 Lessing, S. 593f. 11 Ed. Oesterley, S. 241 . 12 Lessing, S. 595. 13 Lessing, S. 598. 14 Daß hieran noch Boccaccios Novelle ,,Guiscardo und Sigismunda“ in der Übertragung des Niclas von Wyle nach der lat. Fassung von Leonardo Bruni angeschlossen ist, muß als verlegerische Zutat ohne Zusammenhang mit dem Fabelcorpus angesehen werden.
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III. Heinrich Steinhöwels frühhumanistisch lateinisch -deutscher „ Esopus “ er
scher Fabelanthologien von Martin Dorpius zu Joachim Camerarius auf der einen , von Luthers auf der Coburg begonnenem deutschen „ Esopus" bis zu Nathan Chyträus aufder anderen Seite . Gelehrt-humanistische und volksbildnerische Bestrebungen schlugen getrennte Wege ein, auch in der Neudichtung lateinischer und deutscher Fabeln. Die erste nur deutschsprachige Ausgabe des Steinhöwelschen Werkes erschien alsbald in Augsburg bei Günther Zainer. Von ihr sind fünfzehn Auflagen der Inkunabelzeit nachgewiesen . Die europäische Wirkung des ,,Ulmer Aesop" wird an der breiten Streuung der Übersetzungen ins Tschechische, Französische, Englische, Niederländische und Spanische erkennbar¹ . Sie beruhen sämtlich auf der lateinischen Separatausgabe , die Anton Sorg in Augsburg um 1480 herausbrachte¹7 . Der ,,Gesamtkatalog“ zählt auch zwei niederdeutsche Ausgaben zu den Übersetzungen, beides Unica im Besitz der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Sie werden Magdeburger Druckern zugeschrieben, die Quart-Ausgabe Moritz Brandis18 , die Folio-Ausgabe Simon Koch'9; als Erscheinungsdatum gibt der ,,Gesamtkatalog“ „ um 1492“ an. Mit einiger Sicherheit läßt sich sagen , daß ihnen nicht die lateinisch -deutsche Originalausgabe des Ulmer Aesop" zur Vorlage gedient hat, sondern einer der deutschen Separatdrucke20.
15 GW I, Nr. 352–366. 16 GW I, Nr. 367-378 . Zu den Illustrationen in diesen Ausgaben vgl . Küster (s . Allg. Lit.), T. 1 , S. 45–61 . Das Fehlen Italiens erklärt sich leicht aus dem Vorhandensein eigener humanistischer Ausgaben der griech. Überlieferung (s . S. 35f. ) und dem gleichzeitigen Fortbestand eines engeren Anschlusses an den „,Esopus moralisatus" , wie er in den geistlichen Auslegungen der Bearbeitungen von Accio Zucco ( 1479) u . Francesco dell Tuppo ( 1485) zum Ausdruck kommt. 17 GW I , Nr. 347-350. 18 Wolfenbüttel Lg . 73.1 ; GW I, Nr. 365 ; Küster, T. 1 , S. 50 , T. 2 , Kat. Nr. 38; BorchlingClaussen: Niederdeutsche Bibliographie I , Sp . 95. 19 Wolfenbüttel 11.1 . Geog; GW I, Nr. 366; Küster, T. 2 , Kat. Nr. 39 , Taf. 19; BorchlingClaussen, ebd. 20 Indiz für diese Annahme ist, daß der „ Niederdeutsche Aesop" zwei Holzschnitte (zu Avian 5 u . 9) enthält, die in der zweisprachigen Erstausgabe fehlten und zum erstenmal in der Augsburger Ausg. von 1477/78 auftreten.
IV. Der niederdeutsche Prosa-Aesop
Dieser ,,Niederdeutsche Prosa-Aesop" beginnt mit den Worten: ,,Hyr hevet sick an dat bok van deme levende unde van den fabulen des hochghelerden fabeldychters Esopi gheheten. Ersten uth grekescher tunghen ghesettet in latin . unde nu uth deme latine in dudisch . Ok holt dit bok in sik etlike fabulen andere meisters alse Aviani ok Doligami Adelfonsi unde etlike schimprede Pogii.“ In der Vorrede heißt es dann auf dem gleichen Blatt: „ Unde dar na gesettet mit eren titulen uth latin in hoch dudesch van doctor henrico stenhouwer / slycht und vorstentlik nicht word uth worde mit² sin uth synne umme mere vorkortinghe³ des textes umme beter vorstantnisse der worde. " Diese Ankündigung läßt die Vermutung gerechtfertigt erscheinen, es handle sich nur um eine unselbständige Übersetzung aus dem Frühneuhochdeutschen ins Mittelniederdeutsche, und daraus erklärt sich wohl die bisherige Nichtbeachtung durch die Literaturwissenschaft. Nach Anzahl und Anordnung der Texte stimmt das Werk tatsächlich mit Steinhöwels ,,Ulmer Aesop" völlig überein; in der Bearbeitung jedoch ist der niederdeutsche Anonymus eigene Wege gegangen. Die Überschriften erweiterte er durch ein Promythion, das bei Steinhöwel, entsprechend seiner „ Romulus“Vorlage, den Anfang der Fabel bildete . Eine betonte Abgrenzung des Auslegungsteils vom Erzählteil hat die Kompositionstechnik bestimmt. Sie prägt sich noch schärfer am Schluß aus, indem überall zwei Epimythien - durch Zeilenabstände , gleichbleibende terminologische Kennzeichnung und doppelte Alineazeichen sowohl vom Erzählteil als auch gegeneinander abgehoben - dem Leser das Deutungsschema vor Augen führen. Dieses besteht in der ausnahmslosen Anwendung der Lehre vom mehrfachen Schriftsinn auf weltliche Texte. Während der „ Esopus moralisatus“ nur gelegentlich der überlieferten weltlichen Auslegung eine geistliche hinzufügte und der ,,Nürnberger Aesop", der sich noch auf eine verhältnismäßig schmale Auswahl beschränkte, in seinen Epimythien allein den sensus spiritualis der Fabeln formu-
1 Bl. aij' . Das hier fehlende Aesop- Porträt befand sich vielleicht auf dem verlorengegangenen Bl. ai' - Doligami: Angelo Poliziano ( 1454-1494), italien. Humanist. 2 ,,mit" Druckfehler statt „,men“: sondern. 3 „ vorkortinghe“ vermutlich Druckfehler statt ,,vorklortinghe" : Klärung, bei Steinhöwel ,,lütrung". 4 Aus Privatbesitz (Justus Heinricus Bendorffius 1643 ) kam das Exemplar Lg. 73.1 in die Bibliothek der Universität Helmstedt, nach deren Auflösung 1809 zunächst in die Universitätsbibliothek Göttingen, später wurde es an die Wolfenbütteler Bibliothek abgegeben.
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IV. Der niederdeutsche Prosa-Aesop
lierte, hat der niederdeutsche Anonymus das zu seiner Zeit umfassendste Fabelcorpus , den Steinhöwelschen ,,Esopus", zugrunde gelegt, um in den Epimythien weltlichen und geistlichen Sinn in gleicher Gewichtung nebeneinanderzustellen . Die Bauform jedes einzelnen Fabeltextes ist also streng dreiteilig oder, wenn man die Teilung des Epimythions in ,, De sedelike syn“ und „ De gestlike syn“ voll berücksichtigt, vierteilig: bestehend aus der erweiterten Überschrift, der Erzählung, dem weltlichen und dem geistlichen Epimythion. Ein lehrbuchartiger Zug zum systematisierend Kompendienhaften kennzeichnet das Unternehmen als Ganzes. Zu seiner Umstrukturierung hat den niederdeutschen Bearbeiter offensichtlich ein Verwendungszusammenhang veranlaßt, der von sehr anderer Art war als Steinhöwels Absichten einer humanistischen Bildungsförderung des Stadtbürgertums. Gegenüber Steinhöwels Literarisierungstendenzen läßt sich bei ihm durchgehend ein Streben nach ländlich orientierter Volkstümlichkeit erkennen . Er nutzte seine zunächst starr wirkende Abgrenzung der einzelnen Teile u. a. dazu , dem Erzählerischen mehr Eigenständigkeit zu verleihen. Steinhöwel ging es , da er sich der antiken Tradition verpflichtet fühlte , darum,,,vil zuogelegte wort ze myden und uf das nächst by dem text ... zu belyben" . Er wünschte sich , daß der Leser seines ,,büchlins verstentnüs habe der pinen gegen den pluomen, die der ußern farben nit acht habent, sunder suochent sie die süssikait des honigs und den nucz des wachs zuo ierem buw, daz niement sie hindan und laußent das übrig taile des pluomen ungelezet“ . Je weiter man dagegen in der Lektüre des „ Niederdeutschen Aesop" fortschreitet, desto ausführlicheren Erzählungen begegnet man. Ein Vergleich mit Steinhöwels Übersetzungen zeigt, daß der niederdeutsche Anonymus zwar einzelne Partien aus diesen entnommen hat, daß er aber zum weitaus größeren Teil sich von einer anderen Vorlage leiten ließ, und zwar von einer den Prosaparaphrasen des ,,Esopus moralisatus" nahestehenden Version des ,,Romulus LBG"; darüber hinaus wird er wohl auch manche eigene episodische Erfindung hinzugefügt haben. Die Erweiterungen seines Erzählteils dienen durchweg der Verdeutlichung, der Aufforderung zu anteilnehmendem Urteilen und der Einbettung des besonderen Falles in den alltäglichen Lebenszusammenhang. Vermehrte Anschaulichkeit, zusätzliche direkte und indirekte Charakterisierung der Handlungsträger, begründendes Verständlichmachen ihrer Verhaltensweisen, Vorwegnahmen und Wiederholungen im Geschehensablauf, das alles zeigt, daß der „ Niederdeutsche Aesop“ nicht nur die abschließenden Sinndeutungen sondern auch seine Erzählweise durchaus auf einen anderen Zuhörerkreis als Steinhöwel abgestimmt hat, den man wohl in ländlichen Lebensverhältnissen wird suchen müssen . Die Benennung des 1. Epimythions als ,,De sedelike syn" ist die Übersetzung des ,,Moraliter" der lateinischen Fabelcorpora. Der „ Niederdeutsche Aesop“ gebraucht das Eigenschaftswort „,sedelik“ (= den Gewohnheiten und Sitten ent-
5 Ed. Oesterley, S. 5. 6 Ed. Oesterley, S. 4.
IV. Der niederdeutsche Prosa-Aesop
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sprechend) zur Formulierung von Erfahrungssätzen und Verhaltensregeln , die sich auf rein weltliche Verhältnisse beziehen . Statt der Formulierung zeitunabhängiger anthropologischer Befunde , wie sie die tradierten Auslegungsmuster nahelegten, spielt er erkennbar auf konkrete Anwendungssituationen aus dem Erfahrungsumkreis seiner Zuhörer an. Nicht von Herrschern und Beherrschten im staatspolitischen Sinn ist die Rede, sondern von sozialökonomischen Gegensätzen, unter denen die Abhängigen zu leiden haben . Ein starkes soziales Engagement macht sich geltend , das auch vor heftigem Affront gegen die Grundherren nicht zurückschreckt. Offenbar hat hier ein Geistlicher auf jegliche Repräsentanz an Herrenhöfen verzichtet und sich ganz dem niederen Volk gewidmet . Aufden Nachweis zweier wechselseitig unabhängiger, wesensverschiedener, jedoch immer nebeneinander bestehender Sinnebenen verwandte der Anonymus größte Mühe, und da er ,weltlich-geistlich als Gegensatzpaar verstand, ergibt sich zwangsläufig , daß ,,sedelik“ bei ihm mit ,,weltlich" synonym ist . Sein Weltbild, auch sein Standesbewußtsein sind streng dualistisch; die Trennung des Geistlichen vom Weltlichen ist für ihn im vorhinein dogmatisch festgelegt, und mit der Zweiteilung seiner Sinndeutung gibt er dem schematisch-prinzipiellen Ausdruck. So erklärt es sich, daß die Forderungen christlicher Ethik im Verstehenshorizont des „,sedeliken syns“ hier ebenso peripher bleiben wie bei den vorangegangenen Aesop-Bearbeitern , andererseits aber auch, daß alles, was den geistlichen Stand und die Kirche angeht, nur im Bereich des gestliken syns" Erörterung findet. Wo „ sedelik“ auf den einzelnen Menschen oder gesellschaftliche Gruppen angewendet wird, ist deren äußeres Leben in seinen sozialen Bindungen gemeint , während der „,gestlike syn“ ihr inneres, auf Gott bezogenes Leben betrifft. Erst breit angelegte Quellenstudien könnten ein Urteil darüber ermöglichen , wieviel Selbständigkeit der Anonymus in seinen Auslegungen nach dem geistlichen Sinn entwickelt hat. Denn anders als in der weltlichen Traditionskette , sind hier vorgegebene Muster bis jetzt nur in geringem Umfang greifbar; gegenüber dem fast kodifizierten Bestand der Epimythien bei den antik-mittelalterlichen Überlieferungsträgern wirken sie eher zufällig. Vom Predigtauftrag des Ordensgeistlichen her, der er wohl gewesen ist, kannte er ohne Zweifel die moraltheologische Verwendung von Fabeln in den Exempelsammlungen, sicher auch den ,,Esopus moralisatus", aber von der Vorläuferschaft des ,,Nürnberger Aesop", des einzigen bislang aus handschriftlichen Quellen aufgetauchten Textzeugen für die Übertragung der Lehre vom mehrfachen Schriftsinn auf ein ganzes Corpus aesopischer Fabeln, wird er kaum etwas gewußt haben. Es scheint, daß er eigene
7 Durch Einbeziehung des „ Niederdeutschen Aesop" würde sich die Gesamtzahl der von G. Schütze (s. Allg. Lit. ) ermittelten gesellschaftskritischen Fabeln des 13.- 15. Jhs . (vgl . seine Tabellen am Schluß) beträchtlich erhöhen. 8 Gegenüber dem betr. Kapitel (S. 164ff.) der Untersuchung von D. Schmidtke (s. Allg. Lit. ), dem der „ Nürnberger Aesop" und der „ Niederdeutsche Aesop" noch nicht bekannt waren, erweist sich der Anteil der Fabel an der mittelalterlichen geistlichen Tierdeutung nunmehr als wesentlich größer und bedeutungsvoller .
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IV. Der niederdeutsche Prosa-Aesop
Wege allegorischen Verständnisses gegangen ist ; jedenfalls hat er gegenüber typologisch-praefigurativen Deutungsmöglichkeiten den tropologischen Sinn der Fabeln bevorzugt . Seine mit der spirituellen Auslegung verbundene Wirkungsabsicht war an erster Stelle darauf gerichtet, die Einfältigen vor der Schlauheit und Arglist, vor den Lügenkünsten , mit denen der Teufel ihnen Fallstricke legt, zu warnen . Anderthalb Jahrzehnte nach dem Erscheinen des ,,Ulmer Aesop" , mit dem die neuzeitliche Geschichte der Fabel anhebt, vollzog der ,,Niederdeutsche Aesop“ noch einmal eine Rückwendung in das Mittelalter, und es hat den Anschein, als sei erst durch ihn die aesopische Fabel unter Beibehaltung ihres weltlichen Lehrzwecks konsequent in den Dienst der religiösen Unterweisung gestellt worden . Alles vorangegangene, in die gleiche Richtung Führende ist offenbar im Vergleich zu dieser prinzipiellen Fabelallegorese bei Versuchen und Ansätzen stehen geblieben. Im Unterschied zu Steinhöwels Werk hat der ,,Niederdeutsche Aesop" sicher literarisch weder in die Breite noch weit in die Zukunft hinein gewirkt, das verhinderte schon seine Bindung an die Volkssprache eines begrenzteren Raumes, umso mehr mag er für kurze Zeit an seinem Ort als erzählfreudiges , weltlich und geistlich belehrendes Erbauungsbuch von der dem Humanismus fernstehenden Bevölkerung in ländlicher oder landstädtischer Umwelt geschätzt worden sein.
V. Die Übersetzungen nichtaesopischer Fabelkompendien
So vorherrschend auch die Geschichte der frühneuzeitlichen Fabel in Deutschland durch den aesopischen Typus bestimmt wurde, einziger Anreger war er gleichwohl nicht. Noch in der Anfangsphase der Rezeption des Steinhöwelschen „ Esopus" erschienen in Augsburg bei dem Verleger Anton Sorg und in Urach bei Conrad Fyner zwei deutsche Übersetzungen von Fabelwerken ganz anderer Herkunft und Geistesart: ,,Das bůch der Natürlichen weißheit“ ( 1490) , dem ein ,,Speculum Sapientiae Beati Cirilli Episcopi, alias Quadripartitus Apologeticus vocatus" zugrunde lag, und „ Das bůch der byspel der alten wysen von geschlechten der welt" (um 1480) , dessen Vorlage das ,,Directorium humanae vitae alias parabolae antiquorum sapientum" des Johann von Capua war ' , beide anonym . Ein drittes, ähnlich kompendienhaft wie das ,,Speculum Sapientiae“ angelegtes Werk, des Nicolaus Pergamenus ,,Dialogus Creaturarum “, scheint keinen Übersetzer gefunden zu haben². Die beiden Inkunabeldrucke waren reich mit Holzschnitten ausgestattet. Das ganzseitige Titelbild des ,,Buchs der Natürlichen Weisheit" stellt in zwei Gruppen die personifizierten Allegorien der Kardinaltugenden und ihrer Lasterkontrahenten einander gegenüber, den meisten Fabeln gehen kleinformatige, die jeweiligen Gesprächspartner abbildende Illustrationen voraus. Eine zweite Übersetzung, gleichfalls anonym, erschien 1520 in Basel; 1564 noch einmal aufgelegt, veranlaßte sie den Meistersänger Daniel Holtzman zu einer Versbearbeitung ( 1571 ). Größere Verbreitung fand das ,,Buch der Beispiele der alten Weisen". Von ihm sind bis 1592 17 Drucke nachgewiesen. Die Erstausgabe enthielt 128 , die zweite, 1483 von Lienhard Holl in Ulm veranstaltete, 126 neue ganzseitige Holzschnitte eines unbekannten Meisters; diese greifen die charakteristischste Situation, oft auch mehrere , aus den Beispielerzählungen heraus . Beide Werke waren mithin für die Fabelleser und Fabeldichter des 16. Jahrhunderts ebenso jederzeit greifbar wie der ,,Esopus“ Steinhöwels und wie in den nächsten Dezennien folgende humanistische Sammlungen griechisch-lateinischer Fabeln. ' Krit. Ausg.: Beispiele der alten Weisen des Johann von Capua. Übersetzung der hebräischen Bearbeitung des indischen Pañcatantra ins Lateinische. Hrsg . u . übers. v . F. Geißler. Berlin 1960 (Veröffentlichungen d . Inst. f. Orientforschung d. Dt. Akademie d. Wiss. Berlin 52) . Auswahl It.-dt. in: Schnur, S. 42–149. 2 Die lat. Texte in: Die beiden ältesten lateinischen Fabelbücher des Mittelalters . Des Bischofs Cyrillus Speculum Sapientiae u. des Nicolaus Pergamenus Dialogus Creaturarum. Hrsg. v. J. G. Th. Grässe. Tübingen 1880, repr. Nachdruck Hildesheim 1965 (BLV 148 ). Textproben It.-dt. in: Schnur, S. 312-325 (Dial . Creat. ), 326–341 (Spec. Sap. ).
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V. Die Übersetzungen nichtaesopischer Fabelkompendie n 1. ,,Das Buch der Natürlichen Weisheit" "5
Die erste, um 1415 entstandene , bis 1490 nur in Handschriften und kaum über den Österreichisch-bayrischen Raum hinaus verbreitete Übersetzung des ,, Speculum Sapientiae" ist mit Sicherheit ULRich von PottenSTEIN (um 1360-um 1417) zuzuschreiben, der Kanonikus des Domkapitels von St. Stephan in Wien , Hofkaplan der Herzogin Beatrix und ihres Sohnes Herzog Albrecht IV. von Österreich , zuletzt Pfarrer im oberösterreichischen Enns war. Er gehörte zu einem frühhumanistischen Kreis am Wiener Hof, dessen Anteil an der Ausbildung einer frühneuhochdeutschen Kunstprosa lange unterschätzt worden ist , da seine Mitglieder weniger als in den südwestdeutschen Zentren für weltliche Literatur, Antike und Renaissance aufgeschlossen waren. Literaturgeschichtliche Bedeutung hat dieser Kreis durch die Pflege eines geistig anspruchsvollen Unterweisungs- und Erbauungsschrifttums (in südostdeutscher Schriftsprache) gewonnen. Adressaten waren gebildete Laien am Hofe und im Bürgertum; außerdem sollten der Geistlichkeit auf diesem Wege volkssprachliche Materialien für die moraldidaktische Praxis zur Verfügung gestellt werden. Sprachform und Lehrgehalt des fremdartigen Übersetzungswerkes lassen sich nur unter Berücksichtigung dieser Rahmenbedingungen gerecht beurteilen. Über die Person des Autors der Vorlage, den angeblichen Bischof Cyrillus, ist viel gerätselt worden , ohne daß es gelungen wäre , auch nur einen einigermaßen verläßlichen Anhaltspunkt zu finden. Vom 4. bis ins 14. Jahrhundert reicht die Kette der Vermutungen. In den Bibliothekskatalogen muß man das „ Speculum Sapientiae" unter den Namen des Cyrillus Hierosolymitanus, des griechischen Kirchenvaters Cyrillus von Alexandria, des Slawenapostels Cyrillus von Thessalonice, des Neapolitaners Cyrillus de Quidenon oder des Sycinderinus suchen. Am wahrscheinlichsten ist wohl , daß es sich um ein Werk des 14. Jahrhunderts aus dem mittleren Donauraum oder aus Böhmen handelt³ . Nicht nur die Verfasserfrage ist ungeklärt, auch die Erkundung der geistesgeschichtlichen, philosophischen und theologischen Voraussetzungen gibt Rätsel auf. Bei inhaltlich getreuer Wiedergabe des Originals ist Ulrich von Pottenstein in der sprachlichen Gestaltung freier verfahren als etwa Steinhöwel. Er setzte rhetorische Stilmittel ein, löste die lateinischen Satzkonstruktionen in Hauptsätze auf, intensivierte mit Hilfe von Parallelismen, erläuterte durch sinnverwandte Wörter und veranschaulichte durch Metaphern. Hinweise zu angemessenem Verständnis der Intention seines Werkes hat der Autor der cyrillischen Fabeln in einer an seinen Sohn gerichteten Vorrede gegeben . Er habe für ihn eine Sittenlehre schreiben wollen,,,dye dein jugent
3 52 lat. Handschriften wurden ermittelt, Drucke seit 1473. Vom Erstdruck ist It. GW 7, Nr. 7889 kein Exemplar nachgewiesen. Ein krit . Neudruck der dt. Übertragung von Ulrich von Pottenstein wird als Diss. Münster vorbereitet. 4 Ulrich von Pottenstein übersetzt: „ Davon mein aller liebster sun begern wir dir zeschreiben sitlich ler und ler der siten“. (Bl. aij') Mit den in dieser Vorrede vorgetragenen Argumenten hat sich Ulrich augenscheinlich völlig identifiziert.
V. Die Übersetzungen nichtaesopischer Fabelkompendien
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warlichen und väterlich underweyßt“ , und damit er sie klarer erfassen, sich leichter einprägen und sie besser im Gedächtnis bewahren könne , werde er sie ,,mit figürlichen außzügen und mit ebenpildlicher geleichnuẞ"5 , d . h. nicht begrifflich, sondern parabolisch vortragen. Zunächst sind es also mnemotechnische Gründe gewesen, die ihn zur Wahl der bildlichen Redeweise veranlaßten; für die Bevorzugung eines derartigen Lehr- und Lernverfahrens beruft er sich ausdrücklich aufAristoteles. An diesen anknüpfend, macht erjedoch alsbald klar, daß diese Methode ihre tiefere Rechtfertigung aus einer naturphilosophischen Lehre der Ab- und Ebenbildlichkeit empfange. Der Titel ,,Speculum sapientiae" ist metaphorisch zu verstehen: er meint , eigentlich die Natur. Nicht nur ausschnittweise lassen sich Phänomene der moralischen Welt an Gleichnissen aus der Natur demonstrieren, vielmehr besteht eine genaue, widerspruchsfreie und lückenlose Entsprechung zwischen dem System der Sittenlehre (,,gepew der sitten" ) und dem Gesamtgefüge der natürlichen Welt,,,seyt auß den sitten der natürlichen tier und aygenschafft beschaffner ding als auß lebentigen pildern menschliches lebens natürlich aygenschafft entworffen unnd gepildet wirt / seyt alle welt nit anders ist dann ein schůl natürlicher ler und alle beschaffne ding seind vol vernunft und weißheit" . Die letzte, weitreichendste Begründung ist, ohne daß der Name Gottes genannt wird, theologisch fundiert. Weil das Wesen des Schöpfers vollkommene Weisheit und höchste Vernunft ist, kann in dem Spiegel der von ihm geschaffenen Welt seine Weisheit und seine Vernunft erkannt werden . Darum ist die Natur die beste Lehrerin der Weisheit und vernünftigen Handelns. Das „,Buch der Natürlichen Weisheit“ berichtet in seinen Fabeln von dem, was Weisheit und Vernunft lehren. Die religiöse Gewißheit, daß göttliche Gebote vernünftig und aus diesen fließende vernünftige Verhaltensweisen natürlich sind, bietet die Gewähr dafür, daß es möglich ist, sowohl in der sittlichen als auch in der natürlichen Welt Richtiges und Falsches , Gutes und Böses, Kluges und Törichtes, Vorbildliches und Verwerfliches eindeutig voneinander zu scheiden. Die Natur kann, wie zur Weisheitslehrerin, auch zur Tugendlehrerin werden. Der Untertitel ,,Quadripartitus Apologeticus“ bezieht sich auf das der natürlichen Welt korrespondierende ,,gepeu gåter sitten und eins geordneten und rechten lebens". In der Vorrede wird dieses gepeu" allegorisch beschrieben als ein vierseitiges Gehäuse , das in seinem Innern das Allerheiligste birgt, wie das Tabernakel die geweihten Hostien. ,,Wann die vier benannten angeltugentt seind die gevierte vierung des tabernackels" , d . h. die vier Wände dieses Gehäuses bezeichnen , nach ihrem spirituellen Sinn befragt, die vier christlichen Kardinaltugenden (,,angeltugenden“ ) Weisheit (sapientia, prudentia), Großmütigkeit (magnanimitas , fortitudo), Gerechtigkeit (iustitia) und Mäßigkeit (temperantia, modestia) . Die Lehre von den Kardinaltugenden ist griechisch-römischer Herkunft. Sie findet sich, abgeleitet von der Dreiteilung der Seele in einen begehrenden, 5 a.a.O. , Bl. aij' . 6 a.a.O. , Bl . aij ' . — seyt: da, weil . 7 a.a.O. , Bl. aij' .
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V. Die Übersetzungen nichtaesopischer Fabelkompendien
wollenden und erkennenden Teil, zuerst in Platons ,,Staat" . Jedem dieser Teile weist Platon eine geistig-sittliche Kraft zu , deren Aufgabe es ist, ihn zu beherrschen: dem begehrenden die Besonnenheit ( σwppoσúvn ) , dem wollenden die Mannhaftigkeit (ἀνδρεία) , dem erkennenden die Einsicht (φρόνησις, σοφία). Sie bilden zusammen mit der ihnen übergeordneten Gerechtigkeit (dɩкαιoσúvη ) eine Vierereinheit. Über die Stoa, Cicero und Seneca gelangte dieser Tugendkanon in die christliche Ethik. In biblischen Aussagen fand man ihn bestätigt (Weisheit Salomos 8,7; 1. Korintherbrief). ,,angeltugenden“ wurden die vier im Anschluß an Thomas von Aquin nach dem Bild der Türangel genannt, weil von ihnen alle Einzeltugenden ihren Halt empfangen, wie die Tür von ihren Angeln . Der geistliche Sittenlehrer des ,,Speculum Sapientiae“ hat sich darüber hinaus zur Beweisführung der typologischen Allegorese des Alten Testaments bedient. Dort bedeuten nach seiner Auslegung die vier Güter, deren Hiob beraubt wurde (Hiob 1,14-19) , und die vier Stätten Jerusalems (,,der tempel der weißheit“ , „ die maur der großmütikeit“ , „ der palast küniklicher gerechtikeyt“ , „ die heuser des frids und der mässikeit“ ; Jeremias 52,13f.) , die Nebusaradan, der Hauptmann des Königs zu Babel , zerstörte , die genannten vier Kardinaltugenden . Ihnen widerstreiten die vier Kardinallaster: Torheit (stultitia), Hoffart (superbia), Geitikeit (avaritia), Unmäßigkeit (luxuria ) . Auch diese findet er im Alten Testament bezeichnet, im Buch Hiob an gleicher Stelle als ,,die Sabej der torheit die wüsteten im die ochssen der weyẞheyt“, die „ Chaldei der hoffart die beraubten in der Cameln der großmütikeit“ ,,,der wind der ungestümen und fräveln geitikeit der wäet und pließ in das haus ... zerrüttet gancz und gar aus die zehen gepot der gerechtikeit“, „ das giftig feuer der unkeusch / das verzeret gancz und gar biß in dye äschen die natürlichen kleinatt und nieren der reinikeit“ . Weiterhin zieht er die Propheten Sacharja ( 1,18f. ) und Joel ( 1,4 ) heran. Demzufolge ist das ,,Speculum Sapientiae" in vier Bücher aufgeteilt. Das erste handelt ,,von dem laster der unweisen torheit das der ersten angeltugent der weißheit widerwertige ist" , das zweite von der andern angeltugent das ist die großmütigkeit wyder das laster der hoffart", das dritte ,,von dem schantlichen laster der geytigkeit das do der gerechtigkeit wyder ist“ , das vierte ,,von dem laster der unmässigkeit daz der mässigkeit gancz widerwertige ist". Der Tabernakelallegorie tritt schließlich noch die Allegorese von Nebukadnezars Traum zur Seite (Daniel 2,37-45 ) . Den vier Reichen in der Deutung dieses Traums , die dem Reich Christi vorausgehen, entsprechen die vier Teile des Tugendsystems. Sie zu durchschreiten, bedeutet dann , jenem Reich die Bahn zu bereiten . Während die aesopischen Fabeln erst im nachhinein zu Sammlungen vereinigt wurden und dabei ihre ursprünglichen Merkmale der ad hoc - Erfindung und der kasuistischen Verwendbarkeit als Einzelstücke behielten, bestimmte in den vier 8 ,,Virtus aliqua dicitur cardinalis, quasi principalis, quia super eam aliae virtutes firmantur, sicut ostium in cardine.“ (Eine Tugend wird Kardinaltugend , gleichsam erste Tugend [Grundtugend, Haupttugend] genannt, weil auf ihr andere Tugenden befestigt werden wie die Tür auf dem Türangelzapfen). Thomas von Aquin, De virtutibus , I, 12ff. 9 a.a.O. , Bl. aij .
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Büchern des ,,Speculum Sapientiae" das vorgegebene moraltheologische und moraldidaktische Schema den abstrakten Charakter der Abbilder und Gleichnisse. Nur bei fünf von fünfundneunzig Fabeln erscheint eine Beeinflussung durch die aesopische Tradition möglich . Wer die ,,kunstreichen maister“ waren, die, wie es in der Vorrede heißt,,,mit götlicher hilff“ die übrigen neunzig erfunden haben, ist unbekannt. Alle sind nach dem gleichen Grundriß erdacht. Zwei Antipoden spiegeln in ihrem Verhalten den Tugend-Laster-Gegensatz des betreffenden Buches in einer jeweils besonderen Spielart; die Handlung tritt oft so weitgehend zurück, daß sie kaum mehr über eine das belehrende Gespräch auslösende Begegnung hinausgelangt. So entschließt sich in der ersten Fabel der alte Fuchs, nach höherer Weisheit verlangend, zu einer beschwerlichen Reise, doch alsbald kommt ihm ein Rabe entgegen geflogen, und sogleich ergibt sich die Gelegenheit, das gedankliche Thema der Fabel erschöpfend zu behandeln , so daß es am Schluß nur noch heißt: ,,und schieden von einander“ . Dreiviertel des Textes gehören der Lehrrede des Fuchses . Der Weisheitsuchende belehrt den, von dem er seinerseits Unterweisung erhofft hatte. Denn der Rabe erweist sich trotz seiner reichen Erfahrung als Tor, weil er allein nach dem äußeren Schein urteilt und, da das Ende unweigerlich bevorsteht, Lernbegehren im Alter für sinnlos hält , während es dem Fuchs um das Reicherwerden an innerer Erfahrung bei abnehmender äußerer geht, um die Schärfung ,,innwendiger vernunft“ und „ das verstäntnuß in der sel“ . Die Bestandheit der Tiercharaktere gilt für den Autor dieser Fabeln und seinen Übersetzer nicht, ebensowenig der Notzwang der Naturgesetze . Er unterwirft beide seinem Demonstrationswillen . Zwar hält der Rabe dem Fuchs noch seine ,,falschen listen" von ehedem vor, der Gealterte aber täuscht nicht mehr heimtückisch seine Pilgerfahrt nach der Weisheit nur vor, er ist wirklich ein anderer geworden " . Zuweilen gibt der Autor auch einem beispielhaften Vorgang einigen Raum. Dann stellt er ihn entweder als Bestätigung zwischen die eingangs vorgetragene Warnrede und deren strafende Wiederholung, wie in der Fabel ,,Vom Strauß und der Henne“, oder er benutzt ihn als die Diskussion auslösendes Ereignis, wie in der Fabel ,,Von der Erde und der Luft". An der ersteren wird der durchgreifende Unterschied zwischen der cyrillischen und der aesopischen Fabel besonders deutlich . Denn was dem die Perle verschmähenden aesopischen Hahn zur Unehre gereicht, macht hier die Henne zu einem Musterbild der zweiten ,,angeltugent" . Magnanimitas oder fortitudo erscheinen bei ihr in der Gestalt der Demut, die ihr Widerpart, der ,,türstige türrer“, als unedle Gesinnung und Trägheit verkennt. Der unglückliche Verlauf des Flugversuchs zeigt, daß die angeltugenden sich in
10 1,4: Grille und Ameise; 1,18 : Löwe, Fuchs und Maus; II, 14 : Leeres Rohr und volles Zuckerrohr; II , 19 : Vom Maulesel ; III, 11 : Fuchs und Wiesel. 11 Vgl. auch ,,Die füechsisch geselschaft" von Hans Sachs (Bearbeitung von 1,24 ; s. Bd. I, S. 129ff. ) und deren Unterschied zur nur vorgetäuschten Romfahrt im „ Reineke Fuchs".
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V. Die Übersetzungen nichtaesopischer Fabelkompendien
Übereinstimmung untereinander befinden , ebenso die , angellaster' , denn Demut ist hier zugleich Klugheit, Hoffart aber Torheit¹2. Von der ,,Lehrerin“ oder, wie er sie auch nennt,,,Hofmeisterin Natur“ spricht der Autor in einem für den neuzeitlichen Leser befremdlichen Sinne. Statt das Fallen und Steigen, das wechselseitige Geben und Nehmen in der Natur am Sinnbild des Wassers zu preisen, teilt er der Erde die dritte Kardinaltugend – Freigebigkeit, die keinen Lohn fordert -, der Luft aber (gemeint ist : der Wolke) das dritte Kardinallaster – „ Geytigkeit“ , die nur spendet, um sich desto mehr zu bereichern - zu . Der durchaus natürlichen und vernünftigen Rechtfertigung der Luft gibt er kein Gehör. Ist das „,natürliche Weisheit" ? Die Antwort muß lauten: Die Natur lehrt eben auch, wie sich der Mensch nicht verhalten soll. Bis zum Gegensinn wird solche dem Natürlichen zuwiderlaufende , dennoch aus der Natur geschöpfte Ebenbildlichkeit vorgetrieben, wo von dogmatischen Inhalten die Rede ist. Selbstbeherrschung und Üppigkeit haben sich in christlicher Askese auf die Tugend der Enthaltsamkeit und das Laster der Unkeuschheit verengt. Als verwerfliche luxuria wird der reiche Ertrag des Feigenbaums gewertet, als ,,die höchst mässigkeit" der unberührten Jungfräulichkeit hingegen das unfruchtbare Blühen der Rose und der Lilie. Beide verteidigen sich gegen die Vorwürfe des Feigenbaums mit dem Hinweis auf das marianische Wunder. Die Identität von Blüte und Frucht bei diesen Blumen soll als natürliches Ebenbild für den ,,geist der ob dem fleysche herrschet“ , für die ,,aller säligste heilikeit" begriffen werden.
2 . ,,Das Buch der Beispiele der alten Weisen" Fast gleichzeitig mit Steinhöwels zweisprachigem Sammelwerk aesopischer Fabeln entstand im deutschen Südwesten die erste Übertragung eines ganz anders als jenes gearteten ,,Opus fabularum perutile: quod primo indice : post persice : dehinc arabice: hebraice: pariter et latine exaratum fuerat“ 13. Wie in der Frühzeit des Buchdrucks üblich , beginnt der Text ohne vorangestellten Gesamttitel; der in
12 Das Zusammenwirken der vier Kardinaltugenden in einer Verhaltensweise soll die Fabel ,,Vom Löwen , Fuchs und einer Maus“ (I, 18 ) demonstrieren: „ Unnd gybe einem yecklichen sein ere . So spriche ich nicht anders fürware / dann ein werck aller angeltugent wo die freuntlichen unnd liebesamigklichen miteinander würckend. Das erkenn also. Die edel Weyßheyt dye leret / warumb / wann / wo / wie man eren sölle / Gerechtigkeyt die leret daz man keinen man in seinem stand czů wenig ere. Großmütigkeyt die leret daz man den menschen vyl mer ere erbiete dann das ir stande begeret. Mässigkeyt die leret das man die rechten maß nicht übertret / wenn man ere erbeutt. wellicher nun den andern fürgreiffet unnd ist der erste erer / On zweifel der eret sich selber des ersten unnd am maysten . Wann ein fürsichtiger erer als uns die vernunfft underweyset ist eyn besiczer aller tugent. “ (Bl. 20'). 13 Conrad Summenhard von Calw: Gedächtnisrede auf Herzog Eberhard vom 9. 3. 1496, gehalten in der Universität Tübingen; zitiert nach W. L. Holland (Hrsg. ) : Das Buch der Beispiele der alten Weisen (s. S. 157) , S. 249.
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Neudrucken gebräuchlich gewordene ,,Das bůch der byspel der alten wysen von geschlechten der welt" 14 ist einem Vorbericht über die Herkunft des Buchs entnommen und dort die Verdeutschung für ,,Liber parabolarum antiquorum sapientum nacionum mundi“ in der lateinischen Vorlage. Der Übersetzer blieb lange unbekannt. Zwar lag es nahe, ihn in dem frühhumanistischen Kreis um die Erzherzogin Mechthild an deren Witwensitz in Rottenburg am Neckar zu vermuten, denn ihr Sohn , Graf Eberhard im Bart, der erste Herzog von Württemberg, hatte den Übersetzungsauftrag erteilt, wie Conrad Summenhards Tübinger Gedächtnisrede auf Eberhard ausdrücklich bezeugt. Zudem ergab die Initialenfolge der ersten Abschnitte als Akrostichon Name, Rang und Wahlspruch Eberhards ' . Auf gleichem Wege gelang es schließlich auch, an späterer Stelle des Textes das Akrostichon des Übersetzers ausfindig zu machen¹ . ANTONIUS VON PFORR (Anfang d. 15. Jhs .- 1483 ) entstammte einer Breisacher Patrizierfamilie, trat in den geistlichen Stand, wirkte an verschiedenen Orten des Oberrheins , zuletzt als Kirchherr in Rottenburg. Er muß auch juristisch bewandert und diplomatisch geschickt gewesen sein. Die Erzherzogin Mechthild und der Bischof von Konstanz verwandten ihn als Rechtsbeauftragten, 1466 war er Bevollmächtigter Herzog Sigismunds von Tirol am Hof Kaiser Friedrichs III . in Innsbruck. Die Übersetzung des ,,Buchs der Beispiele" war ein Alterswerk und, soviel wir wissen, seine einzige literarische Arbeit. Umso erstaunlicher ist die sich in ihr zeigende Gewandtheit und Präzision seiner Kunstprosa, worin er nicht nur Ulrich von Pottenstein , sondern auch Steinhöwel übertraf. Mit ihr hat er ein Werk der Weltliteratur für die deutsche Sprache und Literatur gewonnen und es, frei von allen dogmatischen Auslegungszwängen, in humanistischem Geiste fast volkstümlich zu machen verstanden. Prediger, Dichter und Lehrende des 16. Jahrhunderts haben mannigfach auf diese Übersetzung zurückgegriffen, unter ihnen Geiler von Kaysersberg, Johannes Pauli , Hans Sachs, Hans Wilhelm Kirchhof, Johannes Agricola und Sebastian Franck. Auch diente es volkssprachlichen Bearbeitungen der Nachbarländer zur Textgrundlage. Als Antonius von Pforr den Auftrag übernahm, das „,Directorium vitae humanae" des Johann von Capua zu verdeutschen , hatten die meisten der darin enthaltenen Fabeln , Parabeln, Märchen und Schwänke bereits eine mehr als tausendjährige Rezeptionsgeschichte und einen Wanderweg von Indien bis nach Spanien und Rom hinter sich. Das Wissen hiervon spricht sich in jener Ankündigung aus, das Buch enthalte die von den alten Weisen in den Völkern der Welt erfundenen Beispielgeschichten, sei also keinesfalls das Werk eines einzelnen Verfassers. Die Orientalistik weiß von über 200 Textfassungen in mehr als 60 Sprachen, die alle letztlich auf ein Grundwerk zurückgeführt werden. Dieses in seiner Urfassung verlorengegangene, wahrscheinlich im 2./3 . Jahrhun-
14 Ed. Holland, S. 8. 15 a.a.O., S. 1-31 : Eberhart Graf z Wirtenberg Attempto. 16 a.a.O., S. 54-69: Anthonyus v Pfore.
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dert n. Chr. entstandene ,,Pañcatantra" („Fünferbuch ' ) 17 war als Fürstenspiegel, d. h. als Lehrbuch der Fürstenerziehung konzipiert, es sollte vornehmlich durch Tierfabeln und gnomische Spruchstrophen Fürstensöhne auf ihre künftigen Aufgaben in der Ausübung der Herrschaft vorbereiten, sie vor allem politische Klugheit lehren. In fünf Büchern behandelte es fünf Themen: die Verfeindung zwischen Freunden , das Erwerben von Freunden , Krieg und Frieden, den Verlust von Besitz, die Folgen unüberlegten Handelns . In der Sprache der Priester und Gelehrten, dem Sanskrit, abgefaßt, stilistisch der hohen Kunstdichtung zugehörig, war dies Werk zunächst nur für Leser der aristokratischen Oberschicht bestimmt. Doch bald drangen in seine mündliche und schriftliche Tradierung volkstümliches Erzähl- und Spruchgut ein, ältere legendarisch-märchenhafte Geschichten der buddhistischen Mönche („ Dschātakas“ oder „ ,Wiedergeburtsgeschichten" aus früheren Leben des Bodhisattwa, des Erleuchteten), ferner Realistisches mit Übernatürlichem vermischende Beispielerzählungen des Wanderpredigerordens der Dschainas, schließlich mancherlei Novellistisches und Schwankhaftes aus der Welt der Kaufleute, Gewerbetreibenden und Handwerker. Aus dem Lehrbuch der Herrenmoral wurde eine allgemeingültige Verhaltenslehre , die darauf abzielte, praktische Lebensklugheit mit ethischer Verantwortlichkeit zu verbinden . Zu einem solchen unterhaltend-belehrenden Geschichtenbuch ist bereits das „ Tantrākhyāyika“ („Aus Erzählung von Klugheitsfällen bestehendes Lehrbuch ) geworden , die älteste , erst zu Anfang unseres Jahrhunderts aus umfassenden Handschriftenstudien zurückgewonnene literarische Fassung des „ Fünferbuchs“ 18 . Das „ ,Pañcatantra" unterlag mithin schon in seiner indischen Heimat so vielen Abwandlungen und Umgestaltungen, daß der Name nicht als Titel eines einzelnen Werkes, sondern als Sammelbegriff der Textgeschichte zu gelten hat¹ . Allen Fassungen gemeinsam blieb indessen die äußere Bauform: der erzählerische Gesamtrahmen; die Aufteilung in fünf Bücher mit jeweils eigenem Thema und eigener Rahmenerzählung, aus der sich die Anlässe zu den von einem Gesprächspartner erfragten, von dem anderen mitgeteilten, häufig nochmals ineinander verschachtelten Binnenerzählungen ergeben;
17 Grundlegend für die Erforschung der Überlieferungsgeschichte wurden Einleitung und Anmerkungen von Theodor Benfey zu seiner Übersetzung des „ Pañcatantra“ (Leipzig 1859) und Johannes Hertel : Das Pañcatantra. Seine Geschichte und seine Verbreitung. Leipzig/Berlin 1914. Vgl . auch Friedrich von der Leyen: Die Welt der Märchen, Bd. 1. Düsseldorf 1953. 18 Tantrakhyāyika. Die älteste Fassung des Pañcatantra. Aus dem Sanskrit übersetzt mit Einleitung u . Anmerkungen v. Joh. Hertel . 2 Bde. Leipzig/Berlin 1909. 19 Die Übersetzung des „ Pañcatantra“ von Th . Benfey ( 1859) beruht im wesentlichen auf der Sanskrit-Fassung von J. G. L. Kosegarten ( 1848 ) , einer Kontamination aus verschiedenen, verhältnismäßig späten Handschriften, die damals dem Bonner Orientalisten nur zugänglich waren. Sie gibt annähernd die rezeptionsgeschichtliche Textgestalt zu Beginn des 13. Jahrhunderts wieder. Die Neuausgabe: „,Pantschatantra. Die fünf Bücher der Weisheit" , bearb. v. K. Fitzenreiter. Mit e. Nachwort v. R. Beer. Berlin 1982 (Bibliothek der Weltliteratur) beruht auf der Benfeyschen Übersetzung.
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das Argumentieren und Belehren mit Hilfe strophischer Spruchzitate innerhalb des Dialogs. Im 6. Jahrhundert sandte , wie die Entstehungslegende der persisch-arabischen Fassung berichtet, der Perserkönig Anōscharwan seinen gelehrten Leibarzt Burzōe (Berosias) nach Indien mit dem Auftrag, dort das inzwischen berühmt gewordene Buch aufzutreiben und es ins Pahlawi zu übersetzen . Diese mittelpersische Fassung ist nicht erhalten , doch vermitteln zwei Bearbeitungen auf ihrer Grundlage, eine zeitgenössische syrische und eine 150 Jahre jüngere arabische, eine hinreichende Vorstellung von ihrer Beschaffenheit. Die Gliederung in fünf Bücher ist aufgegeben und an ihre Stelle eine Kapitelfolge getreten. Fortgefallen ist auch die Einleitungserzählung von der Wahl Wischnuscharmans zum Erzieher dreier Königssöhne , durch die dem „ Pañcatantra“ einst die Zweckbestimmung als Fürstenspiegel gegeben worden war. Statt dessen berichtet jetzt im 1. Kapitel Berosias einleitend von seiner Sendung nach Indien . Burzõe hat offenbar mehrere Versionen benutzt, bevorzugt eine , in der die Geschichte zweier Schakale am Hof des Löwen, des rechtlich denkenden Karataka und des mißgünstig-heimtückischen Damanaka, den wichtigsten Teil ausmachte. Auch hat er wohl seine Fassung nach ihnen benannt, in der arabischen Übersetzung heißen sie Kalilah und Dimnah. Der für Damanaka erfolgreiche Verlauf seiner Verleumdungskampagne, die er gegen den vertrauten Ratgeber des Löwen, den Stier Sandschiwaka führt, um auf diese Weise am Hof Karriere zu machen , ist so ausführlich erzählt und so deutlich als Hofkritik akzentuiert, daß man in Bezug auf diesen Teil des Werkes von einem politischen Tierepos sprechen darf. Sowohl in abratender als auch in bestärkender Beispielfunktion werden dabei Fabeln als Binnenerzählungen verwendet, nicht unähnlich der Einschaltungspraxis im ,,Reineke Fuchs" und in Rollenhagens ,,Froschmeuseler" . Mit der arabischen Bearbeitung der Pahlawi-Übersetzung durch Abdallah Ibn al Moqaffa erhielt das indische Erzählwerk im 8. Jahrhundert die Gestalt, in der es als ,,Kalilah wa Dimnah“ - seit dem 17. Jahrhundert vielfach auch unter dem Titel „ Fabeln des Bidpai“ oder „ Pilpay“ - in die östlichen und westlichen Literaturen eingegangen ist20. Während die vorausgegangenen Fassungen die Hofintrige Damanakas wertneutral als Lehrbeispiel für den klugen , skrupellosen ,homo politicus' angesehen haben , brachte Moqaffa seine grundsätzlich andere Auffassung von politischer Moral dadurch zum Ausdruck, daß er ein Kapitel von Dimnahs Prozeß und Verurteilung folgen ließ. Auch stellte er eine eigene Vorrede, die Sinn und Ziel des Buchs erörtert, vor den Bericht des Berosias. Moqaffas arabische Fassung wurde im 11. Jahrhundert ins Griechische, im 12 . ins Hebräische, im 13. ins Spanische und aus dem Hebräischen zwischen 1263 und 1278 durch Johann von Capua ins Mittellateinische übersetzt. Dieser
par 20 Erste vollständige Ausgabe : Calila et Dimna, ou fables de Bidpai, en Arabe Silvestre de Sacy. Paris 1816. -– Dt . Übersetzung v . Philipp Wolff: Calila und Dimna oder die Fabeln Bidpais. 1. u . 2. Bdchen. , Stuttgart 1837 (Morgenländ. Erzählungen 1.2 . ); 2. Aufl. u . d. T.: Das Buch des Weisen in lust- und lehrreichen Erzählungen des indischen Philosophen Bidpai. Stuttgart 1839.
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widmete sein ,,Liber Kelilae et Dimnae“ als „,Directorium vitae humanae alias parabolae antiquorum sapientum“ („Führung menschlichen Lebens, anders gesagt Gleichnisse der alten Weisen' ) 21 dem Kardinal Matthäus R. Ursinus , der 1278 Erzpriester von St. Peter in Rom wurde , und so gelangte das „,Pañcatantra“ in seiner persisch-arabischen Gestalt, ohne daß diese auf irgendeine Art verchristlicht worden wäre, in den Mittelpunkt der christlichen Welt des Mittelalters. Antonius von Pforr legte seiner Verdeutschung, ohne nennenswerte inhaltliche Eingriffe vorzunehmen, eine der zahlreichen Handschriften des „,,Directorium vitae humanae", vielleicht eine italienische, zugrunde. Der „ Pañcatantra“ Übersetzer und Erforscher Theodor Benfey hat die kulturgeschichtliche Bedeutung der Pforrschen Übersetzung, an der er die Würde, die Kraft und Schönheit ihrer Sprache" hervorhob, darin gesehen , daß ,,fast ganz Europa eine in weiteren Kreisen verbreitete Kenntnis dieses bedeutenden Werkes fast einzig und allein ihr verdankt 22. Zumindest war dies bis zum Jahr 1644 so . In diesem Jahr jedoch erschien eine dem barocken Zeitgeschmack rückhaltlos entgegenkommende französische Übersetzung einer neupersischen Bearbeitung des Fabelbuchs von ,,Kalila und Dimna“ , der „,Anwar-e Schaili“ ( „ Die Lichter des Sohaili“ oder „ Die Lichter des Kanopus“23) von Kāšefi (um 1500) , die mit ihrem manieristisch ornamentalen und rhetorischen Metaphernstil das literarische Publikum an sich zog : ,,Le Livre des lumières ou la Conduite des roys composé par le sage Pilpay Indien" , die in späteren Ausgaben auch ,,Les Fables de Pilpay" oder ,,Les Conseils et les maximes de Pilpay, philosophe Indien , sur les divers états de la vie" genannt wurde24. Das 18. Jahrhundert las die Fabeln der arabischneupersischen Version des „,Anwar-e Sohaili“ nach der türkischen Fassung des ,,Humayunnameh“ („ Das Kaiserbuch“ , entstanden 1543/44) in den „ Contes et Fables indiennes de Bidpai et de Lokman“ von Antoine Galland und Gueullette (Paris 1724, deutsch Frankfurt/Leipzig 1745 ) 25 , die indischen „ Pañcatantra“Fabeln hingegen in der englischen Übersetzung der Sanskrit- Rezension des „,Hitopadesa" (,Freundliche Unterweisung' ) von Charles Wilkins (London 1787 )26. Gleichwohl wurde Pforrs ,,Buch der Beispiele" nicht gänzlich verdrängt. Das beweist die ausführliche Beschreibung des Exemplars der Ulmer Ausgabe von
1483 in der Göttinger Bibliothek durch Abraham Gotthelf Kästner27. Benfey
21 Ausgaben s. unter Neudrucke zu Antonius von Pforr, S. 157. 22 Benfey, a. a. O. , S. 145 (s. Literaturhinweise zu Pforr). 23 Kanopus : Stern 1.Größe, im südl. Sternbild des Kiels (auch Argo genannt) , zweithellster Stern am Fixsternhimmel , in Europa nicht sichtbar. 24 Dt. Übersetzungen: Kalila Wadimna Pilpay, verdeutscht u. metrisch bearb. v. L. Weber. Leipzig 1802. - Betragen der Großen und Kleinen, wie es sein sollte, oder die Fabeln des indischen Weltweisen Pilpai, a. d. Franz . übers. v. Conrektor Vollgraf. Eisenach 1803 . 25 Fabeln Lokmans sind trotz des Titels nicht darin enthalten. 26 Erste dt. Übersetzung : Hitopadesa. Eine alte indische Fabelsammlung aus dem Sanskrit zum ersten Mal in das Deutsche übersetzt v. Max Müller. Leipzig 1844. 27 ,,Nachricht von einer alten deutschen Übersetzung des Buches Kelila und Dimne“, in: A. G. Kästner, Vermischte Schriften, 1. T. (Altenburg 1755 ) , S. 219–232.
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spricht sogar im Hinblick auf die Übersetzungen des ,,Anwār-e Sohaili“ von nur schwacher Nebenbuhlerschaft und resümiert: ,,So bleibt der deutschen Übersetzung und deren Ausflüssen bis zu der Publikation des arabischen Textes ( 1816) und in beschränkterem Maß selbst nach dieser unbestreitbar der Wert, der treuste Spiegel der arabischen zu sein“28. Und da dieser arabischen offenbar eine frühe indische Version zugrunde lag, spiegelt darüber hinaus Pforrs „ Buch der Beispiele" das ,Grundwerk noch getreuer als die anderen vor der Entdeckung des ,,Tantrakhyāyika" bekannt gewordenen Fassungen. ,,Dis buch ist lieblicher wort und kostlicher red, dadurch die alten ir wyßheit hond wöllen uẞgiessen, damit sy ir wyßheit durch die wort der vernunfft erzöugent" , verspricht die Vorrede zu Anfang29 . Der von der zoroastrischen Religion zum Mohammedanismus übergetretene Araber Moqaffa, der Rabbi Joël , Verfasser der hebräischen Rezension, der getaufte Jude Johann von Capua und der Geistliche im Kreis der Erzherzogin Mechthild waren offenbar gleicher Ansicht über den Nutzen der in diesem Buch aufbewahrten ,,wyßheit“ , denn keiner dieser drei Nachfolger des Arabers sah einen Anlaß , an der von jenem übernommenen Begründung etwas zu ändern: ,,Dann ein vernünfftiger mag mangerley meinung mit der welt übung des argen und gåten herinne finden, wer dis bůch beträchtlich und mit merckung des sinns der figuren und der ursach erkirnt, dadurch er sich billich vor dem argen bewaren und daz gåt üben mag❝30. Drei Ursachen werden angegeben , warum die alten Weisen ,,dis bůch gesetzt uff glichnuß zů reden der tier und der vogel“: „,des ersten, daz sy sach fünden irs ußsprechens“, d.h. die abstrakten Lehren anschaulich machen könnten ,,,zům andern zů kurtzwil der lesenden durch die figuren“, um also dem ,delectare ' sein Recht zu geben, und drittens aus didaktisch-lernpsychologischen Erwägungen, ,,wann die lernenden sind geneigt, zů lesen die byspel, und sind inen lieplich zů leren und beheltlich durch anzöugung der tier und vogel . Und ob sy die in ir jugent nit zů endtlicher verstendtnuß vernemen mögen, so ist doch, wann sy in vernunfft erwachsen, daz inen die wysen ding beträchtlich sind, so werden sy dann bedächtlich, was sy in disem bůch durch die byspel der tier und vogel gelesen haben, und mag inen daz zů hoher vernunfft und fürbetrachtung zů gåter hût ir eer und gutes fruchtbarlichen dienen“ 31. Dazu kommt es auf zweierlei an. Zunächst auf das Vordringen zum rechten Verständnis , das auf der Erkenntnis des zwiefachen Sinnes der Beispielerzählungen beruht: ,,Einem jeden wysen man gebürt, ... das er in sinem gemüt betracht und merck , das dis bůch zwo verstendtnuß hat, die ein offenbar, die ander verborgen, und glycht einr nuẞ; die ist zů nicht, sy werd dann uffgebrochen und
28 Benfey, a.a.O. , S. 146. – deren Ausflüssen: den Übersetzungen in andere europäische Sprachen auf der Grundlage des Pforrschen Textes. Publikation des arabischen Textes: s. Anmerkung 20. 29 Ed. Holland, S. 1. 30 a.a.O., S. 1. beträchtlich: nachdenklich. - erkirnt: ergründet. 31 a.a.O. , S. 1. - beträchtlich : bedenkenswert .
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daz inner verborgen teil versůcht“32 . Sodann auf die tätige Anwendung des Erkannten: ,,Dann es sprechen die wysen, das die wyẞhait nicht dann durch die werck der wyẞhait fruchtbar werd. Dann die wyẞhait ist glich ainem boum, des frucht übung der werck haissen“33. Die Vernunft lehrt das Gute erkennen; wer gleichwohl das Böse wählt, handelt als ein Tor und ein mit sehenden Augen Blinder. Schon die Vorrede erläutert, wie nachher das ganze Buch , durch ,,byspel“ und ,,glychnuß“ eine vernünftige Wertordnung: ,,die wysen sprechen, das aim ieglichen menschen gebürlich sy, drü ding zů sůchen , wyßhait, richtum und barmhertzigkait, und das niemant sinen ebenmenschen schelten sol der ursach, deren er an im selbs hab"34. Irdischer Besitz wird durchaus positiv bewertet, wenn er durch Arbeitsamkeit, ohne einem anderen Schaden zuzufügen , erworben wurde , und wenn bewußt bleibt, daß er nur „ zytlich gůt“ ist. „ Richtum und gotsforcht“ sollen als ,,zwey ding, die dem menschen nütz sind“35 in Einklang miteinander gebracht werden. Als Lebensregel gilt: ,,Besunder sol ain ieglicher vernünfftiger man mit gerechtigkait in gotsforcht sin narung nach sinem staut überkommen und mit fürsichtiger achtung warnemen, wie er sich vor dem bewar, des er schaden empfahen mög"36 . Klugheit gebietet, die Gesetze nicht zu übertreten, den eigenen Vorteil zu wahren, anderen erst nach genauer Prüfung Vertrauen zu schenken, ,,bedächtlich zů handlen und zů wandlen in sinem wesen“ 37 . Unabdingbar aber ist für den Menschen ebenfalls die „,rechtfertige bewerung under im selbs und sinem ebenmenschen 38. Man sieht, wie alle diese Maximen von dem vorgegebenen Corpus orientalischen Erzählguts abgeleitet sind oder sich ihm anzupassen suchen - nicht umgekehrt, wie es Lessing forderte , das Erdichtete als besonderer Fall aus einem allgemeinen moralischen Satz . Das ,,Buch der Beispiele“ ist in siebzehn Kapitel eingeteilt, von denen jedes einem eigenen Thema gilt. So handelt das erste , das den Bericht des Berosias enthält, „ von vorcht und gerechtigkait“ 39, das zweite „,von trügnuß und von untrüw" (Dymnas Hofintrige)40, das dritte „,von dem, der sinen nutz mit eins andern schaden sucht, und was dem zůletst von got darumb erachtet ist“ (Dymnas Prozeß und Bestrafung)4 ' , das letzte, das nur aus der Fabel von der Taube, dem Fuchs und dem Sperling besteht,,,von dem, der einem andern raten kan und im selbs kan er nit raten“42.
32 a.a.O., 33 a.a.O., 34 a.a.O. , 35 a.a.O., 36 a.a.O., 37 a.a.O., 38 a.a.O., 39 40 41 43
a.a.O. , a.a.O., a.a.O. , a.a.O. ,
S. 2. S. 3. S. 4. S. 5 . S. 5. staut: Ulmer Dialektform für: stand. (vgl. Holland, S. 260) . S. 6. S. 6. S. 11. S. 21. S. 62. - erachtet: bestimmt. S. 190.
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Unvermittelt treten zu Beginn des zweiten Kapitels zwei Gsprächspartner auf: der indische König Diẞles und sein weiser Ratgeber Sendebar. Diẞles verlangt von Sendebar ein „,byspel“ zu dem vorher genannten Thema des Kapitels, dieser antwortet mit der Geschichte von der Intrige des Schakals Dymna gegen den Ochsen Senespa am Hof des Löwen. Seine Erzählung kleidet Sendebar weithin in die Form von Gesprächen zwischen den Brüdern Kellila und Dymna, was wiederum Gelegenheit gibt, im Wechsel von Frage und Antwort weitere Geschichten einzufügen. Dieses Grundschema, das auch mehrfache , letztlich beliebig viele Verschachtelungen erlaubt und sich mit jedem Kapitel wiederholt, setzt einen Gesamtrahmen voraus, den der Leser der deutschen ,,Pañcatantra“Übersetzung dort jedoch vergeblich sucht. Gleichwohl handelt es sich nicht um eine jüngere Erfindung, vielmehr bewahrt dieses Schema die ältere indische Rahmenfassung , wie sie im ,,Tantrakhyāyika“ und im „ Hitopadesa" erhalten ist , wenn auch die zum Verständnis notwendige Einleitung, wie schon in der arabischen Vorlage, fehlt. In der älteren indischen Fassung wird dargestellt, wie die Unterweisung der Fürstensöhne durch den Brahmanen Wischnuscharman abläuft, die Prinzen bringen ihre Fragen vor, der Brahmane beantwortet sie mit seinen Beispielerzählungen . In der jüngeren Fassung, wie sie Benfeys Übersetzung spiegelt, erfüllt Wischnuscharman den ihm erteilten Erziehungsauftrag, indem er seine Erzählungen und die daraus zu ziehenden Lehren in fünf Büchern niederschreibt und diese den Prinzen zum Studium übergibt. Der dialogische Gesamtrahmen fiel infolgedessen fort . Die arabische Bearbeitung hat die Frage-Antwort- Situation beibehalten, aber statt der Prinzen stellt ein König Dabschelim die Fragen und statt Wischnuscharman erzählt und belehrt ein Philosoph Bidpai43 . In der hebräischen Übersetzung, bei Johann von Capua und Pforr wurden daraus der indische König Diẞles und sein weiser Meister Sendebar.
Die in die vorliegende Auswahl aufgenommenen Fabeln aus dem „,Buch der Beispiele" dürfen einzeln als selbständige Texteinheiten aufgefaßt werden, wie es die deutschen Autoren des 16. Jahrhunderts getan haben, als sie sich unbefangen dieses fremde Fabelgut aneigneten . Es sind in sich abgeschlossene Erzählungen mit eigenen Lehren, wobei jeweils der vorangehende Dialog zwischen Diẞles und
43 Eine arabische Handschrift stellte an den Anfang eine das Grundschema erklärende Vorgeschichte: Bidpai hatte, als der König Dabschelim zum Tyrannen geworden war, ihm seine ungerechten Taten vorgehalten und war deswegen von diesem zuerst zum Tode, dann zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden. Nach einer Zeit wurde der König, als ihn Himmelszeichen beunruhigten, anderen Sinnes, ließ Bidpai zu sich rufen und machte ihn zum Minister. Er bat ihn um ein Buch über das rechte Verhalten der Könige. Innerhalb eines Jahres vollendete Bidpai dieses Buch; er teilte es in 14 Kapitel ein, von denen jedes eine Frage und deren Beantwortung durch eine Erzählung enthielt. Vgl. Benfey, Das Pañcatantra, Bd . 1 , S. 55f. – Im ,,Anwār-e Soheili“ ist Bidpai der Name eines als Einsiedler auf Ceylon lebenden Brahmanen, der zu den im Testament eines persischen Königs enthaltenen Ratschlägen für Regenten die sie erläuternden Geschichten erzählt. Vgl. Hertel, S. 408.
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Sendebar oder bei Doppelrahmen zwischen zwei Gesprächspartnern der Binnenerzählungen als Promythion , die nachfolgende Bestätigung des richtigen Sinnverständnisses durch Diẞles , bzw. die Rekapitulation des Anlasses für die Wahl des betreffenden ,,byspels" durch den Erzähler der Binnenfabel und seine Herstellung des Bezugs zur aktuellen Entscheidungssituation als Epimythion gelten können. Da wohl nahezu alle diese Geschichten eine selbständige Existenz geführt haben, bevor sie als „,byspel" oder „ glychnuẞ" in das verschlungene Geflecht des indisch-arabischen Lehrbuchs der Welt- und Menschenkenntnis eingingen, kann die Einzelbetrachtung durchaus ein primär angemessenes Verstehen erbringen. Aber jede dieser erzählerischen Antworten auf Fragen nach dem richtigen Verhalten hat auch ihren eigentümlichen Platz in dem Gesamtwerk, der sie in übergreifende Sinnbezüge einordnet und ihre erzählerische Funktion mitbestimmt. Hierüber gibt der Kommentar zu jedem ausgewählten „,byspel" Auskunft44.
44 s. S. 156ff.
VI. Die großen humanistischen Sammlungen
Um die Jahrhundertwende begann der lateinische Humanismus in Deutschland und den Niederlanden damit, die aesopische Tradition in seine Bemühungen um textkritische Editionen antiker Schriftsteller einzubeziehen . Es ging ihm dabei um die Wiedergewinnung des antiken Fabelgutes in seinem vollen Umfang, vor allem der jahrhundertelang verschollenen griechischen Fabeln, und um die Wiederherstellung der bereits bekannten in ihrer ursprünglichen Gestalt durch neue Fassungen in einem von allen Barbarismen gereinigten Latein ' . 1. Italienische Vorbilder Die niederländischen und deutschen Philologen schlossen sich damit einer Entwicklung an, die in Italien mit den ,,Facetie morales Laurentii vallensis alias esopus grecus per dictum Laurentium translatus" , 33 von LAURENTIUS VALLA (1407-1457) aus dem Griechischen ins Lateinische übersetzten Fabeln, begonnen hatte. Deren posthumem Druck (um 1472 , vermutlich in Utrecht)² war kurz darauf jene alsbald von Steinhöwel verdeutschte planudeische ,,Vita Esopi “ des RINUCCIO D'Arezzo (Rimicius) gefolgt, zusammen mit 100 ins Lateinische übersetzten griechischen Fabeln³, von denen Steinhöwel 17 für seinen ,,Esopus“ auswählte. Es hatten sich die beiden, viele Um- und Neudichtungen enthaltenden ,,Hecatomythien" des LAURENTIUS ABSTEMIUS angeschlossen , das erste ,,,Fabulae per latinissimum virum Laurentium Abstemium nuper composite“, verbunden mit einem Neudruck der Fabeln Vallas (Venedig 1495) , das ,,Hecatomythium secundum" gemeinsam mit einem ,,Libellus de verbis communibus“ des Abstemius (Fano 1505)*. ' Die Bemühungen des Humanismus um eine Wiedergewinnung der griechischen Fabeln und um lateinische Fabeldichtung in Deutschland wurden bereits dargestellt in dem Aufsatz des Verf.: Sammeln und Umgestalten aesopischer Fabeln bei den Neulateinern des 16. Jahrhunderts“ , in: Daphnis, Bd. 14 ( 1985 ) , H. 1 , S. 1–63 . 2 GW 1,315 ; 2. Aufl. Paris, um 1475 (GW 1,316), danach in vielen italienischen Ausgaben der Inkunabelzeit (GW 1,317-331 ) , in Deutschland zuerst Erfurt 1500 (GW 1,332 ) , im ,,Aesopus Dorpii“, Löwen 1517. 3 GW 1,335; 2. Aufl. Rom, um 1475 ( GW I, 336), weitere italien . Ausgaben GW 1,337-344; erste vollständige Aufnahme der 100 Rimicius-Fabeln im „ Aesopus Dorpii" Hagenau 1521 , die ,Vita' dort jedoch nur in Kurzfassung. 4 Hecatomythium I: GW I, 126; 2. Aufl. Venedig 1499 (GW I, 127,128 ); vollständig im ,,Aesopus Dorpii", Straßburg 1519. Hecatomythium II: BM (British Museum. General Catalogue of Printed Books) I, Sp. 600 ; vollständig im „,Aesopus Dorpii“, Lyon 1532, vielleicht schon Zürich: Froschauer, um 1530. Gesamtausgabe beider Hecatomythien mit Valla, Venedig 1513 , 1519 ( BM II , Sp. 294 , 295) .
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VI. Die großen humanistischen Sammlungen Nachdem der Pisaner BONUS ACCURSIUS in Mailand 1479/80 zum erstenmal
eine griechisch-lateinische Ausgabe unternommen hatte , die außer der ,,Vita“ und den von Rimicius übersetzten weitere , durch Accursius hinzugefügte griechische , ebenfalls zweisprachig abgedruckte Fabeln enthielt (,,Accursianae fabulae“) , bildete die 1505 von dem Verleger ALDUS MANUTIUS in Venedig veranstaltete, weit erfolgreichere Edition einen vorläufigen Abschluß der Bemühungen um die Sammlung aller als zweifelsfrei aesopisch angesehenen Texte im griechischen Originalwortlaut . Sie umfaßte 149 ,,Fabellae Aesopi " und 43 ,,Gabriae fabellae" , Tetrastichen in Choljamben (,,ex trimetris iambis, praeter ultimam ex Scazonte") . Ein auch für sich allein zu benutzender zweiter Teil brachte die neulateinischen Übersetzungen . Diese Ausgabe , die durch Nachdrucke , vor allem in Basel, auch in Deutschland Verbreitung fand , erwarb sich bei den Humanisten des 16. Jahrhunderts hohes Ansehen. Sie stand in dem Ruf, das authentische ,,Corpus Fabularum Aesopicarum“ zu bieten .
2. Anfänge der neulateinischen Fabeldichtung Eine grundsätzliche Abkehr von der mittelalterlichen Romulus-Tradition vollzog sich jedoch vorerst nicht. Vielmehr ging der deutsche Humanismus zunächst auf dem von Steinhöwel eingeschlagenen Weg weiter. Zweieinhalb Jahrzehnte nach dem Erstdruck des Steinhöwelschen ,,Esopus" unternahm SEBASTIAN BRANT ( 1457-1521 ) eine Neubearbeitung der lateinischen Einzelausgabe . Sein Editionsprinzip war die konsequente Durchführung einer formal einheitlichen Darbietung aller Fabeln in zweifacher Gestalt : Vers- und Prosafassungen galten ihm als gleich legitim. Steinhöwel hatte ja den Prosaversionen der ersten drei „ Romulus“Bücher jeweils die Fassung des ,,Anonymus Neveleti" in Distichen beigegeben und seinen deutschen Prosaübersetzungen der Fabeln des Avian ebenso die lateinischen Verse des spätantik-frühmittelalterlichen Autors vorangestellt. Brant wandte nun als poeta doctus das Verfahren der imitatio auf alle übrigen Texte der Steinhöwelschen Sammlung an, d. h. er schrieb in Nachahmung des ,,Anonymus Neveleti" zu allen Fabeln des vierten ,,Romulus“ -Buchs , zu den ,,Extravagantes“, der Rimicius-Auswahl und der Gruppe der „ Fabulae collectae “ Fassungen im Versmaß der Elegie . Auf der anderen Seite fügte er den Versfabeln des Avian lateinische Prosaversionen hinzu . Die dem ,,Esopus moralisatus“ folgende Praxis
5 GW I, 313. BM II , Sp. 285 . 6 Habentur hoc volumine haec, videlicet ... [folgt Inhaltsverzeichnis, kein Titelbl. ]. Venetiis: apud Aldum 1505. BM II, Sp. 285. . Daraus 78 Prosafabeln im „ Aesopus Dorpii“ , Paris 1544, Überschrift: Aliae item aliquot Aesopi Fabulae e Graeco in Latinum versae, incerto interprete. Von Camerarius (s. S. 44 , Anm . 34) 145 Prosafabeln aufgenommen, dort die erste Gruppe bildend. 7 Vierzeiler in sechstaktigen Versen, die dipodisch (je zwei Versfüße zusammenfassend) gegliedert sind und aus fünf Jamben mit einem abschließenden Trochäus bestehen (Hinkjamben).
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der Doppeldarbietung , bei der die Prosaversion auch die Funktion der Kommentierung des knapperen und verallgemeinernden Verstextes übernimmt, zeigt am deutlichsten die Kontinuität mittelalterlicher Bindungen. Seine Neubearbeitung des Steinhöwelschen ,,Esopus" erweiterte Brant fast auf den doppelten Umfang durch einen zweiten Teil ( 1501 ) mit annähernd 140 ,,elegantissimis fabellis / facetis dictis /et versibus“ , von denen er sagt, daß er sie „ex variis autoribus“ genommen habe³. Dabei hat er, über das, was ihm die Sammlungen der italienischen Humanisten boten , hinausgehend , vielfach unmittelbar auf antike Quellen zurückgegriffen , auf Plutarch, Aulus Gellius, Ovid, Statius, Juvenal. Mit der Ankündigung von ,,elegantissimis fabellis“ erhob er einen stilistischen Anspruch, der von künftigen humanistischen Fabelautoren aufgenommen und zur Abgrenzung gegen die volkstümliche deutsche Reimpaardichtung formelhaft gebraucht wurde. Die Übernahme der weiter gefaßten antiken Gattungsbestimmungen Apologus und Mythologus durch Brant betont einen renaissancehaften Zug im Stofflich-Thematischen. Er teilte die Vorliebe der Zeit für „ ,Monstra“ und Anomalien, die er zu Fabeltieren und Fabelhandlungen machte: das Rätsel der ägyptischen Sphinx (Oedipus und die Sphinx), Arions Rettung durch einen Delphin, die Liebe zwischen einem Knaben und einem Delphin, Wisent, Ur und Elch, den Krieg der Kraniche und Pygmäen". Dennoch steht Brant auch mit den eigenen Fabeln, wie in seiner ganzen Schriftstellerei , zwischen Mittelalter und Renaissance. In genauer Parallelität zu dem Romulus-Corpus , das der unbekannte Verfasser mit einem Brief an seinen Sohn Tyberinus eröffnet hat, stellte er dem eigenen Fabelteil ein die erzieherischen Absichten explizierendes Schreiben an seinen Sohn Onophrius Thedigenus voran, dem er einen dichtungstheoretischen Abschnitt aus Boccaccios ,,De genealogiis deorum gentilium“ über die ,,utilitas et commoditas fabularum" folgen ließ. Die äußere Komposition glich er dem Steinhöwelschen Teil an. Jeder Fabel ist ein Holzschnitt vorangestellt, es folgt die Versfassung in Distichen, danach die Prosaerzählung. Brant war, anders als Steinhöwel , auf Selbständigkeit in seiner Textgestaltung angewiesen , es gab für ihn weder einen ,,Anonymus Neveleti“ für die Verse, noch einen „ Romulus“ als Prosavorlage. Die von der realistischen Prosa sich spezifisch unterscheidende, überhöhende und handlungsfernere Stilisierung des ,,Anonymus Neveleti“ hat er in seinen Distichen unter weitgehender Auflösung auch der Handlungsrudimente konsequent zur reinen Gnomik weitergeführt , dadurch schärfer von der Erzählprosa abgehoben und den Kunstcharakter der doppelten Darbietung betont.
8 Von Brants Fabeln gibt es keine Neuausgabe; auch von der Forschung sind sie kaum zur Kenntnis genommen worden. 9 ,,Die ungehemmte Gier und das unbegrenzte Aufnahmevermögen für merkwürdige Realitäten ist eines der Hauptmerkmale des Geistes der Renaissance. Man hatte nie genug an bezeichnenden Vorfällen, merkwürdigen Absonderlichkeiten, Raritäten und Anomalien“. (J. Huizinga: Erasmus. Dt. v. W. Kaegi. Basel 1951 , S. 49) . Vgl. hierzu Ambroise Paré: Des Monstres et prodiges. Ed. critique et commentée par Jean Céard. Genève 1971 (Travaux d'humanisme et renaissance 115).
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Deutsche Übersetzungen fügte Brant, da es ihm um eine gelehrt-humanistische Ergänzung des lateinischen „ Esopus“ ging, nicht hinzu . Diese erschienen , einem Neudruck der deutschsprachigen Separatausgabe des Steinhöwelschen Werkes angeschlossen, 1508 als ,,des andern theils ußzüge schoner fabeln und exempelen Doctoris S. Brant“ bei dem Straßburger Verleger Johannes Prüß. Sie werden dem späteren Schaffhausener Stadtarzt Johannes Adelphus (Pseudonym für J. A. Muelich oder Mueling) zugeschrieben, der um jene Zeit Verlagskorrektor in Straßburg war und mit dem Humanistenkreis um Brant und Wimpheling in Verbindung stand. Es gelang dem Übersetzer, obgleich er dem Wortlaut der lateinischen Prosa naheblieb, den Brantschen Fabeln volkstümlichen Charakter und damit erst eine Wirkungsmöglichkeit jenseits der Schranken humanistischer Gelehrsamkeit zu verleihen¹º. Die Distichen waren freilich in deutschen Reimpaarversen nicht stiladäquat nachzubilden; Adelphus ließ deshalb Brants Verse gänzlich beiseite. Während Brants Fabeln bei den neulateinischen Fabelsammlern und Fabeldichtern kaum Beachtung fanden, wurden die Übersetzungen, die bis 1600 in vielen Auflagen, immer zusammen mit dem deutschen Steinhöwel, erschienen " , zu einer Stoffquelle für die deutschsprachigen Fabeldichter (Hans Sachs, Burkard Waldis). So hat sich die getrennte Entwicklung der gelehrt lateinischen und der volkstümlich deutschen Fabeldichtung schon am Jahrhundertbeginn in dem Übersetzungsproblem bemerkbar gemacht, dem dann die Folgezeit gegenüber den großen humanistischen Sammlungen, die unübersetzt blieben , aus dem Wege gegangen ist.
3. Die philologisch- stilkritische Sammlung: ,,Aesopus Dorpii“ Die wichtigste lateinische Fabelanthologie der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts , der ,,Aesopus Dorpii“, ist aus der Zusammenarbeit eines niederländischen Humanistenkreises in Löwen hervorgegangen. Der Buchdrucker Thierry Martens und MARTIN DOrpius ( 1485–1525) , klassischer Philologe und Professor der Theologie an der Universität, waren die Initiatoren, ERASMUS VON ROTTERDAM ( 1469-1536) hat das Unternehmen durch eigene Beiträge gefördert. Am Anfang stand die von Dorpius veranstaltete Herausgabe einer neulateinischen Prosabearbeitung aesopischer Fabeln, deren Verfasser GUILIELMUS HERMANNUS GOUDANUS (gest. 1510) war, der Jugendfreund des Erasmus aus der gemeinsamen Zeit im Augustinerkloster Steyn . Als Vorlagen hatten Goudanus die Versfassungen des ,,Anonymus Neveleti" im ,,Esopus moralisatus" gedient; von den dortigen Prosa10 Ein Neudruck dieser Übersetzung fehlt; er ist auch für die Ausgewählten Schriften (Hrsg. v. B. Gotzkowsky, Berlin 1974ff. ) nicht vorgesehen. 11 Bibliographische Nachweise im Index Aureliensis unter Aesopus bei den deutschen Separatdrucken der Steinhöwelschen Sammlung. Nach der ersten Nennung wird dort bei allen weiteren Ausgaben fälschlich Steinhöwel als Übersetzer beider Teile angeführt.
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paraphrasen machte er jedoch nur gelegentlichen, von den Auslegungen gar keinen Gebrauch. Als humanistischer neulateinischer Autor sah er seine Aufgabe in der Rückübertragung mittelalterlich , verderbter' Textgestalt in die ‚ echte' antike Form , und das bedeutete für ihn: Prosa und Kürze . In gleicher Weise verfuhr er mit Fabeln des Avian, deren Distichen er ebenfalls in Prosa auflöste . Auch ihm , der anders als Erasmus Ordensgeistlicher blieb, kam wie dem Universitätstheologen Dorpius eine Fabelinterpretation nach dem sensus spiritualis nicht in den Sinn. Bei den Epimythien nahm er das Recht der Neuformulierung für sich in Anspruch. Er tat es auf spezifisch humanistische Weise durch Anspielungen oder Zitate aus der römischen Literatur. Drei nicht im „,Anonymus Neveleti" enthaltene Fabeln - ,, De Leone et Vulpecula“ , „ De Vulpecula et Mustela“ und „ De Equo et Cervo" - hat er wohl unmittelbar horazischen Versen nachgebildet¹². Angeregt von Goudanus, mit dem Blick auf die Notwendigkeit, den Forderungen des neuen Lateinunterrichts entsprechende Lektüretexte bereitzustellen, veröffentlichte HADRIanus Barlandus ( 1486–1538 ) , der 1518 erster Professor des Lateinischen an dem neugegründeten Dreisprachen-Kolleg in Löwen wurde, noch im gleichen Jahr 1512 ebenfalls eine Sammlung von Fabelbearbeitungen, nur solcher, die Goudanus nicht berücksichtigt hatte¹³. Dadurch ergab es sich von selbst, daß Romulus und Avian als Vorlagen zurücktraten gegenüber Valla, Rimicius und Abstemius.
Der auf diese Weise vollzogene Anschluß an die griechisch-lateinische AesopÜberlieferung ließ in der Folgezeit die Dorpiussche Anthologie zu einem Thesaurus antiken und neulateinischen Fabelguts anwachsen. Indem nämlich Dorpius die beiden ausgewählten Bearbeitungen des Goudanus und Barlandus miteinander vereinigte und ihnen neun „ Apologi ex Chiliadibus Adagiorum Erasmi desumpti ad communem Puerorum fructum" sowie einige aus antiken und italienischen Autoren exzerpierte Fabeln anschloß, schuf er die Editio princeps des ,,Aesopus Dorpii“ (Löwen 1513 ) ¹4. Dieser Bestand bildete den Grundstock, der in allen späteren Auflagen unangetastet blieb¹5 .
12 Horaz, Epistulae I, 1 , v. 73–75 ; Epist. I,7, v. 29–33 ; Epist . I , 10, v. 34–41 . 13 Pluscule Esopi Phrygis et Aviani Fabulae non ille quidem a Guilielmo Goudano versae, sed aliae ab Hadriano Barlando mutatae et auctae quibusdam veluti appendicibus Ex 14 Jo. Antonio Campano et Raphaele Volaterrano desumptis. Antwerpen 1512. Zur Textgeschichte des „ Aesopus Dorpii“ grundlegend Paul Thoen: „ Aesopus Dorpii“. Essai sur l'Esope latin des temps modernes. In: Humanistica Lovaniensia 19 ( 1970), S. 241-316. [Mit kommentierter Bibliographie] . 15 Nr. 1-45 Fabeln von Goudanus nach Vorlagen des Anonymus Neveleti u. des Romulus; Nr. 46-85 Fabeln des Barlandus, vornehmlich nach Rimicius u. Abstemius; Nr. 86–123 Prosabearbeitungen von Avian-Fabeln durch Goudanus; Nr. 124-132 Fabeln des Erasmus von Rotterdam; Nr. 133 Cassita, aus Aulus Gellius; Nr. 134 De Noctua et Avibus v. Angelo Poliziano; Nr. 135 De Pinu et Cucurbita v. Petrus Crinitus; Nr. 136/ 137 De corvo et lupo, De partu terrae v. J. Ant. Campanus; Nr. 138 De Membris et Ventre, aus Livius, Ab urbe condita. Thoen, Nr. 5.
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In einer kurzen Widmungsvorrede , die sich zunächst nur auf die 1512 von ihm besorgte Ausgabe der Fabelbearbeitungen des Goudanus bezog¹6, erklärte Dorpius, bei weitem mehr Förderung erfahren zu haben „,ab eruditis aliquod nostra memoria viris, qui classicos autores castigate ediderunt, quam a quibusdam gloriolae aucupibus ..., qui commentariorum latifundiis omnia occuparunt" . Und er fährt fort: „ Ecquis enim non eo nomine Aldum Romanum suspicit, amat, praedicat?" Dem Vorbild des Aldus Manutius nacheifernd , habe er sich entschlossen, gleichfalls ,,fabellas Aesopicas rursus emittere, non carmine quidem illas subrustice conscriptas , sed prosa oratione nimisque lepide concinnatas“ 17. Mit der Anspielung auf gewisse Vogelsteller, welche mit ihren Netzen und Leimruten ein bißchen Ruhm einzufangen suchen und auf den Ländereien der Kommentatoren alles für sich in Beschlag genommen haben, wendet Dorpius sich gegen die Paraphrasierungen im ,,Esopus moralisatus" und gegen die Fabelallegorese, wie sie in vielen handschriftlichen, meist als Predigthilfen dienenden Kommentaren betrieben wurde . Bei seinem Eintreten für die ,klassische Stilform der Fabeln beruft er sich auf die Autorität des Erasmus; die Ablehnung der Behandlung in Versen zielt zwar insonderheit auf den „,Anonymus Neveleti“ , sie erstreckt sich aber auch auf die Fabeln Avians. Da die Vorrede 1513 in die Anthologie übernommen und in allen folgenden Auflagen beibehalten wurde , soll mithin das Stilmuster der Prosakurzform ebenso für deren gesamten, den anfänglichen Umfang verdreifachenden Zuwachs gelten. Die Aufnahme der Fabeln des Laurentius Valla ( 1517) 18 , des Rimicius ( 1521 ) 19, der ,,Hecatomythien" des Abstemius ( 1519 u . 1530/32 )2º, schließlich einer Auswahl aus der Aldus-Edition ( 1544)2¹ bekräftigte in der Tat (mit nur vereinzelten Ausnahmen) dieses Stilideal , das - wie im 18. Jahrhundert erneut von Lessing - als gattungsimmanent bewertet wurde und demzufolge auch Umarbeitungen mittelalterlicher Fabeln und Neudichtungen einer entsprechenden renaissancehaften Antikisierung unterwarf. Die beiden ,,Hecatomythien“, die der Dorpiusschen Sammlung die größte Bestandserweiterung zuführten, bieten viele Beispiele derartiger Renaissancefabeln. Verkannt haben die italienischen und niederländischen Humanisten, in Deutschland auch Camerarius , daß die ,literarische Fabel der Antike Versdichtung war, während die aesopische Fabel als ,Volksdichtung mündlich und in Prosa tradiert wurde . Diese Fehleinschätzung war vorwiegend durch die Überlieferungslage bedingt. Die Fabeln des Phaedrus lagen nur in den Prosaauflösungen der Romulus-Versionen vor, erst 1596 konnte Pierre Pithou sie in ihrer Originalgestalt edieren. Babrios war verloren, Avian haben die Humanisten wohl schon für mittelalterlich gehalten. Daß sich älteste Fassungen einzelner Fabeln in Versen
16 Thoen, Nr. 1 . 17 a.a.O. , Bl. 5 -v - nimisque lepide concinnatas : Korrektur aus ,,nimisquam lepide concinnatus“ . 18 Thoen, Nr. 16 (s . Anm. 2). 19 Thoen, Nr. 29 (s . Anm. 3). 20 Thoen, Nr. 24, 52, 59 ( s. Anm. 4). 21 Thoen, Nr. 99 (s. Anm. 6).
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bei Hesiod, Archilochos, Ennius, Horaz finden ließen²², war zwar in von Aldus und anderen mitgeteilten Ausschnitten aus antiken Beiträgen zur Fabeltheorie zu lesen23 , Auswirkungen auf die poetische Praxis zeigte dies indessen erst bei den Neulateinern der zweiten Jahrhunderthälfte. Die aufblühende deutschsprachige Fabel hatte es da leichter; für sie erwiesen sich episierende Reimpaarverse wie von selbst als die ihr gemäßeste Form. Erasmus Alberus und Burkard Waldis benutzten den ,,Aesopus Dorpii" ausgiebig, aber nur für die Stoffwahl, während sie sich in der Ausführung weit von ihm entfernten24. Die pädagogische Nutzung der Fabel erfolgte an erster Stelle in den Schulen. Hier konnten die städtischen Lateinschulen unmittelbar an die unterrichtsmethodischen Traditionen der Klosterschulen des Mittelalters anknüpfen und sie in humanistischem Sinne weiterführen . Bereits auf der Unterstufe sollten aesopische Fabeln als Arbeitsmittel des Spracherwerbs verwendet werden . Im Lehrplan für die von Johannes Agricola geleitete Schule der Stadt Eisleben heißt es 1525 : Prima classis est Elementariorum, qui lectionem discent ex vulgatis libellis , qui extant in hunc usum conscripti et preculas quasdam et sententias continent. Accedent et Paedologia Mosellani, Aesopi fabulae et carmen de moribus, quod Catonis nomine circumfertur, et Mimi Laberii. Haec ediscent pueri et interpretabitur praeceptor, ut illi nonnihil verborum inde mutuentur ad qualemcumque usum latine loquendi25.
22 Nachtigall und Habicht: Hesiod, Werke und Tage, v. 202-211 ; Adler und Fuchs: Archilochos, Fragmente 81-84; Stadtmaus und Feldmaus: Horaz, Satiren II,6, v . 80-117. 23 Ex Philostrati imaginibus : Fabulae; Ex Hermogenis exercitamentis Prisciano inter24 prete. Nachweise in: Die Fabeln des Erasmus Alberus. Hrsg. v. W. Braune. Halle/S . 1892 , S. XLIV-LVI, mit Abdruck des Wortlauts bei Dorpius. - Für Waldis I , 1 -III, 83 in: Esopus von Burkard Waldis. Hrsg. v. H. Kurz. 2. T. , Leipzig 1862 , Anmerkungen S. 27–136. 25 Die erste Klasse ist die der Elementarschüler, die mit Hilfe allgemein verbreiteter Büchlein lesen lernen, wie sie, für diesen Gebrauch bestimmt, vorliegen und kleine Gebete und Sprüche enthalten . Hinzu kommen die „ Paedologia“ des Mosellanus, die Fabeln des Aesop, das Gedicht von den Sitten, das unter dem Namen des Cato bekannt ist, und die ,,Mimi" des Laberius. Das lernen die Knaben auswendig, und der Lehrer wird es erklären, damit jene manche Wörter von dort entnehmen, um sie beim Lateinsprechen zu verwenden . (Melanchthoniana Paedagogica. Eine Ergänzung zu den Werken Melanchthons im Corpus Reformatorum . Ges. u . erklärt v. K. Hartfelder. Leipzig 1892, S. 3). Paedologia Mosellani : Die „,Paedologia ... in puerorum usum conscripta“ (Leipzig 1518 ) des Petrus Mosellanus (gest. 1524) war im 16. u . 17. Jahrhundert eines der meistgebrauchten Lehrbücher in der Form von Schülergesprächen über Unterrichtsgegenstände , Studienplanung, Benutzung der Ferien u . a. – carmen de moribus: Die im 3./4. Jh . n. Chr. entstandenen ,,Disticha Catonis", eine Lebenslehre in Spruchversen, Dionysius Cato zugeschrieben, wurden seit der Karolingerzeit als Elementarbuch des Lateinunterrichts und der sittlichen Erziehung verwendet. – Mimi Laberii: Von den Libretti zu den „,Mimi“ (urspr. stumme Spiele) des Decimus Laberius (1. Jh. v. Chr. ) ist nichts erhalten, dagegen wohl eine den ,,Disticha Catonis“ verwandte Spruchsammlung seines Zeitgenossen Publilius Syrus, die weitgehend den „,Mimi“ entnommen und wohl hier gemeint ist. Erasmus von Rotterdam hatte 1515 die „ Disticha Catonis“ und die „ Mimi Publiani“ herausgegeben.
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Die Fabel wurde ein Instrument der Welterkenntnis, der Menschenkunde und der sittlichen Erziehung ex negativo. Sie sollte zur Einprägung der Grundregeln sozialen Verhaltens dienen. Es war besonders Melanchthon, der, wie auf allen Gebieten der literarischen Bildung, so auch beim Aufbau des Lektürekanons der Lateinschulen humanistische Gesichtspunkte geltend machte. In einer (vermutlich 1526 gehaltenen) Wittenberger akademischen Rede ,,De utilitate fabularum“ setzte er sich programmatisch für die Fabel ein: ,,Quod est enim dicendi genus , in quo perinde cum summa utilitate summa gratia coniuncta est? ... Quae enim oratio, mores , studia, ingenia hominum propius expressit quam apologi? idque tanta cum gratia, ut nullis epodis incantari citius hominum mentes possint, quam cupiant apologi. Proinde aequales meos adhortor, si qua orationis meae est autoritas, ut ad discendos apologos se toto pectore conferant ... Apologi foelicissime excitant, exhilarant et erudiunt pueriles mentes ... Adeo sive moribus formandis praecepta quaeris, sive recte loquendi exemplum, nulli commentarii praestiterint utrumque, quam apologi foelicius 26.
4. Die philologisch-pädagogische Sammlung: Joachim Camerarius Unabhängig von der Anthologie der niederländischen Humanisten entstand als zweites lateinisches Fabelkompendium des 16. Jahrhunderts das große Sammelwerk von JOACHIM CAMERARIUS ( 1500-1574) , das schon in der Erstausgabe (Tübingen 1538 ) mehr als 40027 , in einer erweiterten Neubearbeitung (Leipzig 1544) über 500 Fabeln enthielt. Mit Recht hat man es eine wahre Enzyklopädie der Fabel" genannt28. Hervorgegangen aus der eigenen Unterrichtspraxis am neugegründeten Gymnasium in Nürnberg und aus der akademischen Lehrtätigkeit als Gräzist an der Universität Tübingen , wurde es zu einem literarhistorischen Lese- und Lehrbuch mit humanistisch vorbildlicher Textdarbietung, dessen Wirkung über das Erziehungs- und Bildungswesen des 16. und 17. Jahrhunderts
26 Denn welche andere Vortragsart gibt es , in der ebenso mit dem höchsten Nutzen die höchste Anmut verbunden ist? ... Welche Form der Rede stellt die Sitten, die Bestrebungen, die Geistesbeschaffenheiten der Menschen auf wirksamere Weise, als es Fabeln tun, dar? und dies mit so großem Reiz, daß durch keine anderen Gedichte die Gemüter der Menschen eher bezaubert werden könnten, als es in der Absicht der Fabeln liegt. Deshalb ermahne ich meine Altersgenossen, wenn sie meiner Rede einiges Gewicht beimessen, sich von ganzem Herzen den kennenzulernenden Fabeln zuzuwenden. ... Fabeln ermutigen, erheitern und belehren jugendliche Gemüter auf das glücklichste ... Wenn du daher Regeln für die Bildung der Sitten suchst oder ein Vorbild für angemessene Redeweise, so haben sich wohl für beides keine Hilfsmittel besser bewährt als Fabeln. (Phil. Melanthonis Opera omnia. Ed. C. G. Bretschneider. Vol. XI , Halle/S . 1843, Sp. 120 (Corpus Reformatorum XI) . 27 Aesopi Phrygis Fabularum celeberrimi Autoris vita. Fabellae Aesopicae plures quadringentis. Tübingen: U. Morhart 1538. 28 Thoen, S. 302.
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hinaus bis weit in das 18. Jahrhundert hinein fortdauerte29 . Die „ ,Fabulae Aesopicae Plures Quingentis Et Aliae Quaedam Narrationes, Cum historia vitae fortunaeque Aesopi ... Quibus Additae sunt et Livianae et Gellianae ac aliorum quaedam cum interpretatione Graecorum, et explicatione quorundam aliorum" gehörten in der Leipziger Ausgabe von 1564 zu den Büchern , die der junge Herzog August von Braunschweig-Wolfenbüttel 1595 alsbald nach seiner Ankunft in Tübingen erwarb, und sie waren noch der „,Fabularum Aesopicarum Collectio" von Johann Gottfried Hauptmann ( 1741 ) angeschlossen , die Lessing für seine „ Fabeln" ( 1759) benutzte. Als Lessing später in Wolfenbüttel seine Fabelstudien in der Absicht, eine Geschichte der Fabel zu schreiben, wiederaufnahm, griff er auch zu jenem auf dem Pergamenteinband mit dem Bild der Fortuna geschmückten, auf dem Titelblatt den Namenszug des Herzogs August tragenden Exemplar der ,,Fabulae Aesopicae" des Camerarius, und seine textvergleichenden Annotationen darin gehören noch heute zu den verstecktesten Lessing-Autographen30. Dieses buchgeschichtliche Zeugnis sagt Kennzeichnendes über den Verwendungszusammenhang der Anthologie aus. Sicher hat eine Veranstaltung der Artistenfakultät in seinem ersten Tübinger Semester für Herzog August den Anlaß zum Erwerb des Buches gegeben³¹ . Den Adressatenkreis, an den sich Camerarius vornehmlich wandte, deutet das an einen befreundeten Erzieher junger Adliger gerichtete ,,Prooemium" an. Das Buch sollte in der besten äußeren und inneren Gestalt, die er ihm zu geben vermocht hatte,,,in manus puerorum, vel etiam adolescentum" gelangen³2 . Das aber konnten nur Söhne des Adels und eine Begabungselite aus dem Stadtbürgertum sein, deren Bildungsweg über den Privatunterricht bzw. die lateinischen Gelehrtenschulen zur Universität führte. Der Publikationstyp, den es repräsentiert, entspricht in etwa der Einrichtung heutiger Studienausgaben, in denen eine philologisch-textkritische Editionspraxis mit einem wissenschaftlichen Apparat verbunden wird , dessen Materialien dem besseren Verständnis des Textes und seines historischen Umfeldes dienen sollen. 29 Die Anthologie erreichte etwa 40 Auflagen; neuere bibliographische Nachweise sind unzulänglich. Zu besserer Orientierung muß zurückgegriffen werden auf J. A. Fabricius: Bibliotheca Graeca, Bd . XIII (Hamburg 1726) , S. 493ff. 30 Wolfenbüttel 46. Eth. 31 Eine von Camerarius herausgegebene Schulausgabe (Fabellae Aesopicae quaedam notiores, et in scolis usitatae, partim excerptae de priori editione, partim nunc primum compositae. Leipzig 1545) hatte schon 1587 zur ersten Ausstattung für den Privatunterricht des Herzogs gehört. Vgl. hierzu Maria von Katte: Die Bibliotheca Selenica' von 1586-1612. Die Anfänge der Bibliothek des Herzogs August zu BraunschweigLüneburg. In: Wolfenbütteler Beiträge 3 ( 1978 ), S. 142f. Damit Camerarius auch im deutschsprachigen Schulunterricht Verwendung finden könnte, veranstaltete 1689 Daniel Hartnaccius eine lat.-dt. Schulausgabe: Die bekandsten und gebräuchlichsten Mährlein und Gedichte / Die theils genommen aus dem Aesop / Theils dazu gemacht von Joachim Camerario dem Aelteren. Itzt der Jugend zum besten in neue Ordnung bracht ... Mit deutscher Erklärung / so viel immer geschehen mögen / von Wort zu Wort. Stockholm/Hamburg 1689. 32 a.a.O. , (Leipzig 1564) , Bl . A 6'.
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Aus diesem Grunde begnügte sich Camerarius nicht, wie es Dorpius getan hatte , mit einem kurzen Abriß der Aesop- Vita, vielmehr wurde unter seinen Händen aus der bisherigen romanhaften Erzählung eine literarhistorische, die Überlieferung prüfende und Zeugnisse antiker Schriftsteller heranziehende Biographie, bei der es ihm darauf ankam, die Lehrgehalte der Fabeln aus den Lebensumständen des Phrygiers abzuleiten und so auch Figuren und Handlung aus den jeweiligen Gegebenheiten einer aktuellen Situation zu erklären. So sehr stand die Erarbeitung einer Aesop-Biographie vorerst für Camerarius im Vordergrund des Interesses , daß er sein Werk in der Ausgabe von 1544 ,,Historia Vitae Fortunaeque Aesopi, cum Fabulis Illius“ nannte. Da die Vita selbst bereits Fabeln Aesops in ihrer unmittelbaren , Gebrauchssituation ' mitteilt, mochte die sich anschließende Anthologie zunächst trotz ihrer Fülle eher als eine Sammlung zusätzlicher Belege für die gleichen oder analoge Gebrauchssituationen und für die Verallgemeinerungsfähigkeit extremer Konstellationen erscheinen, obgleich sie doch wohl von Anfang an der Hauptzweck des Unternehmens gewesen sein dürfte. Eröffnet wird sie nach einer auf Aristophanes und Plautus bezugnehmenden Einführung mit der Gruppe ,,earum fabularum, quae Graeca lingua editae passim in manibus discentium bonas literas habentur 33. Für diese erste Gruppe sind demnach ausdrücklich Studenten der Artistenfakultät die Adressaten , von denen vorausgesetzt wird, daß sie auf eine Ausgabe der griechischen Vorlagen zurückgreifen können. Gemeint sind die „ Fabellae Aesopi cum interpretatione latina“ der inzwischen von Froben in Basel und anderen Verlegern mehrfach nachgedruckten Edition des Aldus Manutius , die so angelegt war, daß die griechischen Originale und die lateinischen Übersetzungen völlig getrennt voneinander studiert werden konnten³4. Es steht zu vermuten , daß die Fabelbearbeitungen des Camerarius , die mit vielen griechischen Wort- und Satzzitaten durchsetzt sind, in erster Linie für den Universitätsunterricht bestimmt sein sollten , da dort die griechische Sprache über das Medium des Lateinischen erlernt wurde. Camerarius hat die lateinischen Übersetzungen der Aldus-Edition zugrunde gelegt, sie jedoch in erneutem Rückgriff auf den griechischen Wortlaut redigiert.
33 a.a.O. , (Leipzig 1564) , S. 151 . 34 Von den 149 Nummern bei Aldus bringt Camerarius 145. Lessing bemerkt in seinen Annotationen zu S. 151 : ,,desunt tamen editionis Neveletianae fab. 29 , 147 , 146 et 148, quarum ultima ut paenultima plane cum 20 et 139 conveniunt; nec non 147 cum 19.“ Sein Vergleich mit der „,Mythologia Aesopica“ des I. N. Neveletus hat also ergeben, daß die dortigen Nummern 146, 147 , 148 bei Camerarius fehlen , weil sie genau mit 20 (Senex et Mors), 19 (Ranae) u . 139 (Hoedus et Lupus) übereinstimmen; dagegen fehlt fab. 29 (Vulpes et Simius), obgleich sie bei Nevelet wie bei Aldus nur einmal vorkommt. - Die Ausgabe Basel : Froben 1518 befand sich in der Bibliothek von Goethes Vater. Im Zuge des Wiederaufbaus der Bibliothek Johann Caspar Goethes im Frankfurter Goethehaus konnte sie 1980/81 erneut erworben werden. (Jb . d . Freien Dt . Hochstifts 1982, S. 346f.) . Das väterliche Exemplar wurde von dem Sohn übernommen und steht noch heute in Goethes Weimarer Bibliothek (Vgl. H. Ruppert: Goethes Bibliothek. Katalog. Weimar 1958 , Nr. 1234).
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Diesen nach seiner Überzeugung mit Gewißheit auf Aesop zurückgehenden Grundbestand erweiterte er auf ähnliche Weise wie Dorpius und dessen spätere Herausgeber mit Fabeln ,,diversarum gentium, et etiam earundem, dissimili tamen oratione perscriptas", von deren Behandlung er - gemäß der gleichen Auffassung von stilistischer Reinheit der Gattung, wie sie der Löwener Humani- sagt: ,,simplici et inexquisito , puro tamen, si possemus , stenkreis vertreten hatte sermone exponere studuimus“ 35 . Die italienischen Sammlungen, Steinhöwels „ Esopus“ in einer lateinischen Separatausgabe, der „,Aesopus Dorpii“ boten ihm hierzu reiches Material. Literar- und kulturgeschichtliches Interesse führte ihn über den aesopischen Gattungstyp hinaus zu Beispielerzählungen philosophischen und mythologischen Charakters. Erstere nannte er ,,Fabulae Aegyptiacae" und entnahm sie den Dialogen Platons, auch aus Plutarch und Herodot, die letzteren - Erzählungen von Göttern und Helden – „ Fabulae Poeticae“. Zu den Texten aus diesen beiden Gruppen gab er Quellennachweise und Explikationen. Die Beschäftigung mit lateinischen Fabeln verfolgt bei Camerarius zwei einander korrespondierende Erziehungsziele : ein sprachliches, das auf ,elegantia und ,perspicuitas ' der ‚mittleren Rede * gerichtet ist, und ein sittliches , das sich aus der inhaltlichen , perspicuitas ' der Fabel , der Klarheit und Eindeutigkeit ihres Wertekanons herleitet. Auf der ethischen Gattungsqualität ex definitione hat Camerarius nachdrücklich bestanden : Est autem profecto aliquid per se et sua natura pulcrum , honestum , decorum, laudabile , cuius contrarium est deforme, turpe , indecorum, vituperabile , neque perversitate ulla consiliorum aut pravitate voluntatis in istis veritas potest extorqueri. Atque fabularum doctrina ea via progreditur, ut quid fieri soleat recte perperamue, bene aut male, praeclare aut futiliter proponat quasi actione quadam conspiciendum, et ita faciendorum fugiendorumque dat praecepta. Quae quidem ut proficiant neque frustra commemorentur neque plane intercidant, in iis est situm, qui audientes ad intelligendum et usurpandum sedulitatis contentionisque aliquid adhibere voluerint 36. Die von Camerarius geforderte Deutlichkeit der moralischen Beurteilung wird nur in vergleichsweise wenigen Fällen bereits innerhalb der „ anzuschauenden Handlung" in einer Gegenüberstellung vorgegeben und durch den Ausgang bestätigt: so für vorausblickend richtiges und kurzsichtig falsches Verhalten in
35 a.a.O. , S. 151 . 36 Unstreitig aber ist etwas durch sich und seine Natur schön, ehrenhaft (sittlich gut), geziemend, lobenswert, dessen Gegenteil häßlich, schändlich , unziemlich , tadelnswert ist; die Wahrheit darüber kann weder durch falsche Ratgeber noch durch böse Gesinnung verdreht werden . Und die Lehre der Fabeln ergibt sich auf dem Wege , daß sie , was Richtiges oder Falsches, Gutes oder Schlechtes, Vortreffliches oder Unnützes zu geschehen pflegt, gleichsam durch eine anzuschauende Handlung vorstellen und so Lehren erteilen, was zu tun und zu lassen sei . Ob diese allerdings Nutzen bringen und nicht vergebens eingeprägt werden oder gänzlich verlorengehen, hängt davon ab, ob diejenigen , die sie hören, bereit sind, einige Aufmerksamkeit und Bemühung darauf zu wenden, um sie zu verstehen und sich anzueignen. (Praefatio, Leipzig 1564, Bl. A 4').
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,,Hirundo et Aviculae“ („Die Schwalbe und die anderen Vögel' )37, für lobens- und tadelnswertes in „ Duo Mures“ („Feldmaus und Stadtmaus )38, für demütiges und hoffärtiges in ,,Arundo et Olea" (, Schilfrohr und Ölbaum ' [ Eiche, Tanne ] ) 39, für bewundernswertes und schändliches Verhalten in derjenigen Version von ,,Accipiter et Luscinia" , in der sich die Nachtigall um der Rettung ihrer Jungen willen zum Gesang überwindet, der Habicht jedoch zuletzt sich selbst die Strafe für seine sadistische Grausamkeit zuzieht40. Weit in der Minderheit sind auch solche Fabeln, die vorbildliches Handeln zur Anschauung bringen, wie die kluge Umsicht der ,,Cassita“ (,Haubenlerche ' ) aus den „,Noctes Atticae" des Aulus Gellius , die Großmut des Löwen und die Dankbarkeit der Maus in ,,Leo et Musculus 42 , die gegenseitige Hilfsbereitschaft zwischen Mensch und Tier in der märchenverwandten Erzählung von dem Hirten Androklus und dem Löwen¹³. Die bei weitem größere Zahl aesopischer Fabeln zeigt vielmehr das Gegenteil von all dem: nichts als politische Dummheit in ,,Ranae et Juppiter" (,Königswahl der Frösche ' ) , falschem Anspruch in ,,Cornix superbiens alienis pennis" (,Mit fremden Federn')45, Hochmut in „ ,Equus et Asinus“ („Pferd und Esel ')* , Gier in ,,Canis qui frustrum carnis ferebat“ (,Hund mit einem Stück Fleisch' )47 . Während diese Fabeln jedoch mit der Bestrafung intellektuellen und sittlichen Fehlverhaltens enden, somit der pädagogischen Prämisse des Camerarius dadurch rechtgeben, daß sie zum Entwurf eines positiven Gegenbildes herausfordern, ist es in dieser Hinsicht schlecht bestellt bei den Fabeln, deren Ausgang List, Betrug und Gewissenlosigkeit belohnt, was u. a. in den meisten Fuchsfabeln geschieht, noch schlechter dort, wo die Brutalität triumphiert, ohne daß ein sittlicher Ausgleich auch nur angedeutet wird, wie in ,,Lupus et Agnus" (,Wolf und Lamm * )48 oder ,,Accipitrum pax“ („Der Frieden der Habichte ' )49. Camerarius war sich der hier auftretenden pädagogischen Problematik bewußt, sie veranlaßte ihn , einen moraldidaktischen ,,Index Locorum communium“ an den Schluß seiner Sammlung zu stellen. Vorab erläuterte er, was dieses Sachregister biete:
Capita praeceptorum, ad quae singulae fabulae referendae, sive quid illae docent, seu monent et indicant, seu subiiciunt: sive etiam commendant et laudant, aut contra a repraehendunt et culpant. Itemque eorum, ad quae hortantur, et a quibus
37 Camerarius (Leipzig 1544) , S. 198. 38 a.a.O. , S. 193. 39 a.a.O. , S. 164 . 40 a.a.O., S. 206. 41 a.a.O. , S. 465. 42 a.a.O. , S. 197. 43 „ Leo hospes hominis et homo medicus leonis“, a.a.O. , S. 467ff. 44 a.a.O., S. 198. 45 a.a.O. , S. 176. 46 a.a.O. , S. 153. 47 a.a.O. , S. 178. 48 a.a.O., S. 180. 49 a.a.O., S. 279.
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deterrent, et quorum eventus proponunt cognoscendos, ad iudicii conformationem et prudentiam50 Nicht wenige Fabeln bewerten positiv als Lebensklugheit, was sich moralisch zwielichtig darstellt, ja christlicher Ethik geradezu widerspricht. Der pädagogische Humanismus hat sich dieses Dilemma entweder nicht eingestanden oder es zu überspielen gesucht, indem er, auf Luthers Zwei-Reiche-Lehre fußend, Weltliches und Geistliches voneinander trennte und den Zuständigkeitsbereich der Fabel auf die privaten und öffentlichen Verhältnisse des gesellschaftlichen Lebens (oeconomia und politia) einschränkte . Die durch solche Fabeln vermittelten negativen Einsichten konnten dann dem Beweis der Grundverschiedenheit von Weltreich und Gottesreich dienen. Wo hingegen wechselseitige Durchdringung von Humanismus und Christentum die moraltheologischen Zielvorstellungen bestimmte, da mußten die überlieferten Fabeln und deren Tiercharaktere entweder nach biblischer Metaphorik ausgelegt , erneut auf ihren sensus spiritualis befragt werden, oder es mußte dem weltlichen Erfahrungssatz, der weltlichen Klugheitsmoral des Epimythions ein christlicher Glaubenssatz, eine Forderung christlicher Ethik antithetisch angeschlossen werden . Jedoch gewannen derartige Bemühungen um die Füllung der ,heidnischen Gattung mit christlichen Gehalten nur auf das Erscheinungsbild der protestantisch-volkssprachigen Fabel Einfluß, die lateinische Humanistenfabel blieb hiervon unberührt . Während Camerarius auf die ethische und intellektuelle Nutzung der Inhalte gleiches Gewicht legte wie auf die formale Sprachbildung, haben die anderen Neulateiner, sowohl , wenn sie nur gelegentlich Fabeln schrieben , als auch , wenn sie in seiner oder des „ Aesopus Dorpii" Nachfolge gleichfalls Sammlungen herausbrachten, ihren Ehrgeiz vornehmlich auf das Artistische gerichtet. Dies ergab sich zwangsläufig aus derTatsache, daß - den Empfehlungen der antiken Lehrbücher (Aristoteles , Quintilian52 ) und den auf die Praxis gerichteten ,,Progymnasmata" (Hermogenes , Aphthonius53) folgend ihre Fabelbearbeitungen Übungsmaterial für den Rhetorikunterricht bereitstellen sollten. Camerarius sprach eine unter humanistischen Pädagogen unbestrittene Meinung aus, wenn er versicherte, wer gelernt habe , Fabeln nach Sprachform , Inhalt und Lehre in freier Rede angemessen wiederzugeben , der berechtige zu der zuversichtlichen Hoffnung, sich ebenso alle weitere gelehrte Bildung aneignen zu können . Dies werde in hohem Maße dadurch bestätigt, daß 50 Die Hauptpunkte der Lehren, worauf die einzelnen Fabeln zu beziehen sind, oder was sie dartun, zu bedenken geben und anzeigen oder veranschaulichen; oder auch, was sie empfehlen und loben, oder im Gegenteil, wovon wie zurückhalten und was sie miẞbilligen. Und ebenso [ die Hauptpunkte] der Verhaltensweisen in den Fabeln, zu denen sie ermutigen und von denen sie abschrecken und deren Ergebnisse sie zur eigenen Urteilsbildung und geistigen Schulung zu prüfen empfehlen. (a.a.O. ohne Seitenzählung) . 51 Aristoteles, Ars Rhetorica II 20, 1393a sqq. (Fabel vom Fuchs und Igel ) . 52 Quintilian, Institutio oratoriae, Lib. V, Cap. XI, 19,20 (De membris et ventre; De leone et vulpe). 53 Erstdruck bei Aldus : Rhetores in hoc Volumine habentur hi: Aphthonii Progymnasmata, Hermogenis ars Rhetorica ... Venedig 1508 (BM 152 , Sp . 226).
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VI. Die großen humanistischen Sammlungen etiam doctissimi viri in hac parte neque dubitent se frequenter exercere, et saepe ipsi sibi minime satisfaciant: ut quamvis haec sint quaedam eloquentiae exordia, tamen ad illa ipsa perfectio huius recurrat atque revolvatur54.
Freilich gaben sich solche gelehrten Männer nicht mit höher getriebener elegantia und ausgefeilterer perspicuitas bei der Wiedergabe allseits bekannter Fabeln zufrieden, sie suchten von der Reproduktion zur Produktion fortzuschreiten, indem sie in ihren Epimythien neue Auslegungen gaben, die Vortragsweise veränderten , den Stoffkreis durch Heranziehung bisher wenig beachteter antiker und mittelalterlicher Quellen erweiterten, in Nachbargattungen hinübergriffen und die äußere Form umschmolzen . Sie wagten sich in Einzelfällen auf dem Weg über die Variation zu Fabelerfindungen vor. Auch das alles war bereits durch die Praxis des humanistischen Literaturunterrichts vorgegeben. Camerarius hat die Methoden des produktiven Umgangs mit antiken Texten am Beispiel der Fabel in der Widmungsvorrede zur Erstausgabe seiner Anthologie entwickelt und sein Festhalten daran durch den Wiederabdruck in allen späteren Ausgaben bekundet: Pueros nostros docemus variare, et ipsos novas interpretationes quaerere, et sententia proposita, fabulam comminisci aliquam iubemus . Quae exercitia sunt principiis studiorum convenientissima55. Als Lessing seine „ Abhandlungen über die Fabel" mit Überlegungen ,,Von einem besondern Nutzen der Fabeln in den Schulen" abschloß, kombinierte er das erkenntnistheoretische Reduktionsprinzip Christian Wolffs mit der didaktischen Maxime des (ungenannt bleibenden) Camerarius vom „,heuristischen Nutzen der Fabel" ; dann erläuterte er die von Camerarius tatsächlich in seinem Unterricht praktizierten Verfahrensweisen an einer Reihe von Beispielen des eigenen Fabel,erfindens ' .
5. Von der Restitutio zur Heuristik
5.1 . Nicolaus Gerbelius und die Anregung Petrarcas In einem Brief Petrarcas an den Kardinal Johannes Columna fand NICOLAUS Gerbelius ( 1485-1560 ) den Apologus ,,De Aranea et Podagra“ 7 . Um keine 54 auch die gelehrtesten Männer nicht zögern, sich auf diesem Gebiet häufig zu üben und sich oft selbst am wenigsten genügen: so daß, obgleich diese Übungen nur die Anfänge der Redekunst sind , dennoch die Vollkommenheit in dieser von sich aus zu ihnen zurückkehrt und dahin zurückgeführt wird . (a.a.O. , S. 151 ) . 55 Wir lehren unsere Schüler abwandeln und selbst neue Deutungen (Lehren, Epimythien) suchen; und wir fordern sie auf, zu einem ihnen vorgelegten allgemeinen Lehrsatz eine Fabel zu erfinden. Dergleichen Übungen sind für die Studienanfänger hervorragend geeignet. (a.a.O. Leipzig 1564 , Bl. 1 5 ') . 56 G. E. Lessing: Werke, Bd . 5 , München 1973 , S. 416. 57 Francisci Petrarcae Epistolae de rebus familiaribus et variae ..., ed. Josephi Fracassetti. Vol. I (Florenz 1859) , Lib. III , Ep. XIII , S. 168ff.
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Verstimmung bei dem Freund und hohen geistlichen Würdenträger aufkommen zu lassen, hatte Petrarca mit Bedacht im vorhinein diesen Apologus als „,anilem fabellam" bezeichnet, als ein altes Geschichtchen, wie sie Großmütter und Ammen zu erzählen pflegen58 . Aber unter dem Anschein einer Plauderei („,garrio“ ) zielte er in Wahrheit darauf ab, mit Ernst und Entschiedenheit ,,ex re“ zu sprechen, von einem heiklen, den Briefempfänger persönlich angehenden Sachverhalt59. Hierzu erfand er eine ätiologische Geschichte , die erklären soll, wie es dazu gekommen ist,,,ut Podagra inter delicias et in palatiis divitum , Aranea in squalore et pauperum tuguriis habitaret"60. Sie ist dialogisch gestaltet und in eine Szene zusammengedrängt. Spinne und Podagra, für sie unerträglich gewordenen Lebensbedingungen entflohen, begegnen einander und schildern wechselseitig ihr Elend. Ein einfacher Tausch behebt alle Not: Das Podagra begibt sich zu dem reichen, müßigen Schwelger, die Spinne zu dem armen, von früh bis spät schwer arbeitenden Bauern , und dort sind sie, jeder an dem für ihn passenden Ort, bis heute geblieben. Petrarca hat vernommen, das Podagra sei bei dem Kardinal eingekehrt. Er kann das nicht glauben. Wenn es aber wahr sein sollte, schrecken ihn mehr als dieses Übel dessen ursachen : opulentia, deliciae, divitiae . Der Brief wird zur sich steigernden Mahnrede: ,,Principiis resistendum est: nulla melius resistitur ope , quam vigiliis, labore , ieiunio“, Wachen, Arbeiten, Fasten¹ . Petrarca erinnert den Kranken an sein Armutsgelübde: „, Opulentia enim et mendicitas non habitant simul", an seinen Bund mit Christus : ,,Si oblitus es, relege pactorum chirographum . Invenies quid tu illi promiseris, quid ille tibi" 62. Doch dann muß er seine Forderungen zu einem hippokratischen Rezept herabstimmen, um nicht vergebliche Worte zu verlieren. Er weiß, daß der Angeredete zur Erfüllung des geistlichen Armutsgebots unfähig ist; so bleiben nur Ratschläge für körperliche Gesundung und psycho- physisches Wohlbefinden: ,,Proinde si pellere vis podagram, pelle delicias: si malum omne vis pellere, pelle divitias“ 63. Für Gerbelius handelte es sich vermutlich um einen Zufallsfund , doch wußte er ihn sich so zu eigen zu machen , daß er nach dem Brauch der Zeit als Autor der Fabel ,,De Aranea et Podagra" gelten durfte. Als der Straßburger Buchdrucker Matthias Schürer 1516 den ,,Aesopus Dorpii“ erneut auflegte, stellte er die wahrscheinlich aus diesem Anlaß verfertigte Fabel als ,,Nicolai Gerbellii Phorcensis Apologus Lepidissimus“ an den Schluß der Sammlung64. Sie blieb in allen fol-
58 Nach Horaz, Satiren II ,6, v. 77f.: „,Cervius ... garrit anilis ex re fabellas". Es folgt bei Horaz die Erzählung der Fabel von der Stadtmaus und Landmaus. 59 Petrarca spielt auf Horaz, Satiren 1,2, v. 79 an : „,plus haurire mali est quam ex re decerpere fructus“ . 60 a.a.O., S. 169. 61 a.a.O. , S. 170. 62 a.a.O. , S. 170. 63 a.a.O. , S. 170f. 64 Thoen Nr. 13, dort Nr. 140.
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genden Ausgaben unverändert und wurde auch von Camerarius im gleichen Wortlaut übernommen. In der Bearbeitung des Celtis- Schülers mußten alle theologischen Implikationen des Petrarcaschen Briefes fallen; insonderheit waren dies für ihn, der sich wenige Jahre später maßgeblich an den gegen den Franziskaner Thomas Murner gerichteten satirischen Schriften beteiligte , die Mahnungen an franziskanische Ordensgebote. Den ätiologischen Apologus, dem bei Petrarca die Funktion zukam, dem Briefempfänger zu signalisieren, der Schreiber kenne die wahren Ursachen des Krankheitsübels sehr wohl, löste Gerbelius gänzlich aus diesem Kontext. Er machte ihn zum Selbstzweck und verwandelte ihn in einen gegenüber ethischen und religiösen Postulaten neutralen Schwank. Dergestalt , säkularisiert* , mußte diese Fabel dem seiner Zeit und Umwelt gegenüber spöttisch gestimmten Humanisten wie gerufen kommen , behandelte sie doch ein eben modisch werdendes Thema: die Wohlstandskrankheit des reichen Stadtbürgertums . Das Podagra, die Gicht, rief in den nächsten Jahrzehnten eine eigene ‚Textsorte ' hervor, meist in der Form der akademischen Scherzrede, von Willibald Pirckheimers ,,Apologia seu Podagrae Laus “ ( 1522) über des Johannes Carnarius in der Universität Padua gehaltene ,, De Podagrae laudibus Oratio “ ( 1552 ) zu Johann Fischarts ,,Podagrammisch Trostbüchlin" ( 1577). Bei Gerbelius beruht die ironische Wirkung, wie danach auch bei Pirckheimer, in erster Linie auf der Personifizierung des Gichtleidens , die er bei Petrarca schon vorgefunden hatte, die aber dort jeglicher Komik entbehrte. Gleiches gilt für die Kontrastierung von Mangel und Überfluß als Existenzbedingungen , für deren falsche Zuordnung und die Korrektur durch simple Vertauschung der Aufenthaltsorte. Da ihn detailliertes Ausmalen der Situationskomik offenbar besonders reizte, ließ er sich dazu verleiten, den Umfang der Fabel , ganz entgegen den Löwener Stilforderungen , annähernd zu verdreifachen, worin ihn dann Burkard Waldis mit seiner volkssprachigen Nachdichtung in Reimpaarversen noch weit übertraf . Erzählerisches Geschick besaß Gerbelius kaum; bei dreimaliger Begegnung der Handlungsträger wird vieles im Dialog wiederholt, was vorher schon ausführlich geschildert wurde. Entindividualisierung des Erzählanlasses und Neutralisierung des Urteils ließen die Erfahrungssätze im ,,Morale“ recht blaß ausfallen.
5.2. Die Fabel unter den lateinischen Facetien Heinrich Bebels
Wenn HEINRICH BEBEL ( 1472-1518 ) nach den mittelhochdeutschen Versen des Lehrgedichts ,,Der Renner“ von Hugo von Trimberg, dem, wie er sagte ,,,egregio
65 Dorpius hat offensichtlich auf die Neuausgaben seiner Sammlung keinen Einfluß mehr gehabt, sonst wäre die Aufnahme eines so breit erzählenden Stücks wohl unterblieben. Die Herausgeber sind namentlich nicht bekannt, bei den Erweiterungen handelt es sich vermutlich vorwiegend um Verlegerinitiativen.
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in vernacula nostra poeta“ , die dort ausführlich erzählte „ Tierbeichte“ in lateinischer Prosaübertragung unter seine „,Facetiae“ mischte67, so tat er dabei das Gleiche wie bei seiner Umformung einer ,,Vulgaris cantio", des Volkslieds ,,Ich stond an einem morgen / gar haimlich an aim ort“ zu einer lateinischen Elegie in Distichen und wie bei der Latinisierung der von ihm meist aus mündlicher Überlieferung gesammelten deutschen Sprichwörter (,,Proverbia Germanica“ ) . Mit der Fabel ,,De poenitentia lupi et vulpis et asini" griff er nicht auf die römischgriechische, sondern im Sinne des nationalen Humanismus auf die heimische mittelalterliche Tradition zurück und bereicherte so die stofflichen Quellen der Fabeldichtung des 16. Jahrhunderts68 . „ Der Renner" wurde neben Freidanks „ Bescheidenheit“ zum viel zitierten Kronzeugen aus deutscher Vorzeit, eine unerschöpfliche Fundgrube für Johannes Agricolas Kommentierung „,Teütscher Sprichwörter" . Erasmus Alberus69 und Burkard Waldis70 haben die ,,Tierbeichte" in romfeindlicher Polemik zum Exempel des Beicht- und Ablaßmißbrauchs gemacht und sie hierfür breit ausgestaltet. Das lag Bebel fern, ihm kam es vor allem auf die geschliffene lateinische Diktion, auf Pointierung, spiegelfechterischen Wortgebrauch, auf Witz, Ironie und Parodie an, auf die Stilelemente der Facetien , jener für Deutschland neuen , zwischen Anekdote und Schwank stehenden Prosakurzform der italienischen Renaissance, wie sie zuerst durch einige Übersetzungen aus Francesco Poggios ,,Liber facetiarum “ ( 1450) in Steinhöwels „ Esopus“ bekannt geworden war. Der mittelalterliche Dichter hatte die Fabel, in der Fuchs und Wolf sich gegenseitig Absolution erteilen, den Esel hingegen wegen eines geringfügigen Vergehens der Verdammnis überantworten, allegorisch als Kritik an den hierarchischen Verhältnissen des Klosterlebens ausgelegt. Das merkt Bebel nur noch zusätzlich am Schluß an: Auctor fabulae interpretatur: vulpem esse cellarios et hos , qui sunt in officio monasteriorum constituti, qui contra abbatem nihil agunt. Lupus esse debet abbas et asini sunt simplices fratres, qui in minimis maxime peccant, dum superiores sibi invicem ignoscant 66 ,,Von einem wolfe, einem fuhse und einem esel“ . In: Der Renner v. Hugo von Trimberg, v. 3455-3586. 67 1558 erschien eine zeitgenössische Übersetzung : Ein Geschwenck Henrici Bebelii ….. Durch ein guten Gesellen auß Latein in das Teutsch gebracht (o. O. ) . Sie wird Michael Lindener, dem Verfasser der beiden Schwankbücher ,,Katzipori“ und „ Rastbüchlein“, oder dem Augsburger Arzt Christof Wirsung zugeschrieben. - Neue Übersetzung u . Literaturhinweise s . S. 246f. 68 Die Entstehungsgeschichte ist umstritten. Vgl. hierzu E. Seemann (s. Literaturhinweise, S. 247), S. 139-172. 69 Fab. 11 : ,,Von einem Löwen, Wolff und Esel", Ed . Braune , S. 47ff. 70 IV, 1: ,,Vom Wolff, Fuchß und Esel" , Ed . Kurz, Bd . 2 , S. 1ff. 71 ,,Sôgetân buoze künnen noch geben / In kloestern tumme und übel prelaten: / Swem si niht sint wol geraten, / Der wirt hin und her gediuset, / Biz er lîp und sele verliuset /Als der esel um kleine schulde . / Der fuhs behielt des wolfes hulde . / Mich dunket daz der fuhs bediute / Prior, kelner, amptliute , / Die mit dem abte [ Wolf] wol gedingent, / Wenne si wider in niht ringent“ (v. 3576–3586).
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Die in Hugos Epimyhtion gänzlich übergangene Entartung des Beichtwesens zur Farce durch sophistische Kunststücke der Verwandlung von Verbrechen in Wohltaten und umgekehrt die Aufbauschung eines Bagatellvergehens zur unverzeihlichen Sünde mag bei Bebel nur ein feines Lächeln ausgelöst haben und jenen überlegenen Spott, wie er ihn so gerne mit seinem Freunde, dem Abt von Zwiefalten trieb. Ernst aber und streng in der Verurteilung wurde er gegenüber der Anwendung der gleichen Praktiken in den weltlichen Machtverhältnissen. Das hatte der Bauernsohn von der Schwäbischen Alb wohl selbst erfahren, und deshalb versah er seine Nacherzählung mit einem eigenen Epimythion: Sic equidem faciunt potentes et maiores: sunt sibi invicem faciles et ignoscunt leviter; subditis autem et infirmioribus duri et inexorabiles72. In der Schlußpointe verband sich Bebels scharfer Blick für die politischen Realitäten mit dem Literatentum des gelehrten Humanisten, wenn er das Geläufige des opportunistischen Messens mit zweierlei Maß durch eine Sentenz aus Juvenals Satiren bekräftigte: Dat veniam corvis, vexat censura columbas¹³.
12 So verhalten sich in der Tat die Mächtigen und Höhergestellten: Gegeneinander sind sie nachsichtig und vergeben leicht; gegen die ihnen Ausgelieferten und Schwächeren aber sind sie hart und unerbittlich. 73 Den Raben erläßt man die Strafe, harte Verurteilung trifft die Tauben. (Juvenal, 2 . Satire, v. 63).
VII . Konfessionelle und politische Fabelallegorien
Das Zeitalter der Reformation brachte der neueren volkssprachigen Fabel eine erste Blütezeit. Der paradigmatische Charakter der überlieferten Fabelinhalte , die Eindeutigkeit der Fabelfiguren sowie die strukturbestimmende Verkoppelung von Erzählung und Lehre mußten die Gattung als hervorragend geeignet zur Beeinflussung breiter Volksschichten erscheinen lassen . Sie errang Beweiskraft auf allen Gebieten des individuellen und gesellschaftlichen Daseins, insonderheit dort, wo es auf Verdeutlichen , Erklären, Überzeugen ankam, wo es um Angriff und Verteidigung ging, wo Parteinahme herausgefordert werden sollte. Besonders in den Kampfjahren wurde sie als Gebrauchs- und Zweckform verstanden; ihre Anwendung geschah augenblicksbedingt und situationsbezogen ' . Häufig bedurfte es nicht einmal mehr des Vortrags von Fabeln , viele hatten einen solchen Bekanntheitsgrad gewonnen, daß Anspielungen genügten , ja diese besaßen gerade einen höheren polemischen Reizwert, konnten schärfer treffen als ausgeführte Vergleiche zwischen einer erzählten Fabel und dem , eigentlich gemeinten aktuellen Sachverhalt. So wandte sich Luther gegen Hieronymus Emser und Thomas Murner mit den Worten: „ Lieben gesellen, die warheyt thutt euch wehe , drum sucht yhr ursach widder mich, das schaff hatt dem wolff das wasser trub gemacht . Und Thomas Müntzer gegen Luther, verbunden mit dem Bezug auf Math. 10,16 : ,,Unter deinem Schirm und Schutz pin ich gewesen wie das Schaf unterm Wolf“3. Gleichwohl brachte die Verwendung der Fabel als Tendenzliteratur keinen Bruch mit der Tradition . Nicht nur, daß die Äußerungen antiker Autoren zur Fabeltheorie stets Situationsbedingtheit und Gebrauchsfunktion hervorgehoben und die deutschsprachigen Fabeldichter des Mittelalters durchaus politische
¹ Z. B. richtete Thomas Müntzer das auch als selbständige Fabel in der Version vom ,,Fuchs und Ziegenbock“ (s . Bd. I , S. 286f. u . Bd . II, S. 274) bekannte Brunnenabenteuer aus „ Reynke de vos“ (IV, 2 ) gegen Luther: „ Du tust , gleich wie wir Teütschen sagen, du steigst in Prunn, wie der Fuchs in den einen Eimer trat und fraß die Vische. Darnach locket er den unsinnigen Wolf in den Prunn in andern Eimer, so feret er empore und der Wolf bleibet darunder. Also werden die Fürsten, die dir volgen, auch besten [bestehen, sich behaupten] und die Edlen strauchenlin, welch du an die Kaufleut hetzest. " (Hochverursachte Schutzrede und Antwort wider das gaistlose, sanftlebende Fleisch zu Wittenberg ... In: Th . M, Die Fürstenpredigt. Theologisch- politische Schriften. Hrsg. v. G. Franz. Stuttgart 1967, S. 141 (UB Nr. 8772 [2]) . 2 Aufdas überchristlich , übergeistlich und überkünstlich Buch Bocks Emsers zu Leipzig Antwort. WA I,7 , S. 679. 3 a.a.O. , S. 137.
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VII. Konfessionelle und politische Fabelallegorien
Stellungnahmen in Tierfabeln zu kleiden und sich situativer Anspielungen zu bedienen gewußt hatten , auch das allegorische Verständnis antiker Literatur und die daraus folgende Auslegung aesopischer Fabeln nach dem mehrfachen Schriftsinn, die schließlich im ,,Niederdeutschen Aesop" zum durchgängigen Interpretationsprinzip geworden war, wirkte in das Jahrhundert der Reformation hinüber. Der an seiner Schwelle durch den Druck verbreitete ,,REYNke de vos“ ( 1498 ) , der zugleich eine fruchtbare formale Annäherung zwischen Tierepos und Tierfabel einleitete, hat mit seinen abschnittsweisen Glossierungen (den sog . älteren Alkmarischen Glossen ) dabei eine Vermittlungsfunktion erfüllt. Denn außer Erklärungen des sittlichen Sinns und daraus gezogenen weltlichen Belehrungen gab der Glossator, wo es ihm sachgerecht erschien , auch geistliche Deutungen ( , allegorice ' ). So zur Verführung Brauns, des Bären , durch Reynke: Ok is gheystliken hir betekent by deme vosse de duvel , de boze gheyst; wente he seer lystych unde behende is, unde eme god to ghelaten heft, dat he den mynschen bekoren mach, up dat de mynsche in der bekoringe overwynne unde also umme des wedderstandes wyllen des to grotter lon moghe entfangen in der salicheyt*. Hingegen: welk geckaftich mynsche dat honnich, alze desser werlde ghenöchte , socht unde der volget, (dat doch men bedregerye is, wente he nicht en vyndet, dat he socht) desse wert hir na bespottet in den pynen in der vordomenysse to syneme schaden van deme vosse , dat is van deme duvele . Anfangs hat sich auch LUTHER , so sehr er später das Suchen nach einem sensus spiritualis des Schriftworts verwarf, der Fabel als Allegorie bedient , um den Kern seiner Lehre zu veranschaulichen . In der Bekenntnisschrift „ Von der Freiheit eines Christenmenschen“ ( 1520) zog er die Fabel vom Hund am Wasser heran, um die göttliche Gnadengabe der Rechtfertigung durch den Glauben dem Streben nach Werkgerechtigkeit entgegenzusetzen . Der Hund , bedeutet (, significat' ) da den Christenmenschen , das Stück Fleisch, das der Hund im Maul trägt, den wahren Glauben, der Schemen im Wasser die guten Werke: Darauß man clar sihet, wie eyn Christen mensch frey ist von allen dingen und ubir alle ding, alẞo das er keyner gutter werck datzu bedarff, das er frum und seligk sey, sondern der glaub bringts ym alles uber flußig. Und wo er Bo töricht were und meinet, durch ein gutt werck frum, frey, selig odder Christen werden , Bo vorlür er den Glauben mit allen dingen, Gleych als der hund , der ein stuck fleysch ym mund trug und nach dem schemen ym wasser schnapt, damit fleysch und schem vorlör" . Noch zu Beginn der Arbeit an einem deutschen Aesop verrät sich eine Unsicherheit bei Luther über das einzuschlagende Auslegungsverfahren , wenn er bei der ersten Niederschrift der Eingangsfabel die Geringschätzung der Perle durch den
4 Zu 1,7: (4) . Reinke de vos, ATB 8 , 31960, S. 27. - bekoren: in Versuchung führen. 5 Zu 1,8-11 : (4). Ebd . , S. 37. – ghenöchte: Lust, Vergnügen. – men: nur. – bedregerye: Trug, Betrug. 6 WA 1,7, S. 28.
VII. Konfessionelle und politische Fabelallegorien
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Hahn allegorisch verstehen will: „ Malum. Malum dicit omnis emptor. Wer Christum nicht hat der begert sein sicut gentes . Wer yn hat der creutzigt yhn und wil yhn nicht wie die Juden"7.
1. Hans Sachs : ,,Die Wittenbergisch Nachtigall" Dem Erstdruck des Spruchgedichts ,,Die Wittenbergisch Nachtigall" ( 1523) von HANS SACHS war ein allegorischer Titelholzschnitt vorangestellt: Auf einem Baum sitzt die Nachtigall , singend der aufgegangenen Sonne zugewendet, der abnehmende Mond verfinstert sich. Den Vorder- und Hintergrund erfüllen Tiergruppen. Dem Betrachter sind sie alle mit ihren Eigenschaften aus aesopischen Fabeln bekannt: in der Mitte der Löwe , vor ihm Schafe, an denen Schlangen saugen , den Schafen gegenüber Wölfe, Frösche , eine Schnecke, zur Rechten und Linken des Löwen Bock, Waldesel, Wildschwein und Katze, über dem Wald einfallende Wildgänse; im gebirgigen Hintergrund hat sich eine Schafherde um das kreuztragende Lamm auf einem Felsen versammelt . Mit der Beschreibung dieser einer emblematischen pictura nahekommenden Bildallegorie beginnt Hans Sachs sein Spruchgedicht. Insofern Dialog und Handlung dabei fehlen , wird allerdings ein gattungsspezifischer Unterschied gegenüber der Fabel offenkundig . Indem Sachs jedoch dann die Bildelemente der Allegorie nacheinander auf Personen und Ereignisse der Zeitgeschichte bezieht und ihre sinnbildliche Bedeutung aufhellt, legt seine Interpretation dem Betrachter durch Figurenkonstellation und Tiercharaktere Assoziationen zu bekannten aesopischen Fabeln nahe, sowohl wenn es sich um unverkennbare Analogien handelt, die bis an die Identifikation heranreichen können , als auch wenn Andeutungen und Anspielungen gerade das Erkennen des Anders- und Neuartigen provozieren sollen. Die Entschlüsselung übernimmt die Funktion des ,,Morale“. Durch sie übt Sachs scharfe, satirisch-polemische Kritik an der Kirche und ihren Repräsentanten: Der Löwe bedeutet Papst Leo X. , die Wüste um ihn das geistliche Regiment , der Mondschein die ,,menschen fünd" der Sophisten . Durch die Schlangen werden Mönche und Nonnen bezeichnet, die das arme Volk, die Schafe, aussaugen, durch die Wölfe Bischöfe , Pröpste , Prälaten , durch die Frösche theologische Fakultäten , die sich in Gutachten gegen Luthers Lehre wenden, durch die Wildgänse antilutherische Laien . Die Signifikanz der einzelnen Tiere zielt auf die Verfasser gegen Luther gerichteter Kampfschriften: der Waldesel auf Augustinus von Alfeld, das Wildschwein auf Johannes Eck, der
7 Vgl. Kommentar , S. 190. 8 Abb. in: Hans Sachs. Die Wittenbergisch Nachtigall . Spruchgedicht, vier Reformationsdialoge und das Meisterlied ,,Das Walt got" . Hrsg. v. G. H. Seufert. Stuttgart 1974 (UB Nr. 9737 [3] ) . menschen fünd: menschliche Erfindungen, listige Vorspiegelungen. – Sophisten: Von Luther und seinen Anhängern wurden Scholastiker, päpstliche Legaten und insgesamt alle romhörigen Geistlichen so genannt.
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VII. Konfessionelle und politische Fabelallegorien
Bock auf Hieronymus Emser, die Katze auf Thomas Murner, die Schnecke auf Johannes Cochläus . Diese Spottnamen liefen schon um , Sachs brauchte sie nur aufzugreifen. Sie erschienen auf Titelblättern pamphletistischer Traktate, die Streitenden redeten sich gegenseitig mit ihnen an, so Luther Emser als Bock und Esel¹º, dieser wiederum Luther als Stier und Rabel ; Thomas Müntzer bezeichnete Luther als Kolkraben und Brandfuchs¹² . Holzschnitte zeigten den Gegner in der Tiermaske , am häufigsten Murner, der im „ Karsthans“ als Kater aufgetreten war, in der Mönchskutte mit Katzenkopf. Zur Erklärung der Sendung Luthers verwandte Sachs die TageszeitenAllegorie und den wohl aus dem „ Buch der Natur“ des Konrad von Megenberg stammenden Nachtigall-Topos , der durch ihn auf den Reformator übertragen wurde. Nacht ist die Sünde , Morgenröte die biblische Verheißung, die emporgestiegene Sonne Christus, der Gesang der Nachtigall die Verkündigung der evangelischen Botschaft durch Luther. Die doppelte Darstellung der Schafherde bedeutet einmal die Bedrängnis der Christen in der Papstkirche, zum anderen ihre Errettung durch den Opfertod des Lammes und ihren Zusammenschluß um den Erlöser zu einer gläubigen Gemeinschaft mit ihm.
10 Emsers Schrift ,,Wider das unchristliche Buch Martini Luthers an den Teutschen Adel" ( 1521 ) zeigte unter dem Titel das Wappen Emsers mit der Beischrift „ Hut Dich der bock stoszt Dich" . Das griff Luther auf, indem er den Adressaten seiner Entgegnungen mit dem Tiernamen anredete: „ An den Bock zu Leipzig“ (WA I,7 , S. 262ff. ) und ,,Auf des Bocks zu Leipzig Antwort“ (ebd. , S. 266ff.) . Gleichzeitig zog er die Fabel vom Esel und Löwen auf der Jagd ( Perry 151 ; Steinhöwel 70) heran und identifizierte dadurch Emser mit dem Esel , sich selbst mit dem Löwen: ,,Hastu nie gehort die Fabeln, da der Esel mit dem Lawen in die wette schrey , und etlich thier fur seinem geschrey flohen, das sich der Law zu yhm wand unnd sprach ,Wen ich nit wiste, das du ein esel werist, ich het mich wol selb fur dir gefurcht“ ? Du sihest teglich, das ich mich fur denen nit furcht, die mer kunst und vorstand in einem har haben, dan du an leyp und seel, noch unterstehistu dich, mich zu trotzen und schrecken, damit du starck beweyssest, das du die vornunft mit unvornunfft vorwechselt und auß einem menschen ein bock worden bist“ (a.a.O. , S. 262) . 11 Emser adressierte seine Erwiderung „ An den Stier zu Wittenberg" ; er kehrte den von Luther als Beleidigung beabsichtigten Vergleich mit dem aesopischen Esel ironisch in die biblisch verstandene Auszeichnung des Esels um : ,,Wywol ich nu nicht oren darnach hab , das ich eynem Esel gleich sehe , noch dann dieweil Aristoteles, Thomas, Bonaventura, Bebst, Cardinel und Bischoff, tod und lebendig deine Esel sein mussen, so bleib ich in dissem Eselstal (daryn auch Christus geboren ist) vil lieber dann in deinem raben nhest“ (Zitiert nach WA I ,7 , S. 282) . 12 ,,Ich hab dem tückischen Kulkraben ... nichts anders getan, denn das ich wie ein ainfeltige Taube meine Federn geschwungen. “ – „ Sich [ Sieh] pistu doch zum Prandfuchs worden, der vorm Tage haiser pillet [bellt] .“ (Th. Müntzer: Hochverursachte Schutzrede , a.a.O. , S. 123 , 140f.) . Beide Nominalkomposita drücken Steigerungen der negativen Eigenschaften des Raben und des Fuchses aus .
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2. Huldrych Zwingli : „ Fabelisch gedicht von eim ochsen und etlichen tieren ietz louffender dinge begriffenlich“ Noch im Vorfeld der Reformation erfand HULDRYch Zwingli ( 1484–1531 ) eine Fabelallegorie, durch die er unmittelbaren Einfluß auf das Verhalten der Eidgenossenschaft in einer akuten außenpolitischen und militärischen Krise gewinnen wollte. Das ,,fabelisch gedicht von eim ochsen und etlichen tieren ietz louffender dinge begriffenlich“ ( 1510) wird allein in engster Verbindung mit der momentanen Anwendungssituation verständlich, seine Funktion geht darin völlig auf, und es ist nicht anzunehmen, daß Zwingli ein darüber hinausgehendes allgemein poetisches Interesse mit dieser inventio verbunden habe. Allerdings wirkte bei dem jungen Leutpriester sein Wiener humanistisches Studium bei Celtis und Cuspinian noch insoweit nach , als er sich ein solches erzählendes Gedicht nur als carmen heroicum in lateinischen Hexametern mit Einfügung antiker mythologischer und historischer Versatzstücke vorstellen konnte. Doch muß er sehr schnell eingesehen haben, daß sich mit einem solchen „,fabulosum centimetrum currentium rerum commenticium“ die beabsichtigte Wirkung keinesfalls erzielen lasse , denn er fertigte alsbald eine zweite Fassung in schweizerischer Volkssprache und paarweise gereimten füllungsfreien Knittelversen an, der er auch einen „,Verstand dis gedichts", eine Entschlüsselung der Bedeutungsträger, beigab. Ziel der politischen Allegorie war, durch sinnbildliche Darstellung auf volkstümliche Weise die historisch bedingte Augenblickssituation klar durchschaubar zu machen und die sich aus solcher Einsicht ergebenden notwendigen Konsequenzen für die zwischen den rivalisierenden Mächten Österreich, Frankreich und dem Kirchenstaat auf die Wahrung ihrer Unabhängigkeit bedachte Eidgenossenschaft vor Augen zu führen. Dies hatte zur Folge , daß an die Stelle der fiktionalen Fabelhandlung ein Abriß der schweizerischen Geschichte von der Schlacht bei Murten ( 1476) bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt ( 1510) trat, und daß ferner das Tierpersonal der Fabel zwar übernommen , aber nur als Signatur für realpolitische Kollektiva (Staaten und Mächte) verwendet wurde . Das Gedicht beginnt mit einer ins Schweizerische transponierten imitatio Vergilscher Bukolik, entwickelt die allegorische Geschichtserzählung aus dem Eingangsbild und behält trotz Krieg und Streit den bukolischen Grundton bei , der dem Schweizervolk die Idealvorstellung eidgenössischer Eigenstaatlichkeit nahebringen soll. Auf die Darstellungsform und Vortragsweise haben weiterhin das volkstümliche historische Lied, die Tierfabel mit Anspielungen wie der vom ,,schlangenzüchen" (v. 66) und die Wappendichtung eingewirkt. Der Löwe bezeichnet hier nach dem habsburgischen Wappen den Kaiser, der Ochse das Schweizervolk nach dem Stier im Wappen von Uri. So hatte schon das Lied von der Schlacht bei Sempach ( 1386) die siegreiche Verteidigung der eidgenössischen Freiheit gegen den habsburgischen Angriff als Kampf zwischen Stier und Löwe dargestellt. Die übrigen Bedeutungsträger derAllegorie sind nicht heraldischer Herkunft, sie leiten sich von ihrer geschichtlichen Funktion ab bzw. von parteiischer Charakterologie : der Leopard als König von Frankreich (,,walch“ ) , das
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Füchslein als die Republik Venedig, der Hirt als Papst, der Hund Licisca als Kollektivbezeichnung für den Stand der Leutpriester¹³. Mit dem der 3. Ekloge Vergils entnommenen Licisca meint Zwingli insofern auch sich selbst, als er die ganze politische Szenerie aus der Sicht des vorreformatorischen Leutpriesters beurteilt, der einerseits auf das Wohl des Volkes bedacht ist, andererseits sich aber auch dem Papst verpflichtet fühlt. Unter dem Bock kann nur der Exeget der Allegorie verstanden werden , also ebenfalls Zwingli selbst , der zu diesem Zeitpunkt das päpstliche Täuschungsmanöver noch nicht durchschaut hat und den Schutz der Kirche durch ein schweizerisches Truppenkontingent begrüßt. Indem der Autor die Frage nach der Bedeutung der Katzen unbeantwortet läßt, macht er die Fabelallegorie zum Rätselgedicht. Dies ist ein durch die Wirkungsabsicht veranlaßter Kunstgriff. Er soll die Aufmerksamkeit auf das für Zwingli Entscheidende lenken , denn auf das, was zu erraten bleibt, kommt es ihm ,eigentlich an. Der Rezipient wird aufgefordert, das Sinnbild auf die Realität zurückzuführen. Selbständig gewonnene Erkenntnis stärkt die Überzeugungskraft des Erkannten. Die Lösung des Rätsels lautet : Katzen sind diejenigen, die im Auftrag einer fremden Macht in der Schweiz das Geschäft der Werbung von Reisläufern betreiben . Um die Bekämpfung dieses Grundübels geht es Zwingli vor allem anderen.
3. Martin Luther: ,,Vom Lawen und Esel"
Als politische Allegorie kann auch noch MARTIN LUTHERS ( 1483-1546) Fabel ,,Vom Lawen und Esel" angesehen werden , insofern es zu ihrem Verständnis einer identifizierenden Aufschlüsselung bedarf, die den Handlungsverlauf und die Rollen der Tiere zeitgeschichtlich interpretiert. Diese bleibt freilich, sieht man von sporadischen Andeutungen ab, anders als bei Zwingli dem Leser überlassen , es ist auch nicht Absicht des Autors, seine Fabel als Instrument aktiven Eingreifens in eine zu schneller Entscheidung drängende politische Konfliktsituation zu benutzen. Für die Datierung der Entstehung gibt es nur den terminus ad quem 1528 , das Jahr des anonymen Drucks, der zusammen mit einer zweiten satirischen Erwiderung der Wittenberger auf gegen Luthers Ehe gerichtete Pamphlete aus dem Kreis um Cochläus erfolgte¹4. Die Entdeckung einer bisher unbekannten Fabel Aesops in deutscher Übersetzung ist fingiert , Luther hat die Fabel erfunden . Sie steht in keinem inhaltlich erkennbaren Bezug zu dieser unerquicklichen. Auseinandersetzung . Wer, wie dies gern geschieht, Luthers Fabelstil normativ auf eine Ebene mit dem Lessings stellt und demzufolge epigrammatische Kürze und die Ableitung
13 ,,pfaff wird hier noch ohne negativen Beiklang gebraucht. 14 Dem hochgelertisten Collegiat / und vermeyneten Poeten zu Leiptzig / Johan . Myriti Onos. [unterschrieben: ] Die Illuministen der bücher Myritiani . - Dem gestrengen und vhesten H. V. B. meinem günstigen herrn und lieben bruder. WA I,26, S. 534ff.
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des besonderen Falles aus einem allgemeinen Satz verlangt, der wird sicher eine frühe Entstehungszeit annehmen, vielleicht sogar die Gattungszugehörigkeit dieser ,,newen Fabel Esopi" bestreiten , denn ihre äußere und innere Gestalt ist denkbar weit von den Coburger Aesopbearbeitungen des Jahres 1530 entfernt. Die behagliche, mit sichtlicher Freude am Detail humoristisch-satirisch ausgestaltende Erzählweise läßt Anregungen durch das Tierepos erkennen. Luther hat den ,,Reynke de vos" sehr geschätzt, viel darin gelesen und in ihm eine ,, lebendige Kontrafactur des Hoflebens“ gesehen¹5 . Die Reichsversammlung der Tiere mit Rede und Gegenrede, von Luther kunstgerecht aufgebaut nach den Regeln für das genus deliberativum¹6 , das Operieren mit Scheinargumenten , die dreiste Umkehrung von Tatsachen in ihr Gegenteil, der schließliche Sieg der Fuchspartei , all das erinnert an die Hoftagsszenen des ,,Reynke de vos". Das Motiv von der Königswahl derTiere findet sich gleichermaßen in der Fabel (Frösche , Vögel) und in Reynkes Erzählung von der angeblichen Verschwörung seines Vaters zur Wahl des Bären Braun als Gegenkönig ( I , 24) . Immer werden dabei Fehlentscheidungen auf Grund politischer Unreife oder eigensüchtiger Interessen getroffen. Luther hat dieses Motiv mit noch stärkerer Vermenschlichung so durchgehend
allegorisiert, daß dem Leser eine doppelte realpolitische Sinndeutung nahegelegt wird. Einmal geht es um die Wahlmonarchie als Alternative zur Erbmonarchie, und es kann kein Zweifel darüber aufkommen, welche Herrschaftsform der Autor befürwortet. Der Zeitbezug ist leicht feststellbar. Er besteht in der negativen Bewertung des die Zentralgewalt schwächenden Verfahrens bei der deutschen Königswahl sowie in dem Eintreten für die Legitimität des Erbfolgeprinzips im Landesfürstentum. Zum anderen drängt sich für die Wahl des Esels anstelle des jungen Löwen als des rechtmäßigen Kronprätendenten die Deutung auf, daß damit der Anspruch des Papsttums, geistliches und weltliches Regiment in der Hand des römischen Oberhirten zu vereinigen , gemeint ist. Mit Vorliebe redete Luther vom „ Papstesel" ; Melanchthon hatte bereits 1523 eine bis in alle Einzelheiten gehende allegorische ,,Deuttung der grewlichen figur des Bapstesels tzu Rom" nach einem angeblich im Tiber gefundenen Tierungeheuer gegeben, von deren Gehässigkeiten Luther freilich nichts übernommen hat . Die Signifikanz des Löwen für das Kaisertum stammt wie bei Zwingli aus der Wappendichtung. Fuchs und Hund werden von dem Erzähler gemäß ihres Fabelcharakters als Sprecher der beiden Parteien , die sich innerhalb der Reichsstände gebildet haben , eingesetzt , doch dient der auf den Text folgende , im Original ganzseitige Holzschnitt der weiteren Entschlüsselung : Die beiden aufrecht gehenden Füchse , die über den Kopf des wiehernden Esels eine Krone in Gestalt der päpstlichen Tiara halten, müssen als die Parteigänger des Papstes im Wahlgremium, die hinter 15 Johannes Mathesius, Luther-Historien, Nürnberg 1567 , Bl. CXXXIIIˇ ( 12. Predigt) ; vgl . auch Bl. C' (Fabelpredigt). 16 Reden der Vertreter politischer Parteien vor der Volksversammlung mit der doppelten Funktion des Zuratens und des Abratens . Vgl. H. Lausberg, Elemente der literarischen Rhetorik, München 1971 , § 22,2; 23 u . ö. 17 Vgl. Kommentar und Literaturhinweise zu Erasmus Alberus ,,Vom Bapstesel“ , S. 201f.
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dieser Gruppe folgenden, mit Hellebarden ausgerüsteten Füchse als die weltlichen katholischen Stände interpretiert werden . Für den Hund , den Vertreter der unterlegenen reichstreuen (evangelischen) Stände ist auf diesem satirischen Triumphbild kein Platz mehr. Einer einseitig politisch-allegorischen Auslegung , die für Zwinglis ,,fabelisch gedicht" zureichend ist, wirken jedoch in Luthers episierender Fabel andersartige Elemente entgegen. Am deutlichsten treten Gattungseigentümlichkeiten des Märchens hervor: die Dreigliedrigkeit des Aufbaus - Wahl , deren Anfechtung und Bestätigung; drei von beiden Rivalen zu bestehende Proben - sowie die Motivverwandtschaft zum Märchen vom Wettlauf zwischen dem Hasen und dem Igel . Theologisch lehrhafte Absichten machen sich als Kampf gegen den Aberglauben geltend in dem Spott über das Kreuzeszeichen auf dem Rücken des Esels und in der grotesk-komischen Schilderung des Verlaufs der drei als Gottesurteil angesetzten Proben. Rein religiöse Andeutungen und Glaubensfragen schwingen hintergründig mit. Die Niederlage des Löwen bei der Wahl und in den Proben kann auch gemäß der geistlichen Allegorese als die Verwerfung Christi durch die Welt verstanden werden. Und schließlich muß die Rolle der Fortuna nachdenklich stimmen. Ihr verdankt der Esel , nachdem die Wahl angefochten wurde , zuletzt seine Bestätigung.
Vielleicht wäre diese anonyme Lutherfabel infolge ihres beiläufigen Publikationsortes kaum bekannt geworden, hätte nicht Erasmus Alberus sie sich ganz zu eigen gemacht und, ohne die Quelle zu nennen, eine erweiterte Versfassung von ihr hergestellt, die er zusammen mit anderen in seiner Jugendzeit entstandenen Fabeln 1534 zum erstenmal veröffentlichte¹8 und nur leicht überarbeitet in den späteren Ausgaben beibehielt . Dort ist der Esel eindeutig significatio des Papstes, und es heißt von ihm ausdrücklich : ,,Beyd Weltlich und das Geistlich schwerdt / Wirdt führn der Esel ehren werdt“ . (v. 175f. ) Die Polemik gilt nicht nur den auf Schwächung der kaiserlichen Zentralgewalt bedachten Ständen, sie wird ausgedehnt auf die.,, Schwärmer“ , als welche die erste Fassung in einem Atemzug Arius , Zwingli und Müntzer nennt. Treibende Kraft ist bei allem der Teufel. 1545 erschien die Fabel dann , wieder in Prosa aufgelöst, unter der Überschrift ,,Durch gunst / haß und neidt / werden rechtschaffne leut undertruckt / und untüchtige herfür zogen" in der anonymen Schwanksammlung ,,Schertz mit der
18 Etliche fabel Esopi verteutscht unnd ynn Rheymen bracht durch Erasmum Alberum . Sampt anderen newen Fabeln fast nutzbarlich und lustig zu lesen. Hagenau 1534, Nr. 17. 19 Das buch von der Tugent und Weißheit. Frankfurt a. M. 1550 u. ö . (s . S. 200), Nr. 21 . Braune bezeichnet in der Einleitung zu seinem Neudruck die Quelle als unbekannt.
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Warheyt 20, einer veränderten und erweiterten Neuausgabe der Exempelsammlung ,,Schimpf und Ernst" des Barfüßermönchs Johannes Pauli . Zugrunde liegt hier anscheinend der Alberussche Text, doch ist die Diktion volkstümlicher, auch derber. Rein innerweltliche, auf menschliche Qualitäten gegründete protestantische Ethik ohne theologischen Rückbezug bestimmt den politischen Standort: ,,Man wiste je nichts dann Ritterliche / Fürstliche tugenten vom Löwen / unnd all seim geschlecht zu sagenn / Ob er aber die laster je zu zeiten auffs höchst zu straffen getrungen würde / das thet er vonn wegen Ampts und der Oberkeyt / on welche die Welt nit bestehen möchte /das solt im zů keyner Tyrannei gerechnet werden 21. An die Stelle konfessioneller Polemik im „ Morale“ bei Alberus ist ein auf das individuelle Leben bezogener resignierender Erfahrungssatz getreten: ,,Also kommet mancher durchs glück / untrew unnd List / zu sachen / der er nie werdt war 22. Von den verbitterten Schlußworten des jungen Löwen an seinen unwürdigen , aber vom Zufall begünstigten Rivalen: ,,Hab dir gleich die Kron / und biß König Esel dein lebenlang“ im „ Schertz mit der Warheyt“23 mag für Wolfhart SPANGENBERG die Anregung ausgegangen sein , die Fabel vom Herrschaftswechsel im Tierreich zu einem umfänglichen Roman auszugestalten . Die unter dem Pseudonym Adolph Rose von Creutzheim 1625 herausgegebene „ wunderseltzame Erzehlung“ vom „ Esel König“24 erwähnt Luther ebensowenig wie die beiden darauf folgenden Bearbeitungen; sie rechtfertigt vielmehr den Tierroman aus der Tradition des Tierepos , indem sie sich auf „,Reynke de vos“ und dessen lateinische Übersetzung durch Hartmann Schopper bezieht. Gleichwohl ist die erste Hälfte des Romans (Kap. 1–15) kaum mehr als eine Aufschwellung der Lutherschen Fabelhandlung durch eingängige Schilderungen der Ereignisse am Hof des Löwen, ausführliche Wiedergabe der Reden des Hundes für den Löwenprinzen und des Fuchses für die Wahl des Esels sowie durch breiteres Ausmalen des burlesken Verlaufs der drei Proben . Den zweiten Teil (Kap. 16–34) 20 Schertz mit der Warheyt. Vonn gåttem Gespräche / In Schimpff und Ernst Reden / Vil Höfflicher /weiser Sprüch / lieblicher Historien / und Lehren . Zu Underweisung und Ermanung / in allem thůn und Leben / der Menschen / Auch ehrlichen Kurtzweilen / Schertz und Freüdenzeiten / zu erfrewung des gemüts / zusamen bracht. Jetzund New / unnd vormals dermassen nie außgangen . Frankfurt o. J. [ 1545 ] , Bl. XII® -XIII” . . 21 a.a.O., Bl. XIIIª. 22 a.a.O., Bl . XIII . 23 a.a.O., Bl. XIII . 24 Esel König. Eine wunderseltzame Erzehlung / wie nämlich die Monarchei und Gubernament uber die vierfüssige Thier geändert; das Königreich umbgefallen / und die Krone auff einen Esel gerathen. Welcher gestalt auch derselb regieret: und wunderbahrer weyse / mit gefahr Leibs unnd Lebens / bald wider / umb das Königreich kommen. Ballenstedt o. J. [ 1625 ] . Neudruck in : Wolfhart Spangenberg, Sämtliche Werke , unter Mitwirkung v. A. Tarnai hrsg. v. A. Vizkelety. III . Bd. , 2. T.: Tierdichtungen II, bearb. v. A. Vizkelety. Berlin/New York 1978 (ADL). -- Die Zuschreibung an W. Spangenberg erfolgte durch F. Behrend, Über den Verfasser des Eselkönigs. Diss. Berlin 1905.
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hat Spangenberg wohl selbst erfunden. Er gibt einen satirischen Bericht von der Eselsherrschaft und ihrem Untergang. Unter dem Eindruck des Verlaufs der französischen Revolution schrieb HERDER im Jahr 1792 eine Nachdichtung der Lutherschen Fabel in Hexametern , zur Wahl dieses Versmaßes sicher durch Goethes zur gleichen Zeit beginnende Arbeit am ,,Reineke Fuchs" veranlaßt. Sie wurde erst 1817 aus seinem Nachlaß durch Karoline Herder veröffentlicht, die ihr den Titel „ Der Wettstreit um die Krone" gab. Für eine von ihm begonnene Anthologie Luther, ein Lehrer der Deutschen Nation" hatte Herder zunächst Luthers Originalfassung unter dem Stichwort ,,Esel" in einem Goldenen ABC vorgesehen. „ Ich entlehnte sie zu einem guten Zweck, des gährendes Geistes meiner Zeit halben , da Übertreibungen von beiden Seiten herrschen und nicht jeder die Mittelstraße zu finden weiß“25 . In der Nachdichtung, die durch einen hinzugefügten Schlußabschnitt unter motivlicher Verwendung der Fabel vom „ Esel in der Löwenhaut“ zur Umdichtung wurde, hat sich dieser Ausgleichswille angesichts der revolutionären Ausschreitungen zur Wiederherstellung royalistischer Legitimität verschoben. Der dem Müller entflohene Eselkönig wird erkannt und in seine vorige Dienstbarkeit zurückgetrieben . Eselsherrschaft würde Jakobinismus , entartete Volksherrschaft bedeuten. In Herders Version der Lutherfabel gewann der „, edle Löwe“ das angestammte Königtum zurück26.
25 Sämtliche Werke. Hrsg . v. B. Suphan. Bd. XVIII , S. 512. 26 Ebd . , Bd. XXIX : PoetischeWerke , Bd. 5. Hrsg. v. C. Redlich ( Berlin 1889) , Reprint Hildesheim 1968 , S. 574–578.
VIII. Martin Luthers Coburger Aesop und die mündliche
Tradierung von Fabeln in den ,,Tischreden"
1. ,,Vom rechten Nutz und Brauch desselben Buchs"
Am 24. 4. 1530 schrieb Luther von der Veste Coburg aus an Melanchthon , der mit Kurfürst Johann und der Witttenberger Delegation zum Reichstag nach Augsburg weitergereist war, während Luther, auf der Veste zurückgeblieben, eine Zeit ungestörter Arbeit vor sich sah : ,,Pervenimus tandem in nostrum Sinai, charissime Philippe, sed faciemus Sion ex ista Sinai , aedificabimusque ibi tria tabernacula, Psalterio unum , Prophetis unum, et Aesopo unum “ . Drei Aufgaben hatte er sich also vorgenommen: eine Neufassung des deutschen Psalters (3. Bearbeitung), die Übersetzung der prophetischen Bücher des Alten Testaments und einen deutschen Aesop. Durch den Ausdruck ,,tria tabernacula“2 wird einerseits das geplante Fabelbuch mit Psalter und Propheten gleichgestellt, andererseits aber auch die klare Trennung der Zuständigkeitsbereiche hervorgehoben: Lobpreis , Verkündigung und Weltklugheit. In der sicher schon zu Beginn der Arbeit an einem ,,Deudschen Esop" entworfenen Vorrede „ von rechtem Nutz und Brauch desselben Buchs" hat Luther die Frage des Verhältnisses christlicher Ethik zu dem, was Fabeln lehren können , unberührt gelassen . Da sie heidnischen Ursprungs sind, versteht es sich für ihn von selbst, daß sie nur ,,von eusserlichem Leben in der Welt" handeln können , daß ihr Geltungs- und Verwendungsbereich dort endet, wo jenes andere Reich beginnt,,,wilchs Christen und frum leutt macht durch den heyligen Geyst unter Christo" . Für das Reich von dieser Welt aber enthalten sie „ die allerfeineste Lere / Warnung und Unterricht" . Noch nachdrücklicher als in den ersten Formulierungen der 99 Vorrede" hat Luther seine Auffassung in der einige Jahre später geschriebenen ,,Auslegung des 101. Psalms" ( 1534/35 ) bekräftigt: ,,Darumb wer im weltlichen Regiment wil lernen und klug werden , der mag die Heidnischen
1 WA IV, Briefwechsel 5, S. 285. 2 Luther verwendet ,tabernaculum ' in der Bedeutung ‚Hütte , Zelt' , nicht, wie Ulrich von Pottenstein, als Benennung des zur Aufbewahrung des Kelchs und der Hostien dienenden sakralen Gehäuses. 3 Eine Handschrift ist allerdings , im Unterschied zu den ausgeführten Fabeln, nicht erhalten, und das Vorhandensein der Vorrede wird erst 1538 erwähnt. 4 ,,Von weltlicher Oberkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei“ . ( 1523 ) . WA I , 11 , S. 251. 5 Vorrede, a.a.O. , S. 82.
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VIII. Martin Luthers Coburger Aesop
bücher und schriften lesen. Die habens warlich gar schön und reichlich ausgestrichen und gemalet, beide mit sprüchen und bildern , mit leren und exempeln.“ Er nennt Homer, Vergil, Demosthenes , Cicero, Livius und fährt dann fort : „,Und ich wil ander bücher itzt schweigen, wie kündte man ein feiner buch inn weltlicher Heidnisscher weisheit machen, denn das gemeine, albere kinderbuch ist, so Esopus heisset?" Hauptzweck derVorrede ist eine Gebrauchsanweisung für das beabsichtigte Fabelbuch. An eine Verwendung in der Schule hat Luther nicht gedacht, dafür hätte es in lateinischer Sprache abgefaßt werden müssen . Diese Aufgabe überließ er den Humanisten' , im Rahmen der Lehrplangestaltung für die neuen öffentlichen Schulen der Reformation vor allem Melanchthon. Die didaktischen Ratschläge, die er am Schluß der Vorrede gab, betrafen dagegen die häusliche Erziehung der Kinder und des Gesindes in der Familie. Aus dieser Zweckbestimmung leitete er die Grundsätze seiner Neufassungen ab: ,,Allermeist umb der Jugend willen /das sie solche feine Lere und Warnung unter der lieblichen gestalt der Fabeln / gleich wie in einer Mummerey oder Spiel / deste lieber lerne / und fester behalte , habe er die Umarbeitung des ihm vorliegenden „, Deudschen Esopus " unternommen,,,damit es ein lustiger und lieblicher / doch erbarlicher und züchtiger und nützlicher Esopus werde" . Sein ,,leutern und fegen" sollte an erster Stelle ,,schendliche unzüchtige Bubenstück“ ausmerzen , die man in dies ,,hochberümbt Buch" hineingemischt habe, wobei er zwar keine Namen nennt, aber zweifellos Steinhöwels ,,Esopus“ und die diesem seit 1508 in deutscher Übersetzung angeschlossenen ,,Mythologi und Apologi“ Sebastian Brants meint , die beide neben Fabeln auch Facetien und Schwänke enthielten . Aus dem solchermaßen gereinigten Aesop des deutschen Frühhumanismus wollte Luther dann, im Gegensatz zu der Literarisierung bei Steinhöwel und Brant,,,umb gemeines Nutzes willen" ein Buch für Kinder, junge Leute und für jedermann machen, ihm so den Charakter zurückgeben , den es nach seiner Überzeugung einst durch die Art seiner Entstehung erhalten habe, nicht als Schöpfung eines einzelnen , sondern ,,durch viel weiser Leute zuthun /mit der zeit Stück nach Stück zuhauffen bracht / und endlich etwa durch einen Gelerten / in solche Ordnung gestelt"10. Wie dieses Buch im ganzen ausgefallen wäre, davon läßt sich anhand der allein ausgeführten dreizehn ersten Fabeln des Romuluscorpus kaum eine angemessene Vorstellung gewinnen . Moralistisch zu „,fegen" gab es hier noch nichts . Die gedrängte Sprachgestalt schafft zuweilen eher Unklarheiten , als daß sie der angestrebten Volkstümlichkeit entgegenkäme, und es ist sehr zweifelhaft, ob die angefangene Reinschrift bereits als endgültige Fassung bewertet werden darf. Die Kürze braucht nicht Stilprinzip zu sein, was stets als selbstverständlich unterstellt wird, sie läßt sich auch als Provisorium , als Umriß für einläßlicher Auszuführen-
6 WA 1,51 , S. 242f. 7 Abgesehen von einer allerdings nachdrücklichen , durch eine Tischredenaufzeichnung aus dem Jahr 1536 überlieferten ,,Commendatio Aesopi “ , dazu s. S. 66f. 8 a.a.O. , S. 85. 10 a.a.O. , S. 83. 9 a.a.O. , S. 86.
VIII. Martin Luthers Coburger Aesop
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des verstehen. Die Suche nach dem treffendsten Sprichwort für das Epimythion scheint durchaus noch nicht für jede Fabel abgeschlossen ; manchmal bezieht sich das fürs erste gewählte nur auf einen Teilaspekt. Die Anführung mehrerer Sprichwörter zu einer Fabel könnte zwar ein ,,Variantenangebot“ an den Rezipienten bezweckt haben , es ist aber für Luther als den Feind aller letztlichen Unverbindlichkeit weit wahrscheinlicher, daß ein vorläufiges Offenhalten der eigenen Wahlmöglichkeit die Ursache gewesen ist. Als hervorstechendste didaktische Eigenschaft der Fabel galt ihm das ,,betriegen zur Warheit“ . Der Fabeldichter tritt als „ Fastnachtputz“ auf¹² . Dem liegt die Erfahrung zu Grunde , daß ,,Mummerey" , Maskenspiel , Verstecken unter „,einer lüstigen lügenfarbe" Narrenfreiheit gewährt und ungestraft auszusprechen erlaubt, was ansonsten in privaten Verhältnissen unstatthaft, verletzend, Ärgernis erregend wäre, in der politischen Hierarchie, wenn von Abhängigen geäußert, Sanktionen zur Folge haben würde. Für Luther, der an der Existenz eines historisch beglaubigten Dichters Aesop zweifelte, bot diese psychologische Erkenntnis die Erklärung dafür, warum ein solcher Tölpel und Narr, wie ihn die ,,Legend Esopi“ schildert, als Erzähler der Fabeln erfunden werden mußte, wenn sie zur moralischen , sozialökonomischen und politischen Kritik geeignet sein sollten. Wahrheiten, die er von seinen Ministern niemals hinnehmen würde , läßt sich der tyrannischste Herrscher von seinem Hofnarren gefallen , wenn dieser sie witzig, in einen originellen , zum Lachen reizenden Einfall verbrämt, vorzubringen weiß. Niemand sieht sich gern von einem anderen durchschaut, die Wahrheit über sich selbst ist jedem ,,das unleidlichste ding auff erden“ , doch was er ,,nicht wil hören durch Menschen mund", nimmt er willig an, wenn es ,,durch der thier und Bestien mund" ausgesprochen wird . Der närrische Betrug, eine Art Eulenspiegelei, wird dabei nicht durch die Tiere ausgeübt, die ganz und gar ernsthaft handeln, sondern durch den Erzähler¹³ . Luther betont , daß solche Empfänglichkeit für Fabelwahrheiten bei „,grossen Fürsten und Herrn“ ebenso anzutreffen sei wie bei den Kindern. Das gleiche Verfahren, das ein Hausvater gegenüber Kindern , Weib, Gesinde und sich selbst anwendet, bewährt sich auch im öffentlichen Leben. Die Methode ist einfach, aber wirkungsvoll und nachhaltig im Erfolg: Es kommt darauf an, durch den Vortrag einer anzüglichen Fabel den jeweils Betroffenen zur Selbstidentifikation mit dem Tier, das ihn ,bedeutet , und dessen Handlungen zu zwingen. 11 Diesen Terminus verwendet Grubmüller zur Kennzeichnung der Aneinanderreihung verschiedenartiger, nicht selten einander widersprechender Erfahrungssätze und Verhaltensregeln im Epimythion, die dem Rezipienten die Auswahl der ihm am meisten einleuchtenden Maxime überläßt. Er tadelt dieses Verfahren besonders an Boner; im 16. Jahrhundert findet es sich in verwandter Weise wohl am auffälligsten bei Burkard Waldis. 12 Fastnachtputz = Fastnachtbutze, maskierter Narr zur Fastnacht. Vgl. Grimm, Dt . Wörterbuch III , Sp. 1356. 13 Das diesbezügliche Mißverständnis Doderers (Über das betriegen zur Warheit ' , s. Literaturhinweise zu Luther) hat R. van der Meulen (, Betriegen zur Warheit and the Fables of Erasmus Alberus, S. 5f. ) berichtigt.
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Was Luther in Bezug auf das Gesinde an den Fabeln ,,Vom Hunde im Wasser“ und ,,Vom Frosch und der Maus" exemplifiziert¹4 , wäre auf analoge Weise in Bezug auf das Rechtswesen möglich an der Fabel ,,Vom Hunde und Schaf 15 , in Bezug auf Fürstenwillkür an den beiden Versionen der Fabel vom Löwenanteil¹6 und an der Fabel ,,Vom Wolffund Lemlin"17. Die Fabel bekommt so, obgleich sie nur für die weltliche Ordnung Gültigkeit besitzt, einen weitgespannten Anwendungsbereich. Er umfaßt die ganze Vielfalt zwischenmenschlicher Beziehungen im privaten und öffentlichen Leben , Oeconomia und Politia, das Verhalten des einzelnen im Umkreis der eigenen Haushaltung wie gegenüber seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen in Arbeit und Beruf, im Stadt- und Landesregiment, schließlich auch die allgemeinen politischen, sozialen und kirchlichen Verhältnisse, die, in Fabeln dargestellt, von ihnen positiv bestätigt oder der Kritik unterworfen werden können.
2. ,,Aesopi commendatio“ Wenngleich Luther das begonnene Unternehmen bald hat liegen lassen und es in späteren Jahren trotz des Drängens seiner Freunde, insbesondere Melanchthons , nicht wieder aufgenommen hat, blieb ihm die Fabel ein wichtiges Erkenntnis- und Erziehungsmittel, ein stets griffbereites Demonstrationsobjekt. Wozu es ihm selber an Zeit gebrach , das hätte er gerne von einem anderen ausgeführt gesehen . In einer gesprächsweisen ,,Aesopi commendatio“ vom Herbst 1536, die seine in der Vorrede“ dargelegte Entstehungstheorie wiederholt, machte er den Vorschlag, anstelle der von ihm in der Reihenfolge seiner Steinhöwel- RomulusVorlage begonnenen Verdeutschung eine abstufende Gliederung nach der Tragweite der Aussagen und dem Grad der kunstgerechten Ausführung vorzunehmen. Anton Lauterbachs Aufzeichnungen berichten darüber: Aesopi fabulas vehementer laudabat: Dignas esse, ut transferrentur et in iustum ordinem et classes redigerentur; esse enim librum non ab uno homine compositum, sed a multis multorum saeculorum hominibus diligenter esse scriptum. Ideo valde utile esse, ut quis illum optime translatum iusto ordine statueret. Graves historias in primum librum , quae sententiosae sint et vetustate redolunt, utiles reipublicae, esse congregandas: Deinde concinniores in alterum librum, reliquae in tertium seponendae . 18 14 Am Schluß der Vorrede. Etliche Fabeln aus Esopo , V. Geitz; III. Untrew. 15 Ebd., IIII. Neid. 16 Ebd . , VI . Frevel. Gewalt u . VII ... . ,,auf ein ander Weise also gestellet“ . 17 Ebd . , II. Haß. 18 WA, Tischreden 3, Nr. 3490. Hierbei äußerte er sich auch über die Verwendung der Fabel im Unterricht. In Übereinstimmung mit den oben zitierten Schulordnungen stellte er die ,,Disticha Catonis“ und das aesopische Fabelcorpus nebeneinander. Sie sollen sich gegenseitig ergänzen: dort ,,verba et praecepta“, hier „ res et picturas“ : „ Et Dei providentia factum est, quod Catonis et Aesopi scripta in scholis permanserunt, nam uterque liber est gravissimus ... Summa, post biblia Catonis et Aesopi scripta me iudice sunt optima, meliora omnium philosophorum et iuradicentium lacera sententia.“ (ebd . ) .
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Dann trug er in deutsch-lateinischer Mischsprache, wie sie im Gespräch unter Theologen und auch in handschriftlichen, zu praktischem Gebrauch als Predigthilfen bestimmten Kommentaren üblich war, fünf ,,historias graves" vor, ihre jeweilige Verwendbarkeit als Exempel durch Vorgabe eines thematischen Titels und gelegentliche stichwortartige Erläuterung innerhalb des Textes markierend. Er begann mit der Fabel De lupo et ove, quae est egregia pictura violentiae tyrannorum. Der wolffe wold dem schefflein zu: Du hast mir das wasser getrubt ! Respondit: Trawen nein, stehestu doch uber mir. Simplicissime res ipsa se excusat. Du hast mir die weide fur dem walde abgehuttet ! Respondit: Hab ich doch keine zehene nicht, bin noch jungk. Tertio: Dein vater hot ein aldes mit mir! Respondit: Was magk ich des? Tandem lupus erumpit: Sei so klugk , als du wilst, dich zu entschuldigen, ich mus dennoch fressen . 19
3. Sekundärüberlieferung
Wer sich eine Vorstellung davon machen möchte, welches Aussehen eine eigene Fabelsammlung hätte gewinnen können, an deren Zusammenstellung nach dem Abschluß der Bearbeitung des Steinhöwelschen ,,Esopus“ Luther damals vielleicht gedacht hat20, ist ganz überwiegend auf Quellen aus zweiter Hand angewiesen, wie sie in den „ Tischreden“ genannten Gesprächen, die von Freunden, Schülern und Gästen Luthers aufgezeichnet wurden, und in den Zeugnissen der „ Luther-Historien“ des Joachimsthaler Predigers Johannes Mathesius vorliegen. Sie umfassen den Zeitraum von 1531 bis 1546, schließen also unmittelbar an die Coburger Zeit an. Wenn auch der so zu gewinnende Zuwachs an Lutherfabeln man kommt dann, zusammen mit den von Luther selbst in dem Coburger Bruchstück, in der „ Auslegung des 101. Psalms 21 und anderen Schriften22 literarisch fixierten Fassungen, insgesamt auf annähernd fünfzig23 - mancherlei
19 Die weiteren waren: 2. Aliud exemplum, de ingratitudine: De lupo et grue (Vom Wolf und Kranich) . – 3. Alia fabula, ubi ius et vis : De leonina societate . (Löwe, Wolf, Esel und Hund. Die Teilung der Beute in abweichender Version , worin der Esel der durch das Mißgeschick des Wolfs klüger gewordene ist ). - 4. Alia fabula: Non ubique omnia esse dicenda (Vom Fuchs in der Höhle des Löwen) . 5. Contra temeritatem ... Mercator quidam a venatore emit behrnheute (Von einem Jäger, der das Fell eines noch nicht erlegten Bären verkaufte und dafür gestraft wurde) . 20 Darauf scheint in der „ Vorrede“ der Satz hinzudeuten: „ Was sonst nutz und nicht schedliche Fabeln sind /wöllen wir mit der zeit auch / so Gott wil / leutern und fegen." (a.a.O. , S. 86). 21 Vom Affen, der einen Baum spalten wollte (WA I, 51 , S. 213 ) ; Vom Knecht mit den drei Amseln (ebd. , S. 223; Grimm, KHM 162 : Der kluge Knecht); Von den Bienen und Hummeln (ebd. , S. 228) . Chyträus 3. 13 , 14, 15 . 22 z. B. Von der Berge Geburt (WA I ,7 , S. 627f.; Vom Ochsen und sich aufblasenden Frosch (ebd. , S. 638) ; Vom Wolf und Kranich (WA I, 19 , S. 279). 23 Zu berücksichtigen wären auch Überlieferungen außerhalb der Tischreden, z . B. die Gelegenheitserfindung „ Klageschrift der Vögel gegen Wolfgang Sieberger" (in der vorliegenden Auswahl, Bd. I, S. 87f.); ferner Konzepte , z. B. "Von der Ameise und
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Fremdeinflüssen der sekundären Überlieferung ausgesetzt war, so wird der dadurch bedingte Verlust an Texttreue doch andererseits wettgemacht durch den Gewinn an Erkenntnissen über die kollektiven Lebensformen der Gattung im Reformationsjahrhundert. Die in den „ Tischreden“ aufbewahrten Fabelerzählungen und Fabellehren, auch die durch bloße Erwähnungen, Zitate und Anspielungen hervorgerufenen Assoziationen erhalten, meist als Antworten auf herausfordernde politische und soziale Mißstände der Zeit, dokumentarischen Wert für die sonst schwer zu greifenden mündlichen Einsatz- und Wirkungsformen der Fabel als Gebrauchsliteratur bei konkreten, personen- und ortsbezogenen Anlässen. Durch die Breite und Differenzierung dieser Sekundärüberlieferung gewinnt Luthers Anteil an der Geschichte der Fabel im 16. Jahrhundert einen akzentuierteren Stellenwert als ihn die dreizehn infolge ihrer späten Veröffentlichung erst in der zweiten Jahrhunderthälfte wirksam gewordenen antisteinhöwelschen Aesopbearbeitungen beanspruchen können . Die mündliche Verbreitung aesopischer und nichtaesopischer Fabeln war im 16. Jahrhundert außerordentlich groß; sie übertraf vermutlich ihre literarische Geltung erheblich. Das war schon in den vorangegangenen Jahrzehnten ähnlich gewesen und beruhte weitgehend auf spätmittelalterlicher Tradition, wie die reiche Nutzung dieses Gemeinbesitzes durch GEILER von Kaysersberg wohl am eindrucksvollsten bezeugt. Auch hatte die enge Verknüpfung von Fabel und Sprichwort, die wechselseitig aus Fabeln Sprichwörter hervorgehen und Sprichwörter zu Ausgangsmotiven für Fabeln werden ließ, hieran wirksamen Anteil . Oft genügten im Gespräch, namentlich im diplomatischen Umgang, Fabelanspielungen als Antwort auf heikle Fragen, um ohne direkte Stellungnahme des beabsichtigten Sinnverständnisses beim Fragesteller sicher sein zu können. So etwa zur Begründung politischen Mißtrauens: ,,Es mag wol ein Landfried angestellet sein / er ist aber noch nicht jederman verkündiget" (Fabel vom Fuchs und Hahn)24 . Oder zur Selbstrechtfertigung eines Fürsten gegenüber dem Vorwurf, daß er die Korruption an seinem Hofe dulde : ,,Wie sprach der Fuchs zum Igel? lasset mir die satten fliegen sitzen / kommen hungerige /die saugen unnd sauffen vil herter" (Fabel vom Fuchs und Igel) 25 . Oder wenn Luther den entrüsteten Bericht des Justus Jonas über einen nur materielle Güter anhäufenden Adligen aus der Umgebung des Kurfürsten mit der ironischen Frage kommentierte : ,,Warn auch kleien da?“ (Fabel vom Gastmahl des Löwen )26. Als Verhaltensmaxime Grille" in Aufzeichnungen zu einer Predigt über das Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen : „ Sic grill venit ad emsig: quid fecisti in aestate, quod non importasti? Ego cecini. Si hoc, tantz im winter fur den gesang im Somer. Sic nobis accidit ut stultis . Herr, vergeb sunde, hoc, illud faciam . Vade, ghe hin, kauf oel. Si prius in estate gesungen, tantz nu im winter, et weist ab mit spot." (Predigten 1536, Nr. 42. WAI ,41 , S. 706f. ); schließlich die Briefe , z. B. ,,Der Dohlen Reichstag" in zwei Briefen an Justus Jonas und Georg Spalatin (WA, Briefwechsel 5 , Nr. 1553 u. 1554). 24 Mathesius, Luther-Historien, Fabelpredigt, S. 204. Die zugehörige Fabel in der vorliegenden Auswahl, Bd . I , S. 153. 25 Mathesius, S. 205. Die zugehörige Fabel s. Bd. I, S. 152 . 26 Die zugehörige Fabel s . Bd. I , S. 86f.
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gegenüber den Drohungen und Lockungen des Papstes wurde häufig, u. a. von Friedrich dem Weisen, das Kaiser Rudolf I. zugeschriebene Wort zitiert, mit dem er sich der Kaiserkrönung in Rom entzogen habe : „ Es gehen viel Keysers farten auß Deutschem land gen Rom / unnd wenig wider herauß / Drumb grawet mir / sagt der Fuchs zum Löwen“ (Fabel vom Fuchs und dem kranken Löwen)27. Der situative Einsatz der Fabel erfolgte auch in der politischen Diskussion. Dort konnte sie als Sachargument so überzeugende Durchschlagskraft gewinnen , daß es zu einmütiger Beschlußfassung kam. So ist überliefert, daß Friedrich der Weise, zweifelnd, wie er sich gegenüber der päpstlichen Forderung nach Auslieferung Luthers verhalten solle, seine Räte zusammengerufen habe, unter denen sich offenbar Stimmen meldeten, die einer Erfüllung dieser Forderung das Wort redeten, weil sie sich davon eine dauernde Aussöhnung mit Rom erhofften . Einer der Räte habe indes diesen gefährlichen Irrtum widerlegt, indem er den ,,Apologus“ vortrug, da die wolffe mit den schaffen friede machten und begerten, die schaff solten den wolffen die hunt zu burgen geben, das si obsides hetten; da nuhn die schaff als alber thier die hunde, die ir were und schutz waren, weg gaben und so irer arma beraubt worden, do fielen die wolff uber sie und zerrissen sie: Also - hat er gesagt - mochte es uns auch gehen, wen wir den man auß dem lande geben; ob sie sich gleich itzt stellen, als wolten sie darnach unser besten freunde sein, so wurden sie unẞ uberziehen als ketzer, so konten wir unß nicht vortedigen. Drumb ist mein rath, man behalt den man, so kan er unẞ mit schriefften vertedigen , so werden sie unẞ auch wol zufrieden lassen28. Offenbar hat dieser Apologus den Ausschlag dafür gegeben, daß der Kurfürst das päpstliche Begehren zurückwies. Eine solche Funktion der Fabel als Entscheidungshilfe setzt voraus, daß bei den Beratungsteilnehmern das Rollenverständnis von vorneherein gegeben war: daß nämlich die Wölfe Papsttum und Papisten, die Schafe das eigene Volk, die Schutzhunde Luther , bedeuten sollten. Dieses Auslegungsmuster gewann offensichtlich allen um Verständigung zwischen den Konfessionen bemühten Vorschlägen gegenüber eine derart einprägsame Dominanz , daß es, solange die konfessionellen Kämpfe währten, zum Topos der Aufforderung an die Lutheraner für ein kompromiẞloses Verhalten bei Religionsgesprächen und Konzilien wurde. Auch Luther selber hat diesen Fabeltopos verwendet, um vor jeder Verhandlungsbereitschaft zu warnen: ,,Also werden sie hereingehen und werden mit unẞ freundlich handeln wie der wolff mit den schaffen: Vorn walde ist gutte weide ! Sed ego novi istam lycophiliam“29. Die in den ,,Tischreden“ und den ,,Luther-Historien“ überlieferten Fabelerzählungen, Fabelzitate und Fabelanspielungen bieten keinen durch den Reformator autorisierten Wortlaut, sie sind vielmehr durch Johannes Aurifaber, den ersten Herausgeber eines großen Teils der Gespräche, durch den Biographen Mathesius, mehr oder minder auch durch die nicht auf Literarisierung bedachten 27 Mathesius, S. 204. Die zugehörige Fabel s. Bd. I, S. 138. 28 Luther, WA, Tischreden 5 , Nr. 5375 c. Die Fabel ,,Von den Wölfen, Schafen und Hunden“ s. Bd. I , S. 27. 29 WA, Tischreden 4 , Nr. 5040. lycophilia : Wolfsfreundschaft.
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Verfasser protokollähnlicher Niederschriften gegenüber dem spontanen Vortrag verändert worden. Ihre textkritische Rekonstruktion erweist sich als unmöglich . Verschieden ist die Sorgfalt der Protokollanten, ist der zeitliche Abstand zwischen Gespräch und Aufzeichnung, die Unterscheidung von Wichtigem und Beiläufigem. Die Formen der sprachlichen Fixierung reichen vom Stenogramm bis zur abgerundeten Erzählung , das individuelle Medium der Aufnahme bestimmt die Wiedergabe teils ungewollt, teils , wie namentlich bei Aurifaber und Mathesius, mit bewußter Stilisierungsabsicht. Aurifaber harmonisiert und normalisiert, er gleicht sachliche Widersprüche aus und verschriftlicht die mündliche Diktion . Sein Verfahren zeigt sich deutlich an dem Unterschied zwischen der Druckfassung der Fabel ,,Vom Fuchs und Adler" in Aurifabers Ausgabe der ,,Tischreden oder Colloquia“ ( 1566)3º und der älteren Überlieferung in einer Leipziger Handschrift von 1540³¹ . Dort erzählt Luther nur den zweiten Teil der Fabel, den Altarraub des Adlers und dessen Bestrafung, wozu er sich durch ein zeitkritisches Gesprächsthema, die Selbstbereicherung des Adels aus enteigneten Kirchengütern, aktuell herausgefordert fand. Damit hat die Handschrift zweifellos die funktionsgebundene mündliche Fassung und Interpretation der Fabel durch Luther getreuer bewahrt. Denn nur der zweite Teil entspricht derAnwendungssituation . Demgegenüber hat Aurifaber sie wieder literarisiert, indem er sie von Luther vollständig und in chronologischem Handlungsablauf erzählen ließ, also zuerst die Freundschaftsfabel mit der Untat des Adlers an den Jungen des Fuchses ausführlich vortragend, was gänzlich ohne Situationsbezug bleibt und deshalb von Luther bei diesem Anlaß sicher unterlassen worden ist. Ergänzung, stoffliche Berichtigung, Glättung und Dämpfung auf Kosten der Unmittelbarkeit und des momentan-individuell Charakteristischen relativieren den Dokumentarwert der Aurifaberschen Sammlung in der Richtung eines erstarrenden Lutherbildes; er verfuhr ähnlich wie Eckermann bei der Redaktion seiner ,,Gespräche mit Goethe". In anderer Weise hat Johannes Mathesius von Luther erzählten oder als Beispiel herangezogenen Fabeln literarische Gestalt gegeben. Während seines
30 WA, Tischreden 4, Nr. 4978. Abdruck in der vorliegenden Auswahl , Bd . I, S. 85f. 31 Memorabilia dicta et facta Lutheri. WA, Tischreden 5 , Nr. 5375 u : Kloster guter. Man sagt recht: Pfaffen gut gedeiet nicht, den das hat man auß der erfarung, das die jenigen , die do geistliche guter haben zu sich gezogen, zuletzt gar verarmen und verderben , wie Burckhart Hunt, des churfursten zu Sachsen rat, pflegt zu sagen: Wir vom adel haben die kloster guter unter unser ritter guter gezogen; nuh haben die kloster guter die ritter guter fressen und verzeret, das wir weder kloster guter noch ritter guter mehr haben. Davon sagt Doctor Martinus eine hubsche fabel : Wie ein adeler seinen jungen nichts zu geben hatte, sach er, das man an einem orte opfferte, da flog er hin und nam flucks ein braten vom altar und brachte ihn den jungen inẞ nest, flog auch wider hinweg und wolt mehr holen. Es war aber an dem braten eine gluende kole behangen blieben, die selbige war ins nest gefallen und zunte das nest ahn. Do aber die jungen nicht fliehen konten, verbranten sie mit dem nest etc. Also gehts den auch, die sich an geistlichen gutern vorsehen und dieselbige zu sich reyssen, das sie darvon schlemen konnen, die doch zu Gottes ere gegeben seint. Drumb verlieren sie ire jungen und das nest, id est, alle ire guter und noch wol dartzu schaden an leib und seel.
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Aufenthaltes in Luthers Hause entstanden die umfangreichsten Aufzeichnungen aus näherem persönlichen Umgang, die wir besitzen. Er hat sie später als Materialien für seinen Predigtzyklus ,,Historien / Von des Ehrwirdigen in Gott Seligen thewren Manns Gottes / Doctoris Martini Luthers / anfang / lehr / leben und sterben“ ( 1562–1565) , die erste und über Jahrhunderte hinweg erfolgreichste Lutherbiographie ( 1566) , benutzt³2 . Die 7. Predigt, an einem Februarsonntag des Jahres 1563 gehalten , widmete er ganz der Arbeit Luthers an einem deutschen Aesop während des Aufenthaltes auf der Veste Coburg33 . Er griff dabei weit über die inzwischen bekannt gewordenen Luthertexte hinaus. Um zu erweisen , daß Fabeln ,,steck voller weißheyt, guter lehr unnd höflicher vermanung sein unnd wunder schöne bilder unnd contrafecturn haben de casibus mundi“ 34, gab er mit sichtlicher Kennerfreude eine Menge Proben, darunter auch wenig bekannte und sonst bei Luther nirgends belegte, von denen er aber ausdrücklich hervorhob, daß er ihre Kenntnis ihm verdanke, so die Fabel ,,Von den Affen, dem Glühwürmchen und der Krähe" aus dem ,,Buch der Beispiele der alten Weisen“ 35 und die „, Von der alten und der jungen Maus , der Katze und dem Hahn“ 36: Uber tische hab ich etliche gute fabeln unnd sprichwörter von ihm gehöret, Als von der Kro, so die Affen straffete, die auß eim Johans Würmlein fewer blasen wolten, und drüber iren kopff verlor. Also gehets, wenn man ander leuten, die kein verstand haben, einreden wil; Affen und Pfaffen lassen sich nicht straffen, wie ichs auß langer erfarung bin gewar worden. Item, da man eines erwenet, der sich sehr heuchlisch und glimpflich stellet, gedacht er diß schönen Sprichworts, so auß dem mehrlein von der alten Mauß und iren Töchterlein gesponnen ist, welche ein rauschenden Han und schleichende Katze sahen unnd sich uber den leysetritt hart verwunderten: ‚ Hüt dich ' , sagt die Muttermauß,,fürn schleichern , die rauscher thun dir lang nichts.37 Im Rahmen seiner „ Luther- Historien“ dienten Mathesius Fabelaufzeichnungen aus Tischgesprächen bevorzugt als ,biographische Einzelheiten zur lebendigen Schilderung des privaten Lebenskreises sowie zur Volkstümlichkeit anstrebenden Persönlichkeitscharakteristik . Ihre Aus- und Umgestaltung ist demzufolge weitgehend von den übergeordneten Intentionen des Biographen abhängig, die auf ein familiäres, seelsorgerisches, von warmherziger, dankbarer Bewunderung getragenes Lutherbild mit verhalten resignativen Zügen gerichtet sind . Hinzu kommt eine große Fabulierlust , die nur des äußeren Anstoßes bedarf, um Übernommenes
32 Vgl. Hans Volz: Die Lutherpredigten des Johannes Mathesius . Kritische Untersuchungen zur Geschichtsschreibung im Zeitalter der Reformation . Leipzig 1930 (Quellen u. Forschungen zur Reformationsgeschichte XII) , Nachdruck New York/ London 1971 . 33 Neudruck dieser Predigt in: Deutsche Kunstprosa der Lutherzeit. Hrsg . v. A. E. Berger, Leipzig 1942, S. 200-211 (Dt. Literatur ... in Entwicklungsreihen . Reihe: Reformation, Bd. 7). 34 Ebd. , S. 201. 35 Abdruck in der vorliegenden Auswahl , Bd. I , S. 10. 36 Abdruck der Fassung Johann Fischarts in der vorliegenden Auswahl , Bd. I , S. 185ff. 37 Mathesius, S. 203.
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selbständig weiter auszuspinnen, so daß es fast unmöglich ist, vermeintlich getreu Nacherzähltes von Hinzuerfundenem zu trennen. So hatte er als Luthers Hausgenosse 1540 aufgezeichnet: ,,Fabula de cancro et serpente . Serpens typus mendacii, nam semper tortuosus est, sive eat sive cubat, sed mortuus est rectus. Quare cancer pugnans cum serpente, cum rectum videret: Si sic ires, etiam cum vivis, tum ferri poteras ; sed quod gyros et volumina semper etc."38 Hier bricht die Aufzeichnung ab, es handelt sich also um eine bloße Gedächtnisnotiz zur späteren Ausführung, aus der, da zudem noch der Anlaß unerwähnt bleibt , nicht zu entnehmen ist, was Luther wirklich vorgetragen hat. In den ,,Luther-Historien“ ist daraus nun eine voll entwickelte Fabel geworden, die Luther für seinen Sohn Hans aufgeschrieben haben soll, damit dieser sie ins Lateinische übersetze39. Ob Anlaß, Erzählung und die abschließende Auslegung als Lebenserfahrung inhaltsgetreu wiedergegeben oder Erfindung des Mathesius sind, läßt sich nicht entscheiden . Letzteres glaubte Chyträus, als er die Fabel in seine Anthologie aufnahm und Mathesius als ihren Verfasser nannte¹º. Sie ist im Kern aesopisch und als solche wohl in einer Kurzfassung von Luther vorgegeben worden¹¹ , ihre Ausgestaltung und Einkleidung in einen Hausunterricht des Reformators aber sowie das zwischen Erzählung und Lehre im eigenen Namen eingeschaltete Klage- Epimythion des Predigers weisen sie als bereits rezeptionsgeschichtliches Zeugnis einer nicht überlieferten aesopischen Lutherfabel aus +2. Ebensowenig läßt sich eindeutig sagen, welche der zwei Luther zugeschriebenen Auslegungen der Fabel ,,Von der Henne (Gans) , die goldene Eier legte" authentisch ist, oder ob es vielleicht beide sind. Gemeinsam ist ihnen jedenfalls die sozialkritische Funktion . In der von Mathesius gebotenen Version hat Luther das Exemplarische dieser Fabel an zeitgenössischen Vorgängen im Bergwesen erläutert. Das kann ein praktisch -theologischer Kunstgriff des Mathesius sein, der seiner bergmännischen Zuhörerschaft die Evidenz der Fabel innerhalb ihres nächsten Joachimsthaler Erfahrungsbereichs vor Augen führen wollte. Es braucht sich aber nicht so zu verhalten, denn Luther war selber ein Bergmannssohn , und er hatte den wirtschaftlichen Aufstieg seines Vaters miterlebt. Mathesius berichtet: Auffein zeyt kaufft ein Bergherr frembde gewercken auß unnd wolte den genieß gar allein haben. Wie solchs uber tisch gedacht wird, spricht der Herr Doctor: Eben so thet jener Baur im Esopo auch, dem leget ein Ganß alle quartal ein gülden ey; da in aber der geytz bestund, schurfft er die Ganß auff, da schnidt sich das Ertz mit abe. Also 38 Fabel vom Krebs und der Schlange. Die Schlange Bild der Lüge, denn sie ist immer voll Krümmungen, ob sie geht oder ruht, nur tot ist sie gerade. Daher sagte der mit der Schlange kämpfende Krebs, als er sie ausgestreckt sah: Wenn du so gegangen wärest, als du noch lebtest, dann hättest du ertragen werden können , aber weil du immer in Kreisen und Windungen ... (WA, Tischreden 4, Nr. 4890) . 39 a.a.O. , S. 203 , 207. Abdruck in der vorliegenden Auswahl, Bd . I , S. 84f. 40 Nathan Chyträus: Hundert Fabeln aus Esopo / etliche von D. Martin Luther und herren Mathesio / etliche von andern verdeudschet. Rostock 1571 , Nr. XV. 41 Perry 196, Halm 346. 42 Abdruck in der vorliegenden Auswahl , Bd. I , S. 84f.
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gehets, wenn man sich nicht will an den gfellen genügen lassen, so Gott ordentlich 43 bescheret, und wenn der Jeger den Hunden und Sperbern ir jeger recht versaget. Luther hätte demnach einen konkreten Fall zum Anlaß genommen, um mittels dieser Fabel eindeutig wirtschafts- und sozialpolitisch Stellung zu beziehen: gegen frühkapitalistische Monopolisierungsversuche und die mit ihnen verbundenen Begleiterscheinungen der Ausbeutung fremder Arbeitskraft, für eine gerechte Gewinnbeteiligung der Arbeitnehmer. In der 1540 von einem anderen Tischgast aufgezeichneten Version wird stattdessen die Exegese eines alttestamentlichen Textes ( 1. Mos . 26,12ff. ) auf den Gegensatz zwischen adeligen Großgrundbesitzern und Kleinbauern hingeführt, die Praxis des Bauernlegens aufs schärfste verurteilt und den neuen „ Centauri“ verheißen, daß sie von Gott Verworfene (,,maledicti a Deo") sein werden, während der Segen Gottes (,,benedictio Dei“) , wie das alttestamentliche Beispiel lehrt, bei den von ihrem Acker Vertriebenen sein wird44. Wenn dies Luthers Worte sind, zeigen sie einen erstaunlichen sozialen Gesinnungswandel seiner Spätzeit an, dann wären sie ein Stück Wiedergutmachung des von ihm an den Bauern begangenen Unrechts.
43 a.a.O., S. 205. 44 WA, Tischreden 5, Nr. 5375v. Abdruck in der vorliegenden Auswahl , Bd. I , S. 86.
IX . Die protestantische Versfabel
So sehr die deutschsprachige Fabeldichtung , die in den nächsten Jahrzehnten eine Blütezeit erlebte wie danach nur noch einmal in der Aufklärung , ihrem Gehalt nach lutherisch war, so gänzlich andere Wege ist sie in formaler Hinsicht gegangen. Da Luthers Fabeln vorerst ungedruckt blieben und zu seinen Lebzeiten nur dem engeren Wittenberger Kreis bekannt wurden, konnten sie schon aus diesem äußeren Grunde keinen stilbildenden Einfluß ausüben. Aber auch Steinhöwels Sammlung, die sich über das ganze Jahrhundert hinweg in Neuauflagen behauptete , diente den Dichtern zwar als Stoffquelle , nicht aber als zur Nachahmung herausforderndes Vorbild der Formgebung. An die Stelle der Reduzierung aufdie Gebrauchsfunktion bei Luther, der philologischen und ästhetischen Absichten einer Wiederherstellung des antiken Überlieferungsgutes bei den lateinischen Humanisten und der bewußten Beschränkung auf ein Übersetzungswerk bei Steinhöwel trat bei ERASMUS ALberus , Burkard Waldis und HANS SACHS die Lust an der eigenen poetischen Schöpfung, die vor allem zu erzählerischer Ausgestaltung lockte. Alle drei haben ausschließlich Versfabeln geschrieben, den behaglichen Vortrag und das Verweilen beim Detail geliebt, haben die griechischen und römischen „,fabellae“ ohne weiteres in die eigene Zeit und Umwelt versetzt , Lehren aus ihnen gezogen, deren Beherzigung sich als nutzbringend im täglichen Leben erweisen sollte . Alberus und Waldis bedienten sich nur des vierhebigen, silbenzählenden , paarweise reimenden Versmaßes , Sachs daneben auch strophischer ,,Töne" des Meistersangs . Dieser Typus der bürgerlich-protestantischen Versfabel , für den Fülle und Sorglosigkeit der Produktion kennzeichnend sind, trat nicht eigentlich als etwas Neuartiges auf, eher als eine willkommene Erweiterung des Themenbereichs innerhalb der Gattung des erzählenden Spruchgedichts . Auch zur deutschen Fabeldichtung des Mittelalters, zu Boners ,,Edelstein“ und Hugo von Trimbergs ,,Renner“ bestanden Rückverbindungen . Viel anregenden Reiz besaß für diese Fabeldichter das Tierepos , dem sie sich in ihrer Auffassungsweise und ihrer Erzählfreudigkeit mit wachsender Vorliebe, unbekümmert um Gattungsspezifika, annäherten. So bekannte ERASMUS ALBERUS ( 1500–1553 ) : ,,Aber under allen [ die ,,durch Reimen gute lere“ gegeben haben ] hab ich nie kein feiner noch meisterlicher Gedicht gelesen, als das Buch von Reinicken , welchs ich nicht geringer achte , dann alle Comedien der Alten. Desselben buchs meister" war ein hoch verstendiger weiser man, ein ehr aller Sachssen , der hat wol verstanden, was Aula und Welt heißt“ . Widmungsvorrede an seinen Freund Johann Dreudsch, Landschreiber zu Siegen. In : Die Fabeln des Erasmus Alberus (s . Bd. I , S. 91ff. ) , S. 4. - Aula: Hofleben.
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1 . ,,Das Buch von der Tugend und Weisheit" des Erasmus Alberus Dies Lob des ,,Reynke de vos“ steht in der Vorrede zum ,,Buch von der Tugent und Weißheit", wie Alberus 1550 die zweite Sammlung seiner Versfabeln benannt hat. Weisheit ist in diesem Titel gleichbedeutend mit Weltklugheit, da der unbekannte Verfasser des ,,Reynke de vos“ von Alberus „ ein hoch verstendiger weiser man“ genannt wird. Luther hatte ja auch von den alten Redaktoren des ,,Esopus“ als von ,,hochweisen leuten" gesprochen. Was aber meint hier Tugent"? Nachdem Alberus betont hat, daß auch der Teufel über Fabeln verfüge – nämlich über ,,der Stationierer und Mönche lügen im Bapstumb“ , über Koran und Talmud – und sie zu gebrauchen wisse, damit ,,sie des Teuffels Reich mehren, unnd die Leute von Gott und der warheit führen“ , setzt er dem entgegen: ,,Aber unsere Fabeln dienen dem, der sie gegeben hat, und preisen sein lob und ehr, leren tugend und gute sitten, und bringen grossen nutzen ."2 Er weist auf Jothams Fabel von der Königswahl der Bäume im Buch der Richter (9,7–15) hin, auf frühchristliche , noch nicht durch mönchischen und papistischen Mißbrauch entstellte Legenden. Einen Literalsinn kann der protestantische Pfarrer diesen selbstverständlich nicht zuerkennen, denn sie sind ,,Fabeln ... vor zeiten für die einfeltigen Christen gedicht", doch deutet er sie ohne jeglichen Vorbehalt spirituell: Tundalus ,,,der mit einer schweren bürden auff eim schmalen Wege gehet, bedeut das arm gewissen mit sünden beschwert" ; St. Georg, der Drachentöter und Erretter der Königstochter,,,bedeut das Christus den Satan uberwindt, und erlöst die arme sele"; St. Christophorus, der den Christusknaben auf seiner Schulter zum anderen Ufer trägt,,,bedeut, das ein Christen durch viel trübsal in Gottes Reich kumpt“ . Als Spiritualsinn der Katharinenlegende will Alberus gar Luthers Lehre vom Glauben an Christus erkennen ,,,welcher der sieg ist, der die welt uberwindt“, wie Katharina ,,die hochgelerte Doctores uberwindt“ , durch den ,,die hertzen gereiniget“ werden, wie es der Name der Heiligen bezeugt.3 Diese Anknüpfungen an biblische und legendäre , Erfindungen ermöglichen dem ansonsten strengen Lutheraner eine theologische Fabeldefinition, indem für ihn ,,die Fabeln nichts anders sind , dann liebliche Gleichnissen , und eben dasselb außrichten, das die Gleichnissen thun"4. Sich selber einbeziehend, sagt er, man müsse ,,des menschen verderbten natur und unverstand ... uns arme groben, halẞstarrige Leut ... mit den holdseligen Fabeln , Bildern , und Gleichnissen helfen ... Sie sind wie ein liecht an eim dunckeln ort ... unser lieber Herr Christus (der die ewige weißheit Gottes ist) hat selbst sein heiliges Evangelium durch Gleich2 a.a.O. , S. 2f. 3 a.a.O. , S. 3. Auch den heidnischen Orpheusmythos zieht Alberus an dieser Stelle heran , allerdings nur das Motiv von der Macht seiner Musik über die Bäume und Felsen. Er legt es gleichfalls allegorisch aus , aber keineswegs spirituell , sondern wenig überzeugend als Exempel für überlegenes Reagieren des Herrschers auf unrechtmäßiges Verhalten von Untergebenen, gemäß dem Kaiser Sigismund zugeschriebenen Ausspruch: ,,Imperare nescit, qui nescit dissimulare. Der kan nicht wol regieren , der nicht auch ubersehen kan". ¹a.a.O. , S. 2.
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nissen gelert" . Dem Sinn nach übereinstimmend , nur noch etwas vorsichtiger formuliert, hat Alberus schon 1534 sein erstes Fabelbüchlein ,,Etliche fabel Esopi verteutscht unnd ynn Rheymen bracht“ so gerechtfertigt, dabei jedoch den Unterschied zwischen Fabeln und Gleichnissen in ihrer Vortragsweise hervorgehoben: ,,Wie die gleichnissen und parabole einen großen verstandt und liecht geben, also das kein besser weiß zu leren ist, dann durch parabolas , und Christus unser herr selbst lust gehabt durch gleichnissen sein Evangelium zu leren , also sind die Fabulae den gleichnissen nit ser unehnlich on daß die parabole ernsthafftiger sind, die fabulae aber leren gute sitten und tugende schimpffs weiß und lachends munds“ . Nimmt man diese Äußerungen beim Wort, so besagen sie nichts Geringeres, als daß den Fabeln seelsorgerische Funktion zugesprochen wird, daß der Fabeldichter als Lehrender dem Vorbild Christi folgt, und daß jener Leitbegriff ,,Tugent" im Titel des Buchs Frömmigkeit beinhalten müßte'. Wer nach dem Willen des Dichters mit solchem ,Vorurteil ausgerüstet dessen Fabeln liest, wird allerdings manchmal Mühe haben , Theorie und dichterische Praxis miteinander in Einklang zu bringen . Denn in beiden Vorreden versucht ein Prediger, sein Unternehmen theologisch zu begründen, in den versifizierten aesopischen Fabeln dagegen überläßt sich ein erzählfreudiger Poet den Vorgaben seiner Stoffe und den Einfällen , die diese in ihm auslösen . Als Quelle hat Alberus vornehmlich den ,,Aesopus Dorpii" herangezogen, in der Ausführung sich jedoch weit von diesem entfernt. Für spätere Stücke trat wiederholt Camerarius an dessen Stelle. Angefangen , Fabeln zu dichten , hat Alberus als Lehrer in Oberursel, die meisten entstanden wohl in den dreißiger Jahren, während er Pfarrer in Sprendlingen war, der Rest in der Wetterau vor Beginn des Schmalkaldischen Krieges. Viele von ihnen siedelte er in der Gegend an, wo er sich gerade befand; alle hat er, zumindest im Epimythion , auf die eine oder andere Weise mit Zeitfragen oder auch Zeitereignissen in Verbindung gebracht. Die Fabeleingänge , zunächst nur Hinführung zur ortsgebundenen Handlung, verselbständigten sich in wachsendem Maße, gerieten zu Landschaftsbeschreibungen, die Geographisches , Botanisches, Zoologisches, Volkskundliches und Historisches einbezogen und durch Wissensvermittlung nicht weniger Nutzen als die moralischen Lehren stiften sollten. In der Handlungsführung gab Alberus auch der erfindenden Phantasie Raum , an die Stelle der knappen, pointierten Wechselrede traten bei ihm das wortreiche Gespräch, das einen der Partner bereits zum Sprachrohr der Lehre machen konnte, der reflektierende Monolog und die Selbsteinmischung des Erzählers . Aus der großen Zahl lateinischer Fabeln seiner Hauptquelle wählte Alberus vornehmlich solche, die seiner Lust an der Ausgestaltung schon von ihrer Anlage 5 a.a.O., S. 2. 6 Widmungsvorrede an seinen Freund aus der Lehrerzeit in Oberursel Johannes Chun, damals gleichfalls Lehrer in Usingen; a.a.O. , S. IX. 7 Man könnte auf die Vermutung geraten, es sei kein bloßer Zufall, daß die Sammlung gerade 49 Fabeln enthält, Alberus habe vielmehr mit dieser Anzahl als der Summe von 7 x 7 einen zahlensymbolischen Hinweis geben wollen; eine solche Annahme bliebe jedoch rein hypothetisch.
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her entgegenkamen: so die von Dorpius aus den „ Noctes Atticae" des Aulus Gellius übernommene Fabel von der Haubenlerche, ferner die von Horaz bereits in Versen vorgetragene von der Stadtmaus und Feldmaus, auch von mittelalterlichen Versdichtern bevorzugte wie den ,,Esel in der Löwenhaut“ oder die „,Tierbeichte"8. Beim ,,Vöglin Cassita“ nutzte Alberus die Aussendung des Sohnes zu Freunden und Verwandten für mit humoristischen Zügen ausgestattete Schilderungen bäuerlichen Milieus . Dadurch, daß er die jeweilige Aufnahme des Hilfe bei der Ernte erbittenden Sohnes zu drei selbständigen Szenen ausgestaltete, boten sich ihm weitere Entfaltungsmöglichkeiten für den Dialog in der ohnehin schon durch die Gespräche zwischen Vater und Sohn , der Cassita und ihren Jungen zu einem großen Teil dialogisierten Erzählung . Seine Neigung zum Familiären , die Alberus auch als Kirchenliederdichter bevorzugt Kinderlieder schreiben ließ , konnte sich in der Fürsorglichkeit der Vogelmutter und der gelehrigen Folgsamkeit der Vogelkinder Genüge tun , und die Lehre - einerseits ,,Cura parentum erga prolem", andererseits ,,Oboedientia et prudentia" - ergab sich auf so natürliche Weise aus den Gesprächen, daß es eines nachfolgenden ,,Morale" gar nicht mehr eigens bedurfte: ,,Das Vöglin Cassita fürwar / Zeigt dirs Morale selber klar / Vom selben lern, so wirstu klug“, weist der Erzähler abschließend den Leser an. Zum bäuerlichen tritt der städtische Lebenskreis in der Fabel „ Von einer Stadtmauß und Feldtmauß“ . Hier verfährt Alberus in der Episierungstechnik mit kluger Ökonomie, indem er die Möglichkeiten der Detailschilderung nicht schon bei der Ankunft in der Behausung der Stadtmaus verbraucht, sondern sie aufspart für deren vergebliche Bemühungen, den Gast nach überstandener Gefahr wieder zu ermuntern. An die Stelle aufzählender Beschreibung des Lokalkolorits tritt dadurch ganz ins Szenische aufgelöste Aktion . Alberus nutzt die Situation zu einem Genrebild vom geselligen Leben des Volkslieds in seiner Zeit. Die Stadtmaus verfügt über ein reiches Repertoire: Es umfaßt die historisch- politische Volksballade (,,Bentzenawer" ) , das Liebeslied (,,Schön Elselein") , dialogische Wettstreitlieder (,,Vom Buchsbaum und vom Felbinger" ,,,Vom Wasser und vom Wein"), Scherz- und Trinklieder, polemische Spottlieder?. Auch hier wird die Erfahrungslehre schon im Dialog ausgesprochen; der Dichter teilt die Ansicht der Feldmaus: ,,Die köstlich speiß, als michs ansicht / Die ist mit Honig zugericht / Und inwendig doch voller Galln“ . Was diese Fabel erzieherisch ausrichten soll , ist gleich zum Eingang in einer als Promythion fungierenden moraltheologischen
Fab. 11 : Von einem Löwen, Wolff und Esel, Ed. Braune, S. 47ff. B u . V: s. S. 247 (zu Bebel). 9 ,,Bocks Emser lieber Domine“ , „ Cocleus von Wendelsteyn“, vielleicht von Alberus selber in Volksliedstrophen gedichtet. Eine gesicherte Überlieferung gibt es jedoch hierüber nicht. Vgl . Goedeke 2II , S. 440; Braune, S. LIX u . LXXII .
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Marginalie vorformuliert, die sich gegen das Verhalten der Stadtmaus richtet: ,,Contra fastum, avaritiam et ambitionem"10. Das Morale möchte sowohl den Armen wie den Reichen positiven Rat erteilen und erfüllt also hier als Verhaltensanweisung eine doppelte Aufgabe . Es heißt einerseits : ,,Schlecht leut haben die besten tag" ; könnte das der Bauer erkennen,,,möcht man ihn wol selig nennen“12. Andererseits ist es auch möglich, – und hier spricht in einem ,,Excursus Evangelicus" der Seelsorger - als Reicher ein Gott wohlgefälliges Leben zu führen: Sein hertz soll nicht am reichthumb kleben , Sonder gern armen leuten geben, So braucht er seiner güter recht, Und ist Gotts, nicht des Mammons knecht¹³. Solche Mahnungen zu christlicher Lebensführung , meist unter Hinweis auf die Vorbildlichkeit Christi, stehen bei Alberus häufig neben den weltlichen Lehren und geben den Epimythien, anders als bei Luther, nach wie vor die doppelte Funktion weltlicher und geistlicher Unterweisung, ohne daß Alberus noch ausdrücklich die Unterscheidung von ,,Moraliter" und ,,Allegorice" trifft. Nachdem er in der „ Tierbeichte" unter Hinweis auf Sirach 13 und das gleiche Juvenalzitat, das schon von Bebel herangezogen wurde¹4, sein „ Morale“ gegen die gewalttätigen Rechtsmißbräuche der großen Herren gerichtet hat, schließt er gleichwohl die Aufforderung an, sich nicht gegen solche Herren zu empören, sondern das Unrecht zu ertragen, wie es Christus getan hat¹5 . Den Erzählteil ,,Von eim Wolffund Lamb" beschließt er mit dem Zusatz : ,,Das Lamb den todt leidt mit gedult 16. In der Fabel vom Krieg zwischen den Vögeln und den Landtieren wird die Fledermaus, die je nach der Wendung des Schlachtenglücks die Parteien wechselt, zur Significatio jener Wankelmütigen, Die theten, als wer niemandt mehr, Der Christum liebet also sehr, Darnach Mammon sie anders lert, Wann sie abfieln, sie wern ernert, Das sind die Fleddermäuß fürwar, Die Christum han verleugnet gar, Drumb werden sie zuschanden werden , Was nicht geschicht auff dieser erden, So wirdts doch am jüngsten gericht Geschehn für Gottes angesicht.'7 10 11 12 13
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Gegen Stolz (Hochmut), Geiz (Habsucht) und Ehrgeiz (Liebedienerei). v. 124. - schlecht leut: einfache, wenig besitzende Menschen. v. 128. v. 133ff. s. Bd. I , S. 242ff. u . Bd . II, S. 247. Das Morale schließt mit der Zusicherung: „ Das wirdt gerewen nimmer dich / Und wirst Gotts Kindt sein ewiglich". Fab. 6, a.a.O. , S. 32 , v. 72. Fab. 34, a.a.O. , S. 152f. , v. 227ff. - ernert: gerettet.
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Unter Berufung auf Worte des Apostels Paulus in den beiden Timotheusbriefen macht Alberus diese Fabel zuletzt in rein spirituellem Verständnis zum Exempel der dem Menschen überlassenen Entscheidung für oder gegen Christus und damit zur ewigen Seligkeit oder Verdammnis: Wann wir mit Christo leiden fahr, So wirdt uns auch der Vatter geben, Durch Jhesum Christ das ewig leben. Verleugnen wir den frommen Christ, Der doch für uns gestorben ist, So werden wir in Gottes zorn Sterben, und ewig sein verlorn.18 Alberus war ein streitbarer Lutheraner. Gegen alle , die von der reinen Lehre abwichen, verfaßte er Kampf- und Schmähschriften, gegen Karlstadt und die Bilderstürmer (,,Widder die verfluchte lere der Carlstader" ), gegen Täufer, Schwärmer und Zwinglianer, gegen Georg Witzel und Andreas Osiander, die Interimisten und die Franziskaner (,,Der Barfuser Münche Eulenspiegel und Alcoran“ ) . Bei seinen Fabeln hielt er sich in dieser Hinsicht ziemlich zurück. Viele blieben ganz frei von konfessioneller Streitsucht , in anderen begnügte er sich mit gelegentlichen Seitenhieben . So bilden die Fabel ,, Von der Berge geburt“, die durch das Mißverhältnis zwischen Aufwand und Ergebnis die Schwärmer bloßzustellen sucht , und die antirömische Satire ,,Vom Bapstesel“ beinahe Ausnahmen. Während die erste bei dem Minimum an Handlung , das die Quelle bot, bewußt verbleibt und ihre Wirkung durch Häufung und Übertreibung zu erzielen sucht, drängt die andere ganz im Gegensatz dazu die im Zeichen der wachsenden Macht des päpstlichen Antichrist stehende Weltgeschichte von mehr als neunhundert Jahren (seit Gregor I. ) in den Rahmen der seit dem Altertum beliebten Posse vom Esel in der Löwenhaut zusammen. Das Nominalkompositum Papstesel", eine Wortschöpfung Luthers oder Melanchthons , in antipäpstlichen Schriften seither von Luther mit Vorliebe verwendet, hat neben Luthers Fabel ,,Vom Lawen und Esel“ , die ja von Alberus in Versen nachgedichtet wurde , zweifellos die Anregung gegeben. Die hierdurch immerhin nahegelegte Verbindung mit der Fabel vom Esel in der Löwenhaut darf wohl als schöpferischer Einfall des Alberus gelten. Sie war in der Tat wie prädestiniert zur metaphorischen Verhöhnung eines Papstes vom Schlage Leos X. und seinesgleichen, ebenso zur Persiflage der Entstehung des Papsttums , seiner angemaßten Autorität und seiner Demaskierung durch Luther. Geschickt hat Alberus hier die von ihm bei der Episierung der Gattung eingebrachten Stilmittel gehandhabt, den selbstverständlich dem Esel zugeteilten reflektierenden Monolog, durch den dieser sich selbst in all seiner Dummheit und seinem Größenwahn charakterisiert, die Hyperbel in der Form der sich überstürzenden Skala immer
18 a.a.O. , S. 153 , v. 242ff. Vgl. 1. Tim . 4,8-10 ; 2. Tim. 1,8–10; 2,11f.; 3,12ff. 19 Fab. 16, a.a.O. , S. 67ff. - ,,Wann sie die leut han wol verfurt / So find sich dann die Meuß gepurt." (S. 71 , v. 133f.)
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größerer Amtsbefugnisse des Esels, vom Schultheissen bis zum Papst aufsteigend, vor dem der Kaiser auf die Knie fallen muß, die hiermit erreichte Steigerung des komisch Grotesken ins Phantastische, schließlich die gezielte Zerstörung der Fiktionalität durch Einmischung des Erzählers. Indem dieser bereits innerhalb der Handlung den ganzen Katalog der protestantischen Gravamina gegen Papst und Kirche vor dem Leser entrollt und Luther als den Entlarver des Esels auftreten läßt, wird aus dem Fabulierten historische und gegenwärtige Wirklichkeit. Für das Morale bleibt nur noch die Anführung biblischer und zeitgenössischer Parallelen zur Eselstat und ihrem Ausgang übrig. In privater Hinwendung zu seinem Sohn fordert der Autor diesen auf, der Fabel für die eigene Lebensführung die Lehre zu entnehmen , daß man sich nie für etwas anderes ausgeben soll, als was man ist.
2. Der ,,ganz neu gemachte Esopus" des Burkard Waldis in vier Büchern
Mit viermal hundert Fabeln in vier Büchern hat BURKARD WALDIS (um 1490-1556/57 ) den umfangreichsten volkssprachlichen „ Esopus“ ( 1548) geschaffen. Die Entstehung zog sich über Jahrzehnte hin, und dies bewirkte, daß mancherlei aus den Lebensschicksalen des Dichters, mehr noch von den durch sie gewonnenen Einsichten in diese Nachdichtungen eingegangen ist. Begonnen hat Waldis mit seinen Fabeln um 1527 , nachdem er zum evangelischen Glauben übergetreten war und sich in Riga eine bürgerliche Existenz als Zinngießer gegründet hatte. Schon zu diesem Zeitpunkt besaß er mehr Weltkenntnis , als Alberus und Hans Sachs sich in ihrem ganzen Leben erwerben konnten . Er hatte als Ordensbruder der franziskanischen Minoriten in der Umgebung des Erzbischofs von Riga gelebt, war von diesem zum Statthalter des Kaisers und an die Kurie entsandt worden, um Maßnahmen gegen die sich in Livland ausbreitende Reformation zu erwirken , hatte erfolgreich verhandelt und war bei der Rückkehr aus diesem Grunde durch den protestantischen Rat der Stadt verhaftet worden. Doch die Summe seiner auf dieser diplomatischen Reise gesammelten Erfahrungen lautete schon damals: ,,Je näher Rom / je böser Christ“ 20. Hieraus zog er die persönliche Konsequenz , indem er den Orden verließ und sich zu der neuen Lehre bekannte . Es steht außer Zweifel , daß er diesen Schritt nicht, um sich die Freilassung zu erkaufen, sondern aus religiöser Überzeugung vollzog . Das hat er zwiefach unter Beweis gestellt, einmal durch seine Dramatisierung des Gleichnisses vom verlorenen Sohn , die er als Lehrstück des lutherischen Glaubenssatzes von der Rechtfertigung
Uth rechter gnad und ydel gunst / On all unẞe todont, werck und kunst
20 So formuliert erst im „ Esopus“ IV, 16.
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1527 in Riga mit Schülern und Bürgern der Stadt zur Aufführung brachte²¹ , sodann durch die Standhaftigkeit, mit der er die Folterungen während einer vierjährigen Gefangenschaft ertrug, nachdem er 1536 auf einer Handelsreise in die Gewalt des Deutschordensmeisters geraten war. Die Nachdichtung des Psalters in deutschen Reimpaarversen gab ihm während dieser Jahre die Kraft zum Ausharren. Dagegen nahm er die unterbrochene Fabeldichtung erst wieder auf, als er, unverhofft befreit, sich zum zweiten Male neu in der bürgerlichen Welt zurechtzufinden hatte. Der Fünfzigjährige wurde Student der Theologie in Wittenberg. Was er als Zinngießer begonnen , brachte er als Pfarrer in Abterode zum Abschluß. ,,Tria tabernacula“, gleich denen , die Luther 1530 auf seinem Coburger „ Sion“ errichten wollte, machen sein eigentliches literarisches Lebenswerk aus: ein deutsches Bibeldrama, ein deutscher Psalter und ein deutscher Esop. Mit Recht konnte der Titel behaupten, dieser ,,Esopus" sei gantz New gemacht“ . Denn außer der genau eingehaltenen Reihenfolge läßt nichts mehr die von ihm benutzte Textvorlage erkennen. Waldis hatte sich offenbar vorgenommen, den ganzen „ Aesopus Dorpii“ Stück für Stück, eins nach dem andern mit handwerkerlichem Ehrgeiz in deutsche Verse umzugießen. Es zeugt für die weite Verbreitung und das hohe Ansehen der Dorpiusschen Sammlung , daß man in Riga die lateinische Anthologie des Löwener Humanismus schlechthin mit Aesop gleichsetzte. Für Waldis verstand sich dies anscheinend von selbst, während es dem ,,Esopus" südwestdeutscher Herkunft, dem Übersetzungswerk Steinhöwels , nicht gelungen war, nach dem Norden und Osten des deutschen Sprachgebiets vorzudringen. Vielleicht hatte Waldis in Riga nur eine frühe Ausgabe zur Hand, die mit der von ihm verdeutschten Fabel ,,Von der Spinne und dem Podagra“ des Nicolaus Gerbelius schloß; ihr entspricht in seinem ,,Esopus" Fabel I , 1 -II , 31 . Als er dann in Abterode die Arbeit wiederaufnahm, benutzte er jedoch mit Sicherheit eine der späteren Ausgaben , die auch das erste ,,Hecatomythium" des Abstemius, die Fabeln des Laurentius Valla und des Rimicius enthielt; ihr ist er mit seinen Fabeln von II , 32-III, 83 gefolgt. Für den Rest des III . und das IV. Buch hat er dann andere Quellen herangezogen , Camerarius, die Sprichwörtersammlungen Agricolas und Sebastian Francks , Schwankbücher und jetzt wohl auch Steinhöwel . Im IV. Buch beruht vieles, wenn auch nicht, wie der Titel vorgibt, alles auf eigener Erfindung, mündlicher Überlieferung und Reiseerlebnissen. Drei Auflagen erreichte der ,,Esopus“ noch zu Waldis ' Lebzeiten . Anders als des Alberus ,,Buch von der Tugend und Weisheit" geriet er nicht mit dem Ende des Reformationsjahrhunderts in Vergessenheit. Eine Neubearbeitung von Huldrych Wolgemuth ( 1623) deutet auf ein fortbestehendes Leserinteresse hin22. 21 Viermal wird den Zuschauern die Lutherische Glaubensformel eingeprägt : De parabell vam verlorn Szohn, v. 85f., 1087f. , 1564f., 1824f. (Neudruck, s . S. 203) 22 Newer und vollkommener Esopus darinnen allerhand lustige Newe und Alte Fabeln, Schimpffreden und Gleichnussen, theils auch warhafftige Geschichte und außerlesene Historien begriffen. Sampt beygefügten Morale. Anitzo zum ersten mahle in Druck gegeben durch Huldricum Wolgemuth . Frankfurt 1623.
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Die zweite Blütezeit der deutschen Versfabel entdeckte ihn neu. Gellert erwähnte ihn freilich nur flüchtig und eher geringschätzig23, Zachariae aber schrieb selbst Fabeln ,,in Burcard Waldis Manier" 24, denen Eschenburg in literarhistorisch vergleichender Absicht einige Proben der Waldisschen Originalfassungen hinzufügte25 , auch Hagedorn nahm sie vielfach zur Textvorlage26. Doch erst Herder wurde zum Lobredner des Burkard Waldis . Er stellte ihn weit über Boner und wünschte eine Neuausgabe des ganzen Werkes : ,,Seine Erzählung ist so natürlich und leicht; er hat eine so schöne Anschauung der Dinge um ihn her; seine Sentenzen ... schütten ein ganzes Füllhorn von Lehren , Bemerkungen , Sprüchwörtern, Erfahrungen aus, daß er schon als Gnomolog vor Vielem anderm, was in unsrer Zeit gedruckt wird , den Druck verdiente . Manche kleine Seite von ihm möchte ich lieber geschrieben haben als große Geschichten und Lehrgebäude ." Als Probe brachte Herder dann Verse aus der Eingangsfabel ,,Vom Hahn und der Perle", mit dem Ausruf schließend : ,,Welch ein Reichtum an leichten aus einander fließenden Sprüchen und Lehren!"27 Die Lust am Erzählen und wohlmeinende Didaktik halten einander bei Waldis die Waage. Je nach dem, was ihn an einer Vorlage stärker ansprach , hat er entweder die Handlung oder das Morale weiter ausgestaltet. Bei der Erzählung konnte dies durch reihende Hinzufügung stoffverwandter Motive , durch Einbeziehung einer an den Anfang gestellten oder im Dialog nachgeholten Vorgeschichte, wie bei Alberus durch Einmischung des Erzählers in seiner Beglaubigungsfunktion , durch monologische Reflexionen eines Handlungspartners oder dessen belehrendes Verhalten gegenüber dem anderen erfolgen. Im Morale geschah das Gleiche durch Auslegungsvarianten in den Erfahrungssätzen sowohl wie in den Verhaltensregeln, durch Verweise auf Parallelsituationen in anderen Fabeln und diesen korrespondierende Wirklichkeitsausschnitte, durch Heranziehung historischer Modellfälle, aktualisierender Gegenwartsbezüge und autobiographischer Bekräftigungen im Verein mit der Verwendung von Sprichwörtern und Bibelzitaten. In seinem assoziativ vorgehenden Bestätigungseifer entfernte sich Waldis nicht selten beträchtlich von dem zugrundeliegenden Fabeltext. Was Herders wohlwollendes Urteil ausschließlich positiv bewertete , den ,,Reichtum an leichten aus einander fließenden Sprüchen und Lehren“, war doch auch ein Verlust an Bündigkeit der Aussagen und schwächte deren Beweiskraft. Die in der Rigaer Zeit entstandenen Fabeln beziehen die Handlung vorwiegend auf private zwischenmenschliche Verhältnisse , auf die Rolle des einzelnen unter den Mitmenschen, und sie versuchen gegenüber der Klugheitsmoral 23 Nachricht und Exempel von alten deutschen Fabeln ( 1746) . In : C. F. Gellerts sämmtliche Schriften. Neue verb. Aufl., 1. T. (Leipzig 1784) , S. XXVIIIf. 24 Fabeln und Erzehlungen in Burcard Waldis ' Manier. Frankfurt u. Leipzig 1771 . 25 Ebd. Neue Ausgabe mit einem Anhange von Original-Fabeln des Waldis . Hrsg. v. J. J. Eschenburg. Braunschweig 1777. 26 U. a . Der Fuchs und der Bock; Der Löwe und der Esel ; Jupiter und die Schnecke; Der Bauer und die Schlange; Der Fuchs ohne Schwanz. 27 Herder: Zerstreute Blätter, 5. Sammlung, 1793 , Nr. IV, 5. Sämtliche Werke. Hrsg . v. B. Suphan. Bd. XVI, S. 225f.
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auch die Forderungen der reformatorischen Ethik zur Geltung zu bringen. Das Thema Bewährung der Freundschaft in der Not erfährt in ,,Von zweien Gesellen und dem Beren" (1,94) eine pessimistische Behandlung gemäß der zynischen Maxime ,,Lach mich jetzt an und gib mich hin“ . Waldis folgt im Erzählteil ganz seiner Vorlage und knüpft auch in der Deutung an das dort verwendete Juvenalzitat an, wonach ein treuer Freund so selten gefunden wird wie der sprichwörtliche weiße Rabe oder ein schwarzer Schwan. Die eigene Erfahrung hat ihm schon damals zur Genüge die Wahrheit dieser Metapher bestätigt. Doch möchte er Treulosigkeit aus Feigheit und Egoismus nicht als eine von jeher dem Menschen eigene Verhaltensweise angesehen wissen, sondern er bewertet sie als sittliche Verfallserscheinung und stellt der jetzt herrschenden Falschheit die Verläßlichkeit und tätige Hilfsbereitschaft der alten Zeiten gegenüber. Gewiß ist Zeitklage ein Topos, dennoch hat als ein Charakteristikum desWaldisschen Fabelwerks zu gelten, daß sie darin immer aufs neue angestimmt wird; hier spielen die eigenen Lebenserfahrungen eine maßgebliche Rolle. Um ihnen Widerpart leisten zu können und in der Zeitklage nicht zu resignieren, weiß Waldis nur ein Mittel: die durch die Reformation wiedergewonnene evangelische Botschaft. In der Bärenfabel unterscheidet er zweierlei Glauben , ein Vertrauen auf Menschenbeistand, das zuschanden wird , und Vertrauen auf Gott, das von keinem Treubruch weiß. Da es ihm darauf ankommt, diesen Gegensatz recht scharf herauszuarbeiten , nennt er als Grund des menschlichen Versagens Käuflichkeit, während es doch in der Fabel nur Furcht ist. Waldis beruft sich auf Worte des Evangeliums, wo immer er einen Anknüpfungspunkt in der erzählten Fabel oder ihrer Lehre findet. Häufig kommt es hierbei jedoch nicht zu einer rechten Konkordanz , vielmehr leitet die höhere Autorität der Heiligen Schrift dann die eigentliche Thematik der Fabel auf ein zwar benachbartes , aber das Verständnis doch in eine andere Richtung führendes Gleis. So wird durch die Berufung auf eine Stelle im 1. Brief des Apostels Paulus an Timotheus aus der Alternative zwischen einem genügsamen Leben in Sicherheit und einem üppigen Leben unter ständiger Bedrohung in der Fabel „ Von der Stadtmaus und der Feldmaus“ (1,9) der Gegensatz zwischen Verdammnis und Gottseligkeit: Reichtum leßt sich schon sehen an, Wird auch geliebt von jederman: Wenn mans aber beim liecht besicht, Ists sorg und mü, und anderst nicht; Gar scharpfe dorn, die stetes stechen, Des menschen herz und gmüt zerbrechen. Sanct Paulus sagt: die reich wölln sein, Fallen in angst und schwere pein, In manche far, unsicher leben, Mit teufels stricken sind umbgeben. 28 28 1,9, v. 83-92 . Die Bibelverse sind vorauszubeziehen auf 1. Tim. 6 , 11 : „ Aber du Gottesmensch, fliehe solches , jage aber nach der Gerechtigkeit, der Gottseligkeit, dem Glauben, der Liebe, der Geduld, der Sanftmut.“
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Die Bibelstelle, auf die sich Waldis beruft, lautet: Es ist aber ein großer Gewinn, wer gottselig ist und läßet ihm genügen . Denn wir haben nichts in die Welt gebracht; darum offenbar ist, wir werden auch nichts hinaus bringen. Wenn wir aber Nahrung und Kleider haben, so lasset uns begnügen. Denn die da reich werden wollen, die fallen in Versuchung und Stricke, und viele törichte und schädliche Lüste, welche versenken die Menschen ins Verderben und Verdammnis. ( 1. Tim. 6, 6-9) Die Fabel ,,Vom Löwen und der Maus“ (I , 14) , deren weltliche Lehre sich an die Mächtigen wendet und diesen empfiehlt, sich aus Klugheitsgründen gegenüber den Schwachen großmütig zu erweisen , da nie vorauszusehen sei , ob man nicht irgendwann einmal ihrer Hilfe bedürfe, bezieht Waldis auf Jesu Auslegung seines Gleichnisses vom ungerechten Haushalter, dessen klügliches Verhalten sein Herr lobte: Es lert uns Christus, Gottes son: Mit dem unrechtfertgen mammon, Der gwunnen ist mit bösen sachen, Uns gute freunde sollen machen, Die sich zur bösen zeit nicht schemen, Zum schutz in ir behausung nemen29. Hier lautet die Bezugsstelle der Bibel : ,,Und Ich sage euch auch: Machet euch Freunde mit dem ungerechten Mammon, auf daß, wenn ihr nun darbet, sie euch aufnehmen in die ewige Hütten.“ (Luk. 16,9) Die Maus steht dann für die Schuldner, denen der Haushalter einen Teil ihrer Schuld erließ, damit er bei ihnen ein Unterkommen fände , wenn er seines Amtes enthoben würde, der Löwe für den Haushalter, der beschuldigt wurde , Güter seines Herrn veruntreut zu haben , die Großmut des Löwen gegenüber der Maus für die vorausbedenkende kluge Verwendung des ungerechten Mammons (der Stärke des Löwen?) im Gedanken an eine künftige Aufnahme in die ewige Hütten". Die Worte Jesu über die Feindesliebe (Luk . 6,27ff. ) führt Waldis bei der Fabel vom Undank der aus der Erstarrung der Winterkälte geretteten Schlange (1,7 ) an. Er setzt damit neben den negativen Erfahrungssatz , der lehrt, daß die einem Feind gewährte Hilfe sich gegen den Helfer wendet, das positive ethische Postulat des ,,Tut wohl denen, die euch hassen“, so daß der Bauer, der ,töricht gehandelt hat, zur Vorbildfigur wird: Das evangelion uns lert, Wie Christus selber disputert Und sagt, daß man das gut mit gut Vorgelten und bezalen tut, Des hat man kleinen preis und lon; 29 I , 14, v. 59–64. Daß hier gute Werke als Hilfen zur Errettung empfohlen werden, statt des Vertrauens auf die Gerechtmachung ,,sola fide", scheint Waldis nicht bewußt geworden zu sein.
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Das haben auch die heiden ton. Ich aber sag euch, daß ir solt Dem feind vorgeben seine schult Und in wie einen freund belieben, Sich gegen im in woltat üben Und nicht wider das unrecht schelten, Solt bös mit gutem widergelten, Auf daß ir möget kinder rein Eurs himelischen vatters sein ...330 Mit solcher Umdeutung beschreitet Waldis einen Weg, den protestantische Fabeldichter, Pfarrer zumeist, mit und nach ihm einschlugen, wenn sie den Widerspruch zwischen weltlicher Klugheitsmoral und christlicher Ethik überwinden wollten. Es gelang ihnen einmal mehr, ein andermal weniger. So auch Waldis . Die Fabel ,,Vom Bauren und der Schlangen“ ließ sich zwar in jeder ihrer Versionen (1,7 ; 1,26; IV,99) neben der Klugheitsmahnung zur „ Fürsichtigkeit“ auch alternativ nach ihrer Beispielfunktion für die Tugend der Barmherzigkeit verwenden³¹ ; nur als eine Verhaltenskritik, die das zentrale Thema der Fabel nicht trifft, war dies dagegen für die Tugenden der Demut und Geduld möglich beim ,,Wolf und Kranich" (1,6) , begrenzt auch nur bei der staatspolitischen Fabel ,,Von Gliedern des Menschen und dem Bauch" (1,40)32. Diese von Livius überlieferte Fabel des Menenius Agrippa verdankt ihre Evidenz der Analogie zwischen dem menschlichen Körper und dem Staat als politischem Körper, von dieser Analogie ausgehend dann ihrer Anwendung auf eine bestimmte historisch-politische Situation , die zur Verallgemeinerung geradezu herausforderte . Livius berichtet, Menenius Agrippa habe im Jahr 494 v. Chr. die Plebejer bei der ersten secessio plebis , deren Gründe Unterdrückung durch das Patriziat und zunehmende Schuldenlasten waren , zur Rückkehr nach Rom bewogen, indem er diese Fabel erzählte . Von der Wirkung, die sie auf das Volk ausübte, sagt er: ,,Comparando hinc , quam intestina corporis seditio similes esset irae plebis in patres , flexisse mentes hominum“ 33. Das Volk gelangte zu der Einsicht, daß Herrscher und Beherrschte wechselseitig aufeinander angewiesen seien; es ließ sich davon überzeugen , daß das Wohlergehen eines Gemeinwesens auf der richtigen, d . h. vernunftgemäßen Verteilung der Pflichten beruhe . Die Ableitung der herrschaftlichen Staatsform aus naturgesetzlichen Ordnungen entsprach der Lutherischen Rechtsauffassung über die Stellung des einzelnen und
30 1,7, v. 33-46. 31 I,26: „ Ein stück ists der Barmhertzigkeit / Zu vergeben das gethane leydt“ (v. 31f.); IV,99: ,,Drumb sich ein jeder also schick / Beid im unfall und im glück / Wenn er seim nehsten guts hat than / Das er dafür hoff keinen lohn / Nit umb danck oder undancks willen / Sondern das Göttlich gbot zurfüllen“ (v. 523–529) . – Auch hier geht Waldis allerdings einer radikalen Entscheidung aus dem Wege: die sich im Extremfall gegenseitig ausschließenden Tugenden der Fürsichtigkeit und der Barmherzigkeit läßt er nebeneinander bestehen. 32 Literaturhinweise zur Geschichte dieser Fabel s. S. 205. 33 Livius, Ab urbe condita, lib. II , 32.12.
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der Stände in der Politia. Luther postulierte, daß Gott mittels der in der Natur waltenden Vernunft auch in das Reich dieser Welt hineinwirke. Natürliche Ordnungen galten ihm als vernünftig. Demzufolge ist diejenige Staatsform gottgewollt, die sich eine vernünftige Ordnung der Natur zum Vorbild erwählt hat. Indem die Reformation diese organologische Argumentation mit der paulinischen Gehorsamkeitsforderung gegenüber der Obrigkeit (Röm. 13,1-6 ) verband, lieferte sie dem sich ausbildenden Absolutismus in den deutschen Territorialstaaten die entscheidende Legitimation gerechter wie ungerechter Herrschaft aus dem Evangelium: ,,Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit, ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet. Wer sich nun wider die Obrigkeit setzet, der widerstrebet Gottes Ordnung; die aber widerstreben , werden über sich ein Urteil empfahen“ (Röm. 13,1f. ). Obgleich auch Waldis sich auf Römer 13 beruft, interpretiert er die Fabel dennoch nicht affirmativ als Aufforderung zur Anerkennung absolutistischer Verfügungsgewalt des Herrschers über die Untertanen. Er bezieht sie vielmehr zunächst - ohne Berücksichtigung von Herrschaftsordnungen - auf den einzelnen in dessen Verhältnis zu seinen Mitmenschen und leitet aus dem negativen Bild der Fabel die positiven Grundsätze einer durch christliche Werte bestimmten Individualethik ab. Während der Römerbrief ( 13,8–10) Nächstenliebe als Erfüllung des Gesetzes definiert und, da es sich um göttliche Gebote handelt, in ihr nur eine Tugend des Gehorsams sehen kann, der keine gleiche Pflicht auf der Seite des Gebietenden korrespondiert, hat Waldis in einem zweiten Epimythion, das die politische Exempelfunktion der Fabel in Bezug auf das Verhältnis von Obrigkeit und Untertan klarlegt, die theokratische Legitimation der Herrschaft überhaupt beiseite gelassen, stattdessen entscheidendes Gewicht auf die Wechselseitigkeit der Rechte und Pflichten gelegt, aber auch diese nicht eigentlich organologisch, d. h. vernünftig-natürlich im Sinne der Metapher vom Staatskörper als bloße wechselseitige Abhängigkeit voneinander verstanden, sondern sie unter dem Aspekt der Nächstenliebe als einer über die Einhaltung von Gesetzesvorschriften hinausgehenden Spontaneität sozialstaatlich ethisiert. Vom zweiten Buch an verstärken sich die politischen Akzente , das Öffentliche gewinnt Vorrang gegenüber dem Privaten, gesellschaftliches Unrecht wird nicht mehr hingenommen als göttliche Prüfung und der Unterdrückte nicht mehr allein mit der Erwartung himmlischer Vergeltung getröstet. Das zeigt sich schon in der Fabel ,,Vom Hundt und Löwen" ( II, 18 ) , die Hoffmann von Fallersleben in seine Sammlung ,,Politische Gedichte aus der deutschen Vorzeit“ aufgenommen hat³4. Waldis preist dort Freiheit als „ ein edel kleinot" des irdischen Lebens; die Antinomie von Knechtschaft und Freiheit läßt er nicht als zeitliches Hier und ewiges Dort im christlichen Glauben aufgehoben sein, sondern er führt sie in ihrer krassesten gesellschaftspolitischen Erscheinungsform vor Augen . In Riga und auf 34 August Heinrich Hoffmann von Fallersleben : Politische Gedichte aus der deutschen Vorzeit. Leipzig 1843 , S. 164.
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seinen Geschäftsreisen durch Livland hat sich ihm die Unmenschlichkeit der Leibeigenschaft derart aufgedrängt, daß er diesem Problem das ganze , zum doppelten Umfang der Erzählung anschwellende Epimyhtion widmen mußte und vermutlich gar nicht bemerkt hat, wie sich seine Auslegung vom Inhalt der Fabel entfernte. Denn deren Thema ist - eine Variante der viel behandelten Fabel ,,Vom Wolf und Hund" - die Entscheidung für ein Leben in Freiheit mit Mühsalen und materiellen Entbehrungen anstelle eines Lebens der Üppigkeit in Knechtschaft. Das eine wie das andere ist in der Fabel selbst gewählt, und so paßt es nur auf den faktischen Zustand, nicht aber auf dessen Ursachen, wenn bereits in der Erzählung der Löwe den Hund mit einem leibeigenen livländischen Bauern vergleicht. Denn das Unrecht der Leibeigenschaft besteht ja gerade darin, daß über Menschen verfügt wird, die, ohne jemals eine Wahlmöglichkeit besessen zu haben, sich in vollständiger Abhängigkeit von ihren Herren befinden. Dagegen hat die Ersetzung des Wolfs durch den Löwen eine höhere Übereinstimmung der Tiercharaktere mit der Verhaltensalternative , eine markantere Kontrastierung von Unterwürfigkeit und Selbstherrlichkeit gebracht. Das Phänomen der Leibeigenschaft ist für Waldis so ungeheuerlich , daß er bei seinem Überblick über die fast in allen Ländern betriebene Sklaverei nach einem Entschuldigungsgrund sucht und vermuten möchte, die Betroffenen seien „ allsam unbendig leut", die durch Zwang zur Arbeit angehalten werden müßten; ihre Vorfahren seien ,,abtrennig und widerstrebig gewesen“ , daher sei ihnen die Bürde der Unfreiheit von der Obrigkeit als Erziehungsmaßnahme auferlegt worden. Waldis warkein Sozialrevolutionär, wenn er auch deutlicher als Alberus und Hans Sachs das soziale Unrecht in der bestehenden Gesellschaftsordnung mitempfunden und klar ausgesprochen hat. So geriet er in ein Dilemma, dem durch das relativierende einerseits - andererseits nicht zu entkommen war,,,weil wir der gburt einerley leut“ sind. Er bekennt sich zu der von Gott gebotenen Gleichheit aller – nicht nur in dem Recht auf persönliche Freiheit, sondern auch im Besitzanteil an den materiellen Gütern - als der Grundmaxime sozialpolitischer Ethik und verweist, was die Möglichkeit der Wiederherstellung eines dementsprechenden gesellschaftlichen Urzustandes anbelangt, auf den aus der mosaischen Gesetzgebung hervorgegangenen Versöhnungstag des alle fünfzig Jahre erneuerten hebräischen Jubeljahrs . Zu diesem Zeitpunkt wurden alle Knechte frei, alle Schulden erlassen , aller in der Zwischenzeit erworbene Grundbesitz an den früheren Eigentümer bzw. dessen Erben zurückgegeben . Auf die eigene Zeit übertragen, hätte eine solche Restitutio nach mosaischem Vorbild die Aufhebung der Leibeigenschaft, eine allgemeine Amnestie , die Rückerstattung des durch Bauernlegen hinzugewonnenen adligen Grundbesitzes an die frei gewordenen Bauern zum Inhalt haben müssen. Die Ausführung eines solchen sozialutopischen Entwurfs und die Formulierung der Konsequenzen bleibt Waldis hier jedoch dem Leser schuldig. Er bricht unvermittelt ab und lenkt zu der Eingangsalternative zurück . Nimmt man als gewiß an, daß Waldis das letzte Buch seines ,,Esopus“ erst nach der Entlassung aus dem Gefängnis des Deutschen Ordens geschrieben hat,
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so ist ohne weiteres verständlich , daß der Ton seiner Kritik jetzt schonungsloser geworden und seine Kompromißbereitschaft geschwunden ist . Während er für die polemische Auseinandersetzung mit dem Mönchswesen und der katholischen Weltgeistlichkeit fast durchweg auf den derb realistischen, burlesken Schwank zurückgreift, der den größeren Teil des vierten Buchs ausmacht, behält er für die politische Polemik das Instrumentarium der aesopischen Fabel bei , macht jedoch von ihm recht freizügigen Gebrauch, läßt es bisweilen ganz in eigener Erfindung aufgehen. Die „ Bestandheit“ der Tiercharaktere war ihm dabei kein unumstößliches Gesetz . In der Vermenschlichung der Tiere konnte er so weit gehen, daß sie als Individuen auftraten, deren ererbte Art vergessen war. Die durch die Tierepik zur Motivformel gewordene Feindschaft zwischen Ysegrim und Reineke verkehrte Waldis in der Fabel ,,Vom Wolff und Fuchs" (IV,49) in Freundschaft, die hinterhältige List des Fuchses in ehrliche Freigebigkeit, die brutale Beschränktheit des Wolfs in Wißbegierde. Zu dieser Umstrukturierung diente ihm die Rahmenfabel der Begegnung zwischen Wolf und Fuchs , eine Übernahme des Grundschemas aller Ysegrim -Episoden der Fuchsepik, deren Verlauf jedoch zu einem ganz andersartigen Ergebnis führt. Als Binnenfabel erzählt dann der Wolf sein Erlebnis in der Stadt; er wiederholt auch die Betrachtungen , die er seinerzeit darüber anstellte . Die Rahmenfabel wird geschlossen durch die Aufklärung, die der Fuchs dem Wolf über das von diesem Gesehene gibt. Sie erfüllt die Funktion des Epimythions, das dadurch überflüssig wird. Statt seiner spricht der Dichter ein paar Schlußverse. Was den Wolfbeschäftigt, ist die ihm unverständliche zweifache Weise, durch die in dieser Stadt - gedacht ist vermutlich an einen Festtag in Riga --– Reichtum zur Schau gestellt wird. Die Schilderung, die er gibt , verrät nichts ,Wölfisches * , sie erfolgt gänzlich unter den Voraussetzungen und in der Perspektive des Autors , die Auslegung durch den Fuchs erst recht . Waldis hat den Wolfspelz zur Allegorie gemacht; diesen Einfall mag er der Fabel vom Wolf im Schafspelz verdanken³5 . Neben der ironischen Wirkung , daß der Fuchs dem Wolf wölfisches Verhalten erklären muß, erreichte Waldis so vor allem Eindeutigkeit in der Kennzeichnung der ,,Gsellschaft von zweierley Leuten" . Die Pointe besteht darin, daß der Wolfspelz auf zwei Arten verarbeitet und getragen werden kann . Das nach außen gewendete Fell ,bedeutet die unverhohlene Raubgier der Adelsherren :
Sie wüten stets wie die Tyrannen ... Rauben und nemens, wo sies finden, Underdrucken beid, Leut und Landt ... Meinen desselben haben ehr, Das bey frommen ein schande wer. Solch Wolff helt jetzt die Welt in ehren , Drumb sie das rauhe außen keren36.
35 Abstemius 76. – Vgl. IV,49 : „,Undr einr Schaffshaut und frommen schalck / Verbergen sie den Wolffes balck" (v. 147f.) . 36 IV,49, v. 113 , 120f. , 129ff.
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Die Kaufleute dagegen tragen den Pelz nach innen gewendet; dieses ,bedeutet das scheinheilige Verhehlen ihres nicht minder wölfischen Treibens : Mit Geitz den gmeinen Mann bestelen ... Mit irem auffsatz, Wucher, liegen Jetzt fast die gantze Welt betriegen³7.
Unter dem Überwurf eines Unschuldsgewandes, so versteckt wie möglich (,,unterm hütlin“ ) , aber rücksichtslos suchen sie nur ihren Vorteil. Kaufleute sind ,,Stulrauber", Wucherer, die von ihrem Kontorstuhl aus das Räuberhandwerk betreiben: Sind Wolff, und wöllens doch nit sein, Schmücken den Wolff mit frommen schein³8. Eine schärfere Kritik und schonungslosere Entlarvung des Adels und der Kaufmannschaft, der beiden weltlichen Stände, deren Reichtum auf dem Unrecht beruht, das sie an den sozial Schwachen verüben , läßt sich in der Literatur der Zeit kaum finden.
3. Die Fabel im kunsthandwerklichen Dichten des Hans Sachs
Blickt man von den politischen Fabeln im 4. Buch des Waldisschen „ Esopus“ auf HANS SACHS ( 1494–1576) , den dritten Meister der deutschen Versfabel im 16. Jahrhundert, so empfindet man bei aller formalen Verwandtschaft doch alsbald, um wie vieles begrenzter der Erfahrungshorizont des Nürnberger Dichters während des halben Jahrhunderts geblieben ist, in dem er Fabeln geschrieben hat. Sehweisen, Beurteilungsmaßstäbe und Gestaltungsmittel unterlagen fast keinen Veränderungen. Demzufolge mußten auch die didaktische Zielsetzung und der Verwendungszusammenhang in der ein- für allemal festgelegten Funktion verharren, wie sie sich aus der voll anerkannten , auf evangelischen sittlichen Postulaten beruhenden Lebensordnung des städtischen Gemeinwesens ergeben hatte . Die Lehren, die Sachs aus den überlieferten , in die bürgerliche Welt des 16. Jahrhunderts versetzten Fabeln zog, sollten der Erhaltung und Stärkung dieser als gut und gottgewollt angesehenen Lebensordnung dienen; sie sollten mit dazu beitragen, daß ,,gemainer nüecz aufwachs / Und steter fried" , wie die viele Male wiederholte Wunschformel des letzten Reimpaares lautet, mit der er sich von seinen Lesern zu verabschieden liebte. Was ihm an Problembewußtsein fehlte , ersetzte er durch stoffliche Belesenheit. Anders als Alberus und Waldis konnte er die großen lateinischen Anthologien nicht für sich nutzen, da hierzu seine Lateinkenntnisse nicht ausreichten. Stattdessen schöpfte er reichlich aus Steinhöwels Sammlung, legte Fabeln von Sebastian Brant in den Übersetzungen von Johannes Adelphus Müling zugrunde
37 IV,49, v. 135, 141f. 38 IV,49, v. 145f.
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und griff auch, sogleich nach dessen Erscheinen , zu dem „,Esopus" des Burkard Waldis . Von seinen rund 200 Fabeln stammt etwa ein Viertel aus der nichtaesopischen Überlieferung des „,Buchs der Natürlichen Weisheit“ und des „ Buchs der Beispiele der alten Weisen“ . Nach nur gelegentlichen Entlehnungen vor ihm war Sachs der erste, der in diesen beiden zunächst fremdartigen Quellen Fundgruben für seine stoffhungrige Poeterei entdeckte und davon unbefangen ausgiebigen Gebrauch machte, nicht anders als von den längst bekannten auch . Er holte sich aus ihnen, was seinem eigenen Lebensverständnis nahekam , seinen dem Alltag verpflichteten Wertvorstellungen im bisher unbekannten Gewand etwas vom Reiz der Neuheit leihen konnte, auch was sich mit nur geringfügigen Änderungen durch Umstellen, Kürzen oder Erweitern seinen didaktischen Absichten anpassen ließ. Dabei betrachtete er jedes Lehrgespräch des cyrillischen Weisheitsspiegels als für sich bestehende Einzelfabel , die ohne Rücksichtnahme auf den ihr zugeteilten Platz im Tabernakel der „,angeltugenden" aus dem systematischen Zusammenhang des Gesamtwerks herauslösbar sei . Da dort die Lehre immer schon im Verlauf des Dialogs durch den über die angesprochene Tugend verfügenden Partner dem Fehlverhalten des anderen gegenübergestellt wird, verzichtete im ,,Buch der Natürlichen Weisheit“ der Autor auf eine zusätzliche Belehrung des Lesers am Schluß der einzelnen Kapitel . Hans Sachs jedoch ließ jedesmal ein eigenes Epimythion folgen. Darin verallgemeinerte er entweder den besonderen Fall, der in der Vorlage Anlaß zum belehrenden Gespräch gegeben hatte , wie in der Fabel ,,Der hüngrig fuchs im keler mit der wisel", wo er unter Berufung auf Matthäus 16,26 das enge Kellerloch als Sinnbild der Lebens- und Todespforte deutete, oder er wendete umgekehrt das Fabelbyspel auf den einzelnen Menschen an und leitete etwa, wie in der „,Füechsisch geselschaft“ aus der Summe der Erfahrungen des alten Fuchses mit den anderen Tieren, zum praktischen Gebrauch für einen jungen Mann einen warnenden Eigenschaftenkatalog der Menschenkenntnis ab. In gleicher Weise verfuhr er mit den indisch -arabischen Geschichten in Antonius von Pforrs ,,Buch der Beispiele der alten Weisen“. Er holte sie einzeln aus der Verflechtung von Außen- und Innenfabeln hervor und kümmerte sich nicht um die standes- und situationsspezifische Exempelfunktion , die sie seit ihrer Einbeziehung in das ,,Lehrbuch der Klugheitsfälle“ zu erfüllen hatten . Besonders scheinen ihn diejenigen angezogen zu haben, die legenden- und märchenhafte Züge tragen, aus denen menschenverwandtes Mitgefühl der Tiere untereinander und Vertrautheit zwischen Mensch und Tier spricht. Es sind Erzählungen indischen Ursprungs , die den Seelenwanderungsgedanken und die Erkenntnis des Tat twam asi' zur Voraussetzung haben . Die beiden Mitleidsfabeln „ Die zwue turteltauben“ und „ Die schreyent lebin“ sind Märchenfabeln . Daß der Jüngling die Vogelsprache versteht, erregt so wenig Verwunderung wie die menschliche Rede der Tauben, ebenso wenig auch, daß diese den Ort des vergrabenen Schatzes kennen, der dem, der seine beiden letzten Groschen für ihre Befreiung gab, zum Lohn wird. Will man hier von Vermenschlichung der Tiere sprechen, so ist sie
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gleichbedeutend mit Entwirklichung. Der Naturzwang tierischen Handelns, konstitutiv für die aesopische Fabel , ist aufgehoben, mit ihm auch die ,,Bestandheit der Charaktere “. Der Fuchs vermag die ihrer Kinder beraubte Löwin zur Erkenntnis des ,Tat twam asi' und damit zur völligen Umkehr ihrer Lebensart, aus Triebgebundenheit zur Askese zu führen . Nicht die alten Weisen , sondern die beiden Tauben belehren den Jüngling über die Schicksalsgleichheit aller lebenden Wesen: Dem vogel hilfft sein flug nit auff, Noch dem helffant sein stercke, Noch dem hirsen sein schneller lauff, Noch dem lewen sein fraidigkeit. Allain die zeit und stunde Der hoch gotlichen ordnung pur Beschleust augen und munde Aller lebenden creatur, Darfur hilfft kain kunst noch weysheit39. Hans Sachs hatte nicht die Absicht , wie Alberus und Waldis ein eigenes Fabelbuch zu schreiben¹º. Da alles Dichten für ihn sein Ziel letztlich in der Belehrung hatte , lag es ihm fern, derjenigen didaktischen Gattung, die ihr Figurenarsenal der Tierwelt entnimmt, Besonderheiten zuzuschreiben, welche zu ihrer Unterscheidung von anderen kurzen Versgeschichten mit pädagogischem ,,Beschluß“ zwingen. In der Nürnberger Folioausgabe, deren erste Bände noch zu seinen Lebzeiten erschienen, stehen unter dem Gesamttitel ,,Sehr Herrliche Schöne und warhaffte Gedicht" nebeneinander histori , kampffgesprech, gesprech, lobsprüch, klagred, comparacion , sprüch, fabel und schwenck"41 . Ihnen allen ist die äußere Form gemeinsam. Es handelt sich um , Spruchdichtungen ' in vorwiegend vierhebigen (zuweilen, wie in „ Der hüngrig fuchs im keler mit der wisel“, auch dreihebigen) jambisch alternierenden, silbenzählenden Reimpaaren (Knittelversen) mit vielen Tonbeugungen . Im Unterschied zur mittelalterlichen Spruchdichtung ist hier nicht an Reflexionslyrik zu denken , vielmehr bestimmen epische Inhalte die Diktion; im weiteren Sinne pflegt man alle nichtstrophischen Versdichtungen von Hans Sachs unter diesen Oberbegriff zu subsummieren, auch Fastnachtspiele und Dramen. Am nächsten sind seine Fabeln und Schwänke miteinander verwandt. Zu einer Textsorte zusammengefaßt, gelten sie bei Editoren und Literarhistorikern als die
39 v. 30-38, in dieser Auswahl Bd. I, S. 145. 40 Einige Fabeln hat er als Einzeldrucke erscheinen lassen, manchmal mit einem illustrierenden Holzschnitt geschmückt. Bibliographisch verzeichnet v. E. Goetze, in: Hans Sachs [Werke ], Bd . 26, S. 65ff. , und von N. Holzberg, s . S. 207. Reproduktion des Holzschnitts zur Fabel vom Esel in der Löwenhaut, in: H. S. , Ausgewählte Werke. Hrsg. v. P. Merker u. R. Buchwald , Bd . I, Leipzig 1911 , S. 104, u . in: Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. u. 17. Jhs . Kommentierte Ausg ., Bd. I: Die Sammlung der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel , T. 1 : Ethica. Physica. Hrsg. v. W. Harms u. M. Schilling zus. m. B. Bauer u. C. Kemp. Tübingen 1985 , Nr. 41 . 41 Der Titel variiert in den einzelnen Bänden und verschiedenen Auflagen.
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zweite Hauptgattung, auf der neben den Fastnachtspielen die zeitüberdauernde Volkstümlichkeit des Hans Sachs beruht. Eine solche Zusammenfassung wird dadurch begünstigt, daß den Schwänken bei Sachs die satirische Schärfe fehlt, daß auch sie erziehen, nicht angreifen und vernichten wollen, daher ihren Erzählteilen wie bei den Fabeln ein den Fehlern und Schwächen entgegenwirkendes Morale sich anschließt. Während die Einteilung der Sachsschen Dichtungen nach Gattungen und Stoffen nur mit Einschränkungen erfolgen kann, läßt sich eine Trennung nach der äußeren metrischen Form leicht durchführen. Alle seine Versdichtungen sind entweder Spruchgedichte in fortlaufenden Reimpaaren oder strophisch gegliederte Meisterlieder mit wechselnder Taktzahl , Reimanordnung und Strophenlänge . Sehr viele Stoffe hat er sowohl in der einen als auch in der anderen Form behandelt, nicht wenige mehrmals in beiden. Mithin gibt es auch Tierfabeln als Meisterlieder42; ihre Zahl übertrifft bei Sachs die Spruchgedichtfabeln sogar bei weitem . Sie waren , wie alle weltlichen Meisterlieder, nur für den Vortrag beim Zechsingen bestimmt; die Singschulordnung verbot ihre Drucklegung. Daher fehlen sie in der Nürnberger Folioausgabe. Hans Sachs hat sie alle sorgfältig in selbst angelegte Handschriftenbände eingetragen. Obgleich einige Bände verlorengegangen sind, konnten um 1900 E. Goetze und K. Drescher in ihrer Ausgabe der ,,Sämtlichen Fabeln und Schwänke“ eine große Anzahl von Meisterliederfabeln zum erstenmal veröffentlichen. Die Diskrepanz zwischen Form und Inhalt macht sich bei ihnen zwangsläufig viel stärker geltend als bei den Spruchgedichten. Erzählung und Lehre sind in das starre metrische Schema eines übernommenen oder selbst erfundenen ,Tons eingezwängt, der ,Ton ' ist ohne Rücksicht auf inhaltliche Angemessenheit allein nach seiner Künstlichkeit, die Meisterschaft beweisen sollte , gewählt. Sachs bevorzugte für seine Meisterliederfabeln die dreistrophige Bauform. Soweit es die Verständlichkeit irgend zuließ , suchte er die Handlung auf die beiden ersten Strophen zu beschränken, so daß die dritte Strophe der Auslegung vorbehalten bleiben konnte. ( z . B. „ Das gülden ay“ , „ Der frosch mit dem ochsen“ , „ Die kra mit dem schaf“ ). Oft genug blieben jedoch nur deren Schlußzeilen für eine sprichwortähnliche Sentenz übrig (z . B . ,,Der fuchs mit dem leben“ : „,Wol dem man, der mit frembdem schaden / Vürsichtig wirt, clueg unde weis.“) . Bei Fabeln , in denen die Belehrung bereits in die Erzählung eingeflochten ist, ergab sich eine günstigere triadische Gliederung . Für die dann ohnehin meist geringfügige Handlung reichte die erste Strophe aus , die zweite Strophe brachte die Belehrung aus der Vorlage, in der dritten äußerte der Meistersänger seine eigene Auffassung und stellte den Bezug zu dem Leben der Gegenwart her. Aesopisches im Sinne der Selbstbehauptung des sozial Entrechteten in einer ihm feindlichen Umwelt durch überlegene, jederzeit situativ verfügbare Klugheit ist - ganz anders als bei Waldis - in der Fabelwelt des Hans Sachs nicht zu finden.
42 Nicht nur bei Sachs . Vgl . Wilhelm Grimm: Thierfabeln bei den Meistersängern (1855). In: Kleinere Schriften, Bd. IV, Gütersloh 1887 , S. 366–394.
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Aber man würde ihn unterschätzen , wollte man argwöhnen, seine friedsame Natur und seine ständische Unangefochtenheit hätten ihn etwa bewogen, bei der Lektüre des Steinhöwelschen Werkes ,,das leben Esopi ... schlecht und verstentlich getütschet" zu überschlagen . Alles , was er las, weckte die eigene Produktivität . Um die lustspielhaften Klugheitstriumphe des mißgestalteten Sklaven über seinen Herrn, den Philosophen Xanthos, auszukosten, verfügte er über ein anderes Darstellungsmittel: das Fastnachtspiel . Er hatte es aus der Einfallslosigkeit niedriger Possenreißerei erhoben und zu einem Schauplatz des strafenden Verlachens gemacht. Als , Held seines letzten Fastnachtspiels betrat der listenreiche Esopus diesen Schauplatz.43
43 Ein comedi mit acht personen : Esopus, der fabeldichter, und hat fünff actus . In : Werke . Hrsg. v. A. v. Keller u . E. Goetze. Repr. Nachdruck Hildesheim 1964 , Bd . XX , S. 113-139. - 23. Nov. 1560. Q : Steinhöwel . Sachs zählt dieses Spiel in seinem Generalregister unter den Fastnachtspielen auf.
X. Die Fabel als literarische Gebrauchsform im lateinischen Humanismus : Philipp Melanchthon
Wenngleich Melanchthon sich als Humanist mit Nachdruck für die literarische Geltung der Gattung und den praktischen Gebrauch der Fabel in Schule und Hochschule wie im öffentlichen Leben eingesetzt hat - schon in den ersten Jahren seiner Lehrtätigkeit mit der Rede ,,De utilitate fabularum“ ( 1526) ' und abermals nach fünfundzwanzig Jahren, als er 1550 zur Schulausgabe der Sammlung seines Freundes Joachim Camerarius die Praefatio in Gestalt eines Widmungsbriefes an Christoph Ziegler, den Sohn des Doktors der Theologie Bernhard Ziegler, schrieb² -, hat er doch , anders als viele seiner Freunde und Schüler, sich selber offensichtlich weder zum Fabeldichter noch zum Fabelerneuerer berufen gefühlt und von diesem so hoch eingeschätzten Wirkungsmittel nur gelegentlich Gebrauch gemacht, immer an Stellen jedoch , die für ihn von wesentlicher Bedeutung waren. Er tat das dann sowohl im gelehrten als auch im persönlichen Bereich. In akademischen Reden programmatischen Charakters griff er über sein eigentliches Lehrgebiet, die Theologie und die Disziplinen der Artistenfakultät, hinaus und nahm mit Fabeln gemäß dem Argumentationszusammenhang in dienender, aber erhellender Funktion zu Zeiterscheinungen Stellung, bei deren Beurteilung er Grundsätzliches zum Ausdruck bringen wollte. Während Luther nur mit Anspielungen oder in pamphletistisch herausfordernder Weise Fabelanalogien auf seine persönliche Situation bezog, hat Melanchthon seiner Lieblingsfabel ,,De Serpente , Rustico et Vulpecula" schicksalhaft autobiographische, vielleicht dürfte man sogar sagen, symbolhaltige Hintergründigkeit geliehen.
1. Die Fabel in der akademischen Rede
1.1 . Im forensischen Gebrauch: ,,De Asino et Navicula" Zu den von ihm neu in das überlieferte aesopische Fabelkorpus aufgenommenen Stücken hat Camerarius in einem Widmungsbrief an seinen Jugendfreund Mi' Philippi Melanthonis Opera quae supersunt omnia, ed. C. G. Bretschneider, Vol . XI (Halle/S . 1843 ) , Sp. 116–120 (Corpus Reformatorum XI) . 2 Praefatio zu: Fabellae Aesopicae quaedam notiores, et in scholis usitatae aJoachimo Camerario. Lips. 1550 : Philippus Melanchthon Christophoro Cziglero, Viri Clarissimi D. Bernhardi Czigleri , Doctoris Theologiae, filio S. D., in : Opera ... omnia VII ( Halle 1840), Sp. 561-566.
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chael Rotinger bemerkt, es handle sich bei ihnen um ,,partim exceptas de sermonibus aliorum , partim de monumentis literarum exquisitas, partim etiam expressas cogitatione nostra" 3 . Die von ihm erstmals selbständig mitgeteilte Fabel ,,De Asino et Navicula“ nennt demzufolge am Schluß ausdrücklich Autor und Textzeugen: ,,Hanc fabulam narravit luculente Philippus Melanchthon in laudatione studii Iuris civilis et legum Romanarum“ . Sie findet sich in einer „ Oratio de legibus", die 1525 als Einzeldruck in Hagenau erschienen ist . Melanchthon hatte diesen scherzhaften ,,Casus forensis“ in einem Kontext vorgetragen , der ein ihm besonders am Herzen liegendes Thema behandelte: die zeitlose Gültigkeit der überkommenen Gesetze , deren unzweifelhafte Übereinstimmung mit dem Willen Gottes und der göttlichen Gerechtigkeit den Inbegriff seiner theologischen Rechtsphilosophie ausmachte. Er wandte sich gegen die Berücksichtigung eines entwicklungsgeschichtlich bedingten Wandels der Rechtsauffassungen und lehnte unterschiedliche Auslegungsmöglichkeiten dessen, was recht sei , als subjektive Willkür ab. Auf dieser Grundlage trat er in der Praxis der Rechtspflege für die Beibehaltung des römischen Rechts (Ius civilis) auch unter den veränderten Verhältnissen seiner Zeit ein , weil dieses unverfälschter als jeder andere Rechtsbrauch gewissermaßen stellvertretend das absolute Recht in der gesellschaftlichen Rechtsordnung repräsentierte. Vernunft und Natur korrespondieren bei Melanchthon wie bei Luther einander; sie nehmen unmittelbar an der göttlichen Weisheit teil oder sind Ausflüsse dieser Weisheit. Melanchthon war der Überzeugung, daß die römische Gesetzgebung (positives Recht) vermöge ihrer Rationalität dem, was Vernunft und Natur gebieten, so nahe geblieben sei, daß alle Gesetzesänderungen nur Verschlechterungen bringen könnten. Vernunftrecht (die heidnische lex humana ; Röm. 2,14) und Naturrecht (Naturgesetze, lex naturalis) seien keine menschlichen Erfindungen , sondern beruhten auf dem ius divinum (lex divina) . Melanchthons Kritik, die ihn zur Einschaltung dieser Fabel veranlaßte , richtete sich gegen die Prozeßführungen seiner Zeit und die von daher eingedrungenen Mißstände im Studium der Jurisprudenz. Die Schuld an den sich endlos hinschleppenden Verhandlungen vor Gericht schrieb er den neueren Kommentatoren des römischen Rechts zu , den Formaljuristen und Rabulisten , deren Auslegungen von den Richtern in ihrer Hilflosigkeit in Anspruch genommen werden und auf die sich die Anwälte berufen. Er wollte die durch die Abstrusitäten der Gesetzesauslegungen bedingte Entscheidungsunfähigkeit der Gerichte mit der Fabel vom Esel und Kahn der Lächerlichkeit preisgeben . Darum ließ er den Ausgang in dem Rechtsstreit zwischen dem Müller und dem Fischer, wer dem anderen ersatzpflichtig sei, offen und verwies auf die gleichgeartete Fabel vom Prozeß um des Esels Schatten, worin der Streitgegenstand die Frage ist, ob in der Vermietung eines Esels zum Warentransport auf den Jahrmarkt auch ' Fabulae Aesopicae Plures Quingentis ... Leipzig 1544 , Bl. 1 4' 4 a.a.O., S. 341. S Opera ... omnia, Vol . XI , Sp. 83. Neudruck nach der Erstausgabe b. Guido Kisch:
Melanchthons Rechts- und Soziallehre . Berlin 1967 , S. 206f.
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die Benutzung des Eselschattens inbegriffen sei, in dem, geschützt vor der brennenden Sonne, der Krämer seine Mittagsruhe zu halten beabsichtigte". Mit Emphase schob Melanchthon die Schuld an solcher Entartung des Rechtswesens auf einen Mangel an humaner Bildung bei den Rechtslehrern. Die Studenten forderte er auf, nicht in deren Kommentaren Rat zu suchen, sondern auch in der Jurisprudenz ad fontes, zu den unmittelbaren Rechtsquellen der römischen Gesetze , zurückzukehren. Neben dieser inhaltlichen Funktion entsprach die Einschaltung der Fabel in die Wittenberger Grundsatzrede des Humanisten Melanchthon vor der juristischen Fakultät auch einem rhetorischen Kunstgriff. Er trug sie erst gegen Ende vor und verfolgte damit einen ähnlichen Zweck wie ehedem der große griechische Redner Demosthenes, von dem berichtet wird, er habe die vom langen Zuhören ermüdeten Athener durch die Erzählung der Lachen erregenden Fabel vom Prozeß um des Esels Schatten wieder ermuntern und sie auf diese Weise veranlassen wollen, seinen Ausführungen nunmehr bis zum Schluß aufmerksam zu folgen?. Beide Gebrauchsfunktionen fielen bei der Aufnahme in die Anthologie des Camerarius fort. Aus ihrem Kontext gelöst, überarbeitete dieser Melanchthons Fabel in der Absicht, sie ganz zu verselbständigen und an die Darbietungsformen der übrigen Einzelfabeln anzugleichen . Während die rechtsphilosophische Problematik zurücktrat, verstärkte Camerarius den schwankhaften Charakter der Erzählung. Mit einem ironischen Seitenhieb auf die Instinktsicherheit der Dummen ließ er den Esel auf dem Rückweg erkennen , daß der Fischer den Kahn mit einem Strick aus jungen Weidenzweigen festgebunden hatte. Indem der Esel daran nagte , löste sich der Kahn und trieb stromabwärts. Die Schuldfrage, die sich um Nachläßigkeit eines der beiden Kontrahenten oder beider dreht, wird dadurch auf grotesk zufällige Weise noch schwerer entscheidbar, weil es sich hier bei dem Esel ja nur um Mundraub handelt: „ Neque putatur ad hodiernum usque diem statui decidique potuisse.“ Die Auslegung der Fabel beschränkte Camerarius auf die Information, Melanchthon habe erläutert,,,tales esse indoctorum iurisconsultorum disputationes“, vergleichend verwies auch er auf die Fabel „ De Asini umbra“ , und im übrigen besteht hier die Lehre im lachenden Hinnehmen eines vom Zufall bewirkten , in unzähligen ähnlichen Fällen wiederkehrenden Tatbestands . Es stellt sich die Frage, ob Melanchthon diese Fabel erfunden hat. Camerarius erweckt den Eindruck , als habe er hieran keinen Zweifel . Melanchthon hingegen leitet ihren Vortrag mit dem Satz ein : ,,Solebat apud nos doctus quispiam homo istorum ineptias festivo commento ridere.“ Denkt man bei „,apud nos“ an Tübingen, so liegt es nahe, in Bebel jenen ,,homo doctus “ zu vermuten, doch findet sich die Posse unter dessen Facetien nicht. Gleichwohl könnte sie aus dem Tübinger 6 Textfassung in „ Alte Newe Zeitung“ s . Bd . I, S. 199f.; dazu Kommentar, S. 235f. 7 Ps . -Plutarch, Vitae decem oratorum , 848a. – Perry, Aesopica 460, bei Camerarius (1544) , S. 349. 8 Lat. Text des Camerarius und deutsche Übersetzung , s . Kommentar, S. 260f.
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Kreise herrühren und von Melanchthon nur in der Erinnerung bewahrt worden sein, worüber sich indessen nichts ausmachen läßt . Wittenberg kann schwerlich gemeint sein. Allerdings erwecken verschiedene Aufzeichnungen aus Luthers Umgebung den Eindruck, als hätten die Chronisten diesen ,,Casus forensis“ dem Reformator zugeschrieben. Nach Aurifabers Bericht soll Luther 1546 in Eisleben , also in seiner allerletzten Lebenszeit, diese Fabel erzählt haben . Eine andere Überlieferung läßt die entstandene Frage,,,uter alterum accusare debeat : Hat der esel den kan oder der kan den Esel weggefuret?"durch Melanchthon beantwortet werden: „ Est casus fortuitus , uterque peccavit negligentia.“ 10 Ohne daß sich der Zeitpunkt des Gesprächs über diese Fabel im Kreise Luthers näher bestimmen läßt, legt doch die zuverlässigste Aufzeichnung " nahe , daß sie den Teilnehmern bis dahin keineswegs unbekannt geblieben war, sei sie nun durch Melanchthon selber oder durch die Anthologie des Camerarius in Umlauf geraten. Der Inhalt wird nur stichwortartig gegeben, dann von einem Zuhörer die Schuldfrage gestellt, von einem anderen die Zufälligkeit zusammentreffender Umstände , die einzeln normalerweise juristisch folgenlos geblieben wären, und die Tatsache der beiderseitigen Nachlässigkeit hervorgehoben. Die von Melanchthon und Camerarius absichtlich offengelassene Streitfrage: ,,quid iuris?“ findet ihre Lösung durch die Schlußfolgerung : ,,Ambo peccaverunt , der Fischer, daß er den Kahn nicht hat angebunden , und der Müller, daß er den Esel nicht auf seinem Hof behalten, culpa est ex utraque parte.“ Demnach müßten entweder beide einander gegenseitig Entschädigung leisten oder aber beide auf diese verzichten. Dieser Tischredenüberlieferung zufolge ergriff Luther erst zum Schluß das Wort. Er formulierte gewissermaßen das Epimythion zu der Melanchthonschen Fabel; ob ganz in dessen Sinne, mag dahingestellt bleiben: ,,Talia exempla et casus summum ius iurisconsultorum illudunt et irrident. Itaque summum ius non est practicandum, sed potius aequitas."12 Luther nahm diesen Casus zum Anlaß der Erläuterung seiner Überzeugung, daß die Juristen immer dann zu keiner Einigung über ein gerechtes Urteil gelangen können, wenn sie an dem unpraktizierbaren Postulat des summum ius festhalten wollen , während sich hier wie überall die Rechtsprechung von der vernünftigen und natürlichen Billigkeit, der aequitas, leiten lassen müsse . Scherzhaft erweiterte er diesen Grundsatz auch auf ⁹ WA, Tischreden 1 zu Nr. 985 ; nach Aurifabers Sammlung v. 1566. Hrsg . v. K. E. Förstemann und H. E. Bindseil , Bd . 4 ( Berlin 1848 ) , S. 540 : „ Ein wünderlicher Fall", WA, Tischreden 1 , S. 499. 10 Handschrift B, der Lauterbachs Sammlung zugrunde liegt. – fortuitus: zufällig. – WA hält S. 498 das handschriftliche „ Philip . Melanth. “ für einen Lesefehler aus P(etrus) W(ellerus) . Ist diese Annahme richtig, so scheidet das von Aurifaber angegebene Datum aus, denn Peter Weller verließ bereits 1534 Deutschland für immer, s . WA, S. 499, Anm. 10. Der Herausgeber der ,,Tischreden" in WA scheint übrigens nicht an Luthers Autorschaft gezweifelt zu haben; er weist weder auf Melanchthons Rede ,,De legibus" noch auf Camerarius hin. " WA, Tischreden 1 , Nr. 985, Veit Dietrichs und Nikolaus Medlers Sammlung. 12 ,,Solche Beispiele und Fälle spielen auf den Begriff der Rechtsgelehrten vom absoluten Recht an und verspotten ihn. Also ist das absolute Recht nicht praktizierbar, vielmehr muß die Billigkeit entscheiden.“
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das Amt des Predigers, indem er einer gewissen Lässigkeit des Allzumenschlichen das Wort redete. Sie dürften die Menschen nicht ganz und gar binden, noch ganz und gar freilassen , „ das die leut nicht zu heilig noch zu bos werden. Ideo secundum aequitatem omnia moderanda sunt.“ Dennoch bleibt es unwahrscheinlich, daß Luther die Fabel selbst erdacht hat; er wird sie wohl nur, wie er das auch sonst mit Fabeln gern tat, zur markanten Veranschaulichung herangezogen haben. Eine andere Quelle als Melanchthons Rede hat sich indessen bisher nicht entdecken lassen¹³ . So ist es sehr wohl möglich, aber nicht beweisbar, daß Melanchthon den spottlustigen ,,homo doctus" fingiert hat. Eine Variante ,,Der Esel im Weinberg" findet sich in den Aufzeichnungen aus Anton Lauterbachs Sammlung¹4 . Sie ist dort zusammengestellt mit der Fabel vom Esel und Kahn , deren Ausgang wieder wie bei Melanchthon und Camerarius offen bleibt, hier mit einem Horazzitat schließend: ,,Et adhuc sub iudice lis est. " 15 Vorangestellt aber ist die Posse einer formalistisch begründeten Rechtsentscheidung, die damit ebenso verspottet wird wie vorher die Entscheidungsunfähigkeit. Der Esel des Müllers drang in einen Weinberg ein , wo man Trauben gekeltert hatte . Er tat aus einem mit Most gefüllten Gefäß ,,einen gutten eselischen trunck" , wurde entdeckt und weggetrieben, der Müller von dem Besitzer des Weinbergs verklagt. Das Gericht fällte den folgenden Urteilsspruch: ,,Weil der esel ist voruber gegangen, sich nicht niedergesetzt, nur einen ehrtrunck getan hat, liberatus est molitor." Auch der Erzähler dieses casus forensis ist unbekannt. Er gehört aber zweifellos in die gleiche Umgebung und wollte ebenfalls die Abstrusitäten der Rechtskommentatoren persiflieren .
1.2 . In der Rechts- und Soziallehre : ,,De Simiis urbem condendis" Im Unterschied zu dem bewußt episodischen Einsatz der Fabel ,,De Asino et Navicula" hat Melanchthon in einer späteren Rede ,,De veris legum fontibus et causis" ( 1550?) , die speziell die Frage behandelte: „,An Romano iure et scriptis eorum , qui id interpretati sunt, utendum sit“ , zu ihrer Beantwortung die Fabel ,,De Simiis urbem condendis“ in den Mittelpunkt seiner Argumentation gestellt . Ein Quellenproblem gibt es bei dieser Fabel nicht; Melanchthon hat selbst seinen Gewährsmann genannt: den griechischen Rhetor Hermogenes (um 160–225 n . Chr.) . Dieser galt (wohl zu Unrecht) allgemein seit dem Ausgang der Antike als der Verfasser im rhetorischen Unterricht vielbenutzter „ Progymnasmata“ , eines Übungsbuchs für die Ausarbeitung und Paraphrasierung vorgegebener Themata, das neben einer systematischen Anleitung vor allem eine Beispielsammlung
13 Die Fabel erscheint sonst nur noch, Melanchthon oder Camerarius nacherzählt, bei Kirchhof, WendUnmuth IV, 276. 14 WA, Tischreden 5 , Nr. 6177 . 15 ,,Und bis jetzt noch ist der Streitfall unentschieden.“ Horaz, De arte poetica, v. 78. 16 Opera ... omnia, Vol. XI , Sp . 920/21 . Neudruck nach der Erstausgabe bei Kisch, S. 264.
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enthielt. Fabeln waren darin als Aufgaben für Anfänger erzählt, unter ihnen auch die von den Affen als Stadtgründern. Der römische Grammatiker Priscianus (5./ 6. Jh . n. Chr. ) übersetzte die „ Progymnasmata“ unter dem Titel „,Praeexercitamina“ ins Lateinische. Aus dieser Übersetzung entnahm Aldus Manutius die Affenfabel für seine Sammlung¹7. Melanchthon hat sie vermutlich in der Anthologie des Camerarius gefunden¹8 . Bei Aldus steht sie im Kontext eines fabeltheoretischen Vorspanns ausgewählter antiker Textstellen , wo davon die Rede ist , daß Fabeln auf zweierlei Weise erzählt werden könnten, entweder ,,modo breviter ... narratione simplici“ oder „,modo latius ... inductis fingatur personis exempli causa" , was von Ps-Hermogenes an zwei Fassungen der Fabel von den Affen als Stadtgründern exemplifiziert wird. Es geht in der antiken Quelle also um eine methodologisch-rhetorische Frage, die lerntechnisch und poetologisch interessiert, Melanchthon dagegen kam es ausschließlich auf die inhaltliche Aussage an. Er wählte die ausführlichere Fassung, verfolgte aber mit ihr einen gänzlich anderen , nämlich politisch affirmativen Zweck. Dem Promythion, das er aus eigener Intention voranstellte, gab er die Form einer konservativ-oppositionellen Ankündigung, die geradezu den Charakter einer Kampfansage trägt. Sie richtete sich gegen die Programme einer sozialen Revolution, ja gegen alle Versuche einer gesellschaftlichen Veränderung überhaupt, wie sie ihm bei Karlstadt, den Zwickauern , bei Thomas Müntzer, im Schwärmertum, bei den Täufern, aber auch in gemäßigteren Reformprogrammen entgegengetreten waren . Ohne sie kritisch zu prüfen und sich auf argumentierende Auseinandersetzungen mit ihnen einzulassen, verwarf er sie von vorneherein samt und sonders und beabsichtigte, mit der den „ Progymnasmata“ entnommenen Fabel sie dem vernichtenden Spott auszuliefern. Melanchthon hat diese Fabel mehrfach verwendet, wenn es ihm darauf ankam , gegenüber allen Neuerungsversuchen seinen politisch und sozial konservativen Legitimismus naturrechtlich zu begründen 19. Um sie zur Beweisführung tauglich zu machen, mußte er seine Vorlage an entscheidender Stelle umerzählen . In den ,,Progymnasmata“ geben die Affen ihr Vorhaben, eine Stadt zu erbauen, auf, als ihnen ein alter, erfahrener Affe entgegenhält, daß sie dann, zwischen Mauern eingezwängt, viel leichter von ihren Feinden überwältigt werden könnten. Melanchthon aber läßt ihr unüberlegt begonnenes Unternehmen scheitern, weil die Natur ihnen die hierfür erforderlichen Fähigkeiten versagt hat . Die bestehenden gesellschaftlichen Unterschiede sind für ihn naturgegeben und damit durch göttliches Gebot sanktioniert. Das Epimythion zeigt, wie sehr noch immer in Melanchthon die Erinnerungen an die Wittenberger Unruhen 1521/22 und an den thüringischen Bauernkrieg 17 Ex Hermogenis exercitamentis de fabula Prisciano interprete. In : Habentur hoc volumine ... Venedig: Aldus Manutius 1505 , Bl . Aiiiiˇ . Progymnasmata 1,20f.; abgedr. b. Leonard Spengel : Rhetores Graeci II [ nur in d . 1. Aufl. ] , Leipzig 1854 , S. 3. 18 a.a.O., Leipzig 1544 , S. 192. 19 z. B. auch Opera omnia, Vol. XI, Sp. 915f. , 645 (Hinweis in der Rede ,,De dono interpretationis" ).
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nachwirken. Aus dem Spott über die Tiere wird beschwörender Ernst bei der Übertragung auf menschliches Beginnen. Was bei den Affen mangelnder Verstand und kreatürliche Unfähigkeit, wäre bei den Menschen Verantwortungslosigkeit, Versündigung an der göttlichen Ordnung, teuflische Tollheit, der Weg ins Verderben. In Melanchthons Denken ist kein Raum für Utopien. 2. Die Fabel in selbstbiographischer Verweisungsfunktion: ,,De Serpente , Rustico et Vulpecula“ Der frühste Beleg für diese von Melanchthon mit Vorliebe erzählte und auf sein eigenes Schicksal bezogene Fabel ist nur handschriftlich durch Fremdüberlieferung erhalten geblieben . Sie findet sich in einer Tagebuchaufzeichnung des Wolfgang Musculus20. Dieser war mit Martin Bucer als dessen Helfer nach Wittenberg gekommen, um an den Verhandlungen zwischen den kursächsischen und den oberdeutschen Theologen über die von beiden Seiten angestrebte Konkordie teilzunehmen. Die Unterredungen hatten am Vortag begonnen. Bucer und die Abgesandten der oberdeutschen Städte luden Melanchthon und Justus Jonas am 23. Mai 1536 zur Mahlzeit in ihre Herberge ein. Diese Gelegenheit nahm Melanchthon zum Anlaß, um die den anderen offensichtlich noch unbekannte Fabel scheinbar nur zur Unterhaltung vorzutragen . Die Erzählsituation war also die gleiche wie bei Luthers Tischgesprächen. Melanchthon verband jedoch damit zweifellos auch noch einen anderen , auf die Verhandlungen bezogenen taktischen Zweck. Er wollte den Gastgebern indirekt seine Bereitschaft bekunden , eine Vermittlerrolle zwischen den Parteien zu übernehmen , und den von den Anhängern Luthers hart bedrängten Oberdeutschen zu Hilfe kommen . Zugleich wollte er ihnen das Prekäre seiner Rolle hierbei bewußtmachen . Anstelle des abschließenden Morale deutete er an, daß er sich im Verlauf der Unterhandlungen zu gegebener Zeit dieser Fabel bedienen wolle, um nötigenfalls bei der eigenen Partei Betroffenheit zu erregen. Daß Melanchthon der Erfinder dieser Fabel gewesen sei, ist eine Tradition, die sich später im Kreis seiner Freunde und Schüler gebildet hat und der noch Gellert (freilich mit leisem Zweifel an der vollen Originalität) gefolgt ist¹¹ . Melanchthon 20 Erwähnung in: Analecta Lutherana. Briefe u. Aktenstücke zur Geschichte Luthers. Hrsg. v. Th. Kolde , Gotha 1883 , S. 219. Erstmals im vollen Wortlaut abgedr. b. Hans Volz: Ein Quellenbeitrag zu den Fabeln des Erasmus Alber [ zu Fab. 48 : „ Von einem Bawrn, Sclangen und Fuchß“ ] , in: ZfdPh 77 ( 1958 ), S. 61. – Deutsche Übersetzung s. Kommentar, S. 262f. 21 Vgl . die Nacherzählung des Johannes Mathesius, die Elegie ,,Fabula saepe recitata a Philippo Melanthone praeceptore meo carißimo, De Serpente, Rustico et Vulpe , pulcre depingens ingratitudinem Mundi" v. Hieronymus Osius (s. Kommentar, S. 270), a.a.O. Bl . N 3 '-N 4 ; das Hexametergedicht ,,De Rustico , Serpente et Vulpe Quae sit mundi merces" v. Pantaleon Candidus (s. Kommentar, S. 278), a.a.O. Nr. 23; Chr. F. Gellert, Nachricht und Exempel von alten deutschen Fabeln, in: Sämmtliche Schriften, 1. T., Leipzig 1784, S. XXXIV-XXXVI. – Die Anmerkung 72 des Verf. in seinem Aufsatz ,,Die Fabelpredigt des Johannes Mathesius" (s. Allg. Lit.) ist unzutreffend und bedarf der Berichtigung im Sinne der nachfolgenden Ausführungen.
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selber gibt an, sie brieflich ,,a scolastico quodam praeceptore“ erhalten zu haben, der ihm damit ,,in re ardua“ seine Anteilnahme habe bekunden wollen. Wie der Hinweis auf den Spötter zu Beginn der Fabel ,,Vom Esel und Kahn“ könnte auch diese Angabe fiktiv sein, weitaus wahrscheinlicher aber ist diesmal, daß Joachim Camerarius gemeint ist. Dieser sammelte in jenen Jahren die Fabeln für seine große Anthologie, und er wechselte ständig Briefe mit Melanchthon . Auch wenn mit jenem ,,in re ardua" der Mißerfolg auf dem Augsburger Reichstag 1530 und seine Folgen gemeint sind, lassen sich diese noch als Anlaß für den Fabelbrief des Camerarius denken . Auf jeden Fall spielt Melanchthon auf seine Vermittlungsbemühungen in konfessionellen Streitigkeiten an und auf die Undankbarkeit, gar die Feindschaft, die er dafür erntete : dieser Zusammenhang trat jedesmal wieder neu ans Licht, wenn Melanchthon späterhin auf die Schlangenfabel zurückgriff. Schon die erste Ausgabe der Anthologie enthielt unter dem Titel ,,Merces anguina" (,,Schlangenlohn" ) die Fabel von der undankbaren Schlange, der rettenden List des Fuchses und dem Wortbruch des Bauern.22 Camerarius erzählt sie breit episierend - sie bleibt auch in den späteren Ausgaben die längste Fabel der ganzen Sammlung -, mit vielen ausschmückenden und variierenden Details , aber im Handlungsablauf mit Melanchthons Wiedergabe ganz übereinstimmend, nur daß jeder Bezug auf die Person des Erzählers fehlt. Eine genaue von Camerarius benutzte Vorlage ist unbekannt, frei erfunden hat er die Fabel aber gewiß ebensowenig wie Melanchthon. Sie wird durch Überlieferungskombinationen und -variationen entstanden sein und demzufolge ein meisterliches Kunstgebilde der inventio darstellen. Die aesopische Fabel von der in der Kälte erstarrten Schlange , die ein Bauer findet, an seiner Brust erwärmt, wofür ihn die Gerettete zum Lohn durch einen Biẞ tötet23, hat nur das gleiche Hauptmotiv, keine gemeinsamen Handlungselemente. Durch die humanistische Freude am Nachstöbern in mittelalterlichen Handschriften scheint Camerarius zu einem überraschenden Fund geführt worden zu sein. Jedenfalls ist der ,,Merces anguina" eine von Léopold Hervieux in einer Sammelhandschrift vom Ende des 13. oder Anfang des 14. Jahrhunderts , dem Codex 219 Harleianus der Bibliothek des Britischen Museums, entdeckte Fabel verwandt, die dort mit anderen von unbekannter Herkunft zwischen den Fabeln Odos von Cheriton steht : ,,De duobus serpentibus debellantibus et quodam milite uni eorum adiuvante." 24 Darin trifft ein durch den Wald reitender Soldat auf zwei miteinander kämpfende Schlangen , von denen die eine fast überwältigt ist, ihn um
22 Fabulae Aesopi iam denuo multo emendatius et locupletius quam antea aeditae. Tübingen: Morhard 1538, fol. 147-149; in der Ausg. Leipzig 1544, S. 313-318 . - Lat. Text der Fabel nach der Ausg. v. 1544, s . Kommentar, S. 263ff.; Dt. Übersetzung, ebd. , S. 265ff.. 23 Phaedrus IV, 20 . – B u . V. u. a. Babrios 147; Romulus 13; Boner 13; Steinhöwel 10; Alberus 14; Waldis 1,7; Kirchhof VII ,73. 24 Gedruckt b. Hervieux (s. Abkürz .), Tome IV, Odonis fabulis addita. Collectio prima, Nr. XXIV (LVIII); Perry 640.
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Hilfe anfleht und verspricht, sich ihm dankbar zu erzeigen . Nachdem er sie befreit hat, stürzt sie sich auf ihn und begründet ihr wortbrüchiges Verhalten mit ihrer Natur und dem Weltlauf. Die Schlange schlägt selbst vor, drei Tiere darüber zu befragen, ob die Welt in solcher Weise Dank abzustatten pflege. Sie begegnen zuerst einem alten Pferd , dann einem alten Ochsen , die beide aus ihrer eigenen Lebenserfahrung diesen Weltlauf bestätigen, zuletzt dem Fuchs . Er fordert für eine gerechte Urteilsbildung die Wiederherstellung der Ausgangssituation . Das geschieht . Die Schlange muß auf die Erde zurückkriechen , der Soldat führt wieder frei seine Lanze wie vor der Begegnung mit den Kämpfenden. ,, Vale, miles" , ruft der Fuchs aus , „,vade liber, quocumque volueris , et amodo cum pravis non te inmisceas, quia nunquam nisi malum a talibus optinebis nec reportabis; ideo caveas de cetero“ 25. Als Epimythion gibt die Handschrift eine Auslegung (,,Expositio" 26) nach dem geistlichen Sinn, unter Berufung auf Jesaias 5,20 : ,,Ve , qui dicitis malum . bonum et bonum malum, ponentes tenebras lucem et lucem tenebras !" (,Wehe euch, die ihr Böses gut und Gutes böse heißet , die ihr aus Finsternis Licht und aus Licht Finsternis macht ! ' ) . Eindeutig wird die Aussage der Schlange als Lüge , ihre Rechtfertigung mit dem Weltlauf als Verworfenheit des Bösen gekennzeichnet. Die Verdammungsprophezeiung zielt auch auf das , ..quid dicant Equus et Bos et pessimi homines dierum malorum inveterati , qui secundum cursum mundi iudicant". Dagegen wertet der geistliche Interpret die Rettungstat des Ritters als verdienstliche Barmherzigkeit, der schon auf Erden himmlischer Schutz zuteil wird. Denn durch den Fuchs wird Christus bezeichnet : ,,Iste Vulpes in rubea pelle, per stigmata passionis sue, in die iudicij separabit oves ab hedis , serpentes a militibus, id est tales filios diaboli a suis fidelibus . “ Die Aufforderung zum Wiederbesteigen des Pferdes bedeutet , daß ,,reintegrabit corpus cuiusque fidelis cum anima supersedente, et ibunt liberi in vitam eternam“ . Die beiden Schlangen aber bedeuten die Verdammten , die ,,inter vepres et rampnos , id est inter penas infernales, comedent terram“27. Die Entstehungsgeschichte der „ Merces anguina“ -Fabel ist vorstellbar als Kombination verschiedener motivverwandter Fabeln , die vorher ein selbständiges Eigenleben geführt und dieses auch weiterhin behalten haben . Es gibt solche Fabeln aesopischer und ebenso orientalischer Herkunft, ohne daß sich deren wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis, wie es die Orientalistik des 19. Jahrhunderts versucht hat, sicher bestimmen ließe. Wohl liegt es nahe und darf als wahrscheinlich gelten , daß Reihung, Analogiebildung und Erweiterung die maßgeblichen Faktoren der Ausgestaltung gewesen sind, doch fehlen gesicherte Fixpunkte der Textgeschichte, so daß auch der im folgenden vorgelegte Rekonstruktionsversuch hypothetischen Charakter behalten muß.
25 Hervieux , S. 383 ; Perry, S. 655. 26 Perry hat die „,Expositio“ als „ satis longa" weggelassen . Sie steht nur bei Hervieux, S. 383f. 27 1. Mos. 3,14.
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Als erste Stufe läßt sich die Errettung des Bauern durch den Rat eines begegnenden Tieres, ohne vorangegangene Befragungen, vermuten. In dieser Kurzform ist die Erzählung freilich erst spät, aber wohl auf einer frühen Quelle beruhend, bei Abstemius überliefert. Dort ist der Ratgeber ein Affe :
De Serpente saxo oppresso. Serpens ingenti oppressus saxo, rogavit virum illac iter habentem, ut a se onus amoliretur, pollicitus ingentem se illi thesaurum, si hoc faceret, daturum . Quod quum vir mitis fecisset, non modo promissa non solvebat, sed hominem morte dignum esse dicebat. Dum ita contenderent, accidit, ut simius illac transiret, qui iudex et arbiter electus, non possum , inquit, inter vos tantas componere lites, nisi videro prius quo pacto serpens sub saxo stabat. Quum ergo vir serpenti saxum imposuisset, inquit simius, ingratum animal sub saxo relinquendum censeo. Fabula indicat, ingratos homines nullo dignos esse beneficio28. Eine andere Fassung in der ,,Disciplina clericalis" des Petrus Alphonsus, die vielleicht das stärkste Argument für eine ursprünglich orientalische Abkunft des Stoffes liefert, da diese Sammlung eine Hauptvermittlungsstelle indischen und persisch-arabischen Erzählguts nach dem Westen gewesen ist, weicht zwar in der Ausgangssituation von der des Codex Harleianus und von Abstemius ab, setzt aber schon den Fuchs als Schiedsrichter ein, der am Schluß das Morale formuliert : „ Und du , Mensch, gib dir keine Mühe , eine Schlange zu befreien ! Hast du nicht gelesen, daß die Last auf den herabfällt, der sie von ihrem Lager löst?“29 Eine dritte Fassung, die in Situation und Verlauf am weitesten von den beiden anderen abweicht, im Ergebnis aber mit ihnen übereinstimmt, bringt Steinhöwel in seinen ,,Extravagantes“ (4) : „,De dracone et villano ; von dem draken und dem puwr 30. Von einer Sandbank in einem Fluß, wo er hätte umkommen müssen, wird ein Drache von einem am Ufer vorüberkommenden Bauern gerettet, er bindet ihn auf einen Esel und läßt ihn von diesem zu seiner Höhle zurücktragen. Dort abgeladen, will der Drache den Bauern fressen . Ein zufällig vorbeikommender Fuchs rät, den Drachen abermals zu binden, ihn auf die Sandbank zurückzubringen und da seinem Schicksal zu überlassen . Der Bauer befolgt diesen Rat. Das Epimythion hierzu lautet: „ Taliter homines, cum pro bonis mala retribuunt , frequenter retributionem dignam recipiunt iuste “ . Steinhöwels lateinische Vorlage hat Hervieux in einer Romulus - Version , dem Romulus Monacensis (Nr. 30) entdeckt³¹ . Die für Melanchthons spätere autobiographische Auslegung entscheidende Erweiterung der zweiten Stufe besteht in der Zustimmung der Schlange zur vorherigen Befragung dreier unparteiischer Tiere. Dieses Motiv begegnet als 28 Hecatomythium II , Nr. 36. Neudruck v. Isaac Nic. Neveletus, Mythologia Aesopica. Frankfurt/M. 1610 (s. S. 5 , Anm. 12 ) , S. 593. – Dt . Übersetzung, s . Kommentar, S. 268. 29 Disciplina clericalis (s. S. 119 Anm. 5) , V. Exempel . - Dt . Übersetzung v. E. Hermes (s. ebd. ) , S. 155. Abdruck s . Kommentar. 30 Ed. Oesterley, S. 197-199. 31 Hervieux 2Tome II , S. 276f.; Perry 640a (S. 655f.); Dt. Übersetzung v. H. C. Schnur, S. 187, 189.
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Rechtsentscheid in der Fuchsepik32 . Das Epos „ Reynke de vos“ (III , 4, v. 4579-4740) hat die Fabel geschickt in den Handlungsverlauf integriert33 . Als der Zorn des Königs über Reynkes Verbrechen seinen Höhepunkt erreicht hat, wird sie als tatsächlicher, zwei Jahre zurückliegender Vorgang durch die Äffin , die hinter den Kulissen des Prozesses als Entlastungszeugin für Reynke wirkt, dem König in Erinnerung gerufen, der daraufhin seinen Entschluß, das Todesurteil über Reynke zu fällen , aufgibt. Bauer und Schlange hatten sich zunächst an einen Raben gewendet, dann an Wolf und Bär, die als Laienrichter aus egoistischen Gründen zugunsten der Schlange entschieden, zuletzt appellierten sie jedoch nicht an den Fuchs , sondern an den Löwen als obersten Gerichtsherrn . Dieser zog den Fuchs als Rechtssachverständigen hinzu , der einen Lokaltermin an der Höhle erwirkte. Dadurch traten die Rechtsverdrehungen der Laienrichter ans Licht, der Fuchs erwies sich als einzig kompetenter und integerer Rechtsberater. Daher folgte der Löwe der Beurteilung des Falles durch ihn und entschied zugunsten des Bauern34. Der Ausgang lehrt auf beiden Entwicklungsstufen, im einfachen und im appellierenden Entscheidungsverfahren, zweierlei : Mit betrügerischen und bösen um Hilfe Bittenden soll man sich nicht einlassen – und : Wer Gutes mit Bösem vergilt, wird am Ende dafür bestraft . Die ,,Reynke“ -Fassung der Rechtsbefragung und des königlichen Gerichtsentscheids hat keine Nachfolge gefunden . Sie gehört nicht in die Fabeltradition, sondern in die der Tierepik. In allen sonstigen Fassungen der erweiterten Form , in denen der Fuchs ohne ein Prozeßverfahren allein durch seinen listigen Rat, als Voraussetzung für eine gerechte Entscheidung der Streitfrage die Ausgangssituation wiederherzustellen , zum Retter des Mannes wird , sind die vorher Befragten ein altes Pferd und ein alter Hund (oder, wie im Codex Harleianus , ein alter Ochse) , die nicht mit Hilfe juristischer Argumente urteilen , sondern nach der eigenen Lebenserfahrung . Sie treten als mitleidswürdige Beweise auf für die Wahrheit des Sprichworts : ,,Undank ist der Welt Lohn". Seit der Antike selbständig existierende Fabeln, deren Thema die grausam fühllose Undankbarkeit der Menschen gegenüber Tieren ist, die ihnen ihr Leben lang treu gedient haben, werden auf der dritten Stufe als Episoden eingeschaltet: die Opfer berichten von ihrem Schicksal mit der Resignation des Unabänderlichen , dem sich auch der Bauer wird fügen müssen. 35
32 Vgl. J. Goossens (s . Kommentar zu ,,Reynke de vos“ , Neudrucke , S. 169) , S. 357 , 359, 361 , 365 , 367. 33 Text s . Bd. I , S. 40ff.; vgl . Bd. II , Kommentar, S. 170f. u . A. Elschenbroich: „ Das ,byspel ' als Handlungselement" (s . Allg. Lit. ) , S. 9ff. 34 Zur Auslegung der Fabel in den sog. Jüngeren Glossen vgl. Elschenbroich, S. 27f. 35 Pferd im Alter: Perry 549, Halm 174 ; Phaedrus (Appendix Perotti) 21 ; Babrios 76; Aphthonios 13. - Hund im Alter: Perry 532; Phaedrus V, 10; die Fabel ist auch im Mittelalter und im 16. Jahrhundert häufig (mit Varianten) ohne Zusammenhang mit der Schlangenfabel erzählt worden: Romulus 33 ; Heinrich von Mügeln 60,61 ; Boner 31; Steinhöwel 27; Alberus 15 ; Waldis 1,22; Sachs II ,237 ; III, 196; vgl . auch Grimm, KHM 27 (Die Bremer Stadtmusikanten: Esel , Jagdhund , Katze, Hahn) .
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Schon die Ausführlichkeit, die den Episoden im Verhältnis zur Hauptfabel gewidmet wird, zeigt, daß die vorherrschende Intention des Erzählers sich ins Gegenteil verkehrt hat . Sie ist nicht mehr optimistisch auf die Demonstration gerechter Bestrafung für Undankbarkeit, sondern pessimistisch auf die Gleichgültigkeit der Welt gegenüber allen Verdiensten , die der Vergangenheit angehören, gerichtet. Die epische Ausgestaltung der beiden Episoden nimmt in den Fassungen des 16. Jahrhunderts immer weiter zu , sicher nicht zufällig am meisten bei BurkardWaldis. Die veränderte Blickrichtung hat auch Auswirkungen auf die Bauform . Der Konflikt zwischen der Schlange und dem Bauern wird zu einer Art Rahmenfabel , von der die Erzählungen des alten Pferdes und des alten Hundes als Binnenfabeln eingefaßt sind; durch die dritte Episode , die Begegnung mit dem Fuchs , werden die beiden vorigen mit der Haupt- und Rahmenfabel verbunden . Die Fuchsepisode bringt keine Umkehr in der Bewertung, der Fuchs handelt nicht aus Verantwortung für das , was recht ist, wie es im „ Reynke de vos“ die Äffin zumindest glauben machen möchte, sondern unverhohlen um der Belohnung willen, die er sich vorher von dem Bauern hat zusichern lassen. Eine thematische Verschiebung tritt ein : die Amoralität der Schlange wird bald nicht mehr das beherrschende Motiv sein, sondern der Mensch als gewissenloser Ausnutzer der Tiere. Es ist auf die Möglichkeit hingewiesen worden , daß indische bzw. persischarabische Einflüsse die Ausgestaltung der Fabel auf dieser dritten Stufe veranlaßt haben könnten 36. Die abschließende vierte Stufe hat die pessimistische Wendung kraß vollzogen. Dies geschieht vor allem in der Schlußphase. Die Handlung erfährt eine abermalige Erweiterung durch Wiederholung an einem Parallelfall, der mit dem Vorangegangenen durch Rollenumkehrung zusammengebunden ist . Personengleichheit sichert die Verkoppelung zur kontinuierlichen Handlung . Diesmal ist der Bauer der untreue Gerettete , der sein Versprechen bricht, der Fuchs der betrogene Retter, der ,,bona fiducia“ bei der Nacht auf den Hof kommt , um seinen Lohn zu empfangen . Diese vierte und letzte Fassung, in der sich der Bauer durch seine Frau zum Meuchelmord überreden läßt , wird literarisch zum erstenmal bei Camerarius faßbar. Ausgeschlossen ist nicht, daß er den zynischen Ausgang selbst hinzuerfunden hat, vielleicht auf Grund vorhandener motivlicher Ansätze , besonders bei Abstemius³ , vielleicht liegt aber auch hier wiederum eine orientalische Einwirkung vor, die auf Umwegen über nicht mehr greifbare Zwischenstufen zu Camerarius gelangt sein könnte38. Am wahrscheinlichsten ist jedoch eine deut36 Vgl. Th. Benfey: Pantschatantra. Fünf Bücher indischer Fabeln , Märchen u. Erzählungen. Aus dem Sanskrit übersetzt mit Einleitung u. Anmerkungen . I. Bd . , Leipzig 1859, S. 113ff. (Brahmane und Krokodil . Mangobaum, alte Kuh und Fuchs als Befragte). 37 Hecatomythium II , Nrn . 15 , 38 , 46, 51 , 92. 38 Eine armenische Fassung, die den gleichen Ausgang enthält, hat August von Haxthausen in seiner ,,Transkaukasia“, 1856, T. I, S. 332 mitgeteilt; allerdings erscheint sein Gewährsmann wenig zuverlässig. Vgl. hierzu Benfey, S. 118. Über A. v. Haxthausen vgl . A. Elschenbroich, in : NDB 8 ( 1969 ) , S. 140f. Bei den Heanzen , bayerischen und alemannischen Siedlern im Burgenland, ist gleichfalls die letzte Fas-
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sche Herkunft aus der Schwankliteratur der Zeit, da in ihr der Ehestreit, die bedenkenlos materielle Gesinnung und der enge geistige Horizont des Bauernstandes, die Grobheit des Umgangs zwischen Mann und Frau , das Unterliegen eines der beiden Partner beliebte Themen waren. Nur in der ersten Aufzeichnung seiner Lieblingsfabel durch Wolfgang Musculus hat Melanchthon aus taktischen Gründen im Hinblick auf die bevorstehenden Konkordienverhandlungen die Anwendung mit dem andeutenden Verweis auf eine künftige Erklärung ihres persönlichen Sinnbezugs zum gegebenen Zeitpunkt offengelassen. Später verband er mit ihrer autobiographischen Bedeutung immer auch theologische Reflexionen. Zum zweitenmal hören wir von ihrer mündlichen Weitergabe durch Melanchthon aus Anton Lauterbachs Tagebuch vom 5. April 1538. An diesem Tage bildete sie ein Gesprächsthema zwischen Melanchthon und Luther auf einer gemeinsamen Wagenfahrt von Torgau nach Wittenberg. Sie diente sicher zunächst als Reiseunterhaltung, muß sich zugleich aber auch auf unmittelbar Zurückliegendes oder Bevorstehendes bezogen haben. Nach damaliger Theologenart hat Melanchthon die Fabel wohl in einem lateinisch-deutschen Mischtext vorgetragen. Auf diese „ insignis historia de ingratitudine" gab Luther zur Antwort : „ Typus est mundi . Wem man vom galgen hilfft, der bringt einen hinan39. Si nullum haberemus exemplum , tunc Christus esset , qui totum mundum ab inferno liberavit et ipse a populo suo crucifixus est. “ 40 Luthers Auslegung ist weltlich und geistlich zugleich , und es mag auf ihn zurückgehen, daß Melanchthon die allzu sehr auf sich selbst bezogene Deutung, so oft sie sich ihm auch später immer wieder aufdrängte, doch gleichzeitig zu kompensieren suchte durch eine allgemein weltgültige und ein ihr entgegenzustellendes christliches Postulat. Luther meinte mit seiner Bezeichnung der Fabel als „,typus mundi“ die Verbildlichung der Welt, wie sie ist, an einem exemplarischen Vorgang. Er wollte sie in aller Schärfe nach ihrem sensus historicus verstanden wissen. Auf Christus bezogen, ist sie ,,typologisch“ für sein irdisches Schicksal , und nur insoweit hat Luther wohl auch die geistliche Perspektive mit ansprechen wollen. Viel stärker wurde diese in den Vordergrund gerückt, als 1541 Sebastian Francks ,,Sprichwörter“ in deren zweitem Teil die letzte Fassung der Fabel durch den Druck einer breiteren Leserschicht bekannt machten¹¹ . Die Übereinstimmung mit der Deutung, die Luther aufjener Wagenfahrt der Fabel gegeben hat und die von Melanchthon in seinen späteren Fassungen übernommen wurde, geht bis
sung im Umlauf gewesen (J. R. Bünker: Schwänke, Sagen und Märchen in heanzischer Mundart. Leipzig 1906, Nr. 48 , S. 108 ); jedoch kann hier die Überlieferung jung sein. 39 Sprichwort. Wander I, Sp . 1318 , vgl . Luthers Fabel ,,Vom Kranich und Wolffe", Bd . I, S. 82. 40 WA, Tischreden 3, Nr. 3821. 41 Sprichwörter / Schöne / Weise / Herrliche Clůgreden / unnd Hoffsprüch ... Annder theyl der Sprichwörter / Darinnen Niderlendische / Hollendische / Brabendische und Westphälische Sprichwörter begriffen ... Jnn gåte Germanismos gewendt / Mit hochteutschen Sprichwörtern verglichen / unnd außgeleget / Durch Sebastian Francken. Frankfurt 1541 , II, Bl . 28b-29b. .
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zur Identität, und doch muß jede unmittelbare Vermittlung ausgeschlossen erscheinen. Weitergaben, mündliche oder vielleicht auch schriftliche, mögen stattgefunden haben, aber keine ist jedenfalls greifbar, auch in etwaigen Begegnungen oder Vermittlungen nicht. Das gleiche Sprichwort, mit dem Luther, wie es seine Gewohnheit bei aesopischen Fabeln war, das Epimythion formuliert hatte¹² , kehrt bei Franck im Vorspann wieder: „ Wer einn vom galgen erlößt / der henckt in zlongern dran“ 43, ebenso findet sich das später von Melanchthon aufgegriffene ,,Der welt lohn geben“ 44. Weit nachdrücklicher, apodiktischer und pessimistischer ist bei Franck der Bezug auf das Leiden Christi. Er stellt die beiden weltlichen Sprichwörter zusammen mit den geistlichen: Redemptorem patibuli suspendere“ , „ Seinn erlöser hencken“ ,,,Wer Christo nachvolgt / der kompt ann galgen“ , „ Es hat sich nie keiner sein angenommen / er ist seins unglücks teylhafftig worden“ 45 . Diesen Leitsätzen schließt sich bei Franck eine zugleich geistliche und weltliche Betrachtung an, die wiederum aus Sprichwörtern , ferner aus Bibelzitaten und vielen intensivierend abwandelnden Wiederholungen besteht. Sie wird abgeschlossen von der Schlangenfabel , die , kürzer gefaßt, dem Verlauf des Geschehens , wie es bei Camerarius und Melanchthon erzählt wird, in den Hauptphasen folgt. In den vierziger Jahren errang sich die Fabel ,,Von der Schlange, dem Bauern und dem Fuchs“ in Prosa und Vers einen festen Platz in der deutschsprachigen Fabeldichtung des 16. Jahrhunderts . Sie ging in die volkstümliche Sammlung ,,Schertz mit der Warheyt“ ( 1545) , eine erweiterte anonyme Neubearbeitung von Johannes Paulis ,,Schimpf und Ernst“, als unterhaltsame Lektüre ein46, in das „ Buch von der Tugend und Weisheit" des Erasmus Alberus ( 1550 ) und in den „ Esopus“ des Burkard Waldis ( 1548)47. Dabei behielt sie wohl pessimistische Züge, diese waren aber in ihrem Lehrgehalt auf weltliche Bosheit gerichtet und gingen religiöser Nachdenklichkeit eher aus dem Wege . Wie diese Bearbeitungen voneinander abhingen , ist kaum erkennbar, ebensowenig, ob sie letztlich auf einer gemeinsamen Quelle beruhen48, obgleich die größte Wahrscheinlichkeit für Camerarius spricht.
42 S. Anm . 39. 43 a.a.O. , S. 27ª (Giij). 44 Wander V, Sp. 160, 162 , vgl . ebenfalls Luthers obgen. Fabel; bei Melanchthon sagt die Schlange: die welt lohnet nicht anders." 45 a.a.O., S. 27 . 46 Schertz mit der Warheyt. Vonn gåttem Gespräche / In Schimpff und Ernst Reden / Vil Höfflicher / weiser Sprüch / lieblicher Historien / und Lehren . Zu Underweisung und Ermanung / in allem thůn und Leben / der Menschen / Auch ehrlichen Kurtzweilen / Schertz und Freüdenzeiten / zu erfrewung des gemüts / zusamen bracht. Jetzund New / unnd vormals dermassen nie außgangen. Frankfurt 1545 , Bl . XIIIIª-XV : Von der Welt untrew und undanckbarkeyt / Ein schöne Fabel / von eim Bawren / Schlangen / und Fuchs. . 47 S. Kommentar, S. 269 , unter B und V. 48 Vgl . hierzu die einzelnen Bemerkungen von A. L. Stiefel , in: Euphorion 9 ( 1902) , H. Volz, in: ZfdPh 77 ( 1958 ) u . W. Braune, in: Die Fabeln des Erasmus Alberus, Einleitung, S. XLIIIf.
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An einem Februarsonntag des Jahres 1563 , als die Joachimsthaler Gemeinde ihr ,,Bergfest" feierte, trug der Pfarrer Johannes Mathesius am Schluß seiner Predigt von der Kanzel herab Melanchthons Fabel zusammen mit seiner eigenen vom Sperlingsvater und dessen vier Jungen vor. Er hatte an diesem Tage im Rahmen des Predigtzyklus seiner entstehenden Lutherbiographie anstelle eines Perikopentextes über Luthers Arbeit an einem deutschen Aesop 1530 während des Aufenthaltes auf der Veste Coburg gesprochen und damit allgemeine Betrachtungen über die Fabel , ihre öffentliche und private Wirksamkeit verbunden, so daß die Hinzufügung der beiden nichtlutherischen Fabeln durchaus in den Rahmen der vorangegangenen Ausführungen paßte. Mathesius erzählt die Schlangenfabel aus dem Gedächtnis, ganz im Ton mündlicher Überlieferung mit volkstümlich-natürlicher Frische besinnlich plaudernd, als habe er von den inzwischen bekannt gewordenen literarisierten Bearbeitungen gar keine Kenntnis erhalten. Er berichtet, Melanchthon habe die Fabel , die er ihm mit der gleichen Selbstverständlichkeit zuzuschreiben scheint, wie er selber der Urheber der Sperlingsfabel war, auf der Rückreise von einem Besuch in Joachimsthal, als er mit einigen Freunden ihn noch ein Stück weit begleitete, bei der Mittagstafel erzählt. Die Situation ist so geschildert, als hätten die Teilnehmer und auch Mathesius selber die Fabel bei dieser Gelegenheit zum erstenmal gehört. Melanchthon sei zu jener Zeit ,,mit ebentewrlichen geferten beladen" gewesen , wie sein Bauer mit der Schlange. Vermutlich war es im März 1552. Gemeint sind mit jenen „ geferten“ dann die Gnesiolutheraner, Flacius Illyricus und dessen Anhänger, deren Feindschaft sich Melanchthon durch seine Zugeständnisse gegenüber der katholischen Lehre bei den Leipziger Verhandlungen über ein modifiziertes Interim und im nachfolgenden Streit um die „Adiaphora“ – für den Glauben unwesentliche, unter den gegebenen Umständen nach der Niederlage der Protestanten im Schmalkaldischen Krieg zu akzeptierende rituelle Bräuche des altkirchlichen Gottesdienstes – zugezogen hatte . Seine damalige Bereitschaft, das Tridentiner Konzil zu besuchen und die hierfür von ihm angefertigte ,,Confessio Saxonica“ taten ein übriges . In der Wiedergabe durch Mathesius ist der schmerzliche Grundton noch deutlich spürbar, in dem Melanchthon seine Fabel vorgetragen haben muß. Bittere Erfahrungen, die er auch in den vorangegangenen Jahren schon übergenug hatte machen müssen, spiegeln sich in ihr wider. Wie zu den spezifischen Gattungsmerkmalen der aesopischen Fabel ihre Veranlassung durch aktuelle Vorkommnisse gehört, so hat auch Melanchthon die seinige, obwohl es eine war , die er sich ursprünglich selbst angeeignet hatte , ganz an Umstände seines Lebens. geknüpft, in denen ihm widerfahren war, was diese Fabel lehrt: ,,Wer der Welt dienet /der verleurt nicht allein sein wolthat / sondern kriegt mit der zeit teuffels danck zu lohn . “49 Sein Selbstverständnis war das des hilfsbereiten Vermittlers, der immer wieder statt Dankbarkeit : Verkennung, Mißtrauen, Verleumdung und Feindschaft geerntet hatte, mochte es sich um die Confessio Augustana, die 49 Mathesius, Luther-Historien, Bl. LXXIIII .
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Wittenberger Konkordie, die Schmalkaldischen Artikel oder nach Luthers Tod um die innerprotestantischen Streitigkeiten handeln . Auch sein persönliches Verhältnis zu Luther war daran mitbeteiligt. Er hatte sich in der Zwischenzeit in solchem Maße mit dieser Fabel identifiziert, daß sie ihm über den aktuellen Sinnbezug hinaus, wie dieser einst in der von Musculus aufbewahrten Fassung von den Zuhörern erkannt werden sollte, im Lebensrückblick zum Gleichnis seines ganzen Schicksals geworden war. Auf die Fabel bezogen, ist die Rolle der Hilfsbereitschaft zunächst die des Bauern, dann die des Fuchses; die Undankbarkeit trifft zuerst den Bauern , dann den Fuchs. Deckungsgleich sind die Fabelfiguren jedoch trotzdem nicht mit dem Selbstverständnis des Erzählers , es sei denn in den beiden Episoden, wo die Tiere für ihre treuen Dienste zuletzt schmählichen Undank erleiden und, zu einer ärgerlichen Belastung geworden, aus dem Wege geräumt werden sollen. Bei den beiden Retterfiguren, dem Bauern und dem Fuchs hingegen, ist das Verhältnis nicht frei von Zwiespältigkeit. Bestünde auch bei diesen aktiv Handelnden volle Identität mit dem interpretierenden Erzähler, so würde es sich nicht um eine Fabel , sondern um eine Handlungsallegorie handeln . Zwar ist sicher von Bedeutung, daß in dieser Melanchthonschen Fassung der Fabel , zum Unterschied von den vorher besprochenen volkssprachlichen und auch zu Camerarius, der Fuchs keine Belohnung fordert, ehe er sich zur Hilfeleistung bereit findet, aber im nachhinein nimmt er sie gleichwohl bei seiner Ankunft auf dem Bauernhof für sich in Anspruch. Die entscheidende Eigenschaft der Uneigennützigkeit mag also im ersten Impuls wirksam sein , sie hält jedoch nach vollbrachter Tat nicht durch. Auch der Bauer entschließt sich zwar trotz aller Gefahr aus Mitleid zur Rettung der Schlange, jedoch erst nachdem sie ihm den höchsten Lohn, den die Welt geben kann, versprochen hat; ihre Zweizüngigkeit ist ihm dabei nicht bewußt. Ebenso ist das Motiv der Undankbarkeit des Bauern gegenüber seinem Erretter, dem Fuchs, bei Melanchthon dadurch erheblich abgemildert, daß der Bauer nicht, wie bei Camerarius und in den volkstümlich derberen Erzählungen der Fabel aus den vierziger Jahren, die Schandtat selbst begeht, nachdem ihm die Frau den Gewinn vorgestellt hat, den er aus dem Verkauf des Fells erzielen könnte , sondern daß er guten Willens bleibt, seiner Dankespflicht nachzukommen, und nur aus Charakterschwäche die böse Tat geschehen läßt. Diese Einschränkungen der beiden guten Taten des Bauern und des Fuchses, die ihr selbstloses Handeln zumindest im nachhinein relativieren , verhindern, daß bei den Adressaten der Eindruck von Selbstgerechtigkeit des Erzählers entstehen könnte. Es lag Melanchthon sicher fern, vor ihnen sich in einer Märtyrerrolle erscheinen zu lassen , wenn auch die Abbildlichkeit der Trauer Jesu über sein Nichtverstandenwerden von der Welt, die er im Kreise seiner Jünger ausspricht, mitanklingen mag. Mit Ausnahme der Schlange, die Gotteslästerung begeht, indem sie sich bei ihrem Versprechen auf den Herrn beruft, der einmal durch sie geredet habe , und die deshalb verdientermaßen dem Verderben anheimfällt,
50 4. Mos. 21 , 8f.
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werden alle anderen Figuren von Undankbarkeit verfolgt. Indem es keinen unbestrittenen Sieger gibt – auch der Bauer ist zumindest in seinem moralischen Bewußtsein am Ende vernichtet -, ebensowenig einen allein Unterliegenden, mithin die gattungstypische Polarität in der Figurenkonstellation aufgehoben wird und der Verlauf der Handlung sowohl unverdiente Errettung als auch angemessene Bestrafung und arglistige Täuschung bringt, bestätigt die Fabel ein ,,Weltrecht" . In ihr wird demonstriert , daß diese Welt eine Welt der Niedertracht ist. ,,Die welt lohnet nicht anders": sie verhält sich gleichgültig gegenüber den ethisch-religiösen Wertbegriffen gut und böse. Mit dieser Erkenntnis und ihrer Verbildlichung in einem exemplarischen Vorgang konnte sich Melanchthon jedoch im Unterschied zu Luthers ,,Typus est mundi"-Deutung nicht abfinden . Er bedurfte der über die dargestellte Wirklichkeit hinausweisenden Perspektiven ; ihm ging es weniger um die Beschaffenheit der Welt als um den Menschen in ihr und dessen Verpflichtung, seiner verderbten Natur entgegenzuarbeiten , mit dem Ziel , diese Natur zu überwinden. So konnte die Negativität jenes Erfahrungssatzes nicht sein letztes Wort sein, er mußte ihm einen positiven Gegensinn abgewinnen . Das von Luther als Epimythion beigebrachte Sprichwort: ,,Wer ein vom galgen bit / der bringt in gemeiniglich wider dran" legte er der Schlange schon alsbald nach ihrer Befreiung in den Mund und ließ es auf diese Weise gleichsam noch als Promythion erscheinen, während er nicht ohne Gewaltsamkeit, aber in Übereinstimmung mit mittelalterlichen praktisch-theologischen Verfahrensweisen bei der Verwendung von Fabeln als Predigtexempeln ein neues Epimythion formulierte, das auf Grund der Glaubensgewißheit ,,doch mus es endlich alles bezalt werden" 53 der Erfahrungsregel als christliches Sittengebot Widerpart leisten sollte: ,,Lernt ir hieraus / umb der Welt lohn und danck willen nichts angefangen / umb ires undancks und untrew willen nichts unterlassen“ 54. In der Anwendung auf die Fabel heißt das: Trotz der Gewißheit, Undank zu ernten und Untreue erleiden zu müssen , immer so handeln , wie anfangs der Bauer aus Nächstenliebe und später der Fuchs auf Treu und Glauben gehandelt haben ; von den durch beide gemachten Erfahrungen sich nicht umstimmen lassen, die negative Lehre der Fabel sich nicht zu eigen machen . Solche christliche Torheit findet bei Melanchthon und Mathesius ihre Grundlage in dem sie von Luther unterscheidenden Festhalten an der Verdienstlichkeit der guten Werke im Sinne des ovvέpyɛiv, des mitwirkenden Bemühens um die Heilsgewinnung: ,,Der Herr lebt und regiert zur rechten seines vatern / der alle trewe dienst und wolthat redlich und 51 Mathesius, Luther-Historien , Bl. LXXIIII . 52 Vgl . z. B. Jacob von Vitry, s. Kap. XII , S. 119, auch die ,,Expositio“ im Codex Harleianus. 53 Mathesius, Luther-Historien, Bl . LXXIIII . 54 Mathesius, Luther-Historien, Bl. LXXV' . – Aus der Vortragsweise ist nicht zu entnehmen, ob dies und das Folgende noch referierte Worte Melanchthons waren, oder ob derJoachimsthaler Prediger hier wieder in seinem eigenen Namen zu seiner Gemeinde sprach. Doch trafen ihrer beider Überzeugungen hierin so vollständig überein, daß es keinen Unterschied macht, ob sie von dem einen oder dem anderen herrühren.
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reichlich bezalen / und eines jeden gerechtigkeit zu seiner Zeit ans Mittagliecht bringen wil 55. So wurde die Fabel von Melanchthon denn schließlich auch noch einmal ähnlich der mittelalterlichen Fassung im Codex Harleianus -- als allegorisches Predigtexempel verwendet. Die didaktisch -methodische Begründung für den Literaturunterricht und die theologische Rechtfertigung für die evangelische Unterweisung hat er in seiner Briefvorrede zur Schulausgabe der Camerariusschen Sammlung gegeben . Wenn der Literaturunterricht bewirken soll, daß die Schüler ,,virtutem intelligere incipiant et eius amore accendantur et inflammentur“ 57, dann erscheint die Fabel deshalb als ein besonders geeignetes Mittel hierzu , weil ihre Lehrform die ,,pictura" ist: ,,Nam collationes , quae similitudinem humanorum morum in animantibus aut aliis naturae partibus ostendunt, lucem rebus adferunt." 58 Um theologische Bedenken gegen solche heidnische Lektüre auszuräumen , griff Melanchthon auf das homiletische Verfahren der Analogie und der typologischen Naturerklärung zurück. Was die Tiere in der Bibel bedeuten (significant), das bedeuten sie ,,allegorice" auch in der Fabel . ,,Imo et deus multas res maximas talibus picturis significavit.“59 Zur Erläuterung wählte er aus der Fabelwelt Rabe und Taube, aus der Bibel die Sintfluterzählung . Das Verhalten dieser beiden Vögel gegenüber dem Auftrag Noahs entspricht ihrem Charakter in der aesopischen Fabel: ,,Quid similius est apologo, quam quod scribitur in Genesi , corvum in diluvio ex arca emissum, non reversum esse , columbam reversam esse, rostro gestantem ramum olivae? Quid venustius hac pictura cogitari potest?“61 Melanchthon wendete daraufhin das Verfahren der Exegese nach dem mehrfachen Schriftsinn an und übernahm die im Mittelalter geläufige Allegorese der Arche Noah als Ecclesia62 . Durch typologische Deutung der Rollen beider Tiere als Praefigurationen gewann er für diese , biblische Fabel ' das Epimythion: ,,Ita sunt reduces columbae Esaias, Ioannes, Paulus, Augustinus et principes pii, ut David, Iosias, Constantinus et alii denique omnes, qui consilia sua referunt ad iuvandam et ornandam Ecclesiam . Et contra corvi , id est , qui aspernantur Ecclesiam, perniciosi et infelices sunt, ut Arius , Servetus , Mustela, episcopi epicurei et similes.“63 Dem konnte Melanchthon hinzufügen: „ Tales sunt multae imagines
55 56 57 58 59 60
Mathesius, Luther-Historien, Bl . LXXV' . S. Anm . 2 d. Kap. Opera omnia, Vol . VII (Halle/S . 1840 ) , Sp. 561 . a.a.O. , Sp . 561f. a.a.O. , Sp. 562. - 1. Mos . 8,7-12 . Zur geistlichen Bedeutung von Rabe und Taube vgl . H. Messelken: Die Signifikanz von Rabe und Taube in der mittelalterlichen deutschen Literatur. Diss . Köln 1965 ; ferner den Eigenschaftenkatalog bei D. Schmidtke: Geistliche Tierinterpretation (s. Allg. Lit. ), S. 381-384 u. 417-426. 61 a.a.O., Sp. 562. 62 Vgl. H. Boblitz: Die Allegorese der Arche Noah in der frühen Bibelauslegung, in : Frühmittelalterliche Studien 6 ( 1972 ) , S. 163ff.:,Arca figura ecclesiae' . 63 a.a.O. , Sp. 562. - Mustela: Deckname für Georg Witzel.
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apologorum similes in doctrina coelesti . Voluit enim et deus ipse res easdem magna varietate proponere , ut studia accenderet et commonefactiones haberemus de rebus maximis illustres. "64 Anläßlich einer allegorischen Auslegung von Lukas 17 am 14. Sonntag nach Trinitatis verweilte Melanchthon einmal lange bei der Heilung der zehn Aussätzigen, insonderheit bei dem ,,exemplum ingratitudinis“ , das neun von ihnen gaben . ,,So sind wir alle“, sagte er . Die Undankbarkeit nennt er „,communis morbus generis humani"67,,,ein elend ding."68 , ,Et multa sunt talia dicta: ut, Nihil citius senescit quam memoria accepti beneficii. Quod dolet, meminit, quod placet obliviscitur. Die Welt ist also. "69 Bei dem Heilungswunder geht es ihm um dessen sensus spiritualis . Die Erzählung der Fabel ,,De Rustico , Serpente et Vulpe" stellt er in Parallele zu einer vorher gegebenen allegorischen Auslegung der Verse 11-19, und durch diese Entsprechung wird die Fabel hier selber zur Allegorie . Sie lehrt das gleiche wie Christi Aussätzigenheilung. Weil es jetzt nur auf den geistlichen Sinn ankommt, ist die Erzählweise gänzlich verändert . Sie gleicht an Stringenz einer Beweisführung70. Ihretwegen hat Melanchthon zwei gezielte historische Exempla eingefügt, die im Rahmen der Allegorese den sensus tropologicus bezeichnen. Als die Schlange dem geängstigten Bauern zynisch entgegenhält : „,praestabo tibi summam gratiam ... id est, occidam te“ ? ¹ , verweist der Prediger aufThemistokles, den Erretter Griechenlands vor den Persern, der ein Opfer des Ostrakismos wurde , und auf Miltiades , den Befreier Athens , der im Gefängnis starb . Über die Undankbarkeit hinaus , die Menschen einander erweisen, zielt Melanchthons Allegorese noch auf eine höhere Bedeutungsebene, einen sensus anagogicus: auf die Undankbarkeit des Menschengeschlechts gegenüber Gott. ,,Donec homo est in calamitate, clamat ad Deum, postea, quando sanatus est, obliviscitur beneficii et Dei ipsius22 ... Nun sage ich: Ingratitudo est usitata, et 6673 Deo certe omnes homines sunt ingrati , alii plus , alii minus.“ Daß die Parallelisierung von Bibeltext und Fabel in der Allegorese homiletisch beabsichtigt war, wird zweifelsfrei durch eine der Fabel vorangestellte Episode aus dem pseudovergilischen Gedicht „ Aetna“ . Dort retten zwei dankbare Söhne ihre Eltern aus der Feuersbrunst: „,eis cessit flamma, alii perierunt in incendio. Ita Deus ostendit sibi gratitudinem placere ." 74 Nicht alle geheilten Aussätzigen waren ja undankbar; einer, ein Samariter, kehrte zurück , fiel Jesus zu Füßen und dankte ihm. Diesen bedeutungsvollen Vorgang konnte die Fabel jedoch nicht wiedergeben. Jesus sprach zu dem Fremdling: ,,Gehe hin, dein Glaube hat dir geholfen." Hierfür steht die als Allegorie aufzufassende Episode des ,,Aetna“-Gedichts.
64 a.a.O. Sp . 562. 65 Postillae Melanthonianae, Pars III , in: Opera omnia, Vol . XXV (Braunschweig 1856), Sp. 425-454. 66 Ebd. Sp. 432. 68 Ebd. Sp. 425. 67 Ebd. Sp . 430. 69 Ebd. Sp. 430. 71 Ebd. Sp . 451 . 70 Ebd. Sp . 451 . 74 Ebd. Sp. 451 . 73 Ebd. Sp. 431 . 72 Ebd. Sp . 425.
XI . Fabelsammlungen der zweiten Jahrhunderthälfte
Neben den Neuauflagen der Fabeln des Erasmus Alberus ' , des Burkard Waldis² und der Nürnberger Folioausgabe des Hans Sachs³ haben sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts neue deutschsprachige Sammlungen nur noch in engerem Rahmen Anerkennung verschaffen können. Im Gegensatz zur lateinischen Fabeldichtung dieses Zeitraums fehlte es ihnen sowohl inhaltlich wie formal an Eigenständigkeit. Nachdem 1557 Luthers Fabeln bekannt geworden waren , lag es nahe, die von diesem begonnene Vortragsweise fortzusetzen, um im Sinne des Reformators neben der Bibel ein zum weltlichen Gebrauch nützliches Lesebuch für dasVolk bereitzustellen. Dies unternahm NATHAN CHYTRÄUS ( 1543-1598 ) mit seinen „,Hundert Fabeln aus Esopo“ ( 1571 ) . An den Anfang stellte er Luthers Coburger Fabelbearbeitungen mitsamt der Vorrede ,,von rechtem nutz und brauch desselben buchs“ . Ihnen ließ er vier der Fabelpredigt in den „ Luther-Historien“ des Johannes Mathesius entnommene Fabeln folgen, wobei er ,,Vom Krebs und Schlangen“ (Luther) und ,,Von der Schlangen und Bauren“ (Melanchthon) irrtümlich, die ,,Sperling"-Fabel und ,,Vom Hirtenhund und jungen Polsterhündtlein" dagegen zu Recht der Verfasserschaft des Joachimsthaler Predigers zuschrieb³ . Die übrigen hatte er selbst nach Steinhöwel und anderen , wohl lateinischen Vorlagen bearbeitet. Angeschlossen war das beliebte Schwankmärchen von den ungleichen Kindern der Eva. (,,Ein Schöne und nutzliche Histori / woher die Edelleute und Bawren ihren Ursprung haben" ). Chyträus folgte Luther in der Prosaform und der Bevorzugung von Sprichwörtern für die Epimythien; in seinem behaglicheren Vortrag näherte er sich der Erzählweise des Mathesius . Zwei Neuauflagen zu seinen Lebzeiten brachten Erweiterungen durch die Aesop- Vita in der Fassung des Erasmus Alberus, Fabeln aus Luthers ,,Auslegung des 101. Psalms" , einen weiteren ,,Appendix auß Luthero" , die Fabel ,,Vom Löwen und Esel" , von Chyträus selbst
1557 , 1565 , 1579, 1590, 1597 . 2 1555, 1557 , o. J. , 1565, 1584. 3 Bd. I: 1558,21560, 31570, 41589 , $ 1590 . - Bd . II: 1560 , 21570, 31590, 41591. – Bd. III : 1561 , 21577 , ³1588 . – Bd. IV: 1578. - Bd . V: 1579. 4 Bibliographische Angaben s . S. 189. 5 In der 3. Aufl. 1591 kam noch die Fabel ,,Vom Fuchs und Adler" aus den ,,Hochzeytpredigten" hinzu . ❝S. Anm . 6, Kap. VIII . ' Enthaltend: ,,Vom Momo“ [Tadler] ; „ Von Hercule und Omphale“ ; „ Vom Hoffgaul“ .
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XI. Fabelsammlungen der zweiten Jahrhunderthälfte
eine ,,Christliche Ethica oder Lehre von allerley Tugenden unnd guten Sitten“. Mit dem Katalog positiver sittlicher Forderungen, den er darin aufstellte , suchte er eine Art moraldidaktischen Gleichgewichts zu erreichen gegenüber den negativen Erfahrungssätzen und Verhaltensratschlägen der Epimythien, die er in einem besonderen Titelregister zu den Fabeln noch einmal eigens formuliert hatte. In seiner Widmungsvorrede an die Herzogin Elisabeth von Mecklenburg wiederholte er Luthers Argumente für die pädagogische Verwendung der Fabeln und ihre biblische Rechtfertigung durch Mathesius ; er selbst schrieb über ihre heilsame Wirkung: Obwohl sie erstlich fein sanft eingehn / so lassen sie sich doch bald fülen / und geben tieff nachdenckens /und ob sie schon einem das hertz etwas angreiffen / und vorletzen wolten /so lindert doch das saltz der hofflicheit allen schmertzen / und wenn die leut nicht gar verstocket sein / müssen sie auch wider iren willen einen gefallen daran tragen / das man sie so subtil und vernunfftig uberschleichen hat konnen“ .
Während Hans Sachs einzelne cyrillische Fabeln ohne Berücksichtigung ihrer Funktion im allegorischen System der ,,angeltugenden" zu Spruchgedichten oder Meisterliedern umgestaltet hatte, unternahm der Augsburger Meistersänger Daniel Holtzman ( 1546 – um 1613 ) eine Versifizierung des gesamten ,, Speculum Sapientiae" in vierhebigen jambischen Reimpaaren ( 1571 ) . Er legte ihr jedoch nicht die Übersetzung Ulrichs von Pottenstein zugrunde, sondern eine jüngere, ausführlichere , die 1520 anonym in Basel erschienen war und 1564 in Frankfurt noch einmal aufgelegt wurde. Sie trug den Titel : „ Der Spiegel der wyẞheit durch kurtzwylige fabeln / viel schöner sitlicher und christlicher lere angebende". Diese Übersetzung hat den ehemals sinntragenden Gliederungsgedanken des ,,Quadripartitus Apologeticus" aufgegeben, so daß die Reihenfolge der 95 Fabeln und , Gleichnisse ' sowie der daraus gezogenen Lehren beliebig erscheint. Holtzman hielt sich in seinen recht unbeholfenen Versen eng an die Vorlage, jeder Fabel fügte er jedoch ein eigenes Morale hinzu ; vielleicht stammen auch die Holzschnitte von seiner Hand. Da ja die cyrillischen Fabeln ihre Belehrung immer schon durch einen der beiden Partner im Dialog der Erzählung geben, und zwar entweder als „ Gaistliche erklärung“, wie in der Fabel von den vier immergrünen Bäumen und dem im Herbst seine Blätter verlierenden Feigenbaum , oder im direkten Lehrvortrag, wie in der Fabel vom Strauß und der Henne, mußte auch Holtzman für sein eigenes Morale nach einer zusätzlichen Deutungsmöglichkeit suchen . Meist nahm er seine Zuflucht zu Verallgemeinerungen nach Maßgabe katechetischer • Christenlehre. So ,bedeuten bei ihm jene vier Bäume in der Pflanzenfabel einen rechten Christenmenschen,
8 Hundert Fabeln ..., Bl . Aiiij'. 9 ,,,Der Lorbeerbaum von ir aller wegen thůt ain Gaistliche erklärung“. Randbemerkung Holtzmans zur zweiten Antwort des Lorbeerbaums (Bd. I , S. 173 : „ Hast du dann nye gehört mit fleyß ...“ ) .
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Wöllicher allzeit grůnet eben / Durchauß in seinem gantzen leben. Er behellt allzeit in im fein/ Das krefftig wort Gottes so rein. Damit Er dann die Wurtzel gåt / Seines hertzens befeuchten thůt. Der Feigenbaum dagegen , bedeutet die Gottlosen
Sy thůnd auch gar kain achtung geben / Durchauß in irem gantzen leben. Auff Gottes wort damit sy doch / Etwan möchten beschützen hoch. Ir Leib und Seel diser gestallt / Vor Reyffen / Schnee / und Winter kallt / (Die bedeuten wie vor gemeldt / Trübsal und Anstöß in der Welt .) Bibelstellen, Sprichwörter, Zitate aus Sebastian Brants ,,Narrenschiff“ zog Holtzman zur Bekräftigung heran. 67 dieser Versbearbeitungen hat 1782 August Gottlieb Meißner wiederum in Prosa aufgelöst . Er hielt den Augsburger Meistersänger für den Erfinder der Fabeln und spendete ihm hohes Lob. In einer durch Meißners Ausgabe veranlaßten Abhandlung Über die Cyrillischen Fabeln und den Meistersänger Daniel Holzmann“ wies Johann Joachim Eschenburg dann dessen Quelle nach " . Kein Nachrichtenblatt aus der Frühzeit des Pressewesens¹² und ebensowenig ein Heft mit Zeitungsliedern, die sensationelle Ereignisse moritatenhaft vortrugen, sondern eine thematische Fabelanthologie ist die von Eli Sobel entdeckte, 1592 anonym, auch ohne Angabe des Verlegers und des Druckortes erschienene ,,Alte Newe Zeitung . Von der WelT LAUFF" . Daß sich von ihr anscheinend nur ein Exemplar erhalten hat¹³ , berechtigt nicht zu der Annahme , diese aus 54 Prosafabeln bestehende Sammlung habe nur geringe Verbreitung gefunden . Denn ihre Publikationsform ist die einer Flugschrift, und derartige Druckerzeugnisse wurden nur selten aufbewahrt. Ihre Wirkung war auf den Tag berechnet. Vielleicht wollte der sprachgewandte Verfasser den Titel als Sarkasmus verstanden wissen : Neuigkeiten von überallher verheißend , die jedoch nur bestätigen, wie es seit eh und je in der Welt zugegangen ist, mit „ Listen und Practiken" um des eigenen Vorteils willen zum Schaden anderer - schon zu jener
10 Fabeln nach Daniel Holzmann, weiland Bürger und Meistersänger zu Augspurg. Hrsg. v. A. G. Meißner. Leipzig 1782. " Zuerst im ,,Deutschen Museum"; Wiederabdruck in: Denkmäler altdeutscher Dichtkunst. Beschrieben u . erläutert v. J. J. Eschenburg. Bremen 1799, S. 365–384 . 12 So irrtümlich eingeordnet bei E. Weller: Die ersten deutschen Zeitungen. 1505–1595. Stuttgart 1872 (BLV 111 ). 13 Niedersächs. Staats- u . Universitätsbibliothek Göttingen 8 ° Fab. rom . VI. 1020; katalogisiert unter Georg Rollenhagen.
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XI. Fabelsammlungen der zweiten Jahrhunderthälfte
Zeit, als die Tiere und ,,andere unvernünfftige Creaturen" noch sprechen konnten. Die Grundeinstellung ist - dem Topos vom Lauf der Welt entsprechend pessimistisch, von einem Besserungswillen und von positiven ethischen Forderungen ist nicht die Rede . Resignierend gilt die negative Beschaffenheit der Welt als unveränderbar. Mit Hilfe einer Aufgliederung aller Texte in drei durch gleichbleibende Überschriften voneinander abgesetzte Teile hat der Verfasser den Zweck seiner Sammlung schematisierend kenntlich gemacht. Unter dem Stichwort ,,Weltlauff" stellt er jedesmal zuerst in einem Behauptungssatz eine auffällige Äußerungsweise jener durchgängigen Negativität heraus . Den Beweis für die Richtigkeit dieses Satzes soll die folgende Fabel liefern. Den Gattungsbegriff ,,Exempel" zur Kennzeichnung des Erzählteils hat er der mittelalterlichen Predigtliteratur entnommen . Dort war er freilich viel weiter gefaßt ; neben Legenden , Anekdoten , Historien, Parabeln und Allegorien bildeten Fabeln nur den kleineren Teil der ,Beispiele . Nach der Aussonderung des größten Teils der geistlichen Erzählstoffe durch die Reformation mußten die verbleibenden ,heidnischen vielseitiger verwendet werden. Der weltliche Anonymus der „,Alten Newen Zeitung" zeigt sich recht belesen, er bevorzugt seltener behandelte Vorlagen der aesopischen Tradition, besonders Fabeln , in denen Mensch und Tier oder beseelte Gegenstände als Partner auftreten. In der „ Lehre “ zieht er aus der Erwiesenheit des Behauptungssatzes die Konsequenzen für das Verhalten des einzelnen Menschen. Alle geistlichen Bezüge schloß er aus dem Zuständigkeitsbereich der Fabel aus . Seine auf das praktische Leben gerichteten Ratschläge sind nicht ethisch qualifiziert, sondern wollen Hilfen bieten zur Selbstbehauptung des Individuums in dieser ,,argen Welt" . Zweckmäßigkeit, Vorsicht, Nutzen durch Wahrnehmung privater Vorteile sind die Gesichtspunkte, nach denen sie sich richten. Aus dem Nachlaß des Pfarrers EUCHARIUS EYERING (um 1520–1597 ) hat der Verleger Henning Groß in Eisleben 1601-1603 eine 3346 Nummern umfassende Sprichwörtersammlung (,,Proverbiorum Copia" ), mit schönen Historien / Apologis, Fabeln und gedichten geziert", herausgegeben und dazu selbst ein Vorwort geschrieben . Zur Empfehlung seines Verlagserzeugnisses bediente auch er sich der moraltheologischen Argumente, die Johannes Mathesius in der Fabelpredigt seiner inzwischen zu einer Art Volksbuch für alle evangelischen Stände gewordenen ,,Luther-Historien“ vorgetragen hatte; er nahm ebenso wie Mathesius biblische und heidnische Belege als gleich beweiskräftig in Anspruch (Nathans ,,gleichnis“ vom einzigen Schäflein des armen Mannes, 2. Sam. 12, und den ,,apologum " des Menenius Agrippa vom Bauch und den Gliedern) . Auch Luthers Rezept politischer Klugheit brachte Groß erneut vor: ,,Denn obgleich mancher noch so hohes standes oder so mechtig / also das ime die Warheit nicht ohne gefahr angezeigt werden kan / so kan er doch durch gleichnüsse und Sprichwörter gantz leichtlich gewonnen werden. " 14 Der Sprichwörterkunde stan14 Proverbiorum Copia, 1. Teil , Bl. ii' f.
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den inzwischen reichhaltige literarische Quellen zur Verfügung , lateinische wie Heinrich Bebels „ Proverbia Germanica“ , deutsche wie die Sammlungen von Johannes Agricola, Sebastian Franck und die erfolgreiche Kompilation des Verlegers Egenolff aus jenen beiden. Gleiches galt für die aesopischen Fabeln . So legte sich für Eyering, dem es gewiß nicht auf Originalität ankam, ebenfalls ein kompilatorisches Verfahren nahe, dessen er sich dann auch auf recht pedantische Weise bedient hat. Oft tat er in seinen Sprichwörterauslegungen kaum mehr, als daß er die Prosa seiner Vorlagen in schwerfällige Verse übertrug, dann wieder verlor er sich in aufzählende Weitschweifigkeiten und bemühte sich durch ermüdende Wiederholungen um Einprägsamkeit. Dabei benutzte er die Technik der Paraphrasierung, wie sie in der zyklischen Perikopendichtung gebräuchlich war; an dieser hatte er sich selber als Kirchenlieddichter für den ,,Sommerteil der Evangelien“ beteiligt. In der kettenartigen Aneinanderreihung sinnverwandter Sprichwörter folgte er vornehmlich Sebastian Franck. So führte er in seiner alphabetischen Anordnung des Gesamtwerks unter dem Stichwort „ Armut“ an : „,ist zu vielen dingen gut / macht reiche heiligen /ist von grosser außgab frey /lehrt geigen, lautenschlagen / den ruhm allweg thut han / Das sie ein Fuchs auch fangen kan / bringt Demut / hat eins sins mehr denn ander leut / stets nach weißheit ringt / in gdult nit thut verzagen / thut gantz fleissig studirn" 15. Als Beispiel zu all dem dient dann die Fabel ,,Von der Stadtmaus und Feldmaus". Anders als Agricola und Franck, die nur gelegentlich auf Fabeln zurückgriffen, hat Eyering zur Veranschaulichung durchgehend Fabeln gewählt, viele , wie z. B. ,,Vom Löwen und der Maus“ , mehrfach in unterschiedlichem Sinnzusammenhang. Da er nicht nur auf sie anspielte oder ihnen einzelne Motive entnahm , sondern alle ganz erzählte, kann seine „ Proverbiorum Copia" ebensogut den Fabelanthologien zugerechnet werden . Zuweilen brachte er auch mehrere Fabeln zum gleichen Thema, so zu der sprichwörtlichen Redensart „ Aus eines andern schaden klugk werden“ die Fabeln ,,Der kranke Löwe und der Fuchs" und die ,,Teilung der Beute"16, oder sein Hang zum Vollständigen verleitete ihn - wie bei der Erzählung ,,Von Androklus und dem Löwen“ – dazu , eine andere Version des nämlichen Vorgangs ebenso ausführlich folgen zu lassen . Vielen Mängeln bei Eyering gegenüber verdienen jedoch besondere Hervorhebung sein starkes soziales Engagement und der am Jahrhundertende sehr ungewöhnlich gewordene Mut, mit dem er gesellschaftliche Mißstände unumwunden beim Namen genannt hat: Das Recht kent keinen Armen Man / Der mit gwaltigen litigirt ... Darvon mus lan und unrecht han / Wie man noch sagt / gwalt geht für recht / Das klagt gar mancher armer knecht.¹¹
15 a.a.O. , 1. T. , S. 110f. 16 a.a.O. , 1. T., S. 134-140. 17 ,,Vom Löwen und der Maus“ , in dieser Auswahl , Bd. I , S. 208ff.
XII. Die Verwendung der Fabel in der Predigt und ihre Verbindung mit erzählender Kurzprosa
Quellen für die Geschichte der Fabel in der frühen Neuzeit sind nicht nur die Sammlungen überlieferten Fabelguts sowie die eigenen Fabelwerke deutscher und neulateinischer Dichter, vielmehr verlangt auch das häufige Auftreten von Fabeln in Werken anderer literarischer Gattungen Berücksichtigung . Denn in solcher Binnenerzählung zeigt sich am deutlichsten der Charakter der Fabel als einer literarischen Gebrauchsform, die von vorneherein auf ihre Anwendungsfunktion hin angelegt ist . Allseits bekannte Fabeln in überkommener und veränderter Deutung , auch solche entlegener Herkunft und auf dem Weg der Analogiebildung neu geschaffene finden sich bei geistlichen und weltlichen Autoren , sie haben ihren Platz in Predigtsammlungen und Erbauungsbüchern, in konfessionellen und politischen Streitschriften , exegetischen und weltlich belehrenden Abhandlungen (JUSTUS MENIUS : ,,Oeconomia christiana"; JOHANN FISCHART : ,,Philosophisch Ehezuchtbüchlin“ ) , in akademischen Reden (MELANCHTHON), scherz- und ernsthafter Unterhaltungsliteratur, in Sprichwörtersammlungen (JOHANNES AGRICOLA, SEBASTIAN FRANCK) und , eingebunden in den erzählerischen Kontext, im Tierepos (REYnke de vos , FisCHART , ROLLENHAGEN) ' . Die Darbietungsformen reichen von detailfreudigen Genrebildern über die Beschränkung auf einen Handlungsausschnitt oder die Isolierung eines charakteristischen Einzelzuges bis zur bloßen Anspielung, einer redensartlichen Assoziation, einem die Kenntnis einer bestimmten Fabel voraussetzenden Tiervergleich. Die umfassende Aufarbeitung all dieser Rezeptionsweisen steht noch aus.2 Stellvertretend für die übrigen Gebrauchsformen innerhalb der Literatur kann hier ausführlicher nur von der praktisch-theologischen Verwendung der Fabel in der Predigt und ihrer Verbindung mit der erzählenden Kurzprosa die Rede sein.³ Dabei ist die Aufmerksamkeit zunächst auf die zum Gebrauch der Prediger angelegten Exempelsammlungen zu richten . Die Reformation hat trotz anfäng-
1 Eine Untersuchung zur erzähltechnischen Verwendung der Fabel in der Fuchsepik liegt vor von A. Elschenbroich: Das ,byspel ' als Handlungselement (s . Allg. Lit.) . 2 Sie wird in der Zukunft wesentlich erleichtert werden durch den Katalog : „ Die Fabeln des Mittelalters und der frühen Neuzeit“ von G. Dicke u. K. Grubmüller. München 1987 (Münstersche Mittelalter- Schriften, Bd. 60). 3 Für die anderen Verwendungsweisen, auch der selbständig publizierten Einzelfabel (z. B. Joachim Magdeburg) , vgl. den Kommentar zu den betreffenden Autoren und ihren Werken im Komm. 4 Zur Fabel in der Predigt- und Erbauungsliteratur vgl . K. Grubmüller, Meister Esopus , S. 97-111 ; E. Rehermann ; E. Moser-Rath; H. Wolf, Erzähltraditionen in homiletischen
XII. Die Verwendung der Fabel in der Predigt
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licher Bedenken gegen „ Märlein“ und „ risus“ im Gottesdienst die mittelalterliche Tradition nicht abgebrochen. Zu unverkennbar waren die Exempla geeignet, die Wirkung jeder Art von publikumsbezogener Rede, und also auch der Predigt, durch Veranschaulichung und Einprägsamkeit, gelegentlich auch durch erheiternde Auflockerung zu steigern; die Rhetoriklehren des Aristoteles und Quintilian hatten deshalb die Verwendung von Fabeln ausdrücklich empfohlen. Seit dem 12. Jahrhundert gehörte das Exempel durchgängig zum Aufbau der Predigt. Fabeln bildeten nur einen Teil des Bestandes , sie waren jedoch in ihrer Funktion den Legenden, Parabeln , Gleichnissen, historischen Anekdoten und sonstiger erzählender Kurzprosa gleichgestellt.
1. Petrus Alphonsus, Odo von Cheriton, Jacob von Vitry Schon die frühe Exempelsammlung ,,Disciplina clericalis" des Spaniers Petrus Alphonsus (gest. 1106) enthielt einige Fabeln, die in die deutsche Fabeltradition eingegangen sind (,,De mulo et vulpe“ , „,De homine et serpente“, „,,De rustico et avicula" ) . Der Zisterzienser Odo von Cheriton (gest. 1247) hat dann in sein ,,Liber parabolarum" einen großen Bestand an Fabeln aufgenommen und die meisten von ihnen typologisch nach ihrem sensus spiritualis ausgelegt . Wie er diese für Geistliche zur Verwendung in ihren Predigten hatte bereitstellen wollen, so ist er auch selber damit in seinem Zyklus ,, Sermones super evangelia dominicalia“ verfahren. Sie erscheinen dort jeweils in der Gestalt, die das Thema der Predigt verlangte, meist in verkürzter Form, oft als bloßer Hinweis zur Reminiszenz oder nur in solchen herausgegriffenen Einzelheiten , die sich für eine allegorische Interpretation anboten' . Neben Odo ist Jacob von Vitry zu nennen , der in noch weit größerer Zahl Exempla in seinen ,,Sermones vulgares“ und „ Sermones feriales et communes“ (zw . 1227 u. 1240) verwandte , aber selbst keine eigene Sammlung angelegt hat . Anders als Odo hat er nur selten Fabeln spirituell gedeutet, statt dessen suchte er der Notwendigkeit, ihre Verhaltensregeln mit den Forderungen der christlichen
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Quellen. In: Volkserzählung und Reformation. Hrsg . v. W. Brückner. Berlin 1974, S. 705-756. Petri Alphonsi: Disciplina clericalis . Hrsg . v. A. Hilka u. W. Söderhjelm. T. 1 : Text. Helsingfors 1911 ; P. A.: Die Kunst , vernünftig zu leben (Disciplina clericalis) . Dargestellt u. a. d. Lat. übertragen v. E. Hermes. Zürich/Stuttgart 1970 (Die Bibliothek des Morgenlandes), Nr. 4, 5 , 22. Gedruckt bei Hervieux IV, S. 173-248 u. d . T. ,,Odonis de Ceritona Fabulae". Deutsche Übersetzung in Auswahl v. H. C. Schnur, S. 214-303. In den für seine Predigten veränderten Fassungen gedruckt bei Hervieux IV, S. 265-343 u. d. T. „ Odonis de Ceritona Parabolae“. 314 Exempla aus den ,,Sermones vulgares" (davon 54 aesopische Fabeln) hrsg. v. Th . F. Crane: The Exempla or Illustrative Stories from the Sermones vulgares of Jacques de Vitry. Ed. , with Introduction, Analysis and Notes. London 1890 ; 104 Exempla aus den ,,Sermones communes“ (8 aesop . Fabeln) hrsg. v. G. Frenken: Die Exempla des Jacob von Vitry. Ein Beitrag zur Geschichte der Erzählungsliteratur des Mittelalters. München 1914.
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Ethik in Einklang zu bringen , dadurch nachzukommen , daß er die Handlungsweisen der Fabelfiguren im Epimythion eindeutig als sündig oder tugendhaft bewertete und im Anschluß daran auf die ausgleichende Gerechtigkeit durch Strafe oder Belohnung im Jenseits verwies. Den gleichen Weg sind später protestantische Theologen, Philipp Melanchthon und Johannes Mathesius vornehmlich, gegangen, wenn sie antike Fabeln zur evangelischen Unterweisung nutzen wollten. In der lateinischen homiletischen Praxis des späteren Mittelalters gehörte der Einsatz von Exempeln durchgängig zum Aufbau einer Predigt. Immer befanden sich darunter auch Fabeln , nicht selten in sonst kaum bekannten Versionen oder in Um- und Neubildungen, was noch humanistische Autoren dazu anreizen konnte , in altkirchlichen lateinischen Predigtsammlungen nach Mustern für ihre variatio und inventio zu suchen?.
2. Fabelerzählung und Fabelinterpretation in den Predigtzyklen Johann Geilers von Kaysersberg Dagegen ist in der deutschsprachigen Predigt erst durch GEILER VON KAYSERSBERG (1445-1510) die Fabel zu einer beliebten und erfolgreichen , daher durchgängig verwendeten Form der bildlichen Rede geworden, die , gezielt eingesetzt, ihrer Wirkung auf Angehörige aller Schichten, namentlich der städtischen Bevölkerung , sicher sein konnte¹º. Wie kein anderer zu seiner Zeit hat Geiler es verstanden, durch Auswahl , Situationsbezug und Vortragsweise sowohl Gelehrte, Ratsherren , Mönche und Nonnen als auch Kaufleute , Handwerker und das Gesinde anzusprechen. Zuerst akademischer Lehrer, vertauschte er 1478 das Katheder mit der Kanzel und wirkte von da an über dreißig Jahre als Volksprediger in Straßburg. Durch freie Themenwahl löste er sich von der Paraphrase eines Bibelzitats und von der Festliturgie des Jahreskreises; an die Stelle der Einzelpredigt trat der Predigtzyklus. Dies war nur möglich, weil Geiler über längere Zeiträume hinweg mit einer gleichbleibenden homogenen Zuhörerschaft rechnen konnte , die unter dem Eindruck seiner faszinierenden Rednergabe stand und mit persönlicher Betroffenheit dem phantasiereichen vielmaligen Durchspielen eines wirklichkeitsnahen , aber ins gegenständlich und vorganghaft Sinnbildliche gehobenen Themas folgte . Ob er ein Aufsehen erregendes Ereignis im Alltag des städtischen Lebens , die Vorführung eines Löwen im eisernen Käfig auf der Straßburger Messe von 1507 , zum Anlaß nahm , um in siebzehn aufeinanderfolgenden Predigten ,,Von den vier Lewengeschrei“ zu reden, ob er die volkstümliche Redensart vom „ Has im 9 Das trifft u. a. für Camerarius („ Merces anguina“ ) und Lucas Lossius („ Tierbeichte“, s. Bd. I , S. 282ff. u . Bd . II , Kommentar, S. 272) zu . Vgl. zum Folgenden A. Elschenbroich : Purgare , Illuminare, Perficere. Johann Geiler von Kaysersberg als Fabelerzähler und Fabelinterpret in seinen Predigtzyklen, In: DVjs 61 ( 1987), S. 639–664.
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Pfeffer" aufgriff, um in vierzehn Paradigmen den Klosterleuten vor Augen zu führen, worauf es bei der Erfüllung der Gelübde ankomme , oder ob er scholastische Traktate und Erbauungsschriften zugrunde legte, wie den ,,Formicarius" , das Ameisenbuch des Johannes Nider (um 1380-1438 ) , für den 1508 im Straßburger Münster gehaltenen Predigtzyklus ,,von Eigentschafft der Omeissen“ („ Die Emeis" ) , oder schließlich weltliche Literaturwerke wie Sebastian Brants ,,Narrenschiff wählte, das er geradezu systematisierend zu einem vollständigen Lasterspiegel umschuf - immer ging er von einer mitunter drastischen Realistik aus, legitimierte sodann durch biblische Parallelen sein Predigtunternehmen und fächerte in der Folge Gegenstand und Thematik zu allegorischer Vielgestaltigkeit auf, um schließlich in figurativer Exegese weniger dogmatische Lehren als vornehmlich moraltheologische Ermahnungen daraus abzuleiten. Fünferlei Löwen findet Geiler in der Heiligen Schrift, einen natürlichen,,,als ietz einer hie ist“ , einen geistlichen , weltlichen , himmlischen und höllischen Löwen. Die Deutung der vier sinnbildlichen Löwen fußt auf der Verallgemeinerung des Judas Maccabäus geltenden biblischen Satzes: ,,Similis est leoni in operibus suis . Er ist gleich dem Lewen in seinen wercken“ ( 1 . Maccab. 3,4) . Der natürliche Löwe besitzt gute und böse Eigenschaften, vollbringt edle und grausame Taten, daher kann er in spirituellem Verständnis auch Gegensätzliches bedeuten: als geistlicher Löwe ist er ,,nit anders dann ein gerechter Mensch /nach siben eigentschafften des Leuwen / die gut sein" , als weltlicher ein weltmensch" , als ,,himlischer Lew / Got der her" oder Christus nach seiner göttlichen Natur, wie der „ Physiologus“ gelehrt hatte¹², als „,hellischer Leuw / der böß feind“. Von diesen vier Löwenallegorien handeln die Predigten. Es lag nahe , zur Veranschaulichung Fabeln, vornehmlich Löwenfabeln einzufügen. Geiler hat sie prägnant und mit kombinatorischer Phantasie zu erzählen gewußt. Als er vom geistlichen Löwen, dem Sinnbild des gerechten Menschen, redete, mußten ihm in erster Linie die eigenen Standesgenossen vor Augen stehen. Derb zupackend, sich selbst einbeziehend , das Gelächter der Gotesdienstbesucher über ihre bloßgestellten geistlichen Strafprediger nicht scheuend, fiel ihm die Fabel von der furchterregenden Stimme des Esels auf der Jagd mit dem Löwen ein, deren grotesk-komische Wirkung er durch die Herübernahme des Verkleidungsmotivs aus der Fabel vom Esel in der Löwenhaut noch steigerte. Mit schonungsloser Drastik nennt er im Epimythion den stets verleugneten Grund für die Wirkungslosigkeit der Besserungspredigten: ,,so man aber sicht /das wir esel seind / und ein eselisch leben füren / ein vihisch leben /so förcht man uns nit“ . Dagegen verkörpert der Löwe das Ideal, wie Prediger sein sollten : „,standthafftig und starck“ .
11 Die brösamlin doct. Keiserspergs , Bl . Lˇ. Als diese sieben Eigenschaften des Löwen hat Geiler vorher genannt: ,,Magnificus. Miltreichlich. - Clementissimus . Barmhertzig. - Sevus. Zornig. - Regnativus . Regiert. - Timorosus. Forchtsam . - Morbosus. Siech. - Fortissimus. Starck." Er führt eingangs als Beispiel eines gerechten Menschen St. Johannes an, womit er zweifellos den griech . Kirchenvater und berühmten Prediger Johannes Chrysostomus meinte. 12 S. Anm. 17, Kap. II.
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Als Allegorie des Kampfes zwischen dem Menschen und Satan verwandte Geiler im letzten ,,Lewengeschrei" die Fabel vom gemalten Löwen. Neid, Hoffart und Mordlust des Löwen verkehren hier die Zeichenfunktion seiner Eigenschaften ins Gegenteil der vorigen. Dem Löwen ist die Rolle des der Gnade beraubten, aber bei seiner natürlichen ,,krafft und stercke" belassenen Luzifer zugefallen, in der er als Wegbegleiter an den Menschen herantritt. So wie Geiler diese Fabel assoziativ ergänzt hat durch das ins Negative gewendete Schlußmotiv der Androklusfabel, versinnbildlicht sie das Unentschiedene des Kampfes : dem Sieg Davids ( 1. Sam. 17,34f. ) und Samsons (Richter 14,5f. ) über den Löwen hält das grausame ,,widerspil" im Amphitheater zu Rom die Waage. Die zwei Bildallegorien, der vom Menschen zerrissene Löwe und das Schrecknis der Urteilsvollstreckung im antiken Rom , bezeichnen die Willensziele der beiden Weggefährten. Während die Fabel in ihrer von den mittelalterlichen Romulusversionen überlieferten Gestalt zeigen will, wie die Scheinhaftigkeit subjektiver Wunschvorstellungen an die Stelle der Realität treten kann, hat Geiler sie durch die Konfrontierung mit dem historisch beglaubigten Gegenbild zu einem objektivierenden Gleichnis des sittlichen Selbstbehauptungswillens umgeformt. Angesichts der von Gott zugelassenen Umtriebe Satans auf der Erde und der Anfälligkeit des Menschen für die Verlockungen des Bösen behält der Löwe als Widerpart des Erlösers etwas Majestätisches ; er ist durch den Auftrag, die Strafe zu vollziehen , eingebunden in die göttliche Weltordnung. Freies Umgehen mit den Deutungsmöglichkeiten , das die Fabeln nicht als vorgegebene (und daher unveränderliche) Beweismittel heranzieht, sondern ihre Aussage von der Intention des Kontextes her neu bestimmt, ist für Geilers Verhältnis zum Fabelexempel überhaupt charakteristisch . In der Predigt ,,Wider die anfechtung" setzt er die Fabel ,,Vom Fuchs und den Birnen“ (Weintrauben) so ein, daß der Fuchs , obgleich er sich genauso verhält wie sonst in der aesopischen Tradition, dennoch als Vorbildfigur auftreten kann. Der vergebliche Versuch, durch das Schlagen mit dem Schwanz gegen den Stamm des Birnbaums die Früchte herunterzuschütteln , wird zum Gleichnis der Ohnmacht des Menschen. Die überkommene weltliche Auffassung sieht in der Resignation des Fuchses nichts als Heuchelei; da der Rezipient die Begründung als bloß vorgetäuscht durchschaut, ist seine Reaktion Schadenfreude . Geilers Auslegung setzt dagegen voraus, daß die Früchte nicht nur angeblich, sondern wirklich sauer sind . Der Verzicht folgt aus der Erkenntnis der Wertlosigkeit des Begehrten , er beinhaltet eine aufrichtige innere Umkehr. Wie der Baum und seine Früchte , so ist die Welt beschaffen; so unvermögend wie der Fuchs ist der Mensch, insonderheit der alt gewordene. Geiler deutete diese Fuchsfabel um, indem er sie mit dem im Mittelalter allegorisch personifizierten Motiv von der Untreue und Falschheit der Welt verband¹³; 13 Konrad von Würzburg: Der Welt Lohn ( Kleinere Dichtungen Konrads von Würzburg I. Hrsg. v. E. Schröder, Berlin 1930, S. 1-11 ; Walther von der Vogelweide : Absage an die Welt,,,Fro Welt, ir sult dem wirte sagen“ (Die Lieder Walthers von der Vogelweide. 1. Die religiösen und die politischen Lieder. Hrsg. v. F. Maurer. ATB 43 , Tübingen 1974, S. 13f. ).
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er gab ihr damit den positiven Akzent einer Aufforderung zur Weltflucht und Vorbereitung auf den Tod. Auch die politische Fabel des Menenius Agrippa wurde bei Geiler - wiederum durch leichte inhaltliche Verschiebung bei Festhalten am vorgegebenen Handlungsablauf - zur geistlichen Allegorie und erhielt einen spirituellen Sinn. Bei ihr zeigt sich besonders deutlich , daß Geiler kein Vorläufer der Reformation war, sondern daß er kirchlich-mittelalterlich dachte, freilich nicht so sehr institutionell - den Primat des Papsttums etwa griff er ebensowenig an, wie er andererseits propagandistisch für ihn eintrat -, desto vorbehaltloser jedoch verteidigte er im Verein mit seinen moraldidaktischen Intentionen die Inhalte der römischen Glaubenslehre. Er bezog die Fabel vom Magen (Haupt) und den Gliedern zwar auf die Kirche, aber bezeichnenderweise nicht auf deren hierarchische Ordnung, sondern auf die Idee der universalen Glaubensgemeinschaft. Mit Hilfe dieser Fabel erläuterte er die Lehre vom verdienstlichen Handeln und vom Schatz der überflüssigen guten Werke. Der ihr zugrunde liegende organologische Gedanke der wechselseitigen Abhängigkeit aller Glieder des Leibes voneinander diente ihm dazu, die empirisch und rational absurd erscheinende Lehre , daß jede rituelle Handlung - das Messelesen eines Priesters zu Rom und das Paternoster-Gebet eines frommen Laien in Straßburg - in gleicher Weise dem Ganzen und jedem Einzelnen innerhalb der Glaubensgemeinschaft zugute komme, als eine dem natürlichen Wechselbezug von Ursache und Wirkung analoge geistliche Gesetzlichkeit verständlich zu machen. An die Stelle des Motivs der Empörung in der politischen Fabel ist hier das des Zweifels getreten, der durch den Analogiebeweis der Fabel behoben werden soll . Die beiden sonst vorwaltenden Anwendungsbereiche, der soziale Aspekt uneigennützigen Handelns und die Legitimation von Herrschaftsverhältnissen, bleiben beiseite. Die Vorbedingung, daß es ein „,gerechter" Mensch sein muß, der geistlich Gutes tut, wenn dieses auf die gekennzeichnete Weise „,verdienstlich" wirksam werden soll, zeigt wohl am deutlichsten, wie fern Geiler noch reformatorischer Theologie stand . Den größten Erfolg soll er mit seinem vom Beginn der Fastenzeit 1498 bis Ostern 1499 gehaltenen Predigtzyklus über Sebastian Brants ,,Narrenschiff“ ( 1494) errungen haben, obgleich oder vielleicht gerade weil ,,Navicula" sein ungewöhnlichstes und rhetorisch anspruchsvollstes Unternehmen war. Narrentum wurde, wesentlich ausgelöst durch Brants Narrengalerie, in der deutschen und lateinischen Literatur der Zeit ein Lieblingsthema, Leitidee der Weltauffassung und Menschenbeurteilung . Die Verspottung des Narren gewann im Fastnachtspiel und in der Schwankdichtung Volkstümlichkeit; die satirische Kampfliteratur der Folgezeit bediente sich seiner zur Bloẞstellung des konfessionellen Gegners (Thomas Murner: ,,Von dem großen Lutherischen Narren"). Geiler trat werbend für das Werk des mit ihm in humanistischer Freundschaft verbundenen Narrenschiffdichters ein. Die Vorrede zur deutschen Buchausgabe von Johannes Pauli bediente sich zu diesem Zweck der gegen die Geringschätzung des Kostbaren aus Unkenntnis von dessen Wert gerichteten Eingangsfabel vieler mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Fabelsammlungen: ,,Der
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spiegel das büchlin des brantz narren schiff liget etwan in einem winckel in deim hauß on eer und ist verschmecht. Es ist das kostlich berlin der edel stein von dem Esopus schreibt den ein han fand uff ein mal den er ferachtet und sprach . Was solt du mir du bist mir nit nütz und ich dir auch nit / ich nem ein gersten kornlin für dich. Also den schatz den edlen spiegel des narrenschiffes verachtest du. O du blinder thůn deine augen uff und züch den spiegel herfür wisch den staub dar von das er für aller menschen angesicht gehenckt werd / wann er ist nütz allen menschen / in welchem alter er ist er zeuget iederman sein mosen ...“ 14 Geiler hat die von Brant ohnehin nicht durchgehaltene Fiktion der Seefahrt nach Narragonien aufgegeben, seine Darstellungsform wurde amtreffendsten mit dem Untertitel ,,speculum fatuorum“ , „,Narrenspiegel", der lateinischen Ausgabe von Jacob Otther benannt. Der Narrenspiegel soll der Selbsterkenntnis und als deren Folge der Demütigung vor Gott dienen¹ . Sebastian Brants ,,Narrenschiff“ wird zu einem religiösen Buch, sein Dichter zum Mittler. Denn es heißt in der Vorrede zur deutschen Ausgabe von Jesus: ,,Er wil dir ein spiegel für halten / in dem du dich selber magest sehen und speculieren die mosen deiner eignen bresten unnd eigen arbeitseligkeit / da von würst du dir selber misfallen underwürflichen sein got dem herren / nütz uff dich selber halten / und dich under die gewaltige hand gottes demietigen. O sprichst du das wer ein edler spiegel er wer kostlicher dann alles golde und silber uff erdtreich /zeug uns den spiegel so haben wir gnug". Der Prediger erwidert: ,,O lieben brüder disen spiegel dörffen ir nit kauffen / er ist nit fer von euch / ir haben in nahe bey euch hangen“ . Dann läßt er einen der Angeredeten das Gemeinte erraten: ,,ich mein du redest von dem narrenspiegel von dem narren schiff Sebastiani brants" . Und der Prediger bestätigt ihm : „ du sagest die warheit. O bråder ich red von dem selben spiegel /in dem spiegel des narren schiffes das ein kostlicher spiegel ist magestu sehen dy mosen deiner selen“ ¹ . Die Brantsche Reihung in sich selbständiger Auftritte seiner Narrenrevue mit jeweils einer neuen Narrenspezies hat Geiler beibehalten¹7 . Aus jedem Verskapitel bei Brant ist eine ,,turba (oder: turma) stultorum" geworden, in der deutschen Übersetzung eine „,narrenschar" , diese hat Geiler, der Gliederungsschemata liebte, noch einmal aufgeteilt in ,,nolae“, im Deutschen ,,schellen" . So entspricht dem 4. Kapitel Brants „ Von nüwen funden“ die „ Quarta turba stultorum: sunt novitatum presumptores“, die „ fierd schar der narren. Heißen nüwe finder / seltzame narren / mutznarren / ziernarren / malnarren / spiegelnarren“ . Das sind die verschiedenen Spielarten der Eitelkeitsnarren . Deren ,,Prima nola“ , die „ erst schel" bilden die Modenarren , diejenigen , die „ ,barbas deferre sive nutrire“, „ Bart ziehen“ . Brant hat im „,Narrenschiff“ gerne sprichwortartig auf Fabeln angespielt, 14 Des hochwirdigen doctor Keiserspergs narenschiff ... von dem latin getütschet von dem wirdigen vatter Johannis Pauli. Straßburg 1520 , Bl . X. - mosen: Flecken. 15 Die lateinische Vorrede (Introductorium in speculum fatuorum ) verweist auf das ,,Nosce te ipsum" der Inschrift am Apollotempel zu Delphi, auf Hiob , 5. u . 6. Kap. und auf Juvenal, 1. Satire. 16 Ebd. , Bl. X. – arbeitselikeit: Geplagtheit. – nütz: nichts. - dörffen : braucht. 17 Die Originalausgaben des „,Narrenschiffs" enthielten keine Kapitelzählung; von daher erklärt sich die Abweichung bei Geiler in der Zählung gegenüber modernen Ausgaben.
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aber keine als Exempel nach- oder umerzählt, ihre Heranziehung ist in allen Fällen Zutat Geilers. Hierdurch gewinnt die bei Brant oftmals monoton wirkende Aneinanderreihung größere Farbigkeit, Plastizität, individuellere Konturen, an die Stelle aufzählender Beschreibung tritt der Wechsel von Schilderung und Erzählung, durch den der Vortrag mit Leben erfüllt wird . Man darf sagen, daß Geiler in diesen „ Navicula“ -Predigten die Empfehlungen der antiken Rhetoriklehrer für das genus deliberativum mit außerordentlichem Geschick den spezifischen Anforderungen der volkstümlichen Predigt anzupassen verstanden hat. Seine große Literaturkenntnis erlaubte es ihm , neben der aesopischen Tradition des Mittelalters auch die erst im Verlauf des 15. Jahrhunderts hinzugewonnenen nicht-aesopischen Fabeln meist orientalischer Herkunft einzubeziehen und so bei der Kalkulation der Wirkung auf die Zuhörer den Reiz der Überraschung durch das Neue, zunächst Fremdartige ebenso zu berücksichtigen wie den Effekt der Befriedigung bei dem Wiedererkennen des längst Vertrauten . Als einer der ersten schöpfte er aus dem cyrillischen ,, Speculum sapientiae", der Vorlage für Ulrich von Pottensteins ,,Buch der Natürlichen Weisheit“ , und aus dem ,,Directorium vitae humanae“ des Johannes von Capua , dem „ Buch der Beispiele der alten Weisen" des Antonius von Pforr. Wo es ihm nötig erschien , verkürzte und vereinfachte er die seinen Hörern noch gänzlich unbekannten Exempla¹8. Die motivliche Bindung des Predigtzyklus an Brants ,,Narrenschiff läßt allerdings für die Anwendungssituation der Fabelexempla zunächst weltliche Kritik in den Vordergrund treten , bei der kluges oder törichtes Verhalten den Beurteilungsmaßstab abgibt und Unbelehrbarkeit schließlich sich selbst bestraft¹9. Gleichwohl blieb die moraltheologische Grundtendenz unverändert, und unter ihrer Perspektive wird aus Narrheit Sünde . Wenn sich eine Fabel gegen eine solche Auslegung sperrt, Geiler sie aber wegen ihres novellistischen Erzählcha18 J. Pauli ist darin noch beträchtlich weitergegangen, vielleicht aber auch dem mündlichen Wortlaut der Predigten näher geblieben als die auf wohl nachträglichen Niederschriften Geilers beruhende lateinische Edition von Jacob Otther. Die Vorrede zur deutschen Buchausgabe rechtfertigt ausdrücklich das Verfahren des Übersetzers : ,,Auch hat er mit willen vil auctoritates und inzug der geschrifft underwegen gelasen / uẞ ursachen wan ein doctor zů zeiten gar anders schreibt in ein bůch / und auch darneben anders prediget dem volck / als die bücher beweren deren die da bücher geschriben und geprediget hond“. (a.a.O. , Bl . IX ) So ließ Pauli z. B. die Fabel „ De aranea et musca“ aus dem „ Speculum sapientiae“ 1,6 ( Ulrich von Pottenstein: „ Das buch der Natürlichen Weißheit“ , 1. Buch, 6. Cap .: „ Sihe wo du deinen fåse hinsetzest und zweiffel in gar sichern dingen“) , die Geiler zu Turba XXXIX , Prima nola herangezogen hatte , ganz weg und beschränkte sich auf den Hinweis: ,,Cirillus schreibt auch ein fabel uff die weiß“, nachdem schon die lat. Fassung deren abstrakt scholastische Argumentationsweise vereinfacht hatte. 19 So in der Fabel „,,De aranea et musca" . Die von der Spinne vergebens belehrte Fliege verfängt sich in deren Netz. Auf den Vorwurf der betrügerischen Schurkerei antwortet die Spinne: ,,Olim tibi dixi quiesce aut certo perge : et non audisti . Discant ergo alii in malo tuo: quod neglexisti incauta bonum tuum. Et hoc dicto damnavit eam." Das Epimythion nennt dann die Adressaten der Lehre: ,,Respicit hec parabola: qui satis docti de periculis incaute cadunt“ . Eine naheliegende geistliche Deutung wird jedoch nicht gegeben.
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rakters nicht missen wollte, griff er zum Mittel der Steuerung des Verständnisses durch Voranstellung eines situativ individualisierenden und aktualisierenden Vorspanns und fügte, zumindest andeutend, einen biblisch-typologischen Rahmen hinzu. So bei der orientalischen Fabel „ Palumbi, Vulpes et Passer“ , („ Von den Tauben, dem Fuchs und dem Sperling“ ) aus dem „ Buch der Beispiele der alten Weisen", die denjenigen tadelt, der anderen hilft, sich selbst aber nicht helfen kann, die also die Hohnworte der Hohenpriester, Schriftgelehrten und Pharisäer über den gekreuzigten Jesus von Nazareth billigt. Hier erhält der unverändert bleibende Handlungsablauf durch ein persönliches Promythion einen anderen Sinn. Die eigene Unwürdigkeit und die der ihm gleichenden Bußprediger wird in die als Selbstgefälligkeit charakterisierte Torheit des Sperlings hineingedeutet: ,,Respicit hec nola me et mihi similes predicatores aliosque qui hortantur exurgere a malis“ ,,,quos ut in fatuitatem veniant: totis diabolus viribus conatur decipere“. Die Fabel ,,Hircus et Lupus" in der Predigt gegen die Spiegel narren“, weltlich ein Beispiel für die Torheit der Modegecken , hat Geiler durch inhaltliche Umgestaltung bei Festhalten an dem Hauptmotiv, ähnlich wie die Fabel vom Löwen und gemalten Bild, zur Handlungsallegorie von der tödlichen Bedrohung des Menschen durch den Bösen gemacht. Das Pferd ersetzte er durch den Wolf, die Jagd durch das Auflauern des Geflüchteten , eine neue rahmengebende Einleitung erfand er hinzu . Erst das Epimythion gibt mit dem Beiwort vom ,,Hellischen Wolff die geistliche Entschlüsselung20.
3. Johannes Pauli : ,,Schimpf und Ernst“
Wahrscheinlich durch Geilers Predigten angeregt, die er in seinen Straßburger Jahren ( 1504-1510) hörte und nachschrieb, hat der Franziskaner JOHANNES PAULI ( 1450/54 – nach 1519) in seinen letzten Lebensjahren als Lesemeister im elsässischen Kloster Thann unter dem Namen „ Schimpf und Ernst“ ein Buch zusammengestellt, welches ,,durchlaufft der welt handlung mit ernstlichen und kurtzweiligen exemplen , paraboln und hystorien nützlich und gůt zů besserung der menschen". Es enthält 693 Stücke kurzer Erzählprosa , zu zwei Dritteln „ von schimpff" (scherzhafte) , zu einem Drittel ,,von ernst“ . Er hatte sie wohl über einen längeren Zeitraum hinweg aus mittelalterlichen Exempelsammlungen, aus Romulus, dem ,,Esopus moralisatus", der Speculum ' - Literatur, Legendarien, den ,,Gesta Romanorum“ und Steinhöwels „ Esop“, aber auch aus mündlicher Überlieferung zusammengetragen. Das Buch war als Fundgrube von Märlein, byspel und , risus für die Benutzung durch Prediger gedacht. Adressaten waren aber auch Klosterangehörige und adlige Leser, denen es zu lehrreicher Unterhaltung dienen. sollte. Fabeln finden sich zahlreich darin an beliebigen Stellen , darunter die vermutliche Kernfabel aller Fuchsepen von der Heilung des kranken Löwen (,,Vom Wolf 20 Die Schiffsmetaphorik, die in der „ Navicula fatuorum“ nicht zur Geltung gekommen ist, hat sich Geiler für seinen Zyklus der Bußpredigten, die „ Navicula penitentie“, vorbehalten. Vgl . hierzu A. Elschenbroich, Das ,byspel ' , S. 18ff.
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und die Fabel ,, Von der Sonne“ ( „,Vom Diebe“ ) , der Pauli unter
Berufung auf Petrarca eine überraschend scharfe sozialkritische Auslegung gegeben hat. Er verfügte über eine natürliche , das Anekdotische bevorzugende Erzählergabe und über eine volkstümlich anschauliche Ausdrucksweise . Die meisten Fabeln hat er gemäß der Lehre vom mehrfachen Schriftsinn doppelt ausgelegt, nach ihrem weltlichen und ihrem geistlichen Sinn. Die weltliche Lehre faßte er gern in ein Sprichwort, und häufig ist es ihm gelungen, die geistliche als Parallele oder Analogie aus der weltlichen abzuleiten , so daß man die lehrpraktische Erfahrung des Predigermönchs deutlich spürt. An der verbreitetsten Pflanzenfabel ,,Von der Eiche und dem Rohr" ließ sich auf natürliche , auch dem einfachsten Gemüt verständliche Weise die Lehre von Lohn und Strafe im Jenseits exemplifizieren; es ergab sich fast von selbst, daß die Rohrhalme ,,geistlich die frumen menschen" bedeuten , welche sich hier demütigen ,,durch penitentz“ , aus Bußfertigkeit, am Jüngsten Gericht aber ,,ire höpter frölich uff heben“, während die Hoffärtigen wie die Eiche vom Sturm zu Boden geworfen werden. Auch der Übergang von der weltlichen Alternative zwischen äußerer Freiheit in Armut oder Knechtschaft in Üppigkeit zur geistlichen zwischen einem reinen Gewissen (,,conscientz“ ) ,,mit armůt hunger und durst“ , „ mit bloszheit und nackent sein“ oder der „,underwürflicheit des bösen geists“ war eindeutig und leicht zu vollziehen ( ,,Vom Hund und Wolf“ ). Den mittelalterlichen Geist der Allegorese bewahrt wohl am stärksten die spirituelle Auslegung der Fabel von den Eltern des Maulesels. Die Umsetzung der weltlichen Lehre , daß man nicht mit einem vornehmen Elternteil prahlen und sich des anderen von niedrigerem Stand schämen soll, in die theologische von der Doppelnatur des Menschen , seiner göttlichen und erdgebundenen Abkunft, war durch einfache Parallelisierung oder Analogiebildung nicht einsichtig zu machen. Pauli mußte vielmehr hierzu auf die ihm selbstverständlich geläufige Methode der punktuellen Gleichsetzung, die Grundlage der allegorischen Bibelexegese , zurückgreifen. Von deren spiritueller Evidenz leitete er dann wieder die moralische Forderung ab: „,bisz demütig und veracht niemans“.
4. Hans Wilhelm Kirchhof: ,,WendUnmuth" Paulis ,,Schimpf und Ernst" steht am Anfang der im 16. Jahrhundert zunehmend breitere Leserschichten erreichenden Unterhaltungsliteratur in bunt zusammengewürfelten epischen Kleinformen. Die nach seinem Tode durch anonyme Bearbeiter veränderten und erweiterten Neuausgaben ließen den ursprünglich vorherrschenden erbaulich-lehrhaften Charakter immer mehr zugunsten des Prosaschwanks zurücktreten, was schließlich auch in dem neuen Titel ,,Schertz mit der Warheyt“ ( 1545 ) Ausdruck fand . In den nun schnell aufeinander folgenden Sammlungen schwankhafter Geschichten (Jörg Wickram : ,,Rollwagenbüch21 Das Ausgangsmotiv vom Hoftag des Löwen ist hier in der Variante der Hochzeitsfeier einbezogen.
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lein", J. Frey: ,,Gartengesellschaft“, M. Montanus : „ Wegkürzer“ , M. Lindener: „ Katzipori“, „ Rastbüchlein“ , V. Schumann : „ Nachtbüchlein“) traten Fabeln nur gelegentlich oder gar nicht in Erscheinung, bis mit dem umfangreichsten Erzeugnis dieser Gattung , dem ,,WendUnmuth“ von Hans Wilhelm Kirchhof (um 1525-1605) neben der Unterhaltung auch die Belehrung wieder zu ihrem Recht kam. Schon der erste Band ( 1563 ) nannte im Titel neben Historien und ,,Schimpffreden“ auch Gleichnisse als Inhalt,,,sampt etlichen andern neuwergangenen warhafftigen aller Stende Geschichten". Kirchhof schöpfte also einerseits wie seine Vorgänger aus älteren literarischen Quellen , andererseits bot er Vorkommnisse der Gegenwart , namentlich Selbsterlebtes aus anderthalb Jahrzehnten seines Landsknechtslebens . Eine autobiographische Fabel kann sein ,,Gleichniß von zweyen meusen“ genannt werden. Die Unbelehrbarkeit jeder nachwachsenden Generation, die auf die Warnungen der Alten und Erfahrenen ,,,so jämmerlich wider heim kommen“, nicht hören will, ist ihr Thema. Kirchhof war selber einer von denen gewesen, die „ auß fürwitz den krieg, als da sie frey allerhand schand treyben können , versuchen wöllen" . Und er hatte erfahren, wie es um so ein vermeintliches frisch-fröhliches Soldatenleben in Wahrheit bestellt ist. Wenn sie ,,deß handels gewar werden , und" - wie die junge Maus -,,heim auß der fallen begeren“, ist es gewöhnlich zu spät. ,,Ehe sie recht angehaben, überfelt sie kranckheit, kommen in der oberkeit hand und straff, oder werden sonst, wenn sie sichs am wenigsten versehen , erschossen und todtgeschlagen". Wem es zu entkommen gelungen ist, der hat ,,on grosse schand" seine Befreiung nicht erlangt . Das klingt wie ein persönliches Schuldbekenntnis. Jedem übernommenen oder zum erstenmal erzählten Stück hat Kirchhof in der Form von Merkversen „ ein Morale zu erclärung angehengt“ . Die für die didaktische Gattung der Fabel konstitutive Zweiteilung in Handlung und Lehre übertrug er auf alle Spielarten seiner epischen Kleinprosa. An dieser Grundkonzeption hat er, vierzig Jahre hindurch weiter sammelnd, festgehalten, bis der ,,WendUnmuth“ schließlich 1603 auf sieben Bücher mit insgesamt 2083 Nummern angewachsen war. Im Titel des letzten Buchs heißt es noch einmal lapidar: ,,Alles durch Erklärung eines Morale“. Der Anteil der Fabeln war in den einzelnen Büchern unterschiedlich . Nachdem die im ersten Buch enthaltenen eine Art Modellfunktion für alle Erzählstoffe erfüllt hatten , traten sie in den folgenden vorerst zurück, um in der Spätzeit dann einen bevorzugten Platz einzunehmen. Das siebente Buch brachte einige gattungstheoretische Beiträge, eine Begriffsbestimmung des ,,Apologus“22 und ins Deutsche übersetzte Ausschnitte aus
22 VII , 1 Das Buch der Beispiele der alten Weisen" ist unverkennbar Vorbild für die Definition: Apologus, was es, von wem und warumb also genennet. Apologus ist ein gespräch und gedicht weiser, verständiger männer, philosophen und poeten, erstlich, wie etliche wöllen, in indianischer, darnach in Persianer, arabischer, hebraischer und lateinischer sprachen beschrieben worden, derer etliche, wie menschen mit menschen, thier mit thieren , vögel mit vögeln, auch thier mit menschen, mit
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Melanchthons Vorrede zur Schulausgabe der Anthologie des Camerarius23. In der Überschrift zum siebenten Buch werden alle Stücke unter dem Oberbegriff „ Apologus / das ist : Gleichnuß und Fürbildt guter Sitten“ zusammengefaßt. Kirchhof erzählt ausführlicher, auch realistischer als Pauli . Naturgemäß ist der ehemalige Landsknecht, der Forstgehilfe und spätere autodidaktisch gebildete Kastellan aufSchloß Spangenberg weniger sprachgewandt als der Lesemeister im Kloster Thann, aber an Weltkenntnis und praktischer Lebenserfahrung übertrifft er diesen. Wo er einer bestimmten literarischen Quelle folgt, vornehmlich bei den zahlreichen aus dem Buch der Beispiele der alten Weisen“ übernommenen Stücken, schließt er sich ihr enger an als die meisten anderen volkstümlichen Fabelautoren. Seine Merkverse meiden spirituelle Auslegungen, sie beinhalten Erläuterungen , Warnungen oder Ratschläge nach Maßgabe einer protestantischen Ethik, die Handlungsweisen nur so lange positiv bewertet, als sie mit rechtschaffener Gesinnung vereinbar sind. Das dem letzten Buch zum Geleit mitgegebene Gebot des Apostels Paulus : ,,Haßet das arg /hanget dem guten an“ (Röm. 12,9) liegt in schlichter, aufrichtiger Allgemeingültigkeit allen Einzellehren zugrunde . Es gibt bei Kirchhof kein ungerechtes Schicksal . Mißgeschick erscheint als verdiente Strafe für Unbelehrbarkeit ( ,,Ein fuchs betreuget einen esel und löwen“ , „,Von einer fliegenden schildkröten“ ) oder als Vereitelung böser Absichten (,, Von einem mutterpferd und wolff“ , „ Vom schaff, hirsch und wolff“ ) . Verwerflichem Verhalten in der Fabelerzählung setzt Kirchhof in seinen Merkversen sittliche Forderungen entgegen . So spricht der erste der beiden Merkverse zur Fabel ,,Ein adler wirdt von einer krohen betrogen“ nicht von der hinterhältigen Tücke der Krähe, sondern von den positiven Folgen guter Ratschläge, der zweite hebt keineswegs die Schlauheit der Krähe hervor oder rügt die unkritische Leichtgläubigkeit des Adlers , er wendet sich vielmehr gegen unaufrichtig berechnende, eigensüchtige Absichten . Indem Kirchhof die Fabel ,,Vom fuchs und einer löwin“ anstelle des ironischen Ausspielens der Qualität gegen die Quantität auf das Problem des Standesunterschieds bezieht, dient sie ihm als naturrechtlicher Beweis für die Gottgewolltheit dieses einander gespräch gehalten. Etliche haben auch wie redende personen unempfindliche creaturen, als berg und thal, bäum , holtz , stein, waßerflüß und brunnen, mit lieblichen, behenden und fürsichtigen argumenten und worten eyngeführt, dardurch sie haben wöllen ihre weißheit und vernunfft erzeigen und verstehen geben. Und solches umb dreyer fürnemen ursachen wegen ; daß sie erstlich ein ursach hetten ihrer künfftigen rede und erzehlung; zum andern, umb kurtzweil und anmuhtung dem leser zu geben; und zum dritten, weil die gleichnuß und beyspiel viel und größer bey den lesenden und zuhörern, auch darzu unser fürwitz geneigt ist, würcken mag und anmuth hat. Dieser und schöner lehr gebrauch Halb, geht die kuh biß an den bauch Im graẞ und an gesunder waid; Rom. 13 Das gut behalt und böses meid. Drumb auff solch und dergleichen weiß Gelehrter männer sorg und fleiß Umb uns verdient hat lob und preiß. 23 VII ,4 Philippi Melanchtonis, piae memoriae, lob und nutz der apologen.
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Unterschiedes und damit zur religiösen Begründung der konservativen protestantischen Gesellschaftslehre. Es ist kennzeichnend für seine Religiosität, daß er die Fabel vom brutal verklagten Schaf nicht in der Version vom grausamen Triumph des Unrechts, sondern in der von der unverhofften Rettung erzählt, so daß durch sie das Gottvertrauen unschuldig Bedrängter gestärkt werden kann:
Gott schickt niemals trübseligkeit, Sein heilig engel war nicht weit, Der schafft errettung rechter zeit.24
5. Fabelerzählung und Fabelinterpretation in der „,Sarepta“ und den ,,Luther-Historien" von Johannes Mathesius Wer gewohnt ist, sich das 16. Jahrhundert als das Zeitalter der Glaubenskämpfe wie konfessionell so auch literarisch in zwei feindliche Lager aufgespalten zu denken, ohne eine andere Gemeinsamkeit als die beiderseitige Aggressivität, den muß es freilich überraschen , in JOHANNES MATHESIUS ( 1504–1565), dem Pfarrer der böhmischen Bergwerksstadt Joachimsthal , einem evangelischen Prediger zu begegnen, der keinem unter den eigenen Bekenntnis- und Amtsgenossen so verwandt erscheint wie dem ihm um zwei Generationen vorausgegangenen, noch ganz dem alten Glauben zugehörigen Geiler von Kaysersberg . Beiden war die theologische Streitrede fremd, in der Seelsorge trat bei ihnen dogmatische Belehrung gegenüber der Hinleitung zu christlicher Lebensführung in den Hintergrund, beide verstanden es, humanistische Gelehrsamkeit volkstümlich anzuwenden. In ihrer Predigtpraxis verfolgten sie nicht nur die gleichen Ziele, sondern gingen auch die gleichen Wege. Thematik und Behandlungsart orientierten sie an der ständischen Zusammensetzung ihrer Zuhörerschaft, Geiler an den verschiedenen Bevölkerungsschichten der bürgerlichen Reichsstadt Straßburg, Mathesius am neuen Sozialgefüge der berufsspezifischen Frühform eines industriegesellschaftlichen Gemeinwesens , wie es sich in Joachimsthal entwickelt hatte. Sie knüpften an aktuelle Anlässe der nächsten Umgebung an - wie Geiler an die Vorführung eines Löwen auf dem Straßburger Jahrmarkt, so Mathesius an die Fastnacht der Bergleute - und spannen von dort den Faden ins Allgemeingültige und Grundsätzliche fort. Beide gelangten von den gleichen Voraussetzungen aus zu Predigtzyklen mit sinnbildlicher oder im engeren Sinne literarischer Themenwahl ohne festgelegte biblische Textbindung, Geiler zu den ,,Vier Leuwengeschrey" , dem „ Has im Pfeffer“, der „ Emeis“ und zu Brants „ Narrenschiff“ , Mathesius zur „,Sarepta“ (1562) und zur Fabelpredigt seiner „ Luther- Historien“ ( 1566) . Wie Geiler suchte auch Mathesius Anschaulichkeit und Einprägsamkeit durch Analogien, Allegorien, Gleichnisse und eine Fülle von Beispielen aus der Alltagswelt seiner Zuhörer
24 Bd. I, S. 182 .
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zu erreichen, ebenso Volkstümlichkeit durch die Sprachgebung in Wortschatz und Satzbau , durch Einfügung von Sprichwörtern, Redensarten und Fabeln. Überlieferungsgetreu hat Mathesius in seinen Predigten Fabeln nacherzählt, wenn sie, wie die vom „,Fuchs und Adler" , in dieser Gestalt seinem seelsorgerischen Lehrzweck entsprachen , er hat sie umerzählt, wenn Gebote christlicher Ethik, wie Barmherzigkeit und Almosengeben bei der Fabel ,,Von der Ameise und Heuschrecke", dies erforderten, und er hat neue erfunden, wenn ihn die Lust anwandelte , mit den vertrauten Dingen der eigenen Lebenswelt fabulierend umzugehen, wie beim „,Hirtenhund und jungen Polsterhündlein“ und der Märchenfabel vom Sperlingsvater mit seinen vier Jungen25. Die zweite Predigt der ,,Sarepta" handelt ,,von ankunfft und außbreytung der Bergkwerck /und von frommen und bösen Bergkleuten auß der heyligen Schrifft / alten Historien / und klugen fabeln der Heydnischen Propheten" 26. Weit ausholend beschreibt Mathesius unter Heranziehung antiker und alttestamentlicher Zeugnisse die naturgeschichtlichen Voraussetzungen der Entstehung und die zivilisationsgeschichtlichen Folgen der Fortentwicklung des Bergbaus, die schließlich zu der gegenwärtigen Blüte des Bergwesens in Joachimsthal geführt haben. Antike Naturwissenschaft, biblische Legitimation und eigene Naturbeobachtung lassen ihn in den Ameisen das rechte Vorbild der Bergarbeiter erkennen. Durch Salomo,,,so die natur und eygentschafft diẞ fleissigen unnd erbeitsamen Würmleins / als ein grosser Magus und naturkündiger erfaren" , hat der heilige Geist ,,das wintzige Creaturlein zum exempel fürstellen“ lassen27. „ Also redet der heilige Geyst von disen kleinen und klugen Bergkleuten /die irer arbeyt /zechen und gebeude trewlich vorstehen / Wie auch die Heydnischen naturkündiger /vil ander schöner eygenschafft / von den weysen thierlein auffgeschrieben haben / Welches auch augenscheinlich ist / wenn man sich bey iren halden auffhelt / und sihet irer trewen arbeyt zu / da sie auß und einfaren / und gleich als lieffen sie mit dem Hunde oder Druhen / die körnlein ziehen und schleppen / oder für sich her weltzen unnd schieben / und in ire außgezimmerte schecht unnd örter / als inn ir gewelbe / speycher oder keller / zu rath halten und auffheben"28. Eine ausführliche Beschreibung der Eigenschaften und Tätigkeiten des Ameisenvolkes, die immer schon die positive Beispielhaftigkeit einbezieht, mündet in die Erzählung der Fabel „ Von der Ameise und Heuschrecke“ . Ihr Schema findet Mathesius in den ,,Sprüchen Salomonis" vorgezeichnet: „ Die Ameyẞlein sind ein klein schwach volck / spricht der weyse Mann / dennoch haben sie ire fürsorg und vernünfftige bedencken / schaffen im Summer ire speyse 25 An Paul Eber schrieb Mathesius, als er ihm Luthers Vorrede ,,von rechtem nutz und brauch" zuschickte: „,addidi meos passeres, qui si tibi probabuntur, ex poetico meo plures eius generis fabulas ad te transmittam . Delector hoc genere colloquiorum argutorum, sed quid praestiterim, tuum erit iudicium". (Brief v. 7. 5. 1557 , in: J. M., Ausgewählte Werke , Bd. 4 , Prag 1904 , S. 569). 26 Sarepta oder Bergpostill. Nürnberg 1562, Bl. XXXVII . 27 Ebd., Bl. XXXII '. 28 Ebd. , Bl. XXXII . – mit dem Hunde oder Druhen: Förderwagen im Bergbau.
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ein / und arbeyten weyl es warm ist / das sie im Winter nicht herauß in schnee 6629 dürffen / und sich und die irigen inn iren gruben unnd stollen erhalten können.“ Damit aus dieser biblischen Charakteristik eine Fabelhandlung wird, bedarf es nur noch der negativen Kontrastfigur in Gestalt der Heuschrecke und des Zusammentreffens beider in einer exemplarischen Situation . Ebenso wie der Vorspann übertrifft auch das Morale die Erzählung um ein Vielfaches an Ausführlichkeit. Die vorausgeschickte naturkundliche Beschreibung wird nun, nachdem sie von der Fabel bereits mit menschlichem Verhalten identifiziert worden ist, wieder aufgegriffen und durch detaillierte Analogieaufweise in eine Art theophrastischer Charakterologie verwandelt. Mathesius zeichnet als Allegorese des naturkundlichen Befundes realistische Porträts von ,,ehrlichen /trewen und fleissigen Bergkleuten“ auf der einen und „,faulen /nassen / geneschigen meulern und bierflegeln ... die nur in tag on alle sorg blind felt hinein leben" auf der anderen Seite . Damit will er situationsbezogen nachvollziehen, was ,,der weyseste König Salomon unnd ander kluge leut" gelehrt haben: das ,exempel ' der Tiere als contrafractur ' analoger menschlicher Charaktere zu begreifen. Soll die Ameise der Fabel als allegorisches Vorbild gelten , so muß sie wie ein christlicher Hausvater handeln , der notleidenden Heuschrecke nach Vermögen Hilfe zuteil werden lassen , jedoch so , daß darüber die Ihrigen keinen Schaden erleiden, und ohne dem Müßiggang der Arbeitsscheuen Vorschub zu leisten . Anstatt die Heuschrecke mit Vorwürfen zu überhäufen und sie unbarmherzig abzuweisen, bietet die Ameise ihr, entgegen der Überlieferung dieser Fabel, eine Wegzehrung an, ausreichend , um sie vor Mangel zu bewahren, wenn alle anderen Ameisen ebenso handeln wie diese eine . „ Ein Ameyß ist ein feines Thierlein / darein Gott etliche bildtnuß sehr schöner tugent /den menschen fürgemahlet“ , hat Mathesius zu Beginn seines naturkundlichen Vorspanns erklärt und verallgemeinernd hinzugesetzt: ,,Wie denn Gott seine weißheyt und vil sehnlicher trew / und trefliche tugent /in seine Creature gebildet."30 Soll hingegen die Heuschrecke ein ,,bildtnuß“ des Lasters abgeben, so genügt es nicht, nur ihre Sorglosigkeit und Vergnügungslust zu tadeln , sondern es muß auch ihr schlechter Charakter hervortreten, wie sie, anstatt dankbar zu sein,,,böse Karten außwirfft“. Daraufhin erst erwidert die Ameise mit ihrer Strafrede. An den Schluß seiner Fabelpredigt, die neben ihrem biographischen Stellenwert in den ,,Luther-Historien" auch der theologischen Rechtfertigung des Gebrauchs der Fabel in der Predigt diente³¹ , hat Mathesius die von ihm erfundene Fabel ,,Vom Sperling und seinen vier Jungen“ gesetzt. In ihr hat er ohne festes Vorbild das vielfältig überlieferte Motiv der Warnung eines Tierkindes durch Vater oder Mutter vor den Gefahren, die ihm von den Menschen drohen, frei ausgesponnen und ganz in seine Welt des Hauswesens und der Kindererziehung
29 Ebd. , Bl . XXXII . - Sprüche Sal. 30, 25. 30 Ebd. , Bl. XXXII . 31 Vgl . hierzu A. Elschenbroich : Die Fabelpredigt des Johannes Mathesius (s . Allg. Lit.) .
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übertragen. Die Erzählweise ist der des Märchens verwandt. Die glückliche Bewahrung der Kinder und ihre Selbstbehauptung durch weltoffene Klugheit, das Schema von Aufgabe und Lösung im reihenden Stil der variierenden Wiederholung, das Finden der besten Lösung gerade durch den Jüngsten und Schwächsten, die Technik der durch Befragung veranlaßten Rückwendungen , die schließliche Wiedervereinigung der Getrennten - das alles ist weit mehr märchenhaft als fabelgemäß, und so verdankt dies Märlein denn auch sein Fortleben der Aufnahme in die ,,Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. Für Mathesius selbst war jedoch die biblische Motivation entscheidend. In einer vorausgegangenen Apologie des geistlichen Gebrauchs der Fabel hatte er die Tiere genannt, auf die in der Bibel als Träger eines spirituellen Sinns verwiesen wird: neben den Ameisen Henne und Küchlein (Matth . 23,37 ) , Wölfe und Schafe (Matth. 10,16) , Schlangen und Tauben (ebd . ) - und die Sperlinge. ,,Christus weiset uns zum Sperling". Gemeint waren die Christusworte: „ Kauft man nicht zwei Sperlinge um einen Pfennig? Dennoch fällt deren keiner auf die Erde ohne euren Vater ... Darum fürchtet euch nicht; ihr seid besser als viele Sperlinge." (Matth. 10,29 u. 31 ). Mathesius hat die Sperlingsfabel für seine Gemeinde erfunden, um ihr gemäß seiner eigenen irenischen Haltung in den Glaubensstreitigkeiten der nachlutherischen Zeit diese Christusworte durch ein Märlein so auszulegen , daß sich jeder, unbeirrt von jenen Streitigkeiten , daran halten durfte . Noch ehe der Sperlingsvater seine vier Kinder über das Weltleben gehörig belehren konnte, wurden sie ihm entrissen. Ganz allein auf sich gestellt, erhielt sich jedes von ihnen den Sommer über am Leben, bis der Zufall sie zum Herbst in einem Weizenacker wieder zusammenführte . Der Sperlingsvater kann sich keines Verdienstes an ihrer Errettung rühmen. Ihr Leben lag in Gottes Hand. Von ihm geleitet und beschützt, entgingen die Unmündigen in jeder Gefahr ihren Verfolgern , entdeckten sie ohne jegliche Erfahrung die rechten Gelegenheiten , sich ihre Nahrung zu verschaffen. Die Märchenkinder des Glücks sind die Erwählten der Rechtfertigungslehre, denen alle Bosheit der Welt nichts anzuhaben vermag. Unter diesem Aspekt ist die Fabel Allegorie des ,sola fide “ und „ sola gratia : ,,Wer aber Gott wol trawt /der hat wol gebawt /und wird in der argen Welt erhalten / und endlich mit ehren aus allem unglück errettet“ . Doch ganz ohne eigenes Zutun sind sie nicht am Leben geblieben. Sie mußten
sich ,,Welt gescheidigkeit “ aneignen, sich selbst abmühen, um ihre Nahrung zu gewinnen, mußten aufmerksam beobachten , was um sie her vorging, lernen , es zutreffend zu beurteilen und ihr Verhalten danach einzurichten . Mathesius schärft seinen Zuhörern zweimal ein, daß es darauf ankomme , in einer Welt, die so beschaffen ist, wie die Fabel sie zeigt, durch eigenes Bemühen „ glaub und gewissen rein“ zu bewahren. Der jüngste Sohn hatte in einer Kirche Zuflucht gefunden. In diesem heiligen Raum lebte er von Spinnen und Fliegen. Indem er sie von den Fenstern ablas, half er dazu , das Haus Gottes zu reinigen. Spinnen und Fliegen bezeichnen alle diejenigen , die die reine Lehre verunstalten und die Verkündigung des Wortes Gottes zu stören suchen , Katholiken und Schwärmer
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gleichermaßen. In dem mit dem Morale vereinigten Schlußgebet wird Christus um die gleiche Hilfe angegangen. Was anderes wird hier allegorisch dargestellt als die Mitwirkung bei der Gewinnung des Heils für den einzelnen und die ganze evangelische Gemeinde? Als Mathesius diese Fabel vortrug , drängte der synergistische Streit dem Höhepunkt zu. Nicht aus dem freien Willen als einem von der Gnade unabhängigen sittlichen Vermögen entspringt, was der jüngste Sperling Verdienstliches leistet, denn er ist ja auf das Vertilgen der Spinnen und Fliegen angewiesen, weil er sich nur dadurch ernähren kann. Aber er wartet nicht darauf, daß man ihn füttert, sondern erwirbt sich seine Nahrung durch eigene Anstrengung. Damit wendet sich die Allegorie gegen die quietistischen Folgen des flacianischen Standpunktes und bezeichnet die Melanchthonsche Lösung des Problems von Freiheit und Knechtschaft des Willens. Durch die Gnadenwirkung Gottes wird der Mensch zur Glaubenszustimmung bewegt. Es wird eine Kraft in ihm erweckt, die aus Glauben dem Glauben dient. Sie entscheidet und handelt nicht nach eigenem Ermessen oder in einem von der göttlichen Gnade unabhängigen Zusammenwirken mit ihr, sondern tritt einzig als ein Wirken in der Gnade hervor. Das bezeichnet der geschlossene Kirchenraum , in dem der Sperling, sicher vor den Feinden,,,die krumme schnebel und lange kralen haben / und nur auf arme vöglein lauren“ , sich seine Speise sucht. Mathesius ging es um harmonische Ergänzung, Zusammenfassung, Versöhnung des lutherisch-reformatorischen ,sola fide und , sola gratia' mit dem ovvέpyɛiv der Melanchthonschen Vermittlungstheologie. Die Sperlingsfabel muß als Allegorie dieser Versöhnung verstanden werden. Ihre konstituierenden Bildelemente waren biblisch vorgegeben; innerhalb des durch sie abgesteckten Anschauungsbereiches aber durfte sich eine frei erfundene Handlung entfalten.
XIII . Die poetischen Fabeln der Neulateiner
Bei den lateinischen Fabeln blieb der Zusammenhang mit dem Rhetorikunterricht an Gymnasien und Universitäten auch dort gewahrt, wo neulateinische Dichter in der zweiten Jahrhunderthälfte die Stilform der mittleren Rede und damit die Dorpiussche, auch von Camerarius im Prinzip eingehaltene Doktrin der Prosakurzform verließen , um mit Hilfe der seit Conrad Celtis zurückgewonnenen Formen der antiken Lyrik - Elegie, Epigramm und Ode - auch der Fabel den höheren Rang der Poesie zu verleihen. Sofern eine spätere Zeit von solchen Versuchen überhaupt Kenntnis genommen hat, sind sie als Verirrung, gar als Geschmacklosigkeiten verworfen worden. Lessings Fabeltheorie hatte daran maßgeblichen Anteil. Den Neulateinern dieser Epoche kam es jedoch in erster Linie auf die souveräne Beherrschung der antiken Formmuster in möglichst vielartiger Verwendung an. Infolgedessen war der Umformbarkeit ein weit größerer Spielraum belassen als in späteren Zeiten; an der Überwindung des widerstrebenden Materials durch artistische Formgebung mochte sich gerade die Meisterschaft künstlerischen Könnens erweisen . Mit der Voraussetzung der Erlernbarkeit des Dichtens hing es zusammen, daß die Anwendung verfügbarer Formen auf Gegenstände unterschiedlichster Art ein spezifischer Lernbereich war. In dem Unterricht, den ein Professor der Rhetorik und der Poesie zu erteilen hatte, handelte es sich dabei um eine fortgeschrittene Übungsstufe der imitatio, die letzte vor dem Übergang zur inventio und teilweise schon als solche bewertet .
1. Die Fabelelegie : Hieronymus Osius Es scheint, daß Hieronymus Osius (gest. 1575) , Professor der Poesie in Wittenberg und Freund Melanchthons , der erste war, der einen derartigen Versuch der Verwandlung von Prosa in Poesie im Großen an einem eigens hierfür zusammengestellten Fabelcorpus unternahm und das Ergebnis in seiner Gesamtheit als selbständige literarische Leistung für publikationswürdig hielt. Er wählte das Distichon als Versmaß, das einerseits durch beliebig häufige Aneinanderreihung einen ruhigen Erzählfluß erlaubte, andererseits mit dem sich deutlich davon absetzenden letzten Verspaar eine überraschende Wendung der Fabelhandlung pointierter hervortreten ließ, erst recht aber dazu geeignet war, dem Epimythion epigrammatischen Charakter zu geben. So entstand ein Buch aesopischer Elegien, Kurzelegien zumeist, da Osius der Erzählweise seiner Vorlagen so nahe wie möglich bleiben wollte . Das betonte er im Titel ausdrücklich : „,Phrygis Aesopi
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Fabulae, Carmine Elegiaco Perspicue et Accurate Redditae“ . Mit dieser Hervorhebung philologischer Tugenden wollte er den Einwand abwehren, die neu errungenen Vorzüge humanistischer Textdarbietung stünden durch die Versifizierung in Gefahr, abermals verlorenzugehen. Seine Fabelelegien sollten ebenso dem akademischen Studium dienen, wie die große Prosasammlung des Camerarius , deshalb fügte er im Titel, die horazische Formel des prodesse und , delectare aufnehmend, gleich den Relativsatz hinzu: ,,quarum lectio non tantum iucunda, sed et utilissima studiosae Literarum iuventuti futura est". Der Bedeutungsumfang des Wortes ,iucunda schließt den Anspruch ein, daß die Fabeln durch die Distichenfassung einen zusätzlichen ästhetischen Reiz gewonnen hätten. In seiner fast zu einem Lehrgedicht ausgeweiteten ,,Elegia dedicatoria" hat Osius Melanchthons Argumente für den pädagogischen Gebrauch der Fabel wiederholt, sie partienweise nahezu wörtlich aus der Wittenberger Rede ,,De utilitate fabularum" und aus der „ Praefatio“ zur Schulausgabe der Camerarius- Sammlung2 in Verse umgegossen³. Seine Vorlagen wählte er so aus, daß neben dem allseits bekannten, als authentisch geltenden Grundbestand die Umerzählungen des Abstemius reichlich zur Geltung kamen . An den Schluß stellte er die als elegische Verserzählung vorgetragene „ Fabula saepe recitata a Philippo Melanthone, praeceptore meo carissimo, De Serpente, Rustico et Vulpe, pulcre depingens ingratitudinem Mundi“ . So konnte Osius die Verfahren der Imitation , Variation und Produktion nicht nur, was Form und Auslegung betraf, sondern auch im Inhaltlichen an Beispielen vor Augen führen. Bei der Verwendung im Rhetorikunterricht ließ sich an der Fabel ,,Leo et Mus“ zeigen, wie durch Verschieben des Einsatzes der Handlung in die zweite Phase der älteren aesopischen Fabel sowie durch Erfinden einer Fortsetzung das Thema sich ins Anekdotische , Schwankhafte, Facetienartige hinüberspielen ließ und der unerwartete Ausgang dann auch eine ganz andere Lehre evozieren mußte . Ferner trat hier in Erscheinung , daß die Tiercharaktere in der Fabel durchaus auch Abwandlungen erfahren können , indem bei dem als Vorlage benutzten Abstemius aus dem großmütigen Löwen der erpreßte, aus der dankbaren Maus die fordernde wurde . Die Version, die Abstemius der Fabel ,,Asinus aegrotans" gegeben hat, widerspricht der Behauptung von der naturgegebenen Zwanghaftigkeit des Verhaltens der Tiere . Hier ist der Esel nicht mehr, wie eh und je , der durch seine Dummheit Geprellte , vielmehr erweist sich seine Fähigkeit, durch Erfahrung zu lernen, an der zweiten Generation. Denn der von Abstemius in die Fabel neu eingeführte junge Esel durchschaut die Falschheit der anteilnehmende Freundschaft heuchelnden Besucher. Er weist sie ironisch ab, so daß nun Hund (Fuchs) und Wolf die Düpierten sind, ein Vorgang der Rollenvertauschung, von der
1 Opera omnia, Vol. XI, Sp. 116–120. 2 In Briefform : Christophoro Cziglero , Viri Clarissimi D. Bernhardi Czigleri, Doctoris Theologiae , filio S. D. , in: Opera omnia, Vol. VII , Sp. 561–566 . 3 Osius, Phrygis Aesopi Fabulae , Carmine Elegiaco ... Wittenberg 1564 , Bl. A2′-A6* . 4 Ebd . , Bl. N3 '-N4' .
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irrigerweise generell angenommen zu werden pflegt, sie sei der modernen Emanzipationsfabel vorbehalten geblieben. Die Melanchthon zugeschriebene Fabel von der Schlange, dem Bauern und dem Fuchs konnte schließlich Demonstrationsobjekt für die Technik der Fabelerfindung durch Kombination von Elementen mehrerer motivverwandter Fabeln werden, von Fuchsfabeln , Schlangenfabeln, Hunde- und Pferdefabeln . Mit ihrer retardierenden Erzähltechnik durch Episodenbildung und variierende Wiederholung nähert sie sich dem Tierepos, und so war es durchaus sinnvoll, daß Osius dieser letzten Fabelelegie im gleichen Bande noch seine lateinische Hexameterübersetzung der pseudohomerischen ,,Batrachomyomachia“ („,Pugna Ranarum et Murium Homeri" ) folgen ließ.
2. Die Fabel als protestantischer Schulactus: Lucas Lossius 1571 veranstaltete LUCAS LOSSIUS ( 1508-1582 ) , Rektor des Lüneburger Gymnasiums Johanneum , der an dieser Schule als Lateinlehrer seit fast vierzig Jahren tätig war, eine sprachlich revidierte Neuausgabe des „ Aesopus Dorpii“. Sie umfaßte 472 Fabeln , beruhte mithin auf einer nach 1530/32 erschienenen , auch das zweite ..Hecatomythium" des Abstemius, jedoch noch nicht die Auswahl aus der Aldus-Edition enthaltenden Auflage. Lossius war gleichfalls in Wittenberg Schüler Melanchthons gewesen, er verwirklichte in seiner Unterrichtspraxis dessen methodische Grundsätze und schrieb Schulbücher zu Melanchthons Dialektik und Rhetorik . So lag es für ihn nahe , auch die „,Fabulae Aesopi“ unter seine Unterrichtshilfen bietenden Publikationen aufzunehmen . Die Neuausgabe bekundet, daß der ,,Aesopus Dorpii" , ursprünglich eine gelehrte Textrestitution mit literarästhetischem Anspruch, inzwischen zur schulpädagogischen Gebrauchsliteratur geworden war und daß er sich in dieser Funktion neben dem Werk des Camerarius zu behaupten vermochte . Philologische Gewissenhaftigkeit ist Lossius ' erklärtes Editionsprinzip . Er gibt seine Vorlagen textgetreu wieder, ohne inhaltlich didaktisierende Eingriffe irgendwelcher Art; Änderungen betreffen nur das an manchen Stellen seiner Meinung nach immer noch zu reinigende Latein. Muster für die rhetorischen Übungen der Umformung hat Lossius in einem Anhang folgen lassen, der von der Edition des ,,Aesopus Dorpii" unabhängig ist. Hier treten an die Stelle der Prosa wie bei Osius Fabelbearbeitungen in Distichen. Wenn er diese ,,lepidissimae fabellae et narrationes iocosae“ nannte , so wollte er damit gewiß einen altersgemäßen Anreiz für die Gymnasialstufe schaffen . An den Anfang stellte er eine von ihm selbst verfaßte ,,Fabella iocosa de Leone confessario animantium “ , die am Beispiel der „ Tierbeichte“ , wie sie in der lateinischen Prosa Heinrich Bebels vorlag, sowohl deren Umwandlung in eine poetische Form als auch Umerzählung und Umdeutung demonstrieren konnte . Aus der Pilgerfahrt nach Rom ist ein öffentlicher Gerichtstag geworden . Wolf und Fuchs erteilen sich nicht mehr gegenseitig Absolution und verurteilen dann gemeinsam den Esel , sondern beides erfolgt durch die neu eingeführte Person des
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Löwen als des obersten geistlichen Gerichtsherrn und heiligen Beichtvaters , worunter natürlich der Papst bzw. ein in dessen Namen handelnder, nach Deutschland entsandter päpstlicher Legat verstanden werden soll . Bei gleichgebliebenem Handlungsergebnis ist die Situation eine völlig andere geworden. Lossius hat diese Version nicht selbst erfunden. Es gab mittelalterliche Fassungen, in denen der Löwe entweder aus geistlicher Vollmacht den Tieren die Beichte abnimmt und ihnen Bußleistungen auferlegt oder als König der Tiere und oberster weltlicher Gerichtsherr auf einem Hoftag Urteile fällt. Diese Fassungen waren allerdings wenig verbreitet. Unter den vielen Romulus- Sammlungen kennt allein eine Berner Handschrift den Löwen als Beichtvater: Accusavit se Lupus, quod comederat carnes alienas. Cui dixit Leo: Hoc fecisti in necessitate: Pater noster. Et cum Vulpes dixit se furtive cibum accepisse, ait Leo: Hoc fecistis, quia timebatis pelli vestre: Ave Maria. Asinus dixit, se comedisse ramum silvae. Non est, inquit Leo, cibus Asini , sed cardones : verberetis eum usque ad necem ." Die Auslegung erfolgt allegorice : Sie kennzeichnet wie bei Hugo von Trimberg Mißstände in den Klostergemeinschaften , läßt jedoch die Institution der Beichte unangetastet und wendet sich statt dessen gegen falsche Richter überhaupt: Lupus est abbas; Vulpes est procurator; Asinus claustralis qui pro solo signo totus destruitur. Contra falsos iudices valet.' Obgleich Lossius den Löwen „,confessarius“ nennt, ist dennoch nicht die Beichtsituation, sondern ein weltliches Gerichtsverfahren, in dem der Löwe über die alleinige Entscheidungsgewalt verfügt, das seiner Neubearbeitung zugrunde-
5 Vgl. hierzu E. Seemann: Hugo von Trimberg und die Fabeln seines Renners . E. Untersuchung zur Geschichte der Tierfabel im Mittelalter. München 1923 , bes. S. 149-152 . Zu berichtigen ist auf S. 152, daß Lossius die 7. Predigt der „,LutherHistorien" von Joh. Mathesius als seine Quelle genannt haben soll. Die an dieser Stelle zitierte Überschrift „ Fabella (seu risus , ut vocarunt, Paschalis) recitata a Mathesio 6 initio septimae concionis de Luthero" bezieht sich vielmehr auf die folgende Nr. 474. DerWolfklagte sich an, weil er einem anderen gehörendes Fleisch gefressen hatte . Zu ihm sprach der Löwe: Das hast du aus Not getan. Bete ein Vaterunser. Und als der Fuchs bekannte, daß er sich heimlich Speise verschafft hätte, sagte der Löwe: Das habt ihr getan, weil ihr um eure Haut fürchtetet. Betet ein Ave Maria. Der Esel gestand, daß er Waldlaub gefressen habe. Das ist, erwiderte der Löwe , keine Speise für den Esel, sondern Disteln. Prügelt ihn zu Tode. Hervieux II, 21967 : Bernae Romuleae et diversae Fabulae, ex Bernensis Bibliothecae Codice MS.679 in lucem prolatae, Nr. XXXIX (S. 313) . - usque ad necem: korrigiert aus , usque ad feces . - Eine lat. Prosaversion v. J. 1322 (Handschr. Paris, Nationalbibl .) , abgedr. in: Die Fabeln der Marie de France. Hrsg. v. K. Warnke . Halle 1898 , S. LXIV, übt demgegenüber bereits deutliche Kritik am Mißbrauch der Beichtgewalt und steht darin der Auslegung bei Lossius näher: Der Löwe bezeichnet dort Prälaten , die fleischlichen Sündern (Wolf und Fuchs) gegenüber Nachsicht üben, die guten armen Brüder hingegen, welche die Bürde und das Zeichen der Religion tragen (das Rückenkreuz des Esels bedeutet das Kreuz auf dem Meßgewand), hart bestrafen. 7 Der Wolf ist der Abt; der Fuchs ist der Verwalter; der Esel ein Klosterbruder, der um eines einzigen Anzeichens willen gänzlich vernichtet wird. Das wendet sich gegen falsche Richter.
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liegende Motiv. Wenn er eine Vorlage benutzte , so muß diese unter den Varianten der Hoftagsfabel, in der Nachbarschaft der Fuchsepik, gesucht werden. Alles spricht dafür, daß er sie in einer spätmittelalterlichen Predigtsammlung, im ,,Sommerteil" des ,,Sermonum opus exquisitissimum" (Hagenau 1517) von Gottschalk Hollen (um 1411-1481 ) gefunden hat. Nicht nur entsprechen die Schilderungen des Verlaufs hier und dort einander, Lossius hat darüber hinaus den für die direkte Rede beibehaltenen Prosatext offensichtlich dieser Quelle entnommen.8 Die Vereinigung der beiden Überlieferungsstränge Beichtfabel und Hoftagsfabel als Sinnträger vollzog er jedoch eigenständig, indem er die „ fabella iocosa" zur lutherisch antipäpstlichen Polemik verwendete. Diese Absicht prägte, den Gegensatz zwischen der hohen Geistlichkeit und dem einfältigen Laien aufs schärfste herausarbeitend , die satirische Charakterdarstellung. Was durch sie angeprangert wird das im voraus getroffene Einverständnis zwischen Wolf, Fuchs und Löwe - zielt auf jene rechtsfälschenden Praktiken , die Luther den römischen ,,Sophisten" vorgeworfen hat. Diese bringen es fertig,,,maxima crimina" als Bagatellvergehen zu verharmlosen, ihren Freispruch naturrechtlich zu bemänteln, andererseits aus geringfügigem Mundraub Straßenräuberei und gemeingefährliche Schurkerei zu machen. Kirchliches Beichtverfahren und weltliche Rechtsprechung in geistlichen Territorien setzte Lossius provokativ einander gleich . Unterrichtsmethodisch darf dieser Text als Muster eines Schulactus gelten, jener rhetorischen Übungsform, die einen erzählenden Text zum Rollenspiel umarbeitete . Schon die typographische Darbietung läßt dies erkennen. Die berichtenden Distichen sind durch Kursivsatz , vorangehende und folgende Leerzeilen von den Dialogpartien in Prosa abgehoben, ebenso das einführende Tetrastichon und das abschließende Morale. Sie sollten vermutlich als Prolog, zwischengeschaltete Erläuterungen und Epilog von einem außerhalb der Handlung verbleibenden Sprecher vorgetragen werden . Die Handlung ist in eine Szene konzentriert und dialogisch auf vier Darsteller verteilt. Ein solcher Schulactus konnte in der gleichen Unterrichtsstunde eingeübt und im Klassenzimmer aufgeführt werden. 10
3. Das Fabelepigramm: Johannes Posthius und Hartmann Schopper Während Osius und Lossius ihre Poesien in den Dienst des Universitäts- und Gymnasialunterrichts stellten, blieben die Gelegenheitsgedichte des JOHANNES POSTHIUS ( 1537-1597) von solcher Zweckhaftigkeit frei. „ Parerga poetica" ,
8 Lat. Wortlaut s. S. 272. Über Hollen vgl. NDB 9 ; Verf. Lex . 24 ( 1983 ) , Sp. 109ff. 9 In der Pariser Version dient das Gesetz der Vererbung zur Entschuldigung für die Verbrechen des Wolfs und des Fuchses: Weil schon ihre Väter so handelten, können auch sie sich nicht anders verhalten. 10 Zum Schulactus als Übungsform des Rhetorikunterrichts vgl . W. Barner: Barockrhetorik. Tübingen 1970, S. 291–302.
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,poetische Nebenwerke , nannte er sie, als er sie 1580 und ein zweites Mal 1595 sammelte. Zuerst Früchte seiner weiten Reisen und als poetische Episteln einzeln an die Freunde gesandt, entstanden die späteren in höfischer Umwelt beim Fürstbischof von Würzburg und beim pfälzischen Kurfürsten in Heidelberg . Als 1566 in Frankfurt eine mit seinem Namen verbundene Sammlung „ Aesopi Phrygis Fabulae“ erschien, befand sich Posthius seit drei Jahren zu naturwissenschaftlichen und medizinischen Studien in Italien. Seine redaktionelle Mitarbeit ist daher wohl auszuschließen . Offensichtlich handelte es sich um ein buchhändlerisch initiiertes Unternehmen. Drei Verleger hatten gemeinsam ihren Ehrgeiz darauf gerichtet, mit einer Publikation mehrere Ziele gleichzeitig zu erreichen " . An erster Stelle stand für sie die Absicht, entgegen der vorherrschenden Beschränkung der Buchillustration auf volkssprachliche Bücher auch ein lateinisches Werk mit zeitgenössischen Abbildungen auszustatten , und zwar mit solchen , die höheren bildkünstlerischen Ansprüchen Genüge leisten könnten . Deshalb betonte der Titel: „ elegantissimis eiconibus veras animalium species ad vivum adumbrantes“. Die Holzschnitte tragen die Signatur des Virgil Solis, sind aber wahrscheinlich zum größeren Teil Werkstattarbeiten¹². Sodann wollten die Frankfurter Verleger das Erbe der Baseler Froben - Drucke aus der ersten Jahrhunderthälfte antreten und deshalb, um sich neben den erfolgreichen, aus sehr unterschiedlichen Quellen schöpfenden Neuausgaben des ,,Aesopus Dorpii" und der Anthologie des Camerarius behaupten zu können , sich den Ruf einer allein das authentische Fabelcorpus des Aesop bietenden Ausgabe sichern. Daher enthielt der Hauptteil nur die 149 Prosafabeln der venezianischen Edition des Aldus in ihrem lateinischen Wortlaut, dazu ,,De Formicis et Cicadis“ (Nr. 150), die einzige bis dahin gedruckte Fabel des Aphthonios , die gleichfalls der Aldus-Edition entommen war, wo sie auf einen Auszug aus dessen ,,Progymnasmata" folgte.13 Weiteres (Nr. 151–192) wurde in einen deutlich abgetrennten Anhang verwiesen. Denkbar ist, daß diese philologische Entscheidung auf Grund einer Beratung durch Posthius getroffen wurde, jedenfalls übertrugen ihm die Verleger die Erfüllung des dritten Ziels ihres Konzeptes: die Verknüpfung kritisch edierter antiker Prosa mit Humanistenversen zu neuen Texteinheiten. Posthius schrieb zu allen Fabeln des Hauptteils Epigramme, die er später, losgelöst von der Bindung an die Prosatexte , als selbständigen Zyklus in seine ,,Parerga poetica“ aufnahm¹ . Jeweils der zugehörigen Fabel vorangestellt, bilden sie in der Anthologie eine Art 11 Das Impressum lautet : Francoforti ad Moenum apud Georgium Corvinum , Sigismundum Feyerabent, et haered . Wigandi Galli. 12 Vgl . hierzu Thieme-Becker, Künstlerlexikon , Bd. 31 , S. 248ff.; Ch. L. Küster (s. Allg. Lit.), T. 2: Katalog u . Abb. , Kat . Nr. 216. 13 Ex Aphthonii sophistae exercitamentis [ = Progrymnasmata 1 ] . Fabula, qua formicarum, et cicadarum exemplo hortantur iuvenes ad laborem. Bl . A' des lat. Teils der Aldus-Edition. 14 Io. Posthii Germershemii Parergorum Poeticorum Pars altera , (s. l. ) 1595 , p. 170–190: Epigrammata in Aesopi Fabulas . .
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Vorspruch (Argumentum ) oder Motto, es folgen Abbildung, Erzählung , Affabulatio (Lehre) ¹5. Angeregt zu seinem Versuch, Nachbildung antiker Muster und Neuformung durch die Wahl des jeder Erzählhaltung widerstrebenden Tetrastichons miteinander zu vereinigen, war Posthius wahrscheinlich gleichfalls durch die AldusEdition . Denn dort folgten ja den „ Fabellae Aesopi“ als zweite Gruppe „,Gabriae fabellae ... ex trimetris iambis“, auch sie wie die erste Gruppe ,,cum latina interpretatione". Bei ihnen schien es sich ebenso um die Rückgewinnung originaler griechisch-antiker Fassungen zu handeln wie bei den vorangegangenen Fabeln - und zwar als Versdichtung . Freilich beruhte diese Annahme auf einem Mißverständnis, das durch die Verwechslung mit den zu jener Zeit verlorenen Fabeln des Babrios entstanden war. Erst später wurde erkannt, daß diese Vierzeiler gekünstelte Nachzügler aus dem 9. Jahrhundert n. Chr. waren, von einem Diakon Ignatius in Konstantinopel angefertigt, der den Ehrgeiz besaß, Erzählung und Auslegung auf engstem Raum zusammenzudrängen 16. Posthius hat dieses Metrum nicht übernommen , sondern an seine Stelle die klassische Form des aus Hexameter und Pentameter gebildeten Distichons in Vier- , zuweilen auch nur Zweizeilern gesetzt. Auch hat er nicht Handlung in sie hineinzuzwängen gesucht, vielmehr seinen Epigrammen eine Inhalt und Form zur Deckung bringende Aufgabe zugewiesen . Sie lassen sich als ,Maximen und Reflexionen zur Lebensweisheit lesen. Eine kontemplative Haltung unterscheidet sie von den situationsbezogenen Erfahrungssätzen und Verhaltensanweisungen der Affabulatio („,Philomela et Accipiter" ) . Der humanistische Gelehrte bedient sich antikisierender Redeweise, doch setzt er Mythologisches nur in zurückhaltender Verallgemeinerung ein (,,Vulpes et Hircus" ). Ein persönliches Ideal der Daseinsgestaltung, das auf moralisierende Belehrung anderer verzichtet, gilt es für ihn gegenüber Bedrohungen von außen zu bewahren (,,Galli et Perdix").
Noch im gleichen Jahr veranstalteten die Verleger eine Parallelausgabe, die zusätzlich ein viertes Ziel verfolgte: größere Verbreitungsmöglichkeit . Das war nur erreichbar, wenn auch des Lateins unkundige Leser durch Hinzufügung deutscher Texte angesprochen werden konnten. Hierfür verpflichteten sie HARTMANN SCHOPPER ( 1542-nach 1595 ) , der eben sein für den gleichen Verlag bestimmtes ,,Opus poeticum de admirabili fallacia et astutia vulpeculae Reinikes libros quatuor complectens", eine lateinische Übersetzung des ,,Reynke de vos“ in vierhebigen Jamben nach einer hochdeutschen Bearbeitung von 1544 , in Frankfurt zum Abschluß brachte¹7. Schopper hatte bereits zu der ersten Ausgabe 15 Der Terminus affabulatio geht auf den Grammatiker Priscianus zurück, der ihn in seiner Übersetzung der „ Progymnasmata“ des Hermogenes für griech. εлµúdiov einführte. Aldus hat ihn bei den lat . Übersetzungen seiner Ausgabe übernommen. 16 Zur metrischen Form der Trimeter ,ex Scazonte ' s. Kap. VI , Anm . 7 . 17 Vgl . Kommentar zu Michael Beuther und Hartmann Schopper (,,De Lupo et Grue"), S. 276f.
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der ,.Aesopi Phrygis Fabulae" zweizeilige lateinische Epigramme für den Anhang beigesteuert. Im deutschsprachigen Titelzusatz wurde die neue Ausgabe um ihrer ,,kunstreichen Figuren" willen angepriesen; diese seien ,,allen Studenten / Malern /Goldschmiden / und Bildhauwern / zu nutz und gutem mit fleiß gerissen durch Vergilium Solis", die Bilder finde man ,,mit Teutschen Reimen kürtzlich erkläret". Daraus ergab sich eine neue Anordnung. Lateinische Prosaerzählung und Affabulatio fielen fort, es kam zu einer Dreigliederung, wie sie die Emblembücher bieten. Die lateinischen Epigramme konnten als inscriptio gelten, der ,,Riẞ" als pictura, die erklärenden deutschen Reimsprüche als subscriptio. Schopper kompilierte diese aus Versen , die er, ohne es einzugestehen , dem ,,Esopus " des Burkard Waldis entnahm , wie er auch verschwieg , daß die einer vorangestellten Aesopvita in lateinischen Distichen beigegebene deutsche Versvita ebenfalls daher stammte . Es entstand ein unbefriedigendes Zwittergebilde . Der ursprüngliche Charakter des Humanistenwerkes ging verloren, ohne daß eine volkstümliche Eindeutschung gewonnen wurde.
4. Die Fabelode : Pantaleon Candidus In der Spätzeit des Humanismus hat sich zuletzt auch ein Geistlicher an den Bemühungen der Gelehrtenpoesie beteiligt, Prosafabeln in antikisierende Lyrik umzuwandeln. Der Niederösterreicher PANTALEON CANDIDUS ( 1540–1608 ), katholisch geboren, zweimal Glaubensflüchtling vor der habsburgischen Gegenreformation, dann ebenfalls Melanchthonschüler, später Pfarrer, Superintendent und Prinzenerzieher im calvinistischen Zweibrücken, veröffentlichte 1604 nach vorangegangener historischer Versepik ,,Centum et Quinquaginta Fabulae carminibus explicatae", die Janus Gruter, der berühmte Anthologist neulateinischer Poesie, für exemplarisch gehalten haben muß, da er sie vollständig in seine ,,Delitiae Poetarum Germanorum Huius Superiorisque Aevi Illustrium“ aufnahm 18. Um zu diesem Zeitpunkt in der produktiven imitatio noch neu sein zu können, mußte er die didaktischer Erzählprosa am fernsten stehende, bisher hierfür noch nicht erprobte , aber seit den ,,Libri Odarum Quatuor“ von Conrad Celtis ( 1513 ) als die höchste geltende lyrische Form wählen : die horazische Ode. Die Schwierigkeiten , die sich einem solchen artistischen Unterfangen in den Weg stellten, waren außerordentlich. Strophengliederung , komplizierte Metren, gehobene Wortwahl und feierlicher Vortragston wollten schlecht passen zu der Alltagsthematik der aesopischen Fabeln und ihrer häufig ironisch- sarkastischen Behandlung in den Vorlagen. Man darf sagen, daß Candidus diese Widerstände überwunden hat, soweit die beiden divergierenden Gattungen das überhaupt erlaubten . Zunächst einmal durch die Art der Auswahl seiner Textvorlagen , für die er wohl Camerarius zu18 Pars II (Frankfurt 1612 ) , S. 105–176 [ 152 Nrn . ].
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grunde legte. Aus dem großen Bestand griff er heraus , was sich am ehesten den strengen andersartigen Formforderungen fügen mochte. So konnte er die Gefahr einer ungewollt aus der Diskrepanz zwischen Form und Inhalt entstehenden Komik vermeiden, und auf die Erzielung parodistischer Wirkungen im modernen Sinn hat er es nirgends angelegt. Sodann schuf er kein reines Odenbuch. Wo ihm die Beibehaltung fortlaufenden Erzählens geboten erschien, wählte auch er das Versmaß der Elegie oder, wie für die Fabel ,,De Rustico, Serpente et Vulpe. Quae sit mundi merces", den epischen Hexameter¹ . Überhaupt war er, im Unterschied zu seinen Vorgängern, auf Vielfalt der Formen bedacht. Neben alkäischen und sapphischen Oden stehen andere in asklepiadeischen und archilochischen Strophen. Horaz war hierfür sein Vorbild . Auch dies konnte der Suche nach relativer Angemessenheit zugute kommen. Candidus nutzte mit Sorgfalt diejenigen Stilmittel der horazischen Ode , welche geeignet erschienen , die Kluft zwischen Inhalt und Form zu überbrücken. Die für die Ode geforderte Kürze begünstigt die der aesopischen Fabel innewohnende Tendenz zur Beschränkung der Handlung auf eine Entscheidungssituation. Einerseits bedingt die zielgerichtete Vortragsweise reichlichen Gebrauch des Enjambements, das den Sprachfluß über die Zeilenenden, zuweilen auch über die Strophentrennungen hinwegträgt, andererseits aber ebenso, besonders beim Adonisvers der sapphischen Ode dem entgegenwirkend, die Betonung des Strophenschlusses, der, nach einer Handlungslücke, mit dem Neuansatz der folgenden Strophe das Unwiderrufliche des Geschehenen scharf hervortreten läßt (,,Mus et rana“ ). Entsprechend verfährt Candidus mit dem Tempuswechsel . Er nutzt ihn zur Intensivierung, sowohl beim Übergang vom berichtenden Imperfekt zum darstellenden Präsenz als auch in der Umkehrung , wenn er, wie in ,,Mus et rana“ , den erregenden Vorgang abbricht, um in der darauffolgenden Strophe den Ausgang distanziert nachzutragen. Am meisten kommt dem Epimythion die strophische Gliederung zugute. Ihm bleibt stets die ganze Schlußstrophe vorbehalten , in der erst im nachhinein das gedankliche Thema der Ode formuliert wird. Der reflektierende Charakter der horazischen Ode trifft sich hier mit der didaktischen Tendenz der Fabel. Um die gnomische Eindringlichkeit zu erhöhen , hat Candidus im Epimythion von der Ode bevorzugte Satzfiguren , wie z . B. die Anapher, verwendet. Er gab seinem Buch eine inhaltliche Gliederung, die sicher auch der Rechtfertigung des hohen Stils dienen sollte. In eindeutiger Abstufung bildete er in sich geschlossene Gruppen nach den Handlungsträgern : Fabeln von Göttern, Menschen, Landtieren, Wassertieren, Vögeln, Reptilien , Pflanzen und Unbeseeltem. Angesichts des Vorherrschens der Tierfabel in der Überlieferung mußten diese Gruppen allerdings an Umfang sehr ungleich ausfallen . Dennoch lassen sie ein ihnen zu Grunde liegendes Ordnungssystem erkennen, wie es den zu jener Zeit wachsende Verbreitung findenden Emblembüchern eigentümlich ist. Die An19 a.a.O., (Gruter), Nr. 23.
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näherung hieran legt die Vermutung nahe, daß die Vorstellung eines geordneten Kosmos, der letztlich auch gerechten Ausgleich gewährleiste, so wenige Fabeln einzeln für sich genommen davon zeugen, dennoch das Textverständnis im ganzen leiten sollte . Der Verstoß gegen diese Ordnung ist das Thema der Fabel ,,Aquila testudinem docet volare", die unter solchem Blickwinkel einen erhabenen Gegenstand behandelt: die Hybris eines erdgebundenen Geschöpfs und die Rache der Nemesis, die der Adler als König der Lüfte vollzieht. Dies rechtfertigt eine den reißenden Absturz sprachlich vergegenwärtigende Dynamisierung, in einer Tonlage, die den Vorgang in die Nähe mythischen Geschehens zu rücken sucht . Die daraus resultierende Lebenslehre ist horazisch-stoisch gefärbt, denn die Erkenntnis , daß der von seinen Begierden Beherrschte durch eigene Schuld ins Verderben gerät , wird den Einsichtigen zu den Tugenden des Maßhaltens , der Selbsterkenntnis, Selbstbeherrschung und Selbstbescheidung führen. Candidus hat nicht daran gedacht, in den Epimythien Grundsätze christlicher Ethik den alten Deutungen entgegenzustellen, wie er auch christliche Kontrafakturen von dem Erzählteil fernhielt. Vielmehr sollten diese kunstvollen Fabeloden ohne einen Seitenblick auf das geistliche Amt ihres Verfassers ,antikisch wirken. Es ist darin die Rede von dem Geschlecht der Götter, von ihren Hinterhalten und den tückischen Anschlägen, die sie nicht anders als die Menschen ins Werk setzen , von der Unerbittlichkeit und Grausamkeit des Schicksals . Wenn Candidus in der Pflanzenfabel ,,Abies et dumeta" die Großen dieser Welt mahnte, keinen Niederen zu verachten , zeigt das Pathos, mit dem er zur Begründung das Gesetz des im Aufstieg schon einbeschlossenen Falls formulierte, daß wir uns bereits an der Schwelle des Barockzeitalters befinden.
XIV. Die nachhumanistische Endsumme: ,,Mythologia Aesopica" des Isaac Nicolaus Neveletus
Hundert Jahre nach den Anfängen des „,Aesopus Dorpii" machte sich ISAAC NICOLAUS NEVELETUS erneut an den Versuch, das inzwischen weiter angewachsene Überlieferungsgut antiker Fabeln in einer Gesamtausgabe zusammenzufassen und es auch seinerseits noch einmal zu vermehren. Recht selbstbewußt und nicht ohne jugendliche Leichtfertigkeit gedachte er auf dieses Erstlingswerk (,,studiorum meorum primitias“) , dem er den anspruchsvollen Titel „ Mythologia Aesopica“ gab ' , seine Schriftstellerlaufbahn zu gründen : „,Cogitanti itaque mihi a quo potissimum sumerem exordium , opportune subiit animum Aesopi Mythologia ex graecis latinisque consarcienda, nulli adhuc, quod sciam , tentata res.“2 Nevelet konnte sich der Förderung seines Vorhabens durch Janus Gruter in Heidelberg erfreuen , der ihm fünf handschriftliche Codices der Bibliotheca Palatina³ und außerdem „,exsoletas editiones nonnullas“ zugänglich machte: ,,eorum opera Mythologiam partim adauxi, partim emendatiorem redidi.“ 4 Er begann, wie es inzwischen zur Konvention geworden war, mit der Aesopvita,,,a Maximo Planude conscripta" , in zweisprachig synoptischem Druck. Es folgten die 149 Prosafabeln der Aldus -Edition , sodann 148 aus jenen Manuskripten der Palatina exzerpierte ,,Fabulae nunquam hactenus editae" , alle gleichfalls in griechischer und lateinischer Prosa synoptisch angeordnet. Obgleich er über Alter und Herkunft der letzteren sich völlig im unklaren befand (,,a diversis conscriptas, styli diversitas et tractandi ratio indicant“ ) und nur zu einzelnen Vermutungen äußerte", suggerierte der erläuternde Untertitel der „,Mythologia“ 1 Mythologia Aesopica. In qua, Aesopi Fabulae Graecolatinae CCXCVII. quarum CXXXVI. primum prodeunt. Accedunt Babriae Fabulae Etiam Auctiores . Anonymi veteris Fabulae, latino carmine redditae LX . ex exsoletis editionibus et Codice MS . luci redditae. Haec omnia ex Bibliotheca Palatina. Adiiciuntur insuper Phaedri, Avieni, Abstemii Fabulae . Opera et Studio Isaaci Nicolai Neveleti Cum notis eiusdem in eadem . Frankfurt 1610.