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German Pages 220 Year 2015
Die deutsche Exilliteratur 1933 bis 1945 Perspektiven und Deutungen Herausgegeben von Sonja Klein und Sikander Singh
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ISBN 978-3-534-26630-2 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-73956-1 eBook (epub): 978-3-534-73957-8
Inhalt Sonja Klein Exil – Literatur – Exilliteratur. Eine Einführung ................................................7 Miriam Albracht Thomas Mann „Joseph und seine Brüder“ (1933–1943) ................................. 18 Nelia Dorscheid Arnold Zweig „Erziehung vor Verdun“ (1935) ............................................... 31 Sikander Singh Heinrich Mann „Henri Quatre“ (1935–1938).................................................. 41 Sascha Kirchner Bruno Frank „Der Reisepaß“ (1937) ............................................................... 50 Alina Gierke René Schickele „Die Flaschenpost“ (1937) .................................................... 64 Hermann Gätje Alfred Döblin „November 1918. Eine deutsche Revolution“ (1937–1943)......................................................... 78 Sonja Klein Bertolt Brecht „Svendborger Gedichte“ (1939) .............................................. 88 Claas Morgenroth Johannes R. Becher „Abschied. Einer deutschen Tragödie erster Teil“ (1940) ............................... 99 Jennifer Tharr Oskar Maria Graf „Das Leben meiner Mutter“ (1940) ..................................110 Ralph Schock Gustav Regler „Das große Beispiel. Roman einer internationalen Brigade“ (1940) ...............................................126 Florian Trabert und Mara Stuhlfauth-Trabert Franz Werfel „Eine blaßblaue Frauenschrift“ (1941) .....................................136
Inhalt
Johannes Waßmer Stefan Zweig „Brasilien. Ein Land der Zukunft“ (1941) ...............................152 Moritz Wagner Klaus Mann „The Turning Point“ (1942) und „Der Wendepunkt“ (1952) .......................................................................164 Susanna Brogi Else Lasker-Schüler „Mein blaues Klavier“ (1943) .......................................174 Andreas Stuhlmann Lion Feuchtwanger „Die Brüder Lautensack“ (1943/1944) ...........................186 Jörg Schuster Anna Seghers „Transit“ (1944) ......................................................................204 Personenregister .............................................................................................214
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Exil – Literatur – Exilliteratur. Eine Einführung Tag um Tag Arbeitest du an der Befreiung Sitzend in der Kammer schreibst du Willst du wissen, was du von deiner Arbeit hältst? Brecht: Gedanken über die Dauer des Exils1 I. Fragen „Willst du wissen, was du von deiner Arbeit hältst?“ Die Frage, der sich der Schreibende in einem von Brechts wohl bekanntesten Exilgedichten stellen muss, ist eine, mit der sich nicht nur die meisten derjenigen Schriftsteller konfrontiert sahen, die nach der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 ihr Land verlassen hatten, sondern die in der Folge auch für die Literaturwissenschaft immer wieder relevant geworden ist. Ob und mithilfe welcher Kriterien literarische Werke zu werten seien, die unter dem Druck der politischen Entwicklungen und nicht selten zudem unter dem der finanziellen Not wie Notwendigkeit entstanden, ist lange umstritten geblieben. Wenngleich die „selten ausgesprochene, aber weit verbreitete Annahme von der notwendigen ästhetischen Inferiorität von Exilliteratur, die nicht richtiger wird, wenn sie von Verständnis begleitet ist, etwa in dem Sinn, daß von Exilanten eine literarisch hochstehende Produktion nicht erwartet werden könne“,2 längst revidiert ist, bleibt der von Manfred Durzak schon in den 1970er Jahren eingeforderte Perspektivwechsel vom „moralischen Zeugnis zum literarischen Dokument“3 nicht selten doch noch von einem, vielleicht 1 Bertolt Brecht: Gedanken über die Dauer des Exils, in: ders.: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. v. Werner Hecht [u. a.], 30 Bde., Berlin [u. a.] 1988‒2000, Bd. 12, S. 82. 2 Bernhard Spies: Exilliteratur – ein abgeschlossenes Kapitel? Überlegungen zu Stand und Perspektiven der literaturwissenschaftlichen Exilforschung, in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 14 (1996), S. 11–30, hier S. 25. 3 Manfred Durzak: Deutschsprachige Exilliteratur. Vom moralischen Zeugnis zum literarischen Dokument, in: Die deutsche Exilliteratur 1933–1945, hg. v. ders., Stuttgart 1973, S. 9–26. Vgl. auch „Entweder reduziert man die Texte zu historischen Dokumenten und klammert eine literarische Wertung aus, oder man überspringt die positivistisch erstellte historisch-gesellschaftliche Entstehungssituation durch ungeschichtlich verwendete Geschmacksurteile, die sich an einer Ästhetik orientieren, die die Dialektik von historischer Situation und ästhetischer Vermittlung weitgehend außer acht läßt.“ (ebd., S. 17) sowie ders.: Im Exil, in: Geschichte der deutschen Lyrik vom Mittelalter bis zur Gegenwart, hg. v. Walter Hinderer, Stuttgart 1983, S. 502–550, hier S. 503f.
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Pietät zu nennenden, Moment grundiert, mit dem sich die Forschung ihrem Gegenstand annähert. Noch 1983 eröffnet so das neubegründete Jahrbuch für Exilforschung, das längst zu den wichtigsten Periodika des Forschungsfeldes zählt, seine Vorrede zu der ersten Ausgabe mit der Ermahnung: „Die Geschichte der Leiden und Konflikte, denen die ausgebürgerten Gegner des Dritten Reichs ausgesetzt gewesen sind, verlangt, daß man Kritik mit Verständnis vereine.“4 Doch nicht nur die Problematik etwaiger ästhetischer oder moralischer Parameter hat die Exilforschung nachhaltig beschäftigt. Mindestens ebenso kontrovers diskutiert war und ist die Frage, was denn nun eigentlich zu einer Literatur des Exils zu zählen sei. Umfasste sie neben der „schöne[n] Literatur“ auch die „politische und wissenschaftliche“?5 Und war aus dieser Perspektive dann nicht vielleicht jeder der „im Exil geschriebenen, gedruckten und ungedruckten deutschsprachigen Text[e] zur Exilliteratur zu rechnen“?6 Wie waren literarische Zeugnisse der Autoren der sogenannten „Inneren Emigration“, von manchen Forschern gar als „inneres Exil“7 bezeichnet, einzuordnen? Zählten nicht auch solche Werke zu dem zu erforschenden Textkorpus, die nach der historischen Zäsur von 1945 verfasst wurden, aber aus einer sich fortschreibenden Exilerfahrung heraus, also einem Exil nach dem Exil, entstanden?8 Und war es von diesen Zeugnissen nicht nur ein kleiner Schritt zu derjenigen Literatur, die „das Exil thematisier[t], ohne dass die Autorinnen und Autoren selbst“9 je in ebendiesem sich befunden haben – wie die Herausgeber des 2013 erschienenen „Handbuchs der deutschsprachigen Exilliteratur“ meinen? Zudem, so haben manche Wissenschaftler eingewandt,10 sei ohnehin jeder Akt der literarischen Produktion auch Ausdruck einer Fremdheitserfahrung, die „exilische Kondition“11 aus anthropologischer Sicht seit dem grundlegenden Mythos von der Vertreibung aus dem Paradies nichts anderes als 4 [Thomas Koebner / Wulf Köpke / Joachim Radkau]: Vorrede der Herausgeber, in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 1 (1983), S. 9. 5 Walter A. Berendsohn: Die deutsche Literatur der Flüchtlinge aus dem Dritten Reich. 1. Bericht, Stockholm 1967, S. 2. 6 Durzak: Deutschsprachige Exilliteratur [Anm. 3], S. 11. 7 Vgl. u. a. Paul Michael Lützeler: Migration und Exil in Geschichte, Mythos und Literatur, in: Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur. Von Heinrich Heine bis Herta Müller, hg. v. Bettina Bannasch u. Gerhild Rochus, Berlin / Boston 2013, S. 20. 8 So u. a. vorgeschlagen von Doerte Bischoff und Susanne Komfort-Hein (Vom ‚anderen Deutschland‘ zur Transnationalität. Diskurse des Nationalen in Exilliteratur und Exilforschung, in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 30 [2012], S. 242–273). Vgl. hierzu auch Michael Hamburger „Daß für manche Schreibende die Zugehörigkeit zur Exil-Literatur überhaupt erst nach 1945 begann, für andere die Nachkriegstätigkeit nichts anderes als eine Fortsetzung des Exils bedeuten konnte, wurde weder erwähnt noch beachtet.“ (Literarische Erfahrungen, Darmstadt / Neuwied 1991, S. 97) und Guy Stern: Über das Fortleben des Exilromans in den sechziger Jahren (1972), in: ders.: Literatur im Exil. Gesammelte Aufsätze 1959–1989, Ismaning 1989, S. 214–232. 9 Bettina Bannasch / Gerhild Rochus: Einleitung, in: Handbuch [Anm. 7], S. XI–XIX, hier S. XI. 10 Vgl. hierzu u. a. Lutz Winckler: Exilliteratur und Literaturgeschichte – Kanonisierungsprozesse, in: Handbuch [Anm. 7], S. 171–202, hier S. 181. 11 Doerte Bischoff: Exil und Interkulturalität – Positionen und Lektüren, in: Handbuch [Anm. 7], S. 97–119, hier S. 106.
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ein Teil der conditio humana.12 Ist der Begriff Exil-Literatur, aus dieser Perspektive, schlussendlich also nur ein Pleonasmus? Nicht zuletzt hat auch die Annahme eines – inzwischen freilich als Mythos dekuvrierten – gemeinsamen ästhetischen Nenners, der aller im Exil entstandenen Literatur zu Eigen sei, die Forschung (und besonders in Zeiten der Teilung in Ost- und Westdeutschland) zu ganz unterschiedlichen Positionen geführt. Dabei ist die Suche nach einem einheitsstiftenden Moment bis heute ergebnislos geblieben. Selbst wenn der Untersuchungsgegenstand ganz ‚konservativ‘, wie man es inzwischen wohl nennen müsste, auf die zwischen 1933 und 1945 von deutschsprachigen Exilanten verfassten literarischen Werke bezogen bleibt, so lassen sich zwar durchaus wiederkehrende Motive wie die Klage über die Verarmung oder gar den Verlust der sprachlichen wie ästhetischen Mittel, die politische Bezugnahme oder der gegenteilig verfahrende Rückzug in die Erinnerung wie Innerlichkeit etc. ausmachen. Diese lassen sich aber weder auf den Gesamtkorpus anwenden, noch können sie Exklusivität beanspruchen, da sich letztlich jedes der ausgemachten Merkmale auch auf andere Zeiten, Werke oder Autoren beziehen ließe. „Generalisierbare Aussagen über die literarischen Konstituenten von Exilliteratur sind“, wie so auch Bernhard Spies kritisch angemerkt hat, „nur durch entschlossene Reduktion zu gewinnen. […] Die eine Größe, in der alle Exilliteratur sich zusammenfaßt, ist kein verborgener Tatbestand derselben. Es war von Anfang an nur ein Ideal der danach Suchenden, eine Projektion der Literaturwissenschaft auf die Literatur des Exils.“13 Als eine ebensolche „Projektion“ hat sich längst auch die vermeintliche Einigkeit der Exilschriftsteller untereinander entpuppt. Weder die sich bildenden „literarischen Gruppierungen und Zweckbündnisse, die Zeitschriftengründungen und Verlagsunternehmungen“,14 noch die in den Exiljahren intensivierten Briefwechsel und „Flüchtlingsgespräche“15 vermögen darüber hinwegzutäuschen, dass es „eine Einheitsfront der Emigranten“16 nie gegeben hat und dass das „gemeinsame Los des erzwungenen Exils“17 weniger Einfluss auf die individuellen ästhetischen Modi der ja auch schon vor der Exilzeit ganz unterschiedlichen Künstlernaturen genommen hat, als anfänglich angenommen oder zumindest erhofft. So bleibt der wohl einzige Konsens ein negativer, indem festzustellen ist, dass es weder eine Vgl. u. a. Winckler [Anm. 10], S. 181 und Spies [Anm. 2], S. 15. Spies [Anm. 2], S. 17. 14 Helmut Koopmann: Von der Unzerstörbarkeit des Ich. Zur Literarisierung der Exilerfahrung, in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 2 (1984), S. 9–23, hier S. 14. 15 Vgl. den Titel der zwischen 1936 und 1944 entstandenen, zu Lebzeiten allerdings nicht mehr veröffentlichten „Flüchtlingsgespräche“ von Brecht. 16 Koopmann [Anm. 14], S. 14. Vgl. hierzu auch Durzak, der schon früh darauf hinweist, dass auch „unter den Exulanten selbst die Diskussion über ihren literarischen und politischen Standort zum Teil mit Härte und ohne Illusionen geführt wurde“. (Deutschsprachige Exilliteratur [Anm. 3], S. 10.) 17 Wulf Koepke: Probleme und Problematik der Erforschung der Exilliteratur, in: Das Exilerlebnis. Verhandlungen des vierten Symposiums über deutsche und österreichische Exilliteratur, hg. v. Donald G. Daviau u. Ludwig M. Fischer, Columbia / South Carolina 1982, S. 338–352, hier S. 350. 12 13
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Einheit der Exilliteratur und ihrer Autoren, noch eine der Exilforschung, welche nicht nur Durzak schon in den 1980er Jahren „in heillosen Kontroversen verstrickt“18 sah, je gegeben hat. Vor diesem Hintergrund bleibt seine Forderung nach einer steten und selbstkritischen Revision der wissenschaftlichen Ergebnisse und Parameter innerhalb der Forschung nach wie vor eine aktuelle: Angesichts eines literarischen Phänomens, das in sich so widersprüchlich und zersplittert ist wie die deutsche […] Exilliteratur insgesamt, ist es unumgänglich, sich die methodischen Optionen bewußt zu machen, mit denen der Versuch einer Bestandsaufnahme konfrontiert ist.19 In diesem Sinne hat also nicht zuletzt auch die Forschung zu einer Literatur des Exils, die zu diesem Zeitpunkt auf eine nun fast 50-jährige Geschichte zurückblickt und sich selbst, wie Krohn, Rotermund und Winckler postulieren, bereits „auf dem Weg ihrer Historisierung“20 befindet, ihre eigenen Ergebnisse im Sinne der Brechtschen Selbsterkundung immer wieder auf den Prüfstand stellen und sich fragen müssen, was sie denn nun von ihrer Arbeit zu halten habe. II. Geschichte Als die Erforschung der Exilliteratur Ende der 1960er Jahre arg verspätet und im Zuge einer ohnehin sich grundlegend reformierenden Germanistik in der Bundesrepublik einsetzt, geht es zunächst vor allem um eine Bestandsaufnahme. Viele Autoren, die heute wie selbstverständlich zu den kanonischen Vertretern der Literatur des 20. Jahrhunderts gezählt werden oder sich im Gegenteil bereits wieder auf dem Weg in ein zweites Vergessen befinden, werden in diesen letzten 1960er und den 1970er Jahren ‚wiederentdeckt‘. Es gilt, Dokumente zusammenzutragen, zu sichten und in Archiven zu sammeln; erste Werkeditionen werden erstellt; die Verlage reagieren mit erschwinglichen Taschenbuchausgaben auf den sich steigernden Lesebedarf und die sich ändernden schulischen Lehrpläne;21 neben den ohnehin (und nicht vorrangig in Exilkontexten) präsenten Namen wie Thomas Mann, Bertolt Brecht, Alfred Döblin oder Hermann Broch, rücken nun auch die bisher eher am Rande beachteten Schriftsteller, etwa Irmgard Keun, Hans Sahl oder Hermann Kesten, sowie „die damals im Westen weitgehend vergessenen
Durzak: Im Exil [Anm. 3], S. 503. Ebd. 20 [Claus-Dieter Krohn / Erwin Rotermund / Lutz Winckler]: Vorwort, in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 30 (2012), S. VII–XIV, hier S. VII. 21 Vgl. hierzu z. B. Lutz Winckler: Mythen der Exilforschung?, in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 13 (1995), S. 68–81, hier S. 71. 18 19
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Autoren Anna Seghers, Lion Feuchtwanger, Arnold Zweig“ erneut in das Bewusstsein.22 Bis heute zwar schlüssig, keinesfalls aber eindeutig zu bestimmen ist dabei, aus welchen Gründen diese erste extensivere (westdeutsche) Exilforschung mit einer Verspätung von immerhin fast einem Vierteljahrhundert beginnt und warum z. B. der schon 1946 in der Schweiz publizierte erste Band von Walter A. Berendsohns „Einführung in die deutsche Emigranten-Literatur“,23 die 1947 von Richard Drews und Alfred Kantorowicz herausgegebene Anthologie „Verboten und verbrannt. Deutsche Literatur 12 Jahre unterdrückt“24 oder Franz Carl Weiskopfs „Abriß der deutschen Literatur im Exil 1933–1947“25 von 1948 einen nur sehr zögerlichen Nachhall fanden. Zwar ist „die Verdrängungsmentalität der Deutschen, der Täter- und Mitläufergeneration der jüngsten Verbrechen in beiden Nachkriegsstaaten, der BRD und der DDR“, die „lange Zeit eine ernsthafte Beschäftigung“26 mit der unmittelbaren Vergangenheit verhinderte, hier immer wieder als Hauptgrund genannt worden. Schon Hans-Albert Walter jedoch hat 1972 in dem ersten Band seiner (bis heute unabgeschlossenen) „Deutschen Exilliteratur 1933–1950“ darauf verwiesen, dass die Hintergründe differenzierter zu betrachten und auch andere Faktoren in Rechnung zu stellen seien.27 So wichtig die ab den späten 1960er Jahren einsetzende Grundlagenarbeit auf der einen Seite ist, so mehren sich doch anderseits bald Stimmen, die vor „Materialschlachten“ warnen.28 Volker Klotz gibt schon 1969 auf dem ersten ExilliteraturSymposium in Stockholm zu bedenken, die Gefahr sei groß, „ins Blaue hinein zu sammeln“, drei Jahre später stellt Werner Berthold im Rahmen des Folgesymposiums in Kopenhagen fest: „Es gibt eine ganze Reihe von Fällen, wo man an der Fülle des Materials erstickt.“29 Bereits in ihren Anfängen also steht die Literaturwissenschaft auch in dieser Hinsicht vor komplexen Fragestellungen der Wertung und (notwendigen) Selektion. Nicht allein, aber doch vielleicht entscheidend hat diese nachträgliche und wohl auch deshalb umso gründlichere Sammeltätigkeit dazu beigetragen, dass sich die Exilliteraturforschung spätestens etwa seit Mitte der 1980er Jahre in ihrer ersten, auch mehrfach selbstbekundeten Krise befindet. Nun – so haben manche Wissenschaftler in jenen Jahren nicht ohne Ebd. Walter A. Berendsohn: Die humanistische Front. Einführung in die deutsche Emigranten-Literatur, Zürich 1946. 24 Verboten und verbrannt. Deutsche Literatur – 12 Jahre unterdrückt, hg. v. Richard Drews u. Alfred Kantorowicz, Berlin / München 1947. 25 F. C. Weiskopf: Unter fremden Himmeln. Abriß der deutschen Literatur im Exil 1933–1947, Berlin 1948. 26 Vorwort [Anm. 20], S. VIII. 27 Vgl. Hans-Albert Walter: Zur Einführung, in: ders.: Deutschsprachige Exilliteratur 1933–1950. Bd. 1: Bedrohung und Verfolgung bis 1933, Darmstadt / Neuwied 1972, S. 7–32. Vgl. auch Durzak: Deutschsprachige Exilliteratur [Anm. 3], S. 14. 28 Ebd., S. 19. 29 Beide zitiert nach ebd., S. 12. 22 23
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Ironie angemerkt – da der vermeintlich „letzte Nachlaß wohlgeordnet im Marbacher Literaturarchiv untergebracht und alles Übrige bibliographisch erfaßt“30 sei, könne das „Forschungsprojekt ‚Literatur des Exils‘“ als „so gut wie abgeschlossen“ betrachtet werden, „seine Resultate, die für durchaus achtbar gehalten werden“ könnten, stünden gleichsam selbst „zur Archivierung an“.31 Zeitgleich nimmt nicht nur „der Einfluß der Exilliteratur auf dem Buchmarkt, die Bedeutung der Exilforschung an den Hochschulen“ ab.32 Vermehrt kritisch betrachtet werden nun auch die Voraussetzungen einer Forschung, die – parallel zu der „Geschichtlichkeit der literarischen Werke“, mit denen sie sich beschäftigt – die eigene, „Geschichtsgebundenheit“, also die „der wissenschaftlichen Interpreten“33 offenlegt und hinterfragt. Die über lange Zeit prägende Vorstellung vom ‚anderen‘ oder gar ‚besseren Deutschland‘, das die Exilanten per se verkörperten (die nicht nur insofern problematisch ist, als sie unweigerlich einen „Diskurs des Nationalen – wenn auch mit anderen Vorzeichen“34 fortführt und dem europäischen bis weltbürgerlichen Selbstverständnis vieler exilierter Schriftsteller ohnehin widerspricht), ist im Zuge dieser kritischen Revisionen ebenso verabschiedet worden wie das „politisch-moralische[] Einheitskriterium[]“, das alle Exilliteratur unterschiedslos „zur littérature engagée gegen die nationalsozialistische Barbarei“35 erklären wollte.36 Ebenfalls revidiert worden ist die Auffassung, die Exilanten schrieben notwendigerweise „mit dem Blick nach Deutschland“,37 während in den vergangenen Jahrzehnten stattdessen vermehrt Phänomene der Akkulturation, also diejenigen der Integration der Exilierten in ihren jeweiligen Aufenthaltsländern betrachtet worden sind.38 Stück nach Stück wurden so die „Mythen der Exilforschung“39 als ebensolche benannt und entzaubert. War die 30 Michael Winkler: Exilliteratur – als Teil der deutschen Literaturgeschichte betrachtet. Thesen zur Forschung, in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 1 (1983), S. 359–366, hier S. 360f. 31 Spies [Anm. 2], S. 11. 32 Winckler [Anm. 21], S. 74. 33 Ders. [Anm. 10], S. 189. 34 Bischoff [Anm. 11], S. 100. 35 Spies [Anm. 2], S. 13. 36 „Die Vorstellung, dass die Exilanten das andere, eigentliche, moralisch integre und überlegene Deutschland repräsentieren, das während der NS-Zeit und danach gegenüber seiner faschistischen Usurpation […] wieder zur Geltung gebracht werden müsse, gehörte zu den wirkungsmächtigsten gemeinschaftsstiftenden Ideen des Exils. Gerade an den historischen Schnittstellen 1945 oder 1968 schienen sie besonders geeignet, nationale Geltung und politische Transformation mit einem aus dem Exil abgeleiteten moralischen Anspruch begründen zu können.“ (Bischoff [Anm. 11], S. 99.) 37 „Es gab auch ein Exil, das nicht mit dem ‚Blick nach Deutschland‘ gelebt und geschrieben hat, sondern sich dem jeweiligen Asylland […] zugewandt und so eine interkulturelle Identität erworben hat.“ (Winckler [Anm. 21], S. 79.) 38 Vgl. hierzu auch Winckler [Anm. 10], S. 182: „Die Erfahrung der Fremde bedeutet eben nicht nur Ausgeschlossenheit, Entwurzelung, Angst, sondern verweist an ihrem anderen Extrem auf ‚Neugier‘, auf Offenheit gegenüber dem ‚Unbekannten, Fremden und Fremdartigen’. Darauf reagiert die Akkulturationsforschung, die sich mit der Integration der Exilierten in Alltag und Beruf beschäftigt, dem kulturellen Austausch, den kulturellen Mustern des Fremden im Vergleich zu den mitgeführten eigenen kulturellen Traditionen, den Ursachen und Folgen des Sprachwechsels […].“ 39 Vgl. den Titel „Mythen der Exilforschung?“ von Winckler [Anm. 21].
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Exilliteraturforschung also vielleicht schon am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts zu einem „obsoleten Gegenstand“ geworden, dessen erste „Aufarbeitung zeig[t]e, daß das Thema von nur begrenztem und nunmehr erschöpftem Interesse“40 war? III. Perspektiven Obwohl sich die Krise innerhalb der Exilforschung um die Jahrtausendwende allenthalben abzeichnet, ist sie doch auch Ausgangspunkt zu ihrer Erneuerung gewesen. Wenn Spies 1996 so einen Essay zu dem „Stand“ und „den Perspektiven der literarischen Exilforschung“ mit dem Titel „Exilliteratur – ein abgeschlossenes Kapitel?“ überschreibt, meint dies weniger einen Abgesang auf ein inzwischen in seinen Quellen allzu gut erschlossenes Forschungsfeld und seine methodischen wie ideologischen „Irrwege“, als vielmehr den Anstoß, neue Wege einzuschlagen und bisher vernachlässigte Potentiale fruchtbar zu machen. Tatsächlich hat die Forschung nicht zuletzt in Reaktion auf derartige, ebenso provokative wie luzide Zwischenbilanzen seit den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts unter anderem „damit begonnen, Anregungen kulturwissenschaftlicher Forschungsbereiche für die eigene Arbeit produktiv zu machen“.41 Mithilfe der Inter- bzw. Transkulturalitätsforschung, postkolonialistischer und gendertheoretischer Ansätze, komparatistischer sowie gedächtnistheoretischer Perspektivierungen und neuerlich gar durch versuchte Anschlüsse an die vergleichsweise jungen Human-Animal-Studies42 hat sie sich längst neue Forschungsfelder erschlossen, die – wie Linda Maeding 2013 bilanziert – innerhalb der vergangenen Jahre eine „Reihe von Studien mit Signalwirkung“43 hervorgebracht haben. Diese unbestreitbare „Revitalisierung der Exilforschung“44 und ihre – zuweilen wohl auch ein wenig aus der Not heraus geborene – Euphorie einer erneuten Aufbruchsstimmung haben jedoch auch dazu geführt, dass das ursprüngliche (und ohnehin, wie gezeigt, von Anbeginn nicht zweifelsfrei einzugrenzende) Untersuchungsfeld immer mehr an Kontur verliert. Sichtbar wird dies unter anderem daran, dass sich die Forschung seit den 2000er Jahren vor allem darüber zu bestimmen und neu zu positionieren sucht, indem sie häufig zunächst Negativdefinitionen trifft und erst einmal erklärt, was sie alles nicht ist und sein kann. Nach und nach sind so nicht nur der Bezug auf „eine eindeutige historische Referenz“, die den Hauptakzent der Forschung auf die Jahre 1933 bis 1945 und diese Spies [Anm. 2], S. 11. Bannasch / Rochus [Anm. 9], S. XIV. 42 Vgl. Doerte Bischoff [u. a.]: Exil und Literatur. Vorwort, in: Exil Lektüren. Studien zu Literatur und Theorie, hg. v. dies. [u. a.], Berlin 2014, S. 7–9, hier S. 7. 43 Linda Maeding: Kompositionen der Erinnerung. Gedächtnis und Poetik in deutschen und spanischen Exilautobiographien, Würzburg 2013, S. 13. 44 Ebd. 40 41
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zudem als „Epoche“45 festlegt, sondern auch die „Fokussierung nationalsprachlicher und -literarischer Phänomene“ in Zweifel gezogen worden. Fast etwas verschämt ist heute, wenn es tatsächlich um die deutschsprachige Literatur exilierter Künstler aus den Jahren 1933 bis 1945 geht, von der „‚klassischen‘ Exilepoche“46 die Rede – eine Formulierung die jedoch nicht allein deshalb wenig glücklich gewählt erscheint, weil sie eben doch eine Wertigkeit ausdrückt, die die Autoren eigentlich vermeiden wollen, sondern vor allem da der Begriff des „Classischen“, der sich im 19. Jahrhundert in der beginnenden deutschen Literaturgeschichtsschreibung herausbildet, von Anbeginn ein politischer, in seinen Implikationen höchst fragwürdiger und auf eine vermeintliche nationalkulturelle Überlegenheit bezogener ist. Zuletzt ist gar die Eignung des Wortes Exil selbst hinterfragt worden, wenn die derzeitige Leiterin der „Walter A. Berendsohn Forschungsstelle für Exilliteratur“, Doerte Bischoff, und Susanne Komfort-Hein 2012 anmerken: Eignet sich, zumal angesichts der Tatsache, dass es inzwischen auch andere deutschsprachige Texte gibt, die ein Exil, diesmal in Deutschland, als Exilland bezeugen, der Begriff Exil überhaupt zur Kennzeichnung einer historisch und kulturell abgrenzbaren Epoche? […] Zu fragen ist, ob nicht gerade Exilnarrative, denen auf unterschiedliche Weise Spuren von Abtrennung und Verlust eingezeichnet sind, der kulturellen, transgenerationellen Überlieferung Leerstellen und Brüche einschreiben, die diese auf andere und anderes hin öffnen, die also zum Beispiel Lektüren und Korrespondenzen über Zeiten und Räume hinweg provozieren.47 Fraglos ist diese vorgeschlagene Öffnung des Forschungsgebietes auch zu anderen Geschichten von Flucht und Vertreibung gerade vor dem Hintergrund einer Gegenwart, in der „Biografien und Phänomene der Migration“48 sowie die Asylproblematik einen alltäglichen, nahezu selbstverständlich gewordenen Erfahrungshorizont49 bilden, ebenso nachvollziehbar wie entscheidend, wenn es darum gehen soll, mithilfe der Literatur mögliche Antworten auch auf aktuelle gesellschaftliche und politische Fragen zu finden. (Und ist es nicht vor allem das,
45 „Bei Licht besehen erscheint kein Deutungsmuster weniger geeignet, Exilliteratur – und zwar die Literatur jeglichen Exils – zu erschließen als der emphatische Epochenbegriff, dessen Affirmationszirkel zwischen ‚Zeit‘ und ‚Geist‘ dem Historismus des 19. Jahrhunderts und den Anfängen der Nationalphilologie angehört.“ (Spies [Anm. 2], S. 17.) 46 U. a. bei Bischoff [Anm. 11], S. 97; dies. / u. a. [Anm. 42], S. 7 und dies. / Komfort-Hein [Anm. 8], S. 242, 249 und 267. 47 Ebd., S. 249f. 48 Bischoff [Anm. 11], S. 110. 49 Vgl. ebd.
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was Literatur – ganz gleich welcher Zeit sie entstammt – immer wieder leistet und leisten muss, wenn sie uns lebendig bleiben soll?) Zu Recht jedoch warnen die Herausgeber des „Handbuchs der deutschsprachigen Exilliteratur“ vor „einer allzu umstandslosen Einbettung exilliterarischer Texte in die europäische Geschichte der Migrations- und Flüchtlingserzählungen“.50 So bedeutsam es ist, potentiell einseitige, verallgemeinernde oder ideologisch überformte Paradigmen einer Exilforschung stets neu zu hinterfragen, sie in ihrem jeweiligen historisch-politischen Kontext zu verorten und gegebenenfalls zu revidieren; so notwendig auch methodische Erweiterungen wie interdisziplinäre Verknüpfungen sind, so groß ist doch auch die Gefahr der Aufweichung wie der letztlich daraus folgenden Beliebigkeit eines Begriffes, der ohnehin über die Zeiten als unscharf genug erscheint. Was bleibt – denn diese Frage muss sich die Forschung trotz all ihrer fruchtbaren Bemühungen und wichtigen Arbeiten gerade der vergangenen zehn bis zwanzig Jahre stellen – von einer literarischen Produktion, die sich weder über einen festgelegten Zeitraum, noch über nationalsprachliche, motivische oder erfahrungsbedingte Momente etc. sinnvoll zusammenführen lässt? Wenn María-Inés Lagos-Pope schon 1988 konstatiert, „Exile has become a common occurrence“,51 so verweist dies nicht nur auf die immer weiter ausgreifenden, möglichen Potentiale einer zukünftigen Exilforschung, sondern implizit auch auf die Gefahr des Verlustes ihres ursprünglichen Gegenstandes. Dieser Verlust muss zwar nicht zwangsläufig in einer Auffassung münden, wie sie Michael Winkler schon in den 1980er Jahren formulierte, indem er die Frage aufwarf, „ob die Erfahrungsrealität Exil während der Hitlerjahre nicht auch hin und wieder überbewertet“52 werde. Wenn aber das „Jahrbuch für Exilforschung“ 2012 über die „Neujustierung“ der wissenschaftlichen Wege der Zukunft festhält, Nicht mehr hermetische Abgeschlossenheit nationalstaatlicher Kulturen steht auf der Agenda, sondern die Auseinandersetzung mit ‚Alteritäten‘, verstanden als Fremdes und Neues wie auch als bestimmter Sichtwinkel der Analyse. In diesem Sinne könnte eine zeitgemäße Exilforschung sogar beispielhaft für die Deutung der modernen offenen Gesellschaften im Zeichen von Globalisierung und grenzenüberschreitenden Wanderungen werden, aber auch der innergesellschaftlichen Verwerfungen durch die technisch-wirtschaftliche Dynamik mit ihren Inklusionen und Exklusionen […],53
Bannasch / Rochus [Anm. 9], S. XIII. María-Inés Lagos-Pope: Introduction, in: Exile in Literatur, hg. v. dies., Lewisburg 1988, S. 7–11, hier S. 7. 52 Winkler [Anm. 30], S. 365. 53 Vorwort [Anm. 20], S. XIII. 50 51
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so zeigt sich, wie weit die „grenzenüberschreitenden Wanderungen“ auch der Forschung bereits geführt haben, die sich immer weiter von der „‚klassischen‘ Exilepoche“ fortzubewegen scheint. Selbstverständlich kann es weder darum gehen, bei einmal Erreichtem zu verharren, noch eine ohnehin nie gänzlich überwundene Pietät im Umgang mit den literarischen Zeugnissen der Jahre 1933 bis 1945 und die daraus folgende moralische Forderung nach einer Vereinigung von „Kritik mit Verständnis“ wiederaufleben zu lassen. Aber es gilt auch, der Gefahr entgegen zu wirken, spezifische Lebens-, Arbeits-, Schreib- oder Leidenserfahrungen zu generalisieren, die eben doch in vielerlei Hinsicht an einen bestimmten Zeitraum und seine Kontexte geknüpft bleiben. Schon das ganz banale Beispiel der medialen Entwicklung macht deutlich, dass ein Schriftsteller wie Bertolt Brecht, der „sitzend, in der Kammer“ und ohne große Hoffnung darauf, dass seine Texte eine zügige Publikation finden und ihr eigentliches Publikum überhaupt erreichen würden, „an der Befreiung“54 arbeitete, ganz anderen Bedingungen ausgesetzt war, als sie ein Exilant in Zeiten des Internet vorfindet. Im Grunde aber sind diese Widersprüche der gegenwärtigen Exilforschung durchaus bewusst, wenn sie zwar zum einen auf die Verknüpfung mit „aktuellen Debatten und Kontexten“55 pocht, zum anderen jedoch erneut auf die eigentlich als so problematisch gekennzeichnete zeitliche Abgrenzung und die dokumentarische Qualität der Exilliteratur zurückgreifen muss, indem sie konstatiert: „Am Beginn des 21. Jahrhunderts, an dem es kaum noch Zeitzeugen des Nationalsozialismus und des durch ihn erzwungenen Exils gibt, stellt sich die Frage nach den Foren und Formen eines solchen Erinnerns mit neuer Dringlichkeit.“56 Beispiele wie dieses machen deutlich, dass Revisionen zwar notwendig sind, dass es aber trotz der vielgestaltigen Anschlussfähigkeit des Themenbereiches auch gilt, behutsam mit dem bereits Erreichten umzugehen. In diesem Sinne versteht sich der vorliegende Band als ein Beitrag zu einer insofern „konservativen“ Exilliteraturforschung, als er an der zeitlichen Eingrenzung auf die Jahre 1933 bis 1945 sowie der Fokussierung der tatsächlich ins Exil gegangenen, deutschsprachigen Schriftsteller bewusst festhält, der zugleich aber auch neue Ansätze entwirft, indem er in seinen Deutungen an aktuelle Diskurse wie methodische Entwicklungen anknüpft und sie weiter entwickelt. Die Einzelstudien in ihren jeweils ganz eigenen Zugängen fügen sich so einerseits zu einem repräsentativen Überblick wichtiger, wenngleich keinesfalls immer auch – wie im Falle von z. B. Bruno Frank oder René Schickele – kanonisch gewordener Autoren und Werke sowie der einzelnen literarischen Gattungen und zentralen Themen dieser Jahre. Andererseits reflektiert der Band in der Summe seiner Beiträge auch mögliche Perspektiven einer zukünftigen Forschung, die sich – trotz Brecht [Anm. 1]. Bischoff [Anm. 42], S. 7. 56 Ebd. 54 55
Exil – Literatur – Exilliteratur. Eine Einführung
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ihrer Leistungen und Erträge der vergangenen 50 Jahre – ihrer historischen Bedingtheit stets bewusst bleiben und ihre Ergebnisse im Sinne des Brechtschen „Willst du wissen, was du von deiner Arbeit hältst?“57 immer wieder auf den Prüfstand stellen muss.
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Brecht [Anm. 1].
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Thomas Mann „Joseph und seine Brüder“ (1933–1943) I. Gesittung und Barbarei „Was wir uns vorgesetzt hatten, war tatsächlich nicht weniger als die Erkenntnis, warum die Menschen, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinken.“1 Was Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in der Vorrede zur „Dialektik der Aufklärung“ als Leitfrage für ihre „Philosophischen Fragmente“ formulieren, nämlich die Frage nach dem Verhältnis von „Gesittung“2 und „Barbarei“, könnte auch als Leitfrage für Thomas Manns Roman-Tetralogie „Joseph und seine Brüder“ (1933 bis 1943) gesehen werden. Als Thomas Mann im November 19263 mit der Niederschrift des ersten Bandes, „Die Geschichten Jaakobs“, begann, ahnte er sicher nicht, welche katastrophalen Ausmaße die beobachtbare neuerliche Hinwendung zu Mythos und Nation annehmen würde. Doch bereits im selben Jahr hatte Thomas Mann die Gefahren einer „falsche[n], anachronistisch-reaktionäre[n] Romantik mit ihrer Verbindung zur völkischen Deutschtümelei“4 soweit erkannt, dass er in seinem autobiographischen Essay „Pariser Rechenschaft“ mit bitterem Unterton festhält, ob es eine gute und lebensfreundliche, eine pädagogische Tat ist, den Deutschen von heute all diese Nachtschwärmerei, diesen ganzen Joseph Görres-Komplex von Erde, Volk, Natur, Vergangenheit und Tod, einen revolutionären Obskurantismus, derb charakterisiert, in den 1 Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, 21. Aufl., Frankfurt a. M. 2013, S. 1. 2 Ebd., S. 72. „Gesittung“ ist auch im Werk Thomas Manns ein häufig verwendeter Begriff, vgl. etwa „Der Zauberberg“, GkFA 51, S. 746. Im „Joseph“ (GW IV und V) und in der MosesErzählung „Das Gesetz“ (GW VIII), die im Anschluss an die Tetralogie entsteht, wird die Frage nach den Bedingungen von „Gesittung“ dann zum prägenden Moment. Die Werke Thomas Manns werden, sofern nicht bereits in der GkFA erschienen, nach der Ausgabe: Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Frankfurt a. M. 1960 zitiert. Alle weiteren Werke aus: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, Frankfurt a. M. 2002f. 3 Vgl. Herbert Lehnert: Thomas Manns Vorstudien zur Josephstetralogie, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 7 (1963), S. 458–520, S. 465. Lehnert weist jedoch darauf hin, dass „[d]ie Anfänge der Beschäftigung mit dem Josephsstoff […] noch in die Zeit der Niederschrift des ‚Zauberbergs‘ zurück“ (S. 464) gehen. 4 Eckhard Heftrich: Joseph und seine Brüder, in: Thomas-Mann-Handbuch, hg. v. Helmut Koopmann, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 2005, S. 447–474, hier S. 467f.
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Leib zu reden, mit der stillen Insinuation, dies alles sei wieder an der Tagesordnung, wir ständen wieder an diesem Punkt […] – das ist die Frage, die beunruhigt.5 Thomas Mann nannte das, was er in Europa beobachtete, einen „unheimlichen Prozeß der Rebarbarisierung“6 und meinte, den „Irrationalismus als populäre Denkrichtung und geistige Stimmung [als, M. A.] etwas spezifisch Deutsches“7 erkannt zu haben. In diese Grundstimmung der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts, mit ihrer Hinwendung zum völkischen Mythos, scheint sich auch zunächst Thomas Manns mythisches Großprojekt „Joseph und seine Brüder“ zu fügen, das den Leser tief in den „Brunnen der Vergangenheit“8 zu Menschen führt, deren Ich „weniger scharf umgrenzt“ ist, also „gleichsam nach hinten offen“9 steht, und das Gewesene, Vergangene wiederholt. Dieses „mythische Ichgefühl[ ]“10 bezieht sein Selbstverständnis nicht aus seiner Individualität, sondern aus der Gewissheit, einen bestimmten Typus wieder vorzustellen, in seinen Spuren zu gehen und ein „zitathafte[s] Leben“11 zu führen. Doch bei diesem mythischen Ich bleibt der Roman nicht stehen, vielmehr zeigt er, wie sich das Ich mehr und mehr seiner Individualität bewusst wird, und somit aus der ewigen Wiederholung in die gerichtete Zeit eintritt. Dabei entledigt sich das Ich jedoch nicht gänzlich seiner mythischen Wurzeln, sondern wird sich dieser bewusst und lernt, spielerisch mit ihnen umzugehen, sie abzuwandeln und sich von ihrer Determiniertheit zu emanzipieren. Joseph, der Protagonist der Tetralogie, ist diejenige Figur, die sich ihrer mythischen Wurzeln am stärksten bewusst wird und am deutlichsten das vorgegebene Schema abzuwandeln weiß. Dadurch ist er nicht nur „der Held seiner Geschichten, sondern ihr Regisseur, ja ihr Dichter […] ein künstlerisches Ich“.12 Joseph, der Künstler, spielt mit Mythen aus unterschiedlichen Kulturkreisen, er ist Tammuz, Gilgamesch und Adonis, Osiris und Hermes. Der Roman führt so einen mythischen Universalismus vor, der sich gegen den nationalen GW XI, S. 48 („Pariser Rechenschaft“). GW XIII, S. 669 („Die Wiedergeburt der Anständigkeit“). 7 Ebd., S. 672. Diese Äußerungen in den 1920er Jahren dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Thomas Mann nicht kontinuierlich gegen die aufkommenden Nationalsozialisten opponierte. Zwischen 1933 und 1936 stellte Mann seine öffentlichen Äußerungen diesbezüglich ein. Der „Protest der Richard Wagner Stadt München“ von 1933 als Reaktion auf Manns Rede „Leiden und Größe Richard Wagners“ und der Entzug des Ehrendoktortitels der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn 1936 veranlassten ihn schließlich dazu, öffentlich Stellung gegen Hitler zu beziehen. Zu den Gründen für das öffentliche Schweigen zwischen 1933 und 1936 vgl. Philipp Gut: Thomas Manns Idee einer Deutschen Kultur, Frankfurt a. M. 2008, S. 235f. 8 GW IV, S. 9. 9 GW IX, S. 495 („Freud und die Zukunft“). 10 Ebd. 11 Ebd., S. 497; Vgl. auch Jan Assmann: Zitathaftes Leben. Thomas Mann und die Phänomenologie der kulturellen Erinnerung, in: Thomas-Mann-Jahrbuch 6 (1993), S. 133–158. 12 GW XI, S. 666 („Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag“). 5
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Mythos der Nationalsozialisten richtet und die gemeinsamen antiken Wurzeln13 der europäischen Kultur betont. Der Weg hin zum Individuum jedoch, der verknüpft ist mit einer anthropozentrischen Gottesidee, bedeutet auch, sich des Alten, Überständigen zu entledigen. Das Mythisch-Archaische, das Barbarische, das durch Gewalt und Chaos geprägt ist, muss zugunsten einer moralischen Gesittung überwunden werden. Die beiden Pole des Romans – Barbarei und Gesittung – werden im „Joseph“ mit Gottesdummheit und Gottesklugheit übersetzt: Die „Gottessorge“ ist die Besorgnis, das, was einmal das Rechte war, es aber nicht mehr ist, noch immer für das Rechte zu halten und ihm anachronistischerweise nachzuleben; sie ist das fromme Feingefühl für das Verworfene, Veraltete, innerlich Überschrittene, das unmöglich, skandalös oder in der Sprache Israels, ein „Greuel“ geworden ist. Sie ist das intelligente Lauschen auf das, was der Weltgeist will, auf die neue Wahrheit und Notwendigkeit, und ein besonderer, religiöser Begriff der Dummheit ergibt sich dabei: die Gottesdummheit, die diese Sorge nicht kennt […].14 Diese Ausführungen Manns zum Programm des „Joseph“-Romans, erstmals vorgetragen am 17. November 1942 in der Library of Congress in Washington, machen deutlich, dass der Rückfall in den unreflektierten Mythos ein Anachronismus ist, der gegen die bereits erreichte Gesittung der Menschen verstößt. Im Roman wird dies an dem von Gott verwehrten Isaak-Opfer verdeutlicht: Das eigentliche und ursprüngliche Opfer war Menschenopfer.Wann kam der Augenblick, wo es zum Greuel und zur Dummheit wurde? Die Genesis hält ihn fest, diesen Augenblick, im Bilde des verwehrten Isaak-Opfers, der Substituierung des Tieres. Hier löst sich ein in Gott fortgeschrittener Mensch von überständigem Brauch, von dem, worüber Gott mit uns hinauswill und schon hinaus ist.15 Doch der Roman zeigt keinen linearen Weg hin zur Humanität, vielmehr offenbart er das dialektische Verhältnis von Gesittung und Barbarei, das bereits das Traumkapitel des Vorgängerromans, „Der Zauberberg“ (1924), gezeigt hatte. Hans Castorp erblickt hier in seinem Schneetraum die Bedingung und gleichzeitige Gefährdung der „frommen Gesittung“ der Sonnenleute im „Blutmahl“16 der 13 Vgl. Gut [Anm. 7], S. 242: „Die Notwendigkeit, die zivilisierte Welt zu verteidigen und ihr eine Existenz in der Zukunft zu ermöglichen, ging einher mit einer Rückbesinnung auf deren Fundamente.“ 14 GW XI, S. 666 („Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag“). 15 Ebd., S. 668. 16 GkFA 5.1, S. 746 („Der Zauberberg“).
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Hexen. Der rücksichtsvolle, gesittete und liebevolle Umgang ersterer miteinander ist Produkt der dionysischen Grausamkeit des Menschenopfers im Hexentempel. Die vorsichtige Zartheit ihres Benehmens zeigt jedoch, wie dünn die Decke der Zivilisation, wie brüchig das Errungene stets bleibt. Der „Joseph“-Roman schließt hier gedanklich direkt an, indem er atavistische Gewaltausbrüche17 schildert, die von den Tätern im Wahn mythischer Nachahmung18 begangen und gerechtfertigt werden, jedoch ein grober Verstoß gegen die „Gottesklugheit“ sind. II. Thomas Manns Idee eines „Weltdeutschtums“19 „Ich bin diesem Werk dankbar, das mir Stütze und Stab war auf einem Wege, der oft durch dunkle Täler führte – Zuflucht, Trost, Heimat, Symbol der Beständigkeit war es mir, Gewähr meines eigenen Beharrens im stürmischen Wechsel der Dinge.“20 Mit diesen Worten, die die Metaphorik von Psalm 2321 aufnehmen, beschreibt Thomas Mann in seinem Essay „Sechzehn Jahre“, welche ganz persönliche Bedeutung der „Joseph“-Roman für sein Selbstverständnis als Künstler, aber auch als Deutscher in den Jahren der Naziherrschaft hat. Die Tetralogie ist das Werk Thomas Manns, das den Dichter durch all seine Exilstationen, zunächst in Europa, dann in Amerika, begleitet hat, und das ihm gleichermaßen als Zufluchtsort und Reflexionsmedium diente. Während Band eins und Band zwei noch in Deutschland entstanden sind, fiel „[i]n die Arbeit am dritten Bande, ‚Joseph in Ägypten‘, […] der Bruch meiner äußeren Existenz, die Nicht-Heimkehr von einer Reise, der jähe Verlust meiner Lebensbasis: er ist schon größtenteils ein Werk 17 So etwa die Gewalt der Brüder gegen Joseph und das „Gemetzel“ der Brüder in der Stadt Schekem. Vgl. die Kapitel „Joseph wird in den Brunnen geworfen“ (GW IV, S. 554–566) und „Das Gemetzel“ (ebd., S. 180–185). 18 Vgl. ebd., S. 181: „Nur junge Leute von körperlichem Wert wurden zu Gefangenen gemacht, die übrigen erwürgt, und wenn es dabei über das bloße Töten hinaus grausam zuging, so ist den Würgern zugute zu halten, daß sie bei ihrem Tun nicht minder in poetischen Vorstellungen befangen waren als jene Unglücklichen; denn sie erblickten darin einen Drachenkampf, den Sieg Mardugs über Tiâmat, den Chaoswurm, und damit hingen die vielen Verstümmelungen zusammen, das Abschneiden ‚vorzuweisender‘ Glieder, worin sie sich beim Morden mythisch ergingen.“ 19 GW XIII, S. 747 („Deutsche Hörer!“). 20 GW XI, S. 670 („Sechzehn Jahre. Zur amerikanischen Ausgabe von ‚Joseph und seine Brüder‘ in einem Bande“). Zur Bedeutung des Exils im Spätwerk Thomas Manns siehe exemplarisch: Sybille Schneider-Philipp: Überall heimisch und nirgends. Thomas Mann – Spätwerk und Exil, Bonn 2001 und Thomas Blubacher: Paradies in schwerer Zeit. Künstler und Denker im Exil in Pacific Palisades und Umgebung, München 2011. 21 „Der HERR ist mein Hirte; / mir wird nichts mangeln. // Er weidet mich auf grüner Aue / und führet mich zum frischen Wasser. // Er erquicket meine Seele; / er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. // Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, / fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, / dein Stecken und dein Stab trösten mich. // Du bereitest vor mir einen Tisch / im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl / und schenkest mir voll ein. // Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, / und ich werde bleiben im Hause des HERRN immerdar.“ (Ps 23,1–6)
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des Exils.“22 Durch die Nationalsozialisten seiner Wurzeln und seines Wirkungskreises beraubt, besinnt sich Mann auf die Grundfeste seiner Künstlerexistenz, die er für die der deutschen Kultur überhaupt hält: sein „Weltdeutschtum“. Im Folgenden soll gezeigt werden, was Thomas Mann unter diesem Begriff verstand, warum er für ihn in den Exiljahren immer bedeutender wurde und welche Spuren sich hiervon im „Joseph“-Roman finden lassen. Ich konzentriere mich hierbei auf den letzten Band der Tetralogie, der fernab von Deutschland, „unter dem heiteren, dem ägyptischen verwandten Himmel Californiens“23 entstanden ist, aber dennoch am deutlichsten zeigt, was Thomas Mann unter „Weltdeutschtum“ verstanden hat. Als Thomas Mann im August 1940 die Arbeit an seinem Roman „Joseph und seine Brüder“ wieder aufnimmt – er hatte nach Abschluss des dritten Bandes 1936 sein Werk ruhen lassen und seinen Goethe-Roman „Lotte in Weimar“ zwischengeschaltet –, stellt sich ihm die Weltlage pessimistischer dar als jemals zuvor. Eine Niederlage Nazi-Deutschlands ist nicht absehbar, ganz im Gegenteil: Die deutschen Truppen feiern Siege in Europa, Frankreich kapituliert am 22. Juni 1940, und durch den Kriegseintritt Italiens weitet sich der Eroberungsfeldzug der Deutschen bis nach Nordafrika aus. Manns zunehmenden Hass gegen ein Deutschland unter nationalsozialistischer Führung, und vor allem gegen Adolf Hitler, dokumentieren die Tagebücher und die öffentlichen Reden dieser Jahre. Thomas Mann selbst ist zu diesem Zeitpunkt den Papieren nach längst kein Deutscher mehr; 1936 hatte er nach seiner Ausbürgerung die tschechische Staatsbürgerschaft angenommen. Dass er dennoch beansprucht, der Repräsentant der deutschen Kultur24 zu sein, ist seit seinem berühmten Ausspruch bei seiner Ankunft an der amerikanischen Ostküste im Jahr 1938 sprichwörtlich bekannt: „Where I am, there is Germany. I carry my German culture with me.“25 Man mag hinter diesem Ausspruch vor allem die Hybris eines gekränkten Künstlers sehen, unter den Umständen jedoch, aus denen heraus sie gesprochen wurden, und um die es im Folgenden gehen soll, wird verständlich, dass Thomas Mann in seinem Anspruch auf die deutsche Kultur zugleich auch das beschreibt, was als sein ‚Sitz im Leben‘ bezeichnet werden kann, und was ihm half, seine Identität im Exil zu wahren. Zunächst einmal glaubte Thomas Mann in der Tat daran, dass ihm ein ganz besonderer ‚Sitz‘ zukomme und dass es seine Aufgabe sei, diesen GW XI, S. 660 („Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag“). Ebd., S. 662. 24 Vgl. Herbert Lehnert: Repräsentation und Zweifel. Thomas Manns Exilwerke und der deutsche Kulturbürger, in: Die deutsche Exilliteratur 1933–1945, hg. v. Manfred Durzak, Stuttgart 1973, S. 398–417. 25 Zit. n. Helmut Koopmann: Lotte in Amerika, Thomas Mann in Weimar. Erläuterungen zum Satz „Wo ich bin, ist die deutsche Kultur“, in: Wagner – Nietzsche – Thomas Mann. Festschrift für Eckhard Heftrich, hg. v. Heinz Gockel [u. a.], Frankfurt a. M. 1993, S. 324–342. Der Ausspruch Manns findet sich zuerst in: New York Times, 22. Februar 1938; vgl. auch Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt, Frankfurt a. M. 1988, S. 236; vgl. ebenso Hans Rudolf Vaget: Thomas Mann, der Amerikaner. Leben und Werk im amerikanischen Exil 1938–1952, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2012, S. 15. 22 23
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‚Sitz‘ zu einem ganz besonders bedeutenden, seinen Anlagen gemäßen auszugestalten. Dies mag – erneut – vermessen klingen, es zeigt jedoch vor allem den Respekt und auch die Demut vor einer Rolle, die er sich selbst zugedacht glaubt und die ihm mitunter Verzicht und Disziplin abnötigt. Thomas Mann begriff sein Ich als „Primat […] vor der geschichtlichen Wirklichkeit, das auf dem stillschweigenden Einvernehmen basiert, daß die Weltläufe immer das Schicksal für das Ich bereithalten, das ihm zukommt“.26 Spätestens ab 1933, mit dem bereits erwähnten „Protest der Richard Wagner Stadt München“ und dem Beginn seiner Emigration, geht diese Übereinkunft von Ich und Schicksal für Thomas Mann nicht mehr auf.27 Der Schriftsteller wird in seinem innersten Selbst, seinem Deutschtum erschüttert, indem man ihm eben dieses absprechen will. Die historischen Ereignisse laufen dem zuwider, was er als den Sinn seines Seins empfunden hat, nämlich den „auf Schopenhauer basierenden Zusammenhang von Sein und Schicksal“,28 und dieses Sein war für Thomas Mann aufs engste mit der deutschen Kultur verwoben. Er fühlt sich also auch ganz privat in seiner Existenz von Hitler bedroht, der für ihn den Inbegriff der „Verhunzung“29 der deutschen Kultur darstellte. Nazi-Deutschland war im Begriff, sich seine Kultur anzueignen – allen voran die Richard Wagners30 –, aber eben auf der Ebene der „Verhunzung“, in der Verkehrung des Guten zum Bösen.31 An dieser Stelle kann nur stichwortartig skizziert werden, was für Thomas Mann „Deutschtum“ bedeutet, im Kern kann man es aber als „Universalismus“ definieren: Wir wollen Psychologen genug sein, zu erkennen, daß der ungeheuerliche deutsche Versuch der Weltunterwerfung […] nichts anderes ist als ein verzerrter und unglückseliger Ausdruck jenes dem Deutschtum eingeborenen Universalismus, der ehemals so viel höhere, reinere, edlere Gestalt hatte und diesem bedeutenden Volk die Zuneigung, ja die Bewunderung der Welt erwarb. Machtpolitik hat ihn verdorben und ins Unglück gebracht […]. Wir wollen vertrauen, daß der deutsche Universalismus in seinen alten Ehrenstand zurückfinden, daß er sich des
26 Hans Wißkirchen: Zeitgeschichte im Roman. Zu Thomas Manns „Zauberberg“ und „Doktor Faustus“, Bern 1986, S. 123 [Thomas-Mann-Studien 6]. 27 Vgl. ebd., S. 144f. 28 Ebd., S. 144. 29 GW XII, S. 848 („Bruder Hitler“). Auch Hitler war für Thomas Mann ein „Lebensphänomen“ (ebd., S. 845), eine große Persönlichkeit, aber eben erneut auf der „Stufe der Verhunzung“ (ebd., S. 48). Als moralisch integre und große Persönlichkeit sah Thomas Mann den amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt. Er nannte ihn den „große[n] Politiker des Guten“ (GW XI, S. 216; „Die Entstehung des ‚Doktor Faustus‘“). 30 Vgl. GW XII, S. 848 („Bruder Hitler“). 31 Vgl. ebd.
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frevelhaften Gedankens der Welteroberung für immer entschlagen und wieder als Welt-Sympathie, Welt-Offenheit und geistige Bereicherung der Welt bewähren wird.32 Dieser Universalismus ist der Kern von Thomas Manns „Weltdeutschtum“, das er in seine Kunst hineinzutragen hoffte, und das er bereits bei Goethe vollendet33 und nun durch Hitler bedroht sah. In seiner Radioansprache „Deutsche Hörer!“ von 1945 verteidigt Thomas Mann seine Repräsentantenrolle im amerikanischen Exil: Ich habe aber auch von dem deutschen Elend dieser Jahre wahrhaftig nichts versäumt, wenn ich gleich nicht zugegen war, als in München mein Haus in Brüche ging. Man gönne mir mein Weltdeutschtum, das mir in der Seele schon natürlich, als ich noch zu Hause war, und den vorgeschobenen Posten deutscher Kultur, den ich einige Lebensjahre mit Anstand zu halten suchen werde.34 In dieser, für seine Kunst und die Einheit seines Ichs bedrohlichen Lage reagiert Thomas Mann sowohl auf öffentlicher wie auch privater und ästhetischer Ebene. Als öffentliche Person, die er unweigerlich in Amerika war, entwickelt er sich zum überzeugten und leidenschaftlichen Redner und Essayisten, der kaum Mühen und physische sowie psychische Strapazen scheut, gegen Nazi-Deutschland anzureden und zu schreiben. Hans Rudolf Vaget hat kürzlich in seinem Buch „Thomas Mann, der Amerikaner“ Manns enormes antifaschistisches Engagement in Amerika ausführlich nachgezeichnet.35 Als private Person – und dies spielt natürlich auch ganz entscheidend in seine öffentliche Rolle und sein ästhetisches Schaffen mit hinein – versucht er, seine Persönlichkeit zu festigen und zu schützen, indem er sich seines Deutschtums, seiner Wurzeln, umso mehr vergewissert, und auf seinen ‚alten‘ Gewährsmann Goethe zurückgreift, und das verstärkt, was er selbst als Goethe-imitatio bezeichnet hat.36 Und so vermerkt Thomas Mann am 13. März 1934 in seinem Tagebuch: „Daß ich aus dieser [Goetheschen, M. A.] Existenz hinausgedrängt worden, ist ein schwerer Stil- und Schicksalsfehler meines Lebens“.37 Unter diesen Gesichtspunkten ist Manns oben zitierter Ausspruch von 1938 zu sehen, mit welchem GW XII, S. 929 („Schicksal und Aufgabe“). Vgl. Wißkirchen [Anm. 26], S. 146f. 34 GW XIII, S. 747 („Deutsche Hörer!“). 35 Vgl. Vaget [Anm. 25], Kapitel „Unterwegs in Amerika: From Sea to Shining Sea“, S. 219–266. 36 Vgl. GW IX, S. 499 („Freud und die Zukunft“); vgl. exemplarisch Helmut Koopmann: Zu Thomas Manns Goethe-Nachfolge. Orientierungsverlust und Imitatio, in: Heinrich-Mann-Jahrbuch 17 (1999), S. 29–62. 37 Tagebuch, 14. März 1934 (Thomas Mann: Tagebücher 1933–1934, hg. v. Peter de Mendelssohn, Frankfurt a. M. 1977, S. 356); vgl. auch Hermann Kurzke: Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 2005, S. 405. 32 33
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„[d]er vertriebene Schriftsteller […] den Anspruch der nationalsozialistischen Machthaber parieren [musste, M. A.], Gralshüter allen Deutschtums zu sein“.38 Sicher ist es also kein Zufall, dass Thomas Mann 1936 den „Joseph“-Roman für den Goethe-Roman „Lotte in Weimar“ unterbricht, und hier einen alt gewordenen, aber immer noch potent schaffenden Dichter zeigt, der ein ebenso ambivalentes Verhältnis zu Deutschland hat wie Thomas Mann zu jener Zeit. Und so lässt Mann seinen Goethe sagen: Sie [die Deutschen, M. A.] mögen mich nicht – recht so, ich mag sie auch nicht, so sind wir quitt. Ich hab mein Deutschtum für mich – mag sie mitsamt der boshaften Philisterei, die sie so nennen, der Teufel holen. Sie meinen, sie sind Deutschland, aber ich bins, und gings zugrunde mit Stumpf und Stiel, es dauerte in mir.39 Goethe war Thomas Mann darin ein Vorbild, dass er sich trotz der Vorbehalte gegen seine Zeit nicht aus der Welt zurückzog, sondern sich als anderen, aber eben wahrhaften Repräsentanten seiner Kultur zu inszenieren verstand. Das, was Nietzsche in seiner „Götzen-Dämmerung“ über Goethe sagt, „er disciplinierte sich zur Ganzheit, er schuf sich“,40 gilt auch für Thomas Mann – und für dessen Helden Joseph.41 Indem sich Thomas Mann in der Nachfolge Goethes sieht, sich als legitimen Erben eines übernationalen, kosmopolitischen Kunstschaffenden versteht, gelingt es ihm, das Schicksal als falsch, als nicht passend zu interpretieren, während sein Ich unangetastet bleibt. „Was die moderne Welt im Großen nicht mehr leisten kann, soll nun die große Persönlichkeit verbürgen.“42 In diesem Zusammenhang, dem Glauben an den großen Mann,43 ist auch Thomas Manns Roosevelt-Verehrung44 zu sehen, in dem er den „geborene[n] Gut [Anm. 7], S. 234. GkFA 9.1, S. 327 („Lotte in Weimar“). Ein weiterer Teil des inneren Monologs Goethes, der sich zugleich kritisch auf Thomas Manns eigene Gegenwart bezieht, sei hier zitiert: „Aber daß sie [die Deutschen, M. A.] die Klarheit hassen, ist nicht recht. Daß sie den Reiz der Wahrheit nicht kennen, ist zu beklagen, – daß ihnen Dunst und Rausch und all berserkerisches Unmaß so teuer, ist widerwärtig, – daß sie sich jedem verzückten Schurken gläubig hingeben, der ihr Niedrigstes aufruft, sie in ihren Lastern bestärkt und sie lehrt, Nationalität als Isolierung und Roheit zu begreifen, – daß sie sich immer erst groß und herrlich vorkommen, wenn all ihre Würde gründlich verspielt, und mit so hämischer Galle auf Die blicken, in denen die Fremden Deutschland sehn und ehren, ist miserabel.“ (Ebd.) 40 Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert, in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 6: Der Fall Wagner u. a., München 1988, S. 55–161, hier S. 151. Nietzsche sah Goethe denn auch nicht als „deutsches Ereigniss, sondern [als, M. A.] ein europäisches“. (Ebd.) 41 Vgl. Wißkirchen [Anm. 26], S. 151. 42 Ebd., S. 150. 43 Zum Phänomen des großen Mannes, siehe auch Nietzsche [Anm. 40], S. 145f. 44 Vgl. Vaget [Anm. 25], Kapitel: „Thomas Mann, Präsident Roosevelt und die Politik der Vereinigten Staaten“, S. 67–156 und Miriam Albracht: Joseph, Roosevelt, Obama. Der Ruf nach einem New Deal in Zeiten der Krise, in: literaturkritik.de, Mai 2009. (www.literaturkritik.de/public/rezension. php?rez_id=12888; letzter Zugriff: 7. Oktober 2014) 38 39
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Gegenspieler“45 Hitlers erblickte und dessen autoritärer Führungsstil literarischen Niederschlag in der Gestaltung des zum ägyptischen Wirtschaftsminister aufgestiegenen Joseph gefunden hat. Aus den Worten vom „geborene[n] Gegenspieler“ erkennt man die lebensbestimmende Überzeugung Manns, die er von Goethe übernahm, dass die Großen dieser Welt mit „angeborenen Verdiensten“46 ausgestattet seien. Thomas Mann erläutert dieses Paradox in seinem Essay „Schopenhauer“ aus dem Jahre 1938 und identifiziert damit in dem Philosophen seinen zweiten Gewährsmann für die These des naturhaft Besonderen: Goethe spricht mit Vorliebe von ‚angeborenen Verdiensten‘, – was eine in logischer und moralischer Hinsicht eigentlich absurde Wortkoppelung ist. Denn ‚Verdienst‘ ist durchaus und von Hause aus ein moralischer Begriff, und was angeboren ist, also etwa Schönheit, Klugheit, Vornehmheit, Talent – oder, ins Schicksalsmäßige gewendet: Glück – dabei kann logischerweise kein Verdienst sein. Damit man hier von Verdienst reden könne, müßte dergleichen das Ergebnis freier Wahl, der Ausdruck eines vor der Erscheinung liegenden Willens dazu sein, – und eben das ist es, was Schopenhauer behauptet, wenn er hart und aristokratisch erklärt, daß einem jeden, dem Glücklichen und dem Unglücklichen, immer nur Recht geschieht.47 Wenn Thomas Mann hier von „Schönheit, Klugheit, Vornehmheit, Talent“ und „Glück“ spricht, muss man unweigerlich an seine biblische Joseph-Figur denken. Und damit sind wir wieder im Jahr 1940 angelangt, in dem Thomas Mann nach seinem Goethe-Intermezzo den „Joseph“-Roman wieder aufnimmt. Den stilistischen Einstieg in die mythische Welt findet Thomas Mann denn auch über Goethe, genauer über dessen „Faust“, den er – ebenso wie seinen „Joseph“ – als „Menschheitssymbol“48 verstanden wissen wollte. Der vierte Band, „Joseph, der
GW XI, S. 216 („Die Entstehung des Doktor Faustus“). GW IX, S. 549f. („Schopenhauer“). 47 Ebd. 48 GW XI, S. 665 („Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag“): „‚Faust‘ ist ein Menschheitssymbol, und zu etwas dergleichen wollte mir unter den Händen die Josephsgeschichte werden.“ Vgl. auch Friedhelm Marx: „Ich aber sage Ihnen …“. Christusfigurationen im Werk Thomas Manns, Frankfurt a. M. 2002, S. 248f. Marx stellt hier dar, wie Thomas Mann der „virulenten Heroisierung und Germanisierung der Faust-Figur“ (ebd., S. 248) entgegenwirken wollte. 45 46
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Ernährer“, beginnt mit einem „Vorspiel in Oberen Rängen“,49 in welchem, ebenso wie in Goethes „Prolog im Himmel“, die Engel ein Gespräch über die Geschicke der Menschen führen.50 Er zeigt aber vor allem eine Entwicklung des Helden, die in direktem Zusammenhang zu Thomas Manns Goethe-Bild steht. Joseph wird nun das, was Thomas Mann als den „Regisseur“51 seiner eigenen Geschichte bezeichnet hat. Dass diese Wendung des Helden mit Goethe und somit mit Thomas Manns Idee der großen Persönlichkeit zu tun hat, die es vermag, in das Weltgeschehen einzugreifen, und die in dieser Ausprägung Produkt des Exils und des Kampfes gegen Hitler ist, hat bereits Hans Wißkirchen betont: Denn in „Joseph, der Ernährer“ werde „sich Joseph bewußt, daß er als Persönlichkeit im Sinne Goethes agiert“.52 An der Joseph-Figur zeigt sich der Versuch Thomas Manns, seine verloren gegangene Übereinkunft von Ich und Welt in einer „totalitätsstiftenden Persönlichkeit“53 wieder zu gewährleisten: Joseph holt die Welt in sein Ich, indem er sich die Geschichte zu eigen macht. […] Joseph wird […] zum Künstler […]. Die Metapher des Künstlers steht hier für den in der Gegenwartsgeschichte verstellten Wunsch, das eigene Sein zum Fixpunkt des geschichtlichen Ablaufs zu machen.54 Joseph, der kluge, schöne und talentierte Lieblingssohn Jaakobs, ist die große Persönlichkeit, der große Mann, der durchdrungen ist von „Welt-Sympathie“ und „Welt-Offenheit“, die sich aber eben aus dem Wissen um seine „angeborenen 49 In diesem „Vorspiel“ ist ebenso eine Analogie zum Vorspiel von Richard Wagners „Götterdämmerung“ zu sehen, in welcher sich die Nornen, ähnlich den Engeln bei Thomas Mann, darüber unterhalten, warum die Welt so schlecht ist, wie sie eben ist. Vgl. auch GW XI, S. 677 („Sechzehn Jahre“): „Es ist wahr, meine Art, den Mythos zu traktieren, stand im Grunde der Humoristik von Goethe’s ‚Klassischer Walpurgisnacht‘ näher als Wagner’schem Pathos; aber der unerwartete Entwicklungsweg, den die Erzählung von Joseph eingeschlagen, war insgeheim gewiß doch auch immer von der Erinnerung an Wagners grandiosen Motivbau bestimmt, eine Nachfolge dieses Sinnes gewesen.“ Vgl. auch Dieter Borchmeyer: „Kulissengeschiebe“ – Thomas Manns „Joseph und seine Brüder“ und Richard Wagners „Ring des Nibelungen“: eine Kontrafaktur, in: wagnerspectrum 2 (2011), S. 95–113. 50 Mit seinem „Vorspiel“ zu Beginn des vierten Bandes knüpft Thomas Mann zugleich an den ersten Band seiner Tetralogie an, der ebenfalls mit einem Vorspiel, der „Höllenfahrt“, beginnt, die den Leser auf eine Reise zu den Anfängen der stofflichen Welt führt. Die Schöpfung der Welt, „die wesentlich auf Scheidung beruhte, auch gleich mit der Scheidung von Licht und Finsternis begonnen hatte“ (GW V, S. 1281), wird hier noch einmal skizziert und erinnert an Goethes Gedicht „Wiederfinden“ aus dem „West-östlichen Divan“: „Auf that sich das Licht. So trennte Scheu / sich Finsternis von ihm, / Und sogleich die Elemente / Scheidend auseinander fliehn.“ (Johann Wolfgang Goethe: West-östlicher Divan, in: ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe, hg. v. Friedmar Apel [u. a.], Bd. 3 / I, Frankfurt a. M. 1994, S. 399). 51 Vgl. GW XI, S. 666. 52 Wißkirchen [Anm. 26], S. 157. 53 Ebd., S. 153; Vgl. auch Nietzsche [Anm. 40], S. 151: Goethe „löste sich nicht vom Leben ab, er stellte sich hinein; er war nicht verzagt und nahm so viel als möglich auf sich, über sich, in sich. Was er wollte, das war Totalität“. 54 Wißkirchen [Anm. 26], S. 157.
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Verdienste“ und aus seiner Selbstliebe speisen. Die biblische Geschichte, deren Bekanntheit Thomas Mann zumindest in der Entstehungszeit des Romans voraussetzen konnte, ist denn auch besonders gut geeignet, um das zu zeigen, was Mann mit Goethe und Schopenhauer unter „angeborenen Verdiensten“ verstand, und was es heißt, sich selbst zu schöpfen, seine vorgesehene Rolle möglichst gut und möglichst schön zu spielen. Denn, dass Joseph zum Traumdeuter des Pharaos wird und durch seine Wirtschaftsmaßnahmen die Hungernot besiegt, ist dem bibelkundigen Leser bekannt, nun geht es jedoch darum, zu erzählen, wie er dies tut. Der Erzähler kommentiert dies wie folgt: „Kommt nicht der Erörterung des ‚Wie‘ soviel Lebenswürde und -wichtigkeit zu wie der Überlieferung des ‚Daß‘? Ja, erfüllt sich das Leben nicht recht erst im ‚Wie‘?“55 Es erfüllt sich also nicht nur die Ästhetik des Textes im ‚Wie‘, sondern auch die Ästhetik des Lebens selbst. Auch Joseph weiß das, er weiß, dass er in einer Geschichte ist und dass es nun an ihm ist, diese möglichst schön auszugestalten – und zwar aus dem oben bereits erwähnten Respekt vor seinem eigenem Leben, vor dem Gefühl der eigenen Besonderheit.56 Dieses Bewusstsein Josephs für die eigene Geschichte, wird besonders im vierten Band deutlich, wenn er, längst Vertrauter des Pharaos, erfährt, dass seine Brüder Nahrung suchend nach Ägypten reisen: „Mai [Josephs Hausvogt, M. A.], wenn du wüßtest, wie mir zumute ist! Aber ich weiß es selber nicht […]. Und dabei hab’ ich’s gewußt und erwartet und darauf gewartet seit Jahren und Tagen. Gewußt hab’ ich’s, als ich vor Pharao stand, und als ich ihm deutete, da habe ich’s mir gedeutet, wo Gott hinauswollte, und wie er diese Geschichte lenkt. Was für eine Geschichte, Mai, in der wir sind! Es ist eine der besten! Und nun kommt’s darauf an und liegt uns ob, daß wir sie ausgestalten recht und fein und das Ergötzlichste daraus machen und Gott all unseren Witz zur Verfügung stellen. Wie fangen wir’s an, einer solchen Geschichte gerecht zu werden? Das ist’s, was mich so aufregt …“57 Es geht also darum, seine Geschichte möglichst gut zu erzählen, und um so talentierter man ist, und um so bewusster, einem die eigene Rolle wird, desto gewinnbringender und menschenfreundlicher kann diese ausgefüllt werden. Dies bedeutet aber auch, Opfer zu bringen. Das weiß bereits Goethe in „Lotte in Weimar“, der Charlotte in der Abschiedsszene das Geheimnis des (Lebens-) Opfers enthüllt:
GW V, S. 1005. In diesem Sinne, als einen „vor sich selber ehrfürchtigen Menschen“, sah auch Nietzsche Goethe (Nietzsche [Anm. 40], S. 151). 57 GW V, S. 1590. 55 56
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„Du handelst vom Opfer, aber damit ist’s ein Geheimnis und eine große Einheit wie mit Welt, Leben, Person und Werk, und Wandlung ist alles. Den Göttern opfert man, und zuletzt war das Opfer der Gott. […] Alte Seele, liebe, kindliche, ich zuerst und zuletzt bin ein Opfer – und bin der, der es bringt.“58 Joseph bringt ebenfalls Opfer. So opfert er für die Ausschmückung seiner Geschichte seine Familie. Sein ägyptisches Leben fernab von Vater und Brüdern disqualifiziert ihn als Segensträger, aber mehr noch, es bringt ihm die Absonderung von seinem Stamm, seiner Familie, und so hört er das Wort von „absprechender Liebe“ aus dem Munde seines Vaters Jaakob: „Hast du je die Stimme absprechender Liebe vernommen? So vernimmst du sie jetzt an deinem Ohre, nach dem Gehorsam. […] Der Erstgeborene bist du in irdischen Dingen und ein Wohltäter, wie den Fremden, so auch Vater und Brüdern. Aber das Heil soll nicht durch dich die Völker erreichen und die Führerschaft ist dir versagt. […] Du bist der Gesonderte. Abgetrennt bist du vom Stamm und sollst kein Stamm sein.“59 Auch wenn der Roman damit endet, dass Joseph inmitten seiner Brüder steht und diesen verzeiht, so ist dies doch nur eine Momentaufnahme. Die Zugehörigkeit zu seinem Stamm, seiner Familie ist ihm verwehrt. Und auch die ägyptische Welt hält im Grunde keine Heimat für ihn bereit. So lässt der Erzähler denn auch keinen Zweifel daran, dass andere Gründe als das Wohl Ägyptens bei Josephs Ernährerrolle im Vordergrund standen und gesteht den Lesern, daß des Reiches Herrlichkeit ihn, so sehr er seiner äußeren Gesittung nach zum Ägypter geworden war, im Grunde nichts anging, und daß, so energische Wohltaten er den Dortigen erwies, so umsichtig er dem Öffentlichen diente, sein innerstes Augenmerk doch immer auf Geistlich-Privates und Weltbedeutend-Familiäres, auf die Förderung von Plänen und Absichten gerichtet blieb, die mit dem Wohl und Wehe Mizraims wenig zu tun hatten.60 Joseph hat sein Leben gelebt im Bewusstsein der „Pflicht […], den Absichten Vorschub zu leisten und Gott bei ihrer Verfolgung nach besten Kräften behilflich zu sein“.61 GkFA 9.1, S. 444f. („Lotte in Weimar“). GW V, S. 1745. 60 GW V, S. 1499. 61 Ebd. [Hervorhebung, M. A.].
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Vor dieser großen Inszenierung seiner Lebensgeschichte tritt die Wendung des Helden zum sozialen Wohltäter62 in den Hintergrund. Der „Joseph“-Roman erzählt nicht die Geschichte eines geläuterten Narzissten, der seine Selbstliebe in Nächstenliebe umwandeln kann. Er handelt vielmehr davon, wie der ganz Besondere, die große Persönlichkeit durch Wertschätzung der eigenen Person und des eigenen Lebens sowie durch die Vervollständigung der eigenen „angeborenen Talente“ in der Lage ist, eine gute Geschichte zu erzählen und damit ein gutes Leben zu inszenieren. Und dieses sieht nebenbei noch vor, human tätig zu sein – eben weil es zur Lebenspflicht dazu gehört, eben weil es die Zeit einfordert. III. „Mythischer Synkretismus“63 versus nationaler Mythos Thomas Mann setzt in seinem Roman „Joseph und seine Brüder“ gegen den irrationalen völkischen Mythos der Nationalsozialisten seine Idee eines Mythos, der sich aus unterschiedlichen Kulturkreisen speist, und das Ideal einer universalen „Menschheitsdichtung“64 vertritt. Sein Ziel war es, den „Mythos […] dem Faschismus aus den Händen“ zu nehmen „und bis in den letzten Winkel der Sprache hinein [zu, M. A.] humanisier[en]“.65 Diesen humanen Universalismus sah er bereits bei Goethe und in dessen Werk verwirklicht, und so wurde für Thomas Mann seine „Goethe-Imitatio, das bewußte In-den-Spuren-Gehen“, im Exil zur „durchgängige[n] Lebensstütze“.66 Thomas Manns Hinwendung zur deutschen Kultur im Exil ist somit zugleich eine Hinwendung zu einem „Weltdeutschtum“, zu einem Fremdes einbeziehenden und nicht ausgrenzenden Universalismus. Auch Joseph geht in Spuren und zieht hieraus Sinn und Kraft für seinen Lebensweg, aber er ist sich seiner imitatio genauso bewusst wie sein Schöpfer. In Joseph gestaltet Thomas Mann die gute, große Persönlichkeit, die als Künstler ein „Fest der Erzählung“67 veranstaltet. Und so verzahnt sich im Protagonisten des Romans die Idee eines großen Mannes, der die Fähigkeit zur Gestaltung und Abwandlung besitzt, mit der Idee der „Gottesklugheit“, die gegen die Barbarei gerichtet ist.
62 Vgl. Herbert Lehnert: Der sozialistische Narziß. „Joseph und seine Brüder“, in: Thomas Mann. Romane und Erzählungen, hg. v. Volkmar Hansen, Stuttgart 1993, S. 186–227. 63 Gerhard von Rad: Biblische Josephserzählung und Josephsroman, in: Joseph. Bilder und Gedanken zu dem Roman „Joseph und seine Brüder“ von Thomas Mann, hg. v. Gisela Röhn, Hamburg 1975, S. 141–149, hier S. 146. 64 GW XI, S. 658 („Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag“). 65 Ebd. 66 Wißkirchen [Anm. 26], S. 145. 67 GW IV, S. 54.
Nelia Dorscheid
Arnold Zweig „Erziehung vor Verdun“ (1935) I. „Arnold Zweig has become an embarrassment to literary historians and critics“1 – diese Einschätzung eines Literaturwissenschaftlers zu Beginn der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts verweist insbesondere auf die damalige Ignoranz der westdeutschen Germanistik gegenüber dem 1948 aus dem Exil in Palästina nach Ostberlin zurückgekehrten Arnold Zweig, dessen Roman „Streit um den Sergeanten Grischa“ (1927) in der Deutschen Demokratischen Republik derweil zur Schullektüre avancierte. Erst gegen Ende der 1980er Jahre öffnete sich die westdeutsche Germanistik gegenüber dem umfangreichen Werk Zweigs – wobei bis heute der „Grischa“Roman den Hauptbezugspunkt der Forschung bildet. Und so ist es um die ArnoldZweig-Forschung zwar nicht zum Schlechtesten bestellt, jedoch wird der Autor bis in die Gegenwart hinein nicht selten mit „Etiketten“ belegt. Zweig: der preußische Jude, Zionist, Freudianer, Nietzscheaner, Pazifist und – natürlich – Marxist. Selbst wenn man Detlev Claussen in seiner Auffassung, es handle sich bei jenen „Etiketten“ um die Unart, „post mortem Individuen an einer normativen Common-sense-Identität der Gegenwart zu messen“,2 nicht zustimmen mag, so möchte man doch folgenden Satz in Zweigs Roman „Erziehung von Verdun“, 1935 im palästinischen Exil verfasst, bedenken: „Solange man lebt, ist nichts endgültig.“3 Damit ist ein Prinzip genannt, welches Zweigs Werk kennzeichnet, sich nämlich „auf die volle Dialektik der geschilderten Vorgänge“4 einzulassen: „Die erzählerische Haltung, die das ‚Recht‘ jeweils auf der Seite derjenigen sein läßt, die gerade reden, teilt Zweig.“5 Diese poetologische Konsequenz zeigt sich in Zweigs Romanzyklus „Der große Krieg der weißen Männer“, der den Ersten Weltkrieg von allen Seiten beleuchtet, ohne dass die Figuren dabei je zur Ruhe kämen: „Hilft mir das Gesetz meines Lebens, alt zu werden, so soll es mir nicht 1 Heinz Wetzel: War and the Destruction of Moral Principles in Arnold Zweig’s „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ and „Erziehung vor Verdun“, in: The First World War in German Narrative Prose, hg. v. Charles N. Genno u. Heinz Wetzel, Toronto 1980, S. 50–71, hier S. 50. 2 Detlef Claussen: „Rechtschaffen erzählen“ in verbrecherischer Zeit, in: Arnold Zweig: Psyche, Politik und Literatur. Akten des II. Internationalen Arnold-Zweig-Symposiums – Gent 1991, hg. v. David R. Midgley, Bern 1993, S. 202–210, hier S. 203. 3 Arnold Zweig: Erziehung vor Verdun, in: ders.: Berliner Ausgabe, hg. v. d. Humboldt-Universität zu Berlin u. d. Akademie der Künste, Berlin, Berlin 2001, Teil 1, 5, S. 411. 4 Jost Hermand: Engagement als Lebensform. Über Arnold Zweig, Berlin 1992, S. 98. 5 Bernd Hüppauf: Assoziationen. Über Arnold Zweigs Sprache als Aufhebung der Moderne, in: Text und Kritik 104 (1989), S. 38–56, hier S. 40.
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schwer sein, immer wieder das Geschaffene zu verneinen und am Ideal der wahren und großen Leistung zu messen.“6 Wechseln auch die Hauptpersonen, so hält Zweig doch fest an der stark autobiographisch gefärbten Figur des jungen jüdischen Schriftstellers Werner Bertin, an dem die „Erziehung vor Verdun“ nicht spurlos vorübergehen wird und den Zweig als Protagonisten stets von Neuem überprüft. Diese Verneinung einer Endgültigkeit und ihre Beharrlichkeit wird in Anbetracht der Werkgenese zunehmend deutlich: Der nichtlinearen Arbeitsweise Zweigs entsprechend stimmt die Reihenfolge der Entstehung der einzelnen Bände teilweise nicht mit der Chronologie der darin geschilderten Ereignisse überein. So erfolgt die Revision des Romans jeweils durch ein weiteres Werk, welches aus dem vorhergehenden Funken schlägt, zumal im Exil: „‚Aber wo steckt der Fehler?‘“, fragt der Soldat Bertin einen Kameraden: „‚Irgendwo klafft da was, das behoben werden muß, damit unser Weltbild nicht in die Brüche gehe.‘“7 Und ihm wird geantwortet: „‚Ja, warum sollte es denn nicht in die Brüche gehen […] das kostbare Weltbildchen? […] nur das Ihre ist zu schade, nicht wahr, das der Herren Schriftsteller und Propheten.‘“8 Insofern verwundert es, dass „Erziehung vor Verdun“ nicht unter dem Gesichtspunkt eines Künstlerromans gelesen wurde, was auch daran liegen mag, dass Zweig seinem Freund Lion Feuchtwanger 1934 zum Konzept seines Romans schrieb: im Grunde genommen versuche ich zu gestalten, was wir selber erlebt haben und was an uns geschehen ist, und die Gefahr bleibt, auf die ich sehr genau achte, nicht zu sehr von heute zu erzählen und das Jahr 1916 nur als Maske zu benutzen. Ich muß konkret von damals erzählen, was mir keinerlei Mühe macht, und nur zeigen, was ja wahr ist, dass das Heute damals im Keim bereits versuchte, uns zu unterwerfen, auszumerzen, zu vernichten.9 Allerdings scheint Zweig sich an dieser Stelle ein wenig selbst zu widersprechen: Er will von heute „nicht zu sehr“ erzählen und zugleich soll 1916 nur „als Maske“ dienen – ein solches Vorgehen sieht man jedoch textimmanent verwirklicht in 6 Arnold Zweig an Helene Weyl, 15. Oktober 1919, in: Arnold Zweig, Beatrice Zweig und Helene Weyl: Komm her, wir lieben Dich. Briefe einer ungewöhnlichen Freundschaft zu dritt, hg. v. Ilse Lange, Berlin 1996, S. 161–164, hier S. 163. 7 Siehe hierzu die Äußerung Zweigs bezüglich der gescheiterten gesellschaftlichen Integration der Juden: „Es muß ein Konstruktionsfehler im Gesellschaftsleben vorliegen, der an dieser Stelle aufklafft.“ (Arnold Zweig: Bilanz der deutschen Judenheit 1933. Ein Versuch, in: ders.: Berliner Ausgabe, Berlin 1998, Teil 3,3,2, S. 236). 8 Zweig [Anm. 3], S. 160f. 9 Arnold Zweig an Lion Feuchtwanger, 26. März 1934, in: Lion Feuchtwanger, Arnold Zweig: Briefwechsel 1933–1958, hg. v. Harold von Hofe, Bd. I: 1933–1948, Berlin 1984, S. 37–39, hier S. 37f.
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Alexander Lernet-Holenias Roman „Mars im Widder“ von 1939, und zwar in der Rede des im Zweiten Weltkrieg dienenden Protagonisten, für dessen Erfahrungen der Erste Weltkrieg stets die Hintergrundfolie bildet: So, dachte er, die Schrapnellwolken sind jetzt schwarz, früher waren sie weiß oder pfirsichblütenfarben gewesen. Aber man erklärte ihm, es gebe keine Schrapnells mehr. Es sei ein Richtschuß gewesen. Es gebe nur noch Granaten. Und in der Tat war die Wolke ein wenig anders geformt.10 Zweigs Roman „Junge Frau von 1914“, 1931 erschienen, schildert die Einberufung des jungen jüdischen, bereits erfolgreichen Schriftstellers Werner Bertin 1915 in ein Armierungsbataillon. Voller Idealismus, den Krieg als „Bildungserlebnis“ ersehnend, meldet er sich freiwillig an die Westfront. Von hier an schildert der Roman „Erziehung vor Verdun“ die weitere Entwicklung Bertins. Dieser freundet sich mit einem jungen Leutnant, Christoph Kroysing, an, der kurz darauf umkommt. Bertin und der Bruder des Getöteten erkennen bald, dass es sich um vorsätzlichen Mord handelt: Kroysing hatte sich an oberster Stelle über Verfehlungen seiner Vorgesetzten beklagt und eine kriegsgerichtliche Untersuchung eingefordert; in der Folge wurde er von den Beschuldigten an einen besonders gefährlichen Abschnitt der Front verschickt, in der berechtigten Hoffnung, das Problem löse sich, mit Hilfe der Franzosen, bald von selbst. Indem Bertin mit versucht, dieses Verbrechen ans Licht zu bringen, gerät er selbst in den Fokus seiner Vorgesetzten, die ihm fortan schaden wollen. Bertin muss erkennen, dass im Heer, welches ein Abbild der wilhelminischen Gesellschaft darstellt, Günstlingswirtschaft, Intrige, Antisemitismus herrschen. Bald heißt es: „Mir aber sind die Augen aufgerissen.“11 Dies ist ein Teil der titelgebenden „Erziehung“: „Und damit [mit dem Kriegsdienst, N. D.] begann die heilsam-bittere Zeit des Nachlernens, des Nachholens eines befremdlichen Schulkurses.“12 „[H]eilsam“, da jene Erziehung vor den Mauern Verduns zugleich die Erziehung, die zeitlich vor Verdun lag, zunichtemacht: die Erziehung zu wehrtüchtigen, herrschaftsgläubigen Menschen; „bitter[]“, da erst der bürgerliche Idealismus, dann die wilhelminische Erziehung zwar dekonstruiert werden, das sich hieraus ergebende Bewusstsein aber wiederum erschütternd wirkt („Wie kam er eigentlich dazu, diese Wahrheit zu sehen? Sie tat ja weh! Sie nahm einem ja die Kraft, das Leben zu ertragen […].“)13
Alexander Lernet-Holenia: Mars im Widder, Frankfurt a. M. 2002, S. 166. Zweig [Anm. 3], S. 180. 12 Arnold Zweig: Erinnerung an einen 1. August, in: ders.: Essays, Bd. 2: Krieg und Frieden, Frankfurt a. M. 1987, S. 23–28, hier S. 28. 13 Zweig [Anm. 3], S. 197. 10 11
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Zweig ironisiert damit die Idee des Bildungsromans und stellt diese Ironisierung wiederum in den Dienst des Romans als eines Künstlerromans, für den die Rechenschaft über konstruktive oder destruktive Lebenseinflüsse im Dienste der poetologischen Beweisführung steht, nicht in dem eines gelingenden Lebens. II. Allein die kriegerische „Verwendung“ des Werner Bertin zeigt seinen Werdegang auf: So wurden die Armierungsbataillone, bestehend aus minder Kriegstauglichen – wie auch Bertin aufgrund seiner Kurzsichtigkeit und schwachen körperlichen Konstitution –, zu Beginn des Krieges zur Befestigung der deutschen Festungen und zur Herstellung und Instandsetzung von Transportwegen eingesetzt. Mit Beginn des Stellungskrieges jedoch wurden sie oft an die Front vorverlegt, um diese zu unterhalten. Damit stieg ihr Ansehen im Heer deutlich. Bertins subjektive Wahrnehmung bleibt hiervon jedoch unberührt. Er versteht sich weiterhin als der einfache „Schipper“, der durch die schwere körperliche Arbeit zusehends in seine Aufgabe hineinwächst und für den die Kameraden an erster Stelle stehen.14 Dem Höhepunkt der körperlichen Stärke folgt schließlich aber, im Verein mit dem der psychischen, deren neuerlicher Abbau, ganz im Sinne der „Abnutzungsschlacht“. Und so liegt hier ein typisches Beispiel für die verschleiernden Deutungsmuster im Heer vor: Der Krieg läuft aus dem Ruder und verlangt nach immer mehr Menschenmaterial. Indem nun die Bedeutung dieser verstärkenden Truppen hervorgehoben wird, ist die Parole des „ehrenvollen Todes fürs Vaterland“ vorformuliert. Wenn am Ende der „Erziehung vor Verdun“ Bertin seiner Frau Lenore vorschlägt, in den Wald zu spazieren, dann liegt das Ende des großen Krieges sieben Monate zurück. Fast eineinhalb Jahre hat er an der Westfront verbracht, ehe er unter Zuhilfenahme von Freunden als Schreiber an die Ostfront gelangen konnte: „‚Diese Wiese‘ sagt Bertin, indem er seinen Arm in den ihren legt, ‚wäre von hier aus durch ein Maschinengewehr gegen zwei Kompanien zu halten; sie kämen nicht über den Bach da unten. Und der Waldrand gäbe eine famose Stellung ab für Flakbatterien.‘“ Und weiter: „‚So‘, sagt Werner Bertin träumerisch,
14 Wulf Köpke sieht in der Figur des Armierungssoldaten den möglichen Handlungsspielraum des jüdischen Schriftstellers „als Deutscher, als Antifaschist“ problematisiert: „Nicht zuletzt ist die Position des Armierungssoldaten symbolisch zu nennen: er ist Soldat, aber ohne Waffen; er ist dem Trommelfeuer und den Fliegerbomben ausgesetzt, aber ohne Gegenwehr; er soll Stellungen und Wege bauen, aber sie werden sofort wieder zerstört.“ (Wulf Köpke: Wozu kann Verdun erziehen? Arnold Zweigs „Erziehung vor Verdun“ als Roman des Exils und als Stück einer lebenslangen Auseinandersetzung, in: Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium Saarbrücken 2009. Im Banne von Verdun. Literatur und Publizistik im deutschen Südwesten zum Ersten Weltkrieg von Alfred Döblin und seinen Zeitgenossen, hg. v. Ralf Georg Bogner, Bern 2010, S. 351–371, hier S. 368).
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gelehnt an die Schulter seiner Frau, ‚ganz so, nur viel dichter sahen die Wälder vor Verdun aus, als wir hinkamen.‘“15 An dieser Stelle bemüht Bertin sich um einen Vergleich: Er will den einen Wald durch den anderen, über das tertium comparationis „dicht“ vermitteln. Es bleibt zu belegen, dass dies als tertium comparationis dient, da die unbestimmte Weisung, „so“, jene Dichte nicht nennt und im Satz zuvor der Wald mit anderen Attributen beschrieben wird: „Am Waldrand spielen Sonnenflecken auf den grauen Stämmen.“16 Aber die Dichte des Waldes ist über den gesamten Roman hinweg ein Gradmesser der Gefahr. Die Nähe der Front zeigt sich stets am Zustand des Waldes, bis hin zum „Niemandsland“. Und in Bertins Rede heißt es zuvor: „Und der Waldrand gäbe eine famose Stellung ab für Flakbatterien.“ Diese Funktion besitzt der Waldrand aufgrund seiner Dichte. Die nachstehende Beschreibung, „Am Waldrand spielen Sonnenflecken auf den grauen Stämmen“, formuliert der auktoriale Erzähler. Die „Dichte“ ist ihnen also gemeinsam. Wie aber soll der eine Wald den anderen erhellen? Dem dient der Komparativ des tertium comparationis: Der Wald vor Verdun war „dichter“, „ganz so“, „nur dichter“. Diese graduelle Differenz ist das einzige, was Bertin zu formulieren vermag, um den „Wald vor Verdun“ zu evozieren. Nun könnte diese Differenzierung einerseits in der Tat den „Wald vor Verdun“ stärker veranschaulichen – andererseits könnte sie einen diffuseren Eindruck vermitteln, da sie die Deckungsgleichheit der beiden Wälder stört und, indirekt, das für Zweigs Werk wichtige Motiv der „Grenzziehung“ veranschaulicht: Der „dichtere“ Wald ist für Bertin der konkretere für sein Gegenüber hingegen das Gegenteilige: „‚Wenn du nur zurückgekommen bist aus diesen Wäldern‘“, entgegnet ihm seine Frau. Und weiter: „Heimlich fürchtet sie, es werde noch lange dauern, bis der Freund und Mann aus jenen Zauberwäldern und Gestrüppen in die Gegenwart zurückfindet, ins wirkliche Leben.“17 Daran wird deutlich, dass der Wald vor Verdun ihr das „Ungefähre“ ist, in dem ihr Mann psychisch verharrt, während sie ihn hier, vor dem hiesigen Wald vermisst: „Im Laufe des August war der Armierer Bertin in den verwüsteten Strichen heimisch geworden, die auf der Karte noch immer Fosses-Wald, Chaumes-Wald, Wavrille-Wald hießen.“18 Für Bertin hingegen bedeutet der „Wald vor Verdun“ die Bezugsgröße seiner jetzigen Existenz. Es wird deutlich, dass jene Formulierung nicht genügt, um „seinen“ Wald sprachlich zu vermitteln. Ihm, „träumerisch“, genügt er. Offenkundig wird hier die Absenz der gelungenen sprachlichen Vermittlung vom Ich zum Du, des Dialogs. Bertin gelingt also ein seltsam diffuser, beinahe hilfloser Versuch der bildlichen Anschauung, der ihn für den Moment nicht unzufrieden sein lässt; seine Frau Zweig [Anm. 3], S. 496 [Hervorhebung N. D.]. Ebd. 17 Ebd. 18 Ebd., S. 100. 15 16
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kann dabei nur als Stellvertreterin seines Ichs fungieren. Die Geste der körperlichen Anlehnung ist die des Ausruhens, seine sprachliche Geste die des Monologs. Martin Buber, auf den sich Zweig vielfältig bezog, würde sagen: „Der Mensch lebt im Geist [d. h., im Wort, N. D.], wenn er seinem Du zu antworten vermag.“19 „‚So […], ganz so, nur viel dichter sahen die Wälder vor Verdun aus, als wir hinkamen.‘“ Dem gegenübergestellt sei das Ende der titelgebenden Erzählung des zwischen 1914 und 1916 entstandenen Novellenzyklus „Gehirne“ von Gottfried Benn. Darin bilanziert der junge Arzt Rönne: „Ich wollte immer auffliegen wie ein Vogel aus der Schlucht; nun lebe ich außen im Kristall.“20 Beide Äußerungen, die Rönnes wie die Bertins, drücken eine Sehnsucht aus. Dieser Rönne, heißt es eingangs, „war zwei Jahre lang an einem pathologischen Institut angestellt gewesen, das bedeutet, es waren ungefähr zweitausend Leichen ohne Besinnen durch seine Hände gegangen, und das hatte ihn in einer merkwürdigen und ungeklärten Weise erschöpft“.21 Der Schipper Bertin verlässt auf einem Munitionszug sitzend die Front. Während der Fahrt begegnen ihm die Schemen all derjenigen getöteten Soldaten, die ihm nahe standen: „Und dann Meter für Meter […], glitt der Zug zurück in die Vergangenheit, ins Abgelebte, und führte mit sich einen eingewickelten Menschen, der nicht mehr wusste, wann er wachte und wann er schlief, die Augen zwanghaft aufriß und wieder schloß.“22 – „Verdammt unheimlich blieb es, als Lebender von hier wegzufahren.“23 Es ist das Motiv der schmerzhaft aufgerissenen Augen, welches auch Rönne bezeichnet: „Ich habe keinen Halt mehr hinter den Augen.“24 In „Erziehung vor Verdun“ handelt ein Kapitel von dem – im Übrigen stark kurzsichtigen – Kriegsgerichtsrat Mertens, der sich angesichts des allgegenwärtigen Unrechts im Krieg selbst tötet, wobei der Prozess der Bewusstwerdung ins Schmerzlichste gesteigert ist: „Und seinen aufgerissenen Augen war es nicht mehr gegeben worden, sich zu schließen.“25 In diesem Schlüsselkapitel wird auch der Kunst gedacht und ihrer destruktiven Potenz – zum einen, da sie die Lüge kolportiere, „vor allem die Dichter, Denker, Schreiber: redend und durch die Zeitungen verbreiteten sie im Volke Betrug“,26 zum anderen, da sie, hier in
19 Martin Buber: Ich und Du, in: ders.: Werke, Bd. I: Schriften zur Philosophie, München / Heidelberg 1962, S. 77–171, hier S. 103. 20 Gottfried Benn: Gehirne, in: ders.: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, Bd. 3: Prosa 1, hg. v. Gerhard Schuster, Stuttgart 1987, S. 29–34, hier S. 34. 21 Ebd., S. 29. 22 Zweig, [Anm. 3], S. 489. 23 Ebd., S. 492. 24 Benn [Anm. 20], S. 32. 25 Zweig [Anm. 3], S. 291. 26 Ebd., S. 289.
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Gestalt der Musik Brahms’, Eskapismus ermögliche: „Diese Musik war die Welt noch einmal, nur besser, frei von den Fehlerquellen.“27 Gerade der Eskapismus aber ist die Kehrseite der Bewusstwerdung. Wenn Rönne sich, inspiriert durch seine Kunst des Sezierens, nun dem eigenen Gehirn zuwendet („Nun halte ich immer mein eigenes in meinen Händen und muß immer darnach forschen, was mit mir möglich sei. […] Was ist es denn mit den Ge hirnen?“28), dann hat er „keine Macht mehr über den Raum“29: „Der Raum wogt so endlos; einst floß er doch auf eine Stelle.“30 Und für Bertin erhält bereits in „Junge Frau von 1914“ der Raum, hier während des Bades auf Fronturlaub, eine neue Dimension: „Ihm erschien es nicht winzig. Sachkundig sah er: man konnte hier zur Not vier Mann unterbringen. Besonders nach oben fand er den Raum vollkommen unausgenutzt.“31 Der Raum erhält also eine neue Bedeutung als strategisch genauestens zu gestaltender Ort der Entsprechungen, wie es sich auch am Motiv des Waldes („ganz so, nur viel dichter“) zeigt. Während des Spaziergangs in den Wald heißt es über Bertin: „Aber man darf ihm nicht widersprechen, er ist so reizbar jetzt; eigentlich gehörte er in ein Sanatorium, aber dagegen sträubt er sich nun einmal. Und so bleibt einer klugen Frau nur übrig, den Mann, den sie liebt, […] dieses wilde Herz, in den Wald zu begleiten.“32 Es scheint also nicht das erste Mal zu sein, dass Lenore ihren Mann in den Wald begleiten soll, in diesen für ihn einzig sicheren Ort: „Am Steilufer der Schlucht zeigen noch eine Anzahl heiler Bäume Sicherheit an.“33 Der Waldbestand ist das Symbol der Möglichkeit eines gelingenden Lebens, vor „Verdun“ – dem Symbol für die Grausamkeit des Krieges, der verwundeten, umgegrabenen Erde.34 Bertins ungefährer Vergleich ist symptomatisch, denn zu Beginn seiner Erziehung wäre ihm, dem Romancier und Gelegenheitsdichter, das bildliche Sprechen ein Bedürfnis, das Natürlichste gewesen: „Es ist wunderbar schön hier. Die Baumleichen sind schön, die weißen Trichter, das Kalkgestein, die Ebd., S. 300. Benn [Anm. 20], S. 34. 29 Ebd., S. 33. 30 Ebd., S. 32. 31 Arnold Zweig: Junge Frau von 1914, Berliner Ausgabe, Berlin 1999, Teil 1,3, S. 313f. 32 Zweig [Anm. 3], S. 496. 33 Ebd., S. 223. 34 Siehe hierzu auch Zweigs Gedicht „Gefällter Wald“ (1920), dessen letzter Vers die poetologische Konsequenz aufzeigt: „Vor wenig Tagen rauschten sie noch gegen Wind gestemmt: / Nun ist der Hügel wie mit Großgranaten abgekämmt, / Und sie, die liegen, sollen, zu Papier gebreit, / Zeitungen werden, Zeitungsblätter, die man auf den Boden streut – / Mit Lügen, Haß, Gewinngier und Verrat bedruckt, / […] Um Zeitungsdruck erschlagen lag ein junger Wald! / Und ich gedachte eurer, Kameraden, die, in Frankreichs Lehm gekrallt, / Von Großgranaten fürchterlich in Klump gestückelt, / Wir da und dort begruben, in die Zeltbahn eingewickelt; / […] Papier-erschlagen seid ihr, ach, ins Grab gesunken / Und nun vergessen […] / […] Im Tannenbrausen hör ich eure gramerfüllten Stimmen gehen … / Ich will mir morgen die gefällten Fichten sehr genau besehn.“ (Jahresringe. Gedichte und Spiele, Berlin 1964, S. 129f.). 27 28
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scheußlichen Splitter der großen Kaliber.“35 Doch bald schon bleibt ihm das Wort im Hals stecken: „‚Für wen machen wir das alle miteinander?‘ – Bertin blieb stehen, um zu verschnaufen; jede Antwort, die ihm durch den Kopf wehte, schien ihm unmöglich; an dieser Stelle schmeckte jedes Wort nach ranzigem Pathos.“36 Der Vergleich, der doch eigentlich den Sinn hat, jemandem etwas anschaulich zu machen, ist dem ehemaligen Soldaten Bertin im Jahre 1919 nicht mehr möglich. Meinte man zunächst, er wolle seiner Frau den Wald vor Verdun veranschaulichen, so ist es doch hier der vor ihnen liegende Wald, den er eigentlich versucht, sich selbst anzueignen. In dieser Umkehrung versucht Bertin also, Verdun so zu veranschaulichen und zu vermitteln, dass es als Bildspender fungieren kann. Diese Unentrinnbarkeit ist der Preis, den er für sein Kriegserlebnis und dessen „Erziehung“ zu zahlen hat. Bertin versucht, einen ursprünglichen Sinnzusammenhang herzustellen innerhalb widerstreitender Größen, die sich nicht entsprechen können, so sehr er die Vergleichsebene auch bemüht. Der Wald vor Verdun dient ihm zur Bestimmung einer Gegenwart, die ihm traumhaft erscheint. Allein seine Frau scheint ihm die Notwendigkeit zu bedeuten, an dieser Gegenwart teilzunehmen und ein Bild zu finden, das ihn auch außerhalb des Waldes bestimmt sein lässt. Es handelt sich dabei um die Bemühung eines Schriftstellers, dem die Bildlichkeit verloren gegangen ist, gerade in der (Kriegs-)Erfahrung, die nun evoziert und vermittelt sein will: „Die Wahrheit lag zwischen diesen beiden Polen irgendwo, aber, wie ein Weiser verzeichnete, nicht in der Mitte.“37 Dies spricht für das dialektische Denken, aber gegen die Dialektik als Prinzip. Damit kann die „Wahrheit“ nur der Anlass, nicht das Ziel der versuchten Rekonstruktion eines Sinnzusammenhangs sein: Was hatte der gescheite Sachse bemerkt, als die Franzosen schossen? „Wir“, hatte er gesagt, „wir sind vielleicht Äser.“ Wir: darin lag alles. Wer hatte sein Kochgeschirr einem Franzosen vor die durstigen Lippen gehalten – und recht damit getan? Und dann das hier …? Hoffnungslos, zur Wahrheit durchzudringen.38 Verdun – kein Vergleich – nur reine Absurdität: Der Wald ist eben die Dichte an Bäumen, und auch das eigene Gehirn lässt sich nur mittels seiner Teile bestimmen. Bertin ist ebenso wie Rönne der Subjekt-Objekt-Bezug verloren gegangen: „Immer enger zog ihn der Krieg an sich.“39 Zweig [Anm. 3], S. 39f. Ebd., S. 114. 37 Ebd., S. 493. 38 Ebd., S. 200. 39 Ebd., S. 104. 35 36
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In Fritz von Unruhs Verdun-Roman „Opfergang“ von 1916 heißt es: „Sag mir, was das ist, was wir alle erkämpft und gewonnen? Ist mir’s doch, als müßte die Heimat dadurch ganz anders sein!“40 Dies korrespondiert mit Bertins Selbstbefragung: „Vor ein paar Stunden hat er oben gegen die Gewalt gestritten, und jetzt berauscht er sich an ihr. Gibt es denn das? Denkt er. Geht das zusammen?“41 Genau dies ist das Schock-Erlebnis. Zweig selbst spricht in seiner „Bilanz der deutschen Judenheit 1933“ von der „Wiedereinsetzung des Gewaltprinzips“ 1914: In diesem Sinne erkennen wir zu allem Anfang: der Ursprung der heutigen Einstürze liegt in jenem Augenblick, als in das Leben Europas das Prinzip der Gewalt wiedereingesetzt wurde. Gleichsam rechtmäßig trat es auf und mit dem Anspruch, das einzige Mittel zur Lösung schwerer Streitfälle im Völkerleben zu sein: Einbruch des Krieges in die Welt von 1914.42 „Bertin hatte ähnliches nie auch nur geträumt.“43; „‚Dürfte ich mir leisten, so etwas zu erdichten? Und doch ist es wahr. Und wahr geht es weiter.‘“44 Vor dem psychischen Zusammenbruch gelingt es Bertin 1917 ein letztes Mal zu dichten, die „Kroysingnovelle“. Diesen Vorgang leitet Zweig unter der Kapitelüberschrift „Schreiben!“ ein und mit dem Satz: „Von jetzt an nehmen alle Dinge die scharfe Wirklichkeit von Traumbildern an, ihre festen Umrisse, ihre weich fließende Substanz.“45 Es wird Bertin und dem Leser im weiteren Verlauf nicht mehr klar werden, ob diese Novelle etwas taugt. Deutlich wird aber, dass das traumhafte Moment, das den Riss in der Wirklichkeit markiert, seitdem spricht. Für Zweig ist die Poesie der unvermeidliche „Fehler“, ihr gilt die ständige Revision. Zweigs Sprache steht damit auf verblüffende Weise in der Tradition der Moderne. Das Motiv der beiden Wälder birgt die Potenz der Dissoziation, des Schreckens, des scheiternden Versuchs, zwei Realitäten miteinander zu vereinbaren. Doch die daraus resultierende gesteigerte Bewusstwerdung mündet bestenfalls in den, nach Baudelaire, schreckhaften Aufschrei des Künstlers, ehe er in einem Duell, dem Schaffensprozess, besiegt wird: „Dem Schrecken preisgegeben, ist es Baudelaire nicht fremd, selber Schrecken hervorzurufen“46, so Walter Benjamin.
Fritz von Unruh: Opfergang, Frankfurt a. M. 1966, S. 153. Zweig [Anm. 3], S. 466. 42 Zweig [Anm. 7], S. 12. 43 Zweig [Anm. 3], S. 114. 44 Ebd., S. 180. 45 Ebd., S. 262. 46 Walter Benjamin: Über einige Motive bei Baudelaire, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I.2: Abhandlungen, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1976, S. 614‒616, hier S. 616. 40 41
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III. Abschließend soll noch einmal die für die „Erziehung vor Verdun“ so elementare Konstellation von Krieg und Exil in den Blick genommen werden. 1942 schrieb Zweig in der Exil-Zeitschrift „Orient“: „Die Erlebnisse eines Schriftstellers fallen in einen tiefen Brunnen, gleich metallenen Kugeln. Dort setzen sie Patina an, oxidieren, verbinden sich mit ihrer neuen Umgebung. Zieht man sie heraus, so sind sie meist verwandelt, auf ihren wesentlichen Nenner gebracht, kunstgerecht verwittert.“47 Man könnte dies auch als den Prozess der Rekonvaleszenz auf ganz eigene, dichterische Art und Weise bezeichnen; das Credo lautet: „Die Kunst war lang, und kurz war unser Leben.“48 Es ist die Stille, die auf Werner Bertins letzten Roman vor dem Kriegseintritt und dessen letzten Satz, „Solange man lebt, ist nichts endgültig“,49 folgen wird: „Mir aber sind die Augen aufgerissen. Und seither bin ich in Bewegung. Es kommt also nicht auf den Dichter an – vorläufig. Solange die Wirkungen dieses Krieges fortzittern, wird gewissenhaftes Zeugnis das Wichtigste sein für den, der davonkommt.“50 Zweig selbst kämpfte nach dem Ersten Weltkrieg jahrelang gegen das Verstummen. Hinzu kam seine Erblindung infolge einer im Krieg zugezogenen Augentuberkulose. Des Lesens und Schreibens nicht mehr mächtig, diktierte er seiner Sekretärin in stundenlangen Sitzungen seine Bücher, ohne zu stocken. Schon allein deshalb wird ihm Bertins letzter Satz ganz sicher nicht entgangen sein: „So, ganz so, nur viel dichter.“ Der Vergleich ist das sprachliche Ausdrucksmittel des Exils, ein Ort der Bewährung, und doch bleibt er, wie die verlorene Heimat, eine Idee der Gegenwart.
Arnold Zweig: Cinema Esther Pantomime, in: Orient 3 (1942), S. 1. Zweig [Anm. 31], S. 294. 49 Vgl. Zweig [Anm. 3]. Hier ließe sich die Dialektik des Traumas (vor-)formuliert sehen: „Verdun bleibt für Zweig dabei das zentrale Ereignis seines Lebens, das Trauma, das zur Folge hatte, dass er vom Ersten Weltkrieg nicht los kam und bis zum Ende seines Lebens ringen musste, um mit diesem Ereignis fertig zu werden. Es ist bezeichnend, dass der Romanzyklus, das gewaltige Epos ‚Der große Krieg der weißen Männer‘ nie vollendet werden konnte.“ (Köpke [Anm. 14], S. 368). 50 Zweig [Anm. 3], S. 180. 47 48
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Heinrich Mann „Henri Quatre“ (1935–1938) I. Deutschland und Frankreich Am 16. Februar 1933, einen Tag nachdem die Preußische Akademie der Künste eine Pressenotiz ausgegeben hatte, der zufolge Heinrich Mann, der Präsident der Sektion für Dichtkunst, in der Konsequenz eines Gespräches mit dem Akademiepräsidenten Max von Schillings die Akademie verlassen habe, schrieb die „Berliner Börsenzeitung“ über das Geschehen: Heinrich Mann glaubt immer noch an die französische Revolution […]. Wir aber wollen, daß in der Akademie endlich deutscher Geist herrsche, und daß in ihr Männer wirken, die sich dem deutschen Volk und seinem Ringen um eine Erneuerung des deutschen Lebens zu innerst verbunden fühlen.1 Wenngleich der Kommentar der Zeitung ein frühes Zeugnis jener faschistischen Ideologeme ist, welche die Presse wie das gesamte öffentliche Leben Deutschlands in den nachfolgenden Jahren durchdringen sollten, kann das Werk Heinrich Manns kaum treffender charakterisiert werden als mit einem Hinweis auf die Ideale der Revolution des Jahres 1789 und der ihnen im Diskurs des 19. und frühen 20. Jahrhunderts beigemessenen Bedeutungen und Einflüsse. In seiner Autobiographie „Ein Zeitalter wird besichtigt“, die im März 1946 erschienen ist, hält Heinrich Mann nicht nur die Erinnerung an jene vertrauliche, abendliche Sitzung fest, die ohne sein Wissen einberufen wurde und zu der er erst auf Drängen des Dichters Gottfried Benn zu späterer Stunde hinzu gebeten worden war; er verbindet seine Erinnerungen an diesen Abend auch mit einer Betrachtung über die Künstler und Intellektuellen, die seit dem aufgeklärten 18. Jahrhundert ihre Heimatländer verließen oder verlassen mussten und in der Fremde ein Exil fanden. Über das schwierige Verhältnis von Geist und Macht, Gedanke und Tat, Ideal und Wirklichkeit nachdenkend, schreibt er über den französischen Philosophen Voltaire:
1 Zit. nach: Hans Mayer: Einführung, in: Pierre Bertaux: Zur Entstehung des Henri Quatre. Heinrich Mann in den Pyrenäen, Berlin 1973 [Anmerkungen zur Zeit, hg. v. d. Akademie der Künste, H. 17], S. 3–8, hier S. 6f.
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Voltaire war eine europäische Macht, gleich, ob ein Staat ihn deckte. Die Höfe von Versailles und Potsdam hatten mit ihm zu rechnen; sie erwarteten Vorteile von seinem Ruf, und sie fürchteten ihn. Er sie auch, aber er besaß diplomatische Waffen wie sie und publizistische, die ihnen fehlten. Dagegen wird ein Zeitalter der staatlichen Propaganda eine ohnmächtige Literatur haben. Exiliert wird sie immer sein, ob draußen oder im Lande. Der offenkundige Landfremde wird zuletzt keine trüberen Demütigungen ausstehen als der scheinbar Beheimatete.2 Indem seine Memoiren auf Voltaire und den Einfluss der Schriften des Philosophen auf die politischen Debatten des vorrevolutionären Frankreichs rekurrieren, deutet Heinrich Mann die eigenen literarischen wie publizistischen Arbeiten in der Nachfolge der französischen Aufklärung sowie jener deutschen Intellektuellen, die sich vom Primat des Idealismus der klassischen und romantischen Tradition absetzend auf das Siècle des Lumières beriefen. Zugleich spiegelt sich in der autobiographischen Betrachtung nicht nur die Erfahrung des Exils, sondern auch die resignative Einsicht, dass der Literatur gegenüber den Massenmedien des 20. Jahrhunderts nur mehr eine untergeordnete Bedeutung im Ideenkampf der politischen Auseinandersetzung zukomme. II. Entstehung und Gattungsdiskurs Die ersten Jahre seines Exils verbrachte Heinrich Mann in Frankreich. Wenige Tage nach dem Ausschluss aus der Preußischen Akademie und noch vor dem Brand des Reichstages verließ der Schriftsteller seine deutsche Heimat und emigrierte über Sanary-sur-Mer nach Nizza, wo er bis 1940 lebte. An der Côte d’Azur entstand ein zweiteiliger Roman, der, indem er von dem Leben des guten Königs Heinrich erzählt, ein Panorama der französischen Geschichte im Zeitalter der Glaubenskämpfe des 16. Jahrhunderts entfaltet. Die Gestalt Heinrichs von Navarra hatte den Schriftsteller bereits seit einem Aufenthalt in den Pyrenäen im Sommer des Jahres 1927 beschäftigt, wie Pierre Bertaux in einer Rede, die er anlässlich des einhundertsten Geburtstages des Schriftstellers in der Akademie der Künste in Berlin hielt, berichtet.3 Die beiden 1935 und 1938 bei Querido in Amsterdam erstveröffentlichten Romane nehmen nicht nur im Werk Heinrich Manns eine herausragende Stellung ein. Sie zählen auch zu den großen historischen Romanen, welche die deutsche Literatur im 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Georg Lukács urteilt in seiner Schrift „Der historische Roman“ sogar, das Werk sei „das höchste Produkt“ dieser 2 3
Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt, Düsseldorf 1974, S. 348. Bertaux [Anm. 1], S. 16f.
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Gattung in der zeitgenössischen Literatur.4 Die Abhandlung des ungarischen Philosophen und Literaturwissenschaftlers, die zwar bereits 1936 und 1937 entstanden ist, jedoch erst 1955 in deutscher Sprache publiziert werden konnte, erscheint aus der Retrospektive als ein Beitrag zu einer umfangreichen Debatte, die unter den emigrierten Autoren in den dreißiger Jahren geführt wurde. Bereits im Dezember 1934 hatte der niederländische Schriftsteller Menno ter Braak in der Pariser Wochenschrift „Das Neue Tage-Buch“ einen Artikel veröffentlicht, in dem er forderte, die Exilliteratur müsse sich qualitativ von der durch das Dritte Reich geförderten Dichtung unterscheiden und damit alternative Perspektiven auf die geistes- und kulturgeschichtlichen Traditionen Deutschlands eröffnen.5 Die Diskussion wurde unter anderem von Ludwig Marcuse, Hans Sahl und Alfred Döblin aufgegriffen und fortgeführt. So publizierte Franz Carl Weiskopf in der Wochenschrift „Der Gegen-Angriff“ einen Beitrag unter dem Titel „Hier spricht die deutsche Literatur! Zweijahresbilanz der ‚Verbannten‘“, in dem er die literarische Auseinandersetzung mit historischen Stoffen als einen Rückzug aus der Gegenwart und ihren Problemen kritisierte: „Die Wahl eines historischen Stoffes bedeutet für einen emigrierten deutschen Schriftsteller in der Regel Ausweichen oder Flucht vor den Problemen der Gegenwart“, konstatiert er. „Flucht und Ausweichen sind keine Zeichen von Stärke. Das muß sich auch in den Werken der ausweichenden oder flüchtigen Autoren zeigen. Und es zeigt sich auch.“6 In der in Paris gehaltenen Rede „Vom Sinn und Unsinn des historischen Romans“ reagiert Lion Feuchtwanger auf diese Vorwürfe, indem er die literarische Gestaltung der Geschichte als Instrument zur „zeitlichen Distanzierung“ des „zeitgenössischen Weltbildes“ deutet.7 Der Mangel an Gegenwart und der regressive Blick auf die Vergangenheit, die von den Emigranten diskutiert wurden, ist auch von Heinrich Mann thematisiert worden. In dem Essay „Gestaltung und Lehre“ aus dem Jahr 1939, das nicht nur eine Betrachtung über die Möglichkeiten historischen Erzählens ist, sondern auch eine Selbstdeutung seines Romans beinhaltet, schreibt er: Wir werden eine historische Gestalt immer auch auf unser Zeitalter beziehen. Sonst wäre sie allenfalls ein schönes Bildnis, das uns fesseln kann, aber fremd bleibt. Nein, die historische Gestalt wird, unter unseren Händen, ob wir es wollen oder nicht, zum angewendeten Beispiel 4 Georg Lukács: Der historische Roman, Berlin 1955, S. 283. Vgl. hierzu auch Ulrich Kittstein: „Mit Geschichte will man etwas“. Historisches Erzählen in der Weimarer Republik und im Exil (1918–1945), Würzburg 2006, S. 169–193. 5 Menno ter Braak: Emigranten-Literatur, in: Das Neue Tage-Buch, 2. Jg., Nr. 52, vom 29. Dezember 1934, S. 1244f. 6 Franz Carl Weiskopf: Hier spricht die deutsche Literatur! Zweijahresbilanz der ‚Verbannten‘, in: Der Gegen-Angriff, 3. Jg., Nr. 19, vom 12. Mai 1935. 7 Lion Feuchtwanger: Vom Sinn und Unsinn des historischen Romans, in: Das Neue Tage-Buch, 3. Jg., Nr. 27, vom 6. Juli 1935, S. 640–643, hier S. 641.
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unserer Erlebnisse werden, sie wird nicht nur bedeuten, sondern sein, was die weilende Epoche hervorbringt oder leider versäumt. Wir werden sie den Mitlebenden schmerzlich vorhalten: seht dies Beispiel.8 Heinrich Mann negiert eine Sonderstellung des historischen Romans, indem er, in der Nachfolge hegelscher Denkfiguren, das literarische Kunstwerk als Beitrag zu dem Diskurs jener Zeit deutet, während derer es entstanden ist. Der zweiteilige Roman um den guten König Heinrich ist in der Interpretation des Autors somit nicht – in der Nachfolge der spätzeitlichen Verlaufsformen der Romantik der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – als Flucht aus einer als defizitär verstandenen Gegenwart zu verstehen, sondern als Beispiel, als exemplum im Sinne jener mittelalterlichen Moralisten, die kurze Erzählungen historischen Charakters als persuasive rhetorische Strategie nutzten.9 In diesem Sinne bemerkt Helmut Koopmann über den Roman: „Ein historischer Roman im strengen Sinne ist Heinrich Manns Buch allerdings nie gewesen und wollte es auch gar nicht sein. Denn was Heinrich Mann beschrieben hatte, war im Grunde genommen die Legende des großen Henri.“10 Formal wird das (Vor-)Bildhafte des literarischen Geschehens einerseits durch Kommentare und Deutungen des Erzählers herausgestellt, mit denen der Leser unmittelbar angesprochen und zur Reflexion über Handlung wie Figurenreden angeregt wird, zum anderen durch die in der „Jugend des Königs Henri Quatre“, also in dem ersten Band des Romans, jedes Kapitel beschließenden „Moralités“, die als Paratexte die wesentlichen Gedanken des vorangegangenen Erzählabschnittes noch einmal zusammenfassen und, indem sie in französischer Sprache gehalten sind und damit den epischen Fluss unterbrechen, die auktoriale Intentionalität herausstellen. Die „ausdrückliche Wendung an den Leser“ beinhaltet zugleich eine Distanzierung von jenen Formen der Gattung des historischen Romans, die seit den Werken des schottischen Schriftstellers Sir Walter Scott eine Vergangenheit durch die Identifikation des Lesers mit den handelnden Figuren evoziert haben.11 Insbesondere das ebenfalls in französischer Sprache abgefasste Schlusskapitel, in dem der tote König „von der Höhe einer Wolke“ eine Ansprache an die Nachgeborenen richtet, durchbricht die Illusion der geschichtlichen Authentizität, auf die der historische Roman stets Bezug nimmt, und lenkt so
Heinrich Mann: Gestaltung und Lehre, in: ders.: Verteidigung der Kultur, Hamburg 1960, S. 516. Vgl. hierzu Ulrich Stadler: Von der Exemplarursache zur Dialektik. Über den Gleichnischarakter von Heinrich Manns „Henri-Quatre“-Romanen, in: Literaturwissenschaft und Geschichtsphilosophie. Festschrift für Wilhelm Emrich, hg. v. Helmut Arntzen [u. a.], Berlin / New York 1975, S. 539–560 sowie Kittstein [Anm. 4], S. 188. 10 Helmut Koopmann: Der Sieg des guten Königs, in: Romane von gestern – heute gelesen, Bd. 3: 1933–1945, hg. v. Marcel Reich-Ranicki, Frankfurt a. M. 1990, S.179–185, hier S. 180. 11 Kittstein [Anm. 4], S. 188. 8 9
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die Aufmerksamkeit auf das paradoxe Verhältnis von historischer Wahrheit und erzählerischem Anspruch, das der Gattung immanent ist.12 Auf diese Weise unterläuft der Roman die Bereitschaft des Lesers zu Mitgefühl und Identifikation und erzeugt stattdessen eine kritische Distanz, welche die Analogien zwischen der Geschichte Frankreichs im Zeitalter der Glaubenskriege und dem nationalsozialistischen Deutschland sichtbar werden lässt. Die Vergangenheit dient als ein zwar indirekter, aber gleichwohl evidenter Kommentar zum Zeitgeschehen.13 III. Biographisches Narrativ und Erzähler Das biographische Narrativ, das Heinrich Mann in der Figur des französischen Königs Heinrich von Navarra (1553 bis 1610) zum Gegenstand seines Doppelromans macht, steht zudem im Widerspruch zu den theoretischen Reflexionen, die den Gattungsdiskurs des historischen Romans seit dem 19. Jahrhundert in Deutschland bestimmt haben. So konstatiert der Philosoph und Literaturwissenschaftler Friedrich Theodor Vischer in seiner 1846 erstveröffentlichten „Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen“, dass das „große Schicksal der Völker und das Bild der politischen Charaktere“ lediglich „Hintergrund und Mittelgrund bleiben“ und dass „der Romanheld im Vordergrund“ nicht „historisch bedeutend sein“ dürfe, weil der „Roman einmal das Allgemeine, genreartig Namenlose des Privatlebens, das rein Menschliche der Persönlichkeit zum Inhalt“ habe.14 Das historische Geschehen, das bei Heinrich Mann erzählerisch reflektiert wird – womit der Schriftsteller sein Werk auch zu einem Beitrag zu jener Debatte über das Verhältnis von epischer Erzählung und Geschichtsschreibung macht, die seit der „Poetik“ des Aristoteles in der abendländischen Dichtungstheorie geführt worden ist – steht jedoch keineswegs im Zentrum des Romans. Mann entfaltet kein Panorama der französischen Geschichte des 16. und frühen 17. Jahrhunderts, sondern wählt für seinen Roman die biographische Form: Der Lebensweg des Königs, beginnend mit seiner Herkunft aus Pau in der Gascogne, am Fuße der französischen Pyrenäen, und endend mit seinem ebenso gewaltsamen wie rätselhaften Tod in Paris, bildet stattdessen den „Leitfaden der Erzählung“ und ihren
Heinrich Mann: Die Vollendung des Königs Henri Quatre. Roman, Hamburg 1962, S. 979. Vgl. hierzu Wolf Jöckel: Heinrich Manns „Henri Quatre“ als Gegenbild zum nationalsozialistischen Deutschland, Meisenheim am Glan 1977 [Deutsches Exil 1933–45. Eine Schriftenreihe, Bd. 9], Peter Sprengel: Teufels-Künstler. Faschismus und Ästhetizismus-Kritik in Exilromanen Heinrich, Thomas und Klaus Manns, in: Exilliteratur 1933–1945, hg. v. Wulf Köpke u. Michael Winkler, Darmstadt 1989 [Wege der Forschung, Bd. 647], S. 424–450 und Helmut Koopmann: Der gute König und die böse Fee. Geschichte als Gegenwart in Heinrich Manns „Henri Quatre“, in: ebd., S. 300–332. 14 Friedrich Theodor Vischer: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 6: Kunstlehre, 2. Aufl., München 1923, S. 188. 12 13
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Gegenstand.15 Das Zeitalter der Glaubenskriege dient lediglich als Hintergrund der sich entwickelnden Lebensgeschichte des Helden. Die Bedeutung dieses Entwicklungsgedankens ist bereits in den Titeln der beiden Teile des Romans „Die Jugend des Königs Henri Quatre“ und „Die Vollendung des Königs Henri Quatre“ angelegt und wird zudem durch die sorgsam psychologisierende, auf das Individuum sich konzentrierende Erzählweise hervorgehoben. Zum einen hat die Fokussierung der wirkungsgeschichtlichen Debatten auf das Genre des historischen Romans, die bereits unter den deutschen Schriftstellern im Exil zu beobachten ist, die psychologische Dimension, die den Text in die Tradition des Entwicklungsromans einreiht, überlagert. Zum anderen aber ist die Erzähl(er)haltung wesentlich so angelegt, diesen Aspekt des Werkes zu überblenden: Wenngleich der Erzähler im Sinne einer auktorialen Perspektive einen gesamten Überblick über das Geschehen hat, Handlungen und Figurenreden direkt wie indirekt einordnet und sowohl das Vergangene als auch das Zukünftige im Prozess des Erzählens in Analepsen und Prolepsen reflektiert, wahrt er eine unüberbrückbare Distanz zu dem Geschehen, von dem er berichtet.16 So werden zwar die Gedanken und Stimmungen, die Gefühle und Motivationen Heinrichs sowie anderer Figuren dargestellt, indem aber die Sprache expressiver Emphasen und Wendungen entkleidet ist und auf eine metaphorische Dimension verzichtet, indem die Entwicklungen, Ereignisse, Begegnungen und Gespräche in großer Ausführlichkeit geschildert werden, indem eine bildhafte, szenische Erzählform Verwendung findet, die von monologischen Momenten geprägt ist, gewinnt die Darstellungsweise eine Statik und serielle Gleichförmigkeit, die, weil sie die Erzählverfahren hagiographischer Texte zitiert, mit dem exemplarischen Gehalt des Erzählten korrespondiert. Obwohl der Roman die innere Befindlichkeit der Figuren thematisiert und nicht bei ihrer äußeren Haltung verharrt, obwohl er das Individuelle herausarbeitet und nicht das Typische im Sinne ethopoetischer Definitionsskizzen, besteht das Werk aus einer Abfolge einzelner Sequenzen, die an jene fortlaufenden Wandbilder in den Kirchen des frühen Mittelalters erinnern, auf denen die biblische Geschichte erzählt wird. Die Tableaus, die auf diese Weise entstehen, stellen ebenfalls das Beispielhafte der Handlung heraus. Die „Henri-Quatre“-Romane können deshalb auf Anachronismen als Verfahren historischen Erzählens verzichten, die seit dem 19. Jahrhundert zum Repertoire der Gattung gehören, weil die Hervorhebung eines Archaischen, Überzeitlichen mit Hilfe dieser alternativen Erzählstrategien gelingt.
15 Kittstein [Anm. 4], S. 178. Vgl. außerdem Renate Werner: Transparente Kommentare. Überlegungen zu historischen Romanen deutscher Exilautoren, in: Exilliteratur 1933–1945 [Anm. 13], S. 355–393. 16 Vgl. hierzu Ilse Grieninger: Heinrich Manns Roman „Die Jugend und Vollendung des Königs Henri Quatre“. Eine Strukturanalyse, Mannheim 1970, S. 162–173.
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Das Paradoxe an der zur Legende erhöhten Lebensgeschichte des guten Königs, wie Heinrich Mann sie erzählt, ist die Tatsache, dass es sich um einen historischen Roman handelt, der das Wesen des Historischen leugnet. Das Werk unternimmt nicht den Versuch, die Gestalt eines geschichtlichen Herrschers mit den Mitteln und Möglichkeiten des Fiktiven zu ergründen, seine Antriebskräfte bloßzulegen und die Umstände seines Handelns begreifbar zu machen. Indem von einem lange vergangenen, aber beispielhaften Leben erzählt wird, thematisiert es vielmehr das Paradigmatische und Überzeitlich-Allgemeingültige des Geschehens. Wenngleich der Roman solchermaßen durch Analogien auf die Gegenwart verweist, ist er jedoch nicht als Beitrag zu den geschichtsphilosophischen Diskursen zu lesen, welche die deutsche Literatur seit der Romantik geführt hat. Denn obwohl die Parallelen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart für eine Revision des optimistischen Glaubens an die Perfektibilität des Menschen im historischen Prozess sprechen, beharrt das Werk in der Nachfolge der französischen Aufklärung auf der Hoffnung, dass die kritische Reflexion über die Vergangenheit die Selbstermächtigung der menschlichen Vernunft in der Gegenwart befördern möge. Explizit wird diese Intentionalität auch in der Selbstdeutung des Romans, die Heinrich Mann 1939 in der Exilzeitschrift „Internationale Literatur“ veröffentlicht hat. Die Geschichte Frankreichs und Deutschlands einander paradigmatisch gegenüber stellend, heißt es in dem Aufsatz: Die Deutschen haben in ihrem „Dritten Reich“ die Erlaubnis nicht, die beiden Romane von der „Jugend“ und der „Vollendung“ des französischen Königs zu lesen, sonst sollten die Romane ihnen sagen: Gebt euch nicht voreilig hin! Hier hat einer lange dienen und sich vor seinem Volk bewähren müssen, bis es ihn anerkannte als seinesgleichen – gewiß hinausgeschoben über andere, aber bescheiden und stolz genug, um für sie arbeiten zu wollen, nur insofern auch für sich, was ein Merkmal der wahren Größe ist. Falsche Größen arbeiten für sich allein, sie opfern die Völker ihrem unanständigen Gelüst und leeren Wahn. Das Volk von Frankreich hat während der Herrschaft seines Königs Henri einige Duldsamkeit der Meinungen in sich ausgebildet mitsamt dem Sinn für Gerechtigkeit und Freiheitsliebe. Die Anlagen brachte es wohl mit, seine spätere Geschichte ist von ihren Wirkungen voll.17
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Mann [Anm. 8], S. 521.
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IV. Gegenwart und Vergangenheit In „Gestaltung und Lehre“ thematisiert Heinrich Mann jedoch nicht nur das Verhältnis von deutscher und französischer Geschichte als dialektisch aufeinander bezogene Muster einer möglichen historischen Erkenntnis. Seine Selbstdeutung fokussiert auch die Gestalt des Königs Heinrich im Sinne jener speziellen „Befähigung zur Wertschätzung der Größen aller Zeiten und Richtungen“, die das 19. Jahrhundert hervorgebracht hat, wie Jacob Burckhardt in dem Kapitel „Die historische Größe“ seiner „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ formuliert.18 In der Nachfolge des Exempels und der Legende erzählt der Doppelroman von dem beispielhaften Leben eines guten Königs und schreibt zugleich jenen kulturhistorischen Diskurs fort, der seit der späten Aufklärung die Bedeutung der Persönlichkeit für den Prozess der Geschichte behauptet und sich philosophisch in Ralph Waldo Emersons Essays „Representative Men“ aus dem Jahr 1850 ebenso abzeichnet wie in Stefan Zweigs im Jahr 1927 veröffentlichten „Sternstunden der Menschheit“. Auf diese Weise kontrastiert die Fokussierung der feudalen Gesellschaft auf einen, in der letzten Konsequenz göttlich legitimierten Herrscher und die damit verbundene Idee einer Gemeinschaft, die durch die Verantwortung des Stärkeren für den Schwächeren definiert wird, mit den Erfahrungen der totalitären Herrschaft des Nationalsozialismus in der eigenen Gegenwart. Die Figur Heinrich IV. ist, sowohl in der Anlage ihres Charakters als auch in der um Verantwortung bemühten Ausübung ihrer Macht, deshalb als eine komplementäre Figur zu Adolf Hitler zu lesen.19 „Bewahrt euch all euren Mut, mitten im fürchterlichen Handgemenge, in dem so viele mächtige Feinde euch bedrohen“, sagt Heinrich in diesem Sinne auf die Gegenwart des 20. Jahrhunderts rekurrierend. „Es gibt immer Unterdrücker des Volkes, die habe ich schon zu meiner Zeit nicht geliebt, kaum, daß sie ihr Kleid gewechselt haben, keineswegs aber ihr Gesicht.“20 Indem der Roman die historische Wirklichkeit überzeichnet und zu einer Legende überhöht, entsteht das Idealbild einer zwar absoluten, aber gerechten Regierungsgewalt als „Gegenbild einer immer mehr sich verdüsternden Zeit“.21 Der Roman zitiert somit auch ein geschichtsphilosophisches Muster, das seit der Romantik in der deutschen Literatur wiederholt aufgegriffen worden ist: Der Blick in die Vergangenheit meint eine Utopie und verweist als solche auf die Möglichkeiten einer kommenden Zeit. Er ist weder als Ausdruck eines regressiven Eskapismus noch als Verwirklichung fordernde Zukunftsvision zu lesen, Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, hg. v. Rudolf Max, Stuttgart 1955, S. 212. Vgl. Sprengel [Anm. 13], S. 430f. sowie Thomas Koebner: Die Fiktion vom guten Herrscher. Heinrich Manns Roman „Henri Quatre“, in: ders.: Unbehauste. Zur deutschen Literatur in der Weimarer Republik, im Exil und in der Nachkriegszeit, München 1992, S. 261–271. 20 Mann [Anm. 12], S. 981f. 21 Koopmann [Anm. 10], S. 181. 18 19
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vielmehr ist sein humanistischer Idealismus als utopische Antithese eine kritischreflexive Kontrafaktur der fragwürdigen und bedrohlichen Entwicklungen der europäischen Zivilisation in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts. In der Ambivalenz aber von negativem Spiegel und positivem Beispiel zeigt sich jene Haltung, die auch andere historische Romane des deutschsprachigen Exils, wie Stefan Zweigs „Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam“ (1934) oder Lion Feuchtwangers „Der falsche Nero“ (1936), programmatisch bestimmt hat und die ein wesentliches Merkmal der Gattung ist. Wenngleich Heinrich Mann bereits in den späten zwanziger Jahren, nachdem er angefangen hatte, sich mit der Gestalt Heinrichs von Navarra zu beschäftigen, an dem Roman gearbeitet hat, gewinnt das Werk erst Kontur mit dem Abschied des Schriftstellers von seiner deutschen Heimat und der Übersiedlung in das französische Exil. Die Fiktion einer Vergangenheit und das in ihr implizit aufscheinende Wunschbild einer Gesellschaft aus dem Bewusstsein ihrer kulturellen Herkunft wird – so kann die Entstehungsgeschichte des Werkes individualpsychologisch gedeutet werden – für den Schreibenden zu einem Regressionsraum. Die zeitlich weit entfernte Herrschaft eines gerechten Monarchen wird jedoch nicht aufgrund ihres Widerstandspotentials entfaltet. Die Legende, die in der Apotheose Heinrichs auch textimmament als solche ausgewiesen wird, bleibt eine Imagination, ein der dunklen Wirklichkeit mühsam abgerungenes Gedankenspiel, das dem Leser mit den Schlussworten „Wie ein Vorhang schließt sich die goldene Wolke wieder über dem König“ auch als solches noch einmal bewusst gemacht wird.22 Weil es aber im Exil für Heinrich Mann keine Notwendigkeit gab, seine Erzählung historisch zu verklausulieren, zeigt sich, dass er über die Vergangenheit Frankreichs schrieb und nicht über die Gegenwart Deutschlands, dass er einen historischen Roman verfasste und keinen Zeitroman, weil ihm – wie auch den anderen Emigranten – der direkte Kontakt, die Anschauung der politischen Verhältnisse und ihrer alltäglichen gesellschaftlichen Implikationen im Deutschen Reich fehlte. Weil die deutsche Gegenwart dem Exilanten fremd war und mit der Dauer seiner Heimatlosigkeit fremder wurde, ist der Un-Ort der Vergangenheit in dem Doppelroman auch ein Sinnbild für die persönliche Tragik, die mit der Vertreibung einer ganzen Generation von Künstlern und Intellektuellen aus dem Herrschaftsbereich des Nationalsozialismus verbunden ist. In diesem Sinne beendet der Erzähler die Lebensgeschichte Heinrichs von Navarra mit dem auf das Potential der Fiktion verweisenden Gedanken: „Seul roi de qui le pauvre ait gardé la mémoire.“23
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Mann [Anm. 12], S. 983. Ebd., S. 974.
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Bruno Frank „Der Reisepaß“ (1937) I. Donquijoterie des Schreibens Als Bruno Frank im Herbst 1935 begann, an seinem Roman „Der Reisepaß“ zu arbeiten, war er im Begriff, einer der wenigen erfolgreichen deutschen Autoren im Exil zu werden: Seine in der Zeit der Weimarer Republik entstandenen Theaterstücke, die sein Talent für kultivierte Unterhaltung gezeigt hatten, spielte man in englischen und französischen Bearbeitungen. Währenddessen lebte er abwechselnd in London und in der Nähe von Salzburg. Ab Anfang 1936 wurde „Storm in a Teacup“, die englische Fassung von Franks in Deutschland erfolgreichster Komödie „Sturm im Wasserglas“, in London gegeben – ein großer Bühnenerfolg, denn insgesamt wurde das Stück in dieser Inszenierung 432 Mal gespielt.1 Bruno Frank wurde zu einem Liebling des englischen Publikums. Unter den exilierten Schriftstellern nahm er auf diese Weise eine Sonderstellung ein, die am 15. Mai 1936 durch eine Privatvorstellung von „Sturm im Wasserglas“ vor Edward VIII. in Anwesenheit des Autors gekrönt wurde.2 Das dürfte für einen in Deutschland verfemten Künstler eine besondere Genugtuung gewesen sein. Damit ist die äußere Situation umrissen, in der Bruno Frank sich seinem zweiten im Exil verfassten Buch zuwandte, nachdem er 1934 einen biographischen Roman über Miguel de Cervantes veröffentlicht hatte.3 Ludwig Marcuse offenbarte er nun, wie sehr er dennoch von existenziellen Zweifeln geplagt wurde: „Ich stehe jetzt auch (nach vielen, vielen Krankheitswochen) am Beginn einer neuen größeren Arbeit und muß jeden Tag die Krähen mit ihrem Wozu-Gekrächz wegscheuchen.“4 Trotzdem: So wie es Frank 1928 mit der „Politischen Novelle“5 eine Erzählung über zeitgenössische Außenpolitik zu schreiben gedrängt hatte, so trieb es ihn jetzt mehr denn je dazu, sich mit dem gegenwärtigen Deutschland auseinanderzusetzen. Für das Regime, das sich im Jahr der Olympiade in Berlin sogar einiger Anerkennung im Ausland erfreute, fand Frank ein paar Monate später anlässlich des dritten Jahrestags der Bücherverbrennung unmissverständliche Worte. Deren Botschaft sei gewesen: „Welt blicke auf! Hier kommt nicht 1 Vgl. James M. Ritchie: Exiltheater in Großbritannien, in: Handbuch des deutschsprachigen Exiltheaters, Bd. 1: Verfolgung und Exil deutschsprachiger Theaterkünstler, hg. v. Frithjof Trapp [u. a.], München 1999, S. 341–364, hier S. 354. 2 Vgl. Das Neue Tage-Buch, 4. Jg., H. 21, 23. Mai 1936, S. 503. 3 Vgl. Bruno Frank: Cervantes. Ein Roman, Amsterdam 1934. 4 Bruno Frank an Ludwig Marcuse, 31. Oktober 1935, in: Briefe von und an Ludwig Marcuse, hg. v. Harold von Hofe, Zürich 1975, S. 22–23. 5 Vgl. ders.: Politische Novelle, Berlin 1928.
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ein Regime wie andere auch. Hier kommt das Halbtier, das stolz darauf ist, es zu sein, dem Recht, Gesittung, Kunst, menschlicher Anstand, lauter Greuel sind. Es möchte zurück in die Zeit, da man sich mit Steinbeilen die Schädel einschlug.“6 Über die deutsche Diktatur urteilte er mit den Maßstäben der Weltgeschichte und beschwor die von Alfred Kantorowicz 1934 in Paris gegründete „Bibliothek der verbrannten Bücher“ demgegenüber als Ort der Erinnerung, der die von den Nationalsozialisten intendierte damnatio memoriae überdauern werde: „So wurden einst die Manuskripte der Antike in die Klöster gerettet, als vor anderthalb Jahrtausenden die Barbaren die Säulenstädte zerstampften. Es ist ewig der gleiche dumpfbrüllende Feind.“7 In einem Brief vom Juli 1936 gestand Bruno Frank Arnold Zweig, er arbeite im Bewusstsein der völligen Sinnlosigkeit seines Tuns stetig an seinem Roman. „Es hat zwar sicherlich keinen Sinn, dergleichen zu schreiben, denn die Welt will ihren Untergang. Aber ohne diese Donquixoterie des ‚Dicere et animam salvere‘ möchte man nicht mehr leben. Man möchte so wie so kaum.“8 Als Erleichterung von innerer Qual empfand er das Schreiben vor allem – weniger als kämpferisches Bekenntnis, wie Klaus Mann in einem Geburtstagsartikel auf Bruno Frank glauben machen wollte.9 In den ersten beiden Monaten des Jahres 1937 feilte er noch immer an dem Roman, ohne dass er grundsätzliche Zweifel abschütteln konnte: Meine Ängstlichkeit und Akribie dabei werden allmählich manisch. Ich schreibe jedes Kapitel vier und fünf Mal. Dieses Büchlein von 3 oder 400 Seiten wird eigentlich 2000 haben. Ich habe auf Schritt und Tritt das Gefühl, in dünnes Eis einzubrechen. Das Amalgam von Zeitgeschichte und eigentlichem Roman ist kaum herzustellen. Ein lesenswertes Produkt wird es am Ende schon sein. Ich hoffe, Querido kann es im Frühjahr bringen. ‚Si printemps aura bien.‘10 Nicht stilistische Fragen bereiteten ihm am Ende Sorgen, sondern die Romankonstruktion. Und doch: Das treffende mit dem kultivierten Wort zu vereinbaren, gelang ihm in diesem Fall nicht immer; zu sehr wurde „Der Reisepaß“ vom Hass auf die deutschen Machthaber durchdrungen. Nur äußere Notwendigkeiten brachten ihn dazu, einige drastische Formulierungen zu streichen und so seinen
6 Ders.: [Zum dritten Jahrestag der Bücherverbrennung], in: Pariser Tageblatt, 4. Jg., Nr. 887, Sonntags-Beilage, 10. Mai 1936, S. 3. 7 Ebd. 8 Bruno Frank an Arnold Zweig, 8. Juli 1936, Stiftung Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Arnold-Zweig-Archiv 10313. 9 Vgl. Klaus Mann an Bruno Frank, [12. Juni 1936], in: Klaus Mann: Briefe und Antworten 1922–1949, hg. und mit einem Vorwort v. Martin Gregor-Dellin, überarb. und akt. Neuauflage, München 1987, S. 262–265. 10 Bruno Frank an Thomas Mann, 6. Januar 1937, Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich, 68.100.
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Verleger Fritz Landshoff zu schützen, der für die deutsche Abteilung des holländischen Querido Verlags verantwortlich war. Frank empfand Ekel, wenn es um Hitler ging. Thomas Mann gegenüber nahm er kein Blatt vor den Mund: Ich habe jetzt die unangenehme Aufgabe, in meinem Roman so weit herumzumildern, dass er in Holland eben noch, knapp und knappest, publikabel erscheint. Damit Landshoff nicht, wegen Beleidigung eines befreundeten ‚Staatsoberhauptes‘ in’s Cachot kommt. Es ist mir bitter leid um jeden ‚spit‘ in diese unsägliche Fresse.11 Nun brach sich der in vier Jahren angestaute Abscheu Bahn. Frank prophezeite, das Buch werde ihm zu jenem „Ausbürgerungs-Orden“12 verhelfen, den die Nationalsozialisten Thomas Mann bereits „verliehen“ hatten – diesem war die deutsche Staatsangehörigkeit im Dezember 1936 aberkannt worden. Am 13. März 1937 schließlich erschien der Anfang von „Der Reisepaß“ als Vorabdruck in Leopold Schwarzschilds Exilzeitschrift „Das Neue Tage-Buch“; ihm folgten zwei Kapitel aus dem dritten und letzten Teil des Buches: „Westminster Hall“ und „LeseDom“.13 Mit der Wahl dieser Abschnitte, die man als Verneigung vor England verstehen konnte, deutete Bruno Frank an, welchem Land er die Verteidigung der europäischen Zivilisation am ehesten zutraute. II. Zeitroman: Politisierung der Kunst und konservative Opposition Bruno Franks zweiter Exilroman bedient sich eines ungewöhnlichen Anklägers als Hauptfigur: Frank erfand den deutschen Prinzen Ludwig von SachsenCamburg, der in Opposition zu Hitler-Deutschland gerät. Die Wahl dieses Helden brachte zwei Rezensenten aus der Familie Mann ins Grübeln. Doch mochten weder Klaus noch Golo dem Buch ihre Sympathie versagen. Klaus urteilte: Es muß Franks Absicht gewesen sein – und wir möchten sie fast als eine dichterische Laune bezeichnen –, uns als antifaschistischen Kämpfer diesen Prinzen-Jüngling vorzuführen: diesen Ausnahmefall, dieses nicht-typische Exemplar. […] Übrigens verdankt dem Umstand von Ludwigs fürstlicher Herkunft das Buch einen Teil seiner poetischen Reize – in den realistisch-politischen Roman kommt durch dieses
Ebd., Bruno Frank an Thomas Mann, 26. Januar 1937. Ebd., Bruno Frank an Thomas Mann, 6. Januar 1937. 13 Vgl. Bruno Frank: Der Reisepaß, in: Das Neue Tage-Buch, 5. Jg., H. 11, 13. März 1937, S. 259–261; ders.: Westminster Hall, in: ebd., H. 12, 20. März 1937, S. 283–285; ders.: Lese-Dom, in: ebd., H. 14, 3. April 1937, S. 328–331. 11
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Prinzen-Motiv ein Element und Einschlag von Märchenhaftem und von abenteuerlicher Helden-Chronik.14 Er fürchtete sogleich, die märchenhaften Elemente zu stark betont zu haben und korrigierte sich: „Zunächst und vor allem bewundere ich den ‚Reisepaß‘ als politischen Roman großen Stils: als ein anklagendes und klärendes, die Wahrheit mit Mut und tapferer Deutlichkeit präzise aussagendes Werk.“15 Auch Golo Mann betrachtete den Roman politisch. Er hob die Kompromisslosigkeit des Autors hervor: „Frank zeigt eine Direktheit des Abscheus, des Hasses, der Courage, welche an die Grenze des polizeitechnisch Möglichen geht. Er nennt die Dinge beim Namen.“16 Wohl zweifelte er, dass es Prinzen wie Ludwig gebe – doch wisse Bruno Frank um dessen Fragwürdigkeit: „Sein Held präsentiert sich eher als ein Ausnahmefall; die Kritik des Verhaltens der deutschen Oberschicht, auf die man dem Autor gegenüber pochen könnte, ist dem Buche immanent.“17 Der eigentliche und bis zum Schluss unerschütterliche Repräsentant der monarchischen Tradition ist bezeichnenderweise Prinz Ludwigs bürgerlicher Hauslehrer Doktor Steiger. Sein Monarchismus erscheint zunächst positiv, weil er Respekt vor dem europäischen Kulturerbe bedeutet. Aber schon zu Beginn des Romans, bei der Beisetzung von Ludwigs Mutter, wird deutlich, dass wahrer Adel auch für Steiger nicht in der aristokratischen Abkunft besteht, sondern im „Adel des Geistes“. Die Trauerfeier findet unter Teilnahme des europäischen Adels statt; der Hauslehrer beobachtet die Gäste: Dieser Monarchist sah in dem zarten, schönen, hochbeanlagten Knaben etwas, was es auf Erden sonst kaum mehr gab: einen wirklichen Fürsten. Er hatte die Trauergäste, von denen Ludwig so respektlos sprach, selbst eingehend und sehr kritisch gemustert. Er fand sie, mit zwei oder drei Ausnahmen, grenzenlos ordinär. Er fand auch den Erbprinzen ordinär.18 Die Aristokratie, der Ludwig entstammt, hat sich überlebt; das Haus SachsenCamburg ist bedeutungslos geworden. Für Ludwigs Vater hat nur noch seine Münzsammlung ideellen Wert. Bei Ankäufen wird er von dem Frankfurter Antiquar Jacques Wetzlar beraten. Die numismatische Leidenschaft des Vaters 14 Klaus Mann: „Der Reisepaß“, in: Das Neue Tage-Buch, 5. Jg., H. 23, 5. Juni 1937, S. 547–548; zit. nach ders.: Das Wunder von Madrid. Aufsätze, Reden, Kritiken 1936–1938, hg. v. Uwe Naumann und Michael Töteberg, Reinbek bei Hamburg 1993, S. 193–198, hier S. 195. 15 Ebd., S. 196. 16 Golo Mann: Der Reisepaß, in: Die neue Weltbühne, 6. Jg., Nr. 27, 1. Juli 1937, S. 846–849, hier S. 847. 17 Ebd., S. 847f. 18 Bruno Frank: Der Reisepaß. Roman, Amsterdam 1937, S. 26f.
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weckt immerhin Ludwigs kunstgeschichtliches Interesse. Dieser Sphäre steht die erstarkende nationalsozialistische Bewegung gegenüber, zu der sich Ludwigs älterer Bruder, der Erbprinz, bekennt: August gehört der SA an.19 Während der Feier des 25-jährigen Thronjubiläums des Herzogs im Jahr 1930 beleidigt er den Juden Wetzlar, der dem Herzog ein äußerst seltenes Stück schenkt. Wetzlars Tochter Ruth bricht daraufhin in Tränen aus. Sie und ihr Vater verkörpern im Roman die Leiden der deutschen Juden: „Der Kummer über den Schimpf, der ihrem Vater, ihr, ihrem Volk, vorhin bei Tafel angetan worden war, stürzte in lautloser, salziger Flut aus ihren dreitausendjährigen Augen.“20 Ludwig studiert Kunstgeschichte, fasziniert von der Persönlichkeit seines akademischen Lehrers Johannes Rotteck. Das Studium wird ihm zur echten geistigen Leidenschaft. Er spürt, wie Kunst aus dem Leben erwächst und es steigert – sie sei „Daseinsextrakt, Aufschrei, Trost und Nahrung“,21 heißt es an dieser Stelle. Er wird von Rotteck damit betraut, einen Katalog der Portraits von Francisco de Goya zusammenzustellen. Der Lehrer mahnt seinen Schüler ob dessen allzu dürrer und erbötiger Bildbeschreibungen, seine Autoritätshörigkeit abzulegen: „Sie haben so eine Neigung zu ehrerbietiger Verschwommenheit und stiller Demut. In solcher Haltung haben sich die Herren Deutschen allzeit dem Thron genähert.“22 Als Ludwig mit einer nationalsozialistischer Ideologie gehorchenden Interpretation von Dürers berühmtem Kupferstich „Ritter, Tod und Teufel“ konfrontiert wird, erkennt der Prinz, dass man auch Kunstwerke vor politischer Vereinnahmung bewahren muss: Der mutige Ritter, hieß es da mit stammtischhafter Direktheit, sei natürlich das ernste, würdige, heilig unbeirrbare deutsche Volk. In der öden Larve des Todes habe der Nürnberger Meister, der ‚deutschblütigste‘ unter allen, nichts anderes dargestellt als den drohenden Kommunismus, der wenig nachher in der Bauernrevolution grausig sein Haupt erhoben, in der scheußlichen Fratze des Teufels aber, mit dem Sichelhorn auf dem difformen Schweinsschädel, selbstverständlich den Juden. […] Dann aber wurden die seherischen Qualitäten Albrecht Dürers gerühmt, über Jahrhunderte hin habe der deutschblütige Meister das Geschick seiner Nation vorweggenommen, und es fehlte nicht viel oder eigentlich garnichts, so wurde der stille Ritter zu einem prophetischen Portrait Adolf Hitlers erklärt.23 19 Bruno Frank dürfte diese Figur nach dem Vorbild des Prinzen August Wilhelm von Preußen (1887–1949) gezeichnet haben, dem vierten Sohn Wilhelms des II., der 1931 in die SA aufgenommen worden war. 20 Frank [Anm. 18], S. 41. 21 Ebd., S. 48. 22 Ebd., S. 51. 23 Ebd., S. 55.
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Nachdem Rottecks Vorlesung über Cranach im Mai 1933 in der Fiktion des Zeitromans von nationalsozialistischen Studenten gesprengt wird, emigriert der Gelehrte auf Drängen Ludwigs nach Prag. Diese Ereignisse sensibilisieren den Prinzen politisch. Schließlich wird Ludwig von seinem ehemaligen Hauslehrer Steiger in eine konservativ-monarchistische Oppositionsgruppe eingeführt, der Vertreter beider Kirchen, der Beamtenschaft und der Reichswehr angehören. Man arbeitet an einem Putschplan zur Wiederherstellung der Monarchie in Sachsen, und der geborene Prinz gerät zur Hoffnungsfigur dieses Kreises. Er zweifelt aber an seiner Eignung wie am Gelingen des Umsturzversuches. Steiger redet ihm zu, da andere adliger Herkunft ihre Stimme nicht gegen das Unrecht erhöben, und beschwört die Notwendigkeit einer positiven „Führerfigur“ – um einen von der Demokratie beseelten Widerstand geht es hier ausdrücklich nicht: Nicht das ganze Volk unterwarf sich so freudig wie sein einst regierender hoher Adel der Recht- und Ruchlosigkeit. Ein furchtbares Maß von Wut und Haß war aufgespeichert. Es gab ein anderes Deutschland – Steiger wurde nicht müde, das zu wiederholen. Die in den Militärbünden vereinigten Männer, sie vor allem, waren bereit. Sehnsüchtig schauten sie aus nach dem, der vorangehen würde. Nach Einem, den sein Name und sein Sinn wahrhaft legitimierten. Der Tag war nah, er war da, für einen Volksfürsten aus altem Blut.24 Ludwig nimmt die ihm angetragene Rolle an, wenngleich er eher passiv bleibt. Bald werden eine der konspirativen Versammlungen durch die SS aufgelöst und die Anwesenden verhaftet, noch bevor die Umsturzpläne in die Tat umgesetzt werden können. Man verhört Ludwig; schon erwartet er seine Exekution. Am nächsten Morgen jedoch wird er zur tschechischen Grenze gebracht – falls er deutsches Gebiet wieder betrete, richte man seine Mitverschwörer hin. III. Entwicklungsroman: Vom intellektuellen Widerstand zur Tat Erst in seinem zweiten Teil wird „Der Reisepaß“ auf der inhaltlichen Ebene zum Exilroman: Ludwig reist zu Rotteck nach Prag. Dieser ermahnt ihn, seine GoyaArbeit wieder aufzunehmen – gerade jetzt müsse sich der geistige Mensch seiner selbst gewählten Aufgabe widmen: „Wer sonst soll die Umstände negieren und ausstreichen als der Mann von Kopf, indem er sein Werk tut. Denken Sie an Vauvenargues mit erfrorenen Füßen in seinem böhmischen Zelt, denken Sie
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an den dort in seinem Sevillaner Gefängnis!“25 Rotteck weist auf Daumiers Holzschnitt des Don Quijote, das einzige Bild im Raum, und mit dieser Geste des „Trotzdem“ zitiert Bruno Frank seinen Cervantes-Roman. Dennoch ist der Kunsthistoriker von hoffnungslosem Pessimismus erfüllt und sieht den deutschen Rückfall in die Barbarei mit den Augen der Weltgeschichte als generationenübergreifende Katastrophe: Ganz so wie wir haben Andere gesessen, als Rom sank, vor einem Jahrtausend und einem halben. In ihren schönen Säulenhöfen haben sie gesessen, in Aquileja und in Tarent, in Tingis und Timgad, und haben darauf gewartet, daß die Herren Germanen kämen und ihre Bibliotheken und Bäder zerschlügen. Und sie wußten, sie wußten, Ludwig, daß nun die Finsternis kam, dunkle Jahrhunderte, daß noch die Kindeskinder ihrer Kindeskinder das Licht nicht mehr sehen würden.26 An Rotteck demonstriert Frank die emotionale Verletzung durch den Verlust der Heimat: „Etwas nicht ganz Vernünftiges, Übermäßiges, leicht Unheimliches, war in seinen Reden. Eine trotzige Überheblichkeit, die wehe tat. Der Mann hier, dieser Deutsche, den ein grausamer Schnitt vom Körper seines Volkes abgetrennt hatte, blutete unter seinem Panzer aus unstillbarer Wunde.“27 Ludwig entdeckt dagegen in der tschechischen Republik eine politisch hoffnungsvolle Perspektive. Der betagte Präsident Tomáš Masaryk ist die positive Gegenfigur zu Hitler – „klar, wahrhaftig und weise, aller Phrase und Pose mit Heiterkeit fern, Gründer, Schutzpatron, beinahe Gott dieses Staats, zu höchster Geltung aufgestiegen ohne die Menschlichkeit je zu verletzen, ein Blickpunkt und Trost für alle, die in einer Epoche der maulvollen Roheit und des Völkerbetrugs vor Ekel verzweifelten“,28 huldigte Bruno Frank dem Tschechen. Der Autor erhob Prag als Bollwerk der Kultur hier überhaupt zur Gegenwelt und beschwor das Bild einer in sich selbst ruhenden Kapitale: „Allenthalben regte sich tapferes Leben einer Nation, die begann. […] Hoffnung wehte durch diese Gassen, Hoffnung klang aus den lebhaften Lauten der fremden Sprache.“29 Für den Fortgang der Romanhandlung und die politische Reifung der Hauptfigur bestimmend ist Ludwigs Entschluss, unter falschem Namen nach Deutschland zurückzukehren. Die Entscheidung resultiert aus dem entfremdenden Exildasein, das verschärft wird durch die adlige Herkunft: „Alles schloß ihn aus, Name, Erziehung, Geschick. Noch im Nächsten, Notwendigsten, war ihm die
Ebd., S. 140. Ebd., S. 143f. 27 Ebd., S. 145. 28 Ebd., S. 148. 29 Ebd., S. 151. 25 26
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Tat versagt.“30 Er handelt gegen seinen Namen und gegen sein „Schicksal“, aus Solidaritätsgefühl und dem Wunsch, seiner Existenz einen Sinn zu geben. Informationen über das System der politischen Repression in Deutschland erhält er in der Redaktion der fiktiven Wochenschrift „Freies Wort“. Das Kapitel bietet ein in der deutschen Exilliteratur wohl einmaliges Portrait von Leopold Schwarzschild und seinem „Neuen Tage-Buch“: Im Roman heißt der Chefredakteur Leo Breisach und redigiert sein Blatt in Prag, nicht in Paris. Der Prinz zweifelt noch rückblickend am Sinn des missglückten Putschversuches, doch Breisach hält dagegen: „Einzelaktionen. Ich weiß doch nicht. Alles Leben und also auch alle Politik besteht aus solchen Einzelaktionen. Die materialistische Geschichtsdoktrin hat gewiß ihre Wahrheit. Aber sie ist nicht die ganze Wahrheit.“31 Hier zeigt sich ein Mensch, der den Ideologien von rechts wie von links misstraut und auf das Individuum setzt. Breisachs Privatmythologie wird ebenfalls von Don Quijote angeführt; an seinem Schreibtisch ist an verborgener Stelle Daumiers Bildnis angebracht.32 Don Quijote wird durch diesen wiederholten Bezug zum Wappenzeichen intellektuellen Widerstands. Zurück in Deutschland, erfährt Ludwig von der Freilassung aller Mitgefangenen mit Ausnahme Steigers, der in einem KZ bei Frankfurt inhaftiert ist. Bruno Frank entlarvt an diesem Punkt der Handlung die Parteitage der NSDAP als gigantomanische Inszenierungen des Unrechts und kommentiert die Inkraftsetzung der Nürnberger Gesetze: Diese Parteitage, ungeheuerlich aufgeblähte Rummelfeste zu Ehren des Volksheilands, gipfelten regelmäßig in irgend einem politischen Blitz- und Donnereffekt. Der diesjährige Effekt bestand in der offiziellen Ausstoßung der Juden aus der Volksgemeinschaft. Die Merkmale rassischer Blutsreinheit wurden kodifiziert. In einem aberwitzigen Rechtskauderwelsch sonderte man deutsche Bürger, jüdische Mischlinge und eigentliche Juden voneinander ab.33 Im Nachhinein wirkt dieses Urteil selbstverständlich, aber längst nicht alle oppositionellen Zeitgenossen Franks bedienten sich einer so klaren Sprache. In einem eindringlichen Kapitel wird außerdem vom Tod des Antiquars Jacques Wetzlar erzählt, den man wegen Verstoßes gegen das „Dienstmädchengesetz“ verhaftet – weil er ein deutsches Dienstmädchen beschäftigt. Als man ihn beim Betreten seiner ehemaligen Geschäftsräume erneut festnimmt, öffnet er sich in der Gefängniszelle die Pulsadern. Ebd., S. 148. Ebd., S. 177. 32 Vgl. ebd., S. 181. 33 Ebd., S. 218f. 30 31
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Wetzlars Chauffeur und Ludwig schmieden einen Plan zur Befreiung Steigers. Diese gelingt im Roman unter abenteuerlichen Umständen. In diesen handlungsreichen letzten Kapiteln des zweiten Teils überspannt Bruno Frank das dramatische Element: Auf die hier geschilderte Weise ließ sich ein politischer Häftling kaum aus einem deutschen Konzentrationslager befreien. Betrachtet man jedoch die Darstellung der inneren Entwicklung des Prinzen, ist diese gelingende Rettung nur konsequent. Ludwig setzt sich unter Lebensgefahr für jemanden ein, dem er einen großen Teil seiner Bildung verdankt – er erweist sich der kulturellen Überlieferung, in der er steht, als würdig, indem er die Verantwortung für einen anderen Menschen übernimmt. IV. Die kosmopolitische Utopie Über Brüssel fliehen Ludwig und sein Lehrer nach London. Allzu selbstverständlich dient Bruno Frank die adlige Herkunft seines Helden im dritten Teil des Romans dazu, das heikelste Emigrantenproblem überhaupt zu lösen: das des titelgebenden Reisepasses. An dieser Stelle zeigt sich, dass der Buchtitel gewissermaßen falsche Erwartungen weckt. So empfand es Ludwig Marcuse: „Franks Buch hat einen herrlichen Titel für einen Emigrantenroman von heute; leider wurde dieser Titel nicht zum Zentrum des Buches – und die Episode, deren Mittelpunkt er ist, ist zu ausgefallen.“34 Steiger besitzt keine Papiere, und so wartet man in Ostende ratlos auf das Boot nach Dover. Im letzten Moment tritt der glücklichste Zufall ein: Ein Onkel Ludwigs besteigt mit seiner Entourage das Schiff; der Prinz erkennt ihn, und der Verwandte erwirkt die Überfahrt. In diesem Kapitel funktioniert die Mechanik des Romans nur, indem der Autor einen Deus ex machina bemüht. Der Einsatz solcher literarischer Mittel hat – wenngleich er legitim ist – mit Realismus nichts mehr zu tun. Martin Gregor-Dellin, der den Roman 1976 neu herausgab, sprach treffend von einem „Rettungsmärchen“35 und urteilte: „Ein Zug großer Schiller’scher Kolportage, der Bruno Frank nie ganz fremd war, kommt ins Spiel.“36 Auf der Handlungsebene kann Frank auf das Prinzenmotiv nicht verzichten, auf der reflektierenden kennzeichnet er es als antiquiert, wenn er etwa Steigers Befangenheit in seinem dynastischen Traum darstellt.37
34 Ludwig Marcuse: Fünf Blicke auf Deutschland, in: Das Wort, 2. Jg., H. 7, Juli 1937, S. 81–89; zit. nach ders.: Wie alt kann Aktuelles sein? Literarische Porträts und Kritiken, hg., mit einem Nachwort und einer Auswahlbibliographie v. Dieter Lamping, Zürich 1989, S. 184–196, hier S. 189. 35 Martin Gregor-Dellin: Nachwort, in: Bruno Frank: Der Reisepaß. Roman, hg. v. Martin Gregor-Dellin, München 1975, S. 351–360, hier S. 357. 36 Ebd., S. 359. 37 Vgl. Frank [Anm. 18], S. 259.
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In London finden sich die beiden Flüchtlinge inmitten der landesweiten Trauer nach dem Tod Georges V. wieder; sie sehen den aufgebahrten König in Westminster Hall. Bruno Frank lässt Ludwig die merkwürdige Atmosphäre resümieren: Mit Mystik habe die englische Krone gar nichts zu schaffen. Ihr Ansehen sei einfach das der einzelnen Menschen, die sie trügen. Hierzulande habe man einmal einem König das Haupt abgeschlagen, und der eine Schwerthieb habe genügt, um die Dinge auf immer ins Gleiche zu rücken. Dies Königtum hier habe eigentlich keine Funktion mehr, mindestens sei sie ganz unbestimmt, in greifbaren Rechten kaum auszudrücken. Kraft besitze es dennoch, eine erhaltende Kraft – eine ärztliche beinahe.38 Offenbar zielt diese Hommage an das nur noch zeichenhaft regierende englische Königtum auf die glückliche Verbindung dynastischer Tradition mit dem angelsächsischen Individualismus, auf die zivilisierende Kraft Westeuropas als Gegengewicht zum kollektivistischen Führerkult der Deutschen. Denn jene weltumfassende Bedeutung, die George der britischen Krone erworben habe, basiere nicht mehr auf bloßer Machtherrschaft: „Sprach man irgendwo in der Welt vom Königtum, so meinte man dieses, das nicht Gewalt mehr bedeutete, nur ein hohes Zeichen.“39 Insofern gehören der verstorbene englische König und der tschechische Präsident im Romankontext zusammen: Sie beide sind symbolisch zu verstehen, als Sinnbilder der Menschenwürde, unabhängig von ihrer tatsächlichen Funktion. Diese Interpretation von politischer Führung ist gewiss nicht unproblematisch, weil sie politisches Handeln gleichsetzt mit symbolischem Handeln – in einer Zeit, in der man gegen die deutsche Gewaltherrschaft mit einem solchen Politikverständnis nichts vermochte. Im sechsten Kapitel des dritten Teils schließlich gelingt Bruno Frank das einprägsamste Bild des Buches für die Gegenwelt des Geistes. Immer häufiger zieht es Ludwig in die große Bibliothek der Metropole: In diesen gewaltigen Kuppelraum, den Lesesaal des Britischen Museums, mündet, unweigerlich fast, der Weg der Heimatlosen, Verbannten. Gleich als Ludwig zum ersten Mal niedersaß an einem der lederbezogenen Arbeitstische, wurde ihm wohl und feierlich. Tiefe, verschlossene Stille. Kein Laut vom rasselnden Atem der Millionen draußen. Ein Grab des Lebens, aus dem der Geist sich aufschwingt, empor zur immensen Wölbung dort oben, die an die schönste Kuppel der Welt gemahnt, an die im Pantheon.40 Ebd., S. 272. Ebd., S. 275. 40 Ebd., S. 300. 38 39
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Frank stilisiert das British Museum zur Kathedrale, zur Heimat jener Intellektuellen, die vor dem Ungeist geflohen sind. Ein „Grab des Lebens“ nennt er den Saal mit einem paradoxen Bild – man entflieht der todbringenden Geschichte nur, indem man sich auf solche Weise dem äußeren Leben entzieht. Die Bibliothek ist der Inbegriff einer kosmopolitischen Utopie: Hier war Roms Herz, wenn England Rom war. Es gab keine Menschenfarbe, die hier noch nicht gesehen worden, keine Menschensprache, in der hier nicht gedacht worden war. Diese totenstille Halle war bunter als der farbigste Hafenplatz. Hier kann es dir geschehen, daß du zur Rechten eine Hindu hast, über frühchristlichen Manuskripten beschäftigt, und zur Linken einen ebenholzhäutigen Herrn mit weißem Kraushaar und scharfer Brille, der Pringsheim’sche Mathematik studiert. Hier vermischt sich in einer stummen, dauernden Hochzeit jederlei Blut mit jederlei Geist.41 In dieser Abgeschiedenheit drängt sich Ludwig die abgebrochene Arbeit über Goya wieder auf. Dessen berühmte Erschießungsszene aus den „Desastres de la Guerra“ wird ihm zum universalen Sinnbild der Gewalt – so sehr, dass Ort und Zeit der Darstellung an Bedeutung verlieren: „Es war eine ewige Gegenwart. Das Grauen dieser Radierungen, ihre brennende Pein – sie waren in jedem fühlenden Menschen, wenn er heute am Morgen seine Zeitung aufschlug. Genau dies stand der Welt auf’s neue bevor, im nächsten Jahr oder am nächsten Tag.“42 Goya ist, Cervantes vergleichbar, eine jener großen Persönlichkeiten, die an der Zeitenschwelle stehen. Deshalb vermögen sie Universales in ihrer Kunst festzuhalten. Hier sah Frank jene Erfahrung von Gewalt exemplarisch verarbeitet, die seine Gegenwart prägte. Die letzten Romankapitel, im Frühjahr 1936 angesiedelt, führen die Geschichte des vertriebenen Prinzen zu einem gedämpften Happy End. Im „Lesedom“,43 wo er inzwischen an einer Biographie Goyas arbeitet, trifft er Ruth Wetzlar wieder, die Tochter des Antiquars. Sie ist traumatisiert durch den Tod des Vaters und den Verlust der Heimat. Beide nähern sich einander nur langsam. Ein letztes Mal bedient sich Frank der dynastischen Insignien seines Helden: Ludwig verkauft den von seiner Mutter ererbten Smaragd, um Ruth eine lebensrettende Operation zu bezahlen. Diese Tat kann man auch symbolisch verstehen – als die endgültige Emanzipation von der adligen Herkunft. Sieht man von der Hauptfigur ab, lässt die beträchtliche Zahl von prägnant charakterisierten Nebenfiguren den Schluss zu, dass ebenso sehr der vertriebene Gelehrte Rotteck, der konservative Widerstandskämpfer Steiger, der jüdische Ebd., S. 301f. Ebd., S. 307. 43 Ebd., S. 312. 41 42
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Antiquar Wetzlar und sein aufrechter Chauffeur die „Helden“ des Buches darstellen. Die Geschichte des Prinzen Ludwig wäre so gesehen eine Klammer, die diese Einzelschicksale zusammenhält. Zugleich bleibt der Protagonist in seinen Umrissen vage; bedeutend ist er vor allem als Repräsentant einer geistigen Haltung – „as a symbol of a state of mind“,44 wie der Kritiker Alfred Kazin bei Erscheinen der amerikanischen Ausgabe schrieb. Der Aristokrat als Held eines deutschen Exilromans ist letztlich dann zu rechtfertigen, wenn man das Adelsprädikat nicht soziologisch auffasst, sondern als Ehrentitel für jemanden, der bereit ist, sich für andere zu opfern.45 V. Exilpolitik und Pass-Problem Im April 1937 erschien der Roman bei Querido in Amsterdam. Das Buch verkaufte sich immerhin so gut, dass Fritz Landshoff noch 1937 eine zweite Auflage drucken konnte.46 So glücklich Bruno Frank über den Abschluss des Buches war, hoffte er vor allem auf eine Rezension Thomas Manns, die er der amerikanischen Ausgabe als Geleitwort beigeben wollte. Er tröstete sich vorerst mit einem brieflichen Lob aus Küsnacht und rief dem Älteren am 22. Mai 1937 in seinem Antwortschreiben zu: Ihr Brief war eine ganz gewaltige Freude. Ich lese ihn wieder und wieder, und er wird mich trösten, wenn, wie ganz natürlich, die deutsche Ausgabe ohne Echo bleibt, und wenn die ‚conformistischen‘ jungen Kritiker, stupide wie Nazis, über mich herfallen. Denn das wird nicht ausbleiben. Hoffentlich macht das Buch in den englischen Ländern Eindruck. […] Das Ding ist also nach Ihren Worten (und auch nach meinem eignen Gefühl) doch ein Kunstwerk geworden, obwohl
44 Alfred Kazin: Symbol of a State of Mind. A Superbly Eloquent Novel Telling the Fiery History of Germany under Hitler, in: New York Herald Tribune / Books, 14. Jg., Nr. 4, 26. September 1937, S. 6. 45 Vgl. Konrad Umlauf: Exil, Terror, Illegalität. Die ästhetische Verarbeitung politischer Erfahrungen in ausgewählten deutschsprachigen Romanen aus dem Exil 1933–1945, Frankfurt a. M. / Bern 1982, S. 28. – In diesem Zusammenhang folgert Walter Carl-Alexander Hoyt in seiner Monographie zu Bruno Franks Prosawerk, Ludwig verkörpere zwar ein übergeordnetes Humanitätsideal, bleibe aber trotz seines Hasses auf die Nazis letztlich unpolitisch und damit blind etwa für die Verwicklung seiner eigenen aristokratischen Klasse in den Faschismus.Vgl. Walter Carl-Alexander Hoyt: Conflict in Change. A Study in the Prose-Fiction of Bruno Frank, New Brunswick 1978, S. 135. – Ähnlich Ulrich Müller in seiner Studie über Bruno Frank: Dieser denke in dem vorliegenden Roman nicht in politischen Kategorien, es gehe ihm um moralische Grundhaltungen. Vgl. Ulrich Müller: Schreiben gegen Hitler. Vom historischen zum politischen Roman. Untersuchungen zum Prosawerk Bruno Franks, Darmstadt 1994, S. 70–71. 46 Vgl. Hans-Albert Walter: Fritz H. Landshoff und der Querido Verlag 1933–1950. Mit einer Bibliographie Querido, Marbach am Neckar 1997 [Marbacher Magazin, Sonderheft 78 / 1997], S. 257.
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eine gewisse naive Direktheit nicht auszutreiben war. Sie liegt in mir und lag hier in der Aufgabe.47 Jene „naive Direktheit“ konstatierte er zurecht, denn die fehlende historische Distanz zur Zeitgeschichte und die emotionale Aufgewühltheit angesichts des deutschen Verhängnisses machten den „Reisepaß“ zu dem wohl subjektivsten von Bruno Franks Romanen. Er mahnte Thomas Mann in einem weiteren Brief, dass nur sein Wort Gewicht habe. Das war nicht bloß Schmeichelei, sondern zugleich ein politisches Bekenntnis: Ich werde sonst keine Freude an der deutschen Ausgabe erleben. Woher sollte sie auch kommen! Aus der von Münzenberg besoldeten Kohorte heraus gewiss nicht. Dazu hätte ich lügen müssen, mich zu Patentlösungen bekennen, an die ich nicht glaube. Sich zu so einfachen Dingen zu bekennen wie Recht und Menschenwürde und zwar nicht mit Declarationen, sondern durch ein Kunstwerk – das schien mir eine recht ehrenwerte Aufgabe.48 Nein, von dem kommunistischen Propagandisten Willi Münzenberg und seinem Pariser Verlag Editions du Carrefour konnte er nicht mit Zustimmung für einen Roman rechnen, der einen deutschen Prinzen als aufrechten Antifaschisten präsentierte. Auf die Linie einer Partei ließ Frank sich auch in Zeiten der „Volksfront“ gegen Hitler nicht bringen. Er war in diesen Monaten dem von Leopold Schwarzschild gegründeten „Bund Freie Presse und Literatur“ beigetreten, dem unter anderen Alfred Döblin, Leonhard Frank und Joseph Roth angehörten. Die freiheitlichen und antitotalitären Ziele des Bundes bedeuteten eine Absage an die kommunistische Volksfront-Politik. Angesichts seiner bevorstehenden Übersiedlung nach Kalifornien – Bruno Frank hatte einen Vertrag als Drehbuchautor bei MGM bekommen und lebte bis zu seinem Tod 1945 in Beverly Hills – wurde sein eigenes Pass-Problem wieder akut: Zwar war ihm die deutsche Staatsbürgerschaft zu diesem Zeitpunkt noch nicht entzogen worden, sein deutscher Pass aber war längst abgelaufen, und er behalf sich mit einem panamesischen Diplomatenpass, den er durch Vermittlung eines Münchner Freundes bekommen hatte. Ende Mai 1937 fragte er Thomas Mann, der tschechischer Bürger geworden war, nach den Möglichkeiten einer Intervention bei Präsident Beneš. Frank hatte sich schon 1936 in Prag um die tschechische Staatsbürgerschaft bemüht, aber die Einbürgerung war ins Stocken Bruno Frank an Thomas Mann [Anm. 10], 22. Mai 1937. Ebd., Bruno Frank an Thomas Mann, 26. Mai 1937. Vgl. zur ausgebliebenen Rezension Thomas Manns und zur Rezeptionsgeschichte des Romans ausführlich: Sascha Kirchner: Der Bürger als Künstler. Bruno Frank (1887–1945). Leben und Werk, Düsseldorf 2009, S. 272–274. 47 48
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geraten. Ob Thomas Mann, falls er mit Beneš in Verbindung stehe, nicht ein Wort über sein Dilemma anbringen könne, zumal „Der Reisepaß“ ja „geradezu böhmisch-patriotisch“ sei?49 Daraus wurde zwar nichts, aber ähnlich wie für seinen Romanhelden prägte am Ende nicht das Pass-Problem Franks letzte Exiljahre, sondern das vielfach erlittene Schicksal des Emigranten, der abgetrennt ist von der deutschen Kultur, die er geliebt, von der er gezehrt und die er bereichert hat – und in die der deutsch-jüdische Schriftsteller Bruno Frank nicht wieder zurückgekehrt ist.
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René Schickele „Die Flaschenpost“ (1937) I. Vernachlässigter Autor – Vergessenes Werk „Ich lese mit Staunen und heiterem Grauen. Etwas höchst Besonderes, […] graziös und irr, sehr merkwürdig“,1 urteilt Thomas Mann nach der Lektüre von Schickeles Roman „Die Flaschenpost“ und verweigert trotzdem vorerst, ihn zu rezensieren. Lobend äußert sich hingegen sein Sohn Klaus in einer Rezension für die „Pariser Zeitung“ – jedoch nur über den Autor Schickele, um gleich darauf dessen jüngstes Werk zu kritisieren, da dem Roman die politische Dimension fehle: „Hier entzieht sich ein reifes, sicheres, sensibles, hoch entwickeltes literarisches Talent der Problematik der Zeit. Ein Künstler flieht in holde, abseitige Gegenden: es ist Fahnenflucht. Der Fall Richard Wolke, das ist beinah der Fall René Schickele.“2 Insgesamt musste Schickele bald einsehen, dass die zeitgenössische Rezeption seines Romans weniger wohlwollend verlief als erhofft, was vor allem deshalb folgenreich war, weil der Erfolg des Werkes maßgeblich von dessen Beurteilung durch die literarischen Rezensionen abhing.3 So wurde „Die Flaschenpost“ zu Lebzeiten des Autors kein buchhändlerischer Erfolg. Und noch heute ist es ein nahezu unbekannter Roman, der, gemeinsam mit seinem Autor, längst in Vergessenheit geraten ist. Während Schickele in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts als deutschem Schriftsteller des Expressionismus und Herausgeber der pazifistischen Zeitschrift „Die Weißen Blätter“ einige Bedeutung beigemessen wurde,4 geriet der Autor ab den 1930er Jahre zunehmend ins Abseits des Interesses, obwohl er nicht aufhörte zu schreiben. Diese Entwicklung hat verschiedene
1 Brief von Thomas Mann an René Schickele vom 1. April 1937, in: Jahre des Unmuts. Thomas Manns Briefwechsel mit René Schickele 1930–1940, hg. v. Hans Wysling u. Cornelia Bernini, Frankfurt a. M. 1992, S. 109f. 2 Klaus Mann: René Schickeles neuer Roman. „Der Fall Richard Wolke“, in: Pariser Zeitung, Paris 5. Mai 1937, wieder abgedruckt in: Wysling / Bernini [Anm. 1], S. 188–191, hier S. 191. 3 Vgl. den Brief von René Schickele an Thomas Mann vom 28. März 1937 (ebd., S. 108f., hier S. 108). 4 Vgl. Joachim W. Storck: Der späte Schickele. Ein Sonderfall der deutschen Exilliteratur, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 27 (1983), S. 435–461, hier S. 437; ders.: Verfolgung und Exil. René Schickele und Alfred Mombert, in: Literatur im deutschen Südwesten, hg. v. Bernhard Zeller u. Walter Scheffler, Stuttgart 1987, S. 307–318, hier S. 309f. sowie Maurice Godé: René Schickeles historische Bedeutung als Leiter der „Weißen Blätter“, in: René Schickele aus neuer Sicht. Beiträge zur deutsch-französischen Kultur, hg. v. Adrien Finck, Alexander Ritter u. Maryse Staiber, Hildesheim [u. a.] 1991, S. 87–107.
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Ursachen, die mit der Missachtung des Spätwerks,5 den ausbleibenden Resonanzen, wie sich beispielhaft an „Die Flaschenpost“ zeigt, begann.6 Ursächlich dafür ist wiederum die Exilsituation: Schickele, der Deutschland 1932 verließ, um sich mit seiner Familie in Südfrankreich niederzulassen, gehörte zu den von den Nationalsozialisten verfemten Autoren, wenngleich er vorerst noch in Deutschland publizieren konnte.7 1933 wurde Schickele aus der „Akademie der schönen Künste“ ausgeschlossen, als er sich weigerte, die „Loyalitätserklärung“ zu unterzeichnen.8 Zwei Jahre später lehnte er es ebenso ab, eine solche gegenüber der „Frankfurter Zeitung“ abzugeben, sodass er ab Herbst 1935 weder als Dichter noch als feuilletonistischer Kritiker sein deutsches Publikum noch erreichen konnte.9 Schickele hatte Publikationsverbot in Deutschland und seine Schriften wurden konfisziert.10 „Die Flaschenpost“ ist sein letzter in deutscher Sprache verfasster und zugleich der erste Roman, der nicht mehr in Deutschland erscheinen konnte.11 Schickele verlor damit nicht nur die Möglichkeit, auf das faschistische Deutschland mit freier, „nicht gleichgeschaltete[r] Zeile“12 einwirken zu können, dem Autor war mit dem Verlust seiner Leserschaft auch seine Existenzgrundlage entzogen.13 Zudem fanden seine Bücher, im Gegensatz zu denen einiger seiner Dichterfreunde wie Thomas Mann und Stefan Zweig, keinen Absatz auf dem französischen und anglo-amerikanischen Markt.14 Neben den finanziellen Schwierigkeiten im Exil belastete den Autor auch seine drohende Auslöschung aus dem Gedächtnis deutscher Leser. „Ja, nun bin ich in
5 Nach Storck fällt das Spätwerk bzw. die „Spätzeit“ seines Œuvres mit der französischen Exilzeit des Autors zusammen und betrifft damit die Werke der Jahre 1932 bis zu seinem Tod 1940. Vgl. Storck: Der späte Schickele [Anm. 4], S. 435. Die Schriften der Jahre 1932 bis 1940 sind der Roman „Die Witwe Bosca“ (1933), der Essay „Liebe und Ärgernis des D. H. Laurence“ (1935), die Novelle „Das gelbe Haus“ (1936), der Roman „Die Flaschenpost“ (1937) und der französische Essayband „Le Retour“ (1938). Die Romane „Grand’Maman“ sowie „Der Preuße“ blieben Fragment und wurden erst posthum in der Gesamtausgabe 1959 veröffentlicht. Vgl. René Schickele. Leben und Werk in Dokumenten, hg. v. Friedrich Bentmann, Nürnberg 1974, S. 195. 6 Vgl. Storck [Anm. 4], S. 437. 7 Vgl. ebd., S. 437. 8 Vgl. Hans Wagener: René Schickele. Europäer in neun Monaten, Gerlingen 2000, S. 206f. 9 Vgl. Maryse Staiber: „Ich lebe in mehr als einer Weise im Exil …“. René Schickeles Situation in der Exilliteratur (1932–1940), in: Finck [Anm. 4], S. 129–141, hier S. 130; Storck: Der späte Schickele [Anm. 4], S. 437. Vgl. zu Schickeles Absage an die „Loyalitätserklärung“ ausführlich Wagener [Anm. 8], S. 204–208. 10 Vgl. Wagener [Anm. 8], S. 211f. 11 Vgl. ebd., S. 213f. und Staiber [Anm. 9], S. 129f. 12 Brief von René Schickele an Annette Kolb vom 8. Juli 1935, in: Annette Kolb. René Schickele. Briefe im Exil. 1933–1940, hg. v. Hans Bender, Mainz 1987, S. 233–235, hier S. 234. Zu Schickeles Bemühungen, aus dem Ausland auf Deutschland einzuwirken, vgl. Wagener [Anm. 8], S. 188f. 13 Staiber [Anm. 9], S. 130. 14 Vgl. Wagener [Anm. 8], S. 192, 195 und 217. Vgl. auch Storck [Anm. 4], S. 444.
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Deutschland aus dem Buch der Lebenden gestrichen“,15 äußert er sich nach der Beschlagnahmung seiner Bücher. Die Vernachlässigung seiner Werke setzte sich auch nach seinem Tod fort.16 So blieben Schickeles kurzzeitige wissenschaftliche Wiederentdeckung nach dem Zweiten Weltkrieg im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Expressionismus sowie der in den 1950er Jahren entstehenden Neuauflagen seiner späten Romane ohne nennenswerte Resonanz.17 Erst ab den 1960er Jahren wandte sich die Exilforschung verstärkt dem Spätwerk Schickeles zu.18 Doch auch innerhalb dieser wissenschaftlichen Perspektivierung blieb Schickele ein Außenseiter:19 Streng genommen gilt der gebürtige Elsässer, Sohn einer französischen Mutter und eines deutschen Vaters, in Frankreich nicht als Exilant, weil das Elsass nach dem Ersten Weltkrieg wieder Frankreich angehörte und Schickele also seit 1918 amtlich französischer Staatsbürger war.20 Der Dichter erkannte bereits früh die Vorzeichen des bevorstehenden Krieges.21 Noch vor der Machtergreifung Hitlers, im Frühjahr 1932, bereitete er so seine Emigration in das milde Klima der französischen Küstenregion vor, das auch sein Asthmaleiden lindern sollte, und siedelte im selben Jahr mit seiner Familie über.22 Im Dezember 1933 meldete er sich bei den deutschen Behörden ab und vermietete sein Haus in Badenweiler.23 Aus der frühzeitigen, freiwilligen Übersiedlung wurde bald ein erzwungener Aufenthalt. Eine Rückkehr war für den Autor aufgrund der politischen Situation in Deutschland unmöglich geworden,24 die Sehnsucht nach Badenweiler25 aber blieb und mit ihr der Blick nach Deutschland. Aus der Emigration wurde ein Exil.26 Obwohl die Bezeichnung Exilant auf 15 Brief von René Schickele an Erna Pinner vom Herbst 1935, in: René Schickele: Werke in drei Bänden, hg. v. Hermann Kesten, unter Mitarbeit von Anna Schickele, Köln [u. a.] 1959, Bd. 3, S. 1226f., hier S. 1226. 16 Vgl. Storck [Anm. 4], S. 436. 17 Vgl. ebd., S. 437. 18 Vgl. Bentmann [Anm. 5]; Storck: Der späte Schickele [Anm. 4]; ders.: Verfolgung und Exil [Anm. 4]; Marie-Louise Staiber: L’exile de René Schickele 1932–1940, Diss. Université de Lille 1988. Publikationen jüngeren Datums sind der Sammelband „Schickele aus neuer Sicht“ (1991) [Anm. 4] sowie Wageners biographische Schrift von 2000 [Anm. 8]. Während Schickeles Exilsituation ausführlich dargestellt ist, ist die Erforschung der späten Werke noch unzureichend. Ausgenommen werden muss hier der Roman „Die Witwe Bosca“. 19 Vgl. Storck: Der späte Schickele [Anm. 4], S. 438. 20 Vgl. ebd. 21 Am 27. April 1932 bekundet er gegenüber Julius Meier-Graefe und dessen Frau sowie Anette Kolb seine Gewissheit einer bevorstehenden „mehrjährigen Sonnenfinsternis“ (Schickele [Anm. 15], S. 1164). Vgl. hierzu auch Wagener [Anm. 8], S. 201. 22 Vgl. ebd., S. 170–172. 23 Vgl. Schickeles Tagebucheintrag vom 11. Dezember 1933 (Schickele [Anm. 15], S. 1060–1063). 24 Als Schriftsteller ist er „von den Nazis genauso verfolgt wie seine jüdischen und politisch verfolgten nichtjüdischen Berufskollegen mit ursprünglich deutscher Staatsbürgerschaft“ (Wagener [Anm. 8], S. 215). 25 Vgl. zu Schickeles Sehnsucht z. B. einen Brief an Lisbeth Bachmann vom 5. Juli 1933 (Schickele [Anm. 15], S. 1176f.). 26 Vgl. u. a. Wagener [Anm. 8], S. 210 und Staiber [Anm. 9], S. 129.
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Schickele so nur bedingt zutrifft, erweist sie sich für den Schriftsteller dennoch als richtig. Zwar verließ er Deutschland freiwillig und nicht als „Resultat einer Vertreibung“,27 jedoch als Reaktion auf die politischen Entwicklungen in Deutschland. Der Bezeichnung Emigration, die auf einer „freien Entscheidung“28 fußt und die Heimkehr nicht vorsieht, steht Schickeles Wunsch entgegen, nach Deutschland zurückzukehren, der sich auch darin spiegelt, dass er die Geschehnisse in Deutschland genau beobachtete und notierte.29 Ebenso wie für die deutschen Emigranten mit einem deutschen Pass bedeutete auch für den deutschsprachigen Schriftsteller aus dem Elsass die Abwendung vom nationalsozialistischen Deutschland den Verlust der deutschen Kultur und der Sprache seiner Dichtung. „Die Sprache ist ein besonderer Saft, viel mehr als Blut. Ich weiß es, gerade weil das Deutsche nicht meine Muttersprache ist.“30 Innerhalb der Gruppe der deutschsprachigen Autoren im Exil nimmt Schickele eine Außenseiterposition ein. Diese liegt nicht nur in der Tatsache begründet, dass ihn sein französischer Pass vor einer Verhaftung in Frankreich schützte,31 sondern vor allem auch in seiner politischen Distanzierung von anderen Exilanten. Als Sohn einer binationalen Familie wuchs Schickele im Elsass an der Grenze zwischen Deutschland und Frankreich in einem interkulturellen Klima auf 32 und sah sich – wie seine enge Vertraute und Nachbarin aus Badenweiler, Annette Kolb – vor dem Zweiten Weltkrieg als Verfechter eines „ästhetische[n] Deutschland[s]“33 und Vermittler zwischen den beiden Nationen. Dagegen zeigte er sich im französischen Exil nur mäßig politisch aktiv,34 was ihm nicht nur von Klaus Mann, sondern auch von anderen Exilanten zum Vorwurf gemacht wurde.35 Als Pazifist sah Schickele seine Idee eines friedlich geeinten Europas als gescheitert an und zog sich resigniert aus dem Kreis der exilierten Schriftsteller zurück. Seine Vorbehalte gegenüber den jüdischen Exilanten, sein Festhalten am
27 Paul Michael Lützeler: Migration und Exil in Geschichte, Mythos und Literatur, in: Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur. Von Heinrich Heine bis Herta Müller, hg. v. Bettina Bannasch u. Gerhild Rochus, Berlin / Boston 2013, S. 3–25, hier S. 3. 28 Ebd. 29 Lützeler hält für das Exil fest: „Man beobachtet genau die politischen Vorgänge im Heimatland, weil man auf eine baldige Veränderung der Verhältnisse hofft, sodass die Rückkehr möglich wird.“ (ebd., S. 9). 30 Tagebucheintrag vom 11. Dezember 1933 (Schickele [Anm. 15], S. 1060–1063, hier S. 1061). 31 Vgl. Wagener [Anm. 8], S. 280. 32 Vgl. Storck: Der späte Schickele [Anm. 4], S. 438f. und Gertrude Cepl-Kaufmann / Antje Johanning: „Mein Herz ist zu groß für ein Vaterland und zu klein für zwei“ – August Scholtis und René Schickele, in: August Scholtis 1901–1969. Modernität und Regionalität im Werk von August Scholtis, hg. v. Bernd Witte u. Grazyna B. Szewczyk, Frankfurt a. M. [u. a.] 2004, S. 85–103. 33 Vgl. den Tagebucheintrag vom Pfingstmontag 1934 (Schickele [Anm. 15], S. 1116–1119, hier S. 1117). 34 Vgl. Wagener [Anm. 8], S. 217. 35 Vgl. Staiber [Anm. 9], S. 133f.
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Pazifismus, seine Distanz gegenüber kommunistischen und sozialistischen Vereinigungen schlossen ihn aus jeder sich bildenden Gruppierung aus:36 Ich lebe in mehr als einer Weise im Exil: französischer Staatsangehöriger und deutscher Dichter, im Elsaß wurzelnd, ohne dort leben zu können […], […] weder Jude noch Marxist, sondern lediglich einer jener verbissenen Pazifisten, wie man sie heute auf dem Kontinent in keinem Lager duldet, ohne Rückhalt an eine Partei – ein Freischärler in jeder Beziehung, dessen Unfähigkeit zum ,Kollektiv‘ soweit geht, daß ich nicht einmal ein Lustspiel mit einem andern zusammen schreiben könnte!37 Schickele gerät in ein Exil innerhalb des Exils. Aus diesem Gefühl der doppelten Isolation heraus mag der Autor seinen letzten Roman mit „Die Flaschenpost“ überschrieben haben – ein Titel, der im Bild der auf dem Meer treibenden Botschaft in einer Flasche nur noch die geringe Aussicht, einen Adressaten zu finden, ausdrückt, die Hoffnung jedoch dennoch nicht völlig preisgibt.38 II. Notwendigkeit einer „Weltanschauung“ Als Außenseiter inmitten der Bewohner eines südfranzösischen Küstendorfs kann, wie sein Autor, auch der Protagonist der „Flaschenpost“, Richard Wolke, bezeichnet werden. Dieser ist zugleich der Erzähler des Romans, dessen private Aufzeichnungen in einer „rosa Kladde mit dem schwarzen Aufdruck Le Lafayette“ über sein eigenes „Unternehmen Rechenschaft ablegen“39 sollen. Die Hybris dieses „Unternehmens“ äußert sich jedoch schon bald in dem von Wolke bezeichneten Vorhaben, die Nachwelt vor einer „Katastrophe“ (F, 690) bewahren zu wollen. Als Tagebuchroman bleibt „Die Flaschenpost“ in der internen Fokalisierung streng an Wolke gebunden, dessen schriftlich fixierter Monolog allenfalls durch die zitierte Rede anderer Figuren bereichert oder korrigiert wird. Als Amerikaner „deutscher Abkunft“ (F, 687) väterlicherseits lebt der IchErzähler an der Riviera in einem Viertel, das einst von „wohlhabende[n] Fremde[n] verschiedener Nationalitäten besiedelt“ (F, 694) wurde, zur Zeit der Erzählung jedoch hauptsächlich von italienischen Einwanderern bewohnt ist. 36 Vgl. Staiber [Anm. 9], S. 133f.; Storck: Der späte Schickele [Anm. 4], S. 445 und Wagener [Anm. 8], S. 216. Vgl. zu Schickeles Einstellung gegenüber den jüdischen Exilanten ebd., S. 232–238. 37 Brief von René Schickele an Svend Borberg vom 1. Oktober 1936 (Schickele Anm. 15], S. 1237f.). 38 Vgl. Stefan Woltersdorff: „Deiktische Prozeduren“ in René Schickeles Roman „Die Flaschenpost“ (1937), in: Recherches Germaniques 29 (1999), S. 199–223, hier S. 209. 39 René Schickele: Die Flaschenpost, in: ders. [Anm. 15], S. 685–816. Künftig zitiert im Fließtext mit der Sigle F, gefolgt von der Seitenzahl.
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Die wohlhabenden Villenbesitzer verließen ihre Häuser, als „die Dämmerung der Zeit sich ankündigte“ (ebd.). Damit ist gleich zu Beginn der Erzählung jener temporale Antagonismus von Vergangenheit und Gegenwart eingeführt, der den gesamten Roman durchziehen wird. Während der Erzähler in seinen Tagebuchaufzeichnungen die insuffiziente Gegenwart schildert, indem er seine unmittelbare Umgebung beobachtet und kommentiert, wird die direkte Vergangenheit ausgespart. Allein weiter zurück liegende Zeitabschnitte werden in Bildern einer glücklichen Kindheit aufgerufen, die nahe Vergangenheit dagegen wird abschätzig als „gesellige[] Zeit“ (F, 708) markiert. Sie dient allein zur Kontrastierung der erzählerischen Gegenwart, die über diesen Gegensatz als ‚einsame‘ Zeit definiert wird. Ohnehin lässt sich die Erzählung als die persönliche Dokumentation einer zunehmenden Vereinsamung lesen. Was den Umschlag von einer als positiv empfundenen Vergangenheit in eine negative Gegenwart verursacht hat, wird nicht ausgeführt. Der Ansatz einer Begründung findet sich allenfalls unter dem Begriff „Weltanschauung“ (F, 687) subsumiert. So ist Wolkes vergangene „gesellige Zeit“ dadurch gekennzeichnet, dass er zum einen „noch keine Weltanschauung hatte“, und zum anderen „zur guten Gesellschaft gehörte“ (F, 708). Das Ereignis, das Wolkes Lebenszeit in zwei Epochen unterteilt, ist die Notwendigkeit einer Positionierung bezüglich der weltpolitischen Ereignisse. Wolke wählt die der Anarchie: „ich kann ohne eine Weltanschauung nicht leben. Ich bin Anarchist. Ein wissenschaftlicher, versteht sich, kein Bombenschmeißer. Bakunin, Krapotkin, Stirner, Wolke. So.“ (F, 687) Zur temporalen Zweiteilung der Erzählung tritt eine topographische: Der kleinen entlegenen Dorfwelt stehen die großen Geschehnisse innerhalb Europas gegenüber, die aber, wie Wolkes Vergangenheit, in der Erzählung ausgespart bleiben. Einzig in eher unbestimmten Äußerungen wie „Dämmerung der Zeit“, „Entscheidungsschlacht der Riesen und Götter“ (F, 694), „Die Welt ist reif zum Sterben“ (F, 799) werden Ereignisse weltpolitischen Ausmaßes angesprochen, die Wolke auch als „Weltuntergang“ (F, 779) oder „Verschwörung der Sterne“ (F, 810) bezeichnet. Diese wenig konkreten Anspielungen werden zusätzlich dadurch verdunkelt, dass die Erzählung Wolkes zeitlich nicht klar situiert ist. Nirgends vermerkt Richard Wolke eine Jahreszahl, ein Jahrzehnt oder gar das Jahrhundert, in dem seine Notizen entstehen. Ebenso wie die Erzählung zeitlich nicht fest platziert wird, kann sie auch räumlich nicht exakt festgelegt werden.40 Wolke lebt in seinem Dorf wie auf einer fernen Insel, der Welt und ihren Ereignissen entzogen. Die Ursache seiner zurückgezogenen Lebensweise erläutert er gegenüber einer Freundin, einer Bekanntschaft aus seiner „geselligen Zeit“. Auf ihre Frage, 40 Vgl. Woltersdorff [Anm. 38], S. 214, der darum bemüht ist, die Parallelen zwischen dem Protagonisten des Romans und dessen Autor und seiner Exilzeit an der französischen Riviera herauszuarbeiten.
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ob er „verunglückt“ (F, 708) sei oder sich auf den Tod vorbereite, antwortet er, dass er dem bevorstehenden Krieg und dessen Befürwortern entflohen sei: „[…] Ich konnte auf einmal nicht mehr unter Menschen leben, die das Stampfen des Aufmarsches von all den Kreuzfahrern, die zur gegenseitigen Abschlachtung ihre Stellungen beziehn, mit Händeklatschen und den Litaneien des Irrsinns begleiten. Die das fast schon vergessene Mordgebrüll ‚Tue! Tue!‘ aus den Religionskriegen, dies maulschäumende ‚Tot! Tot!‘ wie Musik trinken. Die den Knochenmann am Horizont nicht wahrhaben wollen, der, deutlich erkennbar, mit seiner riesigen Sense ausholt, um in des Teufels Namen reinen Tisch zu machen …“ (F, 708) Verdeutlicht wird hier nicht nur die Bedrohung der Welt, sondern auch die persönliche Bedrohung Wolkes durch einen Krieg, der ihn zwar zunächst nicht physisch, aber doch psychisch angreift. Die Frage seiner Freundin Leonore, die ihn „zwei Jahre nicht gesehn“ (ebd.) hat, bringt offenkundig ihre Verwunderung über seinen schlechten Gesundheitszustand zum Ausdruck. Inwieweit es sich bei Wolkes räumlicher Isolation also um eine selbstgewählte oder erzwungene Flucht, d. h. um Emigration oder Exil handelt, lässt der Text offen. Da von Vertreibung und Verfolgung nicht die Rede ist und Wolke scheinbar nicht den Wunsch hat, an einen bestimmten Ort zurückzukehren, wird im Folgenden von Emigration gesprochen. Darüber hinaus liefert dieses Zitat vielleicht den deutlichsten Hinweis auf eine mögliche zeitliche Einordnung der Erzählung. Zumindest scheint es plausibel, die erzählte Zeit des Romans im Umkreis der Entstehungszeit des Textes anzusiedeln, in jenem Zeitraum also nach der Abdankung des spanischen Königs 1931 und vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges.41 Die Allgewalt und das Ausmaß der bevorstehenden Katastrophe wird jedoch nicht nur aus Wolkes Perspektive geschildert, auch der Psychologe, in dessen Obhut sich der Erzähler im weiteren Verlauf der Handlung begibt, wird mit ähnlichen Ansichten im Text zitiert: „[…] Und seien Sie froh, daß Sie hier [in der Psychiatrie, A. G.] sind. Da draußen braut sich Entsetzliches zusammen. Eine unvorstellbare Katastrophe. Die Vernichtung Sodoms und Gomorras – im Kolossalen! … […] Bei uns leben Sie hübsch abseits unter dem Schutz des roten Kreuzes.“ (F, 801)
41 Woltersdorff grenzt die Handlungszeit des Romans auf den Zeitraum von 1931 bis 1937 ein. Vgl. ebd., S. 212.
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III. Hoffnung auf Rettung durch das „anarchische Element“ Wolkes Flucht in die Einsamkeit und Zurückgezogenheit des französischen Küstendorfes schützt ihn nicht gänzlich vor den Zugriffen der äußeren Welt. Als „wissenschaftlicher Anarchist“ – Gewalt lehnt er per se ab (vgl. F, 688; 752) – lebt er unter kommunistisch bzw. faschistisch gesinnten Italienern, die unter der Führung des Gastwirts Josefo jede Staatsform dulden, solange sie ihnen wirtschaftliche Vorteile bringt (vgl. F, 696). Wolke hingegen sieht die Zerstörung des Staates als notwendig an – „Im Staat erblicke ich eine Organisation von Tyrannen, großen und kleinen. Um Menschen zu machen, muß man den Staat zerstören“ (F, 688), und setzt seinen Gegenentwurf einer idealen Gesellschaft in das Bild zweier Liebender: Was reden die Leute von Gemeinschaft, Volk und Staat! Es fehlt ihnen die Kraft, allein zu sein. Sie fehlen sich selbst. Zwei Menschen – und was darüber, ist von Übel. Der dritte schon ist nur da, um zu stören und zu verraten. Der vierte will herrschen. Beim Hinzutritt des fünften bricht der Bürgerkrieg aus. (F, 719) Mit dieser Ansicht drängt sich Wolke selbst innerhalb seines von der Welt abgeschiedenen Dorfes in die Isolation. Als ein neuer Mieter in das Nachbarhaus einzieht, den Wolke für den inkognito reisenden ehemaligen König von Spanien, Alphons XIII., hält, sieht er sich aufgrund seiner politischen „Weltanschauung“ gezwungen zu handeln. Die Vernichtung des vermeintlichen Monarchen, der ihm „als Verkörperung der feudal-reaktionären Welt von gestern erscheint“,42 wird ihm zur identitätsstiftenden Lebensaufgabe. Seine Aufzeichnungen sowie der Akt des Schreibens selbst dienen ihm dabei als Zeugnis und Rückversicherung dieser Identität.43 Der vermeintliche Feind wird beobachtet und, als er schließlich das Land verlassen will, von Wolke erschossen. Wolke, der glaubt, damit im Kampf gegen die Monarchie einen entscheidenden Schritt getan zu haben, erschießt jedoch in Wirklichkeit einen politisch Gleichgesinnten. Sein Irrtum basiert dabei vor allem auf der Überbewertung physischer Merkmale: Casimirs „etwas überzwerche Nase“ und seine „dicke Unterlippe“ (F, 688) hält Wolke für das genetische Erbe der Habsburger Dynastie und damit für einen untrüglichen Beweis hinsichtlich der wahren Identität des anderen. Dem gegenüber stehen die Worte und Aussagen Casimirs. Es gelingt Wolke jedoch nicht, die innere Gesinnung Casimirs zu verstehen; in Zeiten, in denen Verdächtigungen Storck: Der späte Schickele [Anm. 4], S. 455. Nach Winckler gehört es zu den beobachteten Verfahren der Exilliteratur, zu versuchen, „mithilfe der Sprache im Exil zu überleben“. Lutz Winckler: Exilliteratur und Literaturgeschichte – Kanonisierungsprozesse, in: Bannasch / Rochus [Anm. 27], S. 171–202, hier S. 180. 42 43
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und Denunziationen an der Tagesordnung sind, muss eine tatsächliche Kommunikation misslingen. Obwohl beide ihre Lebensanschauung nicht vor dem anderen verbergen, verdächtigen sie sich gegenseitig der Spionage. Beide glauben, der jeweils andere wolle ihn aushorchen, provozieren, in eine Falle locken, und versuchen so, die vermeintliche Agententätigkeit ihres Gegenübers zu enttarnen. Auf diese Weise entsteht eine doppelbödige Kommunikationssituation, die sich über Anspielungen, Vergleiche und Allegorien hin zu einem nahezu Überbietungswettkampf an staatsfeindlichen Aussagen steigert (vgl. z. B. F, 749). Obwohl Wolke Josefo als einen Opportunisten beschreibt, verkennt er – im Wahn seiner Fixierung auf den vermeintlichen Monarchen im Nachbarhaus – in Josefo die eigentliche Gefahr. Mit der Ermordung Casimirs spielt Wolke ungewollt Polizei und Monarchie in die Hände, die einen international gesuchten Attentäter und mehrfachen Mörder vernichtet sehen. Wolke wird daraufhin in die Psychiatrie eingewiesen, einem Ort, der ihm nur mehr gesteigerte Einsamkeit und Isolation bietet. Für ihn wird die Heilanstalt so zum endgültigen Zufluchtsort, der die Welt und ihre „Raubtiere“ (F, 791) aussperrt. Wolke, der behauptet, er simuliere seinen Wahnsinn nur, stilisiert die Psychiatrie zur selbstgewählten, bestmöglichen aller Zufluchtsstätten (vgl. F, 801). Wolke scheitert nicht nur mit seinem fehlgehenden Attentat, auch sein Glaube an die Welt und die Menschheit geht ihm verloren. Schließlich sieht er sich mit der Nachricht vom Tod der Mutter seiner letzten Hoffnung beraubt. Während er sich innerhalb der Anstalt ohnehin bereits in der Isolation befindet, vollzieht er mit einem Schweigegelübde zuletzt die absolute Absonderung von allem zwischenmenschlichen Kontakt: Seine Emigration wird zu einer „inneren Emigration“,44 es scheint zudem, als erwäge er den Suizid als einen letzten und unwiderruflichen Rückzug aus der Welt: Eine Mutter sollte ihr Kind in sich zurücknehmen, wenn sie stirbt! … […] Der Direktion habe ich bekannt gegeben, daß ich keine Post mehr zu empfangen wünsche. Lebe wohl, Pipette, verspätete Eva! […] Ich werde dieses Heft […] einpacken, versiegeln und mit dem Namen meiner jüngsten Geschwister versehn. Wenn Max gleich anklopft, werde ich […] ihn ehrenwörtlich verpflichten, mich nicht mehr zu besuchen. Ich will endlich allein sein. (F, 815f.) So endet der Roman mit dem Wunsch nach größtmöglicher Zurückgezogenheit und Einsamkeit. Zuvor scheinen Wolke hingegen die Frauen noch als mögliche 44 Zu den Begrifflichkeiten der „Inneren Emigration“ bzw. des „Inneren Exils“ vgl. Lützeler [Anm. 27], S. 20.
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Retterinnen der Welt, da sie für ihn „das anarchische, unbezähmbare Element der Gesellschaft“ (F, 688) darstellen. Er träumt von einer Neuschöpfung der Welt durch die Frau, wie es in seinen Kindertagen, so meint er zumindest, noch möglich war: Von Zeit zu Zeit trat eine Katastrophe ein, […] ein Bergrutsch, der unsere Welt unter sich zu begraben drohte. Dann stieg aus dem in wohltuender Entfernung kreisenden mütterlichen Gestirn eine Frau hernieder, strahlend schön und nicht gar so viel älter als wir, warf mit lachender Strenge die Kinderwelt in das Chaos zurück, […] und erschuf sie von neuem. Und siehe, sie war wunderbarer als zuvor! (F, 699f.) Die Mutter, in Wolkes Erinnerung durch die Anspielung auf den Schöpfungsmythos als göttliche Macht inszeniert, wird ihm zur Bewahrerin einer geheimen, verlorenen Ordnung und Welt, die es wiederherzustellen gilt – eine Utopie, die Wolke erst mit der Nachricht von dem Tod seiner Mutter gänzlich aufgibt. Vorerst erscheint ihm Pipette, die als Casimirs Begleiterin und zugleich als femme fatale und neue „Eva“ (F, 706) in sein Leben tritt, als Hoffnungsträgerin. Wie die Erinnerung an die Mutter wird auch die Gewalt und Ursprünglichkeit der weiblichen Erscheinung Pipettes in kosmologischen Bildern gefasst: Wenn sie lacht, empört sich alles an ihr vor Lust, es entsteht ein tolles Durcheinander, eine Art Kosmogonie, mir wird heiß und kalt, aus dem Weltraum tanzen Sonnen und Sterne, und alle Farben des Regenbogens flimmern um ihr kupferrotes Haar. Die Welt gebiert ein Weib – oder ein Weib die Welt. (F, 689) Beide Frauen scheinen in ihrer Bedeutung den Weltereignissen übergeordnet und in den überzeitlichen Zusammenhängen von Kosmos und Schöpfung zu bestehen. So kommt für Wolke jede Frau aus „vorsintflutlichem Land“ und „ganz geheuer ist [ihm, A. G.] keine“. (F, 705) Pipettes Primitivität und die von ihr ausgehende Gefahr haben ihren Reiz für Wolke; aus ihrer vermeintlichen Ursprünglichkeit leitet er die Hoffnung auf Rettung ab. Auch deshalb erfüllt, neben seinen politischen Betätigungen, die Liebe zu Pipette sein Leben. Obwohl er sich der Erwiderung seiner Liebe gewiss ist (vgl. F, 736), verweigert er sich und ihr jedoch die Liebeserfüllung. Vielleicht entsagt er aus Angst vor dem Verlust der Liebe durch ihre Erfüllung, vielleicht aus Furcht vor Veränderung.45 Er „desertiert“ (F, 741) vor der wahren Liebe und flüchtet sich in die Arme einer Bekannten, um seine Triebe auszuleben. 45 Vgl. dazu Schickeles Brief an Stefan Zweig vom 6. Juni 1937 (Schickele [Anm. 15], S. 1244f., hier S. 1245).
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Wolke scheitert an der Unfähigkeit, Pipette seine Liebe zu gestehen, am Sprachverlust, der mit seiner isolierten Situation einhergeht. „Wir tun, als brauchte unsere Liebe die Ewigkeit, um zu reifen, und als seien wir ihr angemessen, das heißt: unsterblich … Ich sage: wir. In Wirklichkeit bin ich es […]. Wir schweigen. Wir haben die Sprache verloren. Wir verschweigen uns.“ (F, 742) Stattdessen hält er seine Liebe schriftlich fest, auf leeren Briefbögen, die ihm Pipette schickt, sowie in seiner rosa Kladde: Ich liebe sie ja, jedes Härchen an mir weiß es. Könnte ich es ein einziges Mal laut sagen, und sei es nur, wenn ich allein bin […]. Ach, Pipette, du, fleischgewordene Heiterkeit des Lebens, mit einer gedankenvoll ernsten Stirn! Was bin ich neben dir? […] Ich bin die kurz angebundene Tollheit. Ich bin die Angst, die sich Mut macht. Ich bin der Geiz, der verschwenden möchte. (F, 732) Deutlich äußern sich Wolkes Zerrissenheit und die Diskrepanz zwischen seinen Wünschen und dem tatsächlichen Leben. Während eine sexuelle Vereinigung also ausbleibt, findet das Paar allein im gemeinsamen Weinen für kurze Momente zusammen: „Das gemeinsame Leid vermählte uns wahrhaftiger, als die Lust es vermocht hätte, die, zumindest in der Vorstellung, ihr Leben aus der Opferung des andern zieht. Wir küßten uns nicht, wir weinten. Weinten gemeinsame Tränen in einem gemeinsamen Leib.“ (F, 772) Es verwundert so kaum, dass die Ermordung Casimirs auf die Ankündigung der bevorstehenden Abreise Casimirs und Pipettes folgt – zumal Wolke noch in der vorangegangenen Nacht gehofft hatte, Pipette allein sprechen zu können, stattdessen aber unfreiwilliger Zeuge jener sexuellen Erfüllung wird, der er selbst entsagt hat. In diesem Sinne wirft der Roman auch die Frage auf, inwiefern die Tat Wolkes tatsächlich noch politisch motiviert ist oder bereits ein Verbrechen aus Leidenschaft markiert. Während Wolke anfangs noch antike und christliche Mythen aufrufen kann,46 um sich seiner kulturellen Identität in der Fremde rückzuversichern, und daraus auch den Glauben an die Neuschöpfung der Welt zieht, bleibt ihm nach der Ermordung Casimirs und der Trennung von Pipette nur noch ein globaler Kulturund Zivilisationspessimismus: Die Menschen leben in ständiger Angst voreinander. Sie könnten sie nicht ertragen, wenn sie sich nicht von Zeit zu Zeit Luft machten, indem sie über einen gemeinsamen Feind herfallen. Denn geteilte Angst ist nur halbe Angst. 46 Vgl. neben dem erwähnten Schöpfungsmythos z. B. die zyklische Neuschöpfung der Natur aus sich selbst heraus, wie sie anhand der Feuersbrunst geschildert wird (vgl. F, 721), die Anspielung auf das platonische Kugelwesen (vgl. F, 742), aber auch die kindlichen Privatmythen (vgl. F, 699).
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Unsere Zivilisation beruht auf dem Verschweigen der Tatsache, daß die Gesunden unter dem Knüppel eines Häufleins besonders begabter Irrsinniger leben. Ich warte auf den Tag […], da die Menschen wie die Affen, die den Ruf, ihre Ahnen zu sein, nicht verdienen, auf die Bäume klettern und sich dort häuslich einrichten. Und unter ihnen am Boden wird nicht mehr sein als ein struppiges Unterholz und Trümmerfeld. Wie lange wird es dauern, bis sie dann wieder aufrecht gehn und sprechen lernen? Und wenn sie es gelernt haben, wird dann nicht der Unfug von neuem beginnen? (F, 790) IV. Einsamkeit und Wahnsinn Wolke sieht sich innerhalb seiner „Weltanschauung“ vor das unlösbare Problem gestellt, dass es ihm weder möglich ist, Suizid zu begehen, noch „befriedigt weiter[zu]leben“. (F, 778) An anderer Stelle fragt er sich: „Wie läßt sich die Freiheit der Persönlichkeit mit dem geordneten Gang der Geschäfte vereinigen, der nötig ist, um der geringsten Gemeinschaft die Befriedigung ihrer leiblichen und geistigen Bedürfnisse zu sichern?“ (F, 791) In der psychiatrischen Heilanstalt behauptet ein Insasse, diese Krux lösen zu können. Jener setzt Freiheit mit Furchtlosigkeit gleich und behauptet, dass derjenige, der sich seinem Willen durch Gehorsam unterordne, frei sei. Die vermeintliche Lösung eines existentiellen Problems durch den jungen Geisteskranken, der sich derweil (in einer von Schickele angelegten, offensichtlichen Hitler-Parodie)47 zum „HERR[N]“ (F, 792) über die anderen Insassen aufschwingt, entpuppt sich als ebenso gefährliches wie folgenreiches Paradoxon. Im Kleinen spiegelt der Umgang der Insassen miteinander so die gesellschaftlichen Verwerfungen der Außenwelt. Das „Irrenhaus“, ohnehin in einer langen literarischen Tradition stehend, fungiert damit zum einen als „Spiegel der Gesellschaft“, zum anderen aber auch als „Asyl des Geistes“,48 wie sich an dem zweiten möglichen Freiheitsentwurf, den der Roman zur Diskussion stellt, offenbart: Mit der amtlichen Feststellung von Wolkes Wahnsinn und seiner daraus folgenden Einweisung stirbt er einen symbolischen und gesellschaftlichen Tod. Er sieht sich damit insofern seines Problems enthoben, als zwar weiterhin für sein leibliches Wohl gesorgt ist, da er als Kranker
Vgl. Storck [Anm. 4], S. 313. Theodore Ziolkowski: Das Amt des Poeten. Die deutsche Romantik und ihre Institutionen, Stuttgart 1992, S. 252. Zu den Darstellungen des berühmten Londoner Irrenhauses Bedlam als mikrokosmischem Abbild der Gesellschaft vgl. Alexander Košenina: Literarische Anthropologie: Die Neuentdeckung des Menschen, Berlin 2008, S. 43. 47 48
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ein Schutzbefohlener der Gesellschaft ist,49 ihn aber zugleich die „geschlossene Abteilung des Kurheims“ (F, 789) von dem Handlungszwang, den seine „Weltanschauung“ mit sich bringt, befreit. Indem ihm die Zurechnungsfähigkeit abgesprochen wird, ist es ihm möglich, gefahrlos Fragen stellen zu können, auf die es nur „staatsgefährliche Antworten“ (F, 812) gibt. Trotz dieser neu gewonnenen „Freiheit“ verschlechtert sich Wolkes gesundheitlicher Zustand zunehmend. Verstärkt leidet er unter einer „psychische[n] Störung mit strukturellem Wandel des Erlebens“, die sich in „Bewusstseins-, Gedächtnis-, Orientierungsstörungen, Ich-Erlebensstörungen, Wahn und Halluzinationen“50 äußern kann. Seine Psychose artikuliert sich in der nach wie vor manifesten Überzeugung, Casimir sei der ehemalige König von Spanien. Wolkes eigene Beteuerungen, er simuliere den Wahnsinnigen nur, werden auch insofern unterlaufen, als er selbst mit Blick auf die Mitinsassen festhält: „Als ob ein Irrsinniger je glauben würde, er sei verrückt!“ (F, 793) Zudem häufen sich innerhalb des Verlaufs der Aufzeichnungen die Symptome einer Psychose, der Grad seiner Verwirrtheit nimmt zu. Wolke leidet etwa unter dem Wahn, man wolle ihn vergiften (vgl. F, 793), zuweilen hält er sich selbst für seinen behandelnden Arzt (vgl. F, 811). Der zunehmende Verlust an deiktischen Zeit- und Raumadverbien, den Woltersdorff im Text nachweist,51 setzt diese Wahrnehmungsstörungen auch sprachlich um. „Die Flaschenpost“ steht so auch in der Nachfolge von Bonaventuras „Nachtwachen“, dessen Protagonist Kreuzgang, ähnlich wie Wolke, die „Krankheit als höhere Gesundheit“52 erscheint. Tatsächlich krank erscheint aus dieser Perspektive nur die äußere Welt: Von Geburt sind die meisten Menschen geistig gesund. Allein da gibt es etwas in der Natur, das die Alten den panischen Schrecken hießen. Kraft dieser Gleichgewichtsstörung, die sich zuweilen aus geheimnisvollen Gründen von selbst einstellt, meistens aber künstlich bewirkt wird, sind gewisse Personen imstande, aus den gutmütigen und vernünftigen Wesen ihrer Umgebung im Handumdrehn Irrsinnige zu machen. Dann scharen sie sich zusammen, ziehen los, fallen über andre her, die im Nu von der gleichen Schreckenswut ergriffen werden, […] und begehn mit dem besten Gewissen der Welt jede denkbare Gemeinheit. (F, 790) 49 Die Anerkennung des Wahnsinns als Geisteskrankheit ist eine Errungenschaft der Aufklärung, die die mittelalterliche Vorstellung, es handele sich bei Wahnsinnigen um Teufelsbesessene, revidierte. Vgl. Alexander Košenina: Von Bedlam nach Steinhof. Irrenhausbesuche in der Frühen Neuzeit und Moderne, in: Zeitschrift für Germanistik 17 (2007), S. 322–339, hier S. 323. 50 [Art.] Psychose, in: Pschyrembel. Klinisches Wörterbuch, 259., neu bearb. Auflage, Berlin [u. a.] 2002, S. 1380. 51 Vgl. Woltersdorff [Anm. 38], S. 218. 52 Košenina [Anm. 48], S. 199.
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Die Welt ist ein Tollhaus und das Symptom ihres Wahnsinns ist der Krieg. Wolkes Flucht in die Emigration folgt eine Flucht in die Psychiatrie, die zugleich eine Flucht vor den Menschen selbst darstellt. Der Wahnsinn erscheint in diesem Sinne als letzter und somit bewusst gewählter Ausweg des Protagonisten. Ähnlich wie bei Shakespeares Hamlet ist auch bei Wolke letztlich nicht genau zu bestimmen, in welchem Maße er simuliert und in welchem Maße er tatsächlich an einer Psychose leidet.53 „Die Flaschenpost“ zählt damit weniger zu der „Literatur der Opposition und des Widerstands“, als vielmehr zu derjenigen „der Opfer und Verfolgten“,54 deren durch Exil und Emigration bedingte Isolation, Sprach- und Identitätsverlust der Roman eindrücklich ins Bild setzt. Wenn „Die Flaschenpost“ also auch kein Werk ist, das sich explizit auf die politischen Ereignisse der 1930er Jahre bezieht, so ist es doch ein Text, der die Konsequenzen der Entwicklungen dieser Zeit anhand des Schicksals des „Exilanten“ Wolke greifbar macht. Die zeitbezogene Kritik ist Schickeles letztem deutschsprachigen Roman also durchaus – wenn auch offensichtlich weniger explizit, als es sich Klaus Mann gewünscht hätte – immanent, wie bereits Walter Hasenclever erkannt hat: „Was ich an Ihrem Buch bewundere, ist eine Art der Geschichtsschreibung, die zwischen den Zeilen zu lesen ist.“55 Literarische „Fahnenflucht“ 56 jedenfalls konnte Schickele nur vorwerfen, wer diese andere Art der Geschichtsschreibung überlas.
53 Schon Thomas Mann verweist auf die Parallele zu Hamlet als Reaktion auf Schickeles Vergleich Wolkes mit Goethes Werther. Vgl. den Brief Schickeles an Thomas Mann vom 28. März 1937 (Wysling / Bernini [Anm. 1], S. 108f., hier S. 108). 54 Winckler [Anm. 43], S. 174. 55 Brief von Walter Hasenclever an René Schickele vom 21. April 1937 (Bentmann [Anm. 5], S. 210). 56 Mann [Anm. 2], S. 191.
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Alfred Döblin „November 1918. Eine deutsche Revolution“ (1937–1943) Angesichts des riesigen Kosmos der Figuren und Handlungen, der Fülle, Brüche, Widersprüche und Doppeldeutigkeiten in Alfred Döblins Roman-Zyklus „November 1918. Eine deutsche Revolution. Erzählwerk in drei Teilen“1 fällt es selbst unter einer konkreten Themenstellung schwer, der Vielfalt im Rahmen eines Aufsatzes gerecht zu werden und Thesen zu formulieren, zu denen sich im Text nicht auch Stellen finden ließen, die eben jene wieder infrage stellen könnten. Doch spiegelt sich gerade in dieser Vielschichtigkeit die Exilsituation Alfred Döblins. Ich orientiere meine Ausführungen daher an zwei Punkten: Zum einen möchte ich den Text anhand einiger Beispiele auf die Frage hin betrachten, wie er sich in den Kontext seiner Entstehungszeit, der Exilliteratur bzw. der Entwicklung Alfred Döblins im Exil einordnen lässt. Zum andern möchte ich ihn auch in Hinblick auf seine Aktualität untersuchen und diskutieren, inwieweit er eine auch unter den heutigen politischen und sozialen Verhältnissen noch zeitgemäße Deutung der Ereignisse des Novembers 1918 bereit hält. „November 1918“ hat eine verwickelte Entstehungs- und Publikationsgeschichte. Nach der „Amazonas-Trilogie“ hatte Döblin 1937 wieder ein literarisches Großprojekt begonnen, eine Chronik der deutschen Revolution von 1918. In den Ereignissen um den 9. November 1918 und den darauf folgenden politischen Entwicklungen sah Döblin den Keim der Hitler-Diktatur, seiner Verbrechen und damit auch unmittelbar den Ausgangspunkt seines Exils und desjenigen der anderen vertriebenen Schriftsteller. Ursprünglich plante er drei Teile, aus denen dann aber letztlich vier wurden, da der zweite sich so umfangreich gestaltete, dass er in zwei Bände aufgeteilt werden musste. Der erste Teil „Bürger und Soldaten 1918“ entstand noch vor dem Krieg im französischen Exil und wurde 1939 bei S. Fischer in Stockholm und Querido in Amsterdam veröffentlicht. Den zweiten Teil, der später zu den zwei Büchern „Verratenes Volk“ und „Heimkehr der Fronttruppen“ wurde, hatte er dort noch begonnen, das Manuskript auf seiner abenteuerlichen Flucht durch Frankreich 1940 bei sich getragen und in den Vereinigten Staaten weiter daran geschrieben, wo auch der dritte Teil „Karl und 1 Textgrundlage meiner Ausführungen ist die textkritisch gesichtete Neuausgabe im S. Fischer Verlag von 2008: Alfred Döblin: November 1918. Eine deutsche Revolution Erzählwerk in drei Teilen: Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918, Frankfurt a. M. 2008; Zweiter Teil, Erster Band: Verratenes Volk, Frankfurt a. M. 2008; Zweiter Teil, Zweiter Band: Heimkehr der Fronttruppen, Frankfurt a. M. 2008; Dritter Teil: Karl und Rosa, Frankfurt a. M. 2008.
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Rosa“ (bis 1943) entstand. Die Vermutung liegt nahe, dass diese Umstände nicht ohne Einfluss auf die inhaltliche Gestaltung des Texts geblieben sind. Im Herbst 1948 und Frühjahr 1949 erschienen die beiden Bände des zweiten Teils bei Alber in Freiburg im Breisgau. Die in diesem Rahmen ebenfalls geplante Neuedition des ersten Teils „Bürger und Soldaten 1918“ kam jedoch nicht zustande, da der Text von den Zensurbehörden der französischen Besatzungsmacht nicht genehmigt wurde: Die Elsass-Lothringen-Thematik, die Darstellung der Elsässer als gespaltenes Volk erschienen den Behörden kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wohl als zu brisant. So enthielt der zweite Teil stattdessen ein von Döblin verfasstes und eher unverfänglich gehaltenes vierzigseitiges „Vorspiel“, welches die wichtigsten inhaltlichen Entwicklungen des ersten Bandes benannte. Da alle Teile in ihrer Handlung inhaltlich aufeinander folgen und die entscheidenden Figuren bereits im ersten eingeführt werden, war dies zum Verständnis des zweiten Teils notwendig. Im Februar 1950 schließlich erschien mit „Karl und Rosa. Eine Geschichte zwischen Himmel und Hölle“ ebenfalls bei Alber in Freiburg im Breisgau der Schlussband. Die Bücher fanden jedoch, wie auch diejenigen zahlreicher anderer Exilautoren, kaum Resonanz. Eine erste vollständige Ausgabe der Tetralogie erschien erst 1978 und anlässlich Döblins einhundertsten Geburtstags im Deutschen Taschenbuch Verlag. Das Gesamtwerk folgt einer strengen Chronologie und erzählt tageweise Ereignisse vom 9. November 1918 bis zur Ermordung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs am 15. Januar 1919, das Schicksal einer der Hauptfiguren, Friedrich Becker, der Identifikationsfigur des Autors, wird jedoch noch bis zu dessen tragischem Tod zwei Jahre danach weitergeführt. „Bürger und Soldaten 1918“ spielt hauptsächlich in Straßburg und schildert den Abzug der deutschen Truppen nach dem Waffenstillstand sowie den anschließenden Einmarsch der Franzosen. In den folgenden Bänden verlagert sich das Geschehen immer mehr nach Berlin, zudem gibt es zahlreiche Nebenschauplätze. Der Zyklus umfasst mehrere Handlungsstränge, die zunächst kaum miteinander verbunden scheinen. Dabei fällt auf, dass ein Teil von ihnen mit fiktiven Figuren, ein anderer mit historischen Personen besetzt ist. In den ersten beiden Büchern hält der Autor beide Ebenen streng voneinander getrennt, so dass es zu keinen unmittelbaren Kontakten zwischen den ‚realen‘ und den fiktiven Protagonisten kommt. Im weiteren Verlauf jedoch verknüpft er die Ebenen zunehmend und es kommt gelegentlich zu Begegnungen. Doch grundsätzlich entstehen zwei Dimensionen: Die Ereignisse werden sowohl aus der Perspektive der politischen Entscheidungsträger als auch auf einer alltäglichen Ebene dargestellt. Döblin bedient sich dabei zunächst eines sachlichnüchternen Stils, der aber zunehmend von auktorialen Erzählerkommentaren und ironischen Einschüben durchbrochen wird. Ein deutlicher Wechsel vollzieht sich sukzessive im Verlauf der Bücher des zweiten Teils, vermehrt gewinnen hier auch mystische Aspekte an Gewicht. Die eher sachlich gehaltene personale Erzählperspektive weicht einer dramatischen Darstellung und Ausgestaltung
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von Visionen und Träumen sowohl der historischen Figuren wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, als auch des fiktiven Personals wie der Kriegsheimkehrer Friedrich Becker oder der Dramatiker Erwin Stauffer. Diese vier Charaktere rücken ohnehin zunehmend ins Zentrum des Geschehens, sie tauchen im ersten Band kaum bzw. gar nicht auf und werden im vierten Band deutlich hervorgehoben. In der Romantetralogie, deren Handlung auf drei Monate der Jahre 1918/19 konzentriert ist, spiegelt sich ein Kosmos von geschichtlichen Zusammenhängen und menschlichen Charakteren, ein Welttheater, eine Kombination unterschiedlicher Stilebenen. Döblin präsentiert ein Deutungsmodell seiner Zeit und der conditio humana, komprimiert in der genauen Beobachtung dieses Zeitraums, in dem sich in seinen Augen das weitere Schicksal Deutschlands und der Welt entschied. Durch die minutiöse Beobachtung von Details sowie individuellen Schicksalen werden Phänomene der modernen Gesellschaft, das Verhältnis von Masse und Macht und viele weitere Aspekte literarisch aufgegriffen und gestaltet. In Rückblenden sind zudem Darstellungen zahlreicher ‚tatsächlicher‘ Biographien, fiktiver Lebensläufe und historischer Prozesse eingebettet. „November 1918“ entstand im Exil, spielt in der Zeit davor und wurde zum Großteil erst nach dem Krieg veröffentlicht. Versucht man den Roman innerhalb der Exilliteratur zu verorten, nimmt er eine hybride Stellung ein. Der historische Roman war eine der beliebtesten Gattungen der Exilliteratur. „November 1918“ ist einerseits im Stil eines Historienromans geschrieben, hat die Form einer Chronik und beleuchtet parabelhaft historische Ereignisse. Andererseits ist der Stoff untypisch. Im Gegensatz zu anderen historischen Romanen des Exils wie Heinrich Manns „Henri Quatre“, Gustav Reglers Bauernkriegsroman „Die Saat“ oder Lion Feuchtwangers „Der falsche Nero“, die bereits fest in der Geschichte verankerte Stoffe mit Gegenwartsbezug verarbeiten, lagen die Ereignisse des November 1918 vergleichsweise kurz zurück und konnten kaum auf eine historische Distanz verweisen. Viele der im Roman genannten Personen lebten noch. Hieran zeigt sich, dass durch die Schrecken des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges eine Art verfrühter Historisierung des Ersten Weltkrieges und der Weimarer Republik einsetzte. Interessant ist dabei auch, dass der Roman im Grunde selbst beteiligt ist an diesem Historisierungsprozess, indem er die Ereignisse in der Form einer geschichtlichen Chronik anlegt. Döblin deutet das von ihm betrachtete Geschehen dabei als Ursache derjenigen Entwicklung, die schließlich zur Machtübernahme der Nationalsozialisten führt. Dabei stellt sein Romanwerk viele Fragen: Welche Entwicklungen beruhen auf Kontingenz, welche sind unvermeidliche Folgen in einer Kette von Kausalitäten? Wer sind die Verantwortlichen, wie hätte die Geschichte anders verlaufen können? Der Roman macht diese geschichtsphilosophischen Fragen fassbar, indem er in einzelnen Erzählepisoden die historischen Wendungen und menschlichen Entscheidungen in ihren Entstehungsprozessen psychologisch und soziologisch zueinander in Beziehung setzt. Er variiert bei Beschreibungen von Massenszenen
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wie etwa dem Einzug der Fronttruppen in Berlin zwischen der Erscheinung der Masse und der Psychologie des Einzelnen, sodass die amorph erscheinende Masse zugleich individuelle Gesichter gewinnt. Im Zusammenhang mit der Schilderung der Ankunft des US-Präsidenten Wilson in Paris, wo dieser mit den Verbündeten der Entente seine Idee einer gerechten Friedensordnung in Europa verwirklichen will, findet sich eine Anspielung, die sowohl auf das kollektive Vergessen der Revolution von 1918 als auch auf eine Antizipation des Vergessens von NS-Verbrechen und Krieg durch eine verfrühte Historisierung verweisen könnte, wenn es heißt: Es [gemeint ist Wilsons Quartier in Paris, H. G.] enthielt freilich auch Andenken an einen fürchterlichen Krieger, den ersten Napoleon, was vielleicht nicht das Richtige war, um den neuen Weltenrichter zu erfreuen. Aber nach einiger Zeit ist ja alles, was tot ist, nur tot, und der Schmerz, der Jammer und die Verwünschungen sind verstummt, und nur die Geschichtsprofessoren sorgen sich um die Konservierung – und schließlich ist der neue Weltrichter ja selbst Geschichtsprofessor und wird sich fachlich interessieren. (Heimkehr der Fronttruppen, S. 111) Döblins minutiöse Niederschrift der Ereignisse von 1918/19 und ihre zugleich romanhaft verdichtete Deutung sind somit zum einen der Versuch, diese Zeit im kollektiven Gedächtnis zu verankern und dem fortschreitenden Vergessen zu entziehen. Zum anderen ging es ihm darum, aus der Geschichte zu lernen, sie zu analysieren und die daraus gewonnenen Erkenntnisse für eine friedlichere Zukunft fruchtbar zu machen. Der resignative Ton der Passage über Roosevelt ist dabei mehrdeutig. Zum einen könnte er auf die Vergeblichkeit des eigenen Versuchs, mit diesem Roman und seiner Erkenntnis die zukünftige Geschichte positiver verlaufen zu lassen, anspielen. Zugleich deutet er auf das Scheitern von Wilsons Friedensbemühungen hin. Im Roman gehört der US-Präsident Wilson zu den positiv besetzen historischen Figuren. Ihm werden ehrliche und gute Absichten zugeschrieben, doch er scheitert an der Interessenpolitik und der Taktik anderer. Selbst dem Mann, der die wohl mächtigste politische Position der Welt innehat, gelingt es nicht, seine Idee von einem ausgleichenden Frieden durchzusetzen. Wilson steht im Roman so für einen Politikertypus, der zwar guten Willens ist, der aber auch immer wieder an der Realität scheitert. Ohnehin ist es ein wiederkehrendes Motiv der Handlung, dass die ausgleichenden, um Mäßigung bemühten Stimmen stets unterdrückt werden. An der Auswahl der historischen Personen und ihrer Gestaltung ist zu erkennen, dass der Autor den weiteren Verlauf der Geschichte implizit mit einfließen lässt; so wird etwa der chronologisch erst später ins politische Zentrum rückende, im Stab des Ludendorff-Nachfolgers Gröner tätige Major Kurt von Schleicher
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exponiert in die Handlung eingebaut. Schleicher war gegen Ende der Weimarer Republik Reichskanzler und wurde im Zuge des „Röhm-Putsches“ ermordet. Döblin rekonstruiert und formt die Absprachen und Händel zwischen der provisorischen Regierung in Berlin und der Armeeführung in Kassel, wo Hindenburg nach wie vor große Macht besitzt. Die Militärführung geht ein Zweckbündnis mit der neuen sozialdemokratischen Regierung unter Friedrich Ebert ein, den Döblin negativ zeichnet. Das „verratene Volk“ wird von taktierenden Mehrheitssozialisten und Spartakisten hin- und hergetrieben. Bezeichnend ist, dass mäßigende Kräfte, wie der unabhängige Sozialist Emil Barth, die ernsthaft einen gewaltlosen Ausgleich und einen Mittelweg suchen zwischen einer radikalen sozialistischen Revolution und der Etablierung einer Gesellschaft, in der die alten Eliten aus Adel und Kapital nach wie vor das Sagen haben, von der Masse niedergeschrien werden, die den radikalen Linken des Spartakusbundes, den Mehrheitssozialisten unter Ebert oder den reaktionären Kräften folgt. Auch andere, als aufrichtig und idealistisch gezeichnete Kräfte wie Kurt Eisner und Gustav Landauer erscheinen in dem Roman, deren Ermordung die Romanhandlung antizipiert. Hinter all dem sowie weiteren exemplarischen Erzählungen innerhalb der Romanhandlung steht die resignative Auffassung, dass die politischen Entwicklungen zur Entstehungszeit des Werks eine Folge der geschilderten vergangenen Ereignisse seien und dass bereits im Scheitern der Revolution die Weichen für den Weg in das faschistische Unrechtsregime gestellt wurden. Selbstverständlich versucht Döblins Roman keine objektive Geschichtsdarstellung, falls es eine solche überhaupt geben könnte. Dies entspricht auch nicht dem Credo des Autors. In einer Rezension von Gustav Reglers Exilroman aus den deutschen Bauernkriegen „Die Saat“ schreibt Döblin im Zusammenhang mit der literarischen Darstellung von historischen Stoffen: [D]as Falscheste, Unwahre und Blasseste, die völlige Lebensunfähigkeit ist die Objektivität, man kann mit ihr nichts anfangen – Blut, Rückgrat und Gesicht kommt nur vom Willen und der sicheren Einstellung des Autors – man hüte sich davor, vollständig und ‚gerecht‘ sein zu sollen. Praktisch bedeutet das in der Regel, seinen ganzen Farbkasten wegwerfen. In keiner Weise kann der Autor von der Pflicht entbunden werden, alle, auch alle Figuren vor sein Gericht zu ziehen, und da wird unter allen Umständen sogar eine Karikatur mehr ‚stehen‘ als die ‚Objektivität‘ (die man dem lieben Gott überlassen soll).2 Diese Äußerung bringt das Gestaltungsprinzip von „November 1918“ auf den Punkt. Doch dies bedeutet nicht, dass Döblin dem Leser seine Sicht der Dinge apodiktisch vermitteln möchte. Er lässt keine Tatsachen aus, die der Leser 2
Alfred Döblin: Die Saat, in: Pariser Tageblatt, 19. April 1936, S. 3f.
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eventuell anders als der Autor interpretieren könnte. Am Beispiel der negativen Charakterisierung Friedrich Eberts möchte ich dies kurz exemplifizieren. Ebert wird als gewiefter Taktiker, etwas eitler Emporkömmling und letztlich Totengräber der Revolution dargestellt. Döblin sieht im Scheitern der Revolution respektive dem einer Erneuerung Deutschlands den Grund dafür, dass sich die rechten Kräfte und die mit ihnen verbundenen Unternehmer und Finanziers in der Weimarer Republik wieder organisieren und den Weg zu Hitler bereiten konnten. Den Mehrheitssozialisten um Ebert lastet er an, dass sie im November 1918 durch ein Zweckbündnis mit den Militärs um Hindenburg und Gröner einen Neuanfang blockiert hätten und den Spartakusaufstand mit provoziert hätten, dessen gewaltsame Niederschlagung das Ende der Revolution bedeutet hätte. Dazu muss angemerkt werden, dass Döblin im ersten Band noch weitaus differenzierter verfährt, während im weiteren Verlauf zunehmend sarkastische Kommentare eingefügt werden, was sich wohl auch aus einer wachsenden Bitterkeit angesichts der sich für ihn verschlechternden Lebensverhältnisse während des Entstehungsprozesses des Texts erklärt. Doch zeigt sich bei diesem Aspekt eine gewisse Ambivalenz, auf die auch Wilfried Schoeller verweist, wenn er konstatiert: Aber der Erzähler ist dem Kommentator an Differenziertheit weit überlegen. Er zeigt Ebert auch als einen klugen Kopf, der verhindern will, dass Deutschlands radikale Linke ein Sowjetsystem errichtet (wie von Liebknecht gefordert) und mangels militärischer Macht mit den wilhelminischen Generälen zusammenarbeiten muss. Eberts Dilemma besteht in dem Roman darin, dass – um mit Adorno zu sprechen – das Ganze das Unwahre ist und es keine immanente Lösung gibt.3 Hierin liegt gewiss ein kardinaler Widerspruch des Romans, der letztlich wohl darauf beruht, dass Döblin selbst keine „Lösung“ anbieten konnte. Der Roman ist somit auch Ausdruck der eigenen Unsicherheit und des Schwankens in dieser Zeit. Im letzten Band schließlich setzt Döblin sich ausführlich mit Liebknecht und Luxemburg auseinander, denen er gute Absichten konzediert, die er aber als gespaltene, schwankende Charaktere schildert. Die Ablehnung politischer Gewalt und eines Systems nach bolschewistischem Vorbild kommt im Roman relativ deutlich zum Ausdruck, vor allem durch die Figur des Karl Radek. Dieser hält sich als Abgesandter Lenins in Berlin auf und versucht, den zögernden, bedachtsamen Karl Liebknecht zum bewaffneten Aufstand anzustacheln und trägt dabei Züge eines Mephisto. Die Ebene der fiktiven Figuren stellt zahlreiche Einzelschicksale vor. Zeittypische Schieber erscheinen, perspektivlose Ex-Soldaten, die sich Freikorps 3
Wilfried F. Schoeller: Alfred Döblin. Eine Biographie, München 2011, S. 723.
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anschließen, Kriegsheimkehrer, die nicht wissen, wohin sie sich wenden sollen, und in ihrem Idealismus zwischen links und rechts pendeln. Zudem enthält der Roman auch autobiographische und intertextuelle Verweise auf Döblins eigenes Werk, die sich vor allem in den Figuren des Oberleutnants Friedrich Becker und des Schriftstellers Erwin Stauffer finden. In Becker und Stauffer hat Döblin seine eigene, auch selbst empfundene Widersprüchlichkeit und seine Fragen dieser Zeit gespiegelt. Diese stark autobiographisch grundierten Charaktere sind die zentralen Figuren auf der fiktionalen Ebene und können zugleich als Bilder der Entwicklung des Autors während des Schreibprozesses gedeutet werden. 1941 ließ Döblin sich katholisch taufen. Sein Weg vom Judentum zum Christentum ist Gegenstand zahlreicher Diskussionen gewesen. Die Entstehung von „November 1918“ fällt in diese Zeit, und es stellt sich die Frage, inwieweit dieser bedeutsame Schritt und der damit verbundene innere Entwicklungsprozess, den die Exilsituation mitgeprägt hat, sich im autobiographischen Subtext des Romans niederschlagen. Der Altphilologe Friedrich Becker, als Oberleutnant im Krieg schwer verletzt, ist die markanteste und am ehesten auf Ähnlichkeiten mit dem Autor verweisende Figur, was man auch daran erkennt, dass seine Gedanken und Empfindungen häufig sehr detailiert geschildert werden. Im Zuge des Romanzyklus entwickelt sich Becker zum religiösen Menschen. Zudem dient er als eine Art roter Faden der Tetralogie. Die fatale politische Entwicklung, das Ende der Revolution mit der Ermordung von Liebknecht und Luxemburg, vollzieht sich auf der Handlungsebene des Romans analog zu den Lebensereignissen Beckers. Während Becker im ersten Teil „Bürger und Soldaten 1918“ jedoch noch nicht im Mittelpunkt steht, rückt er im zweiten zunehmend in das Zentrum des Romans. Der ursprünglich lebenslustige und schöngeistige Becker entwickelt sich während des Krieges und im Zuge einer langwierigen Nervenverletzung, die er in einem Straßburger Lazarett auszuheilen versucht, zum Pazifisten. Nach Berlin zu seiner Mutter heimgekehrt gerät sein Leben zunehmend außer Kontrolle. Er wird von seiner Umwelt nicht verstanden, seine Sinnsuche plagt ihn, er fühlt sich schuldig am Krieg, „sucht weiter die Instanz, die ihm einen Weg zeigen soll, und die Instanz findet er natürlich nicht“ (Heimkehr der Fronttruppen, S. 226). Er will sich politisch einbringen, weiß aber nicht, in welcher Weise. Seine ihn innerlich quälende Unfähigkeit, sich entsprechend zu positionieren, wird ihm zudem von außen zum Vorwurf gemacht. Die Entwicklung gerade dieser Figur könnte also einen autobiographischen Hintergrund haben, denn die Missachtung, die Döblin von Seiten einiger Bekannter nach seinem Bekenntnis zur katholischen Religion entgegen schlug, könnte die weitere Gestaltung des Schicksals dieser Figur beeinflusst haben, deren Tod am Ende des Gesamtzyklus sinnbildlich auch für das Scheitern der Revolution steht. Am Anfang der Handlung träumt Becker im Lazarett und während der Zugfahrt nach Deutschland voll Enthusiasmus vom Frieden, der nun kommen soll. Zurück in Berlin beherrschen zunehmend Angstträume und apokalyptische
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Phantasien sein Bewusstsein, bis ihm in mehreren Visionen der Teufel in unterschiedlichen Gestalten erscheint. Schließlich unternimmt er gar einen Selbstmordversuch. Beckers Ängste lassen sich gewiss mit Döblins Leiden während der Emigration in Verbindung setzen. So erklärte sich auch, dass im ersten Teil – der vor Döblins Flucht aus Frankreich entstand – Becker noch nicht von solch heftigen Panikattacken heimgesucht wird. Am Schluss des letzten Bandes steht Beckers tragisches Ende. Er geht, scheinbar gesundet, zurück in den Schuldienst. In der Schule wird er in einen Skandal hineingezogen, verliert die geliebte Frau und nimmt messianisch eine Schuld auf sich: Aus Menschlichkeit beteiligt er sich am Spartakusaufstand und wird zu zwei Jahren Haft verurteilt. Jener Strafe könnte er zwar entgehen, doch zieht er es vor, dieses Opfer auf sich zu nehmen. Nach der Entlassung irrt er als Gottesnarr durch das Land, bis er schließlich bei einem Raubmord zu Tode kommt, der in einer mystischvisionären Himmelfahrt dramatisiert wird, die an den Schluss des „Faust II“ denken lässt – wie überhaupt vieles in der Becker-Erzählung Anspielungen auf den Fauststoff bereit hält. Ähnlich wie Döblins Entwicklung zum Christen sich während der Arbeit an dem Text vollzog, wird Becker in seiner Verzweiflung an der Politik und der rationalen Philosophie zum Christen. Seine Entwicklung wird durch zahlreiche mythologische Bezüge und Anspielungen auf literarische Motive begleitet, z. B. aus dem „Tristan“, Miltons „Paradise Lost“ oder Sophokles’ „Antigone“. In Visionen erscheint Becker der Straßburger Mystiker Johannes Tauler, der zu ihm vom Frieden im Reich Gottes spricht, welcher aber nur zu erlangen sei, indem man vorher durch das „Tor des Grauens und der Verzweiflung“ (Heimkehr der Fronttruppen, S. 229f.) gehe. Eine markante Parallele zur erzählten Gegenwart drückt sich aus, wenn Beckers eher schematisch denkender Antipode, der Kriegskamerad Maus, der sich erst der Linken, am Schluss des Zyklus der Rechten anschließt, über den Grübler Becker sagt: „Du siehst, wohin das führt. So haben sie sich alle, die Intellektuellen, wollen ihre eigenen Wege gehen, und nachher schnappen sie über. Ich wünsche es der ganzen Sorte. […] Stubenwanzen“ (Heimkehr der Fronttruppen, S. 232). In anderer Weise stehen sich Becker und der Dramatiker Stauffer gegenüber. Die Rolle der Literaten während der Novemberrevolution erscheint in „November 1918“ negativ. Döblin karikiert in einigen Kapiteln Versuche von (fiktiven) Schriftstellern, sich am politischen Prozess zu beteiligen. Obgleich diese nicht als völlig unreflektiert dargestellt werden, erweisen sie sich aber letztlich doch als Ausdruck von Opportunismus, Eitelkeit und Weltfremdheit. Der alternde Dramatiker Stauffer reist, während in Berlin politische Unruhen herrschen, in die Schweiz, auf der Suche nach einer alten Geliebten, welche er, wie er glaubt, wegen einer Intrige seiner damaligen Frau verloren hat. Zwar plagen ihn einige private Schuldgefühle, doch flieht er vor persönlichen Verpflichtungen und seiner politischen Verantwortung zu der Geliebten ins Schweizer Tessin, wo er
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in eine märchenhafte Welt eintaucht. Auch dieser Eskapismus verweist auf einen autobiographischen Hintergrund. Wilfried Schoeller versteht Stauffer in diesem Sinne „als Objekt Döblinscher Selbstkritik“.4 Becker hingegen demonstriert in seiner Haltung, an der er zerbricht, dass er sich im Grunde politisch engagieren will, es aber innerlich nicht kann und daran verzweifelt. Er steht für die Machtlosigkeit des einzelnen Menschen gegenüber der Geschichte, die auch Döblin erfahren hat. Das Opus magnum Alfred Döblins kann in diesem Sinne auch als Revision des eigenen Lebens und Werks angesichts seiner Exilsituation gedeutet werden. Wie viele Autoren des Exils (oder auch der sogenannten inneren Emigration) hat er sich in diesen Krisenzeiten einen großen Stoff gewählt, um die Essenz seines Denkens und Schreibens in einem monumentalen Roman zusammenzufassen. Komprimiert finden sich die wichtigsten Züge seines bisherigen Gesamtwerkes hier wieder und vereinigt, z. B. die Massenszenen aus „Die drei Sprünge des Wang-lun“, die bereits aus „Berlin Alexanderplatz“ bekannten Berliner Milieuschilderungen, die kenntnisreiche Spiegelung von Geschichte und menschlicher Individual-Psychologie des „Wallenstein“. Zudem bildet die Romantetralogie eine Verbindungslinie zu Döblins mystischspiritualistisch geprägtem Spätwerk und stellt in diesem Sinne also zugleich eine Bilanz wie einen Neuanfang dar. Insbesondere die Parallelen zwischen dem Kriegsheimkehrer Friedrich Becker und dem aus dem Zweiten Weltkrieg zurückkehrenden Edward Allison aus „Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende“ (1956 erschienen) sind offensichtlich – wenngleich Allisons Schicksal (nach einigen Überarbeitungen des Manuskripts) eine positive Wendung nimmt. Auch Döblins ganze Stilvielfalt findet sich in dem Romanzyklus virtuos vereinigt: historischer Realismus, neusachliche Lakonie, spirituelle Empathie, Montagetechnik, innere Monologe. Eine Frage, die jeden Text des Exils angeht, ist die, ob er heute noch aktuell oder nur im Kontext seiner Entstehungszeit relevant, also allenfalls als zeitgeschichtliches oder autobiographisches Zeugnis von Interesse sein kann. „November 1918“ bietet in jeder Beziehung auch heute noch eine lohnende Lektüre. Die Kunst dieses großangelegten Romanwerks besteht darin, dass es Döblin gelingt, eine zeitlich zwar nur kurze, aber im Verlauf der Geschichte äußerst bedeutsame Zeitspanne festzuhalten. Der Roman reflektiert und pointiert in vielgestaltiger Weise Fragen nach dem Verlauf und dem Sinn von Geschichte. Zudem zeigt er, dass es häufig erst durch zeitliche Distanz möglich wird, historische Ereignisse zu begreifen und angemessen zu analysieren, um für spätere, möglicherweise ähnliche Situationen zu lernen. Döblins geschichtsphilosophischer Ansatz mag angesichts seiner eigenen Situation im Exil eher pessimistisch, die Hinwendung zu Mystik und Religion Ausdruck eines Verzweifelns an der 4
Ebd., S. 726.
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Realität sein. Und doch lässt der Roman seinem Leser die Möglichkeit, die Dinge auch aus anderer Perspektive zu betrachten und sie zu hinterfragen. Döblins Fähigkeit, Typen und Charaktere, vor allem im Hinblick auf das prekäre Verhältnis von Individuum und Masse, zu beleuchten, ist eine der großen Leistungen dieses Romans. Wie man Menschen beeinflusst, wie sie in bestimmten Situationen zu lenken und zu radikalisieren sind, all dies stellt der Roman dar. Anhand vieler Beispiele zeigt Döblin, wie Gerüchte oder bloß zufällige Ereignisse den Einzelnen ebenso wie die Massen manipulieren können. Eindrucksvoll ist die plastische Darstellung von politischer Ebene und unmittelbarer Lebenswelt in ihrer gegenseitigen Wechselwirkung. In Bezug auf die Geschichte der Literaturlandschaft Saarland-LothringenLuxemburg-Elsass besitzt der erste Band „Bürger und Soldaten 1918“ einen hohen Erkenntniswert. Döblins Verhältnis zur Region ist inzwischen in einem Band mit Briefen und weiteren Zeugnissen eingehend dokumentiert worden.5 Er war im Ersten Weltkrieg als Militärarzt in Saargemünd stationiert und hat die in „November 1918“ beschriebene Zeit selbst in Straßburg und Berlin erlebt. „Bürger und Soldaten 1918“ ist so auch die wohl eindringlichste und plastischste literarische Schilderung des Abzugs der Deutschen aus Straßburg, der Zeit bis zum Einmarsch der Entente-Truppen und des Beginns der französischen Herrschaft.
5 Vgl. Alfred Döblin: „Meine Adresse ist: Saargemünd“. Spurensuche in einer Grenzregion, hg. v. Ralph Schock, Merzig 2010.
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Bertolt Brecht „Svendborger Gedichte“ (1939) I. Das flüchtige Wort Ende Mai 1938 schreibt Brecht aus dem dänischen Svendborg nach Prag. Der Ton des an seinen dort ansässigen Verleger Wieland Herzfelde gerichteten Briefes ist dringlich – und dies wohl nicht nur weil der Dichter ahnte, dass auch die Tschechoslowakei schon in wenigen Monaten von der Wehrmacht besetztes Gebiet, Herzfelde geflüchtet und damit auch seine geplanten Buchprojekte hinfällig sein würden. „Du weißt“, hält er so gegenüber dem Freund nahezu apologetisch fest, „Du weißt, ich habe jahrelang nicht gedrängt, aber jetzt weiß ich, es kommt darauf an.“1 Worauf es in diesem „jetzt“ ankam, war in Brechts Augen gleich mehrfach von größter Wichtigkeit. Immerhin ging es in dieser Sache, wie er meinte, um nicht weniger, als ihm „jetzt die entscheidende Position [zu, S. K.] verschaffen, die ich in der Emigrantenliteratur bisher nicht habe“, und zugleich den von Herzfelde gegründeten Malik-Verlag „völlig zum dominierenden [zu, S. K.] machen“ (GBA 29, 96). Erreichen sollte diesen gleich doppelten „Geländegewinn“ (ebd.) eine von Brecht geplante Sonderausgabe, die zum einen das erst kurz zuvor mit großem Erfolg uraufgeführte Stück „Furcht und Elend des III. Reiches“ und zum anderen die Sammlung „Gedichte im Exil“, die erst später in „Svendborger Gedichte“ umbenannt werden sollte, vereinen würde. „Du mußt“, drängt Brecht in diesem Sinne weiter, „alles tun, um diese beiden Werke sogleich in einem Band herauszubringen“. Denn, und hier schließt er einen weiteren Imperativ der im Brief von ihm unterstrichenen Worte „muß“ und „sogleich“ an, auf die ersten Bände der „Gesammelten Werke“ Brechts, die Herzfelde in diesen Monaten herausgab, „muß jetzt etwas absolut Aktuelles, Eingreifendes folgen“ (ebd.). Man mag sich ein wenig verwundern ob des fast militärisch anmutenden Sprachduktus, dessen Brecht sich hier, kurz vor dem Ausbruch eines Krieges, den der Dichter freilich längst als unvermeidlich voraussah, bedient, um den Verleger von der Bedeutsamkeit seines avisierten Projektes zu überzeugen. Von einem „immensen Geländegewinn“ ist da schließlich die Rede, von „entscheidende[n] Position[en]“, die errungen werden sollen, von „dominierenden“ Stellungen und immer wieder von dem „muß“, das hier in seiner Dringlichkeit fast befehlsartig anklingt. Hatte Brecht schon in vorausgegangenen Briefen an den Verlegerfreund mehrfach eine zeitnahe Veröffentlichung angemahnt, so lässt 1 Brief Bertolt Brechts vom 31. Mai 1938 an Wieland Herzfelde, in: ders.: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. v. Werner Hecht [u. a.], 30 Bde., Berlin [u. a.] 1988‒2000 [zit. GBA], Bd. 29: Briefe 2, S. 95f., hier S. 96.
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spätestens sein Brief vom 31. Mai 1938 keinen Zweifel mehr an der unbedingten Notwendigkeit einer raschen Publikation. Dermaßen eilig ist dem Dichter sein Anliegen, dass er kaum ein rhetorisches wie argumentatives Mittel ungenutzt lässt, um dem Verleger den letzten Überzeugungsanstoß zu versetzen. Zuletzt führt er ihm gar die materiellen Vorteile vor Augen, die dieser aus der Publikation – immerhin zu Lasten Brechts – ziehen soll: Du müßtest sofort mit dem Druck beginnen, Du würdest bestimmt verkaufen, leichter als alles andere. […] Ich will keinen Vorschuß und ich verspreche Dir die Erledigung der Korrekturen […] im rapidesten Tempo. Der Moment ist sehr wichtig! […] Schreib mir bitte gleich darüber, fang einfach gleich an damit! Mein Draufdrücken ist wirtschaftlich für mich durchaus ungünstig, ich verliere die Vorabdruckhonorare, die eigentlich das einzige sind, was gegenwärtig schnell zu ernten ist. (Ebd., 95f.) Tatsächlich ist es nicht wenig, was Brecht seinen Gedichten aus dem Exil – wiewohl er nur wenige Monate später seine so berühmt gewordene „Schlechte Zeit für Lyrik“ (1939; vgl. GBA 14, 432) poetisch annoncieren wird – zutraut. Die fragilen Verse sollen nicht nur ihm und dem Malik-Verlag zu einer bestimmenden Positionierung innerhalb der Exilliteratur verhelfen, sie sollen vor allem in ihrer als „absolut“ gesetzten Aktualität „eingreifen“, also selbst tätig werden und den Lauf der Dinge mit- und umgestalten. Dies allerdings, und aus jener Perspektive mag sich der Brechtsche Impetus des zitierten Briefes vielleicht erhellen, konnten sie nur erreichen, wenn sie schnell reagierten und sich der oftmals unvorhergesehenen Entwicklung der politischen Verhältnisse in ihrem Tempo anzupassen vermochten. Schon Walter Benjamin, der 1938 auf Einladung des Freundes seinen vierten und letzten Sommer in Dänemark verbrachte,2 hat diese Haltung, ebenso zweifelnd wie bewundernd, in seinen bis heute gültigen „Kommentaren zu Gedichten von Brecht“ gefasst, wenn er über die bestimmende Dialektik der Svendborger Texte festhält: [ …] in Worten, denen, ihrer poetischen Form nach, zugemutet wird, den kommenden Weltuntergang zu überdauern, ist die Gebärde der Aufschrift auf einem Bretterzaun festgehalten, die der Verfolgte mit fliegender Hast hinwirft. In diesem Widerspruch stellt sich die
2 Vgl. hierzu auch Erdmut Wizisla: Benjamin und Brecht. Die Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt a. M. 2004, besonders S. 84f.
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außerordentlich artistische Leistung dieser aus primitiven Worten gebauten Sätze dar.3 Das flüchtige Wort und die „fliegende[] Hast“, die auch dem Brief an Herzfelde deutlich abzulesen sind, waren es tatsächlich, was Brecht nun ganz bewusst anstrebte. Voll von Anspielungen auf das politische Tagesgeschehen – das auf der dänischen Insel doch meist aufgrund der verzögerten Lieferung der überhaupt noch zu erhaltenden Zeitungen und des sukzessiven Verstummens der verbliebenen freien Radiosender den Emigrierten häufig ohnehin bereits die Ereignisse von gestern bezeichnen musste – sind die „Svendborger Gedichte“ der in seinem Umfang wohl bis heute einzigartig gebliebene Versuch, im Medium des Gedichtes spontan auf ein sich beschleunigendes Weltgeschehen Bezug zu nehmen und etwas „absolut Aktuelles, Eingreifendes“ (GBA 29, 96) als direkte Erwiderung auf die Reden Hitlers wie Goebbels folgen zu lassen, welche Brecht über seinen mehrfach auch in seine Gedichte als wichtigstes Utensil des Flüchtenden eingegangenen und fast zärtlich umkreisten Radioempfänger verfolgen konnte. Wohl auch aus diesem Grund sollten die „Gedichte aus dem Exil“ zunächst mit der Jahreszahl „1937“, später dann, als die Veröffentlichung sich verzögerte, mit „1938“ zusätzlich betitelt werden,4 indem auf diese Weise bereits im Namen der Sammlung darauf verwiesen werden konnte, dass hier etwas im „jetzt“ und „sogleich“, in der konkret zu datierenden Gegenwart des Lesenden sich dichterisch ereignete. Während zeitgleich nicht wenige Emigranten sich stofflich dem Historischen zuwandten und ihren ebenso unverschuldeten wie quälenden Mangel an Gegenwart durch den Blick zurück in die Geschichte zu kompensieren suchten, während vor allem die Exillyrik – wenn sie schon sonst nichts einte – in der Thematisierung des Sprachverlustes ein rein negatives Moment zum einzig gemeinsamen machte und sich in regressiven Sehnsuchtsbildern und einem zuweilen nahezu peinlich epigonalen Festhalten an den von der Zeit längst überholten Formen und Bildern erging, während um ihn herum selbst diejenigen verbannten Dichter, die den „Zwang zur Politik“5 als einen ebensolchen verstanden wissen wollten, diesen dann doch zumeist in dunkel warnende Visionen statt in tagespolitisch
3 Walter Benjamin: Kommentare zu Gedichten von Brecht, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II.2: Aufsätze, Essays, Vorträge, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1977, S. 539‒572, hier S. 564. Die Kommentare sollten in der literarischen Exilzeitschrift „Das Wort“ erscheinen, erreichten die Redaktion jedoch erst, nachdem die Zeitschrift im März 1939 eingestellt worden war. 4 Zu den Einzelheiten der Publikationsgeschichte vgl. Brecht-Handbuch in fünf Bänden, hg. v. Jan Knopf, Stuttgart / Weimar 2001, Bd. 2: Gedichte, S. 352f. 5 Vgl. den gleichnamigen Aufsatz Thomas Manns, der am 22. Juni 1939 in der Pariser Exilzeitschrift „Das Neue Tage-Buch“ erschien und unter dem Titel „Kultur und Politik“ in die Werksammlung aufgenommen wurde.
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bezogene Aufklärungsarbeit fassten, versuchte Brecht den unmittelbaren Zugriff auf das Hier und Jetzt des aktuellen Geschehens. Dass Lyrik im hergebrachten Sinne diesen direkten Gegenwartsbezug nicht erreichen konnte, war dem Dichter dabei schon früh deutlich geworden. Nicht nur die Inhalte und Formen, auch das Tempo der lyrischen Rede musste sich grundlegend wandeln, wollte sie wirksam auf eine Wirklichkeit Einfluss nehmen, an der Brecht doch selbst oft nur mit Mühe und unter sich stets vergrößernden Schwierigkeiten aus der Ferne eines nun bereits in das fünfte Jahr gehenden Exils teilhaben konnte. In seinem grundlegenden und bis heute einflussreich gebliebenen Aufsatz „Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen“ (1939), der etwa zeitgleich zu den „Svendborger Gedichten“ entsteht, hat er diesen notwendigen dichterischen Neuanfang auch theoretisch greifbar gemacht, bei dem vor allem das Moment des lyrischen „Sprechens“ die tragende Rolle spielt, welches Brecht, im Sinne des Zeigens und – noch wichtiger – Auf-Zeigens, bekanntermaßen als „gestisch“ (vgl. GBA 22.1, 359) charakterisiert hat. Auf-Zeigen und damit Auf-Decken soll die lyrische Rede, was ihr in Brechts Augen jedoch nur gelingen kann, wenn sie sich der tatsächlich gesprochenen Sprache in ihrem Duktus und ihrer Schnelligkeit anzupassen vermag. Immerhin und wohl nicht ohne Grund sind die Beispiele in Brechts Essay, an die sich der Dichter bei der Verfertigung seiner littérature engagée halten soll, allesamt Bereichen entnommen, bei denen das gesprochene Wort im Vordergrund steht: nämlich den Parolen und Liedern der Arbeiterchöre, den Ausrufen der Berliner Zeitungsverkäufer, den Deklamationen von Schauspielern auf dem Theater und schließlich der Bibelübersetzung Luthers, dessen größtes Verdienst der Aufsatz letztlich darin sieht, dass er „dem Volk aufs Maul sah“ (ebd., 360), also ihm zuhörte und sich dessen mündlichem Sprachduktus anglich. II. Das gesprochene Wort In diesem Sinne sind denn auch die künstlerischen Gestaltungselemente, die Brecht für seine im Exil entstehenden Gedichte wählt, zwar häufig nicht mehr die tradierten, indem sie von Reim, festem Rhythmus, Redeschmuck vielerorts Abstand nehmen müssen. Sie stützen sich aber letztlich doch und trotz allen Verzichts im wahrsten Sinne des Wortes auf „rhetorische“ Stilmittel, indem sie sich der tatsächlichen Redekunst verschreiben. Auf diese Weise sollen die Gedichte nicht nur, wie es in „Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen“ heißt, in ihrer „Sprechweise des Alltags“ der „einschläfernde[n] Wirkung“ (ebd., 364) hergebrachter Poeme widerstehen. Sie sollen zudem versuchen, und dies ist weitaus bedeutsamer, das faschistische Unrechtsregime mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, dessen Propaganda als Redekunst im Sinne der Künstlichkeit und Lüge zu entlarven und auf die nationalsozialistische Hetzrede und ihre
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Verblendungsmechanismen sogleich mit der politischen Gegenrede zu reagieren, die das gleichgeschaltete Deutschland doch sonst nirgends mehr zuließ. Wie sich diese dialektische Form der dichterischen Wechselrede umsetzen ließe, hat Brecht wohl nirgends so deutlich zu zeigen versucht wie in den „Svendborger Gedichten“. Ganz erstaunlich (und noch in keiner der zu dem Zyklus vorliegenden Studien weitergehend in den Blick genommen) ist immerhin, welch tragende Rolle das „Sprechen“, die tatsächlich mündliche „Rede“ innerhalb der versammelten Gedichte einnimmt. Schon die Eröffnungsstrophe des Eingangsgedichtes des ersten von sechs die „Svendborger Gedichte“ unterteilenden Binnenzyklen hebt mit der lyrischen Rede über das Sprechen an: „BEI DEN HOCHGESTELLTEN / Gilt das Reden vom Essen als niedrig.“ (GBA 12, 9) Hierauf folgen, oft in kürzesten Abständen, zahlreiche weitere Referenzen auf das gesprochene Wort, die die „Svendborger Gedichte“ leitmotivisch bis zu ihrem letzten Gedicht, das das berühmte „Gespräch über Bäume“6 vor den Grauen der Gegenwart negieren muss, durchziehen. Nur einige Beispiele sollen hier genügen, die – häufig schon im Titel angezeigte – Prominenz des Motivs innerhalb der Texte zu veranschaulichen: „DER ANSTREICHER7 SPRICHT VON DEN KOMMENDEN GROSSEN ZEITEN“, „Die Sattgefressenen sprechen zu den Hungernden“, „DIE OBEREN SAGEN: FRIEDEN UND KRIEG“, „WENN DER ANSTREICHER DURCH DIE LAUTSPRECHER ÜBER DEN FRIEDEN REDET“, „Der Anstreicher redet vom Frieden“, „DIE OBEREN SAGEN:“, „Die Unteren sagen“, „Der da vom Feind spricht / Ist selber der Feind“, „DER ANSTREICHER WIRD SAGEN; DASS IRGENDWO LÄNDER EROBERT SIND“ usw. (ebd., 10f.) Und auch in den folgenden fünf Abteilungen ist das Motiv kaum weniger häufig vertreten. So eröffnet das Auftaktgedicht der unbetitelt gebliebenen zweiten Abteilung, „Deutsches Lied“, seine ersten drei Strophen mit der nur geringfügig variierten Zeile „Sie sprechen wieder von großen Zeiten“, „Sie sprechen wieder von Ehre“, „Sie sprechen wieder von Siegen“ (ebd., 16). Die vierte Abteilung schließlich lässt gleich fünf Gedichte aufeinander folgen, die bereits im Titel als „Rede“, „Appell“ und „Antwort“ (ebd., 53f.) gekennzeichnet sind. Immer wieder heißt es „Du sagst“, „Sage mir“. Das Sprechen, das der anderen sowie das eigene, waren für Brecht bei der Abfassung seines Zyklus offensichtlich von größter Bedeutung. Hatte der exilierte Dichter schon 1934 in „Über die Wiederherstellung der Wahrheit“ festgehalten,
6 „Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt.“ (An die Nachgeborenen, GBA 12, 85‒87, hier 85.) 7 In Anspielung auf seine verpasste künstlerische Laufbahn wird Adolf Hitler bei Brecht spöttisch als der „Anstreicher“ bezeichnet.
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In Zeiten, wo die Täuschung gefordert und die Irrtümer gefördert werden, bemüht sich der Denkende, alles, was er liest und hört, richtigzustellen. Was er liest und hört, spricht er leise mit, und im Sprechen stellt er es richtig. Von Satz zu Satz ersetzt er die unwahren Aussagen durch wahre (GBA 22.1, 89), so setzt er dieses Mitsprechen und das nachfolgende Richtigstellen nun in den „Svendborger Gedichten“ ganz konkret literarisch um. Wenn es also heißt „Bei den Hochgestellten / Gilt das Reden vom Essen als niedrig“, so wird dies vom „Denkenden“ nach dem Mitsprechen in den sich anschließenden zwei Versen sogleich kommentiert: „Das kommt: sie haben / schon gegessen.“ (GBA 12, 9) Der Vers „Wenn die Oberen vom Frieden reden“ wird mit den Folgezeilen „Weiß das gemeine Volk /Daß es Krieg gibt“ (ebd., 11) konterkariert. Wenn „DIE OBEREN SAGEN: / Es geht in den Ruhm.“, lautet Brechts dichterische Antwort: „Die Unteren sagen: / Es geht ins Grab.“ (ebd., 12) So weisen die Gedichte der Svendborger Sammlung immer wieder im unmittelbaren Wechsel von Rede und Gegenrede auf die „Verblendungszusammenhänge faschistischer Propaganda“8 hin, wiederholen die Sprache der Machthaber und antworten ihnen „sogleich“ mit den eigenen Argumenten.9 „Von Satz zu Satz ersetzt [der Dichter, S. K.] die unwahren Aussagen durch wahre.“ (GBA 22.1, 89) So weit gehen die Gedichte in ihrer auf das „absolut Aktuelle“ gerichteten, politisch Bezug nehmenden Rhetorik, dass sie zuweilen sogar schon vorauszusagen suchen, was doch erst in der Zukunft sich ereignen kann, und divinatorisch die Ereignisse der kommenden Zeit vorwegnehmen bzw. vorwegsprechen wollen: DER ANSTREICHER WIRD SAGEN; DASS IRGENDWO LÄNDER EROBERT SIND Aber ihr werdet euch in die Küchen setzen, da Wo die Kohlrüben gekocht werden. Der Anstreicher wird sagen Daß er keinen Fußbreit zurückweichen wird Und ihr werdet prüfend die Jacken aus Papier anfassen. Wenn da die Siegesglocken läuten sollten Werdet ihr die Verlustlisten austragen. (ebd., 14; Hervorhebung S. K.) Ganz in der Rolle des politischen Redners wie des Auguren aufgehend sucht der Sprechende die rhetorische Auseinandersetzung mit den faschistischen Machthabern, denen er auf ihre propagandistischen Phrasen antwortet, und zugleich und vor allem den Dialog mit den Gegnern des Regimes, die er auf diese Weise 8 9
Klaus-Detlef Müller: Bertolt Brecht. Epoche – Werk – Wirkung, München 2009, S. 181. Vgl. hierzu auch Ulrich Kittstein: Das lyrische Werk Bertolt Brechts, Stuttgart / Weimar 2012, S. 186f.
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ebenfalls zum Sprechen, zum Wider-Sprechen bewegen will. In Fortführung des Hölderlinschen „Seit ein Gespräch wir sind“10 versuchen die „Svendborger Gedichte“ so in vorher wie nachher nie dagewesener Weise eben dieses Gespräch auch in den selbst konstatierten „finsteren Zeiten“11 nicht abreißen zu lassen, es vielmehr zu fördern in einer Gegenwart, in der die offene und direkte Auseinandersetzung auf tradiertem Wege eigentlich doch längst unmöglich geworden scheint. Und es wird in diesem Zusammenhang vielleicht auch verständlicher, warum es Brecht gegenüber Herzfelde so wichtig war, seine dänische Exillyrik gemeinsam mit dem Szenenstück „Furcht und Elend des III. Reiches“ herauszubringen. Denn wie schon der Aufsatz „Über reimlose Lyrik“ seine Vorbilder hauptsächlich bei den Schauspielern und dem gesprochenen Bühnenwort findet, so sollen auch Brechts Gedichte szenisch, dialogisch und sprechend auf der Bühne der Geschichte ihre Wirkung entfalten. In diesem Sinne gibt es auch in den „Svendborger Gedichten“ verteilte Rollen, eine – freilich künstlich erzeugte – Situation der Wechselrede und das Gestisch-Synkopische einer nachgeahmten Alltagssprache, die der eloquentia corporis von Gestik, Mimik und Betonung der Schauspieler gleicht und den lyrischen Redetext zusätzlich unterstreichen soll. Brechts Gedichte funktionieren auf diese Weise ebenfalls als „Lehrstücke“, die Szenen der Furcht und des Elends des Dritten Reiches vorführen, um sie anschließend in Reflexion und mögliche Lösungsansätze überführen zu können. Wenngleich also, wie Brecht selbst nicht ohne Bedauern mehrfach festgestellt hat, aus ästhetischer Sicht innerhalb der Poeme zunächst „eine erstaunliche Verarmung eingetreten“ (GBA 26, 322) zu sein scheint, so wäre doch nichts weniger zutreffend, als seine Exillyrik aus diesem Grund auf den Status einer künstlerisch wenig bedeutenden, bloßen „politischen Spruchlyrik“12 herabzusetzen. Immerhin folgt Brechts doch nur vermeintlich anspruchslose Dichtungsart letztlich einem „hochartifizielle[n] Verfahren“,13 bei dem das Schlichte und die Einfachheit des „sachlichen Sagens“14 häufig einen nicht minder komplexen Produktionsprozess und eine ebenso komplexe Erkenntnisstruktur beinhalten, 10 „Viel hat von Morgen an, / Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander, / Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang.“ (Friedrich Hölderlin: Friedensfeier, in: ders.: Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 8: Gesänge, hg. v. Dietrich E. Sattler, Frankfurt a. M. 2000, S. 640). 11 „Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!“ (An die Nachgeborenen, GBA 12, 86). 12 Manfred Durzak: Im Exil, in: Geschichte der deutschen Lyrik, hg. v. Walter Hinderer, Stuttgart 1983, S. 502‒550, hier S. 503. 13 Müller [Anm. 8], S. 181. 14 Die Begrifflichkeit geht auf Rilke zurück, der sie zuerst in einem Brief vom 19. Oktober 1907 an seine Frau Clara in Bezug auf Baudelaire und Cézanne erwähnt. In der Folge wird sie auf Rilkes eigene Dichtung, vornehmlich auf die während der mittleren Werkphase unter dem Einfluss von Rodin entstehenden, heute nicht selten als „Ding-Gedichte“ bezeichneten Texte bezogen. (Vgl. hierzu Rainer Maria Rilke: Briefe über Cézanne, in: ders.: Werke, Bd. 4: Schriften, hg. v. Manfred Engel [u. a.], Frankfurt a. M. / Leipzig 1996, S. 594‒636, hier S. 624).
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als dies für Poesie im tradierten Sinne gelten gemacht werden kann. Damit ist Brecht nicht nur unter den wenigen derjenigen geflüchteten Lyriker, die ihre poetische Darstellungsart radikal umkehren, um sie den politischen Erfordernissen des Tages anzupassen. Er ist zudem der einzige unter ihnen, der ein grundlegendes ästhetisches Programm entwickelt, das seine Gedichte von bloßen Dokumenten der Zeitgeschichte zu auch in ästhetischer Hinsicht selbstständigen Zeugnissen formt. Wenn Brecht also festhält, „ich empfinde den Mangel an Ausdruck und Rhythmus, […] aber beim Schreiben […] widerstrebt mir jedes ungewöhnliche Wort“ (GBA 27, 215f.), so liegt dieser innere Widerstand gegen das „ungewöhnliche Wort“ nicht nur darin begründet, dass Brechts Verse sich schnell einprägen sowie leicht verständlich sein sollten, sondern auch an der Tatsache, dass sie von medialer Seite aus so durchdacht waren, dass die zu Teilen von Brecht über den Freiheitssender gesprochenen Verse aus den „Svendborger Gedichten“ selbst dann nicht ihren Sinn verloren, wenn Störungen innerhalb der Übertragung Worte oder sogar ganze Passagen schluckten und unhörbar machten.15 Denn die Sorge um den vielbeschworenen „sechslampige[n]“ (GBA 12, 98) Radiolautsprecher galt ja nicht nur dem Aufmerken auf die Stimmen der Feinde, sondern auch der eigenen Ansprache an die einstigen Landsleute, die der sich medientechnisch stets auf der Höhe seiner Zeit befindliche Dichter ebenso zu Nutze machen wollte wie die über den Volksempfänger agierenden nationalsozialistischen Machthaber.16 Nicht zufällig wenden sich so auch die Gedichte und einzelnen Abteilungen im Sinne der direkten An-Sprache häufig ganz explizit an unterschiedliche Gruppierungen wie die Arbeiter, Frauen oder sogar – wie in den „Kinderliedern“ – an die nachkommende Generation, die es doch einmal besser machen sollte und der auch das berühmte letzte Gedicht des Bandes, „An die Nachgeborenen“, gewidmet ist. Dass die „Svendborger Gedichte“ sich dabei keineswegs allein dieser neuen Form lyrischen Sprechens bedienen, sondern auch und trotzdem eine formale Vielfalt, die von der Ballade bis zum epigrammatischen Kurzgedicht reicht, aufweisen und einen thematischen Facettenreichtum aufbieten, der aktuelle politische Ereignisse neben ganz bewusst als „Chroniken“ bezeichneten Rückgriffen in die Geschichte, auf Empedokles, den ins Exil gehenden Laotse, Buddha oder auf die verbannten Dichtergeister Ovid, Vergil, Dante, Po Chü-i, Villon und Heine bestehen lassen kann, zeigt einmal mehr die künstlerische Qualität und – bei aller Dringlichkeit – Durchdachtheit der Sammlung. 15 Vgl. hierzu auch „Die ‚Deutschen Satiren‘ sind für den deutschen Freiheitssender geschrieben. Es handelt sich darum, einzelne Sätze in die ferne, künstlich zerstreute Hörerschaft zu werfen. Sie mußten auf die knappste Form gebracht sein, und Unterbrechungen (durch die Störsender) durften nicht allzu viel ausmachen“ (GBA 22.1, 364). 16 Vgl. zu Brechts Radioarbeit auch Michael Minden: Satire as propaganda. Brecht’s „Deutsche Satiren“ for the Deutscher Freiheitssender, in: Brecht’s Poetry of Political Exile, hg. v. Ronald Speirs, Cambridge 2000, S. 100–113.
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III. Das letzte Wort Allein die sechste und letzte Abteilung der „Svendborger Gedichte“, die von den vorhergehenden Texten insofern sich unterscheidet, als sie die Situation des exilierten Dichters umkreist und ganz bewusst eine Vermischung von lyrischem Ich und der, wenngleich stilisierten, privaten Person Bertolt Brecht anstrebt, ist in der Forschung nicht selten als ein von den restlichen, politischen Gedichten sich absetzender Zyklus innerhalb der Sammlung verstanden worden.17 Tatsächlich scheint auf den ersten Blick eine Kluft zu bestehen zwischen der engagierten Lyrik, die sich dem politischen Tagesgeschäft widmet, und der von nicht wenigen Germanisten als resignativ-kontemplativ wahrgenommenen Lyrik der letzten Abteilung, in der das lyrische Ich „Über die Bezeichnung Emigranten“ nachdenkt, sich „Gedanken“ macht „über die Dauer des Exils“, sich selbst als „Verjagt mit gutem Grund“ (GBA 12, 81; 82; 84) bezeichnet und scheinbar private Details aus dem dänischen Exilleben dichterisch preisgibt wie z. B. in dem kleinen Achtzeiler „Zufluchtsstätte“: Ein Ruder liegt auf dem Dach. Ein mittlerer Wind Wird das Stroh nicht wegtragen. Im Hof für die Schaukel der Kinder sind Pfähle eingeschlagen. Die Post kommt zweimal hin Wo die Briefe willkommen wären. Den Sund herunter kommen die Fähren. Das Haus hat vier Türen, daraus zu fliehn. (Ebd., 83) Hatte schon Benjamin von dem merklichen „Kontrast zwischen den politischen und privaten Gedichten“18 gesprochen, so ist diese Unterscheidung vielleicht doch nicht ganz treffend, wenngleich sie bis heute in den wenigsten Studien zu den „Svendborger Gedichten“ aufzuheben versucht worden ist. Denn obschon der Dichter sich in den die Sammlung beschließenden Gedichten mit den speziellen Gegebenheiten wie Schwierigkeiten des Exildaseins auseinandersetzt und seine unmittelbare Umgebung beschreibt, sodass vom dänischen Sund bis zu dem Ruder auf dem Strohdach des eigenen Hauses, dem „Kastanienbaum im Eck des Hofes“, zu dem der Exilierte trotz aller Hoffnung auf baldige Rückkehr schließlich doch „die Kanne voll Wasser schleppt[]“ (ebd., 82), hier alles vom allgemeinen Weltgeschehen in den kleinsten, privatesten häuslichen Bereich hineingezogen scheint, so verbirgt sich hinter dieser Maskerade des ganz 17 Eine Ausnahme bildet hier z. B. die nach wie vor gültige Auseinandersetzung von Peter Paul Schwarz mit Brechts Exillyrik: Lyrik und Zeitgeschichte. Brecht: Gedichte über das Exil und späte Lyrik, Heidelberg 1978 [Literatur und Geschichte 12]. 18 Benjamin [Anm. 3], S. 564.
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Persönlichen doch mehr als eine poetische Selbstaussprache und -positionierung. Was Brecht unter der Larve der eigenen Person und in einer durch scheinbare Intimität gekennzeichneten Darstellung, die die Authentizität der eigenen Emigrantensituation verbürgen soll, versucht, zielt nicht darauf ab, die Distanz zwischen dem entfernten Publikum und den exilierten Dichtern zu bekräftigen, sondern ganz im Gegenteil darauf sie aufzuheben. Denn indem Brechts Exilgedichte um den Alltag eines Emigranten und dessen erzwungene Isolation kreisen, diesen aber in eine Sammlung integrieren, die über die allgemeine politische Lage, über die Reden Hitlers und über die Situation der im Land verbliebenen Menschen spricht, gelingt es ihm – zumindest dichterisch – den Abstand zwischen seinen Landsleuten und den in andere Länder geflüchteten Menschen zu verringern. Was realiter aufgrund der politischen Situation räumlich getrennt ist, wird im Gedichtband aneinandergerückt, miteinander verknüpft und – im gemeinsamen Kampf gegen Hitler – als ein weiterhin Verbundenes gezeigt. In diesem Sinne thematisieren die Gedichte der letzten Abteilung nicht eigentlich die Isolation und die resignative Haltung eines lyrischen Ichs, sondern markieren das Exildasein vielmehr als eine, wenngleich bittere Spielart deutschen Lebens, das aber weiterhin einen wichtigen Teil desselben bildet, selbst wenn es in einem anderen Land sich ereignet. Durch die Details, die Brecht von fremden Orten und fremden Lebensbedingungen poetisch mitteilt, macht er sein Publikum im selben Atemzug mit diesen vertraut. Indem das lyrische Ich von seinen Ängsten, Zweifeln und Bedrängnissen, von den Erschwernissen seiner Arbeitsbedingungen und der gleichzeitig fast trotzig aufrechterhaltenen Hoffnung spricht, bringt er seinen Lesern die Lage der Exilierten nahe und bietet ihnen zugleich Identifikations- und Vergleichsmomente zur eigenen Situation an. Auf diese Weise also zeigt Brecht die Exilierten als eine, mit der „Machtergreifung“ neu entstandene Gruppierung innerhalb einer nach wie vor bestehenden Gemeinschaft, die seine „Svendborger Gedichte“ stets aufs Neue beschwören: Frauen, Kinder, Soldaten, Arbeiter, Ärzte, Krankenpfleger, Kommunisten, Bauern, Handwerker, die Schwankenden, die Widerstand Leistenden und zuletzt eben auch die große Gruppe der Emigranten werden so in seinen Versen angesprochen und innerhalb der Kunst zu einer Einheit verbunden. Wiederholt und auch in den der dänischen Exilzeit nachfolgenden lyrischen Texten aus Finnland oder den Vereinigten Staaten wird so in der Thematisierung der räumlichen Distanz doch eigentlich die Nähe der Verbannten zur früheren Heimat hervorgehoben. So heißt es in dem die letzte Abteilung eröffnenden Gedicht „Über die Bezeichnung Emigranten“: Unruhig sitzen wir so, möglichst nahe den Grenzen Wartend des Tags der Rückkehr, jede kleinste Veränderung Jenseits der Grenze beobachtend, jeden Ankömmling Eifrig befragend, nichts vergessend und nichts aufgebend
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Und auch verzeihend nichts, was geschah, nichts verzeihend. Ach, die Stille des Sundes täuscht uns nicht! Wie hören die Schreie Aus ihren Lagern bis hierher. (Ebd., 81) In der Betonung der Nähe zur Grenze wird ihr Trennendes dichterisch unterlaufen, wiederholt wird dem Leser versichert, dass „nichts“ den Exilierten entginge, nicht die „kleinste Veränderung“. Die Idylle der Natur, die „Stille des Sundes“, ist so auch nur eine trügerische, unter der der Lärm des täglich sich ereignenden Unrechts doch deutlich hörbar bleibt. In der Formulierung „Ach, die Stille des Sundes täuscht uns nicht!“, die in ihrem romantisch anklingenden Auftakt des „Ach“ noch einmal an von der Zeit längst überholte lyrische Epochen erinnert und sie im gleichen Atemzug ebenso negiert wie die vermeintliche Harmonie des Sundes, ist somit ein doppelter Anachronismus angelegt: Weder eine Lyrik, die die Schönheiten der Natur preist, noch eine auf die poetische Tradition zurückgreifende Sprache ist tauglich, adäquat auf die Gegenwart zu reagieren. In „Schlechte Zeit für Lyrik“ hat Brecht diese poetologische Erkenntnis in die Verse gefasst: In mir streiten sich Die Begeisterung über den blühenden Apfelbaum Und das Entsetzen über die Reden des Anstreichers. Aber nur das zweite Drängt mich zum Schreibtisch. (GBA 14, 432) Auch hier sind es die „Reden“, also das gesprochene Wort Hitlers, denen sogleich dichterische Gegenrede folgen soll und die das lyrische Ich in „fliegender Hast“19 zum Schreibtisch „drängen“, seine Antwort auszusprechen. In dieser versuchten medialen Beschleunigung der lyrischen Gattung wird deutlich, warum Brecht gegenüber Herzfelde so dringlich betonte, dass keine, aber auch gar keine Zeit zu verlieren war. Wenn es also in dem letzten Gedicht der Svendborger Sammlung, „An die Nachgeborenen“, heißt, „Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!“ (GBA 12, 85), so meint dies keineswegs ein poetisches Verstummen. Mag das „Gespräch über Bäume“, also eine traditionell ausgerichtete Poesie in Zeiten des Terrors „fast ein Verbrechen“ sein, so wäre „ein Schweigen über so viele Untaten“ [Hervorhebungen S. K.] tatsächlich ein solches, das der Dichter – auch der exilierte – nicht begehen darf. In diesem Sinne ist auch der vielleicht wichtigste Vers der gesamten Sammlung zu begreifen: „Das letzte Wort / Ist noch nicht gesprochen.“ (Ebd., 81) Das letzte Wort darf nicht dem Anstreicher überlassen werden, es soll der Wahrheit gelten, es soll ein dichterisches sein. 19
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Johannes R. Becher „Abschied. Einer deutschen Tragödie erster Teil“ (1940) Vorbemerkung Welchen Grund mag es geben, Bücher vor dem Vergessen bewahren zu wollen? Warum soll man sich überhaupt an Bücher erinnern und warum an dieses eine und nicht an ein anderes? Über solche Fragen kann man sich lange auseinandersetzen, aber eine einfache Antwort tut es auch: Bücher halten die Erinnerung an eine bestimmte Zeit oder an ein bestimmtes Wissen wach, von dem man glaubt, dass es für die eigene und die Gegenwart der anderen von Bedeutung ist. Ein Gespräch mit dem und über das Buch bietet die Möglichkeit, Vergessenes wieder zu erinnern, zu vergegenwärtigen oder überhaupt zu entdecken, und zwar im Austausch mit anderen. Wenn man so will, dann ist das Lesen eines literarischen Textes ein imaginäres Gespräch, in aller Regel ein Gespräch mit den Toten, das im Gespräch über dieses Gespräch verdoppelt wird. Im Fall der Exilliteratur liegt das Motiv der Bewahrung des Vergangenen auf der Hand und findet sich so auch durchweg in der Forschungsliteratur wieder. Denn der Bezeichnung nach handelt es sich bei der ‚deutschen‘ Exilliteratur um all die literarischen Texte, die von deutschsprachigen Autoren zwischen 1933 und 1945 in der Emigration geschrieben worden sind, und die mal mehr, mal weniger diesen Umstand selbst thematisieren. Die Beschäftigung mit der Exilliteratur dient also grosso modo der Erinnerung und ‚Aufarbeitung‘ – so der lange gültige Nachkriegsterminus – der Schrecken und Folgen des Nationalsozialismus’ bis heute. Die Geschichte dieses Anspruchs lässt sich in drei Phasen unterteilen, die in etwa den drei Zäsuren der bundesrepublikanischen Geschichte im 20. Jahrhundert folgen: 1945, 1968 und 1990. In der ersten Phase wurde die Anerkennung der Exilliteratur erkämpft; in der zweiten gehörte die Exilliteratur zum Standard der akademischen Forschung und zum kritischen Bestand der Bildungsinstitutionen; in der dritten wurde genau dies wieder in Frage gestellt. Heute befindet sich die Exilliteratur im Nachraum der dritten Phase. Ihr Problem ist, dass sie lange Zeit vorwiegend auf ihre moralisch-pädagogische, historisch informierende Funktion hin gelesen wurde. Die Frage, wie es um die ästhetische Dimension der Texte steht, geriet dabei ins Hintertreffen und es gehört zur anhaltenden Geschichte der Exilliteratur, dass sie
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sich diese Dimension immer wieder neu erkämpfen musste, ohne dabei ihren politischen und zeitgeschichtlichen Anspruch zu verlieren. Wie steht es um Johannes R. Bechers „Abschied. Einer deutschen Tragödie erster Teil 1900–1914“?1 Für die Literaturwissenschaft spielt Becher keine Rolle mehr. Entsprechend gering fiel das Echo auf die 1998 bzw. 2003 erschienenen Becher-Biographien aus.2 Man wird bei dieser Gelegenheit an die alte Weisheit rühren dürfen, dass dem Erinnern immer erst das (drohende) Vergessen vorangehen muss. Wie sehr diese Weisheit zuweilen zutrifft und wie sehr die Revision von Bechers Roman bereits im Zeichen des Verlustes steht, kann man aber auch einer Marginalie entnehmen, die den weiteren Überlegungen als allegorische pictura vorangehen soll: Die Düsseldorfer Universitäts- und Landesbibliothek, in der dieser Text entstanden ist, hält zu Becher eine durchaus akzeptable Sammlung von Primär- und Sekundärliteratur bereit. Im Regal steht aber genau ein Buch, der Briefwechsel zwischen Becher und Heinrich F. S. Bachmair aus den Jahren 1914–1920,3 ein im Vergleich zu Bechers Œuvre absurd abseitiger Titel. Ansonsten befand oder befindet sich noch immer zwischen Bayer, Konrad und Bechstein, Ludwig ein größeres Loch; Bechers Bücher sind weggeräumt, Ersatz hat sich noch nicht gefunden. Wer die vielen Titel doch sehen und lesen möchte, der muss sie bestellen und aus dem Keller des Hauses, der bibliophilen Asservatenkammer des Landes Nordrhein-Westfalen heranschaffen lassen. Dieser Umstand gibt ein treffendes Bild ab für die schwindende Bedeutung der Exilliteratur. Nicht nur, weil Archive und Bibliotheken schlummernde Riesen des Vergangenen und Vergessenen sind, sondern auch weil sie diesen Umstand bereits in die Ordnung der Bestände, der Lagerungsweisen, der Such- und Findsysteme einbeziehen. Im Fall Becher führt das auffällige Loch im Regal – auffällig deshalb, weil die Bibliothek aus allen Nähten platzt – die Doppelbödigkeit der Erinnerung in nuce vor: Aus dem sichtbaren Bereich des Hauses sind die Bücher verschwunden. Das macht sie aber – im Verlust – nur umso sichtbarer. So kommt man zum Keller, einerseits Schwundstufe des Sichtbaren und Ort des Vergessens, andererseits Reservoir des Wiedererinnerns. Wer sich mit Johannes R. Becher befasst, stößt unversehens auf die Dialektik von Erinnern und Vergessen und wird sich bei allem aufkommenden Eifer in der Kunst der Auslassung üben müssen. Das gilt auch für die weitere Themenstellung, die sich nicht vorrangig mit den Entstehungsbedingungen, den 1 Bechers Roman erschien erstmals 1940 im Moskauer Verlag „Das internationale Buch“. Zitiert wird hier nach der 2. Ausgabe: Johannes R. Becher: Abschied. Einer deutschen Tragödie erster Teil 1900–1914. Roman, Berlin 1945 und nicht nach dem 11. Band der „Gesammelten Werke“: Abschied. Wiederanders, hg. v. Johannes-R.-Becher-Archiv der Akademie der Künste der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin / Weimar 1975, der auf den Untertitel verzichtet. 2 Jens-Fietje Dwars: Abgrund des Widerspruchs. Das Leben des Johannes R. Becher, Berlin 1998; Alexander Behrens: Johannes R. Becher. Eine politische Biographie, Köln / Weimar / Wien 2003. 3 Johannes R. Becher / Heinrich F. S. Bachmair: Briefwechsel 1914–1920. Briefe und Dokumente zur Verlagsgeschichte des Expressionismus, Frankfurt a. M. 1987.
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biographischen Umständen oder der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des Romans beschäftigen wird, sondern damit, wie die Realien des Romans zueinander stehen und wie sie miteinander verknüpft sind. Daraus folgt die Ordnung dieses Aufsatzes. I. Realien (Figuren, Dinge, Bilder), II. Realismus (Lukács, Barthes, Wood), III. Politik der Literatur / des Schreibens. Das bedeutet, sich von zahlreichen Aspekten frei zu machen, die für Bechers Biographie eine große Rolle spielen: vom Minister und Funktionär, vom literarischen Strategen und Strippenzieher, vom wandlungsfähigen Expressionisten, vom klassizistischen Dichter. Das ist bedauerlich, weil Bechers widersprüchliche Geschichte in Zeiten konformistischer Lebenswege eine Herausforderung darstellt. Auch die dramatischen Ereignisse, unter denen „Abschied“ in den Jahren 1935 bis 1940 in Moskau entstand, hätten einen eigenen Beitrag verdient.4 Zudem ist „Abschied“ eine mehr oder weniger offen versteckte Autobiographie. Hans Gastl, die Hauptfigur, teilt zahlreiche Stationen seines Autors. Räume, Zeiten und Nebenfiguren lassen sich mit Bechers Leben in Verbindung bringen: Kindheit, Adoleszenz, bürgerliches Umfeld, expressionistischer Ausbruch, kommunistische Bekehrung. Gastl ist Becher und Becher ist Gastl. Zwischen dem letzten Satz aber „‚Hoch! Lüttich ist gefallen! Hurra‘ kam es vom Balkon her, mit heiserer Stimme. Auf dem Balkon stand Christine [die Haushälterin, C. M.] und schwenkte die schwarzweißrote Fahne“5 und dem Abschluss des Romans stehen 26 Jahre, in denen Becher eine poetische Häutung vollzieht, die ihn von seinen Anfangsjahren als Dichter weit entfernt.6 Auf eine Position gebracht: 1940 veröffentlicht ein Hauptvertreter des sozialistischen Realismus ein Buch über die Anfangsjahre seines expressionistisch verirrten Dichterlebens, über die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs, die Reste des Wilhelminischen Zeitalters, die erstarkende Arbeiterbewegung, die Schule, den Schwimmverein, die Poesie. Der annotierte Abschied bezieht sich also nicht nur auf eine untergegangene Zeit, sondern auch auf eine lebendig gebliebene Erinnerung und eine abgelegte Überzeugungswelt. Und so heißt es, bevor das 1. Kapitel beginnt: „Von uns selbst nehmen wir Abschied in langen schmerzlichen Abschiedsstunden, denn von dem Vergangenen scheidend, muß auch von dem Vergangenen in uns selbst geschieden sein. Manches auch lebt weiter, von dem wir glaubten, auf immer Abschied genommen zu haben.“ (10)
4 So begann im Herbst 1936 der von Stalin initiierte ‚Große Terror‘, der „drei Viertel aller deutschen Polit-Emigranten in der Sowjetunion dahinraffte!“ Behrens [Anm. 2], S. 195. 5 Becher [Anm. 1], S. 430. Alle weiteren Zitate werden im Text unter Angabe der Seite nachgewiesen. 6 Zu Bechers Selbstbild als Dichter siehe zuletzt Peter Davies: „… Poltern und würgen und drohen und wüten …“: The aesthetic project of Johannes R. Becher (1891–1958), in: Oxford German Studies 42.1 (2013), S. 77–95.
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I. Realien (Figuren, Dinge, Bilder) Unverkennbar ist „Abschied“ eine frei gestaltete Autobiographie, die zentrale Lebensstationen des jungen Becher verarbeitet, vieles aber hinzudichtet, umstellt, verheimlicht. Eigentlich hatte Becher eine Trilogie geplant, doch die Fortsetzung des Romans scheitert.7 So kollidiert der abrupte Schluss mit der Erwartungshaltung, die man dem Roman eines linientreuen Kommunisten und Funktionärs im Moskauer Exil entgegenbringt. Die DDR-Literaturwissenschaft musste sich entsprechend anstrengen, „Abschied“ zu einem sozialistischen Heldenepos zu erklären. In „Johannes R. Becher. Leben und Werk“ heißt es: „Becher hat in seinem Roman ‚Abschied‘ eine sehr individuelle und doch typische Entwicklung zum revolutionären Marxismus komprimiert“.8 Aber auch das Kollektiv für Literaturgeschichte, Herausgeber des Bandes, kommt nicht umhin, auf Gastls unverkennbare Sprünge, Lücken, Zweifel und Schwächen hinzuweisen. Gastl ist kein Held, kein Sieger, kein Vorbild; er ist wie jeder andere, der in diesem Milieu aufwächst; er ist der deutsche Allerweltshans. Seine große Tat besteht in der Absage an den Krieg, die ihn mit Hartinger und Löwenstein, den beiden anderen Kriegsverweigerern, alleine zurücklässt. Ob er ein guter Proletarier werden wird? „Abschied“ weiß es nicht. Das vermeintliche Ziel des Romans, die Verwandlung des bürgerlichen Hans Gastl in einen Marxisten exemplarisch vorzuführen, wird nicht erreicht. Der Sozialismus ist eine Vorahnung, ein Versprechen, ein Gespenst. Mehr nicht.9 „Abschied“ ist ein widersprüchliches, ein erstaunliches Buch. Das zeigt sich bereits an den Kategorisierungsversuchen der Literaturwissenschaft. Dazu einige Beispiele: „Abschied“ sei ein „Entwicklungs- und Erziehungsroman“, ein „Zeitgemälde“, „Psychogramm des Terrors“ und „Abfolge loser Impressionen“, eine „Moskauer Selbstbesinnung“, ein „monologisches Gespräch“, „Erlebnisstrom“, zudem Biographie, Autobiographie, Roman.10 So richtig sie im Einzelnen sein mögen, die angeführten Kategorien haben kein Wort, keinen Begriff für die Figuren, Dinge und Bilder, die abseits des Klassements ein eigenes Leben führen. Bechers Roman riecht und schmeckt, sieht, hört und fühlt. So nähert man sich den Realien des Romans am besten, wenn man sie aufzählt. Man denke also an die liebevoll gestalteten Nebenfiguren, an das Dienstmädchen Christine, das dem 7 Der vermeintliche zweite Teil, „Wiederanders“, setzt „Abschied“ nicht fort, sondern versucht, ihn neu zu schreiben. Siehe dazu Dieter Schiller: Nachwort, in: Becher: Gesammelte Werke. Bd. 11 [Anm. 1], S. 611–649, insbes. S. 647. 8 Johannes R. Becher. Leben und Werk, hg. v. Kollektiv für Literaturgeschichte, Berlin 1967, S. 86. 9 „Ein überraschendes Paradox“, mit dem sich insbes. Michael Rohrwasser beschäftigt hat: Der Weg nach oben. Johannes R. Becher. Politiken des Schreibens, Basel 1980, S. 55. 10 In der Reihenfolge der Zitate: Dieter Schiller: ‚Höllenwanderung‘. Johannes R. Bechers Roman ‚Abschied. Einer deutschen Tragödie erster Teil 1900–1914‘ (1978), in: ders.: Im Widerstreit geschrieben. Vermischte Texte zur Literatur 1966–2006, S. 200–218, hier S. 200; Kollektiv für Literaturgeschichte [Anm. 8], S. 81; Dwars [Anm. 2], S. 8 und S. 457; Rohrwasser [Anm. 9], S. 57 und S. 55; Georg Lukács: Johannes R. Bechers ‚Abschied‘ (1941), in: ders.: Schicksalswende, Berlin 1956, S. 199–211, hier S. 208.
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jungen Hans „Muß i denn, muß i denn zum Städele naus!“ (31) vorsingt, die gutmütige Großmutter, die zum Jahrhundertwechsel „Es soll anders werden“ flüstert und testamentarisch verfügt, nach Art der Freidenker verbrannt zu werden; an Xaver, den Burschen von Major Bonnet, in dessen „Stube“ es nach „Pferd, Stroh, Leder“ (18) riecht, an Hartinger, Sohn eines sozialdemokratischen Schneiders, an den jüdischen Bankierssohn Löwenstein, der Gastl in die Welt der Literatur und die Theorie des Sozialismus einführt, an die protofaschistischen Sadisten und Intriganten Feck und Freyschlag, mit denen Gastl lange Zeit gemeinsame Sache macht, an Klärchen, die „Zauberfee“ (128), die Hans’ Leidenschaft für Gedichte teilt und darum entlassen wird, an Onkel Karl Barbarossa, eingeschlossen in der Psychiatrie; an die expressionistischen Freunde, Spinner und Kokser Stefan Sack und Doktor Hoch aus dem Café Stefanie, an die Animierkellnerin Fanny, erst geliebt, dann ermordet, an Richard Dehmel, der den hoffnungsfrohen jungen Dichter einen „lieben Springinsfeld“ nennt (305), schließlich an die Mutter, angefüllt mit Lebensweisheiten, die am Schluss des Romans dem Ehemann den Gehorsam verweigern wird, und an den Vater, Oberstaatsanwalt und Bauernjunge. Das Buch ist angefüllt mit den Bildern einer untergegangenen Epoche, Weihnachtsbäume, an denen Quittenwürste hängen, herrische Männer mit Zylinderhüten, Aktenmappen, Haushaltsbücher, blaue Salontinte, Glyptothek, Zwicker, Hausjoppen, Panoramen, Gehröcke, das „runde Messingschild vor dem Friseurladen“ (43), Spaziergänge am Ostermorgen, Gasthäuser, die „Zum fröhlichen Zecher“ (182) heißen, „flimmernde Kornfelder“ (117), Hände, die nach Brillantine riechen, „Staniolpapier zur Bekleidung und Bekehrung der armen, nackten Heidenkinder“ (58) – der englische Garten im Nebel. All dies wird überschattet vom Krieg, der erst wie ein großes Versprechen Hans’ Phantasie anstachelt, um dann über die politische Ereigniskette des neuen Jahrhunderts, die russische Revolution von 1905, Anschläge, Mobilmachungen und Elterngespräche die Welt des Kindes und dessen Geheimnisse, Hoffnungen und Träume zum Verschwinden bringen wird. II. Realismus (Lukács, Barthes, Wood) 1. Georg Lukács hat „Abschied“ so zusammengefasst: „Die Geschichte eines jungen Menschen im Wilhelminischen Zeitalter – das ist der Inhalt des Becherschen Romans.“11 Becher, so Lukács, setze die klassische Erzählliteratur fort – Balzac, Stendhal, Tolstoi, Tschechow – und fülle damit eine schmerzliche Lücke der deutschen Literatur. „Abschied“ zeichne sich aus durch eine besondere „kapillarische Bewegung“, die zeige, wie der deutsche Mensch „das geworden ist, was er ist; sie [die kapillarische Bewegung, C. M.] ist also die dichterische Erklärung 11
Lukács [Anm. 10], S. 199.
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des Gerade-so-seins seiner Gesamtphysiognomie in der verwickelten Dialektik“.12 Dem äußeren Geschehen korrespondiere ein inneres Erleben, das über die monologische Erzählweise des Ich-Erzählers das je individuelle Erleiden und Durchleben der historischen Ereignisse am und im Menschen zeige. Daran erweise sich der spezifisch humanistische Charakter des Realismus. Zu diesem Urteil gelangt Lukács über zwei Kriterien. Das erste betrifft die Form, d. h. die Notwendigkeit der Handlung, die Logik der Verknüpfung, die Fügung der Elemente. Das zweite Kriterium basiert auf der Unterscheidung von ‚lebendigen‘ und ‚toten‘ Dingen, die Lukács G. E. Lessings Laokoon-Aufsatz entnimmt.13 Eine eigene Poesie der Dinge gebe es nicht, so Lukács, weshalb jedes ‚Ding‘ in Verbindung mit der menschlichen Geschichte erzählt werden müsse. Lessings treffendes Beispiel sei Homers Beschreibung des Schildes von Achill: „‚Was bekümmert sich aber Homer, wie weit er den Maler hinter sich läßt? Statt einer Abbildung gibt er uns die Geschichte des Szepters‘“.14 Bei Lukács hört sich das so an: „Bei Becher finden wir keine Spur jener fetischistischen Erstarrung gesellschaftlicher Mächte, die gerade die radikale, nach Gesellschaftlichkeit strebende Literatur unserer Zeit verunstaltet. Alles Soziale ist bei Becher ins Individuelle, ins Psychologische und Moralische umgesetzt.“15 Kurz: Becher schildere keinen Zustand, sondern einen Prozess, der nicht nur die Figuren ergreift, sondern die ganze Welt des Romans. Auf diese Weise, so Lukács, gehe Becher über die Innovationen des modernen Romans hinaus. Indem er alles auf das „Zentralproblem“ bezieht, halte er die „Spontaneität des Erlebnisstroms […] mit eiserner Notwendigkeit“ fest; das gelinge allerdings nicht immer, weshalb einige wenige Teile des Romans unter „Einlinigkeit“ leiden sollen.16 Gut erkennbar orientiert sich Lukács’ Analyse am Verhältnis von Einzelnem und Ganzen. Die etwas seltsame Formulierung der ‚kapillarischen Bewegung‘ liefert ein treffendes Bild für den Reichtum der Eindrücke und Beobachtungen, der Farben, Gerüche und Stimmungen, die „Abschied“ präsentiert. Im Modus des homodiegetischen Erzählens steckt der Erzähler im ‚Gerade-so-sein‘ seiner Figuren und seiner Zeit. Aber fügt sich all dies zu einer Gesamtphysiognomie, und wenn ja, zu welcher? 2. Die Frage der Geschlossenheit oder Totalität entscheidet sich bekanntermaßen am Detail. Der Roman ist dabei der Vorbote der Überflussgesellschaft und Verschwendung, oder wie James Wood es in „Die Kunst des Erzählens“ formuliert: „Die Romanliteratur nimmt eine Menge überschüssiger Details in Ebd., S. 200. Georg Lukács: Erzählen oder beschreiben? (1936), in: ders.: Werke. Band 4: Probleme des Realismus I. Essays über Realismus, Neuwied / Berlin 1971, S. 197–242, hier S. 222. Siehe dazu James Wood: Die Kunst des Erzählens, mit einem Vorwort von Daniel Kehlmann, aus dem Englischen übersetzt von Imma Klemm unter Mitwirkung von Barbara Hoffmeister, Reinbek bei Hamburg 2011, S. 223, Anm. 3. 14 Ebd., S. 224. 15 Ders. [Anm. 10], S. 203. 16 Ebd., S. 208f. 12 13
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sich auf, so wie das Leben voller überschüssiger Details ist.“17 So einfach kann es sein, Lukács’ eiserne Notwendigkeit ins Leere laufen zu lassen. Roland Barthes dagegen hält noch am Notwendigkeitspostulat fest, wenn auch unter anderem Vorzeichen. In L’effet de réel findet sich die bekannte Unterscheidung zwischen dem relevanten / nützlichen und dem irrelevanten / unnützen Detail. Das irrelevante [frz. inutile] Detail übernimmt die Aufgabe, das Reale zu bezeichnen.18 Barthes’ Beispiel ist das Barometer in Mme. Aubains Zimmer in Gustave Flauberts „Ein einfaches Herz“. Im Gegensatz zu den anderen Objekten bedeute es nichts und könne durch jedes andere Detail ersetzt werden. Wood versteht Barthes daher so: „Realismus bietet den äußeren Anschein von Echtheit, ist jedoch durch und durch Fälschung – das nennt Barthes die ‚referentielle Illusion‘.“19 Die Differenz zu Lukács ist offenkundig. Während Barthes das Detail an der Erzählfunktion misst, orientiert sich Lukács an der Handlung. Der eine unterscheidet das nützliche vom nutzlosen, der andere das richtige vom falschen Detail. 3. Wood selbst bietet noch eine etwas anders gelagerte Position an, die Bechers Realien am nächsten kommt. Demnach sind „solche fiktionalen Effekte nicht bloß im ausgemachten Sinne irrelevant oder der Form nach willkürlich […], sondern [sagen, C. M.] uns etwas über die Irrelevanz des Lebens selbst“. Und weiter: „Das Leben wird immer einen unvermeidlichen Überschuss enthalten, einen Spielraum für Überflüssiges, ein Reich, in dem es stets mehr gibt, als wir brauchen: mehr Dinge, mehr Eindrücke, mehr Erinnerungen, mehr Gewohnheiten, mehr Wörter, mehr Glück, mehr Unglück.“20 Woods entspannende Beschreibung öffnet die Augen für eine Dimension des Romans, der man nur durch die Aufzählung, nicht durch die Kommentierung der Realien gerecht werden kann. Warum sollte das Detail überhaupt relevant oder irrelevant sein (Barthes)? Einem Zentralproblem gehorchen (Lukács)? Der Widerspruch der Becherschen Erzählweise kommt nicht nur im abrupten Ende des Romans zum Ausdruck, sondern auch in der andauernden Ambivalenz der Zeichen. So konkurrieren in Bechers Roman zwei Produktionsregeln miteinander: Die eine stimmt die erzählte Welt auf den Abschied vom Wilhelminischen Zeitalter ein, die andere stöbert dort so lange herum, bis die Welt anfängt zu leben und für ihre eigene Formfülle sorgt: klassische Prosa, Satire, Groteske, Träume, Nebelschwaden, Lyrik, Erzählbrüche, Satzanfänge.
Wood [Anm. 13], S. 81. Roland Barthes: Der Wirklichkeitseffekt (1968), in: ders.: Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV (1984), aus dem Französischen übersetzt von Dieter Hornig, Frankfurt a. M. 2006, S. 164–172, hier S. 165. 19 Wood [Anm. 13], S. 82. 20 Ebd., S. 85. Und an gleicher Stelle: „Diese Details sind nicht ‚irrelevant‘. Sie sind auf bedeutende Weise unbedeutend.“ 17 18
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III. Politik der Literatur / des Schreibens Selbstverständlich ist „Abschied“ ein politischer Roman. Das liegt nicht nur an den historischen Umständen, die jeder Literatur und jeder Kunst eine politische Haltung abverlangen. „Abschied“ befasst sich dezidiert mit den politischen Verwerfungen der Vorkriegsjahre, der Nationalisierung des Bürgertums, den privaten Spiegelungen der Weltgeschichte. Zustimmung oder Widerstand, Strammstehen oder Standhaft bleiben – die Figuren des Romans sind genötigt, eine politische Identität herauszubilden. Das von Ungewissheit geprägte growing up der Hauptfigur liefert nur ein prägnantes Beispiel für die Ungewissheit eines ganzen Landes. Dem entspricht der erzählerische Anspruch, die Vorgeschichte der Ersten Weltkriegs und des Nationalsozialismus anhand von typischen Lebenswegen, Reaktions- und Denkweisen, Sackgassen, Fluchten und klassenspezifischen Allianzen darzustellen. Dem entspricht der Bekenntnischarakter der Figuren, dem entsprechen die eingestreuten historisch-materialistischen Anmerkungen und Diskursivierungen. Der produktive Widerspruch des Romans liegt nun aber nicht dort vor, wo die Klassengegensätze geschildert werden, sondern dort, wo politisches und poetologisches Interesse aufeinander stoßen. Dazu ein nützlicher Umweg, den die Erzählsituation des Romans bereithält. In der Sekundärliteratur verlegt man sich darauf, den Roman monologisch zu nennen oder von einem Ich-Erzähler zu sprechen. Nun gehört zur Ich-Erzählung die Spaltung des Ich; Franz K. Stanzel unterscheidet daher zwischen dem erzählenden und dem erlebenden Ich. Das eine Ich steht in der Schreibgegenwart, das andere bewegt sich auf sie zu. Wolf Schmid hat in seinem Standardwerk „Elemente der Narratologie“ Stanzels Terminologie leicht modifiziert; er spricht vom erzählenden und vom erzählten Ich.21 Der Grund dafür liegt auf der Hand. Das Erleben des Ich soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich beim Ich immer um ein erzähltes handelt, nicht um eines, das so und so wirklich gelebt hat. Schmids Korrektur reicht nun weiter als man auf den ersten Blick meinen könnte. Erstens gibt sie auf Seiten der Terminologie etwas auf, das für Bechers Roman konstitutiv ist; der Begriff des Lebens bringt das Mit- und Durchleben der Hauptfigur auf den Punkt, das die ganze Erzählweise des Romans zu erreichen sucht: die Identifikation mit dem Helden. Wobei es sich hier um einen Sonderfall der Identifikationsliteratur handelt, um eine vorweggenommene Mimesis, denn der Held bestimmt sich als solcher durch den
21 Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens (1979), Göttingen 1995, S. 285–287; Wolf Schmid: Elemente der Narratologie (2005), 2., verb. Aufl., Berlin / New York 2008, S. 87, Anm. 38; siehe dazu Christoph Bode: Der Roman. Eine Einführung, Tübingen / Basel 2005, S. 152–164 („Die Spaltung des Unteilbaren: Die Ich-Erzählsituation“).
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Wunsch nach Identifikation durch den Leser.22 Becher will etwas erzählen, will verändern, erziehen und unterrichten. In „Erziehung zur Freiheit“ aus dem Jahre 1942 heißt es programmatisch: „Der Entwicklungsroman, der Erziehungsroman, Geschichtswerke in epischer oder dramatischer Form werden die Gattungen der Literatur sein, welche die Atmosphäre einer Aufgeschlossenheit und Bereitschaft schaffen, die für eine geistige Wiedergeburt nötig ist.“23 Und an anderer Stelle: „Was ist ein Held: ein Vorbild hingestellt vom Dichter, damit Tausende sich ihm nachbilden.“24 Zweitens führt Schmids Korrektur zum erzählenden Ich zurück, das weder für Stanzel noch für Schmid ein Problem darstellt. Dabei gibt es gute Gründe, auch das erzählende Ich wie ein erzähltes zu behandeln. So heißt es in „Elemente der Narratologie“: „Ohne Perspektive gibt es keine Geschichte. Eine Geschichte konstituiert sich überhaupt erst dadurch, dass das amorphe, kontinuierliche Geschehen einer selektierenden und hierarchisierenden Hinsicht unterworfen wird.“25 In zwei Schreib-Szenen des Buches wird genau diese Frage nach der Souveränität des erzählenden Ich gestellt.26 1. Das Leitmotiv des Romans, der Satz vom Anderswerden, der die Eingangsszene dominiert und sich fortan durch den ganzen Text zieht, muss sich seinen Ort erst noch suchen.27 Für Hans Gastl ist es das Schreiben, in das er sich zurückzieht und das ein Rückzugsgebiet bereithält, in dem das Subjekt seine Träume und Wünsche mobilisieren kann. Die Welt des Schreibens wird zum Versprechen. „Vor dem leeren Blatt Papier sitzend, war es mir, als sei dieses Blatt eine Art Zauberspiegel: alles was mich bedrängte, vermochte er in seiner schneeweißen Einsamkeit widerzuspiegeln. Was vordem in mir verstreut und durcheinander lag, ordnete sich bei seinem Anblick und wurde übersichtlich.“ (212) Klarheit, Reinheit, Ordnung – das Schreiben eröffnet nicht nur eine Gegenwelt, sie gibt der chaotischen Wirklichkeit die rechte Gestalt, sie stiftet Orientierung, sie hält am Leben. Spätestens mit Gastls Einstieg in die Welt der Literatur öffnet sich unter Bechers Roman eine Falltür, in deren Schutz der Becher 22 Siehe dazu Roland Barthes: „Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen“ (1982), Vorlesung am Collège de France, 19. Oktober 1978, in: Barthes [Anm. 18], S. 307–320, S. 307: „Mir scheint, in der abbildenden Literatur, im Roman zum Beispiel, identifiziert man sich immer mehr oder weniger (ich meine zeitweise) mit einer der dargestellten Personen; diese Projizierung ist, glaube ich, die eigentliche Triebfeder der Literatur.“ 23 Johannes R. Becher: Erziehung zur Freiheit, Berlin / Leipzig 1946, S. 112, Hinweis bei Schiller [Anm. 10], S. 200. 24 Johannes R. Becher: Von der Größe unserer Literatur. Reden und Aufsätze, Leipzig 1971, S. 187, Hinweis bei Schiller [Anm. 10], S. 202. 25 Schmid [Anm. 21], S. 129. 26 Zum Begriff der Schreibszene / Schreib-Szene siehe Rüdiger Campe: Die Schreibszene, Schreiben, in: Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, hg. v. Hans Ulrich Gumbrecht u. K. Ludwig Pfeiffer, Frankfurt a. M. 1991, S. 759–772, und Martin Stingelin: ‚Schreiben‘. Einleitung, in: „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum“. Schreiben im Zeitalter der Manuskripte, hg. v. ders., München 2004, S. 7–21. 27 „Abschied. Und: es soll anders werden!“ Becher [Anm. 1], S. 10.
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der 1930er Jahre über sein Schreiben nachdenkt. Dabei führen Szenen wie diese nicht immer in die richtige Richtung. Denn Gastls Leben bleibt ungeordnet, trotz oder wegen der politischen Einlinigkeit. Anders gesagt: Die Ordnung des Romans findet ihre Erfüllung weder im Begriff des Realismus noch in der historischmaterialistischen Argumentationsweise der historischen Fakten, sondern allein in der Imagination des eigenen Schreibens, dem Becherschen Schreibideal. 2. Die zwei Seiten der politischen Literatur (engagiert / nicht engagiert) lassen sich auch am Begriff des Details vorführen. Auf der einen Seite steht das bewegte, dynamische Detail, das der Entwicklung dient, also im Modus der Geschichte bewegt wird und auf diese Weise Zeit, Umstände und Veränderung darstellt; auf der anderen das unnütze, kontextlose, starre Detail, das sich selbst vertritt und auf diese Weise in einen Widerspruch zur Handlung gerät. Es nimmt den Schreibenden in den Dienst: es ‚engagiert‘.28 Becher hatte ein Auge für seine schriftstellerische Existenz und er wusste um die Fallstricke der Autobiographie, die den Autor mehr schreibt, als dass dieser diese schreibt. Becher hat eine solche Lesart selbst angeregt, auf den letzten Seiten seines Romans. Dort spricht der Schriftsteller Sack eine Eloge auf den Roman und tut so, als sei das Buch noch gar nicht geschrieben. Aber Becher und der Leser kennen das Buch schon; es liegt vor ihnen.29 Nachdem wir alles verzehrt hatten, meinte Sack: „Was Sie da erzählt haben von dem Anderen, ist ein Roman. Ein Abenteuer-Roman. Schreiben Sie ihn! Sie werden ihn schreiben, einmal, vielleicht erst nach vielen, vielen Jahren. Nicht nur Sie nehmen Abschied darin von sich selbst, ihresgleichen sind nicht wenige, und alle werden gebraucht werden, auch solche wie Sie … ‚Abschied‘ müßte er heißen – ‚Abschied‘. Eine deutsche Tragödie … Sie werden über sich selbst schreiben, aber dieses ‚Ich‘ wird kein herkömmlich Biographisches sein, es wird eine Gestalt sein, wie jede andere, mit den tatsächlichen Ereignissen, vielleicht nur ab und zu durch ein belangloses Detail verbunden. Da Sie aber aus der einen Gestalt alle anderen ableiten, und da sich wiederum die eine Gestalt aus all den anderen entwickelt, müssen im ersten Teil der Tragödie durch das Bekenntnishafte der ganzen Anlage die Gestalten in ihrer Entwicklung notwendigerweise noch behindert sein, während sie erst im zweiten Teil, darin die Selbstgestaltung zurücktritt, die volle Freiheit gewinnen … Dem Standhaften Leben
28 Zum Begriff des Engagements Claas Morgenroth / Martin Stingelin / Matthias Thiele: Politisches Schreiben. Einleitung, in: Die Schreibszene als politische Szene, hg. v. dies., München 2012, S. 7–33, insbes. S. 18–22. 29 Eine offensichtliche Parallele zum letzten Kapitel von Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“.
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werden Sie ein Denkmal setzen. Die Standhaften werden fortleben in ihren Taten. […] Und Sie werden Ihr Leben als Dichtung fortsetzen“. (405f.) Diese Passage schlägt mindestens drei konkurrierende Ansichten über „Abschied“ und den Roman im Allgemeinen vor: Die 1. präsentiert ein Genre, den Abenteuerroman; die 2. findet ihren Ausdruck im Begriff der ‚Gestalt‘ und der ‚Notwendigkeit‘ („Da sie aber aus der einen Gestalt alle anderen ableiten, und da sich wiederum die eine Gestalt aus all den anderen entwickelt“) – ein Echo des Lukács’schen Realismusbegriffs; die 3. ruft die Verwandlung des erzählenden Ich in Dichtung auf, die Umschreibung der Wirklichkeit in Poesie („Und sie werden Ihr Leben als Dichtung fortsetzen“). Man wird an dieser Stelle auch die drei Positionen zum Realismus des Details noch einmal aufrufen können. Lukács misst die Realität der Romanwelt an der notwendigen Verknüpfung und Dynamisierung des Details; Barthes bestimmt über das nutzlose Detail das Reale als Illusion; Wood erklärt das überflüssige, und damit nutzlose Detail zum Gradmesser der Wirklichkeit, des Lebens. Und Becher? Julius Hay nannte Becher einen krankhaften Graphomanen, und auch Ruth von Mayenburg kannte keine besonders liebevolle Bemerkung zur Bechers Schreibpensum: „War der Dichter außer Hörweite, wurde er boshaft ‚Johannes Erbrecher‘ genannt.“30 Zur Graphomanie und zum Erbrechen gehört die Defunktionalisierung und Existentialisierung des Schreibens, deren Ausdruck das Sack in den Mund gelegte „belanglose Detail“ ist. Bechers Politik des Schreibens beginnt dort, wo die Politik aufhört, Bestimmungsort der Literatur zu sein.
30 Julius Hay: Geboren 1900. Aufzeichnungen eines Revolutionärs, München 1970, S. 168; Ruth von Mayenburg: Blaues Blut und rote Fahnen. Ein Leben unter vielen Namen, Wien / München / Zürich 1969, S. 259, beides zitiert nach Rohrwasser [Anm. 9], S. 36 und 35.
Jennifer Tharr
Oskar Maria Graf „Das Leben meiner Mutter“ (1940) Der Begriff ‚Nation‘ blieb mir immer etwas Abstraktes1 I. Die Macht der Bilder und der (Selbst-)Inszenierung – Image und Rezeption „Voralpen-Gorki“, „Lederhosenerzähler“, „bayerischer Boccaccio“, „linksvitaler Bayer“ – diese oder ähnliche markige Charakterisierungen finden sich in vielen Darstellungen und Studien zu Oskar Maria Graf, dem 1894 im oberbayerischen Dorf Berg am Starnberger See als siebtes von acht Kindern geborenen Bäckerssohn, Akteur und Zeitzeugen bei der bayerischen Revolution und ihrer Niederschlagung, der den Militärdienst während des Ersten Weltkriegs überlebte, indem er konsequent den Kriegsneurotiker spielte und deshalb heim geschickt wurde,2 der 1933 während einer Lesereise im österreichischen Exil verblieb, ein Jahr später ins tschechische Exil ging und 1938 den zuvor ausgewanderten Geschwistern in die USA folgte, wo er 1967 in New York starb. Zu verlockend ist die Provinzexotik dieses Autors, um sie unkommentiert zu übergehen, zu verführerisch sind diese Etikettierungen, die so bequem auf die entsprechenden Schubladen verweisen. Dass Oskar Maria Graf damit grundsätzlich Unrecht getan wäre, ist noch nicht einmal der Fall. Er selbst hat mit größter Lust und diebischer Freude an der deftigen Provokation zu diesem Image des trinkfesten urbayerischen Bauerntölpels beigetragen, ja es nachgerade immer wieder befeuert. Kaum eine Publikation zu ihm verschenkt die Gelegenheit, das umfassend erhaltene Bildmaterial zu präsentieren – auch dieser Beitrag nicht –, zu schade wäre es darum.3
1 Oskar Maria Graf: Um Thomas Mann, in: ders.: An manchen Tagen. Reden, Gedanken und Zeitbetrachtungen, Frankfurt a. M. 1961, S. 289. 2 So zumindest setzt es Graf in seinem autobiographischen Roman „Wir sind Gefangene“ literarisch in Szene und – mit Verweis darauf – auch in „Das Leben meiner Mutter“. Siehe die Kapitel XVII–XXI in Oskar Maria Graf: Wir sind Gefangene. Ein Bekenntnis, Berlin 2010 [1. Aufl. München 1927] und Oskar Maria Graf: Das Leben meiner Mutter, Berlin 2008 [zuerst auf Englisch unter dem Titel „The Life of My Mother. A Biographical Novel“, New York 1940; erstmals in deutscher Sprache München 1946], S. 434f. 3 Besonders reiches Bildmaterial bietet die Monographie von Winfried F. Schoeller: Oskar Maria Graf. Odyssee eines Einzelgängers.Texte – Bilder – Dokumente, Frankfurt a. M. / Wien 1994.
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Doch die Macht des Image ist in seiner Dominanz für den Rezeptionsprozess nicht zu unterschätzen. Was zu Grafs Lebzeiten als lustvolle Provokation Aufmerksamkeit erregte und interessierte, scheint heute das Werk dieses Autors zu überlagern. Wie ist es also um Grafs Literatur, wie um die Bereitschaft zur – zugegebenermaßen nicht unaufwendigen, weil meist recht umfangreichen – Lektüre bestellt? Bemühungen von Seiten der Literaturwissenschaft, im speziellen der literaturwissenschaftlichen Exilforschung, die tatsächliche Vielschichtigkeit und nicht zuletzt die Aktualität von Grafs Werk herauszustellen, gibt es und hat es immer wieder gegeben. Umfangreiche Grundlagenforschung durch die Nachlasserschließung wurde geleistet, und durch einen immer wieder neuen kaleidoskopischen Blick auf Grafs Texte sollen Autor und Werk vor dem Vergessen bewahrt werden.4 Vor allem die „Oskar Maria Graf Gesellschaft“ hat sich in ihrer Satzung der Sorge um die „verstärkte Rezeption und Beschäftigung mit dem Werk Oskar Maria Grafs“ angenommen.5 Die Ergebnisse werden im Jahrbuch und im „OMG-Journal“ präsentiert.6 Für einen Moment möchte ich bei dem von der Graf-Gesellschaft propagierten Bild Oskar Maria Grafs verweilen, um eine symptomatische Feststellung zu treffen, die ein Vorhaben, wie dasjenige dieses Sammelbandes sinnvoll, ja gar notwendig erscheinen lässt: Bereits der zeitgemäß ansprechend aufgemachte Webauftritt der Gesellschaft kann als Relativierung des sich so leicht festsetzenden 4 Obwohl der Roman „Das Leben meiner Mutter“ 1997 zum wiederholten Male neuaufgelegt wurde, erschien der letzte Aufsatz, der diesen Roman im Besonderen in den Blick nimmt, 1987: Wolfgang Pape / Bernhard Graf: Geschichte in Geschichten. Zu Oskar Maria Grafs und August Kühns Romanen „Das Leben meiner Mutter“ und „Meine Mutter – 1907“, in: Anpassung und Utopie. Beiträge zum literarischen Werk Oskar Maria Grafs, Lion Feuchtwangers, Franz C. Weiskopfs, Anna Seghers und August Kühns, hg. v. Thomas Kraft u. Dietz-Rüdiger Moser, München 1987, S. 148–161. Die Beschäftigung mit „Das Leben meiner Mutter“ findet zumeist im Rahmen von umfassenden Gesamtdarstellungen des Werks statt. Als einflussreiche Einzelstudie ist das Nachwort Hans-Albert Walters zur Auflage des Romans von 1981 zu nennen: Hans-Albert Walter: Nachwort. Der soziale Chronist Oskar Maria Graf, in: Oskar Maria Graf: Das Leben meiner Mutter, München 1981, S. 569–584. Nach wie vor auch für „Das Leben meiner Mutter“ wichtige (biographisch orientierte) Monographien sind: Gerhard Bauer: Oskar Maria Graf. Ein rücksichtslos gelebtes Leben, München 1994; Georg Bollenbeck: Oskar Maria Graf, Reinbek bei Hamburg 1985, Rolf Recknagel: Ein Bayer in Amerika. Oskar Maria Graf. Leben und Werk, 3. verb. Aufl., Berlin 1984. Zur recht komplexen wie komplizierten Publikationsgeschichte der „Gesammelten Werke“, um deren Herausgabe sich zuerst Hans Dollinger, dann Winfried F. Schoeller und folgend Ulrich Dittmann bemüht haben, siehe die Informationen auf der Homepage der Graf-Gesellschaft: http://www.oskarmariagraf.de/werk-gesamtausgaben.html (letzter Zugriff: 26. August 2014). 5 Aus der Satzung der „Oskar Maria Graf Gesellschaft e. V.“: http://www.oskarmariagraf.de/gesellschaft-vorstand-satzung.html (letzter Zugriff: 26. August 2014). 6 Der Herausgeber der ersten Graf-Gesamtausgabe Hans Dollinger war es auch, der zusammen mit der Bayerischen Staatsbibliothek eine Ausstellung zu Oskar Maria Graf organisierte, die in der Hochphase der ersten Wiederentdeckungswelle Grafs von 1977 bis 1988 in zahlreichen Städten präsentiert wurde, und der 1992, in Vorbereitung der umfangreich geplanten Würdigung des Autors zu seinem 100. Geburtstag 1994, Mitinitiator der „Oskar Maria Graf Gesellschaft“ war, die vom Kulturreferat der Stadt München gegründet wurde.
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Oskar Maria Graf, 1958 (Fotografie von Rudi Dix. Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Historischen Bildarchivs im Stadtarchiv der Landeshauptstadt München.)
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Bilds von Graf als „Provinzschriftsteller“ verstanden werden. Auf ihrer Startseite vermeidet die Gesellschaft geschickt die Tradierung dieser Selbstinszenierung, die sich im Laufe der Zeit verselbständigt hat. Fotos in Anzug und Krawatte präsentieren den intellektuellen Dichter und den engagiert diskutierenden Bürger, der in den nebenstehenden Zitat-Blöcken sofort von prominenter Seite als exilierter Schriftsteller („‚Ein verjagter Dichter, einer der besten‘ Bertolt Brecht“), verfolgter Emigrant und Gegner des Nationalsozialismus ausgewiesen wird – unter Beachtung der Zweisprachigkeit des Exils, die Graf allerdings selbst nie beherrschte („He was one of the earliest and most outspoken opponents of the Nazis“ – Nachruf in der „New York Times“, 29. Juni 1967). Wenngleich hier die bayerische Herkunft nicht unterschlagen wird, so wird sie doch gleich in den Kontext eines Weltbürgertums gestellt („‚Ich bin der einzige Bayer, der schließlich in der Welt bekannt ist‘ Oskar Maria Graf“). Alles in allem also: Kein Pixel von Provinz! Die Gestaltung der Seite ist ein wohldurchdachter, rezeptionslenkender Hinweis für den genaueren und kritischen Blick, der es nicht beim krachledernen Image des Provinzschriftstellers belassen will. Das Plädoyer für den genaueren, kritischen Blick für sein Werk lieferte Graf 1933 im Grunde bereits selbst. Seinen entrüsteten Aufruf „Verbrennt mich!“ verfasste er, als er feststellen musste, dass es zwar sein autobiographischer Roman „Wir sind Gefangene“ in den Rang der „Asphaltliteratur“ geschafft hatte, seine übrige Literatur aber sogar auf der „weißen Liste“ der von den Nationalsozialisten empfohlenen Büchern stand.7 Dieses Dokument eines mutigen Aufbegehrens brachte Graf so viel Achtung auf der einen Seite ein – wie zum Beispiel Bert Brecht in seinem Gedicht „Die Bücherverbrennung“ zum Ausdruck bringt8 –, wie Ächtung auf der anderen Seite: Die nationalsozialistisch gesinnte Münchner Studentenschaft, so weiß Graf zu berichten, organisierte wenig später ein Autodafé eigens für seine Bücher.9 Doch noch einmal zurück ins München der Gegenwart bzw. ins ortsungebundene WorldWideWeb: So verdienstvoll die Graf-Gesellschaft seit den 1990er Jahren die Forschung zu ihrem Autor unterstützt und publik macht und so programmatisch sie das Lederhosen-Image zu meiden sucht, um den Blick von der übergewichtigen Autorinszenierung weg auf das Werk zu öffnen, so ist doch zu bemerken, dass Webauftritt und Selbstverständnis noch immer der Programmatik 7 Eine entsprechende Meldung entnahm Graf in Wien dem „Berliner Börsencourier“. Siehe: Oskar Maria Graf: „Verbrennt mich!“, in: Arbeiter-Zeitung vom 12. März 1933. 8 Bertolt Brecht: Die Bücherverbrennung, in: ders.: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. v. Werner Hecht [u. a.], 30 Bde., Berlin [u. a.] 1988‒2000, Bd. 12, S. 61. 9 Siehe Oskar Maria Graf: Gelächter von außen. Aus meinem Leben 1918–1933, Berlin 2009 [München 1966], S. 125. Allerdings waren die nationalsozialistischen Literaturlistenschreiber nicht so dumpf, wie man sie gern gehabt hätte. So weisen einige Untersuchungen durchaus auf die Nähe von Grafs dem Ländlichen und Dörflichen verbundenen Frühwerk zur sogenannten „Heimatkunstbewegung“ hin, auf die wiederum die Ideologie von „Blut-und-Boden“ mühelos aufbauen konnte. Siehe dazu Robert Stockhammer: Heimatliteratur im Exil. Oskar Maria Graf, in: Exil. Forschung – Erkenntnisse – Ergebnisse, hg. v. Edita Koch, Bd. 11, H. 2, 1991, S. 71–80.
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der Exilforschung der ersten Stunde mit ihrer antifaschistischen Agenda und dem wirkungsmächtigen Narrativ des ‚anderen Deutschland‘ verpflichtet sind, einer Programmatik, wie sie etwa Hans-Albert Walter in seinem für die Rezeptionsgeschichte des Romans wichtigen Nachwort zur Neuausgabe von 1981 prägte.10 So liest man in der kurzen Erklärung der Gesellschaft auf der Seite der Stadt München, deren Kulturreferat die Gründung der Gesellschaft förderte: „Die Stadt unterstützte damit die institutionelle Pflege des Autors, der ein ‚anderes Bayern‘ repräsentiert.“11 In der Formulierung des ‚anderen Bayern‘ wird zwar weniger die identitätsstiftende Kulturnation als die Kulturregion beschworen, jedoch handelt es sich auch bei diesem Begriff zweifellos um eine bloß „vorgestellte Gemeinschaft“, um mit dem mittlerweile zum Schlagwort avancierten Begriff von Benedict Anderson zum Kern dieses Beitrags vorzustoßen. Für das Folgende sei Andersons wegweisende Studie „Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism“12 mehr als nur Schlagwortlieferant, weist seine konstruktivistische Analyse des Nationenbegriffs, die wohl nicht zufällig von Exilanten wie Erich Auerbach und Walter Benjamin beeinflusst wurde, doch direkt ins Zentrum des Themas, um das es im Folgenden am Beispiel des Romans „Das Leben meiner Mutter“ gehen soll. Die Rezeption von Grafs Werk scheint nach wie vor von einer Perspektive bestimmt, die in ihrer erinnerungspolitischen Intention einem essentialistischen Denken in nationalstaatlichen Kategorien verhaftet bleibt. Damit schreibt sie eine Erinnerungskultur fort, die ihr Selbstverständnis über Grenzziehungen konstituiert und einem hierarchischen Differenzdenken verhaftet bleibt, das angesichts aktueller Exils- und Migrationsrealitäten nicht nur problematisch erscheint, sondern auch überholt. Im Folgenden soll Grafs Roman im Anschluss an die gegenwärtigen theoretischen Perspektiverweiterungen in der literaturwissenschaftlichen Exilforschung13 durch Ansätze der postcolonial studies, der gender studies und der Interkulturalitätsforschung – um nur die für meine Ausführungen relevanten zu nennen – einer Revision unterzogen werden. Diese Perspektivierung kann dem Text möglicherweise nicht nur gerechter werden als ein vom Antifaschismus-Paradigma und der Rede vom ‚anderen Deutschland‘ geprägter Blick, sondern vermag zudem
10 „Auch die Gestalt der Mutter gewinnt in diesem Sinn Repräsentanz für das ‚andere‘, das bessere Deutschland.“ (Walter [Anm. 4], S. 583). 11 http://www.muenchen.de/dienstleistungsfinder/muenchen/1061906/ (letzter Zugriff: 26. August 2014). 12 Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt a. M. 1996. (Englische Originalausgabe: London 1983.) 13 Hierzu aktuell: Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur. Von Heinrich Heine bis Herta Müller, hg. v. Bettina Bannasch u. Gerhild Rochus, Berlin / Boston 2013; Literatur und Exil. Neue Perspektiven, hg. v. Doerte Bischoff u. Susanne Komfort-Hein, Berlin / Boston 2013; und mit speziellem Augenmerk auf das jüdische Exil: Exil – Literatur – Judentum, hg. v. Doerte Bischoff, München 2014.
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eine Qualität dieses Buches hervorzuheben, die auch dem heutigen Leser etwas zu sagen hat. Die postcolonial studies haben die Aufmerksamkeit für die Brisanz einer essentialistischen Auffassung von Begriffen wie Nation, Kulturnation und Nationalstaat geschärft und vielmehr auf die narrative Verfasstheit dieser Begriffe hingewiesen.14 Sie haben sowohl auf das identitätsstiftende Potential für das nationale Selbstverständnis aufmerksam gemacht wie auf die symbolische Macht der Begriffe für die Etablierung von realen Macht- und Herrschaftsansprüchen. Für die Exilforschung wurde diese Theoriearbeit zu einem Zeitpunkt Anfang der 1990er Jahre interessant, als sie sich selbst von ihren eigenen Mythen befreite und nach neuen relevanten Möglichkeiten der Perspektivierung suchte.15 Die Thesen Benedict Andersons oder Homi K. Bhabhas sensibilisierten für ein Problem, dessen Durchdringung und Reflexion gerade für die Literatur im Exil naheliegend schien. Jedoch fiel einer der ersten Befunde, den Stephan Braese 2009 vorlegte, wider Erwarten negativ aus. Braese resümiert: „Für konstitutive Teile des deutschen Exils blieben jene Dispositionen, die heute als genuin postkoloniale erkennbar und beschreibbar sind, als kategorial historische Konditionen unbegriffen, ihre kulturelle Produktionskraft unerkannt.“16 Und diese Beobachtung verschärfend heißt es an anderer Stelle: „im Gegenteil – die Kategorie der Nation [hat, J. T.] als unhintergehbares historisches Agens unter den Bedingungen des Exils und im Modus der Formel vom ‚Anderen Deutschland‘ eine nachhaltige Verhärtung erfahren.“17 Diese Feststellung schien damit für die Exilliteratur wie für eine lange Phase der Exilforschung, deren bestimmendes Forschungsparadigma sich ebenfalls von der Erzählung vom antifaschistischen ‚anderen Deutschland‘ leiten ließ, gleichermaßen zu gelten. Literatur und Forschung schienen in einem Selbstverständnis verstrickt, das sich auf unhinterfragte Essentialismen stützte – Braeses Befund war also vor allem ein weiterer Beleg für die mächtige Funktionalität des nationalen Narrativs. Gegenwärtig gilt es, dieses Ergebnis im Hinblick auf das tatsächliche Reflexionspotential in der Literatur des Exils zu differenzieren. Erste Arbeiten sind dazu 14 Homi K. Bhabhas Studie „Nation and Narration“ ist eine andere wichtige Arbeit zu diesem Thema, die sich explizit auf Anderson bezieht, jedoch den Aspekt der narrativen Verfasstheit sowie den performativen Charakter von Sprache stärker betont. Seine leitende Fragestellung ist: „If the ambivalent figure of the nation is a problem of its transitional history, its conceptual indeterminacy, its wavering between vocabularies, then what effect does this have on narratives and discourses that signify a sense of ‚nationness’” (Homi K. Bhabha: Nation and Narration, London 1990, S. 2). 15 Hier sei auf Lutz Wincklers wegweisende Studie verwiesen: Mythen der Exilforschung?, in: Kulturtransfer im Exil, München 1995 (Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 13), S.68–81. 16 Stephan Braese: Exil und Postkolonialismus, in: Exil, Entwurzelung, Hybridität, hg. v. Claus-Dieter Krohn u. Lutz Winckler, München 2009 (Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 27), S. 1–19, hier S. 2. 17 Ebd. S. 4.
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beispielsweise von Doerte Bischoff und Susanne Komfort-Hein18 oder von Bernhard Spies vorgelegt worden, der am Beispiel von Texten Anna Seghers’ und Arnold Zweigs zeigen kann, dass die Nation als Konstrukt sehr wohl vor allem von linker Seite erkannt wurde. Zwar durchschauen diese beiden Autoren die sinnstiftende Funktion dieses Begriffs, in der Konsequenz wird sie jedoch nicht verabschiedet, sondern re-etabliert.19 Umso bemerkenswerter erscheint nun vor diesem skizzierten Hintergrund das Verständnis von Nation, Heimat und Volk in Oskar Maria Grafs Roman „Das Leben meiner Mutter“, einem Roman gerade von jenem Autor also, der sich in steter Referenz auf seine Heimat in Szene zu setzen verstand. Um es etwas salopp zu pointieren: Es wird zu zeigen sein, dass in Grafs Roman im Hinblick auf eine Programmatik des ‚anderen Deutschlands‘ erstaunlich wenig zu holen ist.20 II. „Das Volk, das ist ungefähr so wie meine Mutter“21 Von manchen als das „Hauptwerk Grafs“22 bezeichnet, erschien „Das Leben meiner Mutter“ erstmals im November 1940 in englischer Übersetzung unter dem Titel „The Life of my mother“ in einer gekürzten amerikanischen Ausgabe. Das Buch wurde verhältnismäßig breit und überwiegend positiv rezensiert, konnte jedoch trotzdem keinen Verkaufserfolg verzeichnen, nicht zuletzt weil 18 Ausgehend von der Beobachtung, dass die Kategorie des Nationalen „zugleich und gerade in ExilKontexten grundsätzlich problematisiert wird“ machen Bischoff und Komfort-Hein evident, dass vor dem Hintergrund gegenwärtiger Forschungsperspektiven und Entwicklungen in der Gegenwartsliteratur, die Ausweitung der Bestimmung „Exilliteratur“ als Epochenbegriff, d.h. als Sammelbegriff der Literatur, die zwischen 1933–1945 im Exil entstanden ist, dringend geboten ist. Doerte Bischoff und Susanne Komfort-Hein: Vom ‚anderen Deutschland‘ zur Transnationalität. Diskurse des Nationalen in Exilliteratur und Exilforschung, in: Exilforschungen im historischen Prozess, hg. v. Claus-Dieter Krohn u. Lutz Winckler, München 2012 (Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 30), S. 242–273, hier S. 242. 19 Bernhard Spies: Konstruktionen nationaler Identität(en) – Exilliteraturforschung und Postcolonial Studies, in: Bannasch / Rochus [Anm. 13], S. 75–95. 20 Durchaus anders verhält es sich in Vorträgen und Essays Grafs, in denen er sich deutlich zu dieser Vorstellung bekennt. Hier wäre zu prüfen, in welchem Kontext der entsprechende Text steht und der Diskurs über das ‚andere Deutschland‘ aufgerufen wird. (Oskar Maria Graf: Reden und Aufsätze aus dem Exil, hg. v. Helmut F. Pfanner, München 1989.) Zu dem Schluss, dass Graf in seinen Romanen des Nachexils diese Vorstellung jedoch subvertiert, kommt auch Bettina Bannasch in ihrer Analyse von „Die Flucht ins Mittelmäßige“. Bannasch liest den Roman mit seiner „Konzeption des Mittelmäßigen“ im kontrastiven Vergleich zu Thomas Manns „Doktor Faustus“ als „schlüssige[n] Gegenentwurf“ (S. 83) zum Diskurs um das ‚andere Deutschland‘, der jedoch in Deutschland nach 1945 in Ermangelung eines attraktiven Identifikationsangebotes – anders als „Doktor Faustus“ – so gut wie nicht rezipiert wurde. (Bettina Bannasch: Konstruktionen nationaler Identität in der Literatur des Nachexils. Zu Thomas Manns „Doktor Faustus“ und Oskar Maria Grafs „Die Flucht ins Mittelmäßige“, in: Berührungen. Komparatistische Perspektiven auf die frühe deutsche Nachkriegsliteratur, hg. v. Günter Butzer u. Joachim Jacob, München 2012, S. 83–98). 21 Graf [Anm. 2], S. 425. 22 Schoeller [Anm. 3], S. 342.
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der Verlag wenige Zeit später in Konkurs ging. „Das Leben meiner Mutter“ war das erste Buch, das von Graf im Nachkriegsdeutschland veröffentlicht wurde. Es erschien 1946 im Kurt Desch Verlag in München. Rezipiert wurde das „Mutterbuch“23 schnell als antifaschistischer Gegenentwurf zur Blut-undBoden-Literatur. Das umfangreichste Buch Grafs ist in zwei Hauptteile untergliedert. In der deutschen Erstausgabe gibt Graf selbst über den Entstehungszeitraum Aufschluss. Der erste Band, so Graf, sei 1938 in Brünn in der Tschechoslowakei geschrieben worden, der zweite im Frühjahr und Sommer 1940 in New York City und in Yaddo, Saratoga Springs, einer Künstlerkolonie im Bundesstaat New York.24 Eine Inhaltsangabe, der erzählerische Zugriff und das Anliegen des Romans, das über die biographische und autobiographische Erinnerungsarbeit an der Mutter hinausweist, finden sich bereits im Vorwort von Graf verdichtet, das 1940 in New York entstand: In diesem Buch erzählt ein Sohn das einfache Leben seiner Mutter von ihrer Geburt bis zu ihrem Tode. Forschung und Erinnerung waren ihm dabei behilflich. Der erste Band, „Menschen der Heimat“ hält sich an schriftliche und mündliche Überlieferungen, der zweite „Mutter und Sohn“ ist notgedrungen autobiographisch geworden. In einer Zeit, da allenthalben versucht wird, durch alte und neue Schlagworte den gesunden Menschenverstand gleichsam epidemisch zu verwirren, spricht dieses Buch nur von jenen unbeachteten, natürlichen Dingen, die – mögen auch noch so scheinbar entscheidende historische Veränderungen dagegen wirken – einzig und allein das menschliche Leben auf der Welt erhalten und fortzeugend befruchten: von der stillen, unentwegten Arbeit, von der standhaften Geduld und der friedfertigen, gelassenen Liebe. Mag sein, dass damit das Leben der Mütter in allen Ländern erzählt worden ist.25 Eine stringente Inhaltsangabe dieses biographischen und autobiographischen Romans ist kaum möglich. Auf dem roten Faden des Lebens der Mutter balancierend, holt der Erzähler nicht nur die Familienchronik bis zu den Bauernkriegen im 16. Jahrhundert ein, sondern auch die historisch-politischen Umwälzungen 23 Den Plan, einen Roman über seine Mutter zu schreiben, hatte Graf offenbar früh gefasst. Sergej Tretjakow fragt seinen Freund Graf in einem Brief vom 30. März 1935, ob er denn schon sein „Mutterbuch“ geschrieben habe. Vgl. Walter [Anm. 5], S. 569. Das Vorhaben, seine Mutter überhaupt zum Sujet des Erzählens zu machen, verfolgte Graf bereits seit den zwanziger Jahren. Vgl. Bauer [Anm. 5], S. 297. 24 Vgl. Schoeller [Anm. 3], S. 343. 25 Graf [Anm. 2], S. 7.
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des 19. und 20. Jahrhunderts. Darüber hinaus erzählt er zahllose Anekdoten über das Leben der Familie mütterlicherseits, der Heimraths, und väterlicherseits, der Grafs. Den von Thomas Mann geprägten Ruf, ein „ungefüge[s] Buch“26 zu sein, handelte sich der Roman wohl aus diesem Grund ein – und nicht ganz zu Unrecht. Auch die erzählerische Konzeption hat etwas ‚Ungefüges‘: Geschichte – im Sinne von Historie – wird hier als bewusste Erzählung präsentiert, die jedoch zusehends in zwei Teile zerfällt. Während die Mutter-Biographie als Geschichtserzählung der kleinen Leute fernab der Schauplätze großer Politik den Hauptstrang der Erzählung bildet, wird parallel die ‚große‘ Geschichtserzählung über die Figur des Sohnes nebenhergeführt, der seine eigene Geschichte im Brennpunkt der großen politischen Ereignisse immer dann erzählt, wenn das Leben der Mutter von der ‚großen‘ Historie weitestgehend unberührt bleibt. Im erzählerischen Duktus unterscheiden sich diese beiden parallel laufenden Narrative der kleinen und großen Geschichte erheblich, sodass scharfe Brüche im Text spürbar sind. Doch, so wäre zu fragen, bilden nicht gerade diese Brüche im Erzählen die realen Verhältnisse adäquater ab als ein alles mit allem verbindendes Fabulieren, das Graf ohne Frage genauso gut beherrschte? Das ‚Ungefüge‘ ist damit durchaus bedeutungsvoll. Während also der große Erzähler Graf, als den Walter Benjamin ihn schon früh für seine „Kalender-Geschichten“ und den Roman „Bolwieser“ pries,27 angesichts des schmerzlichen Verlusts der Mutter und der entbehrungsreichen Erfahrungen des Exils alles andere als eine Krise des Erzählens ausruft, sondern seine Romanproduktion vorantreibt – nicht zuletzt dank der finanziellen Absicherung durch die Arbeit seiner Frau Mirjam! –, ist im ‚Mutterbuch‘ nun eine grundlegende Begriffskritik auszumachen, in der die Begriffe Nation, Volk und Heimat zentral sind: In der Mitte des zweiten Teils, „Mutter und Sohn“, schildert der Erzähler Graf ein Gespräch mit seinem Freund Georg „aus dem Mühsamkreis“.28 Dieses Gespräch ist für den Roman auch in konzeptioneller Hinsicht zentral, wird doch hier die Biographie der Mutter explizit zum Paradigma einer in der Erzählgegenwart Grafs nunmehr vergangenen Zeit erhoben, die aber utopisches Potential birgt. Das folgende Gespräch findet im August 1914 statt: „Mensch“, rief er, „man kennt sich nicht mehr aus. Sie sind doch die Intellektuellen … Grad von ihnen hab’ ich so was am wenigsten geglaubt … Alle haben den Kopf verloren … Hast du gelesen, die Sozialdemokraten sind jetzt auf einmal auch für den Krieg. Sie haben die Zit. n. Walter [Anm. 4], S. 580. Walter Benjamin: Oskar Maria Graf als Erzähler, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Helga Tiedemann-Bartels, Bd. 3: Kritiken und Rezensionen, Frankfurt a. M. 1991, S. 309–311. 28 Graf [Anm. 2], S. 425. 1909 gründete Erich Mühsam die anarchistische „Gruppe Tat“ zu der u. a. Franz Jung, Oskar Maria Graf und Georg Schrimpf gehörten. Als Graf 1911 vor seinem gewalttätigen Bruder Max nach München floh, freundete er sich im „Mühsamkreis“ mit dem ebenfalls gelernten Bäcker und Maler Georg Schrimpf an. 26 27
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Kredite bewilligt und einen Burgfrieden mit Kaiser und Regierung geschlossen! Ich begreif’ das nicht! Ich versteh’ das ganze Volk nicht mehr!“ „Das Volk? … Ah, das ist doch nicht das Volk!“ widersprach ich, „das Volk ist ganz anders. Wetten wir, daß das Volk überall genau so friedlich und geduldig ist, wie bei uns … Es läßt sich überall belügen und missbrauchen! … Geh mir aber bloß zu mit diesen Herren Intellektuellen, an die wir bis jetzt geglaubt haben! Die sind noch schlimmer als Kaiser und Regierung. Es sind die niedrigsten Verräter, weiter nichts!“ Und plötzlich schoß mir ein erhellender Gedanke durch den Kopf. „Das Volk? … Ja, jetzt begreif’ ich erst – das Volk, das ist ungefähr so wie meine Mutter … Sicher, ganz sicher!“, sagte ich. Eine Ergriffenheit überkam mich, als ich in dieser Richtung weiterdachte. „Hm, das ist mir zu symbolisch! … Das wär’ ja zum Verrücktwerden! So ein Volk, wie du’s da in deinem Hirn zurechtmachst, das bringt man ja überhaupt nie weiter!“ stritt mein Freund. „O ja, vielleicht bring man’s auch weiter, aber zuerst muß man es lieben“, antwortete ich noch immer ergriffen, „nur was man liebt, gewinnt man … Ich glaub’, jetzt begreif’ ich, warum diese Herren Intellektuellen so versagt haben … Sie haben das Volk überhaupt nie gekannt und geliebt schon überhaupt nie!“29 Im August 1914 hatte die SPD mit der Zustimmung zu den Krediten zur Finanzierung des Krieges die Arbeiterklasse und den Marxismus verraten – der Ruf „Wer hat uns verraten: Sozialdemokraten!“ stammt aus dieser Zeit. Zu einem Zeitpunkt also, da Graf das Versprechen der Intellektuellen, die Interessen des Volkes zu vertreten, am Beispiel der Sozialdemokraten widerlegt sah, steigt in ihm – gleichsam als Besinnung auf Verlässliches – der Vergleich von Mutter und Volk auf. Die bereits auf über 400 Seiten zuvor entwickelte Charakteristik der Mutter wird an dieser Stelle zum Paradigma erhoben. Mit ihr als Denkfigur dringt der Erzähler Graf zu einem Begriff von ‚Volk‘ durch, der ihn zu einer Definition führt, die zentrale Aspekte von Benedict Andersons Kritik an einer essentialistischen Auffassung von ‚Nation‘ vorwegnimmt.30 Ebd., S. 425f. Und außerdem auch an Brechts begriffliche Differenzierung von ‚Volk‘ und ‚Bevölkerung‘ in „Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit“ (1934/35) anschließt: „Wer in unserer Zeit statt Volk Bevölkerung und statt Boden Landbesitz sagt, unterstützt schon viele Lügen nicht. Er nimmt den Wörtern ihre faule Mystik. Das Wort Volk besagt eine gewisse Einheitlichkeit und deutet auf gemeinsame Interessen hin, sollte also nur benutzt werden, wenn von mehreren Völkern die Rede ist, da höchstens dann eine Gemeinsamkeit der Interessen vorstellbar ist. Die Bevölkerung eines Landstriches hat verschiedene, auch einander entgegengesetzte Interessen, und dies ist eine Wahrheit, die unterdrückt wird.“ (Bertolt Brecht: Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit, in: ders. [Anm. 8], Bd. 22.1, S. 74–85, hier S. 81). 29 30
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Definiert Benedict Anderson die Nation als eine „vorgestellte“, so deshalb, „weil die Mitglieder selbst der kleinsten Nation die meisten anderen niemals kennen, ihnen begegnen oder auch nur von ihnen hören werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiert. […] In der Tat sind alle Gemeinschaften, die größer sind als die dörflichen mit ihren Face-to-face-Kontakten, vorgestellte Gemeinschaften.“31 Für das Volk, für das Grafs Mutter steht, besteht die Notwendigkeit eines Identitätsangebotes, wie es die Vorstellung von ‚Nation‘ macht, nicht, denn das eigene Selbstverständnis sowie die Zugehörigkeit zur dörflichen Gemeinschaft sind gesichert und intakt. Alles, was über den Bezugsrahmen des alltäglichen Lebens hinausgeht, ist nicht relevant, verschwimmt am Horizont im Dunst, wie im Roman so oft die fernen Züge der Alpen.32 Grafs Volksbegriff ist nicht auf nationale Grenzen bezogen – sein ‚Volk‘ gibt es überall auf der Welt und es gleicht sich überall.33 Es kann weder als politische, ideologische oder elitäre Größe, noch als intellektuelle Idee gefasst werden, sondern nur als ein Begriff des Herzens. Damit ist es viel weniger Begriff als Beziehung, die sich erst im persönlich-unmittelbaren und emotionalen Umgang ergibt. Das Volk wird damit als etwas Nicht-Essentielles vorgestellt. Es wird nicht gedacht als Nation, sondern als Oberbegriff für die vielen kleinen, ganz realen Gemeinschaften. Was der Freund Georg als ‚Hirngespinst‘ („wie du’s da in deinem Hirn zurechtmachst“) verwirft, offenbart gerade darin, in seiner offensichtlichen narrativen Konstruktion, seine Erkenntnisqualität: Das ‚Volk‘ wird als Erzählung dekonstruiert – und dies geschieht nicht zufällig im Medium der Literatur. III. Der mütterliche Mensch – Genealogie statt Gender Nun ließe sich freilich einwenden, dass das, was Grafs Mutterfigur in seiner Erzählung auszeichnet, ein konservatives Klischeebild von Mutter und Frau aktualisiert und überdies eine nicht minder problematische Essentialisierung von Mutterschaft vornimmt. Tatsächlich baut Graf die Brisanz seiner Idee vom mütterlichen Volk zunächst über die Geschlechterdichotomie auf. Doch Graf hatte offenbar ein bemerkenswertes Gespür für soziale Konstruktionen sowie eine gesunde Abscheu gegen intellektuelle Ideenmonster. Grafs Mutter wird charakterisiert als liebend, gläubig, duldsam, friedliebend, nicht widerständig, Anderson [Anm. 12], S. 14f. Hier wird die vermeintlich kitschige Landschaftsbeschreibung zur bedeutungsvollen Begrenzung der Mutter-Perspektive. Selbst in die Berge fährt sie nicht gerne, weil sie sich dort nicht auskennt. 33 Dementsprechend ist auch die Vorstellung des Mütterlichen von der Kategorie des Nationalen unabhängig, wie Graf auch durch seine internationale Leserinnenschaft bestätigt findet. Nachdem der Roman in Amerika erschienen war, schreibt er in einem Brief an Gustav und Else Fischer vom 4. April 1944: „Es haben mir kurz nach Erscheinen merkwürdigerweise eine Menge Frauen geschrieben, die alle meinten, jaja ihre Mütter hätten alle so gelebt. Darunter waren Französinnen, Spanierinnen, viele Irinnen und auch einige Polinnen und Russinnen.“ Zit. n. Walter [Anm. 4], S. 575. 31
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arbeitsam bis zur Selbstaufopferung, eingebunden in die Abläufe der Natur und der Jahreszeiten und ist, wie Gerhard Bauer es so treffend formuliert, vor allem im eigenen Leib daheim.34 Diese Sammlung von Eigenschaften, die dem zeitgenössischen Diskurs entsprechend an Vorstellungen von Weiblichkeit und Mutterschaft gebunden waren und besonders durch den nationalsozialistischen Mutterkult noch einmal eine verschärfte Essentialisierung erfuhren, ruft Graf auf, um sie dann jedoch vom Geschlechterdiskurs abzulösen, indem er diesen durch eine genealogische Argumentation unterwandert: Besonders der erste Teil des Romans rekonstruiert mit gehörigem erzählerischen Aufwand die Genealogie der Therese Graf, geborene Heimrath, deren Wesenszüge sich von Generation zu Generation an sie weitergegeben haben – und dies unabhängig vom Geschlecht. So habe Therese eine ihrer zentralen Eigenschaften, die unermüdliche Schaffenskraft, etwa vom Vater geerbt. Gleichzeitig ist diese Art der genealogischen Argumentationsweise natürlich ein weiterer Einspruch gegen die nationalsozialistische Ideologie und ihre pervertierte Form der Genealogie, der sogenannten „Sippenforschung“. Indem Graf seine Mutter auf diese Weise zum Paradigma des Volks erhebt, entwickelt er die Vorstellung vom mütterlichen Menschen. Die mütterlichen Eigenschaften werden von der weiblichen Geschlechtlichkeit gelöst und ins allgemein Menschliche transzendiert. Auch in Grafs Erzählerfigur können diese Elemente des mütterlichen Menschen ausgemacht werden, wenn er beispielsweise seine grundsätzliche Aversion gegenüber jeglichen Macht- und Expansionsbestrebungen äußert. So wird Grafs pazifistische Überzeugung in der konkreten Mutterphilosophie geerdet. Auch der pragmatische Blick der Mutter erklärt den Krieg – den gewaltsamen Kampf um nationale Grenzen – aus den naheliegendsten Gründen für unzulässig: „‚Hmhm, ich möcht’ bloß wissen, für was so ein Scheißkrieg eigentlich gut ist. Die kleinen Leut’ haben noch nie was gehabt davon … Bloß ihre besten Mannsbilder haben’s verloren … .‘“35 Nicht nur Therese Graf, auch Oskar Maria Graf selbst blieb ein Begriff wie „‚Vaterland‘ […] von jeher ein Lesebuchschlagwort ohne greifbaren Inhalt, und der Begriff ‚Nation‘ blieb mir immer etwas Abstraktes.“36 Der Roman „Das Leben meiner Mutter“ entstand zu einer Zeit, in der die großen politischen Ideologien zu scheitern drohten – mit fatalsten Folgen für die jeweilige Bevölkerung. In dieser Zeit lauscht Graf im Exil nicht ohne Sentimentalität auf die einfachen Wahrheiten seiner einstmals unmittelbaren Lebenswelt, die sich in ihrer Praxistauglichkeit, über Generationen auf Herz und Nieren geprüft, als wahrhaftiger, tragfähiger und langlebiger erweisen als manch abstraktes Ideologien- und Ideengespinst. Für eine Literatur im Zeichen des ‚anderen Deutschland‘ und eine Forschung, die sich erinnerungspolitisch diesem Selbstverständnis verpflichtet sieht, ist so Bauer [Anm. 4], S. 299. Graf [Anm. 2], S. 416. 36 Graf [Anm. 1], S. 289. 34 35
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ein widerstandsloses, duldsames Paradigma wenig attraktiv. Mit dem mütterlichen Menschen ist nur schwer Politik zu machen – vor allem nicht im Dienste eines ‚anderen Deutschland‘. Im Gegenteil: Grafs Analogisierung von Mutter und Volk wurde gerade wegen ihrer verklärenden Sicht auf Passivität und Duldsamkeit kritisiert, der Roman als Versuch gelesen, „das mütterliche Aggressionsverdikt und seine problematischen Folgen durch seine Umwandlung in einen ethischen Imperativ fortzuschreiben.“37 Gegen diese Kritik ist einzuwenden, dass es Graf bei seiner literarischen Charakterisierung weniger um eine ‚Ehrenrettung‘ des Volkes geht, als zum einen um eine literarische Analyse eines Verhaltensmusters, für das die Mutter „[d]as sinnvollste Beispiel“ ist, wie Graf sie in einer Vorstudie nennt,38 und zum anderen um die Beziehung, die die Volksvertreter zu ihrem Volk haben, wie es das zentrale Gespräch zwischen dem Erzähler Graf und seinem Freund Georg gezeigt hat. Dass dabei hartnäckige Essentialismen erzählerisch unterlaufen, ja gar aufgelöst werden, ist gerade vor dem Hintergrund von Braeses Befund über die deutschsprachige Exilliteratur bemerkenswert. In der gegenwärtigen Perspektive der Exilforschung eröffnet sich aber darüber hinaus auch das durchaus utopische und kritische Potential dieses mütterlichen Paradigmas: Im letzten Kapitel des Romans, das bezeichnenderweise mit „Epilog und Verklärung“ betitelt ist, wird der Vergleich zwischen Volk und Mutter wieder aufgegriffen. Das vormals als Einleitung geplante Kapitel präsentiert nun auch den Schreibanlass für diesen (auto)biographischen Roman, der zunächst als Erinnerungsanlass inszeniert wird. In diesem Schlusskapitel führt Graf noch einmal im Kleinen vor, was bereits zu Beginn dieses Beitrags an Grafs selbstinszenatorischem Spiel dargestellt wurde. Er spielt zunächst mit eingefahrenen Bildern, um sie dann, wenn auch nicht zu demontieren, so doch zu subvertieren und so auf die Potentiale einer Realität fern von abstrakter Idee und Ideologie hinzuweisen. Geschildert wird der Besuch der Stadt Tiflis „in den letzten Septembertagen“ des Jahres 1934. Graf hatte gemeinsam mit anderen Schriftstellern während einer Studienreise den Kaukasus im Anschluss an den Allunionskongress in Moskau bereist. Die Reise dauerte von August bis Oktober, am 27. September starb Grafs Mutter, wovon er allerdings erst einige Wochen später erfuhr. Die Eindrücke des „sowjetrussischen Südens“39 sind geprägt von der faszinierenden Fremdheit und Andersartigkeit, „eine[r] Welt, die von Grund auf anders aussah als diejenige, aus der ich gekommen war“.40 Doch nach einer Zeit größerer 37 So etwa Joachim Mohr, der in der nicht erfolgenden „Grenzziehung zwischen Wehrlosigkeit und Friedfertigkeit“ eine Problematik in Grafs Schreiben erkennen will, die „bis ins Spätwerk hinein problematisch“ bleibe (Joachim Mohr: Hunde wie ich. Selbstbild und Weltbild in den autobiographischen Schriften Oskar Maria Grafs, Würzburg 1999, S. 308). 38 Vgl. Bauer [Anm. 4], S. 299. 39 Graf [Anm. 2], S. 554. 40 Ebd., S. 555.
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Erregung über diese Eindrücke setzt ein „beruhigte[s], nüchterne[s] Nachdenken“ ein, in das sich „die Erinnerung an das langsame Werden meines Heimatdorfes“ mischt, und dabei „das Überraschende und scheinbar Fremde auf einmal leicht und gewohnt“ werden lässt: Ich glaubte daheim zu sein, wenn ich in einem Sowjetdorf die Kinder und Kollektivbauern betrachtete, mit welch erregter Neugier sie einen neu angekommenen Traktor oder eine kompliziertere Erntemaschine anstaunten und scheu betasteten, […] und wie sie schließlich vor wilder Freude laut auflachten, brüllten, sprangen und jubelnd mitliefen, wenn das ungeschlachte Ding sich in Bewegung setzte und mit der Maschine auf das Feld rollte. Wann hatte ich ähnliches erlebt? Daheim als Zehnjähriger!41 Das Fremde wird zum Bekannten, der Blick wird durch die Erinnerung an die Heimat zum Blick für die Gemeinsamkeiten und blendet die Differenzen aus. In der Großstadt Tiflis dann, auf dem „armenischen Markt, wo alle Völker vertreten waren und jede Sprache gesprochen wurde“,42 wird der Gedanke an die Mutter wieder explizit. Früchteverkäufer mit ihren korbbeladenen Eseln standen da und boten klebrige Trauben und Feigen an; Tataren hielten farbenreiche, handgeknüpfte Teppiche feil; Juden bedrängten uns und redeten ein seltsam klingendes Deutsch; schmutzige Orientalen buken in steinernen Trögen, über einem offenen Feuer, das dünn ausgewalzte, zähe Brot; […] und seitab, auf einem trockenen Fleck des besudelten Bodens, hockten Kurden und würfelten unter heftigem Geschrei. Ab und zu kam ein Zug kaukasischer Reiter auf kleinen, zottelhaarigen Pferden, mit hohen Pelzmützen, Dolchen, altertümlichen Flinten und umgeschnürten Patronengürteln an. Er machte Halt und mischte sich lärmend in das Getriebe. […] Und die Sonne brannte schonungslos. Sechsundsiebzig Jahre war meine Mutter jetzt alt und noch immer hatte sie ähnliche Märkte in unserem Pfarrdorf oder in den Wallfahrtsorten gern.43 Das multiethnische Treiben auf dem Marktplatz, ein Ort, den Graf als Ort multikultureller (nicht interkultureller) Begegnung und Interaktion inszeniert, wird nicht durch eigene Kindheitserinnerungen verklärt, wie zuvor bei der Ebd. Ebd., S. 561. 43 Ebd., S. 561f. 41 42
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Schilderung des Besuchs der Kolchosedörfer, sondern recht realistisch wiedergegeben. Wieder erdet den Erzähler die Erinnerung an die Mutter. Hier bietet sich erneut der direkte Anschluss an die postkoloniale Theorie an: Homi K. Bhabha entwickelt die Vorstellung von Hybridität anhand des Bildes eines Treppenhauses, in dem ein hierarchisches Oben und Unten im Durchgangsverkehr in ständiger Neukonstituierung aufgehoben ist. Graf setzt dem ein ähnliches und doch zugleich entschieden anderes Bild entgegen. Seine Beschreibung des Marktplatzes von Tiflis enthält ebenfalls keine hierarchischen Strukturen, doch statt eines wechselnden Oben und Unten herrscht hier – das ist das mütterliche Prinzip – ein friedfertiges Nebeneinander. Der Marktplatz bildet den multikulturellen Rahmen, der jedoch nicht markant zum hybriden Raum wird, sondern die regionalen Besonderheiten – Trachten, Sprachen, spezifischen Waren und Verhaltensweisen – nebeneinander bestehen lässt. Die Situation der Interaktion, das Handeltreiben, ist jedoch für alle gleich. War der Vergleich der Kolchosedörfer mit der eigenen Kindheit auf Differenzlosigkeit angelegt, erweitert die erneute Vergegenwärtigung des MutterParadigmas in Tiflis diesen Vergleich um einen entscheidenden Teil: die Möglichkeit, Unterschiede zu tolerieren, ohne daraus eine hierarchische Ordnung abzuleiten. Der alle Differenzen negierende Vergleich wird selbstkritisch in der Kapitelüberschrift als Verklärung erkannt. Graf durchschaut nicht nur die Konstrukthaftigkeit und Funktionalisierung von Begriffen wie Nation, Volk und Heimat, er setzt dem auch mit seinem ‚Mutterbuch‘ ein bemerkenswertes Verständnis von Volk entgegen, das in seiner in der Realität verwurzelten, zutiefst menschlichen Prägung und seinem antiintellektualistischen Habitus nicht nur immun ist gegen ideologische Vereinnahmungen und Missbrauch, sondern in dem auch immer wieder die Utopie einer Weltgemeinschaft aufscheint, in der das Verbindende bei aller Pluralität bedeutsam wird – eine Basis, auf der Menschenrechte geschrieben werden könnten? Das Gleichmachende jedoch, das sowohl dem Nationalsozialismus wie auch dem Kommunismus eigen ist, wird abgelehnt.44 Graf entwickelt in „Das Leben meiner Mutter“ ein Differenzdenken, das sich als nicht hierarchisch und machtstrategisch ausweist, sondern auf die Toleranz eines alltäglichen Umgangs ausgerichtet ist und sich darin gegen Essentialismen mit ihrem symbolischen Machtpotential gewappnet zeigt. In Zeiten alles durchdringender Globalisierung und Virtualisierung ist Grafs ‚Mutterbuch‘ vor allem ein Plädoyer für die grundlegenden Gemeinsamkeiten der Weltbevölkerung. Doch zieht er aus dieser Erkenntnis der Gleichheit nicht 44 Möglicherweise wäre es lohnenswert, Grafs Roman einmal auf die Ähnlichkeit mit Hannah Arendts Thesen zum Totalitarismus sowie ihrem Begriff von Pluralität zu untersuchen.
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die Konsequenz, das alles gleich- und graumachende Prinzip auszuweiten, sondern er bejaht das bunte, friedliche Nebeneinander der regionalen Unterschiede. Der Marktplatz und die alte Kirche von Tiflis sind ihm hier Realitäten, die gerade in ihrem Anachronismus utopisches Potential bieten. Bezeichnenderweise heißt es zukunftsweisend am Ende von Grafs erstem und einzigen Science-Fiction Roman „Die Erben des Untergangs“ (1949), der in zeitlicher Nähe zu „Das Leben meiner Mutter“ entstand: Je kleiner die Gebiete um so besser. Sie blasen dem Nationalismus das Lebenslicht aus, vor allem aber vermindern sie Unrecht und Unmenschlichkeit. … So was sieht man in so einer kleinen Provinz zu schnell und wehrt sich dagegen. In großen Räumen bleibt der Mensch viel gleichgültiger gegen all das, er nimmt jede Schweinerei zu leicht hin! […] Provinziell muß die Welt werden, dann wird sie menschlich.45
45 Ein Roman, den Albert Einstein sehr schätzte, wie ein dem eigentlichen Text vorangestellter Brief an Graf belegt. Oskar Maria Graf: Die Erben des Untergangs. Roman einer Zukunft, München 1994, S. 431. Die 1. Auflage erschien unter dem Titel „Die Eroberung der Welt. Roman einer Zukunft“, München 1949, Graf überarbeitete den Roman dann noch einmal und gab ihm einen neuen Titel.
Ralph Schock
Gustav Regler „Das große Beispiel. Roman einer internationalen Brigade“ (1940) Im Sommer des Jahres 1936 war Moskau eine höchst gefährliche Stadt. Grundlos oder auf eine bloße Denunziation hin begann damals die sowjetische Geheimpolizei, Menschen zu verhaften. Misstrauen und Angst waren allgegenwärtig, nicht nur in der sowjetischen Hauptstadt. Ein sichtbares Zeichen dieser neuen Politik waren die Moskauer Prozesse: von Stalin angeordnete Verhandlungen vor dem höchsten Gericht der UdSSR gegen hohe Staats- und Parteifunktionäre wegen angeblicher Verschwörung gegen Staat und Partei. Von 1936 bis 1938 gab es drei öffentliche Verhandlungen sowie einen nicht-öffentlichen Militärprozess. Gegen 50 der insgesamt 66 Angeklagten wurde die Todesstrafe verhängt. Das Urteil wurde sofort vollstreckt. Die übrigen Angeklagten erhielten langjährige Freiheitsstrafen, nicht wenige von ihnen starben in sowjetischen Lagern. Ab dem 20. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 wurden Verurteilte aus den Moskauer Prozessen rehabilitiert, die letzten 1988. Die Verfolgungen in den Jahren 1936 bis 1938 waren jedoch nur der Auftakt. In Zeiten des schlimmsten stalinistischen Terrors verhaftete die sowjetische Geheimpolizei täglich rund 1000 Personen, etwa 2,5 Millionen Menschen wurden insgesamt deportiert. Unter ihnen viele deutsche Emigranten, die in der UdSSR vor dem Faschismus Schutz gesucht hatten.1 Im März 1938 waren 70% der rund 850 registrierten KPD-Mitglieder in der UdSSR verhaftet. Diese sogenannten Säuberungen führten weltweit bei Sympathisanten der Sowjetunion, aber auch bei vielen Mitgliedern kommunistischer Parteien zu erheblicher Verunsicherung oder zu einer teils vorsichtigen, teils abrupten Distanzierung von Moskau. Der 1898 im saarländischen Merzig geborene Gustav Regler war von 1929 bis Ende 1941/Anfang 1942 Mitglied der KPD. In den 1930er Jahren gehörte er zu den meistgeförderten Schriftstellern in der Partei. Just in der Zeit des ersten Moskauer Prozesses, im Sommer 1936, hielt sich Regler in der sowjetischen Hauptstadt auf. Bei seinem ersten Besuch zwei Jahre zuvor hatte er der zwölfköpfigen Delegation deutschsprachiger Exilautoren angehört, die an dem 1. Allunionskongress der Sowjetschriftsteller teilnahm – den „Ingenieuren der Seele“, wie Stalin die Autoren nannte. Mitglieder der Delegation waren damals auch sogenannte bürgerliche Autoren wie Oskar Maria Graf, Ernst Toller und Klaus Mann. 1 Vgl. Carola Tischler: Flucht in die Verfolgung. Deutsche Emigranten im sowjetischen Exil (1933–1945), Münster 1996.
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Die genauen Gründe für Reglers zweite (und letzte) Sowjetunion-Reise, auf der ihn, wie schon 1934, seine Frau Mieke Vogeler begleitete, liegen im Dunkeln. Beide wollten bei dieser Gelegenheit gewiss Miekes in Moskau lebenden Vater, den Maler Heinrich Vogeler, treffen. Regler dürfte es vor allem um die Klärung der heftigen parteiinternen Probleme gegangen sein, die vor und während des Londoner Autorenkongresses vom 19. bis 23. Juni 1936 zu Tage getreten waren; außerdem um die zukünftige Arbeit des Bundes Proletarisch-Revolutionärer Schriftsteller (BPRS) und des Schutzverbands Deutscher Schriftsteller (SDS) in Frankreich. Nicht zuletzt wohl auch um Möglichkeiten einer stärkeren Anbindung der in Paris lebenden nichtkommunistischen Autoren an die neu gegründete Moskauer Zeitschrift „Das Wort“. Belegt ist der genaue Zeitraum von Reglers Aufenthalt in Moskau. Er dauerte vom 7. August bis zum 8. September 1936. In dessen letzter Phase, vom 4. bis zum 8. September, fand eine Versammlung deutschsprachiger kommunistischer Autoren statt. Wie in dem wenige Tage zuvor beendeten ersten Moskauer Prozess ging es auch hier um ‚Säuberung‘ und um ‚Selbstkritik‘. Der Ablauf dieser qualvollen und teilweise entwürdigenden Sitzungen, an denen neben Johannes R. Becher, Julius Hay, Hugo Huppert, Alfred Kurella, Georg Lukács, Ernst Ottwalt, Gustav von Wangenheim, Erich Weinert, Friedrich Wolf und anderen zeitweise auch Gustav Regler teilnahm, ist durch ein Wortprotokoll dokumentiert. Es wurde 1991 von Reinhard Müller, einem langjährigen Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung, unter dem Titel „Die Säuberung. Moskau 1936. Stenogramm einer geschlossenen Parteiversammlung“ veröffentlicht.2 Müller war 1988 im Auftrag der Geschichtskommission der DKP, deren Mitglied er lange war, nach Moskau gereist. Unter der 1985 von Michail Gorbatschow initiierten neuen Politik von Glasnost, der Lockerung der Rede-, Meinungs- und Pressefreiheit, konnte er in sowjetischen Archiven brisante Dokumente aus der Geschichte der KPD einsehen und diese in Form von Kopien oder als Mikrofilm in die Bundesrepublik bringen. Zu diesen Materialien gehörte auch ein unveröffentlichter, bislang unbekannter Aufsatz von Gustav Regler, den dieser während seines zweiten Moskau-Aufenthalts im August / September 1936 verfasst hatte. Die Arbeit trägt den Titel „Auf falscher Fährte. Antwort an L[eopold, R. S.] Schwarzschild“.3 Thema des Artikels ist der erste Moskauer Prozess, der vom 19. bis 24. August 1936 vor dem Obersten Gerichtshof der UdSSR verhandelt wurde. 16 Personen waren angeklagt, darunter zwei mit Regler bekannte Politiker: das ehemalige ZK-Mitglied Grigori Sinowjew und
2 Georg Lukács / Johannes R. Becher / Friedrich Wolf [u. a.]: Die Säuberung. Moskau 1936. Stenogramm einer geschlossenen Parteiversammlung, hg. v. Reinhard Müller, Reinbek bei Hamburg 1991. 3 Gustav Regler: Auf falscher Fährte. Antwort an L. Schwarzschild. Achtseitige maschinenschriftliche Abschrift. Russisches Staatsarchiv für Sozialpolitische Geschichte. Moskau, f. 495, op. 11, d.1, Bll. 185–192. Erhalten am 25. Januar 2013 von Reinhard Müller.
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der frühere Verteidigungsminister Lew Kamenew. Alle Angeklagten wurden in dem Verfahren schuldig gesprochen und am Tag nach Abschluss des Prozesses erschossen. Auf die Moskauer Prozesse kommt Regler in seinem Werk mehrfach zu sprechen. So in seiner 1958 erschienenen Autobiographie „Das Ohr des Malchus“.4 Davor in einem Spanienkriegsroman, der in drei voneinander abweichenden Fassungen vorliegt. Diese Abweichungen betreffen vor allem das fünfte Kapitel des Romans („Schlacht im Nebel“). Dessen Thema sind der Prozess und seine Auswirkungen im Spanischen Bürgerkrieg. Die drei Fassungen sind publiziert unter verschiedenen Titeln: a.) „Der große Kreuzzug“5; b.) „Das große Beispiel. Roman einer internationalen Brigade“, posthum ediert von Edgar Pässler 6; c.) die erste, von Whittaker Chambers und Barrows Mussey übersetzte und 1940 erschienene Fassung des Romans: „The Great Crusade“.7 Vier Jahre früher entstand der erwähnte Anti-Schwarzschild-Artikel. Regler vermittelt in seiner Autobiographie den Eindruck, die Verurteilten seien unschuldige Opfer eines bösartigen und unberechenbaren Tyrannen. „Das Massenmorden“, schreibt er, habe begonnen: Die Gründer des Staates aber, Kamenew, Sinowjew, Rykow, wurden in diesem Augenblick schlaff und blutbeschmiert in Särge geschmissen, und im Kreml kippte einer, der niemand neben sich dulden konnte, einen Wodka aus Wacholder und griff nach der Liste neuer Opfer.8 In dem Spanienkriegsroman Reglers liest man es anders. Dessen Protagonist ist eine deutlich autobiographisch angelegte Figur namens Albert. Dieser übt – wie Regler – die Funktion eines politischen Kommissars in den Internationalen Brigaden aus. Darüber hinaus teilt er mit Regler eine Reihe weiterer biographischer Merkmale. Als Albert von den Prozessen in Moskau erfährt, beschreibt Regler deren zutiefst verunsichernde Wirkung auf den Protagonisten in der Fassung „Das große Beispiel“ folgendermaßen: Er aber war wirklich nicht fest, er war auch kein Kriegskommissar in diesem Augenblick, er war ein angestoßener, hilfloser Intellektueller, ein Schriftsteller, der das neue Rußland liebte und es plötzlich nicht mehr verstand. […] Er überließ sich den Zweifeln, die ihn schüttelten.9 Ders.: Das Ohr des Malchus. Eine Lebensgeschichte, Köln / Berlin 1958. Ders.: Der große Kreuzzug. Tagebuch 1937 aus dem Spanischen Bürgerkrieg, in: Gustav Regler Werke, hg. v. Gerhard Schmidt-Henkel, Ralph Schock, Günter Scholdt u. Hermann Gätje, Bd. 4, hg. v. Michael Winkler, Frankfurt a. M. / Basel 1996. 6 Ders.: Das große Beispiel. Roman einer internationalen Brigade, Köln 1976. 7 Ders.: The Great Crusade. With a Preface by Ernest Hemingway, New York / Toronto 1940. 8 Ders. [Anm. 4], S. 356 bzw. S. 358. 9 Ders. [Anm. 6], S. 179. 4 5
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Dann prangert der Autor die von der Anklagebehörde und den sowjetischen Medien verwendete Sprache in den Prozessen an: Plötzlich bemerkt man einen Abszeß? Albert schüttelte den Kopf. Wie problematisch sind all diese Bilder! Und wie beängstigend ist die Sprache der Anklage! […] „Tolle Hunde“, sagten sie, „muß man erschießen.“ „Giftige Schlangen“, sagten sie, „muß an zertreten“. „Doppelzungen“, sagten sie, „muß man ausreißen“.10 Diese Aufzählung wird in dem Roman folgendermaßen kommentiert – und man geht wohl nicht fehl, wenn man aus den Überlegungen Alberts die des Autors herausliest: Alle Bilder waren korrekt, alle waren aber auch bequem. […] Konnte man nicht ohne Bilder auskommen und lieber die Wahrheit sagen: wie aus Skeptikern Defätisten wurden, wie […] hier Große fielen, weil sie nicht Kraft genug hatten für das grausame und schwere Jahrhundert. […] Welch entfesselte Sprache! […] Muß man diese unheimlichen Verschwörer zu kleinen schmutzigen Agenten machen? […] Wir brauchen keine Wahrheit zu scheuen, wir brauchen die Feinde nicht zu banalisieren.11 Im Unterschied zu den 1950er Jahren ist Regler also Ende der 1930er Jahre von der Notwendigkeit der Prozesse überzeugt. Er zweifelt weder an der Berechtigung der Anklage noch an der Schuld der Angeklagten. Anstoß nimmt er lediglich an den Bildern und Metaphern, mit denen die angeblichen Täter und ihre angeblichen Verfehlungen beschrieben werden. Die unterschiedliche Akzentuierung des Prozess-Themas in den drei verschiedenen Fassungen des Spanienkriegsromans kommentiert Hermann Gätje in seiner Dissertation „Leben und Leben schreiben“ folgendermaßen: Diese […] Diskontinuität ist plastischer Ausdruck widerstreitender innerer Kräfte. Einerseits entfremdete Regler sich zunehmend von der KP, andererseits wollte er den völligen Bruch vermeiden. In zahlreichen Widersprüchen kommt zum Ausdruck, wie schwankend und ungewiss er in dieser Phase war. Er nahm bei der Erstfassung möglicherweise Rücksicht auf das westlich-demokratisch geprägte Verlagswesen und Publikum in den USA. In der deutschen Fassung sah er
10 11
Ebd., S. 180. Ebd., S. 180f.
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sich wahrscheinlich genötigt, einige Passagen zu überarbeiten, die bei der KP hätten Missfallen erregen können.12 Diese „widerstreitende[n] innere[n] Kräfte“ schlagen sich in Reglers journalistischen Arbeiten aus dieser Zeit nicht nieder. Merkwürdigerweise auch nicht in seinen privaten Aufzeichnungen – wobei zu bedenken ist, dass diese Tagebuchnotizen im Hinblick auf eventuelle Mitleser verfasst sein könnten. Denn Mitte 1937 – aus dieser Zeit stammt die gleich zitierte Eintragung – war Regler nachweislich nicht nur das Ausmaß des inzwischen herrschenden Terrors in der UdSSR bekannt, sondern auch die verhängnisvolle Rolle des sowjetischen Militärstabs bei der Ausschaltung anarchistischer und trotzkistischer Gruppierungen im Spanischen Bürgerkrieg. Gleichwohl notierte er am 1. Mai 1937 in sein Tagebuch: […] das einzige Land, das ohne andere Bindung als die seiner werktätigen Ideologie gross und offen zur Hilfe eilte, ist die Union. Grüssen wir Stalin, dem heute unsere ganze Liebe schlägt und der an uns denkt, wenn er auf dem Mausoleum steht und die befreiten Völker an ihm und allen Freunden (Dimitroff!) vorbeiziehen.13 Auf der einen Seite haben wir also den „angestoßene[n], hilflose[n] Intellektuelle[n], ein[en] Schriftsteller, der das neue Rußland liebte und es plötzlich nicht mehr verstand“; auf der anderen Seite geradezu eine Eloge auf Stalin. Wie eindeutig sich Regler tatsächlich auch als Verteidiger des ersten Moskauer Prozesses positioniert hat, das belegt Reinhard Müllers Fund in dem „Russischen Staatsarchiv für Sozialpolitische Geschichte“ in Moskau.14 Es handelt sich dabei um eine achtseitige maschinenschriftliche Abschrift des bereits erwähnten Artikels „Auf falscher Fährte“. Den Anstoß zu dem Ende August oder Anfang September 1936, jedenfalls in Moskau verfassten Artikel gab eine Veröffentlichung des deutschen Emigranten Leopold Schwarzschild. Er äußerte sich in einem im August 1936 publizierten Zeitschriftenbeitrag äußerst kritisch zu dem gerade laufenden Prozess in Moskau. Zunächst einige Informationen zu Schwarzschild: Er war – zusammen mit Stefan Großmann – der Herausgeber des „Tage-Buchs“, einer kritischen, von 1920 bis 1933 erscheinenden überparteilichen Wochenschrift. Am 1. Juli 1933 floh Schwarzschild nach Paris, auf der ersten Ausbürgerungsliste vom August 1933 wurde ihm die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt. Das „Neue Tage-Buch“ erschien bis zu seiner Einstellung 1940 in Paris, namhafte Exilautoren wie Walter Benjamin, Thomas Mann oder Hermann Broch veröffentlichten darin. 12 Hermann Gätje: Leben und Leben schreiben. Gustav Reglers autobiographische Schriften. Entstehungsprozess – Fassungen – Gattungsdiskurse, St. Ingbert 2013, S. 79. 13 Regler [Anm. 5], S. 678. 14 Vgl. Anm. 3.
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Schwarzschild wirkte 1935/1936 im Pariser Volksfrontausschuss mit, dem „Lutetia“-Kreis, doch schon Anfang Juli 1937 gründete er aus Protest gegen dessen sowjetunionfreundliche Position mit Bernard von Brentano, Alfred Döblin, Konrad Heiden, Hans Sahl und anderen den „Bund Freie Presse und Literatur“. Dieser wandte sich gegen jegliche totalitäre Bevormundung, gleichgültig ob von rechts oder von links. In Heft 35 seiner Zeitschrift veröffentlichte Schwarzschild den Artikel „Der Gestapomann Trotzki“.15 Darin reiht er den Moskauer Prozess ein in die unselige Tradition der früheren Ausgrenzung bzw. Eliminierung sowjetischer Politbüromitglieder: Genauer besehen sind in diesen Prozeß […] alle hineingezogen, die von den Sowjet-Pionieren noch überleben. Alle – außer Stalin selbst. […] Vor den Augen des Sowjetvolkes wird künftighin in der Ruhmeshalle des Sowjetstaats […] nur noch die Statue des einzigen Lebenden stehen: Stalins. Alle anderen sind zertrümmert oder in die Ecke geschoben.16 Zudem, argumentiert Schwarzschild, erleide die UdSSR durch den Prozess einen schweren außenpolitischen Schaden, weil weltweit Hoffnungen auf einen Demokratisierungsprozess in der Sowjetunion enttäuscht würden: „Es ist unausbleiblich, dass die Gefühle, die eben erst begonnen hatten, sich in der Wahl zwischen Moskau und Berlin zugunsten des ersteren zu entscheiden, durch diesen Prozeß wieder ins Wanken gebracht werden.“ Er weist zudem auf das Fehlen jeglicher Beweise in dem Verfahren hin: Es gibt überhaupt nichts Konkretes in der ganzen Anklageschrift; es gibt keine Belastungs-Zeugen, die selbst etwas wissen, noch weniger die Spur eines Entlastungszeugen, am wenigsten gibt es Verteidiger. Es gibt nichts als die endlose, schrankenlose, erbarmungslose SelbstBeschuldigung jedes Angeklagten und die Beschuldigung der Angeklagten untereinander; es gibt nur das ‚Ja‘ und das flagellantische ‚Noch schlimmer!‘ auf jede Frage des Staatsanwalts.17 Er schließt mit der Prophezeiung, dass die „internationalen Wirkungen“ dieses Prozesses „verheerend“ seien.18 Auf diesen Artikel antwortete Regler. Doch sein Versuch, die Argumente Schwarzschilds zu entkräften bzw. zu widerlegen, gerät zu einer uneingeschränkten Verteidigung des Prozesses, zur Rechtfertigung von 15 Leopold Schwarzschild: Der Gestapomann Trotzki, in: Das Neue Tage-Buch, Nr. 35 / 1936, S. 825–828. 16 Ebd., S. 825. 17 Ebd., S. 826. 18 Ebd.
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Anklagen und Verurteilungen, nicht zuletzt zu einer Glorifizierung, nahezu einer Apotheose Stalins. Regler referiert zunächst detailliert aus der Anklageschrift die angeblichen Verbrechen, dann resümiert er: Man habe den Mut, die schreckliche Logik eines Abstiegs zu erkennen, die vom menschewistischen Opportunismus bis zum konterrevolutionären Heroismus führen mußte. […] Wir sahen während des Prozesses nur noch Degenerierte. […] Kleine Verbrecher sprachen. Diese Gesichter waren schon ausgelöscht, ehe die Kugel sie traf.19 Den Text hat Regler offenbar diktiert, wie an einer Stelle deutlich wird: Wir wollen nicht untersuchen, ob er [Lenin, R. S.] guten Glaubens war und keinerlei Ahnung von diesem systematischen Absteigen von Sinowjew und Kamenew hatte. […] Wir geben dann Krupskaja [Lenins Ehefrau, R. S.] das Wort, die am 4. August 1936 in der ‚Prawda‘ schrieb: Nach dem Doppelpunkt ist folgende Passage eingefügt, entweder als Gedankenstütze für den Autor, vermutlich aber eher als eine Anweisung an einen Dritten: „ /gutes Zitat einfügen, das beweist, wie Lenin sich von Trotzki schon früh abgrenzte /.“20 In der Schilderung seines Moskauer Aufenthalts von 1936 findet sich in Reglers Autobiographie eine nicht weiter erläuterte Selbstauskunft: „Ich gelte“, schreibt er recht unvermittelt in einer Unterhaltung mit Sonja Marchlewska, der Frau von Heinrich Vogeler, „als hundertprozentig sicher“.21 Aus mindestens zwei Gründen durfte Regler annehmen, in den Augen seiner Genossen als absolut zuverlässig zu erscheinen. Zum einen hatte er, worauf er während der erwähnten Moskauer Autorenversammlung hinweist, die deutschsprachige Fassung der ProzessDokumentation redigiert. Das Buch wurde, herausgegeben vom Volkskommissariat für [das] Justizwesen der UdSSR, unter dem Titel „Prozessbericht über die Strafsache des trotzkistisch-sinowjewistischen terroristischen Zentrums“ 1936 in Moskau veröffentlicht. Es handelt sich um ein Wortprotokoll der zweimal täglich, jeweils morgens und abends stattfindenden Verhandlungen. Der zweite Grund für Reglers tatsächliche oder vermeintliche Zuverlässigkeit dürfte jener gegen Schwarzschild gerichtete, den Prozess rechtfertigende Artikel gewesen sein. Der allerdings, wie gesagt, unpubliziert blieb. Er ist, und das macht die Sache spannend, nur in einer maschinenschriftlichen Abschrift überliefert, die für Wilhelm Pieck angefertigt wurde. Der einflussreiche Moskauer Regler [Anm. 3], S. 6. Ebd. 21 Ders. [Anm. 4], S. 356. 19 20
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Funktionär der KPD war seit 1921 Mitglied des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (EKKI), seit 1931 seines Präsidiums. Das Fehlen des Originals könnte Zweifel an der Authentizität des Dokuments hervorrufen. Man könnte zudem argumentieren, dass Regler den Text in der für deutsche Emigranten höchst bedrohlichen Situation des Sommers 1936 aus Gründen des Selbstschutzes verfasst hat, gewissermaßen zur Irreführung der Behörden. Gegen beide Annahmen spricht, dass Regler wenig später, am 24. September 1936, kurz nach seiner Rückkehr in das vergleichsweise sichere Paris, in einem Brief die Veröffentlichung dieses Artikels anmahnt. Adressatin des Schreibens ist Julia Annenkowa, die Chefredakteurin der in Moskau erscheinenden „Deutschen Zentral-Zeitung“: „Was“, fragt Regler, „geschah mit meinem Artikel gegen Schwarzschild?“, und drängt: „Bitte Bescheid!“22 In dem Brief an Annenkowa kommt Regler zudem ausführlich auf die verheerenden Wirkungen des Prozesses auf potentielle Bündnispartner in Paris zu sprechen. Überraschenderweise benutzt Regler allerdings nun selbst ausgerechnet jene zum Teil schiefen Vergleiche und Metaphern, die er wenig später in seinem Spanienkriegsroman als bedenklich, weil allzu bequem, kritisiert: Manches beurteile ich so, dass es sich um das Platzen von Geschwüren handelt. Wenn ich sehe, wie viele falsche Freunde sich da an uns herangeschlichen hatten, die sich jetzt enthüllen, bin ich fast froh, dass der Prozess auch sie zur Entlarvung ihres wahren Inneren gezwungen hat.23 Und weiter: Ich sehe einiges in der Wirkung der Hetzpropaganda sehr ernst an, und Ihr sollt auch überzeugt sein, daß wir mit allem Takt arbeiten, um schlimme Wirkungen durch kluge Aufklärung zu verbessern. Ebenso überzeugt aber dürft Ihr sein, daß wir mit Blitz und Donner hineinfahren, wo die Feinde plötzlich die Lammfelle ablegen und die faulen Zähne zeigen.24 Dieser Prozess, so Regler abschließend, sei „eine Wasserscheide, die die Ströme teilt, eine Läuterung, die nötig war, und aus der wir viel lernen können“. Nun ist dieser Brief, wie der Anti-Schwarzschild-Artikel, nur in einer Abschrift überliefert. Julia Annenkowa, später selbst ein Opfer der Stalinschen Säuberungen, leitete sie am 3. Oktober 1936 zuständigkeitshalber wiederum an Wilhelm Pieck weiter. In einem Begleitschreiben, förmlich adressiert an die 22 Ders.: Briefe I: 1915–1940, in: Gustav Regler Werke, Bd. 13/1, hg. v. Ralph Schock u. Günter Scholdt, Frankfurt a. M. / Basel 2013, S. 279. 23 Ebd., S. 277. 24 Ebd.
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deutsche Vertretung beim EKKI zu Händen von Wilhelm Pieck, heißt es: „Ich übermittle Dir zur Information die Abschrift eines Briefes, den ich von Gustav Regler bekommen habe und in dem eine Reihe interessanter Momente über die Stimmung unter den Intellektuellen drüben angeführt sind.“ Auch dieser Brief ist ein Fund Müllers im „Russischen Staatsarchiv für Sozialpolitische Geschichte“.25 Beide Dokumente, Artikel und Brief, fügen sich nahtlos ein in das Bild, das mehrere Zeitgenossen in diesen Jahren von Regler zeichnen. Oskar Maria Graf etwa beschreibt Regler während des Schriftstellerkongresses im Jahre 1934 als „kommunistischen Musterschüler“ und als Katecheten, „derzeit kommunistischer!“. Ähnlich Klaus Mann, der sich in seiner Autobiographie „Der Wendepunkt“ erinnert, dass Regler Mitte der 30er Jahre noch „derartig kommunistisch“ gewesen sei, dass „einem vor so viel militantem Glaubenseifer etwas ängstlich zumute“26 würde. Solche Aussagen stammen nicht nur aus der Feder von anderen. Auch von Regler selbst besitzen wir eine Selbsteinschätzung mit ähnlichem Tenor. In einem Entwurf einer seiner autobiographischen Schriften heißt es im Zusammenhang mit einer Bemerkung über André Malraux: „Er war der Partei nicht hörig wie ich.“27 Aus all dem ergibt sich für mich unzweifelhaft Reglers Autorenschaft des Anti-Schwarzschild-Artikels wie auch des Briefs an Annenkowa. Es existiert noch ein weiteres privates Zeugnis aus den späten 30er Jahren für Reglers Haltung zu den Prozessen. Es stammt von einem Freund Reglers, dem 1938 emigrierten jüdischen Filmregisseur Heinrich Oberländer. Er hatte wie Regler seit Anfang der 30er Jahre in der Berliner Künstlerkolonie am Laubenheimer Platz gelebt. Im Exil waren Oberländer und seine Frau Nachbarn des Ehepaars Regler in Montrouge, einem südlichen Vorort von Paris. Am 18. Mai 1965 erinnert sich Oberländer in einem Brief an Harry Dewald, einen gemeinsamen Freund, folgendermaßen an Regler: Als ich 1938 Deutschland verließ, schrieb er gerade seinen Spanienroman. […] Da sich in seinem Spanienroman, den er mir zum Zwecke der Kritik zu lesen gab, das sogenannte Prozeßkapitel befand, in dem er gegenüber den Moskauer Prozessen Stellung bezog, bat ich mir auch den stenographischen Prozeßbericht aus, den er in Buchform besaß. […] Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß der sowjetische Ankläger Wischinsky eine Sprache gebrauchte, die von Goebbels stammen konnte. Ich war der Meinung, daß er in seinem Roman sich von dieser Mentalität entweder distanzieren müsste oder überhaupt 25 RGASPI [Russisches Staatsarchiv für Sozialpolitische Geschichte], Moskau. f. 495, op. 11, d.1., Bll. 73–75. 26 Klaus Mann: Der Wendepunkt, Frankfurt a. M. [u. a.] 1976, S. 362f. 27 Zit. nach Gätje [Anm. 12], S. 247.
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über das Thema schweigen sollte; so, wie ich es bei ihm gelesen hätte, identifizierte er sich mit den Moskauer Prozeßmethoden. Gustav hörte sich das stumm an; änderte aber damals nichts Wesentliches (also nichts, was in dieser Hinsicht ein Abrücken bedeutet hätte) an diesem Kapitel. Dass er dem sowjetischen Regime auch nur kritisch gegenüberstünde, war ihm nicht anzumerken. Es gab kein Wort, keine Andeutung, die darauf hingewiesen hätte, was er später in seinen Memoiren über seine Haltung schrieb.28 Der Briefempfänger Harry Dewald, der vor seiner Emigration ebenfalls in der Künstlerkolonie gelebt und zu Max Reinhardts Ensemble gehört hatte, registrierte zwar auch die Brüche in Reglers Leben bzw. in seiner Lebensbeschreibung „Das Ohr des Malchus“. Er ist insgesamt aber nachsichtiger als Oberländer. Jedenfalls heißt es in einem Brief Dewalds an Oberländer, den er am 16. Januar 1963, also unter dem Eindruck von Reglers Tod schrieb: Vor drei Wochen hatte ich ein paar Zeilen aus Indien von Gustav Regler. Ein paar Tage später las ich in Time Magazine, dass er tot ist. […] Die Nachricht hat mich sehr traurig gemacht. Ich glaube, dass mit allen seinen Fehlern er doch zu den Besten gehörte. Er hatte ein[en] Don Quixottischen Idealismus, er kämpfte mutig für die Dinge, an die er glaubte, er hasste Unrecht und Unterdrückung und er war ein guter treuer Freund durch nunmehr 30 Jahre.29 Regler ist Zeit seines Lebens engagiert für jene politischen Ideen eingetreten, von deren Richtigkeit er überzeugt war: als Schriftsteller und als Journalist, mit der Schreibmaschine und am Mikrophon. Gelegentlich auch mit einer Waffe. Manchmal wechselte er die Fronten, zuweilen recht abrupt. Glücklicherweise bleiben den meisten von uns Entscheidungen erspart, wie sie Gustav Regler mehrfach in seinem Leben zu treffen hatte.
28 Brief Heinrich Oberländers vom 18. Mai 1965 an Harry Dewald. Teilnachlass Gustav Regler, Martine Birkenfeldt, Flensburg. 29 Brief Harry Dewalds vom 16. Januar 1963 an Heinrich Oberländer. Teilnachlass Gustav Regler, Martine Birkenfeldt, Flensburg.
Florian Trabert und Mara Stuhlfauth-Trabert
Franz Werfel „Eine blaßblaue Frauenschrift“ (1941) I. Komplizierte Heimatlosigkeit Seinem Selbstverständnis zufolge befand sich Franz Werfel bereits seit 1918 im Exil. Mit dem Untergang der Habsburger Monarchie nach dem Ende des Ersten Weltkriegs hatte er seine ideelle Heimat verloren, so dass er in dem 1936 entstandenen Essay „Ein Versuch über das Kaisertum Österreich“ schrieb: „Ich bin in einem sehr komplizierten Sinn heimatlos geworden.“1 Mit anderen jüdischen Künstlern und Intellektuellen der Zwischenkriegszeit wie Karl Kraus, Joseph Roth, Ernst Krenek und Leo Perutz teilte der in Prag geborene Werfel die Tendenz zu einer Verklärung der Habsburger Monarchie, in deren Transnationalität er einen Gegenentwurf zum Nationalismus seiner Epoche sah.2 Mit dem sogenannten Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland im Jahr 1938 war allerdings aus dem ideellen Exil Werfels ein reales Exil geworden. Als die Soldaten Hitlers unter dem Jubel eines großen Teils der Bevölkerung Österreich besetzen, befindet sich Werfel auf Capri und notiert: „Heute am Sonntag, den dreizehnten März, will mein Herz vor Leid fast brechen, obwohl Österreich nicht meine Heimat ist. Oh Haus in Breitenstein, wo ich 20 Jahre gearbeitet habe, soll ich dich nie mehr wiedersehen? Besser schweigen!“3 Von Capri zieht Werfel nach Sanary-sur-Mer, zu dessen Bewohnern auch Lion Feuchtwanger, René Schickele und Fritz von Unruh, Heinrich Mann, Ludwig Marcuse und Bruno Frank gehören, so dass der kleine Fischerort in der Nähe von Toulon in Emigrantenkreisen als Hauptstadt der deutschen Literatur bekannt ist.4 Die 1940 entstandene und im Folgejahr erstpublizierte Novelle „Eine blaßblaue Frauenschrift“ ist der letzte Text, den Werfel während seines zweijährigen Exils in Frankreich verfasst hat, bevor er von dort vor den Truppen Hitlers in die
1 Franz Werfel: Ein Versuch über das Kaisertum Österreich, in: ders.: Zwischen oben und unten. Prosa, Tagebücher, Aphorismen, literarische Nachträge, hg. v. Adolf D. Klarmann, München 1975, S. 493–520, hier S. 495. 2 Vgl. Matthias Pape: „Depression über Österreich“. Franz Werfels Novelle „Eine blaßblaue Frauenschrift“ (1940) im kulturellen Gedächtnis Österreichs, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 45 (2004), S. 141–178, hier S. 152–155. 3 Franz Werfel: Tagebucheintragungen, in: ders. [Anm. 1], S. 690–745, hier S. 743. 4 Vgl. Norbert Abels: Franz Werfel, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 112.
Franz Werfel „Eine blaßblaue Frauenschrift“
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USA flieht.5 Die in diesem Text beschriebene Erfahrung vom Verlust des geographischen Schwerpunkts6 teilt Werfel mit seiner Figur Vera Wormser, die gleichfalls zum Gang ins Exil gezwungen ist. Gleichwohl ist „Eine blaßblaue Frauenschrift“ kein Text, in dem Werfel seine Exilerfahrungen unmittelbar thematisiert. Ihre wichtige Stellung innerhalb der deutschsprachigen Exilliteratur verdankt die Novelle vielmehr der Tatsache, dass Werfel in diesem Text mit den politischen Zuständen abrechnet, die in Österreich in den Jahren vor dem ‚Anschluss‘ herrschten. Seine eigene politische Illusion, dass der von 1934 bis 1938 bestehende austrofaschistische Ständestaat einen Schutz gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland zu bieten vermag, hat Werfel dabei nicht von seiner Kritik ausgenommen. Dieser grundsätzlichen Stoßrichtung der an einem einzigen Oktobertag des Jahres 1936 spielenden Novelle entspricht, dass die Hauptfigur nicht die vor den Nazis fliehende Jüdin Vera Wormser ist, sondern der Nicht-Jude Leonidas, der im austrofaschistischen Staat die Funktion eines hohen Beamten im Bildungsministerium ausübt. Dass der Protagonist somit im Schnittpunkt der Bereiche Politik und Kultur steht, ist, wie in diesem Beitrag gezeigt werden soll, höchst bedeutsam, da Werfels Kritik an der österreichischen Politik eine ganz entscheidende kulturelle Dimension aufweist. Der austrofaschistische Ständestaat, so lautet Werfels Diagnose, erweist sich angesichts der Bedrohung durch das nationalsozialistische Deutschland auch deshalb als nicht überlebensfähig, da er entgegen seinem Selbstverständnis in kultureller Hinsicht ausgehöhlt ist. Von besonderer Bedeutung für diese Kritik sind die den gesamten Text durchziehenden musikalischen Motive, wobei insbesondere Hugo von Hofmannsthals und Richard Strauss’ 1911 uraufgeführte Oper „Der Rosenkavalier“, die Leonidas am Ende der Novelle zusammen mit seiner Ehefrau Amelie in der Wiener Staatsoper hört, als Inbegriff der altösterreichischen Kultur erscheint. Da der historische Hintergrund für das Verständnis der Novelle unerlässlich ist, wird im Folgenden die österreichische Geschichte der 1930er Jahre zumindest in ihren Grundzügen skizziert und dabei auch auf die politische Positionierung Werfels eingegangen.7 Die österreichische Geschichte der Zwischenkriegszeit war durch eine extreme Polarisierung gekennzeichnet: Den Sozialisten standen die beiden bürgerlichen Lager der Christlichsozialen und der Deutschnationalen gegenüber, wobei letztere aufgrund ihrer nationalistischen Ideologie sehr empfänglich für Grundprinzipien des Nationalsozialismus waren.8 Der zwischen 5 Vgl. Lionel B. Steimann: Werfel, Christianity, and Antisemitism, in: Franz Werfel im Exil, hg. v. Wolfgang Nehring u. Hans Wagener, Bonn / Berlin 1992, S. 51–66, hier S. 52. Steimann führt zur Entstehungsgeschichte des Textes aus: „Werfel wrote it early in 1940 in Paris following the completion of ‚Der veruntreute Himmel‘, after returning from a possibly significant visit with this parents in Vichy. The final draft was written in Lourdes.“ (Ebd., S. 61). 6 Vgl. Franz Werfel: Eine blaßblaue Frauenschrift, Frankfurt a. M. 1990, S. 129. 7 Eine ausführliche Darstellung des historischen Hintergrunds findet sich bei Matthias Pape, der die bisher umfangreichste Interpretation der Novelle vorgelegt hat. (Vgl. Pape [Anm. 2], S. 148–159). 8 Vgl. Stephen Beller: Geschichte Österreichs, Wien [u. a.] 2007, S. 206f.
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Florian Trabert und Mara Stuhlfauth-Trabert
1934 und 1938 bestehende Austrofaschismus stellt den Versuch des christlichsozialen Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß und seines Nachfolgers Kurt Schuschnigg dar, gleichermaßen die oppositionellen Sozialdemokraten auszuschalten sowie die von den Nationalsozialisten ausgehende Gefahr zu bannen, die seit 1932 in mehreren Landtagen vertreten waren.9 Dies geschah um den bewusst in Kauf genommenen Preis der Aufgabe parlamentarischer Politik und der Einführung eines autoritären Regierungsstils.10 Da der aus der Konkursmasse der Habsburger Monarchie hervorgegangene Staat zu klein war, um eine eigenständige Außenpolitik betreiben zu können, orientierte sich Österreich zunächst an Italien, das bereits seit den 1920er Jahren von Mussolini faschistisch regiert wurde und den Alpenstaat dem Einfluss Hitlers zu entziehen suchte. Dieses labile Konstrukt erhielt eine fatale Dynamik, als das außenpolitisch durch den Abessinien-Krieg isolierte Italien 1936 die Zusammenarbeit mit Hitler suchte und sich die Achse Berlin-Rom als Bündnis der beiden faschistischen Staaten herausbildete. Österreich verlor seinen Schutzherrn Mussolini und konnte sich nun kaum noch dem deutschen Einfluss entziehen. Das noch im gleichen Jahr zwischen Österreich und dem Deutschen Reich geschlossene Juli-Abkommen bedeutete den Anfang vom Ende der Eigenstaatlichkeit Österreichs. Die Regierung war zu Konzessionen gezwungen, die den Nationalsozialisten ein politisches Agieren im südlichen Nachbarland ermöglichten.11 Der österreichische Bundeskanzler Schuschnigg scheiterte damit auch innenpolitisch, da sich die österreichische Bevölkerung nun zunehmend mit dem Nationalsozialismus identifizierte.12 Diese Entwicklung gehört in den unmittelbaren historischen Kontext der Novelle „Eine blaßblaue Frauenschrift“, deren Handlung nur drei Monate nach dem Abschluss des Juli-Abkommens spielt. Vor allem im zentralen vierten Kapitel der Novelle wird deutlich, dass die Figuren bereits am Fortbestand des austrofaschistischen Staats zweifeln und den „Anschluss“ an das Deutsche Reich nur noch für eine Frage der Zeit halten. Tatsächlich sollte die Agonie des Ständestaats, dessen Bevölkerung und Funktionseliten zunehmend mit den Nationalsozialisten sympathisierten, den im historischen Maßstab nur kurzen Zeitraum von knapp zwei Jahren dauern. Franz Werfel hat diese Vorgänge bis zum März 1938 nicht nur als Zeitzeuge miterlebt, sondern war über die Entwicklungen sogar aus erster Hand informiert, da im Salon seiner Frau Alma Mahler-Werfel die politische und kulturelle Elite Österreichs zusammenkam. Zu den Gästen des Ehepaars Werfel zählten hochrangige Vertreter des Ständestaates wie Kurt Schuschnigg13 und der nationalsozialistische Minister Edmund Glaise-Horstenau, der beim Zustandekommen Vgl. Pape [Anm. 2], S. 149f. Vgl. Beller [Anm. 8], S. 211. 11 Vgl. ebd., S. 215f. 12 Vgl. Pape [Anm. 2], S. 151. 13 Vgl. ebd., S. 153. 9
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des Juli-Abkommens eine Vermittlerrolle gespielt hatte.14 Angesichts der starken Polarisierung der politischen Kultur Österreichs kann es nur paradox erscheinen, dass in Almas Salon gleichermaßen Gegner wie Sympathisanten Hitlers verkehrten.15 Wie vor allem der bereits zitierte Essay „Ein Versuch über das Kaisertum Österreich“ verdeutlicht, teilte Werfel im Jahr 1936 noch die Staatsraison gewordene Illusion der austrofaschistischen Regierung, dass Österreich seine politische und kulturelle Eigenständigkeit gegenüber dem Deutschen Reich zu behaupten vermag. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Werfels gesamte Argumentation durchziehende Dichotomie von Reich und Nation. Reiche versteht Werfel als quasi metaphysische historische Entitäten, denen eine transnationale Idee zugrundeliegt, Nationen fasst er hingegen als dämonische Gebilde auf, die lediglich zur Durchsetzung ihrer Partikularinteressen fähig sind.16 Während Werfel bereits im Zweiten Deutschen Kaiserreich aus einem für viele österreichische Intellektuelle typischen anti-preußischen Reflex lediglich eine Nation zu erblicken vermag, erscheint ihm die Habsburger Monarchie als exemplarische Verkörperung eines Reichs. Unverkennbar führt Werfel in seinem Essay Gedanken fort, die schon Hugo von Hofmannsthal in seinen während des Ersten Weltkriegs und der 1920er Jahre entstandenen kulturpolitischen Schriften zur ‚österreichischen Idee‘ formuliert hatte. Bereits bei Hofmannsthal erscheint die Habsburger Monarchie als Verkörperung einer transnationalen Idee.17 Im geschichtlichen Kontext der 1930er Jahre entspricht Werfels gleichermaßen im Schillerschen wie allgemeinsprachlichen Sinn sentimental erscheinende Verklärung der untergegangenen Habsburger Monarchie dem Selbstverständnis des Ständestaats, der „das Österreich nach 1918 zwischen dem konservativen Provinzialismus der Zwischenkriegszeit und traditioneller Habsburger Legitimität anzusiedeln“18 versuchte. II. Ein unerträglich beliebter Protagonist In den Mittelpunkt seiner Kritik an den politischen und kulturellen Zuständen im Österreich der 1930er Jahre hat Werfel mit der Figur des Staatsbeamten Leonidas einen Charakter gestellt, der die Widersprüchlichkeit der österreichischen Politik Vgl. Abels [Anm. 4], S. 107f. Vgl. Astrid Seele: Alma Mahler-Werfel, Reinbek bei Hamburg 2001, S. 99. 16 Vgl. Werfel [Anm. 1], S. 496. 17 So heißt es bei Hofmannsthal in einer 1926 gehaltenen Rede: „Dieses Staatsgebilde, hier an dieser Stelle Europas von der Geschichte gewollt, den europäischen Kulturkreis südöstlich gegen den orientalischen abzuschließen, war der Träger einer übernationalen Idee, und vermöge dieser Idee, nicht durch staatsrechtliche Verklammerungen und Sanktionen, hat es durch Jahrhunderte bestanden und Macht geübt.“ (Hugo von Hofmannsthal: Ansprache bei Eröffnung des Kongresses der Kulturverbände in Wien, in: ders.: Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze III. 1925–1929, hg. v. Bernd Schoeller u. Ingeborg Beyer-Ahlert, Frankfurt a. M. 1980, S. 19–23, hier S. 19). 18 Beller [Anm. 8], S. 213. 14 15
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geradezu exemplarisch verkörpert. In einem in der blassblauen Frauenschrift verfassten Brief, der die Novelle ihren Titel verdankt, bittet Leonidas’ ehemalige jüdische Geliebte Vera Wormser den Staatsbeamten, seine Position geltend zu machen und einem jüdischen Schüler aus Deutschland einen Platz an einem Wiener Gymnasium zu verschaffen. In dem Glauben befangen, der Vater des 18-jährigen Emanuel zu sein, changiert Leonidas’ Verhalten zwischen Verdrängung des Geschehenen und kurzfristigem Aktionismus. Die auflösende Analepse des sechsten Kapitels hält für den Protagonisten und den Leser eine gleich doppelte Pointe bereit: Leonidas vernimmt mit Erleichterung, dass er nicht Emanuels Vater ist; gleichwohl ist aus seiner Verbindung mit Vera ein Kind hervorgegangen, das aber bereits im Alter von zweieinhalb Jahren gestorben ist. Bereits die Exposition der Novelle präsentiert dem Leser einen Protagonisten, dessen äußere Attribute und innere Identität im Widerspruch zu einander stehen. So gewinnt die erste Stelle in direkter Figurenrede einen von den Figuren nicht intendierten Hintersinn; der Ausruf von Leonidas’ Ehefrau Amelie: „Du bist unerträglich beliebt“,19 präsentiert einen Protagonisten, der zwar rein äußerlich „beliebt“, aufgrund seines Charakters aber tatsächlich „unerträglich“ ist. Dass dem Leser dieser Widerspruch mehr als deutlich wird, ist narratologisch dem ständigen Wechsel von innerem Monolog und erlebter Rede geschuldet,20 dem ein Wechsel von Nähe und Distanz zu Leonidas korrespondiert. Auch der Erzähler führt den Protagonisten mit unverkennbarer Ironie ein: „Leonidas hieß wirklich Leonidas. […] Glücklicherweise ließ sich der feierliche Leonidas leicht in einen schlicht-gebräuchlichen Leo umwandeln.“21 Die Versicherung des Erzählers, dass der Protagonist tatsächlich den Namen des Königs von Sparta trägt, nimmt schon den Kontrast zwischen dem im Namen enthaltenen Anspruch auf eine heroische, selbstsichere Haltung und seinem tatsächlichen, alles andere als heldenhaftem Verhalten vorweg, so dass es sich um einen sprechenden Namen mit verkehrten Vorzeichen handelt.22 Als typischer Anti-Held verdankt Leonidas seinen gesellschaftlichen Aufstieg nicht seiner Charakterstärke, sondern einem Frack, den er als junger Student von einem jüdischen Stubennachbar geerbt hat. Von der äußerlichen Veränderung durch den Frack beflügelt, der ihm einen Werfel [Anm. 6], S. 9. Nicht ganz korrekt ist die Beschreibung von Matthias Pape, der durchgängig von einem inneren Monolog der Figur Leonidas spricht; dabei handelt es sich gerade bei der von Pape angeführten Stelle aufgrund der dritten Person und des Präteritums eindeutig um erlebte Rede. (Vgl. Pape [Anm. 2], S. 166). 21 Werfel [Anm. 6], S. 9. 22 Vgl. Hans Wagener: Gericht über eine Lebenslüge. Zu Franz Werfels „Eine blaßblaue Frauenschrift“, in: Brücken 3 (1995), S. 191–208, hier S. 194. Matthias Pape sieht in Leonidas’ sprechendem Namen eine ironische Anspielung Werfels auf den Sparta-Kult des Nationalsozialismus, „dessen Erziehungspolitik sich am spartanischen Modell […] und rassisch gedeuteten Herrenmenschentum Spartas orientierte“. (Pape [Anm. 2], S. 162) Nach dem Zweiten Weltkrieg hat Heinrich Böll die nationalsozialistische Idealisierung des spartanischen Durchhaltewillens in der TermophylenSchlacht zum Ausgangspunkt seiner Kurzgeschichte „Wanderer, kommst du nach Spa …“ gemacht. 19 20
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großbürgerlichen Habitus verleiht, versucht er diesem Bild auch innerlich gerecht zu werden: Er hatte sich alles krampfhaft anerziehen müssen, die Gelassenheit beim Eintritt in einen Salon, das souveräne Plaudern (man macht Konversation), das freie Benehmen bei Tisch, das richtige Maß im ,Die-Ehre-geben‘ und ,Die-Ehre-nehmen‘, all diese feinen und selbstverständlichen Tugenden, mit denen die Angehörigen der Herrenkaste geboren werden.23 Diese Selbstdisziplin gepaart mit dem eleganten Frack und seinem Talent im Walzertanzen ermöglicht ihm die Ehe mit Amelie Paradini, der reichsten Erbin der Stadt. Diese Verbindung beschert ihm finanzielle Sorglosigkeit, die völlige Integration in die Oberschicht Wiens, die Beförderung zum Sektionschef im Ministerium für Kultus und Unterricht sowie einen neuen Spitznamen: „Amelie hatte ihn niemals anders gerufen als Leon […], indem sie mit ihrer dunklen Stimme der zweiten Silbe von León eine melodisch langgezogene und erhöhte Note gab.“24 Dass der Name Leon in der Novelle immer mit dem Accent auf dem ,o‘ geschrieben wird, vermittelt Amelies Besitzanspruch bereits auf der typographischen Ebene. Auf den ersten Blick gestaltet Werfel das Kleidungsmotiv ähnlich wie Gottfried Keller in seiner Novelle „Kleider machen Leute“: Einem jungen, mittellosen Mann gelingt dank eines Kleidungsstücks – ein Radmantel bei Kellers Strapinski, ein Frack bei Werfels Leonidas – der gesellschaftliche Aufstieg; allerdings findet Strapinski durch sein Verkleidungsspiel paradoxerweise zu einer stabilen Identität, während Leonidas im Laufe der Novelle eine Identitätsdissoziation erfährt. Denn obwohl sich Leonidas auch mit fünfzig Jahren wie ein Sieger und „Götterliebling“ fühlt,25 hat er die Umgangsformen der Oberschicht nicht wirklich internalisiert, so dass er jeden Morgen wie ein Schauspieler in seine Rolle schlüpfen muss: „Man trat gewissermaßen aus dem Nichts der Nacht über die Brücke eines leichten, alltäglich neugeborenen Erstaunens in das Vollbewusstsein des eigenen Lebenserfolges ein.“26 Leonidas’ Identitätsverlust gewinnt eine neue Dynamik, als Vera Wormser mittels ihrer blassblauen Handschrift wieder in sein Leben tritt. In dem festen Glauben, dass aus dem Verhältnis mit Vera ein Sohn hervorgegangen ist, fühlt er sich gezwungen, innerlich zwischen Vera und Amelie Position zu beziehen; eine Entscheidung, die sowohl persönliche Neigung als auch politische Stellungnahme beinhaltet und ihm die Erkenntnis abringt, dass er sich zu einem Leben umerzogen hat, das der Kragenweite seines geerbten Werfel [Anm. 6], S. 113. Ebd., S. 9. 25 Ebd., S. 14. 26 Ebd., S. 11. 23 24
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Fracks, aber nicht seiner Psyche entspricht. Zeichenhaft für diese Identitätsdissoziation steht Leonidas’ verwahrloster Doppelgänger, den er im Schlosspark auf einer Parkbank liegen sieht und der ihm einen alternativen Verlauf seines Lebens vor Augen führt.27 Amelies Finanzkraft ermöglicht dem Ehepaar noch im Ständestaat Österreich eine Lebensweise, die an die Habsburger Monarchie erinnert: Das Paar wohnt in einer weitläufigen Villa im Stadtteil Hietzing, nahe dem Schloss Schönbrunn, hat zahlreiche Hausangestellte und einen eigenen Kutscher, Leonidas geht vorzugsweise im Schlosspark spazieren und der Abend klingt in der Opernloge aus. Mit ihrer englischen Großmutter, ihrer Vorliebe für französische Mode28 und ihrem italienischen Mädchennamen Paradini repräsentiert Amelie einen Internationalismus, der auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurückweist und im nationalsozialistischen Österreich keinen Bestand haben wird. Der Anachronismus von Leonidas’ und Amelies ,kakanischem‘ Lebensstil wird schon beim Frühstück des Ehepaars im ersten Kapitel deutlich. Amelie wird wie eine leblose, griechische Marmorstatue beschrieben und verschließt vor den politischen Veränderungen die Augen;29 Leonidas, der gebürtige Kleinbürger, flüchtet vor dem Luxus seiner Gattin ins Ministerium, das die Usancen der Monarchie weiterführt.30 Zusätzlich symbolisiert die Kinderlosigkeit des Paars die Zukunftslosigkeit ihres Lebensmodells. Zu Leonidas’ Charakterbild gehört zudem sein Antisemitismus, der gleichfalls eher auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurückweist; als solcher darf er keinesfalls verharmlost werden, aber auch nicht mit dem exterminatorischen Antisemitismus der Nationalsozialisten gleichgesetzt werden. Gerade Leonidas, der sein Studium nur finanzieren konnte, weil eine jüdische Familie ihn als Hauslehrer angestellt hatte, der nur mittels des Fracks eines Juden Karriere gemacht hat und sich leidenschaftlich in eine Jüdin verliebt hat, ist der Prototyp des „kultivierten Antisemiten, der sein Ressentiment hinter einer polierten Oberfläche verbirgt und seine Schuldgefühle gegen das jüdische Opfer kehrt“.31 Auch in diesem Punkt ist Leonidas der exemplarische Vertreter einer Nation, die zwar durchaus von den Leistungen jüdischer Industrie und jüdischen Kapitals profitierte, aber dennoch ihren Antisemitismus pflegte.32 Der psychologische Mechanismus, der hinter diesem Antisemitismus steckt, ist offenkundig: Leonidas möchte seine kleinbürgerliche Existenz hinter sich lassen und in dem Glauben Vgl. ebd., S. 62f. Vgl. ebd., S. 40 und 144f. 29 Vgl. ebd., S. 16–18. 30 Ebd., S. 68. 31 Wynfried Kriegleder: Juden und Jugendschuld bei Franz Werfel: „Der Abituriententag“ und „Eine blaßblaue Frauenschrift“, in: Judentum in Leben und Werk von Franz Werfel, hg. v. Hans Wagener, Berlin [u. a.] 2011, S. 43–59, hier S. 53f. 32 Vgl. Michael Wagner: Das Ende der Illusion. Eine blaßblaue Frauenschrift, in: ders.: Literatur und nationale Identität. Österreichbewußtsein bei Franz Werfel, Wien 2009, S. 303–318, hier S. 308. 27 28
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leben, dass er seine Position aus eigener Kraft erreicht hat. Aus diesem Grund muss er den Selbstmord seines jüdischen Stubennachbars belächeln33 und sich von seiner jüdischen Geliebten Vera distanzieren, der gegenüber er sich intellektuell unterlegen fühlt. Auch diese Distanz markiert Werfel sprachlich, indem er Leonidas das Wort ,Jude‘ zugunsten von Umschreibungen wie „intelligenter Israelit“34 vermeiden lässt.35 Gleichzeitig verschließt der Staatsbeamte auch die Augen vor den Ausmaßen des Antisemitismus im Nachbarstaat Deutschland. Dass der Vater von Emanuel zu Tode gefoltert worden ist, erscheint ihm als Übertreibung der deutschen Verhältnisse, so dass er sein Gewissen beruhigen kann: Wer hätte das gedacht, daß in den Ländern, wo diese Überheblichen nicht atmen können, hochentwickelte Menschen wie Emanuels Vater zu Tode gequält werden, mir nichts, dir nichts? Das sind doch erwiesenermaßen Greuelmärchen. Ich glaub’s nicht. Wenn Vera auch die Wahrhaftigkeit selbst ist, ich will es nicht glauben.36 Leonidas gleicht dem Lieutenant Gustl aus Arthur Schnitzlers gleichnamiger Novelle darin, dass er aufgrund seines vollkommen opportunistischen Verhaltens eher einer Karikatur als einem komplexen Charakter ähnelt.37 Dem entspricht, dass Werfel bei der Darstellung der Figuren insgesamt zu einer „etwas klischeehaften Schwarz-Weiß-Malerei“ tendiert:38 Die Juden werden allesamt als intelligente, kreative und wahrhaftige Figuren geschildert, bei denen es sich nahezu ausnahmslos um Akademiker oder sogar Nobelpreisträger handelt; die nicht-jüdischen Figuren hingegen sind im besten Fall Opportunisten wie Leonidas, im schlimmsten Fall aber sympathisieren sie unverhohlen mit dem Nationalsozialismus. III. Eine durchkomponierte Novelle Aufgrund der erzählerisch geschickten Verschränkung einer Ehebruchsgeschichte mit den Zuständen in Österreich kurz vor dem Anschluss 1938 ist Werfels „Eine blaßblaue Frauenschrift“ schon als Studie einer Identitätskrise39 und als „auf die Form einer Erzählung reduzierter Zeitroman“40 gelesen worden. Während Werfel [Anm. 6], S. 12. Ebd., S. 12 und 152. 35 Wagener [Anm. 22], S. 199. 36 Werfel [Anm. 6], S. 148. 37 Vgl. Wagener [Anm. 22], S. 195. 38 Ebd., S. 202. 39 Vgl. Alfons Weber: Problemkonstanz und Identität. Sozialpsychologische Studien zu Franz Werfels Biographie und Werk unter besonderer Berücksichtigung der Exilerzählungen, Frankfurt a. M. 1990, S. 44–64. 40 Wolfgang Paulsen: Franz Werfel. Sein Weg in den Roman, Tübingen / Basel 1995, S. 233. 33 34
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der erste Ansatz die persönlichen Irrungen des Protagonisten hervorhebt, stellt der zweite Leonidas als Verkörperung der politischen Mentalität seiner Zeit in den Fokus. Dass beide Aspekte für „Eine blaßblaue Frauenschrift“ gleichermaßen zentral sind, offenbart ein Blick auf die durchdachte Komposition, welche Werfels Exiltext eindeutig als Novelle ausweist. Wie Hans Wagener gezeigt hat, erfüllt „Eine blaßblaue Frauenschrift“ alle Forderungen, die das 19. Jahrhundert an diese Prosagattung gestellt hat.41 Als besonders fruchtbar für eine Formanalyse erweist sich Theodor Storms Definition der Novelle als „die Schwester des Dramas und die strengste Form der Prosadichtung“.42 Die Gliederung der Novelle in sieben Kapitel lässt sich als Amplifikation des klassischen Fünfaktschemas verstehen, und auch das geradezu penible Einhalten der aristotelischen Einheiten stellt eine Nähe zum Drama her. Für einen Prosatext ungewöhnlich ist dabei vor allem der geringe Umfang der erzählten Zeit: Die Handlung vollzieht sich innerhalb eines Oktobertags von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang, vom Frühstück und dem Erhalt des mit blassblauer Tinte geschriebenen Briefs bis zum Opernbesuch am Abend. Bereits der Umstand, dass Leonidas am Ende der Novelle wieder in seine anfängliche Passivität zurückfällt, deutet die achsensymmetrische Struktur der Novelle an, die auch die übrigen Kapitel verstärken: So entsprechen sich das zweite und sechste Kapitel als aufbauende und auflösende Analepsen, in denen der Leser die Vorgeschichte von Leonidas’ Ehebruch und das traurige Schicksal seines Sohnes erfährt; das dritte und fünfte Kapitel sind hingegen durch die gleichermaßen psychoanalytisch wie theologisch zu deutenden Metaphern des Gerichtshofs und der Beichte miteinander verbunden. Die eigentliche Pointe dieser achsensymmetrischen Struktur ist jedoch darin zu sehen, dass das vierte Kapitel, welches als einziges keine Entsprechung findet, als das eigentliche Zentrum der Novelle hervorgehoben wird. Diesem vierten Kapitel kommt in der straff komponierten Novelle ein gewissermaßen exterritorialer Status zu, da ausgerechnet im Zentrum der Novelle die bisherige Handlung – Leonidas’ Ehebruch im Jahr 1918 und dessen Auswirkungen auf seine Ehe in der Handlungszeit 1936 – gerade nicht vorangebracht wird. Das vierte Kapitel gibt am meisten dazu Anlass, die Novelle in die Nähe des Zeitromans zu rücken. Die verschiedenen Teilnehmer an der hier geschilderten Ministerialratssitzung stellen entweder Vertreter des noch bestehenden Ständestaats oder Repräsentanten des Nationalsozialismus dar, der in anderthalb Jahren 41 Hans Wagener nimmt auf die Falkentheorie Paul Heyses, die „unerhörte Begebenheit“ Goethes, den „Wendepunkt“ Ludwig Tiecks und den „dramatischen Charakter“ Theodor Storms Bezug, ohne Letzteren weiter auszuführen. (Wagener [Anm. 22], S. 191–208, hier S. 193f.) Gegen die Gattungszuordnung Novelle führt Michael Wagner das ein wenig schematisch wirkende Argument an, dass die Wendepunkte der Novelle nur vorläufige seien, da sich Verhalten und Lebensumstände des Protagonisten am Ende nicht veränderten. (Wagner [Anm. 32], S. 310). 42 Theodor Storm: Eine zurückgezogene Vorrede aus dem Jahr 1881, in: ders.: Sämtliche Werke in acht Bänden, hg. v. Albert Köster, Bd. VIII, Leipzig 1924, S. 122.
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auch in Österreich die Macht übernehmen wird. Werfel schildert hier eine Atmosphäre, in der buchstäblich alles von politischen Erwägungen beherrscht wird. Bei der Frage, ob der jüdische Medizin-Nobelpreisträger Alexander Bloch oder der offenkundig deutlich weniger qualifizierte, aber ,arische‘ Professor Lichtl auf den Lehrstuhl für Innere Medizin berufen werden soll, spielen sachliche Argumente nur eine untergeordnete Rolle. Als besonders eifriger Erfüllungsgehilfe der Nationalsozialisten erweist sich dabei der als „rothaarige[r] Zwischenträger“ apostrophierte Beamte, der die nationalsozialistischen Rassengesetze in gewissermaßen vorauseilendem Gehorsam auch in Österreich wirksam werden lassen will. Seine Aneignung des nationalsozialistischen Jargons qualifiziert ihn für einen hohen Posten im ans Deutsche Reich angeschlossenen Österreich: „Unser großer Nachbar“, meinte er schwermütig und drohend zugleich, „hat die Hochschulen radikal von allen artfremden Elementen gesäubert. Wenn ein Bloch bei uns eine Lehrkanzel erhält, und gar die für Innere Medizin, dann ist das eine Demonstration, ein Faustschlag ins Gesicht des Reiches, das gebe ich dem Herrn Minister zu bedenken …“.43 Aber selbst die aus heutiger Perspektive vergleichsweise harmlos erscheinenden Worte, mit denen der Kabinettschef Jaroslav Skutechy seinen Urlaub im alpinen Teil Österreichs lobt,44 sind vor dem Hintergrund der damaligen Diskurse politisch aufgeladen. Der beschriebenen Polarisierung der österreichischen Politik entsprach der Gegensatz „zwischen dem modernen, fortschrittlichen, ,jüdischen‘ Roten Wien und der konservativ provinziellen österreichischen ,Heimat‘“.45 Dass die Novelle einen so durchkomponierten Eindruck macht, liegt nicht allein an der achsensymmetrischen Struktur, sondern auch daran, dass sich innerhalb der einzelnen Kapitel Symmetrien finden. Das hervorstechendste Beispiel ist das zweite Kapitel, in dem Leonidas den Brief Veras betrachtet und darüber sinniert, dass er schon vor 15 Jahren einen Brief von seiner ehemaligen Geliebten erhalten hat. Die beiden Situationen gleichen sich in unwahrscheinlichen Details: Beide Male war Amelie anwesend, so dass Leonidas sich den Briefen nur auf der Toilette widmen kann, wo er durch ein Insekt gestört wird. Die motivischen Korrespondenzen zwischen den beiden Momenten bieten dem Erzähler die Gelegenheit zu einer kunstvollen Antimetabole – einem syntaktischen Parallelismus, der mit einem lexikalischen Chiasmus verbunden ist –, wodurch eine vermeintliche Charakterentwicklung der Figur suggeriert wird: „Damals wollte er den Brief öffnen und zerriß ihn. Jetzt wollte er den Brief zerreißen und öffnete Werfel [Anm. 6], S. 83. Ebd., S. 72. 45 Beller [Anm. 8], S. 206. 43 44
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ihn.“46 Die in der Novelle immer wieder erwähnte blassblaue Tinte steht dabei für Leonidas’ Verdrängungsleistung: Seine Jugendsünde holt ihn immer wieder ein, auch wenn seine Erinnerung an das Gesicht Veras zunehmend verblasst. Die Verdrängung ist ein tertium comparationis, das die individuelle Geschichte Leonidas’ mit der politischen Geschichte seines Heimatlandes Österreich verbindet. Dass Leonidas den ersten Brief Veras zerreißt und somit nicht erfährt, dass er im Jahr 1918 ein Kind gezeugt hat, entspricht auf der politischen Ebene der kollektiven Verdrängung des Ständestaates, dass 1918 das Kaiserreich untergegangen ist. Das Öffnen des zweiten Briefes bietet Leonidas die Möglichkeit, seine Einstellung zu der politischen Situation in Österreich zu verändern, doch diese Chance nimmt er nur solange wahr, wie er Emanuel für seinen Sohn hält. Seine Reaktion auf die beiden Briefe macht Leonidas zum doppelten Verräter: auf der narrativen Ebene an seiner Geliebten Vera und auf der symbolischem Ebene an Österreich.47 Thomas Mann, der die Novelle rasch nach ihrem Erscheinen gelesen hat, notierte sich in seinem Tagebuch das folgende Urteil: „Las Werfels ,Blaßblaue Handschrift‘, angreifbar und über-geschickt.“48 Die Tatsache, dass Mann damit offenkundig einen Überschuss der artifiziellen Mittel kritisiert, sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Werfel gerade solcher Techniken bedient, die für Manns eigenes Werk charakteristisch sind. Zu nennen sind insbesondere die zahlreichen Leitmotive, wobei insbesondere die leitmotivische Funktion des Wetters an Manns Novelle „Der Tod in Venedig“ (1911) erinnert. Die sich in jedem Kapitel ändernde Beschreibung der Wetterlage korrespondiert über sechs Kapitel hinweg mit der inneren Befindlichkeit von Leonidas. Vor dem Erhalt von Veras Brief genießt Leonidas das spätsommerliche Wetter: „Die Welt präsentierte sich heute als ein lauer Oktobertag, der in einer Art von launisch gezwungener Jugendlichkeit einem Apriltage glich“.49 Das Wetter verschlechtert sich dann in dem Maße, wie sich die Novellenhandlung zuspitzt, und als sich Leonidas während der Ministerratssitzung vom Opportunismus seiner Kollegen belästigt fühlt, bricht ein Platzregen los.50 Erst im letzten Kapitel kommt das Wetter nur in Gestalt einer Wettervorhersage ins Spiel, die nicht nur der psychischen Befindlichkeit des Protagonisten entspricht, sondern sich auch als Zukunftsbeschreibung Österreichs deuten lässt: „Während er sich für die Oper Werfel [Anm. 6], S. 31. Vgl. Wagner [Anm. 32], S. 316. 48 Thomas Mann: Tagebücher 1940–1943, hg. von Peter de Mendelssohn, Frankfurt a. M. 1982, S. 346. Zur insgesamt eher kritischen Haltung Manns gegenüber Werfels Werk vgl. Helmut Koopmann: Franz Werfel und Thomas Mann, in: Franz Werfel im Exil, hg. v. Wolfgang Nehring u. Hans Wagener, Bonn / Berlin 1992, S. 33–49, hier S. 34f. 49 Werfel [Anm. 6], S. 10. Genau diese leitmotivische Funktion des nicht dem üblichen jahreszeitlichen Verlaufs entsprechenden Wetters ist in „Der Tod in Venedig“ vorgeprägt: „Es war Anfang Mai und, nach naßkalten Wochen, ein falscher Hochsommer eingefallen.“ (Thomas Mann: Der Tod in Venedig, Frankfurt a. M. 1992, S. 9f.). 50 Ebd., S. 86. 46
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umkleidete, hatte er seinen Apparat eingeschaltet: ,Depression über Österreich. Stürmisches Wetter im Anzug.‘“51 Leonidas wird somit einmal mehr zur Allegorie der politischen Mentalität im Österreich der 1930er Jahre: Der drohenden politischen Katastrophe weicht er mit einem eskapistischen Opernbesuch aus. IV. Walzer am Abgrund der Geschichte Die ausgeprägte Leitmotivtechnik von „Eine blaßblaue Frauenschrift“ sowie der Umstand, dass die Novelle mit einem Opernbesuch des Protagonisten endet, ist Teil einer an musikalischen Formen und Themen orientierten Schreibstrategie Werfels, die sich auch in anderen Texten des Autors findet.52 Dies gilt auch für den Essay „Ein Versuch über das Kaisertum Österreich“, da Werfel die österreichische Musik hier als Synthese der deutschen und italienischen Musiktradition auffasst, wobei ihm insbesondere Mozart als „die tönend gewordene Idee Österreichs“ erscheint.53 Hiermit überträgt Werfel den aus der romantischen Musikästhetik stammenden Gedanken, dem zufolge die Musik aufgrund ihrer fehlenden begrifflichen Struktur als „hohe poetische Sprache“ dem „Sprachengeschnatter“54 der Einzelsprachen überlegen ist, auf seine Idee von der Transnationalität der Habsburger Monarchie: Die Musik steht über der Begriffssprache wie die Reichsidee über den Partikularinteressen der Nationen. Wie das Gesamtkonzept der österreichischen Idee ist auch die Idealisierung Mozarts bereits in den kulturpolitischen Schriften Hofmannsthals vorgeprägt: Am Ende seines Essays „Maria Theresia“ verklärt Hofmannsthal die Trias der Komponisten „Haydn, Gluck und Mozart“ zum „unvergänglicher Geist gewordene[n] Gehalt“ der Theresianischen Epoche.55
Ebd., S. 149. So hat bereits Kafka in einem allerdings sehr ambivalenten Tagebucheintrag vom 18. Februar die musikalische Qualität von Werfels Texten betont: „Ich hasse W[erfel], nicht weil ich ihn beneide, aber ich beneide ihn auch. Er ist gesund, jung und reich, ich in allem anders. Außerdem hat er früh und leicht mit musikalischem Sinn sehr Gutes geschrieben, das glücklichste Leben hat er hinter sich und vor sich, ich arbeite mit Gewichten, die ich nicht loswerden kann und von Musik bin ich ganz abgetrennt.“ (Franz Kafka: Tagebücher, Bd. 1: 1909–1912, hg. v. Hans-Gerd Koch [u. a.], Frankfurt a. M. 2008, S. 232f.). 53 Vgl. Werfel [Anm. 1], S. 519. 54 Vgl. Wilhelm Heinrich Wackenroder / Ludwig Tieck: Phantasien über die Kunst, hg. v. Wolfgang Nehring, Stuttgart 2000, S. 65 und 110. Vgl. zur Bedeutung dieser Dichotomie für die romantische Musikästhetik zudem Florian Trabert: „Kein Lied an die Freude“. Die Neue Musik des 20. Jahrhunderts in der deutschsprachigen Literatur von Thomas Manns „Doktor Faustus“ bis zur Gegenwart, Würzburg 2011, S. 29–38. 55 Vgl. Hugo von Hofmannsthal: Maria Theresia. Zur zweihundertsten Wiederkehr ihres Geburtstages, in: ders.: Reden und Aufsätze II, hg. v. Bernd Schoeller, Frankfurt a. M. 1979, S. 443–453, hier S. 453. 51 52
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Dass sich auch „Eine blaßblaue Frauenschrift“ zu den musikalisch inspirierten Texten Werfels zählen lässt, ist von der Forschung bisher kaum erkannt worden. Wie in den Schriften Hofmannsthals zur österreichischen Idee und in Werfels Essay „Ein Versuch über das Kaisertum Österreich“ erscheint die Musik in der Novelle als Inbegriff der österreichischen Kultur, wobei sich die Vorzeichen nun allerdings geändert haben. Mit der historischen Erfahrung des ,Anschlusses‘ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland beurteilt Werfel die österreichische Kultur – oder genauer gesagt: die österreichischen Kulturträger der 1930er Jahre – weitaus kritischer als noch Mitte der 1930er Jahre. Für diese kritische Distanz findet sich in der Novelle ein einprägsames Bild: Während Leonidas in der Hotellobby auf Vera wartet, fällt sein Blick auf einen verhüllten Flügel, den der Erzähler mit „einem Katafalk für tote Musik“ vergleicht.56 Selbst den Protagonisten erfasst der Verdacht, „dieses Klavier sei ausgeweidet und nur eine ehrbare Attrape“.57 Die österreichische Kultur erscheint somit als eine bloße Fassade, die von keiner Vitalität mehr getragen wird. Hinsichtlich der musikalischen Motive der Novelle ist zudem einmal mehr Hofmannsthal bedeutsam, da Leonidas und seine Frau Amelie am Ende der Novellenhandlung in der Wiener Staatsoper eine Aufführung der von Strauss komponierten Oper „Der Rosenkavalier“ besuchen, zu der Hofmannsthal das Libretto verfasst hat. Die entsprechenden Hinweise des Erzählers zum Geschehen auf der Opernbühne sind zwar knapp, ermöglichen aber eine eindeutige Identifizierung der Oper:58 Die Oper beginnt. Und das hab ich früher einmal doch ganz gern gehabt. Eine ziemlich beleibte Hosenrolle springt aus dem Prunkbett der noch beleibteren Primadonna. Achtzehntes Jahrhundert. Die Primadonna, eine ältere Dame, ist melancholisch. Die Hosenrolle, durch jungenhaftes Geschlenker ihre äußerst weiblichen Formen betonend, bringt auf einem Tablett die Frühstücks-Schokolade. Widerlich, denkt Leonidas.59 Diese Szenerie entspricht dem Beginn des ersten Akts von „Der Rosenkavalier“, die laut Regieanweisung „im ersten Jahrzehnt der Regierung Maria Theresias“ situiert ist.60 Die Bezüge der Novelle auf diese Oper sind jedoch nicht auf diesen punktuellen Verweis beschränkt; tatsächlich kommt dem „Rosenkavalier“ eine ganz wesentliche Funktion für die Novelle zu, da sich die Mehrheit der von Werfel Werfel [Anm. 6], S. 119. Ebd., S. 120. 58 Vgl. Kriegleder [Anm. 31], S. 52 und Pape [Anm. 2], S. 173. 59 Werfel [Anm. 6], S. 151. 60 Hugo von Hofmannsthal: Der Rosenkavalier, in: ders.: Dramen V. Operndichtungen, hg. v. Bernd Schoeller, Frankfurt a. M. 1979, S. 9–104, hier S. 10. 56 57
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verwendeten Leitmotive61 auf die Oper zurückführen lässt. Auch wenn es nicht möglich erscheint, weiterreichende Entsprechungen zwischen den einzelnen Figuren des Librettos und der Novelle herzustellen, erscheint die Handlung von „Eine blaßblaue Frauenschrift“ in vielen Aspekten wie eine Verzerrung der Opernhandlung: Aus der „Komödie für Musik“ wird dabei eine traurige Farce.62 So tritt Leonidas tatsächlich als ein Rosenkavalier in Erscheinung, da er Vera bei ihrer Begegnung in der Hotellobby einen Strauß Rosen überreicht.63 Die Differenz zum Libretto verdeutlicht zugleich die Unangemessenheit von Leonidas’ Verhalten: Während das Überreichen der Rosen in der komödiantischen Opernhandlung Teil eines zur Verlobung gehörenden Rituals ist, das zudem das ,richtige‘ Paar – Octavian und Sophie – zusammenbringt, erscheint Leonidas’ Geste angesichts der existenziellen Nöte von Vera als hohle Inszenierung. Hier trifft sich ein Paar, das mit Ausnahme einer 18 Jahre zurückliegenden Leidenschaft nichts mehr verbindet. Die zahlreichen Seitensprünge, die Leonidas im Laufe seiner Ehe mit Amelie begangen hat und zu denen auch sein Verhältnis mit Vera gehört, wirken zudem wie eine bürgerliche Schwundstufe der AdelsLibertinage, die in der Oper der Baron Ochs von Lerchenau betreibt. Beide Figuren, Leonidas wie Ochs, verklären ihr moralisch fragwürdiges Handeln dabei durch einen Verweis auf die mythologische Gestalt des Göttervaters Jupiter. Während Leonidas darüber sinniert, dass er „nicht anders gehandelt [habe] als ein antiker Gott, der sich in wandelbarer Gestalt zu einem Menschenkinde herabbeugt“,64 wünscht sich Ochs, „wie Jupiter selig / in tausend Gestalten“ die verschiedensten Mädchen verführen zu können.65 Die Entsprechungen zur Opernhandlung beschränken sich jedoch nicht auf den Protagonisten: Dessen Ehefrau Amelie erhält von ihrem Friseur den Ratschlag, „als junge Kaiserin Maria Theresia“ in der Oper zu „erscheinen, im Reifrock und hoher weißer Perücke“,66 wodurch sowohl der historische Kontext des Librettos als auch die Frisierszene während des Lever der Feldmarschallin67 evoziert werden. Auch wenn Amelie diesem Rat – der ohnehin eine übertriebene Form der Schmeichelei darstellt – nicht folgt, entspricht dieser doch durchaus der kakanischen Lebensführung des Ehepaars. 61 Zu den wenigen Leitmotiven, für die Hofmannsthals und Strauss’ Oper kein Vorbild liefert, gehören vor allem das Wetter- und das Frackmotiv. Ein Modell für die Ableitung von Leitmotiven aus einer Oper und deren Libretto wäre in Thomas Manns 1906 entstandener, aber erst 1921 publizierter Novelle „Wälsungenblut“ zu sehen. 62 Vgl. Hofmannsthal [Anm. 60], S. 9. 63 Vgl. Werfel [Anm. 6], S. 122. Auch in seinem Selbstbild sieht sich Leonidas als ein Kavalier: „War die schreckhafte Empfindsamkeit der blaßblauen Frauenschrift gegenüber nicht der Beweis einer skrupelhaft zarten Kavaliersnatur, die einen moralischen Schnitzer auch nach schier unendlicher Zeit nicht verwinden und sich vergeben kann?“ (Vgl. ebd., S. 30). 64 Vgl. ebd., S. 26. 65 Vgl. Hofmannsthal [Anm. 60], S. 26f. 66 Vgl. Werfel [Anm. 6], S. 105. 67 Vgl. Hofmannsthal [Anm. 60], S. 31–37.
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Florian Trabert und Mara Stuhlfauth-Trabert
Dass „Der Rosenkavalier“ in der Novelle geradezu als Inbegriff der österreichischen Kultur erscheint, erklärt sich aber vor allem aus der musikalischen Gestalt der Oper. Obwohl die Oper in den 1740er Jahren spielt, enthält die Partitur anachronistische „Anspielungen auf den klassischen Stil der 1780er Jahre, die spätromantische Klanglichkeit der 1860er und 1870er Jahre und sogar auf die chromatische Diatonik um 1910“68 und somit auf alle wichtigen Abschnitte der österreichischen Musiktradition von der Klassik bis zum Expressionismus. Von ganz konkreter Bedeutung für die Novelle ist dabei das von Strauss vielfach evozierte „eskapistische Walzeridiom“,69 da Leonidas seinen gesellschaftlichen Aufstieg neben dem Frack seines jüdischen Mitbewohners vor allem seinem Talent im Walzertanzen verdankt, mit dem er die junge Amelie zu beindrucken vermag: Muß erst gesagt werden, daß Léons Domäne der Walzer war, und zwar der nach links getanzte, schwebend, zärtlich, unentrinnbar fest und locker zugleich? Im beschwingten Zweischritt-Walzer jener sonderbaren Epoche konnte sich noch ein Liebesmeister, ein Frauenführer beweisen, während (nach Léons Überzeugung) die Tänze des modernen Massenmenschen in ihrem gleichgültigen Gedränge nur dem maschinellen Trott ziemlich unbeseelter Glieder einen knappen Raum gewähren.70 Bereits die Tatsache, dass Leonidas den „nach links getanzte[n] Walzer“ mit besonderer Meisterschaft beherrscht, ist durchaus bedeutsam, da der Staatsbeamte gegen den Uhrzeigersinn tanzt und sein Festhalten an den Umgangsformen der untergegangenen Habsburger Monarchie somit als Anachronismus kenntlich gemacht wird. Zudem betont der Erzähler die historische Differenz zu der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, indem er diese als „sonderbare[] Epoche“ bezeichnet. Dass Leonidas seine herausragende gesellschaftliche Stellung seinem „Taktgefühl“71 zuschreibt, wirft nicht nur ein denkbar schlechtes Licht auf die politischen und kulturellen Eliten des Landes – in seinem Umgang mit Vera verhält sich Leonidas immerhin ausgesprochen ,taktlos‘ –, sondern ist zugleich im Zusammenhang mit seinem Antisemitismus zu sehen, da er den Juden gerade diesen ,Takt‘ wiederholt abspricht.72 Die von Werfel in der Novelle erstellte Diagnose ist somit eindeutig: Der österreichische Ständestaat erweist sich angesichts der Bedrohung durch das 68 Bryan Gilliam: Der Rosenkavalier – Ariadne auf Naxos – Die Frau ohne Schatten, in: Richard Strauss Handbuch, hg. v. Walter Werbeck, Stuttgart [u. a.] 2014, S. 183–213, hier S. 189. 69 Ebd. 70 Werfel [Anm. 6], S. 13. 71 Ebd., S. 54. 72 Vgl. ebd., S. 27.
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nationalsozialistische Deutschland als nicht überlebensfähig, da seine Kultur entgegen dem staatlichen Selbstverständnis zur bloßen „Attrappe“ und Fassade verkommen ist. Leonidas und seine Frau Amelie als repräsentativer Teil der politischen und kulturellen Elite sind in dem Irrglauben befangen, auch in den 1930er Jahren ein Leben wie zu Zeiten der Habsburger Monarchie führen zu können. In seiner grundlegenden Studie zum Wien des Fin de Siècle hat der Kulturwissenschaftler Carl E. Schorske in Maurice Ravels „La Valse“ ein „musikalisches Gleichnis einer modernen Krise der Kultur“ gesehen,73 als deren Inbegriff ihm das Wien der Jahrhundertwende erscheint. Der eindringlichen Beschreibung Schorskes zufolge beginnt Ravels Komposition mit Bruchstücken von Walzerthemen, deren schwungvoller Rhythmus sich zunehmend ins Rasende steigert, bevor der Walzer am Ende „in einem Kataklysmus von Klängen zusammenbricht“.74 Leonidas und Amelie tanzen den Walzer, zu dem hier Strauss und nicht Ravel den Takt vorgibt, auch weit über den Untergang der Habsburger Monarchie hinaus, als ob nichts geschehen sei. Dass dabei ein weitaus tieferer Abgrund der Geschichte auf sie wartet, versuchen sie kunstvoll zu verdrängen. Werfel jedoch, der die Novelle 1940 im Exil schrieb, hatte die Katastrophe bereits vor Augen.
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Carl E. Schorske: Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, München 1994, S. 4. Ebd., S. 3f.
Johannes Waßmer
Stefan Zweig „Brasilien. Ein Land der Zukunft“ (1941) I. 1936, 11. August. Stefan Zweig wagt sich in eine „Stadt, die von faschistischem Militär besetzt ist“ und erlebt „wieder einmal eine Revolution von nahe“.1 Er befindet sich auf einer seiner zahlreichen Reisen, diesmal an Bord der R. M. S Alcantara. Der Ozeandampfer macht im spanischen Vigo fest, um Flüchtlinge an Bord zu nehmen und ermöglicht im Zuge dessen wagemutigen Passagieren, einige Stunden den spanischen Bürgerkrieg und die revolutionären Ereignisse zu besichtigen. Bereits gut zwei Monate vor dieser Reise kündigt Zweig an – da noch in seinem ersten Exilland Großbritannien – , dass er erst einmal „von Europa verschwindet“,2 indem er den Einladungen der brasilianischen Regierung sowie des internationalen PEN-Clubs zu einem Kongress in Buenos Aires folge.3 Denn der ‚alte‘ Kontinent verkommt für ihn zu einer „Welt im Chaos“ und er bekennt seiner ersten Ehefrau Friderike: „Ich träume sehr von der südamerikanischen Reise“.4 Der Traum und die Vorfreude gelten Brasilien, da Zweig „wenig Appetit auf Penargentinien“ hat,5 wie er auf der „Alcantara“ schreibt, die von Vigo mittlerweile Kurs auf Rio de Janeiro genommen hat. Brasilien hingegen reizt Zweig. Die Ankunft in Rio erfährt er als „magisch schön“; sich selbst als „das phantastische und anstrengendste Märchen mitmachend, das sich erdenken läßt“.6 Der auch in Südamerika prominente Schriftsteller wird begeistert empfangen und hofiert von Honoratioren und Ministern,7 erlebt eine „Courtoisie verschollener Zeiten“, empfindet die „Frauen unglaublich schön“ und sich generell in einem
1 Stefan Zweig / Friderike Zweig: Unrast der Liebe. Ihr Leben und ihre Zeit im Spiegel ihres Briefwechsels. 1912–1942, Bern / München 1981, S. 240. 2 Ebd., S. 237. 3 Vgl. Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt a. M., S. 448 und Volker Michels: Ethnische Vielfalt gegen rassistische Einfalt. Zur Entstehungsgeschichte von Stefan Zweigs Brasilienbuch, in: Stefan Zweig: Brasilien. Ein Land der Zukunft, Frankfurt a. M. / Leipzig 1997, S. 285–299. 4 Zweig [Anm. 1], S. 238. 5 Ebd., S. 241. Zweig wird wenig später aus der argentinischen Hauptstadt an seine Frau melden: „Buenos Aires ist langweilig-schön, nicht im Traum mit dem göttlichen Rio zu vergleichen“ (ebd., S. 247). 6 Ebd., S. 241. 7 Vgl. etwa Hartmut Müller: Stefan Zweig, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 113f.
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„Paradiese“.8 In Europa hingegen erwarten Zweig zahlreiche politische und persönliche Probleme: Nach seiner Rückkehr wird er sich von seiner langjährigen Ehefrau Friderike trennen und seine Sekretärin Lotte Altmann heiraten, sein Haus in Salzburg verkaufen, endgültig nach London emigrieren und die britische Staatsbürgerschaft beantragen, den Faschismus und den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erleben, sich als heimat- und quasi staatenloser Wanderer zwischen den Welten erfahren müssen9 und letztlich 1940 über Zwischenstationen in den USA – vor allem in der Region um New York und die Yale University – in sein Sehnsuchtsland Brasilien migrieren. Erster literarischer Ausdruck dieser Sehnsucht nach einem friedlichen Gegenraum zum untergehenden Europa war bereits 1937 sein Reisebericht „Kleine Reise nach Brasilien“10 gewesen; 1941 präsentiert Zweig seine Hommage an das Gastland, in dem er und seine zweite Ehefrau mittlerweile ein dauerhaftes Visum erhalten haben: „Brasilien. Ein Land der Zukunft“. Das Buch wird zwar ein Publikumserfolg,11 aufgrund der allzu enthusiastischen Schilderung des Landes von einem Gutteil der Rezensenten jedoch durchaus kritisch wahrgenommen: Einerseits habe Zweig historisch nicht akkurat gearbeitet und anstatt des Zukunftsträchtigen eher das „Pittoreske, Exotische, aber Unmoderne und Rückständige“12 betont – womit er sich aus heutiger Sicht zudem typisch kolonialer Perspektiven bedient –,13 andererseits wurde wegen des einseitigen Brasilienlobs vermutet, dass das Buch von der Propaganda des brasilianischen Regimes bestellt war, was aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zutrifft.14 Die Lektüre des Textes als vermeintliche Auftragsarbeit passt nicht nur zu den Regimekontakten Zweigs – beispielsweise lasen offenbar die Töchter des Diktators Vargas begeistert seine Werke –, sondern insbesondere zu Zweigs Betonung ausgerechnet der brasilianischen Humanität. Jeroen Dewulf versteht in Zweig [Anm. 1], S. 242f. Zweig galt in England bis zur Einbürgerung 1940 offiziell als Staatenloser und gleichzeitig als sogenannter „alien enemy“ und lebte in London äußerst zurückgezogen und ohne die sein bisheriges Leben prägenden vielfältigen gesellschaftlichen Kontakte. 10 Vgl. Michels [Anm. 3], S. 293. 11 Das Buch hat sich in Brasilien wohl über 100.000 Mal verkauft. Vgl. Ingrid Schwamborn: Stefan Zweig: Ein Europäer in Brasilien, in: Brasilien: Land der Vergangenheit?, hg. v. Ligia Chiappini u. Berthold Zilly, Frankfurt a. M. 2000, S. 29–48, hier S. 38. 12 Müller [Anm. 7], S. 124. 13 Es finden sich verschiedene Spuren kolonialer Vorstellungen im Text, etwa die Betonung der Jesuiten bzw. des Gouverneurs Moritz von Nassau für die Entwicklung einer brasilianischen Kultur und Zivilisation oder die Entscheidungen über das Schicksal Brasiliens in Europa (vgl. Stefan Zweig: Brasilien. Ein Land der Zukunft, hg. und mit einer Nachbemerkung vers. v. Knut Beck, Frankfurt a. M. 1990 [ zit. B], S. 41–52 sowie 64f.). Deutlich wird Zweig, wenn er feststellt: „Diese Immigration von vier bis fünf Millionen Weißen in den letzten fünfzig Jahren hat einen ungeheuren Energieeinschuß für Brasilien bedeutet und gleichzeitig einen gewaltigen kulturellen und ethnologischen Gewinn gebracht“, denn der Europäer sei nicht nur zivilisiert, sondern er bringe auch eine „völlig ungebrochene Arbeitskraft und Arbeitswilligkeit“ mit (ebd., S. 137). 14 Vgl. Michels [Anm. 3], S. 298. Ingrid Schwamborn deutet an, dass diese Lesart möglicherweise auch auf ein Vorwort des Übersetzers zurückgeht, der eine Auftragsarbeit explizit zurückweist und den Verdacht so erst bestätigt. Vgl. Schwamborn [Anm. 11], S. 37. 8 9
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seiner aktuellen Lektüre das Brasilienbuch so nicht nur vor dem Hintergrund von Nietzsches Rasse-Begriff, sondern akzentuiert auch die Bedeutung von Zweigs Quellen – insbesondere Gilberto Freyre und Sérgio Buarque de Holanda. Im Zuge dessen verdeutlicht er kenntnisreich, dass sowohl die Betonung der Humanität und Rassenmischung als auch der Eurozentrismus bereits vor Zweig Teil des brasilianischen Geschichtsnarrativs waren.15 Zweig stellt Brasilien jedoch nicht als bloßen Zivilisations-, Natur- und Kultur-, Wirtschafts- und Geschichtsraum, sondern darüber hinausweisend auch als Gegenraum vor zum „in den letzten Jahren arg verwilderten Europa“ (B, S. 158). Im Folgenden wird das Brasilienbuch Stefan Zweigs daher als Auseinandersetzung mit seiner Exilsituation gelesen, die seine Verzweiflung über das niedergehende Europa umsetzt in eine Idealisierung seines Gastlandes. Dazu wird der von Zweig formulierte Gegensatz zwischen Brasilien und Europa mit Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“ in Beziehung gesetzt und der Gegenraum Brasilien als Heterotopie im Sinne Foucaults verstanden. Die daran anschließende Lektüre des Textes vor dem Hintergrund von Michail Bachtins Chronotopos-Essay bietet sich an, da Zweig dem Land zahlreiche ‚eigene‘ Raumund Zeitverhältnisse mit jeweiligen Qualitäten zuweist. II. Die dem Gedanken von europäischer Vergangenheit und brasilianischer Zukunft zugrunde liegende Idee vom zyklischen und zeitlich versetzten Aufstieg und Fall von Zivilisationen hat bereits Oswald Spengler in „Der Untergang des Abendlandes“ konzipiert:16 die Zukunft des Abendlandes [ist, J. W.] nicht ein uferloses Hinauf und Vorwärts in der Richtung unserer augenblicklichen Ideale und mit phantastischen Zeiträumen […], sondern ein in Hinsicht auf Form und Dauer streng begrenztes und unausweichlich bestimmtes Einzelphänomen der Historie vom Umfange weniger Jahrhunderte, das aus
15 Jeroen Dewulf: Der Neue Mensch in Brasilien. Über den Schatten Nietzsches in Stefan Zweigs Land der Zukunft, in: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 106 (2014), S. 213–229. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Dewulfs einführende Darstellung zum Brasilienbuch: Neue Perspektiven zu Stefan Zweigs Brasilien. Ein Land der Zukunft, in: Stefan Zweig – Abschied von Europa, hg. v. Klemens Renoldner, Wien 2014, S. 137–146 sowie Alberto Dines’ Zweig-Biographie, in der der Autor erläutert, dass das „Bild vom ‚Land der Zukunft‘ […] uralt“ (Alberto Dines: Tod im Paradies. Die Tragödie des Stefan Zweig, Frankfurt a. M. [u. a.] 2004, S. 443) sei und in der er verschiedene bereits zuvor erschienene Publikationen mit ähnlichem Titel aufführt. 16 Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, 2 Bde., München 1919–1922.
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den vorliegenden Beispielen [weiterer Zivilisationen, J. W.] übersehen und in wesentlichen Zügen berechnet werden kann.17 Zweig greift das geschichtsmorphologische Konzept Spenglers auf18 und gestaltet es um im Sinne seiner eigenen Hoffnung auf eine neue, ‚menschliche Gesellschaft‘, die er statt im untergehenden Europa im emporstrebenden Brasilien verortet. Als Nachweis von dessen Zukunftsträchtigkeit versammelt er historische, politische, kulturelle, ökonomische und sogar städtebauliche Argumente: Schon zu Beginn der Kolonisation Brasiliens hätten die Jesuiten ein Prinzip der radialen Ausbreitung verfolgt (vgl. B, S. 109), also der schrittweisen zivilisatorischen Entwicklung nach allen Seiten des Raumes hin. Von diesem Geist des Fortschritts im Wortsinne sei das Land erfüllt: So hätten als Nachfolger der Jesuiten gegen Ende des 17. Jahrhunderts beispielsweise räuberische ‚Bandeirantes‘ durch ihre Streifzüge einen Großteil des brasilianischen Territoriums entdeckt und demzufolge Anteil am „zivilisatorische[n] Werk des Aufbaus Brasiliens“ (B, S. 69). Grundsätzlich sei Brasilien unbemerkt von der Weltöffentlichkeit nicht nur räumlich, sondern auch ökonomisch gewachsen (vgl. B, S. 110f.), habe sich schon früh wirtschaftlich abgenabelt und ernähre seit langem umgekehrt den alternden ‚Mutterstaat‘ Portugal (vgl. B, S. 122f.). Insbesondere in der jüngeren Vergangenheit habe der Staat „durch straffere Organisation sich dem Rhythmus der Zeit angepaßt“ und könne weiterhin Einwanderer „in seine[r] unerschöpfliche Erde“ (B, S. 90) ansiedeln. Die anfänglich aus Europa importierte Kultur Brasiliens richte seit längerem den Blick in die Zukunft (vgl. B, S. 155) und zeige prinzipiell ein hohes Maß an „Begabung, an Arbeitskraft, an aktiven Möglichkeiten“ (vgl. B, S. 167), kurz: an prospektivem Potential, und so stehe Brasilien „erst im Anfang seiner Entwicklung“ (B, S. 141). Das Land erwarte eine ‚goldene Zukunft‘, gerade weil seine Ureinwohner gar nicht als zivilisatorisch und kulturell begabte Menschen gedacht werden.19 Erst mit Beginn der Kolonisation entdecke ‚der Mensch‘ das Land, erst jetzt setze Zivilisation ein, erst jetzt entwickle sich das Land kulturell. Ebd., Bd. 1, S. 54. Von einer Rezeption der Überlegungen Spenglers durch Zweig kann ausgegangen werden. Einerseits gehörte die Lektüre von „Der Untergang des Abendlandes“ zum Geist der Zeit und andererseits erwähnt Zweig Spengler in anderem Kontext (vgl. Zweig [Anm. 3], S. 216); zudem verwendet Zweig wiederholt nicht nur die historische Bewegung des Zyklus im Brasilienbuch, etwa den Zyklus des Zuckers (vgl. B, S. 98f.), des Gummis (B, S. 121) oder allgemein Produktionszyklen (vgl. B, S. 120), sondern thematisiert auch Katalysatoren von Entwicklung wie zunehmend schnelle Rhythmen im Warenaustausch. Vgl. hierzu z. B. die dahingehenden und verblüffend unkritischen Überlegungen zum Sklavenhandel: „Monat für Monat und Woche für Woche neue Ladungen“ (B, S. 104). 19 Zweig scheint uneins in seiner Position zur Vergangenheit Brasiliens: Einerseits beschwört er die reichhaltige Geschichte des Landes als Quelle des apostrophierten goldenen Zeitalters Brasiliens, andererseits meint er, dass gerade die erst sehr junge Landes- und Kulturgeschichte die Möglichkeiten schaffe emporzustreben. 17 18
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Letztlich gestaltet die koloniale, europäische und am 19. Jahrhundert geschulte Sichtweise Zweigs Brasilien zu einem riesigen Raum mit enormem Potential. Dieselbe koloniale Idee der unabschätzbaren Entwicklungsmöglichkeiten findet sich auch auf dem Gebiet der Stadtplanung Rio de Janeiros: „unablässig verliert man die Richtung. Wo man zu Ende zu sein glaubt, stößt man auf einen neuen Anfang“ (B, S. 188). Diese unendlichen Anfänge werden sich zu einer neuen Hochkultur erheben, denn im selben Zuge betont Zweig die historische Einheit und Identität der Stadt und deutet die triadische, geschichtsphilosophische Bewegung der Romantik metaphorisch an: Ein „goldener Schimmer durchleuchtet die Zeit“. Ganz Brasilien stünde durch „das Alter und die Vornehmheit seiner Kultur“ (B, S. 201) nun eine goldene Zukunft bevor, so das implizite Urteil.20 Kurzum: Zweig beschreibt sein Brasilien mit Spengler als Zivilisation, die sich im ,historischen Aufstieg‘ befindet. III. Ausweis dieses Aufstiegs sei der Zuzug europäischer Migranten. Ihnen gegenüber erweise sich das Land als freundlich und human, da „der Klassenhaß und Rassenhaß, diese Giftpflanze Europas, […] hier noch nicht Wurzel und Boden gefaßt“ (B, S. 160) habe. Brasilien in der Schilderung Stefan Zweigs ist nicht nur zukünftig, sondern bereits in der Gegenwart ein ‚anderer Raum‘. Michel Foucault beschreibt derartige ‚andere Räume‘ als Heterotopien und definiert sie als „wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien“.21 Das ideale Brasilien des Brasilienbuchs konstruiert Zweig dementsprechend als einen „anderen Raum, einen anderen wirklichen Raum, der so vollkommen, so sorgfältig, so wohlgeordnet ist, wie der unsrige“ – er meint das im Weltkrieg zerschellende Europa – „ungeordnet, mißraten und wirr“.22 Interessanterweise führt Foucault als Beispiel für exakt diese Art der „Kompensationsheterotopie“ ausgerechnet die „außerordentlichen Jesuitenkolonien“ Südamerikas an, in denen zur Zeit ihres Bestehens durch die absolute Ordnung und Regelhaftigkeit des kolonialen Lebens „die menschliche Vollkommenheit tatsächlich erreicht“ gewesen sei.23 Im Gegensatz zur ironisch gebrochenen Perspektive Foucaults meint Zweig seinen Lobpreis der Jesuiten jedoch ernst: Er ordnet ihnen nicht bloß „seelische Intensität“ und „sittliche Reinheit“ zu, sondern weiß 20 Zweig wiederholt diesen Gedanken im Verlauf des kurzen Kapitels „Gärten, Berge und Inseln“ mehrfach: Das Meer ist „ins Unendliche blauend“ (B, S. 30) und zuletzt „hat man […] einen Tropfen getrunken vom goldenen Überfluß der Welt!“ (B, S. 232). 21 Michel Foucault: Andere Räume, in: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, hg. v. Karlheinz Barck [u. a.], Leipzig 1992, S. 34–46, hier S. 39. 22 Ebd., S. 45. 23 Ebd.
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auch, dass die Jesuiten „nichts für sich und alles für das Land“ (B, S. 37f.) anstrebten und generell überzeugte Idealisten gewesen seien. Auch abseits der frühen jesuitischen Kolonialherrschaft und der im Text stets präsenten humanistischen Zukunftsvisionen färbt Zweig sein Brasilienbild trotz der Anfang der 40er Jahre herrschenden Vargas-Diktatur in kräftigen Kitschtönen: Zwar gibt er sich nicht immer Illusionen hin, beispielsweise ob der Lebensumstände der favela-Bewohner: „Man hat das Summum an Primitivität gesehen, die niederste Form des Hausens und Lebens“ (B, S. 222). Doch der Europäer Zweig wagt die Feststellung, dass sich „die Neger hier tausendmal glücklicher als unser Proletariat in seinen Mietskasernen“ (B, S. 223) fühlten; und vollends absurd – angesichts der ständigen Verweise auf Humanität – gerät seine Hoffnung: „wenigstens eines dieser Sternchen [gemeint ist eine favela!, J. W.] im Mosaik sollte dem Stadtbild erhalten bleiben, weil es ein Stück menschlicher Natur darstellt inmitten der Zivilisation“ (B, S. 221). Zudem würden Fremde von den Bewohnern der „Sternchen“ wie „ein willkommener Gast und beinahe ein Freund“ empfangen, „mit blinkenden Zahnreihen lach[e] der Neger, der einem wassertragend begegnet, einem zu“ und generell erinnerten die Armenhütten keinesfalls an die bedrohlichen Zustände in einer „proletarische[n] Arbeitergegend in Europa“, im Gegenteil zeichne den Brasilianer eine „arglose Gutartigkeit“ und „Unfähigkeit zur Brutalität“ (B, S. 160f.) aus. Zweig bereist Brasilien paradoxerweise gerade nicht als kritischer Demokrat und Humanist, sondern als prominenter Tourist: So sorge „das Land, das die Todesstrafe nicht kennt […], für seine Verbrecher nach den durchdachtesten und neuesten Prinzipien“ und habe „das Problem der Strafanstalt […] im humansten Sinne angefaßt“ (B, S. 248). Die eigentümliche Faszination, der Stefan Zweig in Brasilien unterliegt, wird vielleicht am deutlichsten an einer Flasche mit dem tödlichen Gift von achtzigtausend Schlangen offenbar, die er auf einer Schlangenfarm in Händen hält und in der sich der Tod „[t]ausendfacher als in den riesigsten Granaten […] zusammengedrückt“ (B, S. 249) hat. Als etwas „Erschütterndes und zugleich Großartiges“ (B, S. 250) empfindet Zweig die kurzfristige Macht über diese ‚Büchse der Pandora‘ – die er freilich aber gerade nicht als ebensolche zu erkennen vermag –, und flugs deutet er sie, das Labor und die Schlangenfarm um in eine Allegorie der Macht des menschlichen Geistes: Alle die Apparate dieses Laboratoriums wurden mir mit einem Mal zu Kräften, die der Natur das Gefährlichste wie im Spiel entwinden, um es nun in einem neuen, einem eigenen schöpferischen Sinn der Natur zu nützen, und mit Ehrfurcht sah ich plötzlich auf dies kleine Haus, das vom Wind umflogen einsam in der Grüne eines Hügels ruht, umfaßt von Natur und sie doch noch gewaltiger umfassend durch den menschlichen, unermüdlichen Geist. (B, S. 250)
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Exakt diese Möglichkeit des menschlichen Geistes, schöpferisch-human tätig zu werden, fasziniert Zweig: Die tödliche Bedrohung des Giftes wird allein zur nutzbringenden Gabe verklärt, so wie die in Europa für Krieg und Vernichtung eingesetzte Geisteskraft des Menschen sich für ihn in Brasilien verkehrt in die bestmögliche aller Zivilisationen. Dementsprechend versteht er das Land als eine neue Zivilisation, die „all das, was bei uns die edelsten geistigen Generationen vergeblich gewünscht und erträumt, noch einmal zur Wirklichkeit gestalten: eine humane und friedliche Kultur“ (B, S. 186). Die außerordentliche und gleichsam europäische Qualität der neuen Zivilisation verdeutlicht Zweig, indem er analogisierend Städtenamen reiht: Sowohl an Marseille als auch an Nizza, Paris, Wien, Berlin, London, Neapel, Barcelona, Rom oder New York fühle man sich in Rio erinnert (vgl. u. a. B, S. 203; 211): „Man ist zugleich überall und weiß doch an jenem einzigartigen Zusammenklang: man ist in Rio.“ (B, S. 213). Demgegenüber habe Europa mehr Tradition und Vergangenheit, aber in jedem Fall weniger Zukunft (vgl. B, S. 185). Zweig funktionalisiert nicht nur die besiedelte, sondern auch die immense unbewohnte Fläche24 Brasiliens und verbindet sie mit der Zeit und Zukunft des Landes, wenn er konstatiert: „wo Raum ist, da ist nicht nur Zeit, sondern auch Zukunft“ (B, S. 150). Summa summarum besitze Brasilien Ordnung, Sittsamkeit, Natur, Humanität, Geist, Frieden, Kultur und Zukunft. Zweigs Brasilien ist zweifellos ein anderer Raum, ein Gegenraum – mit der zentralen Schwäche, dass dieses Brasilien eben nur das Brasilien Stefan Zweigs und keines der Realität ist. IV. Für die weiteren Überlegungen erscheint mir relevant, dass Michail Bachtin die literarische Verbindung der Kategorien Zeit und Raum mit einer Qualität als Chronotopos bezeichnet: „Wir verstehen den Chronotopos als eine Form-InhaltKategorie der Literatur“.25 Im Folgenden werden Chronotopoi als ‚erzähltheoretische Kategorie‘ begriffen, die als „Organisationszentren der grundlegenden Sujetereignisse“26 den Inhalt des Textes maßgeblich steuern.27 Infolge der gegenseitigen Bezugnahme der räumlichen und zeitlichen Aspekte verdichtet sich die dargestellte Zeit, der Raum gewinnt Intensität und beide Aspekte versehen 24 Die scheinbare Grenzenlosigkeit betrachtet Zweig als Potential – und darin folgt er den Diskursen seiner Zeit: Während Brasilien noch „an einer Anämie, an einem Zuwenig an Menschen in einem zu großen Raum“ leide, „leidet Europa an einem Überschuß von Menschen und zu wenig Raum“ (B, S. 146). 25 Michail Bachtin: Chronotopos, Frankfurt a. M. 2008, S. 7. 26 Ebd., S. 187. 27 Vgl. die Ausführungen von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke zur erzähltheoretischen und weiteren Kategorien des Chronotopos in deren Nachwort, in: Bachtin [Anm. 25], S. 201–242, hier S. 205f.
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einander gegenseitig mit Bedeutung: „Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert.“28 Zweigs Idealisierung der brasilianischen Zukunft und Gegenwart lässt sich mit dem Chronotopos der „Idylle“ beschreiben. Unter Idylle wird die „Veranschaulichung der Idee des guten Lebens und der heilen Welt im begrenzten Ausschnitt kleiner, friedlicher und harmonischer Szenen“ verstanden, die den „vertraute[n] Umgang einfacher, genügsamer und unschuldiger Menschen sowohl untereinander als auch mit einer freundlichen, Geborgenheit und Nahrung spendenden Natur“29 ausgestaltet. So seien Idyllen je nach Lesart entweder „Ausdruck[] regressiver und eskapistischer Wünsche“ oder eines „kritischen Gegenbildes defizienter Wirklichkeit“.30 Für Stefan Zweig war Brasilien wahrscheinlich beides: Weltflucht und Gegenwelt zugleich. Indem Zweig Raum und Zeit in „Das alte Rio“ im „Spazieren durch die Stadt“ oder in „Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind“ immer wieder neu und vor dem Hintergrund ‚idyllischer‘ Momente in Beziehung zueinander setzt, konstruiert er sein Brasilien als Idylle: Zunächst wird der Raum als ‚Kraft‘ erfahren, und der Begriff betrifft neben der Materie auch die Seele: Brasilien nun habe „in sich allein so viel Raum […] wie die ganze alte Welt“ (vgl. B, S. 149). ‚Materiell‘ sei Brasilien nicht nur ein riesiges Land, sondern die potentielle Wirtschaftsleistung könne erst erahnt werden.31 ‚Seelisch‘ sei der Raum so riesig, weil die brasilianische Kultur sehr jung sei, es „keine prähistorische brasilianische Dichtung, keine urbrasilianische Religion, keine altbrasilianische Musik“ usw. gebe und demzufolge die lokale Frühgeschichte „in den brasilianischen Museen eine völlig leere Ecke“ (B, S. 154) bleibe. Eine für die Idylle typische „Dominanz der räumlichen Dimension bei statischer oder zyklischer Gestaltung der Zeitabläufe“32 ist über den ganzen Text hinweg immer wieder gegeben: Brasilien ist ein Land der Natur und der bisher nicht erfolgten Entwicklung. Ganz im Gegensatz zur Zukunftsorientierung des Landes, die insbesondere in den ersten drei Kapiteln „Geschichte“, „Wirtschaft“, „Blick auf die brasilianische Kultur“ sowie dem „Blick auf Sao Paulo“ maßgeblich scheint, strukturiert Zweig andere Teile des Bändchens nach den verschiedenen Facetten einer Idylle: Die „Einfahrt“ mit dem Schiff, „Das alte Rio“, das „Spazieren durch die Stadt“, aber auch die „Gärten, Berge und Inseln“, der „Sommer in Rio“ etc. präsentieren Brasilien als Land, dessen Natur und Zivilisation miteinander in Einklang stehen und in dem die Natur „Geborgenheit“33 zu spenden vermag. Eindringliche Harmonie präge und vereine etwa in Rio de Janeiro Natur- und Ebd., S. 7. Historisches Handwörterbuch der Rhetorik, hg. v. Gert Ueding, Bd. 4: Hu–K, Tübingen 1998, Sp. 183–202, hier Sp. 183. 30 Ebd. 31 Vgl. Zweigs Kapitel „Wirtschaft“ (B, S. 92–150). 32 Historisches Handwörterbuch der Rhetorik [Anm. 29], Sp. 183. 33 Ebd. 28 29
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Kulturraum: „Da ist Grün in allen Farben, Urwald bis knapp heran an die Stadt mit wuchernden Lianen und undurchdringlichem Dickicht […]. Überall ist die Natur eine überschwengliche und doch harmonische, und inmitten der Natur die Stadt selbst, ein steinerner Wald, mit ihren Wolkenkratzern und kleinen Palästen“ (B, S. 188). Dieser städtische Raum verbinde Kunstwerk und Menschen über die Vergangenheit (vgl. das Kapitel „Das alte Rio“) und ermögliche ein Dasein voll natürlicher „Gutartigkeit“ (B, S. 157), in der die Familie „noch der Sinn des Lebens und das eigentliche Kraftzentrum, vom dem alles ausgeht und zu dem alles zurückführt“ (B, S. 171), sei und grundsätzlich das „Leben an sich […] wichtiger als die Zeit“ (B, S. 164). Demzufolge sei Brasilien ein Land der Freiheit, die der Zuckerhut repräsentiere „mit seiner steilen Plötzlichkeit […] wie die Freiheitsstatue in New York, als das uralte und unverrückbare Symbol dieser Stadt“ (B, S. 193), deren Menschen sich ohne Vorbehalte, Feindseligkeit oder Mißtrauen frei und heiter vermischten (vgl. B, S. 219f.). Im Gegensatz zum „männlichen, heroischen Gruß“ der modernen Metropole New York biete Rio – das hier als pars pro toto für Brasilien zu verstehen ist – weitaus sanftere Geborgenheit:34 „es breitet sich auf mit weichen, weiblichen Armen, es empfängt in einer weit ausgespannten zärtlichen Umarmung […], es gibt sich mit einer gewissen Wollust dem Blicke hin“ (B, S. 195). Das Bild der weiblichen Stadt metaphorisiert die lebendige Einheit im Bündnis des städtischen Raums mit der Natur. Gerade diese räumliche Verbindung mache die Idylle Brasilien aus. Der „Zauber ist nicht die Architektur, die Struktur, sondern gerade das Gegenteil, das lebendige Durcheinander, das Zufällige“ (B, S. 214). Sogar das Urvertrauen der Menschen in die Wirtschaftskreisläufe sei noch vorhanden: Auch bei den Brasilianern selbst äußere sich der in Europa von der Vernunft längst kontrollierte unerschütterliche Glaube an Fortuna: „Das Lotto ist in Brasilien eine der wenigen sichtbaren Leidenschaften dieses äußerlich so stillen Volkes […]. Ununterbrochen dreht sich das Glücksrad, jeden Tag ist neue Ziehung.“ (B, S. 165) Das Vertrauen der Menschen in ihr zukünftiges Glück mache Südamerika zu einem nach Fortschritt drängenden, mit „Vehemenz aufstrebenden Kontinent“ (B, S. 204), in dem Zeit und Raum „ein anderes dynamisches Maß“ (B, S. 204) besäßen. So lässt sich durchaus die These aufstellen, dass Zweig gerade aus der Idylle Brasilien die Zukunftsfähigkeit erwachsen lässt. Der Chronotopos der „Idylle“ intensiviert die wechselseitigen Bezüge von Zeit und Raum auf drei Ebenen: Erstens statische Zeit. In Brasilien könne gemächliche Bewegung wiedergefunden werden: das „Schlendern, wandern und entdecken“ (B, S. 217), die Ruhe in der Natur, wenn das Meer still liegt (vgl. B, S. 227), und der Genuss, wenn man am „Strand – freilich nicht zu hastig – dahinzuschlendern“ (B, S. 236) vermag. Dementsprechend bieten kleine Eilande 34 Als wirtschaftliches, wohl auch männlicheres, fortschrittliches „Muskelzentrum“ (B, S. 242) dieses gesunden (Staats-)Organismus figuriert hingegen São Paulo.
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mit „herrlich tropischer Natur jenseits der Zeit und der Zeiten“ zumindest zeitweise langersehnte Ruhe und „Einsamkeit, Trosteinsamkeit“ (B, S. 231f.). Zweitens relative Zeit. Dem Text zufolge kann man in den ländlichen Weiten Brasiliens – immerhin laut Zweig eine der entscheidenden Quellen der großen Zukunft – „aus der Zukunft in die Vergangenheit reisen, aus dem Morgen wieder zurück in das Gestern“ (B, S. 269), mit der Folge, dass „[h]undert Jahre, zweihundert Jahre […] hier nicht mehr als ein Tag“ (B, S. 271f.) zu sein scheinen. Selbiges gelte für den städtischen Raum: „In den kleinen, engen Straßen von Rio herumzustreichen heißt zurückwandern in der Zeit.“ (B, S. 214) Diese Relativität oder Statik von Zeit und Raum wird direkt mit den Qualitäten des Landes verbunden. So sei die Verbindung von Stadt- und Naturraum derart eng, dass man das Gefühl für den Raum verliere: „Schon beginnt man zu vergessen, dass man doch nur einen einstündigen Ausflug innerhalb der Stadtgrenze unternommen, und man hat das Gefühl, sich in dieser Zeit um Meilen und Meilen entfernt zu haben.“ (B, S. 212) Zyklik, Statik und Relativität der Zeit – oder um mit Bachtin zu sprechen, die „aus der Einheit des Ortes resultierende Abschwächung aller Zeitgrenzen“35 – sind typische Merkmale von Idyllen. Interessant scheint mir aber insbesondere der letzte Punkt: Drittens beschleunigte Zeit.36 Eigentümlicherweise grenzt Zweig Rio und São Paulo räumlich streng ab „vom gräßlichen Schachbrettideal der modernen Geschwindigkeitsstädte“ (B, S. 220). Gleichzeitig konstatiert er, im fortschrittlichen São Paulo habe der Tag „doppelt soviel Stunden wie in Rio und die Stunde doppelt soviel Minuten, weil jede Tätigkeit bis an den Rand vollgepreßt ist“ (B, S. 246). Aus dem Mehr an Zeit und Inhalt folge auch eine höhere Geschwindigkeit und Bewegung: Das „Vorwärtstempo“ (B, S. 241) insbesondere im industrielleren São Paulo nehme zu, das stellvertretend für ganz Brasilien einer „typischen Entwicklungsstadt“ gleicht, in der „das Werdende und nicht das schon Vollendete“ (B, S. 245.) Priorität genieße. Alles in allem sei São Paulo ein einziges ‚architektonisches Provisorium‘. Dieses sei trotz seines Vorwärtstempos gerade nicht Repräsentant eines (europäischen) Chaos, sondern gestalte als Gegenteil des europäischen Schachbrettideals Natürlichkeit: Letztlich bestimmt der Raum die Idylle und nicht die Zeit. Weil Zweig den Fortschritt Brasiliens selbst als These benötigt, stellt er ihn vor und verklärt ihn in seinem Chaos zugleich: Auch das Fortschrittschaos São Paulos oder die favela-„Sternchen“ Rios müssen idyllisch sein können, um Zweigs Brasilienbild nicht zu gefährden.37
Bachtin [Anm. 25], S. 161. Zum Begriff der Beschleunigung vor allem seit der Moderne vergleiche die einschlägige Studie von Hartmut Rosa: Beschleunigung, Frankfurt a. M. 2005, insbesondere S. 71–88. 37 Vgl. Historisches Handwörterbuch der Rhetorik [Anm. 29], Sp. 183: „besonders akzentuiert ist […] die Dominanz der räumlichen Dimension“. 35 36
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V. Für die abschließenden Überlegungen erscheint maßgeblich, dass der Chronotopos „die künstlerische Einheit des literarischen Werkes in dessen Verhältnis zur realen Wirklichkeit“ bestimmt.38 Hier liegt vielleicht auch das Kerninteresse Zweigs, der einen beschreibbaren Raum benötigte, den er ‚gegen Europa‘ stellen und der als heterotoper Gegenraum das gegenwärtige Europa in Zweigs Wahrnehmung zeitweise stabilisieren konnte: Dieser Raum musste erstens ein zukünftiger sein, der ein Weiterleben ermöglicht, zweitens ein wirklicher sein, der sich in der Realität gegen Europa stellen lässt, und drittens ein guter, der Leben lebenswert macht. Dementsprechend wird Brasilien emotional wie normativ zu einer Zivilisation der Zukunft, zu einer Heterotopie, zu einem idyllischen Gegenraum verherrlicht. Die Beschreibungen des Landes erweisen sich als ein Konglomerat an disparaten, teils widersprüchlichen Beobachtungen, die vor allem eine Funktion besitzen: das untergehende Europa zu kompensieren. Vor diesem Hintergrund bietet die typisch-idyllische statische Zeit Brasiliens Ruhe vor dem ‚europäischen Sturm‘, ermöglicht die relative Zeit eine Rückkehr in die Vergangenheit, wie sie Zweig zuvor in „Die Welt von Gestern“ emphatisch zumindest als Schriftsteller zu vollführen suchte, und eröffnet die beschleunigte Zeit notwendige Zukunftsperspektiven. In der Folge der Zuschreibung dieser Qualitäten an das reale Land Brasilien verheddert sich Zweig mit seiner Textkonstruktion zwischen den Kategorien von Sachtext und Literatur: Narratologisch betrachtet schreibt Zweig einen defizitär faktualen Text. Das, was ihm in seinen zahlreichen Biographien immer wieder ausgezeichnet gelingt, nämlich die Sinngebung, muss hier fehlschlagen: Brasilien wird von Zweig als beschreibbarer Raum aufgefasst und somit zum fiktionalen poetischen Raum – freilich ohne den faktualen Anspruch preiszugeben.39 Dieser Versuch, die Realität zum Ideal zu verklären, muss aber ästhetisch misslingen: Die Idylle, wie Zweig sie zeichnet, ist nirgendwo, schon gar nicht im Brasilien der Vargas-Diktatur realisiert, und dementsprechend wird er sich nicht dauerhaft mit seinem Exilort abfinden können.40 So liest sich der Text als einseitige und klischierte Konstruktion einer schönen, neuen Welt. Bezieht man diesen Befund zurück auf den Exilschriftsteller Stefan Zweig, so muss man konstatieren: In Wahrheit hat Zweig die schöne, neue Welt Brasilien gar nicht betreten, wie er 1936 noch frohgemut angekündigt hatte, und ist nie aus
Bachtin [Anm. 25], S. 180. Vgl. Matías Martínez / Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, München 1999, S. 9–19. Desweiteren vgl. die grundlegende Auseinandersetzung mit faktualem Erzählen bei: Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, hg. v. Christian Klein u. Matías Martínez, Stuttgart 2009. 40 Vgl. Dines [Anm. 15], S. 623. 38 39
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Europa verschwunden,41 sondern sitzt eigentlich noch immer in Vigo und betrachtet schockiert die zutiefst inhumanen Revolutionen und Umwälzungen in Europa (die mittlerweile die Welt in Brand gesetzt haben, zunehmend näher rücken und Zweig verstören42) infolge der nazistischen Ideologie und dem von den Nazis beschworenen Krieg. „Brasilien. Ein Land der Zukunft“ ist ein Dokument der Verzweiflung.
41 In diesem Zusammenhang wird auch anschaulich, warum, wie Klemens Renoldner erwähnt, immer „wieder in den Briefen auch die Rede von dem Wunsch, nach Europa zurückzukehren“ ist (Klemens Renoldner: „Der Sieg der Gewalt macht mich heimatlos“. Stefan Zweigs Abschied von Europa, in: Stefan Zweig – Abschied von Europa, hg. v. Klemens Renoldner, Wien 2014, S. 7–15, hier S. 12). 42 Vgl. Dines [Anm. 15], S. 501–582 sowie insbesondere S. 566–568.
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Klaus Mann „The Turning Point“ (1942) und „Der Wendepunkt“ (1952) In der deutschen Exilliteratur firmiert die Autobiographie unter den dominanten Gattungen. Der Ereignisreichtum der Zeit, das Bewusstsein historischer Zeugenschaft und die exzeptionellen, maßgeblich von Verlusterfahrungen geprägten Lebensläufe drängten offenkundig zur literarischen Verarbeitung und Selbstbespiegelung. Helmut Koopmann vertrat die plausible These, dass „Autobiographien im Exil […] in erster Linie […] Versuche zur Identitätssicherung“1 gewesen seien. Die Rekonstruktion der eigenen Identität und die mitunter verklärende ‚Heimkehr‘ in die scheinbar sichere ‚Welt von Gestern‘ konnten einen Fluchtraum in Aussicht stellen, der vor der Infragestellung des Ich inmitten des existenzbedrohenden Exils Schutz gewährte.2 Es gilt allerdings einzuschränken, dass sich Exilautobiographien oftmals gerade durch die Erfahrung des Bruchs, der Diskontinuität und historischen Zäsur auszeichnen.3 Die persönliche Sinnstiftung nach klassischem Muster bleibt häufig aus, weil die harmonische Entwicklung, Integration und Akkulturation des (exilierten) Individuums durch die Zeitereignisse massiv gestört oder verhindert wird. Für Klaus Mann, einem der aktivsten und prägendsten Schriftsteller einer littérature engagée im Exil, zog die Exilierung am 13. März 1933 neben dem biographischen Bruch auch einen ‚Wendepunkt‘ innerhalb seines Schaffens nach sich. Mit unermüdlichem Eifer suchte er die politisch äußerst heterogene Exilgemeinde zu einen und dem ‚anderen Deutschland‘ in den von ihm herausgegebenen Zeitschriften „Die Sammlung“ und „Decision“ eine Stimme zu geben. Immer wieder machte er die NS-‚Barbarei‘ und die Fährnisse des Exils zum Thema seiner scharfsichtigen Essays, Reden und Romane. In „The Turning Point. Thirty-Five Years in this Century“ und dessen umgearbeiteter sowie bedeutend erweiterter deutschen Neufassung „Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht“ legte er schließlich umfassend Zeugnis ab von der Geschichte eines Schriftstellers, dessen primäre Interessen in der ästhetisch-religiös-erotischen Sphäre liegen, der aber unter dem Druck
1 Helmut Koopmann: Autobiographien des Exils, in: Autobiographien als Zeitzeugen, hg. v. Manfred Misch, Tübingen 2001, S. 117–137, hier S. 120. 2 Vgl. ebd., S. 124f. 3 Vgl. Wolfgang Müller-Funk: Das Exil ist eine Krankheit. Autobiographien als ein Mittel sich zu behaupten, in: Merkur 36 (1982), S. 1231–1236, hier S. 1233.
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der Verhältnisse zu einer politisch verantwortungsbewußten, sogar kämpferischen Position gelangt …4 Ungeachtet seines mittlerweile kanonischen Status wird der „Wendepunkt“ fast ausnahmslos als Musterbeispiel einer konventionellen Autobiographik beurteilt.5 In der Tat entsprechen die ersten zehn bzw. elf Kapitel in Erzählperspektive, Erzählchronologie und Spiegelung der Zeitverhältnisse weitgehend dem traditionellen Gattungsparadigma. Den Nachweis, inwiefern es sich im Kontext einer Poetik des Exils gleichwohl um eine moderne Autobiographie handeln könnte, ist die Forschung bislang größtenteils schuldig geblieben, wie überhaupt die differenzierte Untersuchung der Exilautobiographik unter formalästhetischen Gesichtspunkten ein Forschungsdesiderat darstellt.6 Bis in die jüngste Zeit gibt es Stimmen, die den Texten zwar einen existentiellen Wert zubilligen, ihnen jedoch ästhetische Innovation dezidiert absprechen,7 auch wenn zuletzt Gegenpositionen bezogen wurden.8 Hieran anschließend soll der „Wendepunkt“ als bedeutendes Beispiel moderner Autobiographik im Exil verortet und mithin für die Revision des verbreiteten Bildes von einer ästhetisch starren Exilautobiographik plädiert werden. I. Selbstreferentialität und Problematisierung des Erinnerungsakts Die selbstreferentielle Thematisierung des autobiographischen Produktionsprozesses und die metafiktionale Auseinandersetzung mit den Chancen und Gefahren des Erinnerungsakts sind für moderne Texte der Gattung konstitutiv.9 Auch im „Wendepunkt“ ist die kritische, bisweilen explizit skeptische Reflexion des Autobiographen über seine Vorgehensweise und sein persönliches Erinnerungsvermögen dingfest zu machen:
4 Klaus Mann: Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht. Mit Textvarianten und Entwürfen im Anhang, hg. v. Fredric Kroll, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 581. 5 Vgl. Fredric Kroll: Nachwort, in: ebd., S. 859–883, hier S. 860; Wolfgang Paulsen: Das Ich im Spiegel der Sprache. Autobiographisches Schreiben in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, Tübingen 1991, S. 62; Michaela Holdenried: Autobiographie, Stuttgart 2000, S. 236. 6 Vgl. Wulf Koepke: Die Selbstdarstellung des Exils und die Exilforschung. Ein Rückblick, in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 23 (2005), S. 13–29, hier S. 14 u. 28. 7 Vgl. ebd., S. 17; Erich Kleinschmidt: Schreiben und Leben. Zur Ästhetik des Autobiographischen in der deutschen Exilliteratur, in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 2 (1984), S. 24–40, hier S. 25. 8 Vgl. Carola Hilmes: Auf verlorenem Posten: Die autobiographische Literatur, in: Nationalsozialismus und Exil 1933–1945, hg. v. Wilhelm Haefs, München 2009, S. 417–445, hier S. 438f. 9 Vgl. dies.: Moderne europäische Autobiographie, in: Die literarische Moderne in Europa, hg. v. Hans Joachim Piechotta, Ralph-Rainer Wuthenow u. Sabine Rothemann, Opladen 1994, Bd. 3, S. 370–392, hier S. 376.
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Erinnerungen sind aus wundersamem Stoff gemacht – trügerisch und dennoch zwingend, mächtig und schattenhaft. Es ist kein Verlaß auf die Erinnerung, und dennoch gibt es keine Wirklichkeit außer der, die wir im Gedächtnis tragen. Jeder Augenblick, den wir durchleben, verdankt dem vorangegangenen seinen Sinn. Gegenwart und Zukunft würden wesenlos, wenn die Spur des Vergangenen aus unserem Bewußtsein gelöscht wäre. Zwischen uns und dem Nichts steht unser Er innerungsvermögen, ein allerdings etwas problematisches und fra giles Bollwerk.10 So wie Klaus Mann eingesteht, dass auf die Erinnerung kein Verlass sei, legt er die unsichere Beschaffenheit seiner Lebensbeschreibung bloß. Er erliegt nicht der Illusion, seinen Lebensweg wahrheitsgetreu und objektiv wiedergeben zu können, sondern variiert vielmehr den Gedanken aus Marcel Prousts „A la recherche du temps perdu“, der dem ersten Kapitel als Motto vorangestellt ist: „La réalité ne se forme que dans la mémoire.“11 Mit anderen Worten konstituiert erst das erzählende Ich im Rückgriff auf sein Gedächtnis, in einem nachträglichen Ordnungs-, Filterungs- und Konstruktionsprozess, eine zweite Wirklichkeit, die zwangsläufig von der früheren, ‚tatsächlich‘ erlebten Wirklichkeit des erzählten Ich abweichen muss. Mann konzediert die Täuschungs- und Projektionsanfälligkeit sowie die genuine Unvollständigkeit jeglichen Erinnerungsbemühens. Als exiltypisch erscheint die enge Verwobenheit des Erinnerungsakts mit der omnipräsenten Sehnsucht nach der verlorenen Heimat: Oder täuscht mich die Erinnerung? Was ich jetzt für mein Erlebnis halte, gehört vielleicht in Wirklichkeit meinem jüngeren Bruder Golo. […] Es gibt kein Glück, wo Erinnerung ist. Sich der Dinge erinnern, bedeutet, sich nach der Vergangenheit sehnen. Unser Heimweh beginnt mit unserem Bewußtsein.12 Erinnerungen und erst recht der Akt ihrer Verschriftlichung sind an einen vorgängigen Selektionsprozess geknüpft. Der Autobiograph schöpft aus dem Fundus seines Gedächtnisses und wählt die für ihn relevanten Erinnerungen aus: „Eine Autobiographie ist notwendig fragmentarisch; unter den unzähligen Erfahrungen, aus denen ein Menschenleben sich zusammensetzt, hat der Autor diejenigen auszuwählen, die von mehr als nur persönlicher Relevanz und Gültigkeit sind.“13
Mann [Anm. 4], S. 25. Ebd. 12 Ebd., S. 26f. 13 Ebd., S. 128. 10 11
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Von einer autobiographischen Serie(alität) als „assoziative[r] Abfolge von Bildern, Träumen, Erinnerungssequenzen“,14 wie sie etwa Walter Benjamin in seiner „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“ realisiert hat, kann im „Wendepunkt“ zwar keine Rede sein. Textuelle Fragmentarität als formales Abbild der Lebenswelt eines exilierten Schriftstellers im 20. Jahrhundert hat gleichwohl Eingang in den Text gefunden. II. Fiktionalisierung, Fragmentarität, Hybridität Das die Jahre 1940 bis 1942 behandelnde vorletzte Kapitel des „Wendepunkts“ (bzw. das letzte des „Turning Points“) vollzieht einen formalen Bruch. An die Stelle der rückblickenden Narration treten Notate des Augenblicks. Das Erzähltempus wechselt vom Präteritum zum Präsens. Der Erzähler geht zur Tagebuchform über. Anstatt jedoch aus ‚meinem‘ bzw. ‚seinem‘ Tagebuch zu berichten, folgen explizit Einträge „[a]us einem Tagebuch“.15 Die Notate sind denn auch keineswegs eins zu eins den Originaltagebüchern Klaus Manns entnommen, sondern stilistisch hochgradig frisiert und stellenweise fiktional, worauf in der Forschung hingewiesen wurde.16 Auffällig ist die rhetorische Ausschmückung und Erweiterung der Einträge: Durch die thematische Bündelung entbehrt der „Wendepunkt“ der Namensreihungen und des zeitweiligen Telegrammstils des Originals. Die Satzkonstruktionen sind komplexer, die Sätze meist länger. Der rhetorische Gestus offenbart sich vollends bei den Eintragungen vom 24. bis 27. Oktober 1942, in denen Mann viermal einen „Todeswunsch“ wiederholt.17 Da diese Eintragungen fingiert sind, kann der isotopisch-anaphorischen Todeswunsch-Artikulation nur ein wirkungsästhetischer Zweck zugrunde gelegen haben. Bereits in seiner ersten Autobiographie „Kind dieser Zeit“ (1932) entlarvte sich Mann diesbezüglich als Poseur: An den Tag von Kurt Eisners Ermordung durch den Grafen Arco erinnere ich mich ziemlich genau, da brauch ich mich nicht nur auf das Tagebuch zu verlassen. Dort versichere ich, daß ich um Eisner „weinte“,
Holdenried [Anm. 5], S. 49. Mann [Anm. 4], S. 543. 16 Vgl. Gert Oberembt: Aus Wiederholungen den Wendepunkt erdacht. Anmerkungen zu Klaus Manns Tagebüchern, in: Forum Homosexualität und Literatur 15 (1992), S. 51–68, hier S. 51; Susanne Utsch: Fiktionalisierte Vita. Das autobiographische Gedächtnis Klaus Manns in The Turning Point (1942) und Der Wendepunkt (1949), in: Auf der Suche nach einem Weg. Neue Forschungen zu Leben und Werk Klaus Manns, hg. v. Wiebke Amthor u. Irmela von der Lühe, Frankfurt a. M. 2008, S. 61–79. 17 Mann [Anm. 4], S. 601. 14 15
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aber davon stimmte kein Wort, es war glatt erfunden, der reizvollen Pose wegen.18 Eine Autobiographie soll nach traditionellem Verständnis dem Anspruch genügen, „historische Realität wiederzugeben“.19 Bereits für klassische Referenztexte wie Goethes „Dichtung und Wahrheit“ galt allerdings die Einsicht in die Unerfüllbarkeit des Vorhabens, das eigene Leben gänzlich ‚ungeschminkt‘ wiederzugeben. ‚Auto-bio-graphie‘ bedeutete angesichts des subjektiven interpretatorischen Zugriffs und des Akts der Versprachlichung immer schon und immer auch: die literarisierte Geschichte eines Einzelnen. Um dieses Dilemma zu lösen, wird seit alters auf den Topos der Wahrhaftigkeit zurückgegriffen, der zumindest ein „Wirklichkeitsbegehren“20 und damit die Versicherung des Verfassers anzeigt, seinen Lebensweg möglichst aufrichtig zu erzählen. Dem auch von Mann mehrfach beschworenen Topos wird angesichts der umdatierten, neu zusammengestellten und fingierten Tagebucheintragungen jedoch der Boden entzogen.21 Rein fiktionaler Charakter kommt den Eintragungen zwischen dem 28. Januar 1941 und dem 19. März 1942 zu, als Mann überhaupt kein Tagebuch führte. Scheinbar am 10. August 1942 fasst er den Entschluss, eine Autobiographie zu schreiben: Kann ein Roman ganz ernst, ganz aufrichtig sein? Vielleicht. Aber ich will keinen schreiben; nicht jetzt, nicht zu dieser Stunde. Ich bin müde aller literarischen Clichés und Tricks. Ich bin müde aller Masken, aller Verstellungskünste. Ist es die Kunst selbst, deren ich müde bin? Ich will nicht mehr lügen. Ich will nicht mehr spielen. Ich will bekennen.22 Ausgerechnet die verurteilten literarischen „Tricks“ wendet Mann aber an, wenn sich das vorgeblich Authentische als nicht minder konstruiert herausstellt. Die traditionelle Funktion des Tagebuchs als Mittel zur Selbstbehauptung und Seelenerforschung reicht als alleinige Erklärung für den abrupten Wechsel im Erzählgefüge nicht aus, dient die Autobiographie doch denselben Zwecken. Walter Jens versuchte die Tagebuchform als Zeichen nachlassender „Gestaltungskraft“ zu erklären und schrieb von „den rasch hingeworfenen Tagebuch-Notizen […] und den noch flüchtiger zusammengestellten Briefen“ der Schlusskapitel.23 Klaus Mann: Kind dieser Zeit, Reinbek bei Hamburg 2005, S. 89. Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, 2. Aufl., Stuttgart / Weimar 2005, S. 2. 20 Ebd., S. 8. 21 Der Eintrag vom 3. Juli 1940 im „Wendepunkt“ (S. 550) entspricht z. B. sinngemäß einem nachgetragenen Tagebuchnotat vom 8. Juli 1940. Vgl. Klaus Mann: Tagebücher, Bd. 5: 1940–1943, hg. v. Joachim Heimannsberg, Peter Laemmle u. Wilfried F. Schoeller, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 45f. 22 Mann [Anm. 4], S. 580. 23 Walter Jens: Klaus Manns „Der Wendepunkt“, in: Deutsche Lebensläufe in Autobiographien und Briefen, hg. v. Walter Jens u. Hans Thiersch, Frankfurt a. M. 1987, S. 233–250, hier S. 247 u. 235. 18 19
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Nun ist zwar nicht von der Hand zu weisen, dass Klaus Mann in den 1940er Jahren vermehrt über die Unlust und das Unvermögen zu schreiben klagte und seine dichterische Produktivität rückläufig war.24 Von flüchtigem Zusammenstellen oder Hinwerfen kann jedoch keine Rede sein, da er sowohl Tagebucheinträge als auch Briefe im Nachhinein stilistisch sorgfältig überarbeitet hat. Zudem belegt allein die mühevolle deutsche Neuschöpfung des „Turning Points“ seine enorme Schaffenskraft und den hohen Stellenwert, den der Text für den Autor offensichtlich besaß. Warum hätte er ihn durch Nachlässigkeiten gefährden sollen? Der formale Richtungswechsel ist in meinen Augen weder als Signum nachlassender Schaffenskraft noch als „Nichtbewältigung der Wirklichkeit“25 oder als unfreiwillige Formauflösung und „gescheiterte[] Synthese“26 zu beurteilen. Die Tagebuchform fungiert vielmehr als Mittel zur Erhöhung der Authentizität.27 Die mit exakten Daten, zuweilen mit weiter präzisierenden Angaben wie „[a]m gleichen Tag, später“28 versehenen Einträge vermitteln den Eindruck von Unmittelbarkeit und Faktizität. Sie heben nicht nur die Distanz zwischen erzählendem und erzähltem Ich auf, sondern reduzieren auch diejenige zwischen Autobiograph und Leser wesentlich. Das Miterleben schafft Authentizität, die wiederum auf Glaubwürdigkeit beruht, und der Autobiograph formuliert mehrmals ausdrücklich den Willen, der Leserschaft im Sinne einer confessio ein möglichst glaubwürdiges Bild seines Lebens vermitteln zu wollen. Einen prüfenden Blick lohnt der (fiktionale) Eintrag vom 29. Juni 1941: Hitlers Überfall auf die Sowjetunion ist ein Ereignis von so enormer Tragweite, daß ich es kaum zu kommentieren wage, nicht einmal in diesen persönlichen Notizen, geschweige denn öffentlich. Aber dies will ich doch heute aufschreiben: daß in meiner ersten, instinktiven Reaktion auf die ungeheure Neuigkeit das Gefühl der Erleichterung überwiegt.29 Die Aussage ist bare Ironie, stellt man in Rechnung, dass dieser Eintrag ausschließlich öffentlich und eben nie in privater Form verfasst wurde. Die Emphatisierung des intimen Charakters der Aufzeichnung musste dem Leser nachgerade den Eindruck ungeschönter Echtheit vermitteln. In einer Rezension zu Konrad Merz’
24 Vgl. Klaus Mann: Tagebücher, Bd. 6: 1944–1949, hg. v. Joachim Heimannsberg, Peter Laemmle u. Wilfried F. Schoeller, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 142, 169, 171f., 175. 25 Carmen Giese: Das Ich im literarischen Werk von Grete Weil und Klaus Mann. Zwei autobiographische Gesamtkonzepte, Frankfurt a. M. 1997, S. 129. 26 Axel Plathe: Klaus Mann und André Gide. Zur Wirkungsgeschichte französischer Literatur in Deutschland, Bonn 1987, S. 97. 27 Vgl. Utsch [Anm. 16], S. 62. 28 Mann [Anm. 4], S. 586. 29 Ebd., S. 576.
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Tagebuchroman „Ein Mensch fällt aus Deutschland“ gibt Mann womöglich einen versteckten Hinweis auf seine eigene Poetik: Der Bericht ist auf eine höchst geschickte Art […] aufgelöst in Briefe und Tagebuchstellen. Durch diese Direktheit der Mitteilung wird der rührende und bewegende Eindruck erhöht. Der Leser fühlt sich unmittelbar angeredet – heftig, laut und innig angerufen von einem jungen Menschen, der sein Herz ausschütten, seine Beobachtungen berichten, seine Sorgen, Hoffnungen und Sehnsüchte mitteilen will.30 Die Authentizitätserhöhung qua Fiktionalisierung mutet paradox an: Ausgerechnet fingierende Eingriffe, die die originalen Einträge bewusst manipulieren, erzeugen letztlich eine höhere Authentizität. Diese spannungsreiche Konstellation bildet aber gerade die Pointe, ja den innovativen Spin dieses Kapitels. Im Zuge des im 20. Jahrhundert einsetzenden Aufbrechens und Konterkarierens traditioneller Gattungstopoi wird autobiographisches Schreiben nun zunehmend als gezielte Konstruktion des Lebens im Akt der Verschriftlichung und nicht länger als Rekonstruktion desselben begriffen. Authentizität ist in modernen Texten wie dem „Wendepunkt“ mithin „keine Kategorie des dargestellten Lebens, sondern eine der Konstruktion, die sich vorwiegend als Rezeptionseindruck ergibt und als Erfolg von Vertextungsstrategien gelten muß“.31 Die Tagebuchform ermöglicht des Weiteren die adäquate Abbildung einer als formlos, fragmentiert und bedrohlich erfahrenen Wirklichkeit, deren Sinnzusammenhänge kassiert scheinen.32 Das Diarium vermag die Befindlichkeit des Exilanten und die brüchige, kontingente und ‚verkehrte‘ Welt, in der es keine von Kontinuität geprägten Lebensläufe mehr gibt, narrativ angemessener zu illustrieren als die geschlossene Form der klassischen Autobiographie. Die Volten des Exilalltags und die gesprengten biographischen Zusammenhänge finden im punktuell skizzierenden, augenblicksverhafteten, sich durch erzählerische Diskontinuität und den Quasi-Wegfall des Erinnerungsakts auszeichnenden Tagebuchstil ihre formale Entsprechung. Die der Autobiographie gewöhnlich eignende ‚synthetisierende‘ Komposition ist im Falle des „Wendepunkts“ allerdings in gleichem Maße für die Tagebuchform geltend zu machen, da die Notate doch ihrerseits in synthetischer Absicht verfasst sind.33 Die Erzählgegenwart des 30 Klaus Mann: „Ein Mensch fällt aus Deutschland“, in: ders.: Zahnärzte und Künstler. Aufsätze, Reden, Kritiken 1933–1936, hg. v. Uwe Naumann u. Michael Töteberg, Reinbek bei Hamburg 1993, S. 395–398, hier S. 397f. 31 Hans-Edwin Friedrich: Deformierte Lebensbilder. Erzählmodelle der Nachkriegsautobiographie (1945–1960), Tübingen 2000, S. 29. 32 Vgl. Ralph-Rainer Wuthenow: Moderne europäische Diaristik, in: Piechotta / Wuthenow / Rothemann [Anm. 9], S. 393–407, hier S. 396. 33 Vgl. Bernd Neumann: Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie, Frankfurt a. M. 1970, S. 47.
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Diaristen liegt bei deren Überarbeitung bereits Jahre zurück. Mit anderen Worten: Das Aufbrechen der Form suggeriert bewusst eine literarische Fragmentarität, die Ausdruck der Exilbefindlichkeit des Autors ist; sie kann aber deswegen mitnichten als unfreiwillige Formauflösung bewertet werden, da die fiktionalisierten Beiträge ja gerade von einem ausgeprägten Formwillen und einer kunstvollen Inszenierungsleistung des Verfassers zeugen. Halten wir fest, dass sich „Der Wendepunkt“ vor allem in den Schlusskapiteln offensichtlich von der konventionellen Autobiographik verabschiedet, indem er sowohl die für moderne Exponenten typische hybride Textgestalt annimmt als auch eine ambivalente „Doppelpoligkeit zwischen Fiktionalisierung und fortdauernder Beglaubigung“ 34 aufweist. Den Text deshalb als Autofiktion zu bezeichnen,35 scheint indes verfehlt, da Mann wiederholt auf den Wahrhaftigkeitscharakter seines ‚Lebensberichts‘ aufmerksam macht, wohingegen autofiktionale Texte von vornherein keinen Pakt mehr schließen, ihre Fiktionalität rundheraus offenlegen und ihre Konzeption als sprachliches Produkt inszenieren.36 „Der Wendepunkt“ erfüllt diese Kriterien nicht. So setzte Mann zwar unbestritten die Fiktionalisierung gezielt als narratives Mittel seiner Autobiographie ein: Nahezu alle Tagebucheinträge sind der Form nach ‚erfunden‘ bzw. fingiert. Inhaltlich aber bilden sie Kontraktionen und Ausschmückungen von tatsächlich Erlebtem. III. Ich-Dissoziation Bezieht sich das Wendepunkt-Motiv im „Turning Point“ noch in positiver Konnotation auf Manns Einzug in die Armee und die Erlangung der amerikanischen Staatsbürgerschaft, verweist es im „Wendepunkt“ schon auf die welthistorische Weggabelung nach dem Zweiten Weltkrieg.37 An beiden Wegscheiden hat der einzelne Mensch sich zu seiner privaten und gesellschaftspolitischen Verantwortung zu bekennen.38 In der Tat gilt Manns Augenmerk primär der Epoche, seinen Zeitgenossen und der Sorge um ein künftiges Europa. Aus der Konzeption des Textes spricht zunächst das klassische Bildungsschema des bürgerlichen Individuums, das nach Goethe bestimmt ist durch die gegebenen Zeitverhältnisse und diese, „wenn e[s] Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen
Holdenried [Anm. 5], S. 42. Vgl. Utsch [Anm. 16], S. 77–79. 36 Vgl. Claudia Gronemann, Postmoderne / Postkoloniale Konzepte der Autobiographie in der französischen und maghrebinischen Literatur. Autofiction – Nouvelle Autobiographie – Double Autobiographie – Aventure du texte, Hildesheim 2002, S. 46–50. 37 Vgl. Uwe Naumann: Mit den Waffen des Geistes: Klaus Mann im Zweiten Weltkrieg, in: Der Zweite Weltkrieg und die Exilanten. Eine literarische Antwort, hg. v. Helmut F. Pfanner, Bonn / Berlin 1991, S. 209–219, hier S. 217. 38 Vgl. Hilmes [Anm. 8], S. 436. 34 35
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Moritz Wagner
ab[]spiegelt“.39 Wenn Mann das Elternhaus, jugendliche Extravaganzen oder schriftstellerische Anfänge schildert, ist aber ebenso sehr die Geschichte seiner Persönlichkeit ablesbar. Nur funktionieren Selbstvergewisserung und Selbstbestätigung qua Eingedenken des eigenen Lebens nicht mehr ohne weiteres. Die tastenden Fragen eingangs des Textes deuten das veritable Misstrauen gegenüber dem Selbst an: Gibt es irgendeine Identität oder authentische Verwandtschaft zwischen meinem gegenwärtigen Ich und dem Knaben, dessen Lockenkopf ich von vergilbten Photographien kenne? Was wüßte ich von jenem goldhaarigen Kinde ohne die Andenken und Erzählungen, die vom kollektiven Familien-Gedächtnis […] überliefert werden? […] Wer ist der Knabe, den ich im Dämmerlicht jenes Salons wiedererkenne? Ist es der, der die seidenen Locken trug? Oder ist es schon sein „alternder“ Bruder, der sehnsüchtig auf eine Lieblichkeit schaut, die einmal die seine war? Erinnere ich mich der Locken oder nur der Erinnerung, die sie im Gemüt des lockenlosen Kindes zurückließen?40 In dieser Passage klingt das spannungsreiche Verhältnis zwischen dem zurückblickenden, erinnernden Ich und dem davon zeitlich wie räumlich differenten erinnerten Ich an. Der erwachsene Schriftsteller zieht eine Identität mit seinem Kindheits-Ich in Zweifel, zumal es in der Hauptsache das Familiengedächtnis und Photographien seien, die an jenen Knaben erinnerten. Die eigenen Erinnerungen unterliegen offensichtlich der nicht unbeträchtlichen Einflussnahme externer Beglaubigungen und Deutungsansprüche und sind solchermaßen manipuliert. Mit dem gedächtnistheoretischen Konzept Harald Welzers, demgemäß die memoria in die Paradigmen des subjektiv gefärbten, unzuverlässigen ‚Albums‘ und des wissensbasierten, durch die Historiker abgesicherten ‚Lexikons‘ zerfällt, könnte man sagen, dass Klaus Mann nur noch Zugriff auf das ‚Album‘, nicht aber auf ein ‚lexikalisches‘ Wissen hat, das Aufschluss über die Art der authentischen Verwandtschaft zwischen Vergangenheit und Gegenwart gäbe.41 Der Distanz zum früheren Ich trägt der zurückblickende Autobiograph in zweifacher Weise Rechnung: Er platziert den Knaben Klaus im Kapitel „Mythen der Kindheit“ in den Kontext einer Mythenwelt, der gleichsam die Entrücktheit eingeschrieben ist, und minimiert die Ich-Erzählhaltung beinahe auf das erinnernde Ich, wohingegen das erinnerte Ich die Erzählbühne oftmals entweder in der dritten 39 Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, in: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hg. v. Erich Trunz, Bd. 9: Autobiographische Schriften I, 11. Aufl., München 1989, S. 9. 40 Mann [Anm. 4], S. 25f. 41 Vgl. Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall: Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, 7. Aufl., Frankfurt a. M. 2010, S. 10.
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Person Singular oder in der ersten Person Plural, im kollektiven ‚uns‘ betritt. Erst im zweiten Kapitel scheint das Ich grammatikalisch gefestigt. Obwohl der Text zweifellos einen autobiographischen Pakt anbietet und über weite Strecken mit dem gattungstypischen Ich operiert, in dem Autor, Erzähler und Protagonist in eins fallen,42 wird man kaum in Abrede stellen können, dass im „Wendepunkt“ die ‚Krise des modernen Subjekts‘ zutage tritt, da autobiographische Sinnstiftung und abrundende Lebenssynthese zusehends misslingen und „die Instanz des Ich zur Disposition“ steht.43 An die Stelle vom Topos des Lebenswegs, der die kontinuierliche Entwicklung eines Menschen zum fertigen Individuum suggeriert, tritt vermehrt ein hybrides Ich, dessen prozessualer Charakter von einer namentlich für Exilautobiographien paradigmatischen, tiefgreifenden Identitätsproblematik kündet.44 Die Entlassung aus der Armee, der nicht vorhandene Markt für ‚Emigrantenliteratur‘ in Nachkriegsdeutschland und scheiternde Projekte des Autors stellen eine erfolgreiche Integration des Individuums in die Gesellschaft mehr denn je in Frage. „Jede Lebensstufe ist variierte Repetition der vorangegangenen“,45 schreibt Klaus Mann, der bekanntlich im Mai 1949 in einem Hotelzimmer in Cannes Suizid beging. Am Ende der Autobiographie steht „ein Fragezeichen“.46 Die Abstandsmarkierungen zwischen Erzählsubjekt und -objekt und die Vermeidung des Ich im Eingangskapitel, die biographische Sinnvakanz, die Identitätszweifel in den selbstreflexiven Infragestellungen des Ich und nicht zuletzt der Formwechsel in den Schlusskapiteln vollziehen die Desintegration und Brüchigkeit des Exilanten schließlich auf der formalen Ebene nach. Gerade im Tagebuch wird dem Augenblick und damit der Momentaufnahme des Ich Priorität eingeräumt: „Zusammenhängendes Erzählen, der Entwurf des ganzen Lebens, zerfällt in unterschiedliche Portraits.“47 Das Paradigma der modernen, tendenziell fragmentarischen und gegenüber dem Projekt einer nachgeholten Identitätsbildung skeptischen Autobiographie wird sozusagen auf die syntagmatische Achse des „Wendepunkts“ projiziert. So mag das Ich scheitern, der Text tut es nicht.
42 Vgl. Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt, Frankfurt a. M. 1994. (Die französische Originalausgabe erschien 1975.) 43 Hilmes [Anm. 9], S. 371. 44 Vgl. Holdenried [Anm. 5], S. 52–57. 45 Mann [Anm. 4], S. 507. 46 Ebd., S. 696. 47 Hilmes [Anm. 9], S. 380.
Susanna Brogi
Else Lasker-Schüler „Mein blaues Klavier“ (1943) I. Entstehungskontext Der Lyrikzyklus „Mein blaues Klavier“1 bildet zusammen mit dem Prosatext „Das Hebräerland“ (erschienen 1937 im Verlag Oprecht in Zürich) und dem Metadrama „IchundIch“ das Ensemble der Hauptwerke aus Else Lasker-Schülers Exil nach 1933. Ihr im Juni 1943 und damit zwei Jahre vor ihrem Tod im palästinensischen Exil veröffentlichter Gedichtband, dessen Titelgedicht wiederholt als „exemplarisches Zeugnis des literarischen Exils“2 ausgewiesen worden ist, stellt die letzte Buchpublikation einer Autorin dar, die seit über vier Jahrzehnten als Schriftstellerin, Künstlerin und immer wieder für Aufsehen sorgende Persönlichkeit in der Öffentlichkeit stand. Mit der Wahl dieser Gattung, die unter den Bedingungen des Exils kaum mit einem größeren Publikum rechnen konnte,3 knüpft sie an ihr im Herbst 1901 erschienenes, auf 1902 datiertes Debüt „Styx“ an, doch ihre Briefe belegen eindrucksvoll, dass die 74-jährige nach Erscheinen dieses letzten Buchs keineswegs ihr Engagement für Literatur, Kultur und gesellschaftliches Leben beendet hat. Die Briefe zeugen von einem enormen Adressatenkreis und inhaltlichen Facettenreichtum ihrer Aktivitäten, die besonders in der Gründung der Vortragsvereinigung „Kraal“ im Winter 1941 zum Ausdruck kommen: Regelmäßig bereitet Else Lasker-Schüler die kräftezehrenden Veranstaltungen vor, für welche ausschließlich sie selbst mit in der Regel handgeschriebenen Karten einlädt. Nach ihrer Vorstellung ist der „Kraal“ nicht ein Ort des intellektuellen Kräftemessens und Einander-Überbietens, sondern der freundschaftlichen Anregung und des Zusammenspiels. Eben diesem Prinzip ist
1 Else Lasker-Schüler: Mein blaues Klavier. Neue Gedichte, Jerusalem 1943 sowie Else LaskerSchüler: Mein blaues Klavier, in: dies: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe, hg. im Auftrag des Franz Rosenzweig-Zentrums der Hebräischen Universität Jerusalem, der Bergischen Universität Wuppertal und des Deutschen Literaturarchivs Marbach, 11 Bde., hier Bd. 1.1: Gedichte, bearb. v. Karl Jürgen Skrodsky unter Mitarbeit v. Norbert Oellers, Frankfurt a. M. 1996, S. 279–303. 2 Michael Braun: „Mein blaues Klavier“. Dichten „wider dem Verbote“, in: Interpretationen. Gedichte von Else Lasker-Schüler, hg. v. Birgit Lermen u. Magda Motté, Stuttgart 2010, S. 138–147, hier S. 138 (auch mit Verweis auf Ruth Klügers und Peter von Matts Hervorhebung der Sonderstellung dieses Gedichts im Rahmen der Exilliteratur). 3 „In den meisten Ländern gab es für Lyrik schon gar kein nennenswertes Publikum.“ (Klaus Weissenberger: Dissonanzen und neugestimmte Saiten. Eine Typologie der Exilliteratur, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 17 [1976], S. 321–342, hier S. 322).
Else Lasker-Schüler „Mein blaues Klavier“
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auch der Lyrikband „Mein blaues Klavier“ verpflichtet.4 Der Erfolg ihrer Bemühungen äußert sich nicht zuletzt darin, dass es ihr gelingt, namhafte Persönlichkeiten als Vortragende zu gewinnen – etwa Martin Buber, Schalom Ben-Chorin oder Kurt Wilhelm.5 Ihrem hohen Einsatz gemäß sind die daran geknüpften Erwartungen groß. Als ausgerechnet ihre letzte große Liebe, der Religionsphilosoph Ernst Simon, zu einer der Auftaktveranstaltungen nicht erscheint, schreibt sie am 10. Januar 1942 einem gemeinsamen Freund, den aus Braunschweig stammenden Bibliothekar und Autor Werner Kraft, im Telegrammstil: „Daß Apollo-Ernest nicht heute gerade dort im Kraal, beinahe: Verbrechen.“6 Wie Ricarda Dicks präzise Darlegung des Publikationskontextes im Rahmen der Einzelpublikation von „Mein blaues Klavier“ im „Jüdischen Verlag“ zeigt, grenzt die Veröffentlichung als solche an ein Wunder: „Mitten im Zweiten Weltkrieg in Palästina deutsche Lyrik zu veröffentlichen, ist alles andere als ein einfaches Unterfangen, das Papier ist knapp und rationiert, die deutsche Sprache in Verruf, die wenigen Druckereien, die Deutsches drucken, sind Angriffen ausgesetzt.“7 Allen vorausgegangenen eigenen Befürchtungen zum Trotz äußert sich Else Lasker-Schüler nach dem Erscheinen jedoch beglückt über das Ergebnis:8 „In sehr kurzer Zeit kommt mein Buch: Gedichte. Schön gemacht – leserlicher Druck und ‚noble muß die Welt zu Grunde gehen!‘“9 Welch große Bedeutung die Verständigung über existentielle Fragen an ihrem letzten Aufenthaltsort des Exils für sie hat, an dem ihr zuvor unhinterfragbare Gewissheiten verloren zu gehen drohten, geht besonders aus einem Brief an Martin Buber vom 23. Dezember 1942 hervor, mit dem sie für einen Vortrag zum Thema „Judentum und Christentum“ dankt:10 4 So wünscht Else Lasker-Schüler keine Diskussionen nach den Vorträgen. In gleicher Weise nimmt sie auch die Vorträge auf, die sie selbst besucht, und entsprechend schwierig gestaltet sich offenbar immer wieder das durch bestimmte Konventionen – Diskussionen, Dank, Verabschiedung – geregelte Davor und das Danach. 5 Diese teils im Abstand von zwei Wochen veranstalteten Abende sind folglich – wie zuvor am Beginn des 20. Jahrhunderts die Abende in Herwarth Waldens „Verein für Kunst“ – keine Literaturveranstaltungen im engeren Sinne, werden doch auch religions-, geistes- und kulturgeschichtliche Themen unterschiedlichen Zuschnitts einbezogen. Vgl. Else Lasker-Schüler: 1869–1945, bearb. von Erika Klüsener u. Friedrich Pfäfflin, Marbach a. N. 1995 (Marbacher Magazin 71), S. 312 sowie Lasker-Schüler [Anm. 1], Bd. 11: Briefe 1941–1945, Nachträge, bearb. v. Karl Jürgen Skrodzki u. Andreas B. Kilcher, Berlin 2010, S. 96. 6 An Werner Kraft, 10. Januar 1942 [Nr. 163], in: Lasker-Schüler [Anm. 5], S. 96. 7 Ricarda Dick: Nachwort, in: Else Lasker-Schüler: Mein blaues Klavier. Neue Gedichte, hg. und mit einem Nachwort v. Ricarda Dick, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 2006, S. 49–62, hier S. 52. 8 Vgl. ebd. 9 An Friedrich Sally und Sina Grosshut, 15. Juni 1943 [Nr. 415], in: Lasker-Schüler [Anm. 5], S. 248. 10 „Jesus habe ich von Jugend auf als meinen großen Bruder empfunden. Daß die Christenheit ihn als Gott und Erlöser angesehen hat und ansieht, ist mir immer als eine Tatsache von höchstem Ernst erschienen, die ich um seinet- und um meinetwillen zu begreifen suchen muß. […] Gewisser als je ist es mir, daß ihm ein großer Platz in der Glaubensgeschichte Israels zukommt und daß dieser Platz durch keine der üblichen Kategorien umschrieben werden kann.“ (Martin Buber: Vorwort, in: ders.: Zwei Glaubensweisen, Zürich 1950, S. 5–14, hier S. 11.) Vgl. Lasker-Schüler [Anm. 5], S. 606.
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Sehr großer und lieber Bibelerzähler. Ich war so – (ich weiß nicht wie ichs erklären soll?) benommen gestern abend, ich sagte gewiß unverständlich wie ich Ihnen dankte für Ihre Erzählung. Aber ich meinte, ich war wie im Kaleidoskop – wie man so eins Kindern schenkt zum Durchgucken. Ja manchmal, da ich noch krank und übermüdet, fielen mir die Augen zu. Aber das paßte zu der „Wanderung“, die Sie, Adon Bibelerzähler anführten. Als ob ich mich wo unterm Feigenbaum oder unter einer Ceder etwas schlafen legte, erwachte und weiter wandelte, ohne Sie und alle verloren zu haben. Ihr Erzählen verließ mich auch im Schlaf nicht. Im Gegenteil, frisch hörte ich weiter. Sie sind im Grunde ein gothischer Judenerzähler […]. […] Wie Sie sicher wissen, Adon, Paulus war ein römischer Teppichweber. Und sein Sprechen gleich Weben oder Wirken, so dachte ich früh heute – so seltsam verstrickt und endend in Fransen und Quasten. Schwer zu folgen in allen Maschen und Farben. Die Heiden trennten sich viele von ihm und dann sagte er: „Könnt Ihr mich nicht etwas lieb haben?“ Sie glaubten unkomplizierter. Jesus von Nazareth war pflanzlicher. Er drang die Menschen nicht und wenn wir nur von seiner einfachen Lehre wüßten, gäbe es heute noch Judenchristen und das wäre eine Brücke zwischen Juden und Christen. […] Adon Professor, ich bin keine Zionistin, keine Jüdin, keine Christin; ich glaube aber ein Mensch, ein sehr tieftrauriger Mensch. Ich war ein einfacher Soldat Gottes; ich kann mich aber nicht mehr uniformieren. Ich ströme mit einem Tag nach dem anderen hin. Vielleicht glaubt Gott der Ewige an mich, ich weiß nicht in meiner Menschlichkeit wie ich an den Ewigen denken kann glauben? Und liege doch vielleicht in Seiner Unsicht*baren Hand. Wir alle weinend. Ihr Prinz Jussuf (E L-Sch.)11 In einem auf den Adressaten abgestimmten Stil versteht es die Schreibende, den Fauxpas, beim Vortrag eingeschlafen zu sein, in eine Tugend zu verwandeln. Den großen religionsgeschichtlichen Kontext aufgreifend, in dem Buber Unterschiedlichkeit und Zusammengehörigkeit jüdischen und christlichen Glaubens zu analysieren suchte, setzt sie das Gehörte in Bezug zu eigenen Überlegungen angesichts der in ihrer Gegenwart unüberbrückbar gewordenen Kluft. Sukzessive überführt der Brief den historischen Grund des Themas in die von Leid geprägte Gegenwart und in eine Reflexion über die Erfahrung der eigenen geistigen Unbehaustheit im Exil. Der Text selbst erscheint so als Realisierung 11
An Martin Buber, 23. Dezember 1942 [Nr. 319], in: Lasker-Schüler [Anm. 5], S. 191f.
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des Eingangsvergleichs („im Kaleidoskop“), um durch die – eine Selbstanspielung enthaltende – Gewebemetaphorik weitergeführt zu werden.12 Das Gehörte, eigene Auslegung und Bewertung lassen sich infolge ihrer Verflochtenheit kaum voneinander trennen. Mit einer auch durch die Erfahrung des Krieges bestimmten Bildlichkeit charakterisiert sie ihren derzeitigen Zustand der geistigen ‚Entwaffnung‘, einer existentiellen Verunsicherung, durch die gerade auch „Mein blaues Klavier“ geprägt ist. Das Ende des Schreibens schließlich kann als Anspielung auf die Dichtung der Psalmen (etwa Ps. 90,5 „Du lässest sie [die Menschen, S. B.] dahinfahren wie einen Strom“) und eine Aktualisierung des Exilpsalms 137 gelesen werden: Während dort die Juden der Diaspora weinend an „den Wassern zu Babel“ sitzend ihrer „Zion gedachten“,13 kehrt sich der Dichterin in dem Moment, da alles Selbstverständnis abhanden gekommen ist, das Verhältnis um. Die Inversion zeigt nicht die aus ihrer Heimat Israel Vertriebene, sondern die unfreiwillig dorthin Geflüchtete, die sich als Vertriebene ohne heimatliches Ufer begreift. Sie spricht als eine, die nunmehr auf einen Gott hoffen muss, der an sie zu glauben vermag.14 Diese auch in anderen Kontexten präsente Beschreibung äußerster Haltlosigkeit,15 welche die Folge des täglichen Grauens, von Exil und der Verfolgung ist, verbindet die briefliche Selbstaussage mit prominenten Exilgedichten des Bandes „Mein blaues Klavier“, etwa den drei aufeinander folgenden Gedichten „Abendzeit“, „Ich liege wo am Wegrand“ und „Die Verscheuchte“.16 II. Poetik des Abschieds Für die Poetik des Gedichtbandes „Mein blaues Klavier“ erscheint es konstitutiv, dass das Wissen um Freundschaft, Zusammenhalt und Liebe gerade angesichts von Vereinzelung und Verlust seine volle Bedeutung sichtbar werden lässt. 12 Vgl. Else Lasker-Schülers bekanntes Gedicht „Ein alter Tibetteppich“ (Lasker-Schüler [Anm. 1], S. 120). 13 „An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten.“ (Ps 137,1) 14 In einem Brief an Ernst Simon vom 7. Juli 1942 fragt die Schreibende: „Ist Gott? Dr. Baeck hat mirs versichert – so, daß ich empfand, sein Glaube ist größer als alle Weisheit.“ (An Ernst Simon, 7. Juli 1942 [Nr. 247], in: Lasker-Schüler [Anm. 5], S. 149–151, hier S. 149). 15 So dankt sie Ernst Simon für einen Vortrag mit den Worten: „Sie sprachen so warm und liebreich, man nimmt mit sich das schönste Geschenk. Und wie Sie so sprachen, dachte ich wie eine Inspiration: Vielleicht sind wir da, Gott über die Erde zu tragen, wir – Sein Wagen. Aber mir wird alles täglich mehr ein Rätsel. Wie schrecklich die Weltgeschehnisse, auch auf dem Lande, ich meine der Heiligen Stadt. […] Ist denn Gott Besitzer einer Bühne, sind es Rollen, die Er aufgiebt: Kann man sich unterstehen, zu danken für dies und jenes –? angesichts der Leiden des Zweiten? Sie sprechen von Gut und Böse. Erhebt sich nicht aus Gutgehandeltem – böse Folgen und umgekehrt. Oder giebt es doch eine Norm?“ (An Ernst Simon, 6. Juli 1942 [246], in: Lasker-Schüler [Anm. 5], S. 147f., hier S. 147). 16 Lasker-Schüler [Anm. 1], S. 289–291. Die Darstellung der Entstehungsgeschichte und Titelwahl des Gedichts „Die Verscheuchte“ mit einem knappen Bezug zu „Abendzeit“ hat Norbert Oellers in seiner Interpretation des Gedichts vorgenommen. Vgl. Norbert Oellers: „Die Verscheuchte“. Verlorene Heimat, zerstörte Liebe, in: Lermen / Motté [Anm. 2], S. 125–136, hier S. 125f.
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Dieses ambivalente Zusammenwirken bildet bereits der Buchdeckel von „Mein blaues Klavier“ ab, um dann im Band selbst seine textkompositionelle Umsetzung und poetologische Vertiefung zu erfahren.17 Ricarda Dicks einschlägige Untersuchungen zum bild- und buchkünstlerischen Werk Lasker-Schülers haben gezeigt, dass die in der Zeit vor dem Exil in immer neuen Facetten gestaltete Welt des Prinzen Jussuf, zuvor selbstverständliche Ich-Figuration der Autorin und Künstlerin, nun in den Hintergrund tritt. Obwohl Else Lasker-Schüler die in den Exiljahren bereisten „‚fernen Länder‘ [zunächst, S. B.] gleichsam zu ihren eigenen Schöpfungen erklärte, forderte die reale Erfahrung des Orients Revisionen.“ Auf den Zeichnungen und Illustrationen sei „Jussuf, das Hauptmotiv früherer Zeiten […] nur einmal zu sehen.“18 Umso bedeutsamer ist es, dass der letzte Gedichtband nun ein mit „Abschied von den Freunden“ und „Prinz Jussuf (E L-Sch.)“ unterzeichnetes Selbstporträt aufweist.19 Die aus nur wenigen Strichen bestehende Umschlagszeichnung hält im Sinne von Lessings „Laokoon“ den entscheidenden Moment der Ambivalenz fest, der Vorausgegangenes und Zukünftiges augenfällig werden lässt:20 Eine Gruppe von sieben Personen hat Jussuf umringt, sodass auf Augenhöhe der Eindruck von Geschlossenheit angedeutet ist, während die durch den kräftigen Strich hervorgehobene Schrittbewegung Jussufs bereits den Abschied unmissverständlich voraussagt.21 Dieser entscheidende, transitorische Augenblick, der die vorausgegangene Zusammengehörigkeit mit der bevorstehenden unaufhaltsamen Auflösung der Gruppe zusammenschließt, spiegelt sich thematisch und kompositionell auch im Gedichtband „Mein blaues Klavier“ wider mit seiner beeindruckenden zyklischen Ausgereiftheit, die im Weiteren andeutungsweise skizziert werden soll.22 Dass die Deckelzeichnung mutmaßlich zunächst noch nicht mit Blick auf ihre spätere Funktion angefertigt wurde, sondern zuerst eher einen dokumentarischen Charakter besaß, legt eine in der Erstausgabe durch Retuschierung unterdrückte textliche Ergänzung nahe, die in der vierzehn Jahre später erschienenen zweiten Auflage mit abgebildet wurde: „(Im Bahnhofversteck im Augenblick Vgl. Dick [Anm. 7], S. 49. Ricarda Dick: Else Lasker-Schüler als Künstlerin. In: Else Lasker-Schüler. Die Bilder, hg. v. Ricarda Dick im Auftrag des Jüdischen Museums Frankfurt a. M., Berlin 2010, S. 117–158, hier S. 149. Gemeint ist eine Zeichnung im „Hebräerland“: o. T. [„Prinz Jussuf liest seine Gedichte vor“]. 19 Vgl. ebd., S. 150f. 20 Vgl. „ […] so ist es gewiß, daß jener einzige Augenblick und einzige Gesichtspunkt dieses einzigen Augenblickes, nicht fruchtbar genug gewählet werden kann.“ (Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon, in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. v. Wilfried Barner, Frankfurt a. M. 1990, hier Bd. 5.2, S. 32). 21 Ricarda Dick schreibt über diese Ambivalenz: „Die Gruppe steht eng beieinander und ist doch in Auflösung begriffen. Haltung und Ausdruck verraten Trauer, deren Anlaß Jussufs entschiedene Beinstellung unterstreicht“. (Dick [Anm. 7], S. 49.) Leider ist trotz der festen Einkalkulierung einer Vorzugsausgabe keine kolorierte Fassung erhalten. Vgl. ebd., S. 50. 22 Vgl. in diesem Kontext auch Joachim Seng: Auf den Kreis-Wegen der Dichtung. Zyklische Komposition bei Paul Celan am Beispiel der Gedichtbände bis „Sprachgitter“, Heidelberg 1998. 17 18
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gezeichnet)“.23 Durch die Zurücknahme des Orts- und Situationsbezugs infolge des Retuschierens bei der von Lasker-Schüler verantworteten Erstausgabe verstärkt sich der Anspruch auf eine größere Allgemeingültigkeit und Überzeitlichkeit, die vielleicht dem weitreichenden Anspruch des Gedichtbands selbst gemäßer ist. Sie entspricht einem Prinzip, das auch auf anderen Ebenen des Bandes realisiert worden ist: So wurde aus dem Gedicht „Das Lied der Emigrantin“, dessen Titel Norbert Oellers als eine Replik auf Gottfried Benn liest,24 „Die Verscheuchte“ oder aus der Überschrift des Binnenzyklus „An E. S.“, womit Ernst Simon gemeint war,25 „An Ihn“. Obwohl die Veränderungen hin zu einer stärkeren Abstraktion von konkreten Situationen und Personen im Einzelfall unterschiedlich motiviert gewesen sein mögen, tragen sie letztlich zu einer Erhöhung des Geltungsanspruchs des Zyklus bei. Oellers spricht in diesem Zusammenhang von einer „Auflösung des benennbaren Faktischen in die Fiktion des allgemein Symbolischen […], das sich jeder genauen Bestimmung entzieht“.26 Hinzuzufügen ist, dass die damit erzielte Bestimmung des Gedichtbandes das Zur-Sprache-Bringen der Möglichkeit von Dichtung angesichts der bedrängenden Erfahrungen ist und dass jedes Gedicht, auch die Liebesgedichte, die in jedem Moment auch den Schmerz und die Bedrohung des (lyrischen) Sprechens beinhalten, einer Poetik des Exils verpflichtet ist. Das Gefühl, nirgends Zuhause zu sein, und das Verständnis von Dichtung als einem Zuhause – konstitutiv für die Exilliteratur allgemein – begegnet bei LaskerSchüler schon vor der Flucht aus Deutschland,27 gründete doch ihr „Selbstverständnis als Jüdin in der Erfahrung von Verfolgung und Vertreibung“.28 In „Mein blaues Klavier“ jedoch ist auch das Zuhause der Dichtung in Frage gestellt, und es ist unübersehbar, dass ein zentrales Thema des Bandes der Verlust von Heimat und die Erfahrung ungeschützten Unterwegsseins ist – bis hin zum letzten Text mit seinem „sterb ich am Wegrand“, welches das Gedicht des ersten Binnenzyklus „Ich liege wo am Wegrand“ aufgreift und inhaltlich zu überbieten weiß.29 Ein ums andere Mal wird die prekäre Position des Ich in der Gegenwart des Gedichts inszeniert und jedes Sprechen ist von dem Bewusstsein getragen, es könnte das letzte Sprechen sein. Else Lasker-Schüler: Mein blaues Klavier. Neue Gedichte, Jerusalem 1957 [Buchdeckel]. Norbert Oellers bezieht sich hier auf eine bekannte Rundfunkrede Benns, „Antwort an die literarischen Emigranten“, in der dieser sich gegen Angriffe, besonders seitens Klaus Manns, zur Wehr setzte, sich in den Dienst der Nationalsozialisten gestellt zu haben. Aufgrund ihrer früheren intensiven Beziehung zu Benn und ihrer zahlreichen Verbindungen zu anderen Emigranten, darunter den Mitgliedern der Familie Mann, scheint diese Überlegung durchaus plausibel. Vgl. Oellers [Anm. 16], S. 127. 25 Vgl. Dick [Anm. 7], S. 51. 26 Oellers [Anm. 16], S. 128. 27 Sonja M. Hedgepeth: „Überall blicke ich nach einem heimatlichen Boden aus“. Exil im Werk Else Lasker-Schülers, New York [u. a.] 1994, S. 45. 28 Birgit Lermen / Magda Motté: Einleitung, in: dies. [Anm. 2], S. 7–15, hier S. 13. 29 Lasker-Schüler [Anm. 1], S. 290 u. 303. 23 24
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III. Komposition Der Band besteht aus zwei Binnenzyklen und ist mit einer den Gedichten vorangestellten „Widmung“ versehen, die wie ein Gedichttitel in das Inhaltsverzeichnis integriert ist: „Meinen unvergesslichen Freunden und Freundinnen in / den Städten Deutschlands – und denen, die wie ich / vertrieben und nun zerstreut in der Welt, / In Treue!“ Unter den zahlreichen vor der Drucklegung am Typoskript noch vorgenommenen Korrekturen und Änderungen kommt sicherlich der Bekräftigung „In Treue!“ als einer nachträglichen handschriftlichen Ergänzung besondere Bedeutung zu.30 Die Gedichtsammlung besteht aus 32 Gedichten und einem beschließenden Prosa-Text. „Von den Gedichten waren 18 zuvor schon – in den Jahren 1928 bis 1942 – in Zeitungen, Zeitschriften und Almanachen erschienen, darunter das Titelgedicht“.31 Bei den vor 1933 entstandenen und in den Band aufgenommenen Gedichten fällt auf, wie sorgfältig diese mit Blick auf die Komposition ausgewählt worden sind, um die durchgehende Strukturierung durch Widmungen und Ansprachen sowie durch thematische und motivische Kohärenz zu erreichen. Den ältesten Text stellt das erste Gedicht „An meine Freunde“ dar, das im „Berliner Börsen-Courier“, zunächst ohne Titel und am Ende der Erzählung „Das heilige Abendmahl“, 1921 erschienen war und auf die Abbildung auf dem Buchdeckel und die nachfolgende Widmung zu antworten scheint.32 Nicht nur dank seines neuen Titels fügt er sich nahtlos in den Zyklus ein: Zahlreiche Themen und Motive verleihen ihm expositorische Stärke. Außerdem wird hier das Gespräch unter Freunden zu einem „himmlisch[en] Konzert“ erhoben – ein deutlicher Kontrast zu der zerbrochenen Klaviatür im Titelgedicht und der einsam verstimmten Herzensklaviatür aus dem den Band beschließenden Prosastück „An mich“. Das Gros der Gedichte allerdings gehört der Exilzeit an, und mit Recht lassen sie sich dem Untertitel gemäß als „Neue Gedichte“ bezeichnen. Wie in Rainer Maria Rilkes „Neuen Gedichten“, deren „Archaïscher Torso Apollos“33 als Referenztext in mehreren Gedichten des zweiten Zyklus von „Mein blaues Klavier“ nachhallt, ist auch hier der (Unter-)Titel keine Werbestrategie: Vergleichbar den in Paris entstandenen Gedichten Rilkes sind auch diese – was bereits im zitierten 30 Im Katalog zur Marbacher Ausstellung befindet sich ein Reprint der entsprechenden handschriftlichen Korrektur; Marbacher Magazin [Anm. 5], o. S. 31 Norbert Oellers: Verluste. Zu Else Lasker-Schülers „Mein blaues Klavier“, in: In meinem Turm in den Wolken. Ein Else Lasker-Schüler-Almanach, hg. v. Ulla Hahn u. Hajo Jahn, Wuppertal 2002, S. 185–194, hier S. 185. 32 Vgl. den Kommentar zum Gedicht in: Lasker-Schüler [Anm. 1], Bd 1.2: Gedichte. Anmerkungen, bearbeitet v. Karl Jürgen Skrodsky unter Mitarbeit v. Norbert Oellers, Frankfurt a. M. 1996, S. 261 u. 343f. 33 Rainer Maria Rilke: Archaïscher Torso Apollos, in: ders.: Werke, Bd. 1: Gedichte 1895–1910, hg. v. Manfred Engel u. Ulrich Fülleborn, Frankfurt a. M. 1996, S. 513.
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Brief an Martin Buber deutlich wird – unter neuen Voraussetzungen entstanden, durch die alles zuvor Gültige seine Selbstverständlichkeit eingebüßt hat. Die beiden Binnenzyklen weisen zwanzig bzw. zwölf Gedichte auf. Der zweite trägt die Überschrift „AN IHN“ – eine Formulierung, mit der Lasker-Schüler lange gerungen hat, um der von Ernst Simon, dem der Zyklus zugedacht war, erbetenen Diskretion zu genügen.34 Die Formel der Adressierung und Widmung findet darüber hinaus ihre Fortsetzung in weiteren Gedichten des ersten Binnenzyklus („An mein Kind“, „An Mill“).35 Ein Fundament der wesentlichen sozialen Bezugspunkte bildend konzentrieren sich die Eingangsgedichte auf die Lebenden wie auch auf die Präsenz der verstorbenen wichtigsten Angehörigen: auf Freunde, die Mutter, das Kind. Zugleich geht es aber auch um das Auffinden und immer wieder Neu-Ausloten der eigenen Position, die im Rekurs auf Räumliches, die Kunst und den Glauben zu bestimmen ist. Im Zuge dessen bringt sich das Ich immer wieder selbst zurück ins Spiel (etwa mit „Ich liege wo am Wegrand“ oder „Ich weiss“).36 Den Binnenzyklus „AN IHN“ beschließt der Prosatext „An mich“: Während sich durch die Analogien („An meine Freunde“ – „An mich“) der Kreis zu schließen scheint, impliziert diese Wendung aufgrund des Wechsels zur Prosa bereits eine bestehende Kluft.37 Eine Reduktion des Gedichtpersonals im zweiten Zyklus auf Ich und Du ermöglicht es, beider Verhältnis zueinander bis zur abschließenden Vereinzelung in immer neuen Facetten zu präsentieren und damit das große, in Else Lasker-Schülers Lyrik allgegenwärtige, Thema der Liebe (zu Gott, Menschen, Kunst und Dingen) als einer Voraussetzung für die Dichtung noch einmal auszubreiten.38 Das letzte Gedicht des Bandes, „An Apollon“,39 richtet sich als eine Folge der distanzierteren Binnenzyklus-Überschrift „An Ihn“ nicht allein oder nicht in erster Linie an Ernst Simon, sondern an den Gott der Künste und der Dichtung: Mit deutlichem Bezug („Ein Engel spielte sanft auf blauen Tasten“) auf das poetologische Titelgedicht „Mein blaues Klavier“ („Es spielten Sternenhände vier“) wird die Erfahrung der Vereinzelung und Unzugänglichkeit des Du als Vgl. Dick [Anm. 7], S. 51. Lasker-Schüler [Anm. 1], S. 283f., 287. 36 Ebd., S. 290, 292f. 37 Vgl. u. a. Paul Celan: Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen (1958), in: ders.: Gesammelte Werke, hg. v. Beda Allemann u. Stefan Reichert, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1986, S. 185–186, hier S. 186: „Das Gedicht kann, da es ja eine Erscheinungsform der Sprache und damit seinem Wesen nach dialogisch ist, eine Flaschenpost sein, aufgegeben in dem – gewiß nicht immer hoffnungsstarken – Glauben, sie könnte irgendwo und irgendwann an Land gespült werden, an Herzland vielleicht. Gedichte sind auch in dieser Weise unterwegs: sie halten auf etwas zu.“ 38 Vgl. Norbert Oellers: Liebe zu Gott, Menschen, Dingen. Zur Lyrik Else Lasker-Schülers, in: „Das Ungenügen an der Normalität“. Literatur als Gegenwelt, hg. v. Jürgen Daiber, Georg Guntermann u. Gerhard Schaub, Paderborn 2001, S. 101–117. 39 Lasker-Schüler [Anm. 1], S. 302. 34 35
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Verwundung der Herzenslandschaft beschrieben: „Er legte Brand an meines Herzens Lande – / Nicht mal sein Götterlächeln / Liess er mir zum Pfande.“40 Dass es dem Ich ohne Blickkontakt („Zwei Augen blicken wund durch ihre Marmorhülle“)41 und ohne Lächeln nicht mehr möglich ist weiterzusprechen, führt nicht die Thematisierung des Schweigens, sondern das Abbrechen lyrischen Sprechens vor. In diesem Sinne liegt der Dichtung Else Lasker-Schülers ein, an die spätere Poetik Paul Celans erinnerndes, dialogisches Verständnis zugrunde, das sich in den Gedichten selbst realisiert. Neben solchen Anordnungen sind zahlreiche weitere Verfahren der Verknüpfung feststellbar. Innerhalb der Binnenzyklen entstehen elegante Übergänge zwischen den Texten, wenn zentrale Lexeme eines vorangegangenen Gedichts wieder aufgegriffen, variiert und erweitert werden. So spricht das Ich in „In meinem Schosse“ das Du als „du Holder“ an, und das unmittelbar folgende Gedicht trägt den Titel „Dem Holden“.42 Auf „An mein Kind“ folgen zwei Gedichte im Duktus kindlich-naiven Sprechens und Betens, worauf sich wiederum ein Gedicht anschließt, in dem das Ich selbst erneut zum Kind geworden ist.43 Solchen Kohärenz erzeugenden Verfahren wirken semantische Chiasmen entgegen, wie es anhand der Gedichte „Jerusalem“ und „An Mill“ angedeutet werden kann. „Jerusalem“ spricht von negativen Eindrücken sowie einem Mangel an Sinnlichkeit – ausgerechnet in der Stadt, die in der Literatur als ‚goldene Stadt‘ größtes Ansehen genießt: „Versteint ist unsere Heilige Stadt. / Es ruhen Steine in den Betten ihrer toten Seen / Statt Wasserseiden, die da spielten: kommen und vergehen.“44 Das sechs Gedichte später folgende Liebesgedicht „An Mill“ greift kontrapunktisch das Motiv des Damasts auf: „Schneeweisser Damast liegt auf allen Seen / Aus Zauberseide wie in meinen Reimen“.45 Doch während bei dem zunächst durch Resignation und Enttäuschung bestimmten „Jerusalem“-Gedicht am Ende die Hoffnung auf eine Auferstehung der Stadt zum Ausdruck kommt, befindet sich das dichterische Sprechen im zweiten Gedicht in einer prekären Lage: „Von einem jähen Hauche – kann der Vers verwehen.“46 Diese kompositionellen Prinzipien der Annäherung und Abstoßung, unter anderem realisiert durch das Aufgreifen und Variieren von Motiven oder durch Chiasmen und Gegensätze, haben Anteil an den großen Themen des Bandes von Trennung und Zusammengehörigkeit wie auch an dem durch den Band-Titel eröffneten musikalischen Bereich, der sich in den Texten selbst in zahlreichen
Ebd. Ebd. 42 Ebd., S. 299f. 43 Vgl. ebd. S. 283–286. 44 Ebd., S. 282f. 45 Ebd., S. 287. 46 Ebd., S. 282. 40 41
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Variationen fortsetzt („Mein blaues Klavier“, „Ouvertüre“, „Ein Liebeslied“, vielleicht auch „Die Unvollendete“).47 Klaus Weissenberger hat mit Blick auf den früheren Band „Konzert“ von 1932 auf die schon dort bemerkenswerte „Wiederaufnahme von festen rhythmischen und strophischen Formen“ hingewiesen, die er als „als eine Reaktion auf die sich steigernde Entfremdung der Dichterin von der deutschen Gesellschaft“ wertet.48 In „Mein blaues Klavier“ präsentiert sich der Reim in ganz unterschiedlicher Weise, sodass sich – wie auch vielfach besprochen – gerade im Titelgedicht der unreine Reim unüberhörbar dem reinen Reim entgegenstellt und eine ähnliche Spannung erzeugt wie die andernorts gezielt eingesetzten Assonanzen und Dissonanzen: „Es spielten Sternenhände vier/ – Die Mondfrau sang im Boote – / Nun tanzen die Ratten im Geklirr. // Zerbrochen ist die Klaviatür –“.49 Die ungewöhnlichen Komposita „Sternenhände“ und „Mondfrau“ sind Teil der für Lasker-Schülers letzten Band noch einmal äußerst kunstvoll entwickelten Sprachbildlichkeit. Das sichere Gespür für entsprechende Neuschöpfungen lässt besonders deutlich werden, warum sie an ihrer Muttersprache festhalten muss. Zum Publikationszeitpunkt wird in Palästina „[n]eben Jiddisch […] vor allem Deutsch als gesprochene und geschriebene Sprache […] von unterschiedlicher Seite und zum Teil mit Gewalt angefeindet und bekämpft.“50 Lasker-Schüler selbst schreibt: „Was soll ich hebritt lernen! Ich möchte die Sprache des Himmels können.“51 Von ihrem Anspruch, sich in der „Sprache des Himmels“ auszudrücken, trotz und angesichts des schon zuvor literarisch gestalteten, nun aber in aller Härte erfahrenen Heimatverlustes, scheint jedes Gedicht des Bandes „Mein blaues Klavier“ zu sprechen. Die damit angedeutete Himmelssphäre ist in LaskerSchülers Arbeiten – ihren literarischen Texten, ihren Briefen und ihrem aus dem Brief-Werk schreibend und zeichnerisch hervorgegangenen künstlerischen Œuvre – omnipräsent. Sterne und Monde begegnen allenthalben, so etwa in den Briefen an den Künstler Franz Marc, der ihr vor dem Ersten Weltkrieg unter anderem auf einer gemalten Postkarte mit einem durch Mondsicheln und Sterne geschmückten „Turm der blauen Pferde“ gedankt hatte.52 Ein Blick in die Konkordanz zur Lyrik Lasker-Schülers belegt die Dominanz des Himmels-Komplexes: „Nacht“, „Stern“ und „Himmel“ befinden sich unter den zehn meist verwendeten Ebd., S. 284f., 287, 297, 300f. Weissenberger [Anm. 3], S. 333. 49 Lasker-Schüler [Anm. 1], S. 284f. 50 Ebd., S. 56. 51 Ebd. 52 Eine Abbildung dieser Kartenvorderseite zeigt: Else Lasker-Schüler – Franz Marc. Eine Freundschaft in Briefen und Bildern. Mit sämtlichen privaten und literarischen Briefen, hg. v. Ricarda Dick. München [u. a.] 2012, S. 26. Vgl. auch: Cathrin Klingsöhr-Leroy: Else Lasker-Schüler: Prinz Jussuf von Theben, in: Else Lasker-Schüler. Gestirne und Orient. Die Künstlerin im Kreis des „Blauen Reiter“, hg. v. der Franz Marc Museumsgesellschaft durch Cathrin Klingsöhr-Leroy, Kochel am See 2012, S. 18–29, hier S. 24. 47 48
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Substantiven, der Mond rangiert an zwanzigster Stelle und die in ihrer literarischen Symbolik so aufgeladene Farbe Blau steht bei den Adjektiven an zweiter Stelle.53 Doch ist angesichts des literarisch schon vor 1933 beschriebenen, nun aber in allen Konsequenzen erfahrenen Heimatverlustes die für Himmel, Stern und Mond (zentrale Symbole auch im titelspendenden Gedicht „Mein blaues Klavier“) bedeutsame heilsgeschichtliche Komponente, wie gezeigt, den Fliehkräften der Zeitgeschichte ausgesetzt. Zur intensiven Fortsetzung der früheren Mond- und Sternenmotivik passt die häufige Betonung des Abends bereits in den Gedichttiteln („Es kommt der Abend“, „Abendzeit“, „Die Dämmerung naht“, „Abends“).54 Wie kein zweiter zeichnet sich die Thematisierung dieses Bereiches durch kunstvolle Sprachspiele und Wortneuschöpfungen aus, als solle er – nachdem die Welt des Orients verabschiedet werden musste – noch einmal in besonderem Licht erstrahlen: Der Mond wird zum sorglos dahinschwebenden lichtspendenden Falter in „An mein Kind“,55 um im Liebesgedicht „An Mill“ als der „von Sternenrebenperlenüberschäumen“ trunkene und taumelnde, goldene Winzer aufzutreten.56 IV. Vermächtnis „Mein blaues Klavier“ ist ebenso ein Geschenk an die zurückgelassenen Freunde und verstorbene Familienangehörige wie es zugleich Testament und Vermächtnis ist, das den Anspruch auf ein Überdauern poetisch formuliert. Gleichwohl entfernt sich das Ich genau in dem Moment, da am Ende des Bandes die Widmung „An mich“57 ausgesprochen wird, am Weitesten von sich selbst und wird gar zu einer Art Nachlassverwalter, wenn die Sorge sich schließlich darauf richtet, was der eigenen Dichtung künftig geschehen könnte: „Meine Dichtungen, deklamiert, verstimmen die Klaviatür meines Herzens. Wenn es doch Kinder wären, die auf meinen Reimen tastend meinetwegen klimperten.“58 Mit seinem im doppelten Sinne vollzogenen Wechsel ins Prosaische führt „An mich“ unmittelbar vor, dass auch Dichtung auf ein Du angewiesen ist und dass reine Selbstansprache das Ende lyrischen Sprechens bedeuten muss. Dagegen kann Dichtung, wie es jedes der vorausgegangenen Gedichte belegt, selbst dann noch wie ein „letztes Tausendschön“59 erscheinen, wenn das Gegenüber durch unverständliches 53 Der Stern wird, wie die Konkordanz zu den Gedichten nachweist, außerdem ergänzt u. a. durch „besternen“, „Davidstern“, „entsternen“, „Glück(s)-“und „Heimatsterne“. Vgl. Lasker-Schüler [Anm. 31], S. 440–610, hier v. a. S. 444 u. 574. 54 Lasker-Schüler [Anm. 1], S. 288–290, 294f. 55 Ebd., S. 283f. 56 Ebd., S. 287. 57 Ebd., S. 303. 58 Vgl. ebd. 59 Ebd., S. 293.
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Handeln, verweigerte Liebe oder sogar durch den Tod weit entfernt scheint. In diesem Sinne übernimmt der letzte Text eine Art Coda-Funktion und führt im Lichte der zeitgeschichtlichen ‚Verrohung‘60 die fatale Konsequenz einer das Du entbehrenden, allein auf sich selbst bezogenen Dichtung vor. In diesem Sinne offenbart sich „Mein blaues Klavier“ als ein Zyklus von größtem Geltungsanspruch, obwohl und indem er vom Allerpersönlichsten spricht.
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Vgl. ebd., S. 284f.
Andreas Stuhlmann
Lion Feuchtwanger „Die Brüder Lautensack“ (1943/1944) In einer aktuellen Publikation spitzt Aleida Assmann ihre bekannte Position zum Wandel der Erinnerungskultur des Nationalsozialismus und der Shoah noch einmal in Form einer politischen Intervention nachdrücklich zu.1 Sie beschreibt ein wachsendes Unbehagen an dieser Erinnerungskultur, dem Vorschub geleistet wird durch einen gesellschaftlichen Wandel. Für diesen Wandel macht sie drei Gründe aus: das Sterben der Zeitzeugen-Generation, den Generationswechsel unter den Inhabern der Deutungsmacht und die Verschiebungen in den individuellen und kollektiven Medienensembles der Deutschen. Alle drei Faktoren sind im Hinblick auf eine Revision der Exilliteratur von Bedeutung. Die oft beklagte Erosion der literarischen Kultur und die großteils selbstgewählte gesellschaftliche Irrelevanz der aktuellen literarischen Produktion korrelieren mit der Zunahme der Gestaltungsmacht audiovisueller elektronischer Medien, die einerseits zu einer zunehmenden Individualisierung der Rezeption und andererseits zu einer unerwünschten Homogenisierung des Gedächtnisses, einem Mehltau bestimmter Bilder führt. Dadurch entsteht ein Gefühl der Übersättigung, durch das die Macht der gültigen Narrative über den Nationalsozialismus ausgehöhlt wird. Die Autorität der Zeitzeugen beruhte auf der unmittelbaren Evidenz ihres Zeugnisses und diese machte sie zur wichtigsten Legitimationsinstanz für den moralischen Imperativ im Herzen der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Denn wir schreiben der Erinnerungskultur auch die Funktion zu, als kollektives Projekt die Wünsche des Ichs zum Wohle der Allgemeinheit zu beschneiden. Die Exilliteratur, als gewichtiger Teil des schriftlich kodifizierten Zeugnisses, ist von Beginn an stark in Bezug auf diesen moralischen Imperativ rezipiert worden. Auf der Ebene der Erinnerungskultur markiert diese Entwicklung den Wendepunkt vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis. Alle genannten Faktoren führen dazu, dass der bisherige Konsens des sogenannten „negativen kollektiven Gedächtnisses“, das international als ein geradezu vorbildliches Modell für eine Politik der kollektiven Verantwortung und der Reue wertgeschätzt wurde, an sozialer Bindungskraft verliert. Eine jüngere Generation von Repräsentanten kultureller bzw. gesellschaftlicher Deutungsmacht macht dabei eine Aversion gegen moralische Imperative wie diesen geradezu zu einem
1 Vgl. Aleida Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur: Eine Intervention, München 2013.
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Paradigma eines neuen Selbstverständnisses. In gewissem Sinne wird auch der Gründungskontrakt der Bundesrepublik Deutschland damit revidiert. Eine Revision des Werks von Lion Feuchtwanger im Kontext der Exilliteratur kann nicht verhehlen, dass Feuchtwanger zwar im literarischen Feld des Exils selbst als eine herausragende Referenzfigur wahrgenommen wurde und bis heute zu den wichtigsten Vertretern des literarischen Exils gerechnet wird, von einer breiten Rezeption seiner Werke heute aber kaum mehr die Rede sein kann. Er gilt gemeinsam mit Brecht als Exponent der literarischen Linken, war Beiträger, Mitarbeiter und (Mit-)Herausgeber der wichtigsten Zeitschriften des Exils und Juror etwa des Literaturpreises der American Guild for German Cultural Freedom. In Sanary-sur-Mer und Pacific Palisades waren seine Häuser Treffpunkte eines breiten intellektuellen Lebens.2 Ist Feuchtwanger wie viele andere kanonische Autoren Opfer einer sich wandelnden Lesekultur bzw. gehört er vielleicht schlicht zu jenen Autoren, besonders der engagierten Literatur, in deren Namen schon Lessing, in einer Paraphrase Martials, forderte: „Wir wollen weniger erhoben und fleißiger gelesen sein“?3 Eine kritische Würdigung der literarischen Qualität seines Werks war andererseits schon zu Lebzeiten durch die politischen Debatten über seinen Reisebericht aus dem stalinistischen Moskau im Jahr 1937, die unterstellte Verbindung seines Romans „Jud Süß“ zum gleichnamigen Hetzfilm von Veit Harlan (1940) und im Westdeutschland der Nachkriegszeit durch seine emphatische Rezeption durch die Kulturpolitik der DDR überblendet.4 Das vernichtende Diktum einiger Granden der Literaturkritik, wie etwa Hans Mayer und Marcel Reich-Ranicki, Feuchtwanger sei im Exil zu einem Erfolgs- und Trivialschriftsteller verkommen, taten ihr Übriges.5 Eine Revision gerade der „Brüder Lautensack“ ist deshalb reizvoll, weil es in der publizistischen wie der literaturwissenschaftlichen Rezeption von Feuchtwangers Werken aus der Exilzeit zwar heftige Auseinandersetzungen über seine politische Position, aber kaum einen Wandel der ästhetischen Wertungen gab. Es gilt das Muster, dass die historischen Romane zu jüdischen Themen den enger zeitgeschichtlich gebundenen Arbeiten überlegen sind. Seine Wartesaal-Trilogie, „Simone“ und eben „Die Brüder Lautensack“ wurden wegen 2 Vgl. Andreas Stuhlmann: „Du sollst in Häusern wohnen, die du nicht gebaut hast.“ Die Villa Aurora – ensemble de mémoire, in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 31 (2013), S. 55–70. 3 Gotthold Ephraim Lessing: Sämtliche Schriften, hg. v. Karl Lachmann. 3., auf’s neue durchgesehene und vermehrte Auflage, bes. d. Franz Muncker, Stuttgart [u. a.] 1886–1924, Bd. 1, S. 1. Vgl. Martial: Epigrammaton libri, 4,29. 4 Die International Feuchtwanger Society (IFS) hat im Oktober 2013 ihre Tagung unter das Motto „Lion Feuchtwangers Berliner Jahre 1927 bis 1933, seine Leser im Exil, in Deutschland und weltweit nach 1945“ gestellt. Von den insgesamt 30 Beiträgen beschäftigten sich außer der Festrede von Micha Brumlik mit dem kämpferischen Titel „Lion Feuchtwanger unvergessen“ noch fünf Vorträge im engeren Sinne mit der Rezeption seiner Werke. Ein Tagungsband befindet sich noch in der Bearbeitung. 5 Vgl. Angela Vaupel: Zur Rezeption von Exilliteratur und Lion Feuchtwangers Werk in Deutschland. 1945 bis heute, Bern [u. a.] 2007, S. 140.
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ihrer politischen Tendenz und ihres Kolportagecharakters dem „großen“ jüdischen Œuvre gegenüber abgewertet. Und selbst unter den zeitbezogenen Romanen stehen die „Brüder Lautensack“ am heftigsten in der Kritik. Dennoch fanden gerade diese Stoffe das Interesses von Film- und Fernsehautoren, die nach narrativen Deutungen der Zeitgeschichte suchten. Ziel der hier vorgeschlagenen Revision ist eine kritische Relektüre des Romans in drei Schritten: Zunächst wird das Dilemma der Form, d. h. der Genre-Wahl und der gewählten Sprache im Hinblick auf den Entstehungskontext zu deuten versucht. Dann wird diese problematische Form als ein Anknüpfungspunkt für das Interesse an einer Fernsehadaptation des Romans 1973 durch das Fernsehen der DDR untersucht und im dritten Schritt die Frage beantwortet, ob sich aus dieser komplexen Produktions- und Rezeptionsgeschichte nicht eine besondere Zeugenschaft des Romans im Kontext der Exilliteratur als Teil einer breiteren Erinnerungskultur des Nationalsozialismus ableiten lässt. I. Dilemma der Form Der Roman „Die Brüder Lautensack“ ist ein in vielerlei Hinsicht problematischer Text. Er ist von Beginn an, dies ist kein ästhetischer Vorwurf, sondern gibt Feuchtwangers Intention wieder, zunächst nur primär im Hinblick auf seine Verkäuflichkeit konzipiert. Romane wie dieser machten Feuchtwanger einerseits zu einem vielgelesenen Autor und verschafften ihm durch hohe Verkaufszahlen die vor allem im Exil dringend benötigte ökonomische Absicherung, die ihm wiederum direkte finanzielle Hilfe für andere Verfolgte möglich machte und seinem Namen bei Unterstützungsbriefen und Eingaben das nötige symbolische Gewicht verlieh. Andererseits trugen ihm diese Texte bisweilen massive Verrisse ein. Schon in Sanary-sur-Mer, der ersten Station des Exils, war Feuchtwanger auf einen der erstaunlichsten, im Wortsinn abenteuerlichsten Stoffe gestoßen, den die nationalsozialistische Herrschaft zu liefern vermochte: das Schicksal des Hermann Chajm Steinschneider. Als Jan Erik Hanussen und selbsternannter Hellseher, Magier und Telepath war er zu zweifelhaftem Ruhm gelangt, war zum Vertrauten des „Führers“ geworden. Seine bis heute nicht völlig geklärte Ermordung durch ein SA-Kommando 1933 wurde im Reich von der Pressezensur aus den Schlagzeilen gehalten und machte erst mit zeitlicher Verzögerung im Exil Furore. Feuchtwanger war mit einem erbitterten publizistischen Gegner des Wahrsagers, dem Journalisten Bruno Frei, gut bekannt. Frei, der in Berlin als Herausgeber von Münzenbergs „Berlin am Morgen“ einer der schärfsten Kritiker des medialen Hanussen-Hypes gewesen war, war nach dem Reichstagsbrand nach Prag emigriert, wo er zusammen mit Franz Carl Weiskopf die Zeitschrift
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„Gegen-Angriff“ herausgab. 1934 erscheint seine Analyse des Falls Hanussen mit einem Vorwort von Egon Erwin Kisch im Straßburger Brant-Verlag.6 Feuchtwanger griff den Stoff auf, weil er inhaltlich an seine Wartesaal-Trilogie anschloss. Ihre ersten beiden Teile „Erfolg“ und „Die Geschwister Oppenheim“ waren 1930 und 1935 zunächst noch bei Gustav Kiepenheuer und dann im QueridoVerlag in Amsterdam erschienen. Am letzten Teil, „Exil“, hatte Feuchtwanger von Mai 1935 bis August 1939 gearbeitet und ihn 1940 publiziert. In diesen fünf Jahren waren ebenfalls bei Querido 1935 „Die Söhne“, als zweiter Band seiner Trilogie über den jüdischen Geschichtsschreiber Flavius Josephus, 1936 der Roman „Der falsche Nero“ sowie 1937 sein umstrittener Reisebericht aus Moskau erschienen. In „Die Söhne“ fächert Feuchtwanger die im ersten Band noch recht stringent erzählte Biographie des jüdischen Schriftstellers und Historikers avant la lettre hin zu einem breiten Panorama der Zeit auf, das nicht zufällig in der Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Jahre 70 kulminiert und auch Feuchtwangers eigene intellektuelle Biographie spiegelt. Als ein Seitenstück zur Josephus-Geschichte schilderte Lion Feuchtwanger dann in seinem nächsten Roman-Projekt den Aufstieg von Terenz dem Töpfer aus der römischen Ostprovinz Mesopotamien als Double des toten Kaisers Nero in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts. Mit jedem dieser vier Texte war er zeitlich der Gegenwart wieder ein Stück näher gerückt – und je näher er der politischen Realität dieser Gegenwart kam, desto schärfer war die Kritik an seinen Texten ausgefallen. In seinem Referat auf dem von Ilja Ehrenburg gemeinsam mit André Malraux und André Gide organisierten Schriftstellerkongress 1935 in Paris sprach Feuchtwanger dieses Problem an. In seinem Vortrag über „Sinn und Unsinn des historischen Romans“ benannte er es etwas plakativ als dessen Aufgabe, „natürliche klare Beziehung von Leben und Historie herzustellen, das Vergangene, die Geschichte, für die Gegenwart und die Zukunft fruchtbar zu machen“.7 Anders als der Historiker habe der Romancier die Aufgabe, das Vergangene im Lichte der Gegenwart zu fiktionalisieren, das Zeittypische herauszuarbeiten, denn eine „gute Legende, ein guter historischer Roman ist in den meisten Fällen glaubwürdiger, bildhaftwahrer, folgenreicher, wirksamer, lebendiger als eine saubere, exakte Darstellung der historischen Fakten.“8 In diesem Sinne, so schloss Feuchtwanger, schreibe er historische Romane für die Vernunft […], gegen Dummheit und Gewalt, gegen das, was Marx das Versinken in die Geschichtslosigkeit nennt. Vielleicht gibt es auf dem Gebiet der Literatur Waffen, die unmittelbarer wirken: aber mir liegt, aus Gründen, die ich darzulegen Bruno Frei: Hanussen. Ein Bericht, Straßburg 1934. Lion Feuchtwanger: Vom Sinn und Unsinn des historischen Romans, in: ders.: Centum Opuscula, hg. v. Wolfgang Berndt, Rudolstadt 1956, S. 508–516, hier S. 514. 8 Ebd., S. 513. 6 7
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versuchte, am besten diese Waffe, der historische Roman, und ich beabsichtige, sie weiter zu gebrauchen.9 Diese Absichtserklärung bezog sich ganz konkret auf den Roman „Exil“ als Abschluss der Wartesaal-Trilogie, an dem er bereits arbeitete und in dem er das Leben im französischen Exil schilderte. Im Nachwort schrieb er, das Werk sei „von Anfang an als ein historischer Roman“ konzipiert gewesen, „jetzt haben die Ereignisse das Buch auch für die Augen des naivsten Lesers zu einem historischen Roman gemacht, indem sie einen Punkt setzten hinter die Epoche, in welcher seine Handlung spielt.“10 Man kann zwar einerseits Johannes Eveleins Beobachtung zustimmen, dass Feuchtwanger das Exil als einen Zustand des Stillstand, des Aus-der-Zeit-Gefallenseins, beschreibt, aber dennoch verliert die Genre-Bezeichnung des historischen Romans hier jede Trennschärfe. Denn neben dem überzeitlichen Motiv des Exils geht es Feuchtwanger zugleich um die konkrete prekäre politische Situation der Exilanten in Frankreich vor dem Kriegsausbruch.11 Feuchtwanger beruft sich implizit auf Heinrich Heine. Er war selbst mit einer Arbeit über Heines „Rabbi von Bacherach“ promoviert worden12 und hatte zudem u. a. eine kleine Studie über das historische Vorbild für die Figur des Landvogts Geßler in Schillers „Wilhelm Tell“ vorgelegt.13 Er wusste um Potenziale und Grenzen des Genres des historischen Romans. Es bietet den Lesern zwar Einsichten in historische Fakten und spiegelt aktuelle Zusammenhänge wider, führt aber bei den Rezipienten weder zu einer Änderung des Geschichtsbewusstseins, noch vermag es, in der Folge praktische politische Handlungsempfehlungen für die Gegenwart zu geben.14 Feuchtwanger scheint bewusst die GenreBezeichnung des „Zeitromans“ zu vermeiden und bekennt 1935 in Paris eine Befangenheit gegenüber politischen Ereignissen, in die er selbst verwickelt sei. Er bemüht deshalb ein marxistisch-materialistisches Deutungsmuster der Zeitgeschichte, wenn er erklärt, es falle ihm leichter, Menschen darzustellen, die „vor 1870 Jahren Gebäude des Neronischen Roms in Brand gesteckt hatten als die Leute, die 1933 den Reichstag in Berlin angezündet haben, arme törichte Werkzeuge der Feudalisten und Militaristen ihrer, unserer Epoche“.15 Ebd., S. 515. Ders.: Exil, Berlin 2007, S. 787. 11 Vgl. Johannes F. Evelein: Exil und Zeiterfahrung in Lion Feuchtwangers Roman „Exil“, in: Lion Feuchtwanger und die deutschsprachigen Emigranten in Frankreich von 1933 bis 1941. Jahrbuch für internationale Germanistik 76, hg. v. Daniel Azuélos, Bern / Frankfurt a. M. 2006, S. 101–111. 12 Lion Feuchtwanger: Heinrich Heines Fragment „Der Rabbi von Bacherach“. Eine kritische Studie, München 1907. 13 Ders.: Das historische Urbild des Landvogts Geßler, in: Feuchtwanger [Anm. 7], S. 34–44. 14 Vgl. Stefan Neuhaus: Zeitkritik im historischen Gewand? Fünf Thesen zum Gattungsbegriff des Historischen Romans am Beispiel von Theodor Fontanes „Vor dem Sturm“, in: Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 51 (2001), S. 209–225. 15 Feuchtwanger [Anm. 7], S. 514. 9
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Mit dem Ausbruch des Krieges im September 1939 stellte sich die Frage nach der Bekämpfung von Dummheit und Gewalt wieder neu. Zunächst trat aber für Feuchtwanger und seine Frau Marta 1940 mit ihrer Internierung im Lager Les Milles und der anschließenden Flucht die Sorge um die „nackte Selbstbehauptung“16 in den Vordergrund. Schon 1931 hatte er vorausgesehen, dass das „Dritte Reich“ nach der „Ausrottung der Wissenschaft, der Kunst, des Geistes“ trachtete und dies aktiven Widerstand notwendig mache.17 In wenigen Wochen brachte Feuchtwanger nach der Flucht aus einem provisorischen Internierungslager in der Nähe von Nîmes im Versteck in Marseille, im Haus des amerikanischen Vizekonsuls Hiram Bingham IV, am Rande körperlicher und seelischer Erschöpfung, einen eigentlich nicht geplanten dritten Band des „Josephus“ zu Papier. Während Bingham das Manuskript mit dem Titel „Der Tag wird kommen“ mit diplomatischer Post nach New York schickte, führte die Feuchtwangers ihre Flucht mit Hilfe von Varian Fry und des unitarischen Pastoren-Ehepaars Waitstill und Martha Sharp, zusammen mit Franz und Alma Werfel, Golo, Heinrich und Nelly Mann streckenweise unter akuter Lebensgefahr über die Pyrenäen, nach Spanien und Portugal, wo sie endlich ein Schiff in die USA erreichten. Die Erfahrungen mit Kollaboration, mit Internierung und Flucht bestimmen die Arbeit am nächsten Buchprojekt, dem Bericht „Unholdes Frankreich“, der dringend benötigtes Kapital einbrachte. 1941 in Kalifornien angekommen, folgten noch mehrere Umzüge und die Überarbeitung von „Der Tag wird kommen“ für die Publikation.18 Schon bald jedoch diskutierte Feuchtwanger mit alten Weggefährten wie Heinrich Mann und Brecht über die Wirkungsmöglichkeiten und das Widerstandspotenzial der Exil-Literatur und nahm mit Brecht ein neues gemeinsames Stückprojekt in Angriff: „Die Gesichte der Simone Machard“. Beinah zeitgleich begann die Arbeit am Hanussen-Stoff. Alle drei Texte sind zentrale Dokumente der literarischen Selbsterhaltung in Feuchtwangers Œuvre, weil sie, wie es Wulf Koepke formuliert hat, auch Texte der „Selbstbefragung“,19 der Revision der eigenen ästhetischen und politischen Positionen sind. Beim Hanussen-Stoff hatte Feuchtwanger, wie aus dem Briefwechsel mit seinem amerikanischen Verleger Ben Huebsch von der New Yorker Viking Press hervorgeht, von Beginn an eine crossmediale Verwertung im Blick: In der Zwischenzeit habe ich hier eine Übersicht gemacht über meine Pläne. Vermutlich werde ich zuerst einen Roman schreiben „Der Ders.: Wie kämpfen wir gegen das Dritte Reich?, in: Die Welt am Abend, 21. Januar 1931, S. 17. Ebd. 18 Der Roman erschien zunächst 1942 in englischer Übersetzung unter dem Titel „The Day Will Come“ bei Hutchinson in New York und London (spätere Ausgaben als „Josephus and the Emperor“) und erst 1948 auf Deutsch bei Bermann-Fischer in Stockholm. 19 Wulf Koepke: Hitler in Hollywood. Lion Feuchtwangers Abschied von Deutschland im Lichte von „Die Brüder Lautensack“, in: Refuge and Reality: Feuchtwanger and the European émigrés in California, hg. v. Pól Ó Dochartaigh u. Alexander Stephan, Amsterdam 2005, S. 1–18, hier S. 2. 16 17
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Zauberer“ oder „Der Zauberer von Berlin“, der Hanussen zum Helden hat [...]. Auf den Rat hiesiger Filmleute schreibe ich zuerst ein Stück über diesen Gegenstand, die jüdische Abstammung des Helden lasse ich weg. Das Stück ist eine Art Outline für den Roman, ich werde mir dabei über die Handlung klar, so wie mir das Stück „Jud Süß“ sehr dienlich war für den späteren Roman.20 Zu dem Roman entstanden zunächst nur Entwürfe, gemeinsam mit dem Theaterund Filmregisseur Leo Mittler nahm er 1941 die Arbeit an einem Theaterstück „Die Zauberer“ auf. Dieses Modell hatte er schon in den 1920er Jahren nicht nur beim „Jud Süß“, sondern auch in der Zusammenarbeit mit Brecht bereits erfolgreich erprobt. Das im Vergleich zum Roman ästhetisch weniger ambitionierte politische Zeitstück richtete sich auch an ein anderes Publikum, war auf eine breitere öffentliche Rezeption und damit zugleich auf eine mögliche Verfilmung hin ausgerichtet und versprach nicht zuletzt kurzfristigen ökonomischen Erfolg. Vielleicht schien es Feuchtwanger auch als das zunächst adäquatere Vehikel für ein aktuelles politisches Sujet aus Europa. Die Korrespondenz mit Huebsch, das wichtigste Material zu den „Brüdern Lautensack“, dokumentiert zudem, dass Feuchtwanger in der Zusammenarbeit mit diesem neuen Verlag auch eine neue Publikationsstrategie verfolgte. Benjamin William Huebsch, Sohn jüdischer Eltern aus der Bronx und Absolvent der Packard Business School, hatte sich seit 1910 mit einem kleinen AvantgardeVerlag in New York großes Renommee erworben und u. a. James Joyce, D. H. Lawrence oder Georges Sorel in den USA verlegt.21 1925 brachte er seinen Verlag in den neugegründeten Viking Verlag ein, in der er als editor-in-chief die Literatursparte betreute. 1932 veröffentlichte er eine englische Übersetzung des ersten Josephus-Romans. Auch im Exil haben Autoren wie Stefan Zweig, Franz Werfel oder eben Feuchtwanger in Huebsch einen verlässlichen Partner, denn sein Engagement für die Verfolgten ist nicht nur philanthropisch, er ist weiterhin daran interessiert, diese Autoren in den USA in englischer Übersetzung durchzusetzen. Feuchtwanger war, verglichen mit anderen genannten Autoren des Verlags, in Amerika noch kein etablierter Autor, sein „Jud Süß“ war umstritten, nicht zuletzt durch die britische Verfilmung von 1934. Die propagandistische FilmAdaptation des Süß Oppenheimer-Stoffs durch Veit Harlan mit Ferdinand Marian in der Titelrolle, die mit großem internationalen Erfolg bei den Festspielen in Venedig angelaufen war, verfolgte Feuchtwanger bis ins sein amerikanisches 20 Feuchtwanger an Huebsch am 20. Juli 1941, zit. nach Jeffrey B. Berlin: Further Remarks about Lion Feuchtwangers Interaction with Ben Huebsch between 1941 and 1943. Including their Unpublished Correspondence about the American Edition of „Die Brüder Lautensack“, in: Jahrbuch [Anm. 11], S. 297–322, hier S. 307. 21 Ann Catherine McCullough: A History of B.W. Huebsch, Publisher. Thesis (PhD), University of Wisconsin, Madison 1979.
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Exil. Schon im Interesse seiner neuen Theater- und Filmpläne distanziert er sich von der „Schande“ dieser Bearbeitung. Der Hanussen-Stoff schien ihm für einen Durchbruch auf dem nun für ihn wichtigsten Buchmarkt der USA geeignet: „Die seltsame Mischung von Okkultismus, Schwindel und großer Politik muß, glaube ich, auch ein sehr breites Publikum ansprechen“,22 schrieb er am 8. Mai 1942 an Huebsch. Es liegt nahe, dass die Entscheidung, Hanussens jüdische Herkunft auszulassen, mit dem Skandal um Harlans „Jud Süß“ in Zusammenhang steht. Huebsch glaubte allerdings nicht an den Erfolg eines Theaterstückes oder an eine schnelle Filmadaptation der „Zauberer“. Er konfrontierte Feuchtwanger mit einer Reihe schwerwiegender formaler Mängel und motivierte ihn schließlich 1942, die Romanfassung voranzutreiben. Für deren breiten Erfolg setzte er auf einen achtteiligen Vorabdruck im März und April 1943 in der Wochenzeitschrift „Collier’s“. Feuchtwanger fühlte sich allerdings von der achtlosen Auswahl der Ausschnitte brüskiert, die er neben Problemen in der Übersetzung von Caroline Oram, die auch den dritten Band des Josephus übersetzt hatte, für den geringen Erfolg des Romans verantwortlich machte.23 Die englische Erstausgabe des Romans erschien 1943 unter dem Titel „Double, Double Toil and Trouble“ bei Viking in New York, im selben Jahr kam dieselbe Übersetzung unter dem Titel „The Lautensack Brothers“ bei Hamish Hamilton in London heraus und eine spanische Ausgabe erschien als „El clarividente“ übersetzt von Pedro de Olazábal in Buenos Aires im Editorial Abril. Hamilton veröffentlichte 1944 auch die erste deutsche Ausgabe als „Die Brüder Lautensack“. Die erste Ausgabe in Deutschland erschien 1956 in der DDR. Wie der „Nero“ zum „Josephus“, sind die „Brüder Lautensack“ ein satirisches Seitenstück zur Wartesaal-Trilogie. Es war Feuchtwangers letzter Text, in dem er sich mit der aktuellen Zeitgeschichte in Europa beschäftigte. Der Roman erzählt die Geschichte des Hellsehers und Telepathen Oskar Lautensack, der, vermittelt durch seinen zum glühenden Nazi konvertierten Bruder Hans in einem rasanten Aufstieg aus prekärsten Verhältnissen zum gefeierten Star und zum Berater Hitlers wird. Während einer Sitzung mit dem SA-Stabschef Manfred Proell sieht Lautensack den Reichstagsbrand voraus. Als nun auch die letzten Zweifel an seinen Fähigkeiten zerstreut zu sein scheinen, verstrickt sich der eitle Magier jedoch in ein verhängnisvolles Gewirr aus höchst eigennützigen privaten Interessen und den Erwartungen der politischen Machthaber. Schließlich wird er auf Geheiß von höchster Stelle ermordet. Der Name Adolf Hitler, der in der WartesaalTrilogie noch als Rupert Kutzner chiffriert war, wird nun von Feuchtwanger als wichtigster deiktischer Indikator und bewusstes Authentizitätssignal eingeführt. Dies lässt sich als ein wichtiges Zugeständnis an das amerikanische Publikum Zit. nach Berlin [Anm. 20], S. 302. Vgl. ebd., S. 303 und Lothar Kahn: Insight and Action. Life and Work of Lion Feuchtwanger, Rutherford 1975, S. 275. 22
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lesen, das mit Details zu Deutschland und selbst zum NS-System kaum vertraut war. Auch Reichspräsident Paul von Hindenburg und Erik Jan Hanussen, den der Erzähler als Referenzfigur für die Schwierigkeit einer wissenschaftlichen Analyse der Hellseherei einführt, treten mit ihren realen Namen auf. Alle anderen zentralen Figuren, wie die Brüder Lautensack selbst oder Proell, der deutliche Ähnlichkeiten mit Ernst Röhm aufweist, sind Personen des Zeitgeschehens nachgebildet. In dem „zu-kurz-geratenen Krüppel“ Hans Lautensack, der seinen Namen zu Hannsjörg „aufnordet“, sieht Wulf Koepke eine „Mischung aus Horst Wessel […] und Goebbels“.24 An anderen Stellen weicht die Romanhandlung aus dramaturgischen Gründen deutlich von den realen Ereignissen ab, am deutlichsten darin, dass Oskar Lautensack anders als Hanussen als Nicht-Jude konstruiert wird. Dafür agiert als intellektueller Gegenspieler des Hellsehers der jüdische Journalist Paul Cramer, der sein Vorbild in Bruno Frei hat.25 Diese Stilisierung und mechanische Konstruiertheit, die die Konstruktion der Wartesaal-Romane variiert, ist eines der Grundprobleme des Textes. Feuchtwanger verfängt sich in einer ähnlichen kommunikativen Falle wie Heinrich Mann, der beinah zeitgleich in Los Angeles an seinem Roman über das Massaker in Lidice arbeitet, welcher in Verkennung der symbolischen Aufladung, die dieses Ereignis schon bald erfahren sollte, auf eine Satire über Hybris und Größenwahn der NS-Granden abstellt. Auch Feuchtwanger verzichtet auf eine um Authentifizierung bemühte Rekonstruktion des Aufstiegs der Nationalsozialisten und ihres Hellsehers, die ihr Echo hauptsächlich unter den Mitexilanten gefunden hätte, und versucht eine leichter zugängliche, kolportagehafte Lesart der Ereignisse und der Psychologie des Kreises um Hitler. Das im englischen Originaltitel durch das Zitat aus „Macbeth“ angezeigte Strukturprinzip der Doublierung und Parallelführung von Motiven wird nicht konsequent eingelöst. Eine Reflexion der realen Geschehnisse bleibt in einer episodischen Narration stecken, die das private Leben des Protagonisten und seine Befindlichkeit verhandelt. Beide im Leben zu kurz gekommenen Brüder Lautensack träumen 1931 davon, noch einmal ganz groß herauszukommen. Beide werden, wie Koepke es sieht, zu Faktoren einer „Gleichung von Propaganda, Reklame, Lüge und Schwindel“,26 Oskars Okkultismus und Hans’ Propaganda-Lügen sind dabei nur zwei Seiten derselben Medaille. Doch erweist Hans sich diesem Spiel aus Lügen, Interessen und Macht als der à la longue erfolgreichere, weil skrupellosere der beiden Brüder. Oskar vermag die Massen und die Eliten gleichermaßen in Bann zu ziehen, ein taktischer Kopf wie sein Bruder ist er aber nicht. Als er teils aus Mitleid, teils aus Imponiergehabe Gnade für den Bruder seiner Geliebten Käthe Severin, einen „Halbjuden“ nach den Nürnberger Gesetzen, zu erwirken versucht, überreizt er seine Position, zumal er zugleich seinen Gönner Proell herausfordert. Der SA-Chef, der sich innerhalb Koepke [Anm. 19], S. 6f. Vgl. ebd., S. 6. 26 Ebd. 24 25
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der sich gegenseitig belauernden Machtclique ohnehin bedroht sieht, lässt den lästig gewordenen Propaganda-Künstler beseitigen. Hitler, der den Mord sanktioniert hatte, setzt ein Staatsbegräbnis an. Feuchtwanger war sich selbst nicht endgültig sicher, ob diese Handlungsführung in Doublierungen und Spiegelungen aufgehen würde und äußerte Arnold Zweig gegenüber durchaus Skepsis in Bezug auf den Roman und seinen Protagonisten: „Es ist nicht die glücklichste Wahl, die ich getroffen habe. Trotzdem glaube ich, daß das Buch glücken wird und mir, à la longue, auch Genugtuung bringen wird.“27 Es ist tatsächlich die Beziehung zwischen der Erzählinstanz des Textes mit ihrem historisch-distanzierten, teils jovial, teils ironisch gefärbten Ton und der Figur Oskar Lautensacks, die Feuchtwanger nicht recht glücken will. Gerade dort, wo der Erzähler die Gedanken und Gefühle des Protagonisten referiert, sind dies oftmals Plattitüden. Seine Spannung bezieht der Roman zu einem guten Teil daraus, dass er in der Schwebe zu halten bemüht ist, in welchem Maße Oskar wirklich eine außergewöhnliche Gabe besitzt und in welchem Maße er ein Scharlatan ist. Deutlich aber wird, dass Lautensack über ein hohes Maß an psychologischer Intuition verfügt und dadurch, wie auch Hitler, Menschen zu manipulieren und für sich zu instrumentalisieren weiß. Diese Ambivalenz in der Darstellung der Figur hat für die gesamte Handlung eine Ambiguität und Unentschiedenheit zur Folge, die sich auch auf die Parallele zwischen Lautensack und Hitler erstreckt. Feuchtwanger treibt das Prinzip der Parallelisierung der Handlungsstränge und Doublierung der Motive, das Wulf Koepke im Anschluss an Margot Taureck als das zentrale Bauprinzip des Romans identifiziert hat, noch weiter, sodass alle zentralen Figuren in ein System von gegenseitigen Spiegelungen verstrickt sind.28 Die Maske des Hellsehers, die die Bildhauerin Anna Tirschenreuth von Lautensacks Gesicht abnimmt, begleitet ihn als plakatives „Memento mori“oder „Vanitas“-Leitmotiv durch Aufstieg und Fall. Der Journalist Cramer, der einerseits – wie Bruno Frei im Falle Hanussens – mit kritischen Zeitungskolumnen vergeblich gegen Lautensacks Schwindel anzuschreiben versucht und andererseits – wie Feuchtwanger, durch seine bitterböse Stilkritik an Hitlers mangelhaftem Deutsch in „Mein Kampf“ zum Objekt eines besonders unnachgiebigen Hasses des Führers wird –29 wird, wie Gustav Oppermann, zur Symbolfigur des Versagens einer aufklärerischen, engagierten Literatur. Zum Medium, das diese schriftstellerische ‚Impotenz‘ aufzeichnet, wird die Stenografin Käthe, 27 Brief Feuchtwangers an Arnold Zweig vom 21. Januar 1942, in: Lion Feuchtwanger / Arnold Zweig: Briefwechsel 1933–1958, hg. v. Harold von Hofe, Berlin / Weimar 1984, 2 Bde., hier Bd. I, S. 249. Vgl. auch einen Brief an Werner Cahn-Bieker in Berlin [Anm. 20], S. 303. 28 Vgl. Margot Taureck: Gespiegelte Zeitgeschichte. Zu Lion Feuchtwangers Romanen „Der falsche Nero“, „Die Brüder Lautensack“ und „Simone“, in: Lion Feuchtwanger. Materialien zu Leben und Werk, hg. v. Wilhelm von Sternburg, Frankfurt a. M. 1989, S. 151–173 und Koepke [Anm. 19], S. 7–9. 29 Vgl. hierzu auch Koepke [Anm. 19], S. 7.
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die bei der Mitschrift seiner Artikel „Unlust“ verspürt, während sie beim Diktat von Oskar Lautensacks Prophezeiungen, für den sie ebenfalls arbeitet, teils erotische, teils politische Schauer erlebt. „Sie hatte Verständnis für Pauls hellen, scharfen Verstand. Aber was kam heraus bei all dem Theoretisieren? Niemals hatte er etwas Praktisches vorgeschlagen. Alles blieb unfruchtbares Räsonnement.“30 Hier referiert Feuchtwanger nicht nur antideutsche Klischees, er, der selbst seine Texte immer diktierte und dann in einem aufwendigen nach Farben des Durchschlagpapiers kodierten System die von seinen Sekretärinnen erstellten Korrekturfassungen und Reinschriften redigierte, persifliert zudem die eigene literarische Werkstatt.31 Der Roman ist symptomatisch für ein Dilemma der deutschsprachigen Exilliteratur und auch des Exilfilms: Noch immer ist die von der Literaturkritik des Exils angefachte Debatte über den ästhetischen und politischen Stellenwert der unter dem Eindruck der Verfolgung verfassten Texte umstritten, bis in die heutige Literaturgeschichtsschreibung hinein. Ein gewisser Konsens herrschte darüber, dass die „großen“ Roman – Heinrich Manns zweibändiger „Henri Quatre“, Thomas Manns „Joseph“-Tetralogie oder auch Feuchtwangers „Josephus“Trilogie – kanonischen Rang beanspruchen durften, weil sie die Erfahrung von Verfolgung, Vertreibung und Exil parabolisch aufarbeiteten. Andererseits wurde Texten, die sich, wie Feuchtwangers „Brüder Lautensack“, einer realistischen Darstellung der politischen und sozialen Geschehnisse unter dem Nationalsozialismus verschrieben, vorgeworfen, eben nicht genug analytische und damit ästhetische Distanz zu gewinnen und der Kolportage verhaftet zu bleiben. Allerdings erreichte Feuchtwanger allein durch den Vorabdruck und die englischsprachige Erstausgabe ein Massenpublikum, und mit der deutschen Ausgabe in England wirkte er breit in die verschiedenen Exil-Communities hinein. Drei Aspekte dieser Kritik sollen hier benannt werden: die schon angesprochene holzschnittartige politisch-ökonomische Analyse, die den Hintergrund der Erzählung bildet, das Porträt Hitlers und die literarische Sprache des Romans. Zentrale Figuren für die Deutung des Aufstiegs des Nationalsozialismus und damit für die politisch-ökonomische Dimension des Romans sind der nach dem Vorbild von Fritz Thyssen gestaltete Großindustrielle Fritz Kadereit und die Baronin von Trettnow. Im Gespräch des „Stahlbarons“ mit der preußischen Landadeligen wird deutlich, dass Kadereit in NSDAP, SA und SS so etwas wie Söldner sieht, „Haufe von Glücksrittern, Habenichtsen“, die man sich halte „um sie auszuspielen gegen die immer frecher werdenden Arbeiter und Bauern“.32 Kadereit ist Pragmatiker, Realpolitiker, die Massenpsychologie interessiert ihn nur am Rande: Lion Feuchtwanger: Die Brüder Lautensack, London 1944, S. 102. Klaus Modick: L. F. als Produzent. Über die kuriosen, eigentümlichen, ja wunderlichen Methoden des Dr. Feuchtwanger, in: Text+Kritk 79/89 (1983), S. 5–19. 32 Feuchtwanger [Anm. 30], S. 104. 30 31
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„Ich habe volles Verständnis dafür“, erklärte Kadereit, „daß die okkulten Wissenschaften für das Tausendjährige Reich von Belang sind. Aber für die nächsten zehn Jahre scheinen mir Wirtschaft und Rüstung vordringlicher. Wenn Herr Hitler nur für Herrn Oskar Lautenbach Zeit findet, so muß ich eben, so leid mir das tut, meine Angelegenheiten über seinen Kopf weg direkt mit dem Herrn Reichspräsidenten durchsprechen.“33 Das in Wahrheit komplexe Geflecht taktischer Allianzen zwischen den verschiedenen Akteuren in Politik, Wirtschaft, Militär und innerhalb der gewaltsam nach Macht strebenden Bewegung des Nationalsozialismus wird simplifiziert und auf ein Bündnis zwischen Kapital und Faschismus reduziert, dessen Dimensionen sich Stück nach Stück vor den Augen Oskar Lautensacks – und damit auch des Lesers – entfalten, je tiefer er in die Kreise der Reichen und Mächtigen vordringt. Gleichzeitig wird damit die Figur Hitler immer weiter demontiert, den Kadereit abschätzig „das große Zirkustalent, den lächerlichen imposanten Clown“ nennt.34 Damit wiederholt Feuchtwanger die Komposition des „Falschen Nero“, denn auch dieser war ja nach einem gängigen Hitler-Klischee des Exils als charismatischer Demagoge aber politische Null konzipiert, als massenwirksamer Strohmann der wirklich mächtigen Strippenzieher im Hintergrund. Entsprechend wählt Feuchtwanger den Zirkus Krone-Bau in München als den ersten Ort, an dem Lautensack einen öffentlichen Hitler erlebt. Hier redet sich Hitler in Rage und Ekstase und versetzt sein Publikum in Trance. Es sind diese Orte und Institutionen der Popularkultur, der Kulturindustrie, wie sie zeitgleich in Kalifornien analysiert wurde, Zirkus, Kino, Theater oder Varieté, denen der Nationalsozialismus hier auf eine unheimliche Weise verwandt ist und die seinen dubiosen Inszenierungscharakter eröffnen. Gleichzeitig offenbart das System in der Affinität zu, ja Passion mancher seiner Repräsentanten für dieses Milieu und seine Schattenseiten auch eine Achillesferse und in diesem sozialen Grenzbereich erhalten sich Residuen von Nonkonformismus und Widerständigkeit.35 Oskar Lautensack ist ein Profi dieses Milieus, er kennt es nur zu gut, er hat Erfolge mit seiner Gabe gehabt, ist aber auch immer wieder tief abgestürzt. Der Pakt mit Hitler ist nun sein Ausweg, aber er muss dabei seine Kunst verraten: Er wird vom „Wahrsager“ zum propagandistischen Lügner. Statt wie zuvor aus seinem Gespür für die Ängste und Sehnsüchte seines Publikums manipuliert er es nun im Sinne der Propaganda, wird zum kleinen „Propheten“ im Dienste des großen. Statt, wie vorher geplant, wissenschaftlich über die Hellseherei zu Ebd., S. 254. Ebd. 35 Koepke [Anm. 19], S. 7. 33 34
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arbeiten, füllt er nun als Sprachrohr des Nationalsozialismus die Spalten eines eigenen Magazins für okkulte Praktiken. In dieser Affinität zeigt sich auch die von Brecht in seinem Arbeitsjournal konstatierte „Kleinbürgerlichkeit“ des Nationalsozialismus: „Feuchtwanger und andere können mit dem Phänomen Hitler nicht fertig werden, weil sie das Phänomen ‚herrschendes Kleinbürgertum‘ nicht sehen.“36 Die Schwäche von Feuchtwangers Konzeption liege darin, dass er in „zähe[r] Verteidigung“ an einer „naturalistischen Wahrscheinlichkeit“ der Handlung und einer „veraltete[n] ‚biologische[n]‘ Psychologie“ festhalte.37 Er beharre darauf, Hitler als „ein Nichts […], ein bedeutungsloses Sprachrohr der Reichswehr“ darzustellen, als „einen Schauspieler, der den Führer spielt“. „Kurz“, fährt Brecht fort, „Hitler soll keine ‚Persönlichkeit‘ sein. Ich, der ich allerdings gegen den Persönlichkeitskult allerhand habe, lege Wert darauf, daß er eine ist. Aber der Amerikaner versteht überhaupt nicht, wie ein Mann nichts sein könnte, wenn die USA 40 Milliarden zu seiner Vertilgung ausgeben wollen.“38 Und noch am 28. Februar 1942 notiert Brecht, sichtlich verärgert: „Thema wieder Ist Hitler ein Hampelmann?“39 Diese Kritik, die ihr Echo bis heute in der Forschung zum Lautensack-Roman findet,40 gibt m. E. einige Argumente Feuchtwangers für seine Anlage der Figur wieder. Wie schon im „Falschen Nero“ geht es Feuchtwanger weniger um die Figur des Führers, er will nicht die Ideologie des Nationalsozialismus reproduzieren, nach der Hitler nicht nur an der Spitze, sondern zugleich im Zentrum des Systems steht, sodass ein Verständnis des Nationalsozialismus eine Analyse seiner Person nötig machen würde. Zugleich war er durch die extrem negativen Reaktionen auf sein Moskau-Buch sensibilisiert, denn ihm war von der bürgerlichen Kritik eine Verharmlosung der Person Stalins vorgeworfen worden.41 Seine nun auf den historischen Prozess ausgerichtete Analyse sieht in Hitler dann auch nur ein Rad in einer zeithistorischen Mechanik. Indem Feuchtwanger Hitler beinah als Alltagsmenschen darstellt, der im normalen sozialen Umgang schwerfällig und unbeholfen ist und dessen Wirkung sich durch eine Mischung aus Unnahbarkeit und Suggestivkraft erst in Gruppen und eben besonders vor Massen beweist, lenkt er den Blick mehr auf diese einzelnen Eigenschaften der Figur und entwirft
36 Eintrag vom 27. Februar 1942, in: Bertolt Brecht: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. v. Werner Hecht [u. a.], 30 Bde., Berlin [u. a.] 1988–2000, Bd. 27: Journale 2, S. 58. 37 Eintrag vom 25. November 1942, ebd., S. 140. 38 Eintrag vom 1. November 1941, ebd., S. 22. 39 Eintrag vom 28. Februar 1942, ebd., S. 63. 40 Vgl. Taureck [Anm. 28], Sigrid Schneider: Double, double, toil and trouble. Kritisches zu Lion Feuchtwangers Roman „Die Brüder Lautensack“, in: Modern Language Notes 95/ 3 (1980), S. 641–654, Frank Dietschreit: Lion Feuchtwanger, Stuttgart 1988, S. 83f. und Koepke [Anm. 19], S. 12. 41 Anne Hartmann: Lion Feuchtwangers Beschwörung der Sowjetunion als „Reich der Vernunft“, in: Vertriebene oder bewahrte Vernunft? Aufklärung im Exil, hg. v. Daniel Fulda, München (im Druck).
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Hitler als erschreckend durchschnittlichen Jedermann.42 Wulf Koepke geht so weit, in der Anlage der Figur Züge jenes „Bruders Hitler“ zu erkennen, den Thomas Mann in seinem umstrittenen Essay von 1938 skizziert hatte.43 Die Literaturkritik des Exils war politisch und geografisch fragmentiert und es gab wenig vergleichende Betrachtungen; erst retrospektiv haben Pioniere der Exilforschung wie Walter A. Berendsohn in Stockholm überblicksorientierte Arbeiten vorgelegt. Kritikern wie Marcel Reich-Ranicki und Hans Mayer, deren eigene Biographien mit der Geschichte des Holocaust und des Totalitarismus verbunden sind, kam deshalb nach 1945 ein besonderes Gewicht zu. Beide kritisieren nicht nur die literarische Qualität der „Brüder Lautensack“ bzw. der meisten Texte Feuchtwangers aus dem Exil, sondern attackieren auf Basis einer Mischung aus ästhetischen, moralischen und politischen Kriterien sein Werk und seine Person. Reich-Ranicki etwa erklärte 1973 Feuchtwangers „fragwürdige künstlerische Entwicklung“ aus dem Erfolg der „hohen Auflagen“, dieser habe „die künstlerische Selbstkontrolle auf fatale Weise reduziert“. Dabei sei er zu einem „Fanatiker der Deutlichkeit“ geworden, was er mit dem „Verlust der künstlerischen Sprache“ bezahlt habe.44 Hans Mayer argumentierte 1965 zwar differenzierter, aber nicht weniger radikal: „Der falsche Nero“ verbinde in „künstlerisch fragwürdiger Weise“, „bewußt und aufdringlich“ die Vergangenheit mit der Gegenwart des Jahres 1935.45 Feuchtwanger habe nicht mit der Entwicklung der literarischen Moderne Schritt gehalten, als „der alten Schule des Erzählens verpflichtet“ habe er sich der „ungebrochen epischen Darstellungsweise verschrieben“, die eine „maximale Annäherung an den Stil eines objektiven Historikers“ nötig mache. Diese distanzierte Erzählhaltung, die Mayer zwar konzise aber mit großer Schärfe seziert, charakterisiert für ihn vor allem die Wartesaal-Trilogie, aber eben auch die „Brüder Lautensack“. Das „Fehlen aller Sentimentalität“ sei zunächst „sehr anziehend“, auf Dauer aber „langweilig und monoton“. Mayers Folgerung, dies komme daher, dass der „Geist der Sprache“ Feuchtwanger verlassen habe, findet später bei Reich-Ranicki ihr Echo.46 Mayer beruft sich dabei auf Feuchtwanger selbst, der 1943, also kurz nach der Abfassung der „Brüder 42 Vgl. Peter Stolle: Das Hitlerbild in den Romanen Lion Feuchtwangers, München 2004. Auch Ernst Weiß, dessen Roman „Der Augenzeuge“ Feuchtwanger durch seine Arbeit als Juror des literarischen Wettbewerbs der American Guild for German Cultural Freedom gekannt haben dürfte, erklärt den Erfolg des totalitären NS-Regimes aus der hypnotisch-suggestiven Wirkung des „Führers“. Sein A. H. jedoch ist ein von inneren Spannungen zerrissener, von Sendungsbewusstsein, Machtwillen und Brutalität glühender Tatmensch, was dem Roman eine hohe literarische Dichte verleiht. Vgl. Norman Ächtler: Hitler’s Hysteria: War Neurosis and Mass Psychology in Ernst Weiß‘ „Der Augenzeuge“, in: The German Quarterly 80/3 (2007), S. 325–349. 43 Vgl. Koepke [Anm. 19], S. 14. 44 Marcel Reich-Ranicki: Lion Feuchtwanger oder der Weltruhm des Emigranten, in: Deutsche Exilliteratur 1933–1945, hg. v. Manfred Durzak, Stuttgart 1973, S. 443–456, hier S. 445. 45 Hans Mayer: Lion Feuchtwanger oder Die Folgen des Exils. In: Neue Rundschau 1 (1965), S. 120–129, hier S. 124. 46 Ebd., S. 126f.
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Lautensack“, in einem Vortrag offen eine „Diagnose“ abgegeben und von den „Arbeitsprobleme[n] des Schriftstellers im Exil“ berichtet hatte: Da ist zunächst die bittere Erfahrung, abgeschnitten zu sein vom lebendigen Strom der Muttersprache. Die Sprache ändert sich von Jahr zu Jahr. In den zehn oder elf Jahren unseres Exils ist das Leben sehr schnell weitergegangen, es hat für tausend neue Erscheinungen tausend neue Worte und Klänge verlangt. Einige von uns haben es mit einigem Erfolg versucht, in der fremden Sprache zu schreiben; wirklich geglückt ist es keinem, es kann keinem glücken. Allmählich, ob wir es wollen oder nicht, werden wir selbst verändert von der neuen Umwelt und mit uns verändert sich alles, was wir schaffen.47 „Deutsche Literatur, geschrieben in Kalifornien“, fährt Mayer fort, „Literatur in einer Sprache, die aufgehört hatte, lebendiges Deutsch zu sein. Feuchtwanger bemühte sich immer verzweifelter um Stilisierung der Sprache“.48 Doch mag der Grund der Stilisierung und der distanzierten Erzählhaltung auch in einer veränderten Produktionsästhetik liegen. II. Schreiben für ein neues Publikum: Adaptionen für Film und Fernsehen Vielleicht muss man im Falle der „Brüder Lautensack“ eine weitere doppelte Spiegelung auf der Metaebene des literarischen Produktionsprozesses mit einbeziehen. Wenn man mit einrechnet, dass Feuchtwanger selbst den Text nicht nur für ein nicht-deutsches Zielpublikum und zunächst als Drama und dann den Roman, zumindest teilweise, im Hinblick auf die Serialisierung in der Zeitschrift, aber vor allem auf eine mögliche Filmadaptation hin konzipiert hatte, wenn man zudem die Ausstellung des eigenen, wenig traditionellen literarischen Text-Produktionsprozesses im Roman hinzunimmt und den antizipierten Verlust der eigenen poetischen Sprache, so scheinen darin vielleicht die Umrisse einer neuen Wirkungsästhetik auf, die mehr der Rolle der Literatur im Kontext der amerikanischen Kultur entspricht. Den „Brüdern Lautensack“ war aber auf dem „Markt der Lügen“ (Brecht) zunächst kein Erfolg beschieden. In Hollywood kam keine Verfilmung zustande. Die Gründe können vielfältig sein und wären zunächst in den spezifischen inneren Funktionsmechanismen der dortigen Industrie zu suchen. Ein Grund könnte das Hitler-Bild sein, das verglichen mit Charlie Chaplins „The Great Dictator“ 47 Lion Feuchtwanger: Arbeitsprobleme des Schriftstellers im Exil, in: Freies Deutschland 3/4 (1943), S. 27f. 48 Mayer [Anm. 45], S. 128.
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oder Ernst Lubitschs „To Be or Not to Be“ deutlich unterkomplex ist. Zudem fehlen ihm alle Elemente des Sadistisch-Monströsen, die das gros der Anti-NaziFilme im Hollywood der Zeit charakterisieren. In der Bundesrepublik, dies ist hinlänglich diskutiert, ging man, mit Ausnahme Thomas Manns vielleicht, extrem zurückhaltend und zögerlich mit der Exilliteratur um – das galt auch für Adaptionen in Film und Fernsehen. Der Österreicher Gerhard Klingenberg adaptierte 1965, acht Jahre nach Feuchtwangers Tod, „Wahn oder Der Teufel in Boston“ mit Werner Hinz und Cornelia Froboess für den WDR. Wenig verwunderlich thematisiert dieses Stück nicht den Nationalsozialismus, sondern zeitkritisch die „Hexenjagd“ der McCarthy-Ära. In der DDR stieß die FernsehProduktion unter dem Dach der DEFA auf der Suche nach Stoffen und Vorlagen, die den strengen politischen Vorgaben der SED Genüge taten, schon früher auf Feuchtwanger.49 Zwar hatte dieser einer Remigration in den Osten Deutschlands eine Absage erteilt, er unterhielt aber dennoch gute Beziehungen zu vielen Kollegen und auch zur Staatsführung. 1959, ein Jahr nach seinem Tod, adaptierten Helfried Schöbel und Percy Dreger ebenfalls „Wahn in Boston“, es folgten zwei unterschiedliche Bearbeitungen der „Gesichte der Simone Machard“ (1960/1968), 1972 eine von „Kalkutta, 4. Mai“. „Die Brüder Lautensack“ wurden 1971/72 unter der Regie von Hans-Joachim Kasprzik als dreiteiliges Fernsehspiel verfilmt. In den Hauptrollen sind unter anderem Horst Schulze, Petra Hinze, Ctibor Filčík als Oskar und Klaus Piontek als Hannsjörg Lautensack sowie Rolf Hoppe und Hannjo Hasse zu sehen. Am 18. März 1973, dreißig Jahre nach der Erstveröffentlichung des Buches, wurde der erste Teil unter dem Titel „Das gewagte Spiel“ ausgestrahlt, dem am 20. März der zweite Teil „Die Menschenfischer“ und am 22. März der dritte Teil unter dem Titel „Siegfried hat geplaudert“ folgten. Der Film, der in enger Abstimmung mit Marta Feuchtwanger entstand, arbeitet für eine nach dem Krieg geborene Generation das Satirisch-Modellhafte heraus und betont das Didaktische der Fabel. Die ARD vertraute 1981 dem DDRRegisseur Egon Günther die Fernsehverfilmung von „Exil“ in sieben Teilen an, es folgten „Die Geschwister Oppermann“, für das ZDF realisiert vom BrechtSchüler Egon Monk, und 1991, wiederum für die ARD, „Erfolg“ von Franz Seitz, der nicht nur das Drehbuch schrieb, sondern auch von Bernhard Wicki die Regie übernahm.50 Der ungarische Regisseur István Szabó drehte zeitgleich eine Trilogie mit „Mephisto“ (1981), „Oberst Redl“ (1984) und „Hanussen“ (1987), in der er den Stoff wieder aufgriff und zugleich die Grundidee von Feuchtwangers Wartesaal-Trilogie erneut aufnahm. 49 Vgl. Thomas Beutelschmidt und Henning Wrage: Lion Feuchtwanger und das DDR-Fernsehen, in: Feuchtwanger and Film / Feuchtwanger und Film, hg. v. Ian Wallace, Oxford [u. a.] 2009, S. 177–194 und Jörg Thunecke: „Die Kunst des Menschenfischens“. Lion Feuchtwangers „Die Brüder Lautensack“: Roman und Fernsehfilm (1944/1973) – ein Vergleich, in: ebd., S. 195–213. 50 Insgesamt kamen zehn Verfilmungen von Feuchtwanger-Vorlagen zustande. Vgl. Harold von Hofe: Verfilmungsabkommen und Verfilmungen der Werke Lion Feuchtwangers, in: Exil. Literatur und die Künste, hg. v. Alexander Stephan, Bonn 1990, S. 205–215 und Vaupel [Anm. 5], S. 171.
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III. Fazit Wenn es um die Frage geht, ob dem Roman „Die Brüder Lautensack“ ein Platz im Kanon der Exilliteratur einzuräumen ist, fällt die Antwort wohl zunächst negativ aus: Auch wenn Feuchtwanger, wie Mayer ironisch hervorhebt, „einfach zum Klassiker gestempelt“ worden sei und sich nicht nur in Großbritannien und den USA, sondern vor allem in den Ländern des Warschauer Paktes eine zahlreiche loyale Leserschaft erworben habe, so sei dies dort, „wie in Ostberlin und Leipzig lange üblich, ohne ernsthafte kritische Analyse“ geschehen und aus dem Mangel an wahrhaft radikaler moderner Literatur hinter dem Eisernen Vorhang zu erklären.51 Der vorliegende Roman bildet jedoch auch hier eine Ausnahme und wurde deutlich weniger rezipiert; die besprochenen handwerklichen Mängel mögen mit ins Gewicht gefallen sein. Doch wenn Brecht, wie Mayer auch berichtet, zu Feuchtwangers 70. Geburtstag 1954 dem Jubilar ins Stammbuch schreibt, Menschen wie er hätten „die Pflicht, sehr alt zu werden“,52 so verweist er damit auf die zentrale Rolle der Zeitzeugen. In beiden deutschen Staaten galten auch in der literaturwissenschaftlichen Exilforschung politisch-ethische Normen, die sich von den beiden Imperativen ableiteten, an das Schicksal der verfolgten und vertriebenen Autorinnen und Autoren zu erinnern und ihre Texte als Zeugnisse dieser Verfolgung, aber auch als Dokumente des „anderen“, des „bessern Deutschlands“ im Exil zu lesen. Aber schon Frank Dietschreit hat in seiner Feuchtwanger-Monographie von 1988 die ritualhaft wiederholte Wertung der frühen Exilforschung, Feuchtwanger leiste mit „Die Brüder Lautensack“ einen „aktiven Beitrag zum Kampf gegen Hitler auf dem Feld der Literatur“53 als „Allgemeinplatz“ zurückgewiesen.54 Als „Versuch antifaschistischer Geschichtsschreibung“ hingegen, als ein Dokument der, wenn auch nicht hinreichend differenzierten Deutung des Nationalsozialismus, hat es bis heute Gewicht und findet seinen Platz in der Erinnerungskultur des Nationalsozialismus, die sich – nehmen wir Aleida Assmanns Intervention vom Anfang wieder auf – in einem Prozess der Revision, der Selbstbefragung und Neuausrichtung befindet. Eine Revision der „Brüder Lautensack“ eröffnet eine Perspektive auf eine Neubewertung der Poetik Feuchtwangers und auf ihre Veränderung in den Jahren des Zweiten Weltkriegs. Sein Blick richtet sich durch die Erstveröffentlichung in englischer Sprache und durch den Medienwechsel zum seriellen Zeitschriftenvorabdruck primär auf sein amerikanisches Publikum, seine neue Umwelt, weniger auf die diversen, verstreuten und heterogenen ExilGemeinschaften. Dafür nimmt er, zunächst am zeitkritischen Drama, dann am Film orientiert, modellhafte satirische Zuspitzungen und Vereinfachungen in Mayer [Anm. 45], S. 128f. Ebd., S. 121. 53 Schneider [Anm. 40], S. 642. 54 Dietschreit [Anm. 40], S. 82. 51 52
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Kauf. Gerade diese aber werden in den Film- und Fernsehadaptation noch extrapoliert. Die Geschichte der verschiedenen Verfilmungen konstituiert nicht nur eine eigene intertextuelle und intermediale Rezeptionsgeschichte von Feuchtwangers Exiltexten, sie wird Teil der von den audiovisuellen Medien dominierten multimedialen Erinnerungskultur und ihrer eigenen Rituale. Ergebnis der Revision ist, dass der Roman in seiner ästhetischen Sperrigkeit, vor allem aber wegen seiner Produktions- und Rezeptionsgeschichte einen Platz in einer vielfältigen und vielstimmigen multimedialen Erinnerungskultur beanspruchen kann, die zu erhalten unser Ziel sein muss.
Jörg Schuster
Anna Seghers „Transit“ (1944) I. Ein Formexperiment unter schwierigen historischen Bedingungen? 1938/39 kommt es zu einer brieflichen Auseinandersetzung zwischen Anna Seghers und Georg Lukács über dessen Theorie des Realismus und die zeitgenössische Literatur. Am Beginn ihres ersten Briefs vom 28. Juni 1938 geht Seghers auf die äußeren Umstände dieses Dialogs ein: „Der Tisch, an dem wir unsern letzten Diskussionsabend hatten – ich glaube, es war in einem Lokal in der Friedrichstraße –, ist inzwischen ein sehr großer Tisch geworden. Du sitzt sehr weit von mir weg.“1 Hingewiesen wird damit auf die erschwerten Umstände der intellektuellen Auseinandersetzung unter den Bedingungen des Exils – Seghers ist 1933 aus Deutschland geflohen und hält sich in Frankreich auf, Lukács lebt in Moskau. Das Exil und die politisch-historische Situation, durch die es erzwungen wurde, spielen aber auch inhaltlich in der literaturtheoretischen Diskussion zwischen Seghers und Lukács eine Rolle. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die Frage, wie in geschichtlichen „Krisenzeiten“ zu schreiben sei. Lukács, der bekanntlich Goethe und die bürgerlichen Realisten des 19. Jahrhunderts zu Vorbildern erhebt und von der Kunst gesellschaftliche Analyse fordert, lehnt jede Form der ‚Dekadenz‘ ab, die er in den Formexperimenten der l’art pour l’art und der Avantgarde am Werk sieht. Dem widerspricht Anna Seghers – unter Zurückweisung der Goetheschen „Gegenüberstellung ‚klassisch gleich gesund, romantisch gleich krank‘“2 und unter Berufung auf Vorbilder wie Jakob Michael Reinhold Lenz, Friedrich Hölderlin, Heinrich von Kleist oder Karoline von Günderrode – vehement. Historische „Krisenzeiten“, so Seghers, seien „in der Kunstgeschichte von jeher gekennzeichnet durch jähe Stilbrüche, durch Experimente, durch sonderbare Mischformen“.3 Die Kunst solcher Zeiten erscheine als „Zerfall. Im besten Fall absurd, experimentell. Es war aber doch der Anfang zu etwas Neuem.“4
1 Ein Briefwechsel zwischen Anna Seghers und Georg Lukács, in: Georg Lukács: Werke, Bd. 4: Probleme des Realismus I. Essays über Realismus, Neuwied / Berlin 1971, S. 345–376, hier S. 345. 2 Ebd. 3 Ebd., S. 349. 4 Ebd.
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II. Ein kafkaesker Exilroman? Existentialistischer ennui, bürokratische Absurdität und die Traditionen der literarischen Moderne Ein paradigmatisches Beispiel für ein solches Kunstwerk, das auf eine Krisenzeit mit einem künstlerischen Experiment reagiert, ist Seghers’ Roman „Transit“, der 1941/1942 entstand und den sie 1944 auf Englisch und Spanisch publizierte, aber erst 1947 auf Deutsch veröffentlichen konnte. Oft ist auf den autobiographischen Hintergrund dieses Romans verwiesen worden. Wie dessen IchErzähler flieht Seghers 1940 aus dem von den Deutschen besetzten Paris nach Marseille und bemüht sich dort um ein mexikanisches Visum. Real Erlebtes und Romanhandlung stimmen bis hin zu dem Detail überein, dass es zu Problemen mit dem Visum kommt, da es auf den Künstler- statt auf den Geburtsnamen ausgestellt ist. Der reale biographische Hintergrund: eine sozialistische Schriftstellerin flieht auf abenteuerliche Weise vor den Nationalsozialisten zunächst aus Deutschland nach Paris, dann über Marseille nach Mexiko – wie hätte sich das als Stoff für einen idealtypischen sozialistischen Roman angeboten! „Transit“ ist jedoch – über weite Strecken – alles andere als ein sozialistischer Roman. Wie bereits in Seghers’ kurz zuvor entstandenem Roman „Das siebte Kreuz“ stehen politischideologische Fragen nämlich keineswegs im Vordergrund, in beiden Fällen spielen die politischen Motive für KZ-Haft und Flucht der Protagonisten nur eine sehr untergeordnete Rolle. Der Ich-Erzähler in „Transit“ wurde in einem Konzentrationslager interniert, weil er eher im Affekt „in das Gesicht eines SA-Lümmels“5 schlug; er ist, wie er betont, „auch ohne Partei damals in Deutschland ins KZ geraten, weil“ er sich „auch ohne Partei manche Schweinerei nicht gefallen ließ.“ (S. 19)6 Doch nicht nur die politischen Gründe, auch die Flucht selbst wird von Beginn an programmatisch marginalisiert. Der wahrscheinliche Untergang eines Flüchtlingsschiffs wird bereits in den ersten Zeilen des Romans mit den Worten kommentiert: „Sie finden das alles ziemlich gleichgültig? Sie langweilen sich? – Ich mich auch.“ (S. 5) Und wenig später heißt es: „Haben Sie sie nicht gründlich satt, diese aufregenden Berichte? Sind Sie ihrer nicht vollständig überdrüssig, dieser spannenden Erzählungen von knapp überstandener Todesgefahr, von atemloser Flucht? Ich für mein Teil habe sie alle gründlich satt.“ (S. 6) Begriffe wie ‚Langeweile‘ und ‚Überdruss‘ wiederholen sich ständig, die Stimmung im besetzten Paris wird als „Langeweile, […] gottlose Leere, […] Cafard“ (S. 24) beschrieben. Nicht sozialistische Ideen werden also zum Ausdruck 5 Anna Seghers: Transit. Roman, in: dies.: Werkausgabe, Bd. I/5, bearb. v. Silvia Schlenstedt, Berlin 2001, S. 211; Nachweise im Folgenden nach dieser Ausgabe im fortlaufenden Text. 6 Dieser Impetus verfestigt sich am Schluss des Romans zu dem Entschluss, nicht nach Mexiko zu emigrieren, sondern in Südfrankreich Landarbeit und im Falle einer deutschen Besetzung bewaffneten Widerstand zu leisten (vgl. S. 279).
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gebracht, viel eher ist die Grundstimmung der existentialistische ennui. Nicht Widerstand und Flucht als heroische Handlungen, sondern das Warten als existentielle Grundsituation, die im konkreten Zustand des Transits nur symbolisch zugespitzt scheint, steht im Mittelpunkt. Der Transit wird zur Chiffre existentieller Leere. Von einer „unermeßliche[n] Öde“ (S. 254) ist da die Rede: „Wie einem die Zeit doch öd werden kann auf der zitternden Erde zwischen zwei Feuersbrünsten“ (S. 190). Das von auf ihre Ausreise wartenden Transitären bevölkerte Marseille wird als ein Ort nicht des Lebens, sondern der bloßen leeren Geschäftigkeit geschildert; Behördengänge auf der Jagd nach Ausreisepapieren, Transit- und Aufenthaltsgenehmigungen stellen die einzige Form der Aktivität dar, die durch Gerüchte über abfahrende Schiffe oder versperrte Transitwege untermalt wird. Wie in einem ewigen, sinnlosen Kreislauf kreuzen sich die Wege der Transitäre immer wieder, ohne dass es zu tatsächlichen zwischenmenschlichen Kontakten käme: „All diese gleichgültigen Begegnungen, all diese sinnlosen Wiedersehen bedrückten mich in ihrer sturen Unvermeidlichkeit.“ (S. 224) Seinen deutlichsten Ausdruck findet diese Situation im von einem jüdischen Flüchtling erzählten Märchen von dem toten Mann. Er wartete in der Ewigkeit, was der Herr über ihn beschlossen hatte. Er wartete und wartete, ein Jahr, zehn Jahre, hundert Jahre. Dann bat er flehentlich um sein Urteil. Er konnte das Warten nicht mehr ertragen. Man erwiderte ihm: „Auf was wartest du eigentlich? Du bist doch schon längst in der Hölle?“ Das war sie nämlich: Ein blödsinniges Warten auf Nichts. (S. 208f.) Dieses „Märchen“ kann als eine Radikalisierung der „Türhüter-Parabel“ aus Kafkas Roman „Der Proceß“ verstanden werden. Wird der „Mann vom Lande“ bei Kafka kurz vor seinem Tod darauf hingewiesen, dass der Eingang, vor dem er Jahre lang wartete, „nur für [ihn] bestimmt“7 war, womit im Nachhinein auf tragisch-paradoxe Weise die Möglichkeit des Einlasses aufscheint, so ist bei Seghers das Warten eine schlechtweg ausweglose Situation, eine Vorwegnahme der Hölle, die jede Höllenqual ersetzt. Die Affinität zu Kafka ist in Seghers’ Roman noch auf eine andere Weise gegeben. Kafkaesk ist nicht nur die Ausweglosigkeit des Wartens, sondern auch die konkrete Schilderung der Transit-Situation als bürokratischer Teufelskreis.8 Ständig ist bei Seghers’ Transitären etwa ein Visum in dem Moment abgelaufen, in dem die lange erwartete Transiterlaubnis eines anderen Lands eintrifft, so dass der bürokratische Prozess von vorne zu beginnen hat. Einer der geschilderten Franz Kafka: Der Proceß. Roman, hg. v. Malcolm Pasley, Frankfurt a. M. 1993, S. 231. Vgl. Caroline Delfau: Zwischen den Welten. Zur Poetik des Transitorischen in Anna Seghers Roman „Transit“ und ihrer Novelle „Überfahrt“, in: Exil ohne Rückkehr. Literatur als Medium der Akkulturation nach 1933, hg. v. Sabina Becker u. Robert Krause, München 2010, S 38–56, hier S. 44. 7 8
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exilierten Schriftsteller erhält vom Fremdenamt den Bescheid „Zwangsaufenthalt in Marseille“, während die Anweisung der Präfektur lautet: „Muß zurück in sein Ursprungsdepartement“ (S. 71). Sein Visa de Sortie erhält er in Marseille nicht, da er ausgewiesen ist, tatsächlich abreisen kann er aber nicht, da er zu Zwangsaufenthalt verpflichtet ist. Die Darstellung bürokratischer Absurdität gipfelt in Szenen wie der folgenden im brasilianischen Konsulat, die bis in Details Kafkas Romanen „Der Proceß“ oder „Das Schloss“ entstammen könnte: Mein Freund […] hielt den jungen Menschen [einen Konsulatsangestellten, J. S.] gepackt, der unerwartet ganz kräftig auf portugiesisch zu fluchen begann, bis aus dem innersten Innenraum des Konsulats nie gesehene, nie geahnte Beamte heraussprangen, die Wartenden zurückdrängten, bis auf meinen Freund, der nicht losließ. Auf einmal fingen die Schreibmaschinen zu klappern an, die Visenanträge wurden eingesammelt. (S. 244) Durch solche intertextuellen Verweise ist deutlich markiert, dass sich der Roman in die Tradition der literarischen Moderne, in die Tradition des von Lukács abgelehnten modernen Formexperiments stellt. Insbesondere spielt der Text mit dem für die Moderne seit dem Symbolismus und dem Expressionismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts spezifischen Phänomen der Verselbständigung des Signifikanten, der Autonomisierung des Sprachmaterials, das vom Zwang der Referentialisierung losgelöst erscheint.9 Heißt es in Kafkas „Schloss“-Roman in diesem Sinne etwa, alle Vermutungen über die Welt des Schlosses und seine Machtstrukturen seien „nur auf […] Worten, also fast gar nicht begründet“,10 und kommt es dort zur absurden Verselbständigung von Medien wie der Schrift der Akten oder dem Telefon, so geht es auch in „Transit“ um „die Erzählung papierner Abenteuer, den Durchbruch durch einen Urwald von Dossiers“ (S. 124). Die Dossiers zeichnen sich wiederum durch „allerlei Namensverschiebung“ (S. 172) aus. Der Ich-Erzähler verdankt seine erfolgreichen Bemühungen um sein MexikoVisum, das er schließlich aber verfallen lässt, der Tatsache, dass er die Papiere des verstorbenen Schriftstellers Weidel auf dem mexikanischen Konsulat abgeben möchte und dieser Name für seinen eigenen Künstlernamen gehalten wird. Das Spiel der Umkehrungen, das für den Roman konstitutiv ist, erreicht darin seinen Höhepunkt. Wie nur die Personen in Marseille bleiben dürfen, die 9 Vgl. zum Problemzusammenhang Gotthart Wunberg: Unverständlichkeit. Historismus und literarische Moderne, in: Hofmannsthal-Jahrbuch zur Europäischen Moderne 1 (1993), S. 309–350; ders.: Historismus, Lexemautonomie und Fin de siècle. Zum Décadence-Begriff in der Literatur der Jahrhundertwende, in: Arcadia. Zeitschrift für Vergleichende Literaturwissenschaft 30 (1995), S. 31–61; Moritz Baßler [u. a.]: Historismus und literarische Moderne, Tübingen 1996. 10 Franz Kafka: Das Schloß. Roman, hg. v. Malcolm Pasley, Frankfurt a. M. 1994, S. 229.
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nachweislich ausreisen wollen – „Wir dulden hier in Marseille nur Fremde, die uns den Beweis erbringen, daß sie die Abfahrt beabsichtigen“ (S. 66f.), lautet die Argumentation des Beamten im Fremdenamt –, so gelingt die lebensrettende Bewerkstelligung der Ausreiseformalitäten gerade für einen Menschen, der bereits tot ist. Die im Transit versinnbildlichte Situation des endlosen Wartens und die Absurdität der labyrinthischen modernen Bürokratie erscheinen als so leer, scheinhaft und leblos, dass in ihr die Toten die Gewinner sind. Auch die einzige Hoffnung der Transitäre, die abfahrenden Schiffe, werden als Phantome, als auf den Charakter reiner Signifikanten reduzierte bloße Namen geschildert: „Denn keine Schiffe, nur eine schwache Hoffnung auf Schiffe bedeuteten die mit Kreide notierten Namen, die auch immer sofort ausgelöscht wurden, weil irgendeine Meerenge unterminiert oder eine neue Küste beschossen wurde.“ (S. 69)11 Zur Darstellung völliger Ausweglosigkeit und existentieller Leere werden hier also die Innovationen der literarischen Moderne aufgegriffen, insbesondere indem die Autonomie sprachlicher Signifikanten ausgestellt wird. Diese Kombination aus inhaltlich dargestellter historischer Krise und literarischer Modernität lässt Seghers’ Roman als ein Werk erscheinen, das die von Georg Lukács benannten Kriterien der ‚Dekadenz‘ erfüllt – zumal der Befund der existentiellen Leere keineswegs durch die dialektische Analyse der gesellschaftlich-historischen Situation fundiert ist. Die Frage des politisch-sozialen Fortschritts steht keineswegs im Vordergrund; in der Situation endlosen Wartens erscheint der Verlauf der Zeit nicht zielgerichtet, sondern kontingent und sinnlos. Ein Albert Camus hätte dies nicht prägnanter ausdrücken können als Anna Seghers in so eindrucksvollen Passagen wie der folgenden Beschreibung des Blicks aus einem Straßencafé: Der Platz „war leer. Nicht nur unermeßliche Leere schien den Platz zu erfüllen, trotz seiner Zeitungsbuden und frierenden Bäume, sondern unermeßliche Zeit. Vermischt mit dem Staub, schien der Wind ungeheure Stöße von Zeit daherzufegen.“ (S. 206)12
11 Hervorhebungen durch J. S. Ironisch heißt es an anderer Stelle: „Jetzt hieß es von neuem und mit noch größerer Gewißheit, von Marseille sollten Schiffe nach Mexiko abfahren. Man nannte auch wieder ihre Namen: ‚Republica‘, ‚Esperanza‘, ‚Passionaria‘. Bestimmt mußten diese Schiffe abgehen, da man selbst auf den Namen beharrte, nie würden sie mit einem Schwämmchen abgewischt werden von den Tafeln der Schiffahrtsgesellschaften, nie würden ihre Bestimmungshäfen in Flammen aufgehen, für sie gab es keine unpassierbaren Meerengen. Auf einem solchen Schiff wäre ich auch gern gefahren, mit solchen Mitreisenden.“ (S. 101) 12 Gerade in der Verbindung der Kategorie der Zeit mit dem Moment der Leere ist eine deutliche Nähe zur phänomenologischen Ontologie Jean-Paul Sartres zu sehen. In seinem Hauptwerk „L’être et le néant“ (1943) fasst Sartre die Zeit in ihrem Charakter des Nicht-mehr und Noch-nicht als Aspekt der ontologischen Grundkategorie des Nichts (‚néant‘) auf.
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III. Eine „neue Sheherazade“: Unterschiedliche Modelle des Erzählens und ein Archiv für Exil-Geschichten Doch ist das wirklich alles, bleibt Seghers’ Roman tatsächlich beim Befund absoluter existentieller Sinnlosigkeit und Leere stehen? Die Antwort auf diese Frage fällt angesichts der Komplexität des Texts nicht leicht. Zwei Aspekte sind in diesem Zusammenhang hervorzuheben. Zunächst einmal gilt es darauf hinzuweisen, dass der Roman durchaus Elemente enthält, die einen Gegenpol zur geschilderten Situation der Sinnlosigkeit darstellen. Dafür ist gerade die unmittelbare Fortsetzung der zuletzt zitierten Passage ein Beispiel. Auf dem spanischen Konsulat erfährt der Ich-Erzähler eine seiner wenigen Niederlagen im Verlauf des Versuchs, im Namen des verstorbenen Schriftstellers Weidel ein Visum zu erhalten. Weidel hatte nämlich, in einem affektiv-spontanen Akt des Widerstands, der an das eigene Verhalten des Ich-Erzählers erinnert, in einer Erzählung ein Massaker des spanischen Regimes angeprangert. Das Motiv des „Staubs“ aus der vorhergehenden Passage aufgreifend, wird aufgrund dieses Zwischenfalls ein Gegenbild zur ubiquitären Sinnlosigkeit entworfen: Er ist also doch nicht nur Staub, dachte ich, nicht nur Asche, nicht nur eine schwache Erinnerung an irgendeine vertrackte Geschichte, die ich kaum wieder erzählen könnte […]. Es bleibt noch etwas zurück, das genug lebt, das genug gefürchtet wird, damit man die Grenzen vor ihm sperrt, damit man ihm Länder verschließt. (S. 210) Gerade indem die Visenbeschaffung scheitert, wird hier auf die Möglichkeit gelingenden vorbildhaften politisch-moralischen Handelns hingewiesen. Während sonst gerade dem Toten, auf dessen Namen Visen und Ausreisepapiere ausgestellt sind, alle Wege offen stehen, versperrt hier das, was von ihm bleibt, von ihm weiterlebt, ein von seinen Feinden unvergessener Akt des Widerstands, den Weg – der Tote lebt. Diskrepanzen wie die zwischen dem Bild des Staubs, der Leere und der ungeheuren Stöße von Zeit im Blick aus dem Fenster des Cafés einerseits und der nicht auslöschbaren Erinnerung an „ein jähes Eingreifenmüssen in einem Nureben-dahinleben“ (S. 211) andererseits sind charakteristisch für den Roman. Sie erklären, warum er in der Nachkriegszeit in Westdeutschland als Roman des
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Existentialismus, im Osten dagegen als sozialistischer Roman gelesen werden konnte.13 Beide Lesarten sind im Text angelegt. Ein zweiter entscheidender Aspekt kommt in der Einschätzung des Romans jedoch hinzu, nämlich die im Briefwechsel zwischen Seghers und Lukács diskutierte Frage des Formexperiments. Als ein solches Experiment, so die These, ist „Transit“ – neben den bereits dargestellten Aspekten der produktiven Rezeption der literarischen Moderne – vor allem deshalb anzusehen, weil er mit unterschiedlichen Modellen des Erzählens experimentiert. Die Erzählsituation, wie sie am Beginn des Romans suggeriert wird, ist durch den Charakter der Mündlichkeit, des Dialogs geprägt. Fingiert wird eine Szenerie in einer Pizzeria am Hafen von Marseille, in der der namenlose Ich-Erzähler, der in der intradiegetischen Erzählung die Identität Seidlers / Weidels annimmt, einem nicht näher beschriebenen Gegenüber seine Geschichte erzählt. Damit wird eine Form des Erzählens ausgestellt, wie sie Walter Benjamin 1936 in seinem Essay „Der Erzähler“ reflektiert und in seiner Rezension von Seghers’ Roman „Die Rettung“ von 1938 wieder aufgegriffen hatte: „Die Stimme der Erzählerin“, bemerkt Benjamin dort, „hat nicht abgedankt. Viele Geschichten sind in das Buch eingesprengt, welche darin auf den Hörer warten.“14 Der archaische Charakter der Erzählsituation in „Transit“ wird unterstrichen durch das Setting am offenen Feuer des Pizzaofens sowie durch das erhabene Bild der untergehenden Sonne: „Setzen Sie sich bitte zu mir. Was möchten Sie am liebsten vor sich sehen? Wie man die Pizza bäckt auf dem offenen Feuer? […] Den alten Hafen? […] Sie können die Sonne untergehen sehen hinter dem Fort St. Nicolas. Das wird Sie sicher nicht langweilen.“ (S. 5) Damit wird bewusst ein Kontrapunkt gegenüber den ironisch-skeptisch eingeschätzten „aufregenden Berichten“ und „spannenden Erzählungen“ (S. 6) von Flucht und Transit gesetzt, derer der Erzähler überdrüssig zu sein vorgibt. Im Kontrast zu diesen ‚flüchtigen‘ 13 Eine gründliche Darstellung der Rezeptionsgeschichte liefert das Nachwort von Silvia Schlenstedt, in: Seghers [Anm. 5], S. 311–354, hier S. 346–354. Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Rezeption im Ost- und Westteil Deutschlands zwischen 1949 und 1989 nimmt Klaus Müller-Salget eine ausgleichende Position ein, indem er die im Roman geschilderte Situation der Emigranten als mythische Darstellung der Unterwelt interpretiert, der jedoch der Versuch eines ebenso ‚gewöhnlichen‘ wie ‚lebendigen‘ Lebens gegenübergestellt sei; vgl. Klaus Müller-Salget: Totenreich und lebendiges Leben. Zur Darstellung des Exils in Anna Seghers’ Roman „Transit“, in: ders.: Literatur ist Widerstand, Innsbruck 2005, S. 45–59; eine innovative Lesart bietet Anthony Waine (Anna Seghers’s „Transit“. A Late Modern Thriller – Without Thrills, in: Neophilologus 89 [2005], S. 403–418) an, der den Roman in den Kontext des Genres ‚Thriller‘ stellt. 14 Walter Benjamin: Eine Chronik der deutschen Arbeitslosen. Zu Anna Seghers Roman „Die Rettung“, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1972, S. 530–538, hier S. 533; vgl. Lutz Winckler: Eine Chronik des Exils. Erinnerungsarbeit in Anna Seghers „Transit“, in: Exilforschung 28 (2010), S. 194–210. Nicht zufällig findet sich in „Transit“ auch eine versteckte Anspielung auf Walter Benjamin, der 1940 auf der Flucht vor den Nationalsozialisten in Portbou an der französisch-spanischen Grenze Selbstmord beging: „In einem Hotel in Portbou, jenseits der spanischen Grenze, hatte sich in der Nacht ein Mann erschossen, weil ihn die Behörde am nächsten Morgen nach Frankreich hatte zurückschaffen wollen.“ (S. 196)
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Geschichten („Wie flüchtig ist das Geraschel von ein paar Worten, wie Geldscheine, die man in Eile wechselt.“ S. 6) möchte der Ich-Erzähler „gern einmal alles erzählen, von Anfang bis zu Ende“ (S. 6). Denn, wie es in einer späteren Meta-Reflexion heißt, „abgeschlossen ist, was erzählt wird.“ (S. 215) Dieses Vorhaben gelingt innerhalb der Fiktion des Romans, denn das Ende der intradiegetischen fällt tatsächlich zeitlich mit dem Beginn der extradiegetischen Erzählung zusammen; die Binnenhandlung endet damit, „daß ich mich hierher in die Pizzeria zurückzog“ (S. 280), was dann zur rahmenden Situation des Gesprächs und des Erzählens führt – hier wird also tatsächlich ‚zu Ende erzählt‘, etwas ‚abgeschlossen‘. Mit der archaischen Mündlichkeit geht somit das erzählerische Ideal der Vollständigkeit und Ganzheit einher. Dem propagierten Modell des mündlichen Erzählens korrespondiert die Tatsache, dass es sich beim Ich-Erzähler der Romanfiktion zufolge um einen Monteur handelt, der mit Literatur, wie er mehrfach betont, nichts zu tun haben möchte: „Lesen? […] Nie wieder! Ich spürte den alten Unwillen meiner Knabenzeit gegen Bücher, die Scham vor bloß erfundenem, gar nicht gültigem Leben.“ (S. 109) Allerdings gibt es in der Einstellung des Ich-Erzählers der Literatur gegenüber eine Ausnahme: Von einer Geschichte, deren Manuskript er unter den Papieren Weidlers findet, ist er „verzaubert“ (S. 25). Diese Geschichte steht mit der vom Ich-Erzähler selbst erzählten in einem merkwürdigen Spiegelungsverhältnis: „Das Ganze war eine ziemlich vertrackte Geschichte mit ziemlich vertrackten Menschen. Ich fand auch, daß einer darunter mir selbst glich.“ (S. 26) Später heißt es, der Schriftsteller Weidler habe „Verwicklungen alten Stils“ (S. 157) geliebt – eine Beschreibung, die auch auf die vom Ich-Erzähler erlebte und erzählte Geschichte zutrifft, nimmt er doch die Identität des Schriftstellers Weidler an und verliebt sich in Marseille unwissend in dessen Freundin, die auf der Suche nach dem vermissten Mann wiederum in die Irre geführt wird, da ihr auf den Konsulaten berichtet wird, ihr Mann halte sich in der Stadt auf. Damit ist die Möglichkeit einer mise en abyme zumindest angedeutet. In einem wichtigen Punkt unterscheidet sich die von Weidler geschriebene jedoch von der vom IchErzähler berichteten Geschichte: Sie ist nicht zu Ende erzählt, sie bricht plötzlich ab, da ihr Autor im von den Nazis besetzten Paris Selbstmord verübt. Allerdings erlangt sie – trotz ihres fragmentarischen Charakters – ihre Vollendung auf andere Weise in sich selbst. Ihre Figuren, so heißt es ins Eschatologische gewendet, „waren schon alle klar und lauter, als hätten sie alle schon abgebüßt, als wären sie schon durch ein Fegefeuer durchgegangen, durch einen kleinen Brand, das Gehirn dieses toten Mannes.“ (S. 27) Weidlers Werk erlangt seine besondere Dignität – aus der Perspektive des Ich-Erzählers als seines fiktiven Rezipienten – somit durch die Inszenierung von Autorschaft als existentieller Extremsituation. Sie umgibt den fiktiven Schriftsteller und seine Figuren mit einer quasireligiösen Aura der Läuterung und Verklärung.
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Mit dem innerhalb des Romans ausgestellten Modell des mündlichen Erzählens wird aber ferner, neben der von Weidler verfassten Geschichte, noch eine andere Form des Erzählens konfrontiert – eben jene zu Beginn pejorativ erwähnten „spannenden“ Flüchtlings-Geschichten, die den Ich-Erzähler in ihrer Masse und Austauschbarkeit angeblich langweilen. Diese Abwehrhaltung wird vom Ich-Erzähler auch innerhalb der Binnenhandlung eingenommen. Als er wieder einmal zusammen mit anderen Transitären im Café sitzt, heißt es: „Sie schwatzten alle unaufhörlich von ihren Transits, von ihren abgelaufenen Pässen, von Dreimeilenzonen und Dollarkursen, von Visen de Sortie und immer wieder von Transit. Ich wollte aufstehen und fortgehen. Ich ekelte mich.“ (S. 88) Doch wieder kommt es zu einem plötzlichen ‚Umschlag‘: Auf einmal fand ich all das Geschwätz nicht mehr ekelhaft, sondern großartig. Es war uraltes Hafengeschwätz, so alt wie der Alte Hafen selbst und noch älter. Wunderbarer uralter Hafentratsch, der nie verstummt ist, solang es ein Mittelländisches Meer gegeben hat, phönizischer Klatsch und kretischer, griechischer Tratsch und römischer, niemals waren die Tratscher alle geworden, die bange waren um ihre Schiffsplätze und um ihre Gelder, auf der Flucht vor allen wirklichen und eingebildeten Schrecken der Erde. […] immer alle auf der Flucht vor dem Tod, in den Tod. (S. 88f.) Auch das „Hafengetratsch“, das den Ich-Erzähler zunächst mit Ekel erfüllt, wird also verklärt, indem es ins Mythisch-Überzeitliche gehoben wird. Alle drei in „Transit“ miteinander konkurrierenden Formen des Erzählens erfahren somit eine Idealisierung: Die Geschichte des Ich-Erzählers, indem sie abgeschlossen ist, die von Weidler verfasste Geschichte, indem sie durch die Inszenierung von Autorschaft als existentielle Extremsituation „klar und lauter“ wirkt, und sogar das „Hafengeschwätz“, indem ihm die Dignität des Überzeitlichen zugesprochen wird. Poetisch aufgehoben ist das „Hafengetratsch“, sind die unzähligen, dem IchErzähler bis zum Überdruss bekannten Flüchtlingsgeschichten aber noch auf eine andere Weise – indem sie nämlich innerhalb des Romans selbst immer wieder erzählt werden. Neben der abgeschlossenen Geschichte des Ich-Erzählers enthält „Transit“ ein Kaleidoskop von Flüchtlings-Schicksalen, die nie zu Ende erzählt werden, den Haupthandlungsstrang aber ständig unterbrechen. Die Struktur des Romans ist geprägt durch zahllose Digressionen und Binnenerzählungen („Bitte verzeihen Sie diese Abschweifung. Wir stehen dicht vor der Hauptsache.“ S. 15) Nicht nur auf der Inhaltsebene erweist sich das Werk also als überaus vielschichtig, wenn nicht widersprüchlich, indem neben der existentiellen Leere immer wieder mutige Akte des Widerstands geschildert werden. Das gleiche gilt
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vielmehr auch in formaler Hinsicht, indem der Roman unterschiedliche Erzählmodelle präsentiert. Genau darin ist sein experimenteller Charakter zu sehen. Insofern dieses formale Experiment mit der Darstellung einer Situation verbunden ist, die nicht etwa dialektisch analysiert, sondern über weite Strecken in ihrer Ausweglosigkeit geschildert wird, wäre man aus der Perspektive eines Georg Lukács berechtigt, von ‚Dekadenz‘ zu sprechen. Bei genauerem Hinsehen ist es jedoch gerade der Experimentalcharakter des Romans, der zu einem positiven Gegenpol zur inhaltlich festgestellten existentiellen Leere führt. Indem nämlich unterschiedliche Erzählmodelle miteinander konkurrieren, ist neben der zu Ende erzählten Haupthandlung ein Kaleidoskop zahlreicher Flüchtlingsgeschichten für den Roman konstitutiv. Die Einzelschicksale sind somit in einer Art Archiv aufbewahrt. Damit erscheinen sie letztlich nicht als sinnlos – durch ihre poetische Aufhebung im Roman wird vielmehr jedem einzelnen von ihnen seine Würde zugesprochen.
Personenregister Enthalten sind alle vorkommenden Personennamen mit Ausnahme der von mythologischen und literarischen Figuren sowie der von Verfassern von Sekundärliteratur. Alphons XIII. von Spanien (1886–1941) 70f. Altmann, Lotte (1908–1942) 153 Annenkowa, Julia (1903–1939) 133 Aristoteles (384–322 v. Chr.) 45 Arout, François-Marie (1694–1778) 41 Auerbach, Erich (1892–1957) 114 August Wilhelm von Preußen (1887–1949) 54 Bachmair, Heinrich Franz Seraph (1889–1960) 100 Balzac, Honoré de (1799–1850) 103 Barth, Emil (1879–1941) 82 Baudelaire, Charles (1821–1867) 39, 94 Becher, Johannes R. (1891–1958) 99–109, 127 Ben-Chorin, Schalom (1913–1999) 175 Beneš, Edvard (1884–1948) 62f. Benjamin, Walter (1892–1940) 39, 89, 96, 114, 118, 130, 167, 210 Benn, Gottfried (1886–1956) 36, 41, 179 Beyle, Marie-Henri (1783–1842) 103 Bingham, Hiram IV (1903–1988) 191 Bonaventura s. Klingemann, Ernst August Friedrich Braak, Menno ter (1902–1940) 43 Brahms, Johannes (1833–1897) 37 Brecht, Bertolt (1898–1956) 7, 10, 16f., 88–98, 113, 186, 191f., 198, 200–202 Brentano, Bernard von (1901–1964) 131 Broch, Hermann (1886–1951) 10, 130 Buber, Martin (1878–1965) 175f., 181 Buddha (Siddhartha Gautama) (ca. 563–ca. 483 v. Chr.) 95 Burckhardt, Jacob (1818–1897) 48 Camus, Albert (1913–1960) 208 Celan, Paul (1920–1970) 182 Cervantes, Miguel de (ca. 1547–1616) 50, 56, 60 Cézanne, Paul (1839–1906) 94 Chambers, Whittaker (1901–1961) 128 Chaplin, Charlie (1889–1977) 200
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Cranach, Lucas d. Ä. (ca. 1472–1553) 55 Dante Alighieri (1265–1321) 95 Daumier, Honoré (1808–1879) 56f. Dewald, Harry (1904–1973) 134f. Döblin, Alfred (1878–1957) 10, 43, 62, 78–87, 131 Dollfuß, Engelbert (1892–1934) 138 Dreger, Percy (?) 201 Dürer, Albrecht (1471–1528) 54 Ebert, Friedrich (1871–1925) 81–83 Ehrenburg, Ilja (1891–1967) 189 Einstein, Albert (1879–1955) 125 Eisner, Kurt (1867–1919) 82 Emerson, Ralph Waldo (1803–1882) 48 Empedokles (ca. 495–ca. 435 v. Chr.) 95 Feuchtwanger, Lion (1884–1958) 11, 32, 49, 80, 136, 186–203 Feuchtwanger, Marta (1891–1987) 191, 201 Filčík, Ctibor (1920–1986) 201 Flaubert, Gustave (1821–1880) 105 Flavius Josephus (37/38–ca. 100) 189 Frank, Bruno (1887–1945) 16, 50–63, 136 Frank, Leonhard (1882–1961) 62 Frei, Bruno (1897–1988) 188, 194 Froboess, Cornelia (*1943) 201 Fry, Varian (1907–1967) 191 Gide, André (1869–1951) 189 Glaise-Horstenau, Edmund (1882–1946) 138 Gluck, Christoph Willibald Ritter von (1714–1787) 147 George V. von England (1865–1936) 59 Goebbels, Joseph (1897–1945) 90, 194 Goethe, Johann Wolfgang von (1749–1832) 22–28, 30, 77, 85, 144, 171f., 204 Gorbatschow, Michail (*1931) 127 Gottfried von Straßburg († ca 1215) 85 Goya, Francisco de (1746–1828) 54f., 60 Graf, Oskar Maria (1894–1967) 110–126, 134 Graf, Therese (1857–1934) 121f. Gröner, Wilhelm (1867–1939) 83 Großmann, Stefan (1875–1935) 130 Günderrode, Karoline Friederike Louise Maximiliane von (1780–1806) 204
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Günther, Egon (*1927) 201 Hanussen, Erik Jan (1889–1933) 188f., 191, 193f. Harlan, Veit (1899–1964) 187, 192 Hasenclever, Walter (1890–1940) 77 Hasse, Hannjo (1921–1983) 201 Hay, Julius (1900–1975) 109, 127 Haydn, Joseph (1732–1809) 147 Heiden, Konrad (1901–1966) 131 Heine, Heinrich (1797–1856) 95, 190 Heinrich IV., von Navarra (1553–1610) 42, 44f., 47, 49 Herzfelde, Wieland (1896–1988) 88–90, 94 Heyse, Paul Johann Ludwig von (1830–1914) 144 Hindenburg, Paul Ludwig Hans Anton von Beneckendorff und von (1847–1934) 82f., 194 Hinz, Werner (1903–1985) 201 Hinze, Petra (*1942) 201 Hitler, Adolf (1889–1945) 24, 26f., 48, 52, 56, 75, 78, 83, 90, 92, 97f., 136, 138, 188, 193, 195, 198f. Hofmannsthal, Hugo von (1874–1929) 137, 139, 147f. Hölderlin, Johann Christian Friedrich (1770–1843) 94, 204 Hoppe, Rolf (*1930) 201 Huebsch, Benjamin William (1876–1964) 191f. Huppert, Hugo (1902–1982) 127 Joyce, James (1882–1941) 192 Jung, Franz (1888–1963) 118 Kafka, Franz (1883–1924) 147, 206f. Kamenew, Lew (1883–1936) 128 Kantorowicz, Alfred (1899–1979) 51 Kasprzik, Hans-Joachim (1928–1997) 201 Keller, Gottfried (1819–1890) 141 Kesten, Hermann (1900–1996) 10 Keun, Irmgard (1905–1982) 10 Kleist, Bernd Heinrich Wilhelm von (1777–1811) 204 Klingemann, Ernst August Friedrich (1777–1831) 76 Klingenberg, Gerhard (*1929) 201 Kolb, Annette (1870–1967) 65–67 Kraft, Werner (1896–1991) 175 Kraus, Karl (1874–1936) 136 Krenek, Ernst (1900–1991) 136
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Kurella, Alfred (1895–1975) 127 Landauer, Gustav (1870–1919) 82 Landshoff, Fritz Helmut (1901–1988) 52, 61 Laotse (6. Jahrhundert v. Chr.) 95 Lasker-Schüler, Elisabeth (Else) (1869–1945) 174–185 Lawrence, David Herbert (1885–1930) 192 Lenin, Wladimir Iljitsch (1870–1924) 83, 132 Lenz, Jakob Michael Reinhold (1751–1792) 204 Lernet-Holenia, Alexander (1897–1976) 33 Lessing, Gotthold Ephraim (1729–1781) 104, 178 Liebknecht, Karl Paul August Friedrich (1871–1919) 79f., 83 Lubitsch, Ernst (1892–1947) 201 Ludendorff, Erich Friedrich Wilhelm (1865–1937) 81 Lukács, Georg (1885–1971) 42, 127, 204, 206f., 210 Luxemburg, Rosa (1871–1919) 79f. Mahler-Werfel, Alma Maria (1879–1964) 138, 191 Malraux, André (1901–1976) 134, 189 Mann, Golo (1909–1994) 52f., 191 Mann, Heinrich (1871–1950) 41–49, 80, 136, 191, 194, 196 Mann, Klaus (1906–1949) 51f., 64, 126, 134, 164–173 Mann, Nelly (1898–1944) 191 Mann, Thomas (1875–1955) 10, 19–30, 52, 61–65, 77, 90, 130, 146, 149, 196, 199, 201 Marc, Franz (1880–1916) 183 Marchlewska, Sonja (1898–1983) 132 Marcuse, Ludwig (1894–1971) 43, 50, 58, 136 Maria Theresia von Österreich (1717–1780) 147f. Marian, Ferdinand (1902–1946) 192 Martial (Marcus Valerius Martialis) (40–102/104) 187 Mayenburg, Ruth von (1907–1993) 109 McCarthy, Joseph Raymond (1908–1957) 201 Meier-Graefe, Julius (1867–1935) 66 Merz, Konrad (1908–1999) 169f. Milton, John (1608–1674) 85 Mittler, Leo (1893–1958) 192 Monk, Egon (1927–2007) 201 Mozart, Wolfgang Amadeus (1756–1791) 147 Mühsam, Erich Kurt (1878–1934) 118 Münzenberg, Wilhelm (1889–1940) 62, 188 Mussey, June Barrows (1910–1985) 128
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Mussolini, Benito (1883–1945) 138 Nietzsche, Friedrich (1844–1900) 25, 27f., 154 Oberländer, Heinrich (1909–2001) 134f. Ottwalt, Ernst (1901–1943) 127 Ovid (Publius Ovidius Naso) (43 v. Chr.–17 n. Chr.) 95 Perutz, Leo (1882–1957) 136 Pieck, Wilhelm (1876–1960) 132–134 Pinner, Erna (1890–1987) 66 Piontek, Klaus (1935–1998) 201 Po Chü-i (772–846) 95 Proust, Marcel (1871–1922) 108, 166 Ravel, Joseph-Maurice (1875–1937) 151 Regler, Gustav (1898–1963) 80, 82, 126–135 Regler, Marie Luise s. Vogeler, Marie Luise Reinhardt, Max (1873–1943) 135 Rilke, Clara s. Westhoff, Clara Henriette Sophie Rilke, Rainer Maria (1875–1926) 180 Rodin, Auguste (1840–1917) 94 Röhm, Ernst Julius Günther (1887–1934) 82, 194 Roosevelt, Franklin Delano (1882–1945) 23, 25, 81 Roth, Joseph (1894–1939) 62, 136 Sahl, Hans (1902–1993) 10, 43, 131 Sartre, Jean-Paul (1905–1980) 208 Schickele, René (1883–1940) 16, 64–77, 136 Schiller, Johann Christoph Friedrich von (1759–1805) 139, 190 Schillings, Max von (1868–1933) 41 Schleicher, Kurt Ferdinand Friedrich Hermann von (1882–1934) 81 Schnitzler, Arthur (1862–1931) 143 Schöbel, Helfried (*1927) 201 Schopenhauer, Arthur (1788–1860) 23, 26, 28 Schrimpf, Georg Gerhard (1889–1938) 118 Schulze, Horst (*1921) 201 Schuschnigg, Kurt (1897–1977) 138 Schwarzschild, Leopold (1891–1950) 52, 62, 127f., 130–134 Scott, Sir Walter (1771–1832) 44 Seghers, Anna (1900–1983) 10, 116, 204–213 Seitz, Franz jun. (1921–2006) 201
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Shakespeare, William (1564–1616) 77 Sharp, Martha (1905–1999) 191 Sharp, Waitstill (1902–1984) 191 Simon, Ernst (1899–1988) 175, 179, 181 Sinowjew, Grigori Jewsejewitsch (1883–1936) 127 Sophokles (497/496–406/405 v. Chr.) 85 Sorel, Georges Eugène (1847–1922) 192 Spengler, Oswald (1880–1936) 154f. Stalin, Josef Wissarionowitsch (1878–1953) 126, 130, 132f. Steinschneider, Hermann Chajm s. Hanussen, Erik Jan Stendhal s. Beyle, Marie-Henri Storm, Theodor (1817–1888) 144 Strauss, Richard (1864–1949) 137, 148, 151 Szabó, István (*1938) 201 Thyssen, Fritz (1873–1951) 196 Tieck, Johann Ludwig (1773–1853) 144 Toller, Ernst (1893–1939) 126 Tolstoi, Lew Nikolajewitsch (1828–1910) 103 Tretjakow, Sergei (1892–1937) 117 Trotzki, Leo (1879–1940) 132 Tschechow, Anton Pawlowitsch (1860–1904) 103 Unruh, Fritz von (1885–1970) 39, 136 Vargas, Getúlio Dornelles (1882–1954) 153, 157, 162 Vergil (Publius Vergilius Maro) (70–19 v. Chr.) 95 Villon, François (1431–ca. 1463) 95 Vischer, Friedrich Theodor (1807–1887) 45 Vogeler, Heinrich (1872–1942) 127, 132 Vogeler, Marie Luise (1901–1945) 127 Vogeler, Sonja s. Marchlewska, Sonja Voltaire s. Arout, François-Marie Wagner, Richard (1813–1883) 19, 23, 27 Wangenheim, Gustav von (1895–1975) 127 Weinert, Erich (1890–1953) 127 Weiskopf, Franz Carl (1900–1955) 43, 188 Werfel, Alma s. Mahler-Werfel, Alma Werfel, Franz (1890–1945) 136–151, 191, 192 Wessel, Horst (1907–1930) 194 Westhoff, Clara Henriette Sophie (1878–1954) 94
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Wicki, Bernhard (1919–2000) 201 Wilhelm, Kurt (1900–1965) 175 Wilson, Thomas Woodrow (1856–1924) 81 Wolf, Friedrich (1888–1953) 127 Zweig, Arnold (1887–1968) 11, 32–40, 51, 116, 195 Zweig, Friderike (1882–1971) 152f. Zweig, Stefan (1881–1942) 48f., 65, 73, 152–163, 192