Die Bindung der Bürger an die Grundrechte: Ein Rechtsvergleich zwischen Deutschland und Russland [1 ed.] 9783428542901, 9783428142903

Anastasia Berger stellt zunächst die Drittwirkung der Grundrechte in der Wissenschaft und Rechtsprechung in Deutschland

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German Pages 272 Year 2014

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Die Bindung der Bürger an die Grundrechte: Ein Rechtsvergleich zwischen Deutschland und Russland [1 ed.]
 9783428542901, 9783428142903

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Schriften zum Internationalen Recht Band 193

Die Bindung der Bürger an die Grundrechte Ein Rechtsvergleich zwischen Deutschland und Russland

Von

Anastasia Berger

Duncker & Humblot · Berlin

ANASTASIA BERGER

Die Bindung der Bürger an die Grundrechte

Schriften zum Internationalen Recht Band 193

Die Bindung der Bürger an die Grundrechte Ein Rechtsvergleich zwischen Deutschland und Russland

Von

Anastasia Berger

Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Universität Regensburg hat diese Arbeit im Jahre 2013 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7646 ISBN 978-3-428-14290-3 (Print) ISBN 978-3-428-54290-1 (E-Book) ISBN 978-3-428-84290-2 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meiner Mutter

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde von der Juristischen Fakultät der Universität Regensburg im September 2013 als Dissertation angenommen. Die Novellierungen des allgemeinen Teils des russischen Zivilgesetzbuches aus den Jahren 2012 und 2013 machten die Aktualisierung einiger Teile der Arbeit notwendig. Die grundlegenden Schlussfolgerungen wurden durch diese Reformen nicht berührt. Während meiner Tätigkeit als Tutorin im deutschsprachigen Studiengang des DAAD in Moskau hatte ich Gelegenheit zu intensiven Forschungen und zu wichtigen Fachgesprächen. Darüber hinaus fanden im Zuge der Entstehung dieser Arbeit (2011 – 2012) und bis heute viele gesellschaftliche Veränderungen in Russland statt. Das hat meine Sicht auf den Staat und die Grundrechte, insbesondere gerade im Vergleich zur Situation in Deutschland grundlegend verändert. In diesem Zusammenhang möchte ich mich bei Frau Prof. Dr. Tamara Morschtakowa, Vizepräsidentin des Russischen Verfassungsgerichts a.D., bedanken, die sich für meine Fragen zur Entstehung und Auslegung der Russischen Verfassung stets ausreichend Zeit genommen hat. Ein herzlicher Dank gebührt auch Prof. Dr. Suren Awakjan und Prof. Dr. Ewgenij Suchanow, Staatliche Moskauer Lomonossow-Universität, die ebenfalls immer zu Gesprächen mit mir bereit waren. Bei Frau Prof. Dr. Julia Iliopoulus-Strangas, Universität Athen, bedanke ich mich dafür, dass sie mich ermutigt hat, bei meinen Überlegungen auch unkonventionelle Wege zu gehen und mich nicht zu scheuen, die Eigentümlichkeit einer Rechtsordnung wahrzunehmen. Für eine zügige Erstellung des Zweitgutachtens danke ich Prof. Dr. Herbert Roth. Ganz besonders bedanke ich mich bei meinem Doktorvater – Prof. Dr. Rainer Arnold. Ohne ihn wären diese Arbeit, der Forschungsaufenthalt in Moskau und die Begegnungen dort und auch in Deutschland, die diese Arbeit und auch mich geprägt haben, nicht möglich geworden. Prof. Arnold besitzt die besondere Gabe, mit seiner Warmherzigkeit Menschen zu verbinden und europäische wie internationale Dialoge möglich zu machen, die es sonst so nicht gäbe. Last but not least bedanke ich mich bei meinen Freunden und meiner Familie, die mir in dieser Zeit stets Rückhalt gegeben haben. Meinem Mann, Carsten Berger, danke ich für seine grenzenlose Geduld mit mir. München, Januar 2014

Anastasia Berger

Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 B. Die Wirkung der Grundrechte auf das Privatrecht in der deutschen Rechtstheorie und Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 I. Die Theorie der „Drittwirkung“ in der deutschen Rechtslehre . . . . . . . . . . . . . . 27 1. Genese des Begriffs der „Drittwirkung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 a) Die sogenannte „unmittelbare Drittwirkung“ von Grundrechten . . . . . . . . 30 b) Die Lehre von der mittelbaren Drittwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 c) Begründungsansätze in der neueren Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2. Die Position der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 3. Das Bundesverfassungsgericht: keine „Superrevisionsinstanz“ . . . . . . . . . . . 38 4. Die Anerkennung der Grundrechtswirkung in einzelnen Bereichen des Privatrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 II. Zusammenfassung und Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 C. Die Bindung der Privaten an die Grundrechte in der russischen Rechtstheorie und Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 I. Untersuchung des russischen Verfassungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 1. Die Entstehung der Konstitution der Russischen Föderation: rechtsgeschichtlicher Hintergrund und Grundrechtsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 a) Die Entstehung der KRF und die grundrechtliche Tradition in Russland

47

b) Das Grundrechtsverständnis heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 2. Die Wirkung der Grundrechte unter den Privaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 a) Grundriss der verfassungsrechtlichen Grundlagen des Staatsaufbaus Russlands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

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Inhaltsverzeichnis b) Untersuchung einzelner Bestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 aa) Die Pflichten des Staates im Spannungsverhältnis zwischen Schutz und Anerkennung der Grundrechte i.S.d. Art. 2 KRF . . . . . . . . . . . . . 59 (1) Art. 2 KRF als Grundlage des Staatsaufbaus . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 (2) Art. 2 KRF als allgemeine grundrechtliche Schutzpflicht des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 (3) Die Schutzpflicht des Staates als Grundlage eines subjektiven Rechts des Bürgers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 (4) Die Rechtslage in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 (5) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 bb) Die direkte Wirkung der Verfassung gemäß Art. 15 Abs. 1 S. 1 KRF

65

(1) Direkte Wirkung und konkretisierende Rechtsvorschriften . . . . . . 66 (2) Die Verfassung der Russischen Föderation als Grundlage des gesamten Rechtssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 cc) Die Pflicht zur Achtung der Verfassung durch die Bürger und deren Vereinigungen i.S.d. Art. 15 Abs. 2 KRF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 (1) Der normative Inhalt der Pflicht aus Art. 15 Abs. 2 KRF . . . . . . . 70 (2) Die Notwendigkeit von Generalklauseln zur Bindung der Bürger an die Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 (3) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 dd) Die Unmittelbare Geltung der Grundrechte i.S.d. Art. 18 S. 1 KRF . . 75 (1) Grundlegender Gehalt des Art. 18 Abs. 1 KRF . . . . . . . . . . . . . . . 75 (2) „Direkte“ Wirkung der Verfassung und „unmittelbare“ Wirkung der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 (3) Art. 18 KRF als Maßstab der Rechtmäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 76 (4) Grundrechte als subjektive Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 (5) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 ee) Wechselwirkung grundrechtlicher Positionen i.S.d. Art. 17 Abs. 3 KRF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 (1) Adressatenkreis der Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 (2) Art. 17 Abs. 3 KRF als verfassungsunmittelbare Schranke . . . . . . 83 (3) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 ff) Schranken der Grundrechte: Art. 17 Abs. 3, 55 Abs. 2, Abs. 3, 56 KRF 85 (1) Art. 17 Abs. 3 KRF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 (2) Art. 55 Abs. 2, Abs. 3 KRF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 (a) Art. 55 Abs. 2 KRF: Aufhebung und Schmälerung der Grundrechte und Freiheiten des Bürgers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 (b) Allgemeine Grundrechtsschranke des Art. 55 Abs. 3 KRF . . . 87 (aa) Inhaltliche Vorgaben der Art. 55 Abs. 3 KRF . . . . . . . . . . 87

Inhaltsverzeichnis

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(bb) Gesetzgebungskompetenz des Art. 55 Abs. 3 KRF . . . . . 88 (cc) Der Gesetzesvorbehalt des Art. 55 Abs. 3 KRF als Parlamentsvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 (dd) Art. 55 Abs. 3 KRF als Verankerung des Verhältnismäßigkeitsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 (ee) Landesverteidigung und Staatssicherheit: die Schranken der Art. 55 Abs. 3 und Art. 56 KRF . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 (ff) Vergleichende Betrachtung des Regelungsinhalts des Art. 55 Abs. 3 KRF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 gg) Verfassungsrechtliche Pflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 (1) Verfassungsrechtliche Pflichten im System der KRF . . . . . . . . . . . 94 (2) Originäre verfassungsrechtliche Pflichten und ihr Verhältnis zu den Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 (3) Der Stellenwert der verfassungsrechtlichen Pflichten im Licht der direkten Wirkung von Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 (4) Die Vorstellung von den Grundpflichten in der deutschen Rechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 hh) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 (1) Die Verfassungsrechtliche Vorstellung von der Gesellschaft und der Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 (2) Unmittelbare und direkte Wirkung der Grundrechte . . . . . . . . . . . 105 (3) Die Verfassung als universelle Rechtsnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 (4) Abweichende Meinung in der Literatur: doch nur eine „mittelbare Drittwirkung“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 3. Das russische Verfassungsgericht: Eine „Superrevisionsinstanz“? . . . . . . . . . 108 4. Schutz der Grundrechte durch das Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 5. Zusammenfassung und vergleichende Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . 113 a) Rangordnung der Rechtsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 b) Stellenwert der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 II. Grundrechte im russischen Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 1. Grundriss der historischen Entwicklung des russischen Privatrechts . . . . . . . 120 2. Die Grundrechte im russischen Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 a) Die Verfassung als Quelle des Privatrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 b) Der Staat als Subjekt des Privatrechtsverkehrs – eine „Flucht ins Private“? 125 c) Die Grundrechte als Objekte des russischen Privatrechts, Art. 2 Abs. 2 GKRF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128

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Inhaltsverzeichnis d) Verfassungsrechtliche Gehalte der „grundlegenden Prinzipien“ des russischen Privatrechts i.S.d. Art. 1 GKRF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 aa) Ähnlichkeit in den Formulierungen der KRF und GKRF . . . . . . . . . . 132 bb) Art. 1 GKRF als sogenannte „Prinzipiennorm“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 cc) Die Grundlegenden Prinzipien und ihr Verhältnis zu den Grundrechten 136 dd) Einzelne Prinzipien des Art. 1 GKRF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 (1) Das Prinzip der Unantastbarkeit des Eigentums . . . . . . . . . . . . . . . 139 (2) Der Schutz bürgerlicher Rechte Art. 45, 46 KRF i.V.m. Art. 11 ff. GKRF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 (3) Die Vertragsfreiheit und ihre Schranken im russischen Zivilrecht 143 (a) Die Vertragsfreiheit als Grundsatz des russischen Zivilrechts . 144 (aa) Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 (bb) Verfassungsrechtlicher Gehalt der Vertragsfreiheit . . . . . . 145 (b) Der Schutz der schwächeren Seite und das Prinzip der Gleichheit der Teilnehmer am Privatrechtsverkehr . . . . . . . . . . 148 (aa) Schutzmechanismen des Privatrechts . . . . . . . . . . . . . . . . 149 (bb) Schutzsubjekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 (cc) Gesetzliche Fallgruppen und Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . 151 (dd) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 (c) Der Kontrahierungszwang als Instrument zur Durchsetzung von Grundrechten im Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 (aa) Der Kontrahierungszwang und seine Mechanismen im GKRF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 (bb) Die Gleichheit der Teilnehmer des Privatrechtsverkehrs als Schutzzweck des Kontrahierungszwangs . . . . . . . . . . 158 (d) Die Wechselwirkung zwischen den grundlegenden Prinzipien der Vertragsfreiheit und der Gleichheit der Teilnehmer des Privatrechtsverkehrs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 (aa) Der Inhalt des Gleichheitsprinzips im russischen Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 (bb) Einschränkungen der Vertragsfreiheit durch die Mechanismen zum Schutz der schwächeren Seite . . . . . . . . . . . 160 (cc) Vergleichende Betrachtung der Rechtslage in Deutschland 162 (4) Rechtsmissbrauch i.S.d. Art. 10 Abs. 1 GKRF . . . . . . . . . . . . . . . . 167 (a) Die dogmatische Stellung des Missbrauchsverbots im russischen Zivilrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 (b) Schikaneverbot i.S.d. Art. 10 Abs. 1, 1. Var. GKRF . . . . . . . . . 170 (c) Rechtsfolgen des Rechtsmissbrauchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 (d) Die Tatbestände des Art. 10 Abs. 1 GKRF neben dem allgemeinen Rechtsmissbrauchsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172

Inhaltsverzeichnis

13

(e) „Gutgläubigkeit von Handlungen der Teilnehmer am Privatrechtsverkehr“ i.S.d. Art. 1 Abs. 3 GKRF . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 (f) Zusammenfassung und Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 e) Der Schutz immaterieller Güter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 aa) Das Wesen immaterieller Güter und Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 (1) Die Vorstellung von Rechtsgütern und Rechten im russischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 (2) Die Vorstellung von Rechtsgütern und Rechten im deutschen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 (3) Die theoretischen Vorstellungen von persönlichen immateriellen Gütern in der russischen Rechtstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 (4) Rechtslage in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 (5) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 bb) Die Handhabung der Persönlichkeitsrechte in russischer Lehre und Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 D. Schlussfolgerungen und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 I. Wandel der Gesellschaft und Dimensionen der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . 198 II. Rechte und Güter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 III. Schutzpflichten des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 V. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 E. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 Anhang: Verfassung der Russischen Föderation von 1993 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270

Abkürzungsverzeichnis Abkürzungen russischer Begriffe GKRF Zivilkodex der Russischen Föderation (Grazhdanskij Kodeks Rossijskoj Federacii) GPKRF Zivilprozesskodex der Russischen Föderation (Grazhdansko-pravovoj Kodeks Rossijskoj Federacii) KRF Verfassung der Russischen Föderation (Konstitucija Rossijskoj Federacii) KSRF Verfassungsgericht der Russischen Föderation (Konstitucionnyj Sud Rossijskoj Federacii) KSRFZ Gesetz über das Verfassungsgericht der Russischen Föderation (Zakon o Konstitucionnom Sude Rossijskoj Federacii) TKRF Arbeitskodex der Russischen Föderation (Trudovoj Kodeks Rossijskoj Federacii) UKRF Strafkodex der Russischen Föderation (Ugolovnyj Kodeks Rossijskoj Federacii) WASRF Oberstes Handelsgericht der Russischen Föderation (Verhovnyj Arbitrazhnyj Sud Rossijskoj Federacii) WSRF Oberstes Gericht der Russischen Föderation (Verhovnyj Sud Rossijskoj Federacii) ZhKRF Wohnkodex der Russischen Föderation (Zhilichnyj Kodeks Rossijskoj Federacii) Abkürzungen in der russischen Sprache 31B AE 3B AE UYbb. YXU. ;B AE aVU. b. B8 AE E8 E;8

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A. Einleitung

„(…) das Zivilrecht [ist] ein wichtiges Gut. Sein Ziel ist die Verwirklichung der persönlichen Freiheit ohne Gewalt.“ Popper, Karl R., Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Vorwort zur 7. Aufl. S. X.

Eine zivilrechtliche Beziehung zwischen zwei deutschen Bürgern scheint nur auf den ersten Blick nichtstaatlicher Art zu sein. Blickt man dagegen unter die Oberfläche, so wird unmittelbar erkennbar, dass auch ein privatrechtliches Verhältnis durch und durch vom Staat bestimmt ist: Der Staat schafft die zivilrechtliche Grundlage der Beziehung und regelt die Geltendmachung privater Rechte (gerichtlich wie außergerichtlich). Dabei ist der deutsche Gesetzgeber gemäß Art. 1 Abs. 3 GG an die Grundrechte gebunden. Während die Legislative so den gesetzlichen Rahmen schafft, entscheidet die Judikative rechtskräftig die Streitfragen zwischen den Bürgern und ist bei ihrer Tätigkeit ebenfalls nach Art. 1 Abs. 3 GG an die Grundrechte gebunden1. Bereits daraus folgt – geht man vom hierarchischen Vorrang der Verfassung aus –, dass das Zivilrecht nur auf der Grundlage bzw. im Einklang mit dem Verfassungsrecht existieren kann. Deutlich wird dies insbesondere im Hinblick auf die Möglichkeiten der Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) und der konkreten Normenkontrolle (Art. 100 GG), welche unter anderem eine höchstrichterliche Überprüfung der Privatrechtsnormen und ihrer Anwendung gewährleisten sollen. Ausgehend von dem Gesagten ist eine vollständige Trennung zwischen Privatrecht und Verfassungsrecht bzw. den Grundrechten, so wie sie in Deutschland verstanden werden, nicht möglich. Die Tatsache, dass der Gesetzgeber bei der Schaffung neuer Gesetze unter anderem im Bereich des Zivilrechts, bzw. die Gerichte bei Entscheidungen auf diesem Gebiet, Grundrechte beachten müssen, ist im Grundgesetz verankert und bedarf keines Beweises. Im Übrigen sind die Grenzen zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht, wie bereits von Pokrovskij2 bemerkt, ohne hier die grundsätzlichen Streitigkeiten über

1 Hier kann erst ein Mal unterschlagen werden, dass diese Bindung zum Teil umstritten und unterschiedlicher Art ist. 2 @_[a_Sb[YZ, ?b^_S^lV `a_R\V]l TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, S. 44 ff.

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A. Einleitung

die dogmatische Bewertung dieser Frage vertiefen zu wollen, fließend3. Es wäre zumindest denkbar, die meisten klassischen Bereiche des Privatrechts, als solche des öffentlichen Rechts zu gestalten. Dies wird auch durch die Betrachtung der historischen Entwicklung früher Staatlichkeit deutlich4. Die Frage der sog. „Drittwirkung“ der Grundrechte, oder schlicht der Bindung der Bürger an die Grundrechte, die die deutsche Rechtswissenschaft seit Generationen beschäftigt, ist nunmehr eine des rechtsdogmatischen „wie“, nicht mehr eine des „ob“. Die Tatsache, dass die Grundrechte auf die Rechtsverhältnisse zwischen Bürgern einwirken und diese gestalten, wird mittlerweile nicht mehr in Frage gestellt, genauso wenig wie die Tatsache, dass diese Wirkung keiner direkten Art ist. Die deutsche Rechtswissenschaft wird zumindest in der internationalen Literatur als Erfinderin des Begriffs der Drittwirkung gehandelt, so dass der Begriff auch oft auf Deutsch verwendet wird5. Seit den 50-er Jahren des letzten Jahrhunderts ist dieses Thema ständiger Gegenstand einer mal mehr, mal weniger heißen Diskussion in der deutschen Rechtslehre gewesen6. Es scheint, als wäre dieser Diskussion nichts mehr hinzuzufügen. Erst in jüngster Zeit sind zahlreiche Veröffentlichungen zu diesem Thema erschienen, die diesen Standpunkt zu bekräftigen scheinen7. Hervorzuheben sind hier insbesondere die Monographien von Poscher und Ruffert. Ziel dieser Arbeit ist zum einen die Untersuchung der Einwirkung der Grundrechte auf das Privatrecht in Russland vor dem Hintergrund der in Deutschland dazu entwickelten Ansätze. Zum anderen sollen diese Ansätze anhand der Herausarbeitung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden im Umgang beider Rechtsordnungen sowie anhand des Umgangs von Rechtsprechung und Lehre beider Länder mit der Wirkung der Grundrechte im horizontalen Verhältnis überprüft werden. Dabei wird die Uniformität der in der deutschen Rechtswissenschaft üblichen Vorgehensweisen und Vorstellungen durch ihre Anwendung auf ein vergleichbares Rechtssystem hinterfragt. Die Vergleichbarkeit des russischen Rechtssystems, welche darauf gründet, dass die Russische Föderation ebenfalls ein sozialer Rechtsstaat ist, welcher die Grundrechte der Bürger und Menschen gemäß Art. 2 der Verfassung der Russischen Föderation anerkennt und die Staatsgewalten an diese bindet, liefert die idealen Bedingungen für eine kritische Überprüfung der gängige Vorgehensweisen, Methoden und Vorstellungen sowie ihrer Ergebnisse in dem zu untersuchenden Bereich in Deutschland. Ein Blick auf die schon länger bekannten Fragestellungen 3

Vgl. nur Maurer, Staatsrecht I, § 1 II, Rn. 18 ff., Literaturnachweise Rn. 76 ff. @_[a_Sb[YZ, ?b^_S^lV `a_R\V]l TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, S. 44 ff. 5 Clapham, Human Rights Obligations of Non-State Actors, Oxford 2006, S. 521 ff. m.w.N. 6 Vgl. nur Nachweise bei Papier, in: Merten/ders., Grundrechte in Deutschland I, § 55, S. 1331. 7 Z.B. Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 201 ff.; Floren, Grundrechtsdogmatik im Vertragsrecht; Koch, Der Grundrechtsschutz des Drittbetroffenen; Kokott, in: dies./Rudolf, Gesellschaftsgestaltung, S. 57 ff.; Lenz, Vorbehaltslose Freiheitsrechte; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte; Ruffert, Vorrang der Verfassung; Schwabe, Phantomjagd, FS Selmer, S. 247; Uesseler, Einwirkung der Grundrechte. 4

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vor dem Hintergrund einer völlig anderen historischen Entwicklung, welcher noch nicht durch „alteingesessene“ Theorien versteinert ist, weckt auch für hiesige Probleme Hoffnung auf neue Lösungsansätze. Die Handhabung der Problematik, wie die Grundrechte auf das Privatrecht in Europa einwirken, lässt nämlich im europäischen Rechtsraum keinen einheitlichen Lösungsansatz erkennen. Klar ist lediglich, dass die Rechtswissenschaften der meisten Länder sich mit dieser Frage ebenfalls bereits beschäftigt haben. Dabei sind sie, jeweils abhängig von der nationalen verfassungsrechtlichen Ausgestaltung, zu einer Vielfalt an unterschiedlichen Ergebnissen und Lösungsansätzen gekommen. Während die griechische Verfassung eine direkte Wirkung der Grundrechte ausdrücklich anordnet8, spielt sie in Dänemark9 und Schweden10 gar keine Rolle; zwischen diesen beiden Extremen existiert eine Reihe an vermittelnden Lösungen11. Diese Mannigfaltigkeit an Erklärungsansätzen macht deutlich, dass es in dieser Frage kein allgemeingültiges „Richtig“ oder „Falsch“ gibt. Der Sinn dieser Arbeit liegt nicht etwa darin, die „strategische Wichtigkeit deutsch-russischer Partnerschaft“ in irgendeiner Weise zu untermauern. Eine wissenschaftliche Arbeit kann nicht aus einem solchen oder ähnlichen Grund geschrieben werden. Ein Vergleich in diesem Bereich soll hier deshalb vorgenommen werden, weil der Antagonismus der beiden Verfassungen in dem zu untersuchenden Punkt vor dem Hintergrund prinzipiell gleicher Grundlagen auf den ersten Blick derart gravierend ist, dass sich die Möglichkeit für die Wissenschaft beider Länder, davon zu profitieren, regelrecht aufdrängt. Die Untersuchung wird aus Sicht der deutschen Wissenschaft begonnen. Einleitend wird zur Veranschaulichung ein kurzer Exkurs zum Stand der deutschen Rechtsdogmatik in Bezug auf die Wirkung der Grundrechte im Privatrecht gemacht werden, wobei der Blick auf die Hintergründe und Eckpunkte der Problematik gelenkt wird. Dabei wird das Thema eingegrenzt und die Hauptbegriffe der Untersuchung herausgearbeitet. Bereits hier sollen die Schwächen und Stärken der jeweiligen Standpunkte aufgezeigt werden. Sodann wird sich die Untersuchung der entsprechenden Problematik in der Russischen Föderation widmen. Wo es vonnöten sein wird, werden auch anhand fallbezogener Gegenüberstellungen tiefere Einblicke in die parallelen Thematiken in Deutschland gewährt, so dass es sich insgesamt schließlich um einen asymmetrischen Vergleich aus deutscher Perspektive handelt.

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Iliopoulus-Strangas/Leventis, in: Iliopoulus-Strangas, Soziale Grundrechte in Europa, S. 290 f. 9 Nielsen, in: Iliopoulus-Strangas, Soziale Grundrechte in Europa, S. 107. 10 Vahlne Westerhäll, in: Iliopoulus-Strangas, Soziale Grundrechte in Europa, S. 582. 11 Eine Übersicht findet sich bei: Iliopoulus-Strangas, in: dies., Soziale Grundrechte in Europa, S. 967 ff.

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Auf die sog. „Drittwirkung der Unionsfreiheiten“ soll in dieser Arbeit nicht eingegangen werden12. Diesbezüglich fehlt es den beiden Rechtsordnungen an einem tertium comparationis. Ebenfalls ausgeklammert bleibt eine eingehende Auseinandersetzung mit den Menschenrechten der EMRK. Diese sind auf einer anderen – völkerrechtlichen – Ebene angesiedelt und haben deshalb keinen unmittelbaren Einfluss auf die Wirkung der Grundrechte im Privatrecht. Zugleich kann der Einfluss der Idee der universellen Menschenrechte auf die geltenden Rechtsordnungen und die Rechtsprechung der beiden Länder kaum unterschätzt werden. Die nationalen Grundrechte sind, ausgehend von den Vorstellungen der beiden zu vergleichenden Verfassungen, überpositive Rechte. Die Idee der Grundrechte in Russland wurde stark durch die EMRK sowie durch die europäische Grundrechtstradition beeinflusst. Anderes wäre kaum möglich gewesen. Die Systeme beider Staaten sind keine in sich abgeschlossenen, autarken Rechtsordnungen, sondern stehen unter anderem aufgrund ihrer Völkerrechtsfreundlichkeit in der gegebenen Rechtstradition. Aus diesem Blickwinkel sind also unter dem Begriff der Grundrechte die verfassungsrechtlichen Positionen zu verstehen, das heißt die Rechte der Menschen und Bürger, die ihren Niederschlag jeweils im Deutschen Grundgesetz sowie in der Russischen Verfassung gefunden haben. Der Begriff der Menschenrechte wird dagegen als Oberbegriff für die dem Menschen und Bürger von Geburt an zustehenden, unveräußerlichen und unantastbaren überpositiven Rechte, die ihm in Bezug auf die zu schützenden Rechtsgüter zustehen, verwendet und damit nicht im Sinne der in den internationalen Verträgen niedergelegten Rechte. Wird auf die Menschenrechte der EMRK verwiesen, so erfolgt eine gesonderte Klarstellung13. Man kann die eigene Rechtsordnung nicht begreifen, ohne sie mit anderen verglichen zu haben. Dasselbe gilt für einen historischen Vergleich. Eine Rechtsordnung lässt sich nur unter der Einbeziehung der historischen Hintergründe verstehen. Die Geschichte einer Rechtsordnung ist die y-Achse, die zur x-Achse des (Verfassungs-) 12 Vgl. zu diesem Thema Nachweise bei Papier, in: Merten/ders., Grundrechte in Deutschland I, S. 1331. 13 Diese Klarstellung ist auch auf den russischen Sprachgebrauch zurückzuführen. So wird der Begriff der Grundrechte als „verfassungsrechtliche Freiheiten und Rechte“ ([_^bcYcdgY_^^lV `aQSQ Y bS_R_Ul) u¨bersetzt, wobei die Verfassung der Russischen Fo¨¨ berschrift des 2. Kapitels allgemein von „Rechten und Freiheiten des deration selbst in der U Menschen und Bu¨rgers“ spricht und zwischen den Grund- und Menschenrechten im deutschen Versta¨ndnis zuna¨chst, und insbesondere in Art. 2, welcher ihre Rolle fu¨r das staatliche Handeln grundlegend bestimmt, keine Unterscheidung macht. Zur Klarstellung verwendet die Literatur in Bezug auf die Menschenrechte internationaler Vertra¨ge den Begriff „Rechte und Freiheiten des Menschen“ (`aQSQ Y bS_R_Ul hV\_SV[Q). Diese zum Teil fehlende Differenzierung ist darauf zuru¨ckzufu¨hren, dass die Russische Verfassung gema¨ß Art. 17 Abs. 1 „die Rechte und Freiheiten des Menschen und Bu¨rgers entsprechend den allgemein anerkannten Prinzipien und ¨ bereinstimmung mit dieser Verfassung“ anerkennt und Normen internationalen Rechts und in U garantiert. Erst Art. 55 Abs. 1 KRF verdeutlicht den Unterschied bei der Kla¨rung der Frage nach dem Verha¨ltnis zwischen den Grundrechten (_b^_S^lV `aQSQ Y bS_R_Ul) und den „allgemein anerkannten Rechten und Freiheiten der Menschen und Bu¨rger“ (_RjV`aYX^Q^^lV `aQSQ Y bS_R_Ul hV\_SV[Q Y TaQWUQ^Y^Q).

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Rechtsvergleichs „senkrecht steht“. Die russische Verfassungslehre steckt im Vergleich zur deutschen noch in den Anfängen – die Verfassung der Russischen Föderation ist 2013 erst 20 Jahre alt geworden. Der russische Zivilkodex ist noch ein Jahr jünger. Dazu kommt, dass, während das Privatrecht auf die gesamteuropäische Kulturtradition des römischen Rechts als eigene Wurzel zurückgreifen kann, es dem Verfassungsrecht an dieser Möglichkeit fehlt. Während die russischen Verlage die wissenschaftlichen Abhandlungen aus dem 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts zahlreich neu verlegen und die heutige Lehre und Rechtsprechung darauf gerne zurückgreifen, ohne dabei etliche wissenschaftlich durchaus noch brauchbare Abhandlungen aus den Sowjetzeiten zu vergessen, bleibt der Verfassungslehre diese Möglichkeit verwehrt. Weder kann sie auf eine verfassungsrechtliche Tradition aus Zeiten vor der Revolution zugreifen, noch gab es zu Zeiten der Sowjetunion eine solche, welche für die heutige Verfassungslehre in nennenswertem Umfang fruchtbar gemacht werden könnte. Die skizzierten Prämissen sind für das Verständnis der heutigen russischen Rechtswissenschaft von großer Bedeutung. Ohne ihre Kenntnis, und insbesondere ohne die Möglichkeit eines Vergleichs der Entwicklungsstränge der beiden Rechtsordnungen, können ihre Ähnlichkeiten und Unterschiede nicht nachvollzogen werden – der Rechtsanwender kann den Stellenwert und Inhalt von Rechtsinstituten nicht beurteilen. Das geltende Recht ist lediglich eine Momentaufnahme – ein Querschnitt kultureller Entwicklung einer menschlichen Gesellschaft. Aus diesem Zusammenhang herausgerissen stellt er lediglich ein Kettenglied dar, das ohne andere Glieder genauso funktions- wie sinnlos ist. Die jeweiligen Abschnitte der Arbeit sollen daher nicht nur die gegenwärtigen „Momentaufnahmen“ darstellen, sondern diese auch vor dem Hintergrund ihrer individuellen Entwicklungsgeschichte abbilden. Diesem Zweck sollen kurze geschichtliche Erklärungen dienen, welche sich auch auf Grund der Tatsache rechtfertigen, dass die historischen Entwicklungen Russlands und Deutschlands derart unterschiedlich sind, dass ihre Durchdringung, die für das Verständnis der gegenwärtigen rechtlichen Entwicklungen unablässig ist, nicht vorausgesetzt werden kann. Unter der aufgezeigten Voraussetzung, sowie um mögliche Missverständnisse aufgrund unterschiedlichen Sprachgebrauchs zu vermeiden, bedarf die Untersuchung einer weiteren Begriffsklärung. So darf der Begriff der Verhältnismäßigkeit in Bezug auf das russische Recht nicht als identisch mit dem des deutschen Rechts verstanden werden. Er besitzt in Russland nicht die für die deutsche Rechtslehre übliche Dogmatik und strenge logische Struktur. Im Kontext des russischen Rechts wird er deshalb zur Beschreibung einer Güterabwägung verwendet. Gleichzeitig muss aber auch angemerkt werden, dass die üblichen Elemente der deutschen Verhältnismäßigkeitsprüfung immer mehr Eingang in die Praxis russischer Gerichte und Beachtung in der russischen Literatur finden14. 14 Dafür verantwortlich ist wohl vor allem die Bemühung russischer Gerichte, sich der Argumentationstechnik des EGMR anzunähern, vgl. z. B. @_bcQ^_S\V^YV @\V^d]Q 3C AE _c 24. 02. 2005 N 3: „? bdUVR^_Z `aQ[cY[V `_ UV\Q] _ XQjYcV hVbcY Y U_bc_Y^bcSQ TaQWUQ^, Q

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Auch der Begriff der verfassungsrechtlichen Schranke hat in Russland keine Entsprechung, stattdessen werden unterschiedliche Begriffe zur Beschreibung der Wirkung verwendet15. Zur Vereinheitlichung und zum besseren Verständnis wird der Begriff der Grundrechtsschranke in dem ihm in der deutschen Rechtslehre beigemessenen Sinne verwendet. Überhaupt muss klargestellt werden, dass die russische Verfassungslehre vor allem im Bereich der Grundrechtsprüfung über eine kaum einheitliche Dogmatik verfügt. Nichtsdestotrotz sind ihr solche Vorstellungen wie die des Schutzbereichs, des Eingriffs oder der Rechtfertigung nicht fremd. Die Verwendung dieser Begriffe darf aber dennoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich hierbei um eine funktionelle Beschreibung und nicht um eine begriffliche Entsprechung in der russischen Verfassungsrechtslehre handelt. Die sogenannte „Drittwirkung“ ist, wie man aus dem bereits Gesagten unschwer erahnen kann, ein Thema, dass in Russland noch nicht auf der wissenschaftlichen Tagesordnung steht16. Zentrale Gegenstände der Untersuchung dieser Arbeit sind deshalb zum einen ganz allgemein die Rechtslage im Hinblick auf das im ersten Teil eingegrenzte Untersuchungsobjekt, sowie zum anderen verfassungs- und zivilrechtlichen Grundlagen und der gegenwärtige Stand der Lehre und Rechtsprechung, ganz vorrangig aber das Verfassungsverständnis in beiden Ländern. Hier lautet die wesentliche Frage: wirken die Grundrechte der russischen Verfassung auch im Verhältnis unter Privaten? Wenn ja, wie gestaltet sich diese Wirkung? Welche Gemeinsamkeiten und/oder Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen beider Länder ergeben sich daraus? Die Arbeit geht zur Untersuchung dieser Fragen zunächst auf die Regelungen des Verfassungs- und sodann auf die des Zivilrechts ein. Das geltende Recht wird dabei im Licht der Rechtslehre und Rechtsprechungspraxis betrachtet. Der russische Staat bzw. die Staatsgewalten sind gemäß Art. 15 Abs. 2 i.V.m. Art 2 Kostitutsii Rossijskoj Federatsii (im Weiteren KRF)17 an die Grundrechte gecQ[WV UV\_S_Z aV`dcQgYY TaQWUQ^ Y oaYUYhVb[Yf \Yg“, A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 15. 03. 2005/ 50. Gleichzeitig wa¨re es falsch der russischen Rechtslehre zu unterstellen, sich mit dem Thema gar nicht zu bescha¨ftigen; so ist insbesondere die Monographie Gadshievs hervorzuheben, 4QUWYVS, ;_^bcYcdgY_^^lV `aY^gY`l al^_h^_Z n[_^_]Y[Y. AQXSYcYV _b^_S TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ S aViV^Ypf [_^bcYcdgY_^^_T_ bdUQ A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, in welcher er das Prinzip der Verha¨ltnisma¨ßigkeit unter Einbeziehung der in Deutschland u¨blichen Pru¨fungsstufen unter anderem rechtsvergleichend herausarbeitet. 15 9XkpcYp, `aVUV\l, TaQ^Ygl – diese russischen Begriffe werden alle teils als Synonyme, teils mit unterschiedlichem Gehalt, jedoch insgesamt recht uneinheitlich verwendet, wobei „YXkpcYV“ auch „Eingriff“ bedeuten kann. 16 Eine der wenigen Erwähnungen der Problematik findet sich bei: 2QaV^R_Z]/4QUWYVS/ ýQeYcb[YZ/=Qd, ;_^bcYcdgY_^^Qp n[_^_]Y[Q, DhVR^Y[ U\p oaYUYhVb[Yf Y SlbiYf n[_^_]YhVb[Yf XQSVUV^YZ, S. 54, welche sich jedoch auf das deutsche Recht bezieht und nicht weiter ausgefu¨hrt wird. 17 Konstitutsija Rossijskoj Federatsii, beschlossen durch die Volksabstimmung am 12. 12. 1993 unter Berücksichtigung der Änderungen durch Gesetze vom 30. 12. 2008 N 6-E;8 und vom 30. 12. 2008 N 7-E;8, A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 21. 01. 2009/50.

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bunden. Russland ist gemäß Art. 1 Abs. 1 KRF ein Rechtsstaat. Folgt man dem eingangs über das Grundgesetz Gesagten, könnte man eine Parallele insofern ziehen, als dass es auch in Russland ein ähnliches Phänomen wie die „Drittwirkung“ in Deutschland geben müsste. Damit stellt die Vergleichbarkeit der beiden verfassungsrechtlichen Vorstellungen von Grundlagen des Staates das Vergleichselement der Untersuchung, ihr tertium comparationis, dar. Daraus folgt die Frage, ob aus dieser gemeinsamen Vorstellung auch die Vergleichbarkeit im Umgang mit der Problematik der „Drittwirkung“ resultiert. Indes postuliert Art. 15 Abs. 2 KRF nicht nur die Bindung der Staatsgewalten an die Verfassung, sondern auch die der Bürger und ihrer Vereinigungen. Gemäß Art. 15 Abs. 1 KRF hat die Verfassung direkte Wirkung, und die Grundrechte gelten nach dem Wortlaut des Art. 18 S. 1 KRF sogar unmittelbar. Zudem darf schließlich gemäß Art. 17 Abs. 3 KRF die Verwirklichung der Rechte und Freiheiten nicht die Rechte und Freiheiten anderer verletzen. Postulieren diese beiden Normen etwa eine direkte Wirkung der Grundrechte zwischen Privaten? Gelten vielleicht deshalb nach Vorstellung Nipperdeys18 die Grundrechte in horizontalen Rechtsverhältnissen auch unmittelbar? Dies wäre eine der deutschen grundlegend gegenläufige Vorstellung. Eine andere Interpretation dieser konstitutionellen Aussagen wäre die, dass Bürger nur gegenüber dem Staat an verfassungsrechtliche Pflichten gebunden sind und Art. 17 Abs. 3 KRF lediglich eine allgemeine Schranke der Grundrechte – Rekurs nehmend auf die Kant’sche Rechtslehre19 – verankert. Der Versuch, eine Antwort auf diese Fragen zu finden, ist das zentrale Element der vorliegenden Arbeit, das zugleich den Untersuchungsbereich auf der verfassungsrechtlichen Ebene definiert. Der Untersuchungsbereich hat jedoch, wie eingangs gezeigt, eine zweite, von der ersten zwar untrennbare, aber der Einfachheit wegen von ihr zu unterscheidende Seite – die des Privatrechts. Die vorliegende Arbeit teilt sich auf der nationalen Ebene in diese beiden Bereiche. Der Definition verfassungsrechtlicher Grundlagen folgt die Untersuchung des Privatrechts. Dabei wird die Aufmerksamkeit als Erstes auf die Objekte und Subjekte des russischen Privatrechts sowie auf den Art. 1 GKFR gelenkt. Letzterer trägt die Überschrift „Grundlegende Prinzipien“ und postuliert unter anderem die Vertragsfreiheit und die Unantastbarkeit der Privatautonomie, aber auch die Gleichheit der Parteien im Zivilrecht sowie den Schutz ihres Eigentums als Grundlage des russischen Privatrechts. All diese Prinzipien erscheinen den von der russischen Verfassung niedergelegten Grundrechten sehr ähnlich, und einige Formulierungen des allgemeinen Teils des russischen Zivilkodexes könnten leicht mit denen der Konstitution verwechselt werden. Gleichzeitig ist der Kontrahierungszwang im russischen Privatrecht viel öfter als im deutschen anzutreffen. Er wird hier, 18

Nipperdey, Grundrechte und Privatrecht (1961), S. 20 ff.; vgl. auch: Leisner, Grundrechte und Privatrecht, S. 378 ff. 19 Kant, Die Metaphysik der Sitten, Erster Theil, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Königsberg, 1797, VI, S. 230.

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im Gegensatz zur deutschen Rechtslehre, nicht geächtet, sondern vielmehr als vollkommen unabdingbar angesehen20. An diesem Standpunkt wird zwar einerseits die UdSSR-Vergangenheit deutlich, andererseits könnte der Kontrahierungszwang aber eines der Instrumente zur Durchsetzung der „grundlegenden Prinzipien“ i.S.d. Art. 1 Abs. 1 GKRF im Zivilrecht darstellen. Noch deutlicher scheint die Verknüpfung von Privat- und Verfassungsrecht in Art. 2 Abs. 2 GKRF zum Vorschein zu kommen, wonach das Zivilrecht unter anderem „die unantastbaren Rechte und Freiheiten des Menschen, sowie andere immaterielle Güter zu schützen berufen ist, soweit sich aus ihrem Wesen nichts anderes ergibt“. Vor allem aber erwartet man im Deliktsrecht bzw. bei den Bestimmungen zum Schutz immaterieller Güter, wie beispielsweise des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, eine deutliche Einwirkung der Grundrechte anzutreffen21. Dies verwundert insofern wenig, als dass sich die Vorstellung vom allgemeinen Persönlichkeitsrecht Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte, zu einer Zeit, als sich die europäischen Rechtsordnungen aufgrund gemeinsamer römisch-rechtlicher Wurzeln gegenseitig noch sehr stark beeinflussten und sich insbesondere die russische Rechtslehre an den wissenschaftlichen Entwicklungen in Deutschland orientierte22. Insofern ist es auch wenig überraschend, eine theoretisch ausgearbeitete Dogmatik des Persönlichkeitsrechts in der modernen privatrechtlichen Kodifikation Russlands anzutreffen. Zugleich soll die vorliegende Arbeit aber keine detaillierte Untersuchung der jeweiligen Rechtsinstitute darstellen – dies würde ihren Umfang sprengen. Sie soll vielmehr einen Über- und einen Einblick in die betreffende Problematik in den beiden Ländern geben und Grundlinien der Wirkung der Grundrechte in unterschiedlichen Bereichen des Privatrechts aufzeigen. Für Russland kann sie einen Anstoß zur weiteren Forschung in den jeweils aufgezeigten Bereichen darstellen. Für Deutschland bietet sie die Möglichkeit, das eigene Verständnis der Drittwirkungsproblematik und anderer verfassungsrechtlicher Problembereiche unter einem neuen Blickwinkel zu sehen und das herkömmliche Verständnis gegebenenfalls zu überdenken und zu erweitern. Im Anschluss werden eine zusammenfassende Beurteilung des Vergleichs sowie ein Ausblick zur Vorstellung und Rolle der Grundrechte im jeweiligen Rechtssystem und der gesellschaftlichen Wirklichkeit gegeben. In Bezug auf die Methoden des verfassungsrechtlichen Rechtsvergleichs besteht kein Konsens23, vielmehr ist einzelfallbezogenes Vorgehen gefragt. Die Untersuchung des russischen Rechts setzt aufgrund unzureichender theoretischer Durch20 Vgl. nur 2aQTY^b[YZ/3Ycap^b[YZ, 5_T_S_a^_V `aQS_. ;^YTQ `VaSQp. ?RjYV `_\_WV^Yp, S. 153 ff. 21 Papier, in: Merten/ders., Grundrechte in Deutschland I, § 55, S. 1351. 22 @_[a_Sb[YZ, ?b^_S^lV `a_R\V]l TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, S. 121 ff. 23 Sommermann, K.-P., in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte II, § 16, S. 659.

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dringung verfassungsrechtlicher Normen zunächst eine Grundlagenuntersuchung der einschlägigen Bestimmungen voraus. Auch die Analyse des Privatrechts wird eine solche Vorgehensweise erfordern. Dabei wird die Auslegung von Rechtsnormen unter Berücksichtigung von Rechtsprechung und Fachliteratur sowie anhand kritischer Auseinandersetzung mit diesen Letzteren vorgenommen werden. In Bezug auf die Rechtsnormen wird die Analyse anhand gängiger Methoden grammatikalischer, systematischer, teleologischer und historischer Auslegung durchgeführt. Diese Methodenauswahl geht nicht nur auf die gemeinsame Rechtstradition zurück, sondern ist gleichzeitig in Art. 31 Abs. 1 der Wiener Vertragskonvention (WVK) verankert, die von den beiden Ländern, deren Rechtsordnungen untersucht und verglichen werden sollen, ratifiziert wurde, und welche die Übereinstimmung des juristischen Methodenverständnisses zum Ausdruck bringt24. Überdies fanden diese Methoden in Russland bereits vor der Revolution breite Zustimmung25. Gleichzeitig verpflichtet sich die Arbeit dem Gedanken der Einheit der Verfassung, welcher eine Ausprägung der Methode der systematischen Auslegung in ihrer verfassungsrechtlichen Gestalt darstellt. Darüber hinaus bedarf eine rechtsvergleichende Arbeit einer eigenen Sprache26. Dies folgt bereits aus dem Gedanken, dass jede Rechtsordnung ein Normengebilde darstellt, dessen Medium die jeweilige Sprache mit dem ihr eigenen Begriffsverständnis ist. Da die vorliegende Arbeit in deutscher Sprache verfasst wurde, werden dort, wo es nötig sein wird, die russischen Begriffe im Vergleich zu den deutschen erklärt. Bei Bedarf wird ein vermittelnder Ausdruck gefunden oder ein gängiger deutscher Begriff, wie beispielsweise soeben in Bezug auf die Verhältnismäßigkeit und die Schranken geschehen, mit neuem Inhalt besetzt.

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Sommermann, K.-P., in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte II, § 16, S. 649. Z.B. 2V\_S, 4aQWUQ^b[_V `aQS_, _RjQp hQbcm, C_] I. 3SVUV^YV S TaQWUQ^b[_V `aQS_, S. 231 ff. 26 Starck, JZ 1997, 1021, 1027. 25

B. Die Wirkung der Grundrechte auf das Privatrecht in der deutschen Rechtstheorie und Rechtsprechung In der deutschen Rechtstheorie werden die Grundrechte herkömmlich und vorrangig als „Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat“ verstanden1. Dies verwundert nur wenig, führt man sich die Entwicklungsgeschichte der Grundrechte in Deutschland vor Augen. Sowohl die Paulskirchenverfassung als auch die Verfassung der Weimarer Republik standen, insoweit vergleichbar mit der französischen Verfassung, in einer liberalen Tradition und strebten vor allem die Beschränkung der Macht des jeweiligen Herrschers „von Gottes Gnaden“ an. Das Grundgesetz knüpfte nicht nur unmittelbar an diese Entwicklung an, sondern hatte auch hinsichtlich seiner inhaltlichen Ausrichtung das Dritte Reich als vorausgegangene „Rechtsordnung“ vor Augen gehabt2. Das Grundgesetz hat daher vorrangig zum Ziel, Eingriffe des Staats in die Grundrechte nur dann zuzulassen, wenn diese auch gerechtfertigt sind. Manche Eingriffe, wie die in die Würde des Menschen i.S.d. Art. 1 Abs. 1 GG, sollen gar immer unzulässig sein3. Das Grundgesetz ist in dieser Hinsicht auf das vertikale Staat–Bürger-Verhältnis zugeschnitten. Nur an wenigen Stellen4 spricht die deutsche Verfassung den Bürger direkt an.

1 Bethge, VVDStRL 57 (1998), S. 7, 14; Dreier, in: ders., GG, Vorb. zu Art. 1, Rn. 82, 84; Hufen, Grundrechte, § 7 Rn. 8; Kloepfer, Grundrechte, § 50 Rn. 48; Maurer, Staatsrecht I, § 9 I, Rn. 1, IV, Rn. 23, der jedoch einräumt, dass diese Vorstellung nicht mehr zeitgerecht ist – es gehe „nicht mehr um die Freiheit vom Staat, sondern um die Freiheit durch den Staat“, § 9 Rn. 25 f.; zum Wandel dieser Betrachtungsweise, Gellermann, Grundrechte im einfachgesetzlichen Gewande, S. 34 ff.; s. auch BVerfGE 61, 82, 101. 2 Eine prägnante Darstellung der historischen Entwicklung der Grundrechte in Deutschland und ihrer Bezüge zu den unterschiedlichen Grundrechtstraditionen findet sich bei Hufen, Grundrechte, § 2 Rn. 2. 3 Hier soll nicht auf den Streit eingegangen werden, ob Art. 1 Abs.1 S. 1 GG überhaupt ein Grundrecht darstellt. Angesichts der Rechtsprechung des BVerfG, die ausdrücklich von einem Grundrecht spricht (z. B. BVerfGE 1, 332, 343; 61, 126, 137; 109, 133, 151; 117, 71, 89 f.), ist diese Frage rein theoretischer Natur. So auch die h.M., s. nur Jarass, in: ders./Pieroth, Art. 1, Rn. 3; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ders., Art. 1, Rn. 28 ff.; Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/ ders./Hopfauf, Art. 1 Rn. 3. 4 Wie etwa: Art. 9 Abs. 3 S. 2, Art. 48 Abs. 1, Abs. 2 GG. H.M. nimmt hier eine unmittelbare Drittwirkung zwischen Privaten an, Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 9, Rn. 31 m.w.N., Pieroth, ebenda Art. 48, Rn. 5. Insoweit zweifelnd Müller-Franken, in: Schmidt-Bleibtreu/ Hofmann/Hopfauf, Vorb. v. Art. 1, Rn. 32; schließlich ist auch die absolute Wirkung des Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG anzuerkennen, vgl. dazu Guckelberger, JuS 2003, 1151, 1152 m.w.N.

I. Die Theorie der „Drittwirkung“ in der deutschen Rechtslehre

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Der Wirkung der Grundrechte unter Privaten wird in der deutschen Rechtswissenschaft deshalb immer noch mit gewissen Vorbehalten begegnet. Eine abschließende Klärung dieser Frage aus rechtstheoretischer Sicht ist bislang nicht abzusehen5. Dagegen geht das BVerfG auf die Begründung der dogmatischen Konstruktion ihrem Grund nach mittlerweile gar nicht mehr ein6 ; denn die Frage, ob die Grundrechte eine wie auch immer geartete Wirkung auf das Privatrecht entfalten, wird angesichts der klaren Bindung der Gesetzgebung7 und der Rechtsprechung8 an die Grundrechte, durch die grundrechtlichen Schutzpflichten der Legislative und Judikative sowie letztlich auch durch den objektiven Grundrechtsgehalt, nicht mehr diskutiert9. Diskutiert wird dagegen, wie diese Wirkung dogmatisch zu gestalten ist. Die genannten Anknüpfungspunkte stellen dabei die entscheidenden Ansätze der jeweiligen theoretischen Argumentation in dieser Diskussion dar. Im Weiteren soll nicht etwa erneut versucht werden, dieses theoretische Problem zu lösen – dies würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Dagegen soll die gedankliche Struktur der dogmatischen Erklärungsansätze der „Drittwirkung“ beleuchtet werden, um damit den Gegenstand der Untersuchung für das russische Recht zu definieren.

I. Die Theorie der „Drittwirkung“ in der deutschen Rechtslehre Auch wenn die meisten Lehrbücher und Kommentare behaupten, es hätte sich im Laufe der Zeit die Theorie der im Weiteren darzustellenden „mittelbaren Drittwirkung“ durchgesetzt und stelle gar die herrschende Meinung dar10, so trifft dies nur 5

Dreier, in: ders., GG, Vorb. zu Art. 1, Rn. 96; Kloepfer, Grundrechte, § 50 Rn. 48; Looschelders, Die Ausstrahlung der Grundrechte auf das Schadensrecht, S. 93; Papier, in: Merten/ders., Grundrechte in Deutschland I, § 55, Rn. 1; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ders., Art. 1, Rn. 308. Anders zum deutschen Recht Pirtskhalaschvili, Schutzpflichten und die horizontale Wirkung von Grundrechten in der Verfassung Georgiens, S. 25. 6 Manssen, Grundrechte, Rn. 119; einer ausführlichen Analyse widmet sich der Beitrag von Schwabe, Phantomjagd, FS Selmer, S. 247. 7 Zu der Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte ausführlich Hager, JZ 1994, 373, 374 ff. 8 Obwohl die Bindung der Zivilrechtsprechung an die Grundrechte teilweise nur im eingeschränkten Sinne anerkannt wird, ist in diesem Zusammenhang das Zitat Doehring’s verbreitet: „Das Gericht hat die Grundrechte zu beachten, soweit sie gelten; nicht etwa gelten sie, weil das Gericht entscheidet“, Doehring, Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, S. 209; dazu Guckelberger, JuS 2003, 1151, 1152 m.w.N.; s. aber auch Hager, JZ 1994, 373, 376 f.; kritisch dazu insb. Canaris, Grundrechte im Privatrecht, S. 23 ff.; Schwabe, Phantomjagd, FS Selmer, S. 251. 9 So auch Kokott, in: dies./Rudolf, Gesellschaftsgestaltung, S. 57, 60. 10 Dreier, in: ders., GG Vorb. vor Art. 1, Rn. 98; Fabisch, Drittwirkung, S. 74; Jarass, in: ders./Pieroth, GG, Art. 1, Rn. 35; Manssen, Grundrechte, Rn. 99; Maurer, Staatsrecht I, § 9 IV, Rn. 36; Papier, in: Merten/ders., Grundrechte in Deutschland I, § 55, Rn. 24; Pieroth/Schlink, Rn. 196.

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B. Die Wirkung der Grundrechte auf das Privatrecht

zum Teil zu. Dieser Teil der Lehre stellt damit allenfalls klar, dass eine direkte Wirkung der Grundrechte zwischen Privaten, welche unmittelbar Rechte und Pflichten der Bürgen untereinander begründen würde11, heute weitgehend abgelehnt wird. Hinter der Idee der „mittelbaren Wirkung“ stehen aber verschiedenartige Vorstellungen, so dass mit der „herrschenden Meinung“ nur dieser eine Aspekt gemein ist, und sie deshalb nur schwerlich überhaupt als eine Meinung begriffen werden kann12. Betrachtet man nämlich die Veröffentlichungen der letzten 20 Jahre13 genauer, so entsteht ein recht buntes Bild, angesichts dessen keine der Meinungen als herrschend bezeichnet werden kann. Dabei ist es wichtig, drei Themenbereiche zu unterscheiden14. Zunächst ist festzuhalten, dass der Privatrechts-Gesetzgeber gemäß Art. 1 Abs. 3 GG unmittelbar an die Grundrechte gebunden ist15. Insofern bestehen überhaupt keine Besonderheiten im Vergleich zu anderer Gesetzgebung. Art. 1 Abs. 3 GG differenziert nicht im Hinblick auf den Gegenstand der gesetzgeberischen Tätigkeit. Auf der einen Seite entfaltet diese Grundrechtsbindung dabei die beschriebene abwehrrechtliche Wirkung, denn auch zwingende Regelungen auf dem Gebiet des Privatrechts stellen einen Eingriff in die Privatautonomie der Bürger dar16. Diese Regelungen definieren sie und beschränken damit notwendig den einen oder anderen Teilnehmer des Rechtsverkehrs in seinen verfassungsmäßig garantierten Freiheiten. Daraus folgt, dass der Privatrechts-Gesetzgeber die Regelungen nur insoweit erlassen darf, als dass sie auch verhältnismäßig sind. Auf der anderen Seite begründen die Grundrechte aber auch staatliche Schutzpflichten17. Der Gesetzgeber muss sich deshalb gegebenenfalls 11

Dazu sogleich B., I., 1., a). Dazu B., I., 1., b). 13 Z.B. Canaris, Grundrechte und Privatrecht; Classen, AöR 122 (1997), 65; Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 201 ff.; Floren, Grundrechtsdogmatik im Vertragsrecht; Hager, JZ 1994, 373; Hillgruber, AcP 191 (1991), 69; Koch, Der Grundrechtsschutz des Drittbetroffenen, Tübingen 2000; Kokott, in: dies./Rudolf, Gesellschaftsgestaltung; Langner, Die Problematik der Geltung; Oeter, AöR 119 (1994), 529; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte; Ruffert, Vorrang der Verfassung; Schwabe, Phantomjagd, FS Selmer, S. 247; Uesseler, Einwirkung der Grundrechte auf das Schadensersatzrecht. 14 Canaris, Grundrechte und Privatrecht, S. 11 ff.; Kokott, in: dies./Rudolf, Gesellschaftsgestaltung, S. 94; Manssen, Grundrechte, Rn. 99 ff. 15 Dem kann in der Tat methodologisch nicht entgegengehalten werden, der Gesetzgeber wolle sich historisch nur von der Grundrechtsdogmatik der Weimarer Reichsverfassung distanzieren, so aber Diederichsen, AcP 198 (1998), S. 171, 225 f.; dagegen Medicus, AcP 191 (1991), 35, 44 f. und Zöllner, RDV 1985, 3, 8, mit ausführlicher Begründung Canaris, Grundrechte und Privatrecht, S. 11 ff.; s. auch Floren, Grundrechtsdogmatik im Vertragsrecht, S. 16; Cremer, Freiheitsgrundrechte, S. 425 ff. 16 Dazu grundlegend: BVerfGE 6, 32. 17 Vgl. nur Maurer, § 9 IV, Rn. 25 f.; Pieroth/Schlink, Rn. 110 ff. Umfang und Natur grundrechtlicher Schutzpflichten sind in der deutschen Rechtslehre umstritten, Näheres dazu unten: C., I., 2., b), aa), (4). 12

I. Die Theorie der „Drittwirkung“ in der deutschen Rechtslehre

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auch schützend vor die schwächere Partei stellen18. Die grundrechtlichen Schutzpflichten gewinnen daher vor allem bei der Frage nach der Bindung der Legislative an die Grundrechte an Bedeutung. Sodann ist die Frage nach der Bindung der Rechtsprechung an die Grundrechte auf dem Gebiet des Zivilrechts zu stellen. Sie ist zunächst gemäß Art. 1 Abs. 3 GG ebenfalls unmittelbar an die Grundrechte gebunden. Unstreitig ist dies zumindest im Bezug auf die Prozessrechte. Was die übrigen Grundrechte betrifft, so soll „die Grundrechtsbindung auf die Drittwirkung beschränkt werden“19. Dies läuft jedoch auf eine teleologische Reduktion hinaus: Art. 1 Abs. 3 GG bindet alle drei Gewalten gleichermaßen „unmittelbar“. Was der „telos“ einer solchen einschränkenden Auslegung sein soll bleibt im Verborgenen. Vielmehr sind die Gerichte bei den Entscheidungen auf dem Gebiet des Privatrechts ebenfalls grundrechtsgebunden; auch wenn diese Bindung naturgemäß qualitativ anders ausfällt als im Rahmen der Gesetzgebung, so sind die Gerichte doch ein Teil der Staatsgewalt, der dazu berufen ist den Grundrechtsschutz zu gewährleisten, und der dies in unterschiedlichen Funktionen wahrnimmt20. Das Gericht verhilft den Regelungen des Gesetzgebers zu ihrer Geltung und stellt sich so ebenfalls schützend vor die Grundrechte. Folglich muss es in dieser Situation, wie der Gesetzgeber, an die Grundrechte gebunden sein. Schließlich ist die Ausübung von Rechten Privater untereinander zu betrachten. Und genau hier liegt „der Hund“ der deutschen Rechtsdogmatik „begraben“ – nicht etwa dagegen in der Problematik der Qualifikation des Bundesverfassungsgerichts als sogenannter „Superrevisionsinstanz“. Es wäre vielmehr ein naturalistischer Fehlschluss, die Frage der Grundrechtswirkung zwischen Privaten aus diesem Blickwinkel zu betrachten. Die Überprüfung von Entscheidungen ordentlicher Gerichte durch das Bundesverfassungsgericht hängt nach geltendem Recht nur davon ab, ob diese eine Grundrechtsverletzung i.S.d. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG darstellen und nicht umgekehrt: Das heißt der Inhalt der Überprüfung hängt nicht von dem Umfang der noch zu bestimmenden und im Übrigen schwer bestimmbaren21 Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts ab. Im Folgenden wird daher nur die Wirkung der Grundrechte zwischen Privaten genauer betrachtet.

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Diese dualistische Betrachtungsweise spiegelt sich in den Begründungsansätzen der mittelbaren Drittwirkung wider, dazu B., I., 1., b). 19 So ausdrücklich Jarass, in: ders./Pieroth, GG, Art. 1 Rn. 24; s. auch Fn. 8. 20 So mit ausführlicher Begründung, u.A. mit Bezugnahme auf Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG Canaris, Grundrechte und Privatrecht, S. 24 ff. m.w.N. zur Gegenposition; ebenfalls ausführlich Cremer, Freiheitsgrundrechte, S. 444 f., der jegliche Relativierung der Unmittelbarkeit von Grundrechtswirkung ablehnt, zustimmend auch Dreier, in: ders., GG Art. 1 Abs. 3, Rn. 61; Hillgruber, AcP 191 (1991) S. 71 f.; Looschelders, Die Ausstrahlung der Grundrechte auf das Schadensrecht, S. 94; Manssen, Grundrechte, S. 32 ff.; Schwabe, Phantomjagd, FS Selmer, S. 251. 21 Dazu unten B., I., 3.

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B. Die Wirkung der Grundrechte auf das Privatrecht

1. Genese des Begriffs der „Drittwirkung“ Die Frage der sog. „Drittwirkung“ der Grundrechte – oder schlicht der Bindung der Bürger an die Grundrechte – beschäftigt die deutsche Rechtswissenschaft bereits seit Generationen. Den ersten Anstoß zur wissenschaftlichen Diskussion gaben die Veröffentlichungen von Nipperdey22, in welchen der Autor eine unmittelbare Wirkung der Grundrechte zwischen Privaten zu begründen suchte. Daraufhin entbrannte mit der Gegenthese von Dürig23, welche den Grundrechten nur eine mittelbare Wirkung zuerkannte, in der deutschen Rechtslehre ein immerwährender, bereits klassisch gewordener dogmatischer Streit um den Begriff der „Drittwirkung“24. Das Thema ist seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts ständiger Gegenstand mal mehr, mal weniger heißer Diskussionen in der deutschen Rechtslehre geblieben25. a) Die sogenannte „unmittelbare Drittwirkung“ von Grundrechten Nach der Meinung Nipperdeys26 sollten manche Grundrechte auch Private unmittelbar binden, obwohl Art. 1 Abs. 3 GG nur Staatsgewalten erwähnt. Bei der Rekapitulation dieser Ansicht sollte man sich zwei Aspekte vor Augen halten. Zum einen stellte Nipperdey seine Thesen zu einem Zeitpunkt auf, in dem das Grundgesetz gerade erst im Entstehen war und erst einmal einer Interpretation bedurfte. Der Grundrechtsteil war trotz Parallelen und einiger „Entleihungen“ aus der Weimarer Verfassung bewusst von Grund auf neu konzipiert worden. Auch seine Auslegung konnte sich deshalb nur wenig auf frühere Ausarbeitungen stützen. Die unterschiedlichen Ansichten in Bezug auf die Auslegung des Grundgesetzes waren also nicht nur willkommen, sondern auch unumgänglich. Eine einheitliche Linie musste sich erst herausbilden. Zum anderen beschäftigte sich Nipperdey wissenschaftlich vorwiegend mit Arbeitsrecht und war von 1954 bis 1963 Präsident des neu gegründeten Bundesarbeitsgerichtes. Diese Nähe zum Arbeitsrecht kann viele seiner Thesen erklären.

22 Nipperdey, Das Arbeitsrecht im Grundgesetz, RdA 1949, S. 214; ders., Gleicher Lohn der Frau für gleiche Leistung, RdA 1950, S. 121; ders., Gleicher Lohn für Frau bei gleicher Leistung. Rechtsgutachten, erstattet dem Bundesvorstand des deutschen Gewerkschaftsbundes, Köln 1951; ders., Grundrechte und Privatrecht (1961); ders., Grundrechte und Privatrecht, FS Molitor, München/Berlin 1962, S. 17. 23 Dürig, Grundrechte und Zivilrechtsprechung, FS Nawiasky, München 1956, S. 157. 24 Als Erfinder des Begriffs gilt H. P. Ipsen. Er prägte den Begriff in seiner Kommentierung bei Neumann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte Abs. 2 (1954), Gleichheit, 111 (143). 25 Vgl. nur Nachweise bei Papier, Drittwirkung der Grundrechte, in: Merten/ders., Grundrechte in Deutschland I, S. 1331. 26 Seiner Meinung beigetreten sind: Leisner, Grundrechte und Privatrecht; Ramm, Die Freiheit der Willensbildung – Zur Lehre von der Drittwirkung der Grundrechte und der Privatrechtsstruktur der Vereinigung, S. 38 ff.; Gamillscheg, AcP 164 (1964), S. 386 ff., 419 ff.

I. Die Theorie der „Drittwirkung“ in der deutschen Rechtslehre

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Nipperdey sieht in den Grundrechten die Grundlage des Privatrechts27. Ausgehend von dem Gedanken, Grundrechte seien Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat, lasse sich in der heutigen Welt eine Parallele zu der Situation ziehen, in der der Bürger der Übermacht eines privatrechtlichen Verbandes oder auch einer einzelnen Privatperson in ähnlicher Weise ausgeliefert ist wie der des Staates28. Das höchste Prinzip der Verfassung, die Unantastbarkeit der Menschenwürde, gelte jedoch absolut29. Aus dem Programmsatz des Art. 1 Abs. 2 GG und dem Sozialstaatsprinzip in Art. 20 Abs. 1 GG leitet Nipperdey die Notwendigkeit der Geltung der jeweiligen Grundrechte in solchen Situationen auch unter Privaten ab. „Unmittelbar“ heißt in diesem Zusammenhang zum Beispiel, dass die Grundrechte „sonstigen Rechte“ i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB und „Schutzgesetze“ i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB sind, so dass ihre Verletzung einen Schadensersatzanspruch entstehen lassen könnte. Auch kann der Betroffene Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche geltend machen30. Schließlich kann sich ein Anspruch auch direkt aus der Verfassung bzw. dem jeweiligen Grundrecht selbst ableiten lassen. Im Vertragsrecht können Grundrechte Verbotsgesetze i.S.d. § 134 BGB darstellen. Dies kommt daher, dass, erstens, das GG eine objektive Werteordnung sein will und, zweitens, die Grundrechte „so stark der allgemeine Ausdruck von Prinzipien sind, (…) dass ihre Wirkung nicht auf das Verhältnis von Staat und Bürger beschränkt sein kann“31. Die Grundrechte haben deshalb unmittelbare normative Rechtskraft32. Aus diesem Grund lehnt Nipperdey auch die Bezeichnung „Drittwirkung“ ab. Er spricht vielmehr von der absoluten Wirkung der Grundrechte33. Gleichzeitig kann aber nicht jedes Grundrecht absolute Geltung beanspruchen. Welche das sind bedarf vielmehr stets der Einzelfallbetrachtung und Auslegung34. Der Grund, warum diese Position für ihre Gegner leicht angreifbar ist, liegt auf der Hand: sie findet keine ausdrückliche Stütze im Grundgesetz. Zwar schließt theoretisch die Erwähnung der öffentlichen Gewalten in Art. 1 Abs. 3 GG eine Bindung Dritter noch nicht zwingend aus35, doch könnte der Umkehrschluss aus Art. 9 Abs. 3

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Nipperdey, Grundrechte und Privatrecht, FS Molitor, S. 17, 19. Nipperdey, Grundrechte und Privatrecht (1961), S. 20 ff.; ders., Grundrechte und Privatrecht, FS Molitor, S. 17, S. 25. 29 Nipperdey, Grundrechte und Privatrecht, FS Molitor, S. 17, 18. 30 Nipperdey, Grundrechte und Privatrecht (1961), S. 15 ff.; ders., Grundrechte und Privatrecht, FS Molitor, S. 17, 24. 31 Nipperdey, Grundrechte und Privatrecht, FS Molitor, S. 17, 26, was freilich kein Argument ist. 32 Nipperdey, Grundrechte und Privatrecht, FS Molitor, S. 17, 25. 33 Nipperdey, Grundrechte und Privatrecht, FS Molitor, S. 17, 24. 34 Zu den in Betracht kommenden Grundrechten, Nipperdey, Grundrechte und Privatrecht (1961), S. 20 ff.; ders., Grundrechte und Privatrecht, FS Molitor, S. 17, 28 ff. 35 So aber Pieroth/Schlink, Rn. 189; ähnlich aber zweifelnd Papier, in: Merten/ders., Grundrechte in Deutschland I, § 55, Rn. 17 mit Verweis auf Canaris, AcP 184 (1984) S. 203 ff.; 28

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B. Die Wirkung der Grundrechte auf das Privatrecht

S. 1 GG dagegen sprechen. Auch die Entstehungsgeschichte lässt eine solche Intention der Väter und Mütter des Grundgesetzes nicht erkennen36. Ferner wird ins Feld geführt, dass eine unmittelbare Geltung die Privatautonomie beeinträchtige37. Dieses Argument krankt aber am oft übersehenen Vorrang des Grundgesetzes vor dem BGB, welches ein vorkonstitutionelles Gesetz ist und nur im Rahmen der Verfassung seine Geltung beanspruchen kann, Art. 123 Abs. 1 GG38. Das heißt, Privatautonomie ist hier lediglich als Ausdruck verfassungsmäßiger Freiheiten zu verstehen und kann deshalb, solange man den Gesetzen der Logik folgen will, nicht als Gegenthese zur Geltung der Grundrechte unter Privaten genutzt werden. Zuzustimmen ist den Gegnern dieser Theorie jedoch darin, dass eine Verhältnismäßigkeitsprüfung im Privatrecht, so wie sie bei den Grundrechten im Verfassungsrecht stattfindet, zu erheblicher Rechtsunsicherheit führen würde39. Weniger stichhaltig ist wiederum das Argument der Verletzung des Gewaltenteilungsprinzips, welches der Judikative den Vorwurf macht, auf den Zuständigkeitsbereich des demokratisch legitimierten Gesetzgebers überzugreifen40. Dieses Argument hat seinerseits die Wesentlichkeitstheorie als Prämisse. Die Wesentlichkeitstheorie stellt jedoch ebenfalls nur eine richterrechtliche Auslegung des Grundgesetzes dar. Damit stehen sich die beiden Thesen gleichberechtigt auf derselben Geltungsebene gegenüber. Die Wesentlichkeitstheorie kann daher genauso wenig der absoluten Wirkung der Grundrechte entgegengesetzt werden. Zudem sind auch die ordentlichen Gerichte zur Rechtsfortbildung berufen, wie § 132 GVG zeigt41. Die Grundrechtspositionen wurden durch den Gesetzgeber bereits in den Normen des Privatrechts meist ausreichend konkretisiert, so dass es überwiegend gar nicht auf eine solche Auslegung schlichter Grundrechte ankommt. Spitzfindig ist auf den ersten Blick das Argument Dürigs, dass ein Bürger, dem die Grundrechte gemäß Art. 18 GG aberkannt wurden, selbstverständlich zivilrechtsfähig bleibe42. Bei genauerem Hinsehen hat aber auch dieses nur wenig Substanz: Art. 18 GG ermöglicht Verwirkung nur bei einer begrenzten Anzahl von Grundrechten, unter anderem auch zutreffend dagegen: Dreier, in: ders., GG Art. 1, Rn. 23 ff.; Fabisch, Drittwirkung, S. 70; Starck, in: v. Mangold/Klein/Starck, Art. 1 Rn. 158, 249; Stern, Bd. I, § 19, S. 704. 36 Pieroth/Schlink, Rn. 191; wobei auch dieses Argument rechtstheoretisch nicht zwingend ist, vgl. Nipperdey, Grundrechte und Privatrecht, FS Molitor, S. 17, 25; allgemein zur historischen Auslegung: Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 294; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 316 ff., 328 ff.; Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 51. 37 Dürig, FS Nawiasky, S. 158 ff.; Papier, in: Merten/ders., Grundrechte in Deutschland I, § 55, Rn. 19. 38 In diesem Sinne auch Nipperdey, Grundrechte und Privatrecht, FS Molitor, S. 17, 26, 28. 39 Bleckmann, Staatsrecht, § 10, Rn. 103; Papier, in: Merten/ders., Grundrechte in Deutschland I, § 55, Rn. 19 m.w.N. 40 Dieses Argumet ist anzutreffen bei Papier, in: Merten/ders., Grundrechte in Deutschland I, § 55 Rn. 21. 41 Welcher jedoch zugegebenermaßen sich ebenfalls am GG zu messen hat. 42 Dürig, FS Nawiasky, S. 175.

I. Die Theorie der „Drittwirkung“ in der deutschen Rechtslehre

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beim Eigentumsrecht. Letzteres schützt jedoch nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das Eigentum Privater43 und ist ein absolutes Recht. Es kann daher nicht lediglich im Verhältnis zum Staat verwirkt werden, sondern nur allgemein44. Trotz aller Bedenken folgte das BAG lange Jahre der Lehre Nipperdeys und kehrte davon erst später und nur teilweise ab45. b) Die Lehre von der mittelbaren Drittwirkung Den oben geschilderten Thesen trat zunächst Dürig entschieden entgegen. Seiner Ansicht nach sei zwar die überragende Bedeutung der Menschenwürdegarantie nicht von der Hand zu weisen und könne der Schutzauftrag i.S.d. Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG nicht folgenlos bleiben, doch seien im Verhältnis zwischen den Bürgern Korrektive notwendig46, welche auf einer strikten Trennung des Zivilrechts vom Verfassungsrecht gründen47. Dabei geht er von dem an sich einleuchtenden Argument aus, nämlich dass das, was dem Staat zu tun verboten ist, dem Bürger deshalb noch lange nicht verboten sei48, da sonst die verfassungsrechtlichen Freiheiten ins Gegenteil verkehrt würden. Sollten die Bürger zu ihrer Freiheit quasi gezwungen werden, würde dies Schranken für den privaten Verkehr bewirken49. „Die Kirche“ sollte also „im Dorf bleiben“ und die Grundrechte nur das Verhältnis zwischen Staat und Bürgern regeln. Soviel zur einen Seite. Auf der anderen Seite aber seien die Grundrechte „Erscheinungsformen“ des vom Grundgesetz vorgegebenen Wertesystems, zu dem auch das Recht jedes Bürgers gehöre, „über individuelle Lebensbeziehungen zu anderen rechtlich autonom disponieren zu dürfen50“. Dürig scheint zwar die absolute Wirkung der Grundrechte anzuerkennen, relativiert diese so aber durch das Prinzip der Privatautonomie und der Eigenverantwortung. Der Staat erfüllt dabei seinen Schutzauftrag aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG durch die Schaffung der „wertausfüllungsfähigen und wertausfüllungsbedürftigen Generalklauseln“51. Damit ist man auch schon bei der Kernthese angekommen: Die Grundrechte wirken nicht

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BVerfGE 61, 82, 108 f. Zur grundsätzlichen Problematik der Aufnahme des Eigentums in den Anwendungsbereich des Art. 18 GG: Gröschner, in: Dreier, GG, Art. 18, Rn. 23 ff. 45 Aus früherer Rspr.: BAGE 1, 51; 1, 185; aber BAGE 48, 122, 138 f.; zu diesem Thema erschien erst in der neuesten Zeit: Fabisch, Drittwirkung. Verblieben ist die Betrachtung der Tarifverträge als Rechtsnormen, s. auch BAGE 48, 307. 46 Dürig, in: Maunz/ders./Herzog, Art. 1 Abs. 3 GG, Rn. 131; ders., AöR 91 (1956), 117, 153. 47 Dürig, FS Nawiasky, S. 164, 173. 48 Dürig, FS Nawiasky, S. 159 ff., 167. 49 Dürig, FS Nawiasky, S. 168 ff. 50 Dürig, FS Nawiasky, S. 176. 51 Dürig, FS Nawiasky, S. 176 f. 44

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B. Die Wirkung der Grundrechte auf das Privatrecht

im Sinne Nipperdey’s unmittelbar, sondern über das einfache (zwingende) Gesetzesrecht. Sie sind bei der Auslegung der Normen hineinzulesen. Problematisch ist an dieser Ansicht vor allem die Trennung von Zivil- und Verfassungsrecht. Folgt man dem Wortlaut des Grundgesetzes und geht man von seinem Vorrang aus, so dürfen alle anderen Gesetze, somit auch die Privatrechtsnormen, nur in dem von ihm vorgegebenen Rahmen erlassen werden. Damit ist eine völlige Trennung beider Rechtsgebiete nicht möglich. Auch bleibt nach dieser Ansicht fraglich, was zu tun ist, wenn im betreffenden Fall ausnahmsweise keine Generalklausel zur Anwendung kommt52. Diese Frage ist jedoch rein akademischer Natur, denn notfalls, sollte ein solcher Fall überhaupt denkbar sein, könnte zu einer Analogie gegriffen werden. Hier zeigt sich, dass die Unterscheidung zwischen sogenannten „Generalklauseln“ und den spezialgesetzlichen Normen schlicht überflüssig ist: Auch eine spezialgesetzliche Norm stellt eine Grundrechtseinschränkung für die eine oder andere Partei dar. Eine solche muss der verfassungsmäßigen Überprüfung stets standhalten können, deshalb ist auch sie direkt am Grundgesetz zu messen, also verfassungskonform auszulegen. Somit ist jede Rechtsnorm „ein Einfallstor“ für die Grundrechte. Es kommt so auf die streitentscheidende Norm an, unabhängig davon, ob diese eine „Generalklausel“ ist oder nicht53. Einer widerspruchsfreien dogmatischen Begründung blieb Dürig freilich schuldig. Viele Rechtswissenschaftler haben in der nachfolgenden Zeit versucht, seine Theorie zu untermauern. c) Begründungsansätze in der neueren Zeit Die neuere Literatur bemüht sich dagegen um eine stabile dogmatische Konstruktion der horizontalen Grundrechtswirkung. Es wird immer mehr auf den Begriff der „Drittwirkung“ verzichtet54. Stattdessen wird versucht, diesem Phänomen seine Sonderstellung zu nehmen und es in gewöhnliche „Bahnen“ der Grundrechtsdogmatik zu lenken. Zunehmende Bedeutung gewinnen dabei Grundrechtsfunktionen wie Abwehrrechte und Schutzpflichten, die im Zentrum dieser Untersuchungen stehen. Grundrechte haben subjektive Funktionen als Abwehrrechte des Einzelnen gegenüber dem hoheitlichen Handeln des Staates und stellen zudem Schutzpflichten55 52

Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 205. Canaris, Grundrechte und Privatrecht, S. 16 ff. 54 Von der Überflüssigkeit des Begriffs sprechen Kokott, in: dies./Rudolf, Gesellschaftsgestaltung, S. 60; Lindner, Theorie der Grundrechtsdogmatik, S. 445 f. 55 Andere Funktionen interessieren hier nicht und werden aus diesem Grund nicht genannt. Obwohl die Schutzfunktion aus der objektiven Funktion der Grundrechte gefolgert wird, stellt auch sie einen subjektiven Anspruch im Staat–Bürger-Verhältnis (sog. „Versubjektivierung der Grundrechtsgehalte“) dar, weswegen hier von einer subjektiven Funktion gesprochen wird, so 53

I. Die Theorie der „Drittwirkung“ in der deutschen Rechtslehre

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des Staates gegenüber seinen Bürgern dar. Das bedeutet für unseren Fall, dass der Staat den privaten Rechtsverkehr einerseits regeln muss, andererseits diese Regelung aber so zu gestalten hat, dass sie der Überprüfung anhand des Grundgesetzes standhält. Bereits Dürig bemerkt die enge Verbindung der staatlichen Schutzpflicht und der Problematik der Drittwirkung, arbeitet diese aber noch nicht deutlich heraus56. Dies geschieht spätestens bei Canaris, der mit seiner Arbeit einen dogmatisch klar strukturierten Lösungsansatz im Sinne der Lehre von den Schutzfunktionen lieferte57. Eine auf den ersten Blick qualitativ andere Position vertritt indes Schwabe58. Seine These knüpft an die Rechtsstellung der Gerichte, gleichzeitig aber auch an die abwehrrechtliche Qualität der Grundrechte an. Danach habe die „Drittwirkung“ ohnehin nur wenig mit „Dritten“ zu tun, es ginge in solchen Fällen vorrangig um die Beurteilung gerichtlicher Entscheidungen und der Gesetzgebung59. Dies seien aber Akte der öffentlichen Gewalt, die an die Grundrechte gebunden ist, Art. 1 Abs. 3 GG. Handlungen Privater seien deshalb in diesem Sinne dem Staat zuzurechnen; es ginge auch hier um das öffentliche Recht, sodass eine Hilfskonstruktion der „Drittwirkung“ gar nicht notwendig sei. Dazu nicht identisch, aber auch auf die Abwehrfunktion der Grundrechte abstellend, konzipieren in der neueren Zeit auch Poscher60 und Koch61 ihre Theorien. Was die Rechtsprechung angeht, so arbeitet Schwabe treffend heraus, dass sich das Bundesverfassungsgericht schon lange nicht mehr mit dem Thema der „Drittwirkung“ beschäftige; insofern gleiche die Analyse seiner Judikate auf der

auch Maurer, Staatsrecht I, § 9 IV, Rn. 24. Dies bedeutet zugleich eine Abkehr bzw. Weiterentwicklung der klassischen Lehre von Jellinek, vgl. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 87, 94 ff.; in der letzten Zeit ausführlich dazu Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 351 ff.; Ruffert, Vorrang der Verfassung, S. 237 ff. 56 Dürig, FS Nawiasky, S. 176. 57 Canaris, Grundrechte und Privatrecht; ebenfalls auf Schutzpflichten abstellen: Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 205 ff.; Floren, Grundrechtsdogmatik im Vertragsrecht, S. 19 ff. mit umfangreichen Nachweisen auf S. 39, Fn. 172; Holoubek, Grundrechtliche Gewährleistungspflichten. Ein Beitrag zur allgemeinen Grundrechtsdogmatik, Wien 1997, S. 243 ff.; Langner, Die Problematik der Geltung, S. 88 ff.; Oeter, AöR 119 (1994), 529; Ruffert, Vorrang der Verfassung, S. 141 ff.; zustimmend auch Kokott, in: dies./Rudolf, Gesellschaftsgestaltung, S. 60. 58 Entwickelt in: Schwabe, Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, München 1971. 59 Diese These wird in der Literatur jedoch weitgehend abgelehnt: Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 416 ff.; Floren, Grundrechtsdogmatik im Vertragsrecht, S. 36 f. m.w.N. zu den Argumenten dagegen; Langner, Die Problematik der Geltung, S. 85. 60 Auch Poscher führt, ausgehend aus der abwehrrechtlichen Funktion der Grundrechte, die Entscheidungen der Gerichte auf die Einschränkungen der Grundrechte zurück, Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 317 ff., Abgrenzung zum Ansatz Schwabes findet sich ebenda S. 328 f. 61 Koch, Der Grundrechtsschutz des Drittbetroffenen, S. 304 ff., 503 f.

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B. Die Wirkung der Grundrechte auf das Privatrecht

Suche nach brauchbaren dogmatischen Begründungsansätzen einer „Phantomjagd“62. Zu erwähnen ist auch das Konzept Lückes, der vorschlug, die Bindung der Bürger an die Grundrechte aus Art. 19 Abs. 3 GG abzuleiten. Dieses wird mit einem mehrfachen Erst-Recht-Schluss begründet und auf den Bürger zurückbezogen63. Darin liegt auch die Schwäche dieser Doktrin, denn einem Erst-Recht-Schluss kann meist das Wortlautargument sowie hier zusätzlich auch die systematische Stellung, die Funktion der Norm und ihr Telos entgegengesetzt werden. Schließlich darf noch die Position nicht unerwähnt bleiben, wonach den verfassungsrechtlichen Konstrukten zugunsten der Autonomie des Privatrechts und seiner Instrumente eine Absage erteilt wird. Diese Ansicht wird vor allem im Zivilrecht vertreten und gründet auf der Abgrenzung zwischen dem formalen und materialisierten Privatrecht. Unter ihren Befürwortern ist insbesondere Gerhard Wagner zu nennen64. Angesichts der Mannigfaltigkeit der Erklärungsansätze darf indes nicht aus den Augen verloren werden, dass die Schutzpflichten des Staates lediglich die Kehrseite der bürgerlichen Abwehrrechte bilden, und umgekehrt65. Treffend ist insoweit die von Wahl/Masing verwendete Bezeichnung als „Schutz durch Eingriff“66. Es handelt sich hier also nicht um qualitativ unterschiedliche Konstruktionen, sondern um beide Kehrseiten der staatlichen Existenzberechtigung67. Unter diesem Blickwinkel wäre ein vermittelnder Lösungsweg vorzuziehen. 2. Die Position der Rechtsprechung Das Bundesverfassungsgericht hatte bei seinem berühmten „Lüth-Urteil“ die Gelegenheit, diesen gordischen Knoten zu durchschlagen68, was es aber nicht tat. Zwar wurde die Debatte durch das höchste Gericht entschärft, indem es die Wirkung 62

Schwabe, Phantomjagd, FS Selmer, S. 247. Lücke, JZ 1999, 377 (378 f.), der wegen des Wortlautes „soweit“ einräumt, dass die Wirkung jeweiliger Grundrechte einzeln untersucht werden muss. 64 Wagner, Materialisierung des Schuldrechts, S. 13 ff. s. dazu auch: Hager, Strukturen des Privatrechts in Europa, S. 3 ff., 11 ff. 65 So auch Hager, JZ 1994, 381 f., der aufgrund der Bindung des Zivilgesetzgebers und -richters an die Grundrechte gemäß Art. 1 Abs. 3 GG zur unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte kommt. 66 Wahl/Masing, JZ 1990, 553. 67 Dies leugnet Langner, Die Problematik der Geltung der Grundrechte, S. 85 f.; ablehnend auch Canaris, Grundrechte und Privatrecht, S. 45 ff. 68 Auch schon vor dieser Entscheidung urteilte das BVerfG über Konstellationen, die man später als „Drittwirkungskonstellationen“ bezeichnete. Eine eingehende Darstellung der früheren Rechtsprechung findet sich bei Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 233 ff. Er stellt fest, dass „es zwar Drittwirkungsfälle aber kein dogmatisches Drittwirkungsproblem gab“. 63

I. Die Theorie der „Drittwirkung“ in der deutschen Rechtslehre

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der Grundrechte auf private Rechtsverhältnisse durch seine These von den objektiven Grundrechtsgehalten bejahte. Das Bundesverfassungsgericht äußerte sich in seinen Entscheidungen zu den jeweiligen Drittwirkungs-Konstellationen aber stets derart mehrdeutig, dass sich beide Seiten mit jeweils mehr oder weniger Auslegungsphantasie in dem Glauben wähnen konnten, gerade ihrer Meinung sei gefolgt worden69. Im „Lüth-Urteil“ hatte das Bundesverfassungsgericht70 eine „objektive Werteordnung“ von den Grundrechten abgeleitet, „die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts“ und somit auch für das Zivilrecht gilt71. Mit dieser Entscheidung nahm die Kontroverse in der Literatur nur ein vorübergehendes Ende. Letztlich vermied es das höchste Gericht Deutschlands in diesem Streit stets ausdrücklich Stellung zu beziehen. Dem „Lüth-Urteil“ wurde in Bezug auf seine dogmatische Begründung kritisch begegnet. Der Begriff der „objektiven Werteordnung“ ist tatsächlich konturlos und eignet sich zwar gut für die Auslegung72, jedoch schlecht für die Bestimmung von Rechtsfolgen73. Wie diese Wirkung dogmatisch gestaltet sein soll, erläuterte das Gericht nicht. Die Fragen der Grundrechtswirkung und der verfassungsrechtlichen Kontrolle der Fachgerichte wurden nicht deutlich voneinander abgegrenzt74. Viele Stimmen in der Literatur vertreten indes die Ansicht, diese Entscheidung beruhe auf der Vorstellung, privatrechtliche Normen könnten die Grundrechte nicht einschränken, welche aber nach dem heutigen Stand der Lehre nicht mehr vertretbar sei; das Urteil habe daher mit der „Drittwirkung“ von Grundrechten als solcher gar nichts zu tun75. Auch in seinen späteren Entscheidungen sorgte das oberste Gericht Deutschlands nicht für Klarheit, rückte aber zunehmend von dem Begriff der „objektiven Werteordnung“ ab76. Stattdessen führte es nach und nach den Begriff der Schutzpflichten 69 Hager, JZ 1994, 373; Nipperdey, Grundrechte und Privatrecht, FS Molitor, S. 17, 24 f.; Schwabe, Phantomjagd, FS Selmer, S. 247 ff. 70 BVerfGE 7, 198. 71 BVerfGE 7, 198, 205 ff. 72 Vgl. eine eingehende Untersuchung des Begriffs von Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 130 ff., 134 ff., der diesen Begriff den des „objektiven Werteprinzips“ (in Entsprechung zu seiner Prinzipientheorie) vorzieht. 73 Ausführlich dazu Lindner, Theorie der Grundrechtsdogmatik, S. 442; kritisch zum Begriff der „Ausstrahlungswirkung“ auch Canaris, Grundrechte und Privatrecht, S. 30 sowie Lerche, FS Odersky, S. 215, 216 f., 223, 227 f. 74 So auch Dreier, in: Dreier, GG Vorb. vor Art. 1, Rn. 99 m.w.N. zu dieser Sichtweise. 75 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 487; Canaris, JuS 1989, 161, 167, ders., Grundrechte und Privatrecht, S. 31 f.; Lübbe-Wolff, Eingriffsabwehrrechte, S. 166; Manssen, Grundrechte, Rn. 313; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 320. 76 Dies geschah freilich zugunsten anderer Begriffe, z. B.: „Grundrechte als objektive Normen, die eine Wertordnung statuieren“ (BVerfGE 33, 303, 330) oder „objektiv-rechtlicher Gehalt“ (BVerfGE 53, 30, 57); ausführlich dazu Jarass, AöR 120 (1995), 363, 369 ff.

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B. Die Wirkung der Grundrechte auf das Privatrecht

der Gerichte und des Gesetzgebers gegenüber der wirtschaftlich unterlegenen Partei ein77. Soweit diesbezüglich überhaupt vereinheitlichend gesprochen werden kann78, ist festzuhalten, dass das Bundesverfassungsgericht auf die theoretischen Grundlagen nicht mehr eingeht79. Die Versuche der Lehre, die Judikate so oder anders passend zum jeweiligen Ansatz auszulegen, wirken gerade wegen der Offenheit der Ausdrücke des Bundesverfassungsgerichts oft gezwungen. Indes vermeidet das oberste Gericht Deutschlands seit Jahrzehnten eine deutliche Aussage. Diese überlässt es, nicht zuletzt weil das praktische Ergebnis davon kaum abhängt, der Lehre. Der Bundesgerichtshof hat sich ebenfalls schon früh zur „(un-)mittelbaren Drittwirkung“ der Grundrechte zwischen Privaten bekannt, insbesondere im Zusammenhang mit der Verletzung des Persönlichkeitsrechts80. Anfänglich tat er dies nicht ausdrücklich, sondern vielmehr dadurch, dass er die Wirkung des Persönlichkeitsrechts in die zivilrechtliche Anspruchsgrundlagen hineinlas. Wobei man aber in diesem Zusammenhang darauf hinweisen muss, dass dies nicht der Lehre Nipperdeys widersprach, in welcher er die Grundrechte ebenfalls als „sonstige“ Rechte i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB anerkannte. Der Bundesarbeitsgerichtshof folgte schließlich, wie bereits dargestellt, jahrelang der Lehre von der „unmittelbaren Drittwirkung“ der Grundrechte [B., I., 1., a)]. Auch heute noch vertritt es diese in Bezug auf Tarifverträge81. 3. Das Bundesverfassungsgericht: keine „Superrevisionsinstanz“ Bereits in seiner ersten Entscheidung82 zur Wirkung der Grundrechte unter Privaten hatte das Bundesverfassungsgericht betont, dass es keine „Superrevisionsin-

77 Vgl. nur BVerfGE 25, 256 („Blinkfüer“), wobei damals die Lehre von den Schutzpflichten noch nicht entwickelt war; BVerfGE 81, 242 („Handelsvertreter“); BVerfGE 89, 214 („Bürgschaftsfall“); eine eingehende Untersuchung dieser und anderer Judikate findet sich bei Ruffert, Vorrang der Verfassung, S. 146 ff. Kritisch hierzu auch Wagner, Materialisierung des Schuldrechts, S. 13, 33 ff. 78 Dazu Schwabe, Phantomjagd. FS Selmer, S. 247; aus der jüngeren Zeit Ruffert, Vorrang der Verfassung, S. 146, auch er stellt fest, dass diese „weniger einheitlich als erwünscht oder gar erwartet“ sind. 79 So Manssen, Grundrechte, Rn. 119; vgl. auch Schwabe, Phantomjagd, FS Selmer, S. 247, sowie Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 229, die hervorheben, dass der Begriff der Drittwirkung in den Bänden der Entscheidungssammlung des BVerfG lediglich zwei Mal auftaucht. 80 BGHZ 13, 334, 338; 15, 249; 24, 72, 76 f.; 27, 284, 285; 30, 7, 10; 33, 145, 149 ff.; 50, 133. 81 BAGE 48, 307; zu beachten ist jedoch in diesem Zusammenhang, dass für das BAG die Tarifverträge echte Rechtsnormen darstellen. 82 BVerfGE 7, 198, 206, sowie 3. Leitsatz.

I. Die Theorie der „Drittwirkung“ in der deutschen Rechtslehre

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stanz“ werden wolle83. Damit war gemeint, dass es nicht seine Aufgabe sei, Entscheidungen eines Zivilgerichts neben der regulären Revisionsinstanz nochmals auf Rechtsfehler zu überprüfen. Später dehnte es diese Formel auf alle anderen Fachgerichte aus84. In der Tat wäre so einer Differenzierung zwischen der Zivilgerichtsbarkeit und anderen Gerichtszweigen jegliche Grundlage entzogen85, trotzdem trennt das Bundesverfassungsgericht diese Frage nicht deutlich von der der Drittwirkungsproblematik86. Angesichts der Tatsache, dass jedes Urteil eine der Parteien in ihren Grundrechten verletzen kann87, drängt sich zwar auf, dass das Bundesverfassungsgericht nicht die Aufgabe haben kann, diese alle auch tatsächlich zu überprüfen. Doch ist dies eine Frage seiner Stellung bzw. Kompetenzen, nicht jedoch des konkret zu entscheidenden Sachverhalts. Die Antwort darauf ist deshalb auch in den §§ 13 Nr. 8a i.V.m. 90 ff. BVerfGG bzw. in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG zu suchen88, aber gewiss nicht in der Dogmatik der grundrechtlichen Drittwirkung – dies wäre ein logisch unzulässiger Schluss vom Besonderen auf das Allgemeine89. Der in diesem Zusammenhang berühmt gewordene Lösungsansatz liegt in der Beschränkung der Prüfungsdichte des Gerichts auf das „spezifische Verfassungsrecht“. Dieses ist danach erst dann verletzt, wenn „Auslegungsfehler sichtbar werden, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang des Schutzbereichs beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind“90. Zu dem was das Bundesverfassungsgericht nicht prüft, gehören danach Tatsachenfeststellung, Gestaltung des Verfahrens, sowie die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall. Der Fehler muss vielmehr in der Nichtbeachtung von Grundrechten liegen91. Mit dieser Abgrenzung ist freilich nicht viel gewonnen. Wie gerade dargelegt, lieg das Problem darin, dass eine rechtlich falsche Entscheidung stets eine Verletzung der Grundrechte darstellt. Wann soll diese nun „spezifisch“ und wann „allgemein“ sein? Zwar wird darauf hingewiesen, dass die erläuterte Heck’sche Formel den Gegensatz der einfachen Gesetzesnormen zum Verfassungsrecht meint und nicht etwa eine Differenzierung zwischen unterschiedlichen Verfassungsnormen vornimmt, doch dürfen auch einfache

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Kritisch dazu Lindner, Theorie der Grundrechtsdogmatik, S. 445. Mit ausführlichen Nachweisen Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 268 f. insb. Fn. 228. 85 Siehe bereits oben B., I. am Anfang. 86 So auch Canaris, Grundreche und Privatrecht, S. 27 ff.; Dreier, in: ders., GG, Vorb. vor Art. 1, Rn. 99; Manssen, Grundrechte, Rn. 109. 87 Grundlegend dazu BVerfGE 6, 32. 88 So auch Canaris, Grundrechte und Privatrecht, S. 28. 89 Anders dagegen Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 281, 328 ff. 90 Sog. „Heck’sche Formel“ in ständiger Rechtsprechung, z. B. BVerfGE 18, 85, 93; 102, 347, 362; Nachweise bei Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 281. 91 BVerfGE 18, 85, 92 f.; 62, 338, 343; 80, 81, 95; 114, 54, 84. 84

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B. Die Wirkung der Grundrechte auf das Privatrecht

Rechtsnormen den verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht widersprechen, was zurück zur Frage der Abgrenzung führt. Ein Verfassungsgericht ist stets eine außerordentliche Rechtsinstanz, die zudem auch nicht die Kapazitäten hat, eine „Superrevisionsinstanz“ zu sein. Dies liegt auf der Hand. Ein weites Verständnis der Prüfungskompetenzen wäre „mit seiner eigentlichen Funktion und der verfassungsmäßigen Aufgabenteilung im Verhältnis zu den anderen Gerichten nicht vereinbar“92. Doch zieht das Bundesverfassungsgericht seine ohnehin nicht so klare Linie auch nicht konsequent durch. Das Gericht hat nämlich bereits mehrmals die Auslegung einfachgesetzlicher Normen durch Fachgerichte korrigiert93. Dies ermöglichte zwar in jenen Fällen die Gewährleistung der Einzelfallgerechtigkeit, führt in Gesamtschau aber nicht gerade zu Rechtssicherheit in Bezug auf den Beschwerdegegenstand und somit auf die Statthaftigkeit der Verfassungsbeschwerde94. In der Literatur werden daher vielerlei unterschiedliche Ansätze vertreten, die sich um eine handhabbare Abgrenzung bemühen. Ihre Darstellung liegt jedoch außerhalb des Untersuchungsgegenstandes dieser Arbeit95. 4. Die Anerkennung der Grundrechtswirkung in einzelnen Bereichen des Privatrechts Aufgrund der (unmittelbaren) Bindung des Gesetzgebers an die Verfassung, und somit auch an die Grundrechte, besteht bei Letzteren ein gebietsübergreifender Einfluss auf das Privatrecht96. Diese Wirkung besteht also in jedem Bereich des Privatrechts und kann daher stets relevant werden. Im Folgenden werden nur Beispiele der mittlerweile typischen Konstellationen dargestellt. Das Deliktsrecht stellt das klassische Einfallstor für die grundrechtlichen Positionen dar. Nach von Bar ist die Wirkung der Grundrechte auf diesen Bereich in ganz Europa anerkannt97. Dies erstaunt insofern nicht, als dass es im Deliktsrecht vorrangig um die Regelung der Konflikte unter Privaten bzw. den Ausgleich für Verletzungen von Rechtsgütern geht, welche auch oft Schutzgüter der Grundrechte 92

Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 285 m.N. aus der Rechtsprechung. BVerfGE 41, 323; 63, 266. 94 Äußerst interessant ist in diesem Zusammenhang die Aussage Bendas, dass man in manchen Fällen wisse, dass nur noch das Bundesverfassungsgericht etwas machen könnte. Dabei ginge es oft um Gerechtigkeit im Einzelfall, die nicht mit der Zuständigkeit des BVerfG vereinbar sei. Dabei würden weder frühere, noch denkbare Formeln helfen. Zitiert nach Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 284 m.w.N. 95 Ein Überblick findet sich bei Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 310 ff. m.w.N. 96 Trotz grundsätzlicher Befürwortung der Autonomie des Privatrechts, im Ergebnis genauso Wagner, Materialisierung des Schuldrechts, S. 13, 80. 97 v. Bar, Gemeineuropäisches Deliktsrecht, Bd. 1, 1996, Rn. 554. 93

I. Die Theorie der „Drittwirkung“ in der deutschen Rechtslehre

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darstellen, sodass die Überschneidung von Regelungsbereichen bzw. Parallelen öfter sichtbar werden können. In diesen Bereich gehören etwa die Streitigkeiten um das allgemeine Persönlichkeitsrecht, das Recht am eigenen Bild und Wort sowie der Verletzung der allgemeinen Handlungsfreiheit als „sonstige Rechte“ i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 2 Abs. 1 (ggf. i.V.m. Art. 1 Abs. 1 S. 1) GG. Diese Institute wurden bereits im 19. Jahrhundert diskutiert, fanden aber erst mit der „Leserbrief-Entscheidung98“ ihren endgültigen Eingang in den Tatbestand des § 823 Abs. 1 BGB. Das Deliktsrecht ist folglich der Inbegriff bzw. Ausdruck staatlicher Schutzpflicht auf dem Gebiet des Privatrechts. Beim bereits erwähnten „Lüth-Urteil“ ging es um die Auslegung des Begriffs der vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung i.S.d. § 826 BGB99. In der „BlinkfüerEntscheidung“ wiederholte das Bundesverfassungsgericht seine Feststellungen dazu und untersuchte das Verhältnis von Meinungsfreiheit und Pressefreiheit im Lichte des Begriffs der Widerrechtlichkeit i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB100. Dieser Entwicklung entsprach auch die Etablierung der BGH-Rechtsprechung zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht bzw. zum Anspruch auf Entschädigung in Geld wegen des immateriellen Schadens (Schmerzensgeld) im Falle seiner Verletzung101. Aber auch im Bereich des Vertragsrechts, in welchem die deutsche Dogmatik der Privatautonomie historisch den höchsten Stellenwert zuspricht, gewannen die Grundrechte immer mehr an Bedeutung. Zu nennen ist hier der „Bürgschaftsfall“102, in dem das Gericht ausführte, dass bei struktureller Unterlegenheit einer der Parteien ein Bürgschaftsvertrag unter Berücksichtigung des Sozialstaatsprinzips i.S.d. Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG und der Gewährleistung der allgemeinen Handlungsfreiheit i.S.d. Art. 2 Abs. 1 GG gemäß § 138 BGB der Korrekturen bedürfe. Im „Mieter als Eigentümer-Fall“103 untersuchte das Bundesverfassungsgericht das Verhältnis zwischen Miet- und Eigentumsrecht, und leitete dabei Ersteres gleichfalls aus Art. 14 Abs. 1 GG ab. Sogar vor der Auseinandersetzung mit Handelsrecht, in dem den als Handelsleuten agierenden Parteien naturgemäß mehr Vertragsfreiheit „zugemutet“

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BGHZ 13, 334. BVerfGE 7, 198. 100 BVerfGE 25, 256. 101 Erstmalige Anerkennung im BGHZ 13, 334 („Leserbrief“); Anerkennung des Anspruchs auf Schmerzensgeld im BGHZ 26, 349 („Herrenreiter“); ausführliche Begründung im BGHZ 35, 363 („Ginsengwurzel“); zur Entwicklung der BGH-Rechtsprechung und m.w.N. Medicus/Petersen, Bürgerliches Recht, Rn. 615. 102 BVerfGE 89, 214; dazu Hillgruber, Chr., AcP 191 (1991), 69, 85; Kokott, in: dies./ Rudolf, Gesellschaftsgestaltung, S. 69 f.; Papier, in: Merten/ders., Grundrechte in Deutschland I, § 55, Rn. 45 f. 103 BVerfGE 81, 242; dazu Depenheuer, NJW 1993, 2561; Kokott, in: dies./Rudolf, Gesellschaftsgestaltung, S. 71 ff.; Manssen, Grundrechte, Rn. 116 ff.; Papier, in: Merten/ders., Grundrechte in Deutschland I, § 55, Rn. 39 ff.; Sendler, NJW 1994, 709. 99

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B. Die Wirkung der Grundrechte auf das Privatrecht

wird, schreckte das BVerfG nicht zurück104. Auch hier habe das Gericht die grundrechtlichen Positionen der Kontrahenten zu beachten. Sollte eine der Vertragsparteien ein starkes Übergewicht haben, welches für den anderen Teil eine Fremdbestimmung bewirke, so müsse der Staat regelnd eingreifen, um die grundrechtlich garantierte Selbstbestimmung zu sichern105. An den aufgeführten Entscheidungen sieht man deutlich, dass die Privatautonomie nicht nur die Freiheit der Parteien bedeutet, sondern gleichzeitig staatlichen Schutzes bedarf und deshalb einschränkend wirken kann. Auch auf dem Gebiet des Arbeitsrechts hat sich das Bundesverfassungsgericht öfter für die „Drittwirkung“ der Grundrechte ausgesprochen. So z. B. bei der Auslegung eines Arbeitsvertrags106, bei der Art der Beschäftigung eines Arbeitnehmers i.S.d. § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG107 oder auch bei der Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Aussperrungen im Arbeitskampf108. Falls es überhaupt Rechtsbereiche gibt, in denen der Bürger noch mehr als im Vertrags- und Handelsrecht dazu berechtigt ist, vom Staat zu fordern „in Ruhe gelassen“ zu werden109, so ist dies im Familien- und Erbrecht. Jedoch sind auch hier die Streitigkeiten manchmal nicht ohne staatliche Eingriffe zu regeln, um die grundrechtlichen Positionen mit einander in Einklang zu bringen. So verhält es sich z. B. beim Anspruch des Kindes auf Kenntnis seiner Abstammung gegenüber seinen Eltern bzw. der Mutter, deren Recht auf Geheimhaltung ihres Privatlebens aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. 1 Abs. 1 S. 1 GG nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts überwiegt110. Interessant an dieser Entscheidung ist insbesondere, dass diesbezüglich keine einfachgesetzliche Regelung bestand, sodass das Bundesverfassungsgericht den Konflikt anhand der Grundrechte löste und die Befugnis zur Lösung aus der grundrechtlichen Schutzpflicht folgerte, ohne jedoch auf die Wirkung der Grundrechte auf solche Rechtsverhältnisse näher einzugehen. In der Ehevertrags-Entscheidung nahm das Gericht dann ausdrücklich Bezug auf die Schutzpflichtenlehre und brachte einen Ehevertrag zu Fall, indem es die gerichtliche Schutzpflicht vor einseitig belastenden Eheverträgen aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. 6 Abs. 4 GG sowie aus Art. 6 Abs. 2 GG herleitete111. Für das Erbrecht wurde schließlich anerkannt, dass eine Bedingung, die den Eintritt der Erbfolge von einer 104

BVerfGE 81, 242; dazu Hermes, NJW 1990, 1764; Hillgruber, Chr., AcP 191 (1991), 69; Papier, in: Merten/ders., Grundrechte in Deutschland I, § 55, Rn. 37 f.; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 242 f. 105 BVerfGE 81, 242, 254 f. 106 BVerfGE 73, 261, 269. 107 BVerfGE 97, 169. 108 BVerfGE 84, 212. 109 BVerfGE 27, 1, 6. 110 BVerfGE 96, 56. 111 BVerfG NJW 2001, 957; zu dieser Entscheidung und zu BVerfGE 96, 56 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 149 f.

I. Die Theorie der „Drittwirkung“ in der deutschen Rechtslehre

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Situation abhängig macht, die in die Intimsphäre des Erben unzulässig eingreift, sittenwidrig und das Testament damit nichtig ist112. Auch solche Fälle laufen auf nichts anderes als den Schutz der Grundrechtspositionen des Erben hinaus, welche mit der Testierfreiheit des Erblassers kollidieren. Für den Bereich des unlauteren Wettbewerbs sind letztlich die beiden BenettonEntscheidungen zu nennen113. Zwar ist dies kein klassischer Privatrechtsbereich – vielmehr reguliert der Staat dadurch den Wettbewerb mit dem Ziel des Schutzes der Privatautonomie –, doch dürfen auch diese Entscheidungen aufgrund ihres unmittelbaren Einflusses auf die unternehmerische Tätigkeit nicht unerwähnt bleiben. Denn auch (oder sogar gerade) bei der Auslegung der Normen des UWG müssen die Grundrechte, in vielen Fällen vor allem die Meinungsfreiheit i.S.d. Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG, beachtet werden. In den genannten Entscheidungen war die gesellschaftskritische Werbung von Benetton aufgrund der Einwirkung der Meinungsfreiheit nicht i.S.d. § 1 UWG sittenwidrig. 5. Zusammenfassung Spätestens seit dem „Lüth-Urteil“ ist die Wirkung der Grundrechte zwischen Privaten nunmehr eine Frage der rechtsdogmatischen Erklärungskonstruktion, nicht mehr eine nach ihrer Existenz. Die Tatsache, dass die Grundrechte auf die Rechtsverhältnisse zwischen Bürgern einwirken und diese gestalten, wird mittlerweile nicht mehr in Frage gestellt. In der internationalen Literatur wird die deutsche Rechtswissenschaft sogar als Erfinderin des Begriffs der Drittwirkung gehandelt – der Begriff wird auch meist auf Deutsch verwendet114. Angesichts der Vielzahl an Erklärungskonstruktionen ist es mittlerweile überholt, Dürigs Lehre von der „mittelbaren Drittwirkung“ als „herrschende Meinung“ zu bezeichnen. Vielmehr eignen sich die meisten Erklärungsansätze als brauchbare Begründung dieses Phänomens. Dies bestätigt auch die oben erwähnte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Frage der Abstammung115, die dort in bester Tradition der Nipperdey’schen Theorie unter direkter Anwendung der Grundrechte der Beteiligten gelöst wurde116. Es lässt sich festhalten, dass das Verständnis von der Wirkung der Grundrechte auf die Rechtsverhältnisse Privater stark von dem jeweiligen Grundrechtsverständnis selbst abhängt117. Je nachdem, welche der Grundrechtsfunktionen als vorrangig angesehen wird, variieren auch die dogmatischen Lösungen. Diese Erkenntnis ist so 112

Z.B. Edenhofer, in: Palandt, § 2074, Rn. 5. BVerfGE 192, 347 („Benetton I“) und BVerfGE 107, 275 („Benetton II“). 114 Clapham, Human Rights Obligations of Non-State Actors, 2006, S. 521 ff. m.w.N. 115 BVerfGE 96, 56. 116 s. B., I., 4. 117 Dies wird bereits von Nipperdey erkannt, s. ders., Grundrechte und Privatrecht, FS Molitor, S. 17, 25; genauso auch Dürig, FS Nawiasky, S. 166; eine aufschlussreiche Darstellung findet sich bei Lengauer, Drittwirkung von Grundfreiheiten, S. 2 f. 113

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B. Die Wirkung der Grundrechte auf das Privatrecht

banal wie wichtig zugleich: Das Ziel, welches von der jeweiligen Theorie angestrebt wird, bleibt dasselbe – nämlich eine dogmatisch vertretbare und praktisch anwendbare Lösung. Der Weg dazu ist vom Grundgesetz jedoch nicht vorgegeben118. Es gibt mehrere, und sie stehen gleichberechtigt nebeneinander. Zugleich kann keiner mehr leugnen, dass die Grundrechte, auf welche Art auch immer, ihren Eingang in das Privatrecht finden müssen. Diese Arbeit wird schlussendlich aufzeigen, warum dies der Fall ist. Zugespitzt und unnötig aufgebläht wird die Problematik zudem aber durch die Missverständnisse hinsichtlich der Begrifflichkeiten119. Eine praktische Bedeutung in Bezug auf die Rechtsfolgen ließe sich hier jedoch nur schwerlich feststellen120. Viele sprechen gar von einer „Ergebnisäquivalenz“ der verschiedenen „Drittwirkungstheorien“121. Vorstellbar wäre deshalb auch eine konsolidierende Lösung, die die grundrechtlichen Funktionen als Einheit betrachtet und die Problematik aus diesem Blickwinkel zu lösen versucht. Des Begriffs der „Drittwirkung“ als solchen bedarf es dafür nicht. Dieser stellte auch kein Mehr zu den natürlichen Wirkungen der Grundrechte dar. Für den Zivilrichter bleiben aber nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Schwierigkeiten in Fällen der Anwendung der ohnehin ausfüllungsbedürftigen „Generalklauseln“, bei welchen er auf die „objektive Wertentscheidung der Grundrechte“ zurückgreifen soll, bestehen122. Wichtig ist jedoch festzuhalten, dass sich die Wirkung der Grundrechte auf das Privatrecht nicht auf die „Generalklauseln“ beschränkt, sondern vielmehr jede Gesetzesnorm grundrechtskonform auszulegen ist. Macht der Anspruchsteller gegenüber dem Gericht geltend, dass die jeweilige Auslegung ein Grundrecht verkennt, so macht er damit die Verletzung seiner Grundrechte geltend. Dies betrifft auf der einen Seite die abwehrrechtliche Dimension – er will vor der Verletzung geschützt werden –, auf der anderen Seite korrespondiert diese zumindest zum Teil mit der grundrechtlichen Schutzpflicht des Staates: der Staat hat sich „schützend und fördernd [vor die Grundrechte] zu stellen“123. Dies sind zwei Seiten derselben Medaille, die sich bekanntlich nicht von118

In diesem Sinne auch Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 204. Floren, Grundrechtsdogmatik im Vertragsrecht, S. 27 ff. 120 Floren, Grundrechtsdogmatik im Vertragsrecht, S. 27. 121 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 475 ff., 483 m.w.N.; so sinngemäß auch Kokott, in: dies./Rudolf, Gesellschaftsgestaltung, S. 66, Sendler, NJW 1994, 709; bereits Leisner erkannte, dass „die Drittwirkung letzten Endes immer eine unmittelbare sein wird“, s. ders., Grundrechte und Privatrecht, 1960, S. 378; zustimmend Koch, Der Grundrechtsschutz des Drittbetroffenen, S. 448. 122 Jung, P., JZ 2001, 1004, 1006; zustimmend Lindner, Theorie der Grundrechtsdogmatik, S. 444. 123 Grundlegend zu den staatlichen Schutzpflichten das erste Abtreibungsurteil des BVerfG: BVerfGE 39, 1, 41 f. Ausführlich dazu unter C., I., 2., b), aa), (4). 119

II. Zusammenfassung und Begriffsbestimmung

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einander trennen lassen124. Deshalb spielt es auch keine Rolle, ob man auf Schutzpflichten oder auf die abwehrrechtliche Funktion abstellt. In Bezug darauf, welche Grundrechte im Einzelnen auf den Privatrechtsverkehr einwirken können, lässt sich schließlich festhalten, dass eine solche Wirkung theoretisch bei allen Grundrechten denkbar ist125. Auch ist jeder Bereich des Privatrechts von grundrechtlichen Wertungen durchdrungen, sodass ein „grundrechtsfreies“ Privatrecht per se nicht vorstellbar ist.

II. Zusammenfassung und Begriffsbestimmung Mit dem Begriff der „Drittwirkung von Grundrechten“ wird in der deutschen Rechtstheorie der Problemkreis von Geltung, Art und Umfang der Grundrechtsbindung der Bürger bzw. ihre Wirkung auf die Privatrechtsverhältnisse umschrieben. Zum „Dritten“ wird die andere Privatperson deswegen, weil nach ganz herrschender Ansicht die Grundrechte an sich vorrangig im vertikalen Verhältnis zwischen einer Privatperson und dem Staat gelten sollen. Den Beweis hierfür sieht die deutsche Rechtslehre in Art. 1 Abs. 3 GG126. Aus diesem Grund kann man auch von einer „horizontalen“ Wirkung der Grundrechte oder auch schlicht von ihrer Wirkung auf das Privatrecht bzw. auf die Verhältnisse zwischen Privaten sprechen. Die Fragen nach der Bindung der Staatsgewalten an die Grundrechte bzw. nach dem Prüfungsumfang des Verfassungsgerichts hängen damit zwar untrennbar zusammen, sind aber keine immanenten Bestandteile der Frage nach der Bindung der Bürger an die Grundrechte unter einander. Es besteht keine zwingende Kausalität zwischen der Handhabung dieser Problematik und der Wirkung der Grundrechte auf das Privatrecht. Diese Kategorien sollten deshalb getrennt behandelt werden. Im Folgenden soll beim Begriff der „Drittwirkung“ nicht danach differenziert werden, ob man darunter nur Fälle der staatlichen Schutzpflicht oder nur die abwehrrechtlichen Positionen eines Bürgers im Dreiecksverhältnis zum Staat und anderen Bürgern versteht. Solch eine einseitige Betrachtung würde die grundrechtlichen Positionen nur unzulänglich darstellen und ihre umfassende Natur verfälschen. Hier soll ein weites Verständnis zu Grunde gelegt und alle Fälle untersucht werden, in denen die Grundrechte auf ein privates Rechtsverhältnis einwirken. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob man den Begriff der „Drittwirkung“ für die weitere Untersuchung beibehält. Wie bereits ausgeführt, bedarf es dieses Begriffs als solchem nicht. Angesichts seiner Verbreitung in der mitunter auch

124

So schon mit ausführlicher Begründung Hager, JZ 1994, 373, 381 ff. Guckelberger, JuS 2003, 1151, 1154. 126 Ähnlich Pieroth/Schlink, Rn. 189; vgl. auch Lengauer, Drittwirkung von Grundfreiheiten, S. 5. 125

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B. Die Wirkung der Grundrechte auf das Privatrecht

internationalen Literatur127 erscheint die Weiterführung möglicherweise vorherbestimmt128, dagegen spricht jedoch, dass dieser Begriff in starkem Maße mit dem theoretischen Streit zwischen Nipperdey129 und Dürig in Verbindung gebracht wird, was zu Missverständnissen führen könnte. Auf der anderen Seite ist der Begriff der Drittwirkung zur Umschreibung der Grundrechtswirkung unter Privaten auch sprachlich nur beschränkt geeignet. Als „Dritten“ bezeichnet man meist jemanden, der sich an dem Rechtsverhältnis zweier Parteien nicht unmittelbar beteiligt, weshalb dieses Verhältnis auch nur ausnahmsweise Wirkungen auf ihn entfalten kann. Geht man nun davon aus, dass die Grundrechte grundsätzlich keine Wirkung auf das Privatrecht bzw. zwischen Privaten entfalten können, sondern ausschließlich für das vertikale Staat-Bürger-Verhältnis bestimmt sind, so kann der Begriff der Drittwirkung verwendet werden. Der Zusatz der „Mittelbarkeit“ stellt dann jedoch eine Tautologie dar, denn ihr Sinngehalt kommt bereits im Begriff selbst zum Ausdruck. Würde man dagegen davon ausgehen, dass die Grundrechte auch eine horizontale Wirkung entfalten und die Bürger direkt untereinander binden, so würden diese Parteien gleichberechtigt und „gleichverpflichtet“ nebeneinander stehen. Das hätte zu Folge, dass im Rahmen eines Verhältnisses unter zwei Privaten die beiden füreinander – und innerhalb der zu betrachtenden Rechtsbeziehung – keine „Dritten“, sondern vielmehr unmittelbare „Parteien“ wären. In diesem Fall wäre der Begriff der „Drittwirkung“, auch wenn man sie als „direkt“ bezeichnen würde, nur unpassend. Aus dargestellten Gründen soll der Begriff der Drittwirkung in dieser Arbeit nicht weiter verwendet werden. Stattdessen wird entweder von einer „horizontalen“, schlicht einer „Wirkung der Grundrechte unter Privaten“ oder auch von einer „absoluten Wirkung der Grundrechte“130 gesprochen werden.

127

Clapham, Human Rights Obligations of Non-State Actors, 2006, S. 521 ff.; IliopoulusStrangas, in: dies., Soziale Grundrechte in Europa, S. 967 ff. 128 So wird dieser Begriff auch z. B. von der griechischen Rechtstheorie übernommen, Iliopoulus-Strangas, in: dies., Soziale Grundrechte in Europa, S. 291. 129 Der den Begriff ohnehin ablehnt, s. bereits oben B., I., 1., a). 130 So bereits Nipperdey, Grundrechte und Privatrecht, FS Molitor, S. 17, 24.

C. Die Bindung der Privaten an die Grundrechte in der russischen Rechtstheorie und Rechtsprechung I. Untersuchung des russischen Verfassungsrechts 1. Die Entstehung der Konstitution der Russischen Föderation: rechtsgeschichtlicher Hintergrund und Grundrechtsverständnis Das Verständnis der Grundlagen des russischen Rechts kann sich einem nur nach der Beschäftigung mit ihrer historischen Entwicklung erschließen. Bevor man mit der eigentlichen Analyse der russischen Verfassung beginnt, sollten daher sowohl die Entstehungsgeschichte der Konstitution der Russischen Föderation als auch der Stand der russischen Verfassungslehre in Bezug auf die Grundrechte zumindest punktuell aufgezeigt werden. Dieser kleine rechtshistorische Ausflug ist auch von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit für das Verständnis der gegenwärtigen Entwicklung einerseits und des von der russischen Verfassung implementierten Stellenwerts der Grundrechte in der Gesellschaft andererseits. Er dient der Zugrundelegung von Prämissen der nachfolgenden Untersuchung der Grundrechtsbindung Privater. a) Die Entstehung der KRF und die grundrechtliche Tradition in Russland Die russische Verfassungslehre befindet sich im Vergleich zur deutschen noch am Anfang ihrer Entwicklung. Die Verfassung der Russischen Föderation ist im Jahr 2013 gerade erst 20 Jahre alt geworden. Dem neuen demokratischen Verfassungsrecht wurde von Anfang an die Möglichkeit eines Rückgriffs auf etwaige frühere Wurzeln aufgrund der geschichtlichen Entwicklung verweigert. Während die russischen Verlage die zivilrechtlichen Abhandlungen aus dem 19. bzw. frühen 20. Jahrhundert wieder verlegen und die heutige Zivilrechtslehre und Rechtsprechung darauf gerne zurückgreifen – ohne dabei etliche wissenschaftlich durchaus noch brauchbare Quellen aus Sowjetzeiten aus den Augen zu verlieren – besteht für die Verfassungslehre diese Möglichkeit nicht. Diese kann weder auf verfassungsrechtliche Traditionen aus Zeiten vor der Revolution zugreifen, noch gab es zu Zeiten der Sowjetunion überhaupt entsprechende Traditionen, die in nennenswertem Umfang für die heutige Verfassungslehre fruchtbar gemacht werden könnten.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

Der europäische Grundrechtsgedanke fand schon früh Eingang in die russische Rechtstheorie1, brauchte aber noch Zeit, um an Form und Ausdruckskraft zu gewinnen. Die Reformen von Kaiser Nikolaus II. aus den Jahren 1905/062 brachten dem Volk zwar (Standes-)Wahlrecht für die Duma, das zweite Legislativorgan neben dem Staatsrat, und zum ersten Mal auch ein gewisses Maß an Grundrechten und -freiheiten, doch blieben legislative und exekutive Macht in den Händen des Kaisers konzentriert, der in vielen Bereichen das ausschließliche Initiativrecht innehielt. Zudem konnte kein Gesetz ohne seine Zustimmung in Kraft treten. Auch kamen diese Reformen, politisch gesehen, zu spät. Sie konnten der über viele Jahrzehnte gewachsenen Unzufriedenheit im Volk nicht mehr gerecht werden. Das und die knappe Zeit des Friedens, die dem russischen Imperium noch blieben, ließen der Verfassungsrechtslehre in Russland keinen fruchtbaren Entfaltungsraum. Die Grundrechtsideen konnten nicht mehr zu einem wesentlichen Bestandteil des Verfassungsrechts erwachsen. Ein liberales Grundrechtsverständnis konnte sich weder in der Lehre noch in der Gesellschaft verfestigen. Die Interimsregierung des Jahres 1917 konnte die Macht nicht halten. Die politischen Prozesse dieses Jahres sind mit denen in Deutschland vergleichbar, der Ausgang war aber ein anderer. 1917 wird im nun als Sowjetunion benannten Russland die „Diktatur des Proletariats“ ausgerufen. Es begann ein historisches Experiment, das, verfassungsrechtlich gesehen, bis 1993, dem Jahr des Inkrafttretens der heutigen demokratischen Verfassung, andauerte. Während dieser Zeit hatte die UdSSR bzw. RSFSR vier aufeinanderfolgende Verfassungen. Die Entstehung der jeweils neuen Verfassungen war durch die wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen bedingt. Die fehlende Vorstellung davon, wie sich „der helle Weg zum Kommunismus“ gestalten sollte, führte immer wieder zu Reformbedarf. Jede der vier Verfassungen war von einer paternalistischen Sicht auf die Gesellschaft und den Einzelnen getragen, bekannte sich aber ausdrücklich zu den Grundrechten. Diese Konstitutionen begriffen jedoch den Menschen in erster Linie nicht als ein Individuum, sondern als „Zelle der Gesellschaft“, also als Teil des wirtschaftlich-sozialen Systems und unabdingbaren und aktiven Teilnehmer am politischen Leben. Dieser Umstand bedingte eine im Vergleich zur europäischen Vorstellung qualitativ andere Betrachtung der Grundrechte und der Möglichkeit ihrer Wahrnehmung und Einschränkung. Entsprechend schöpften die Grundrechte ihre Berechtigung ausschließlich aus der kommunistischen Ideologie und sind deshalb mit den heutigen Rechten und Freiheiten der Verfassung, welche im Licht demokratischer Werte verstanden werden, nur wenig vergleichbar3. Darüber hinaus distanzierte sich die Oktoberrevolution von der Idee der Gleichheit, Freiheit und der 1 Vgl. z. B. þ_ST_a_UgVS, ýV[gYY `_ Ybc_aYY eY\_b_eYY `aQSQ. DhV^Yp ^_S_T_ SaV]V^Y. XVI-XIX SS., S.110 ff.; B_\_SmrS, þaQSbcSV^^_bcm Y `aQS_, S. 97 ff.; 2VaUpVS, ? aQRbcSV Y bS_R_UV hV\_SV[Q, S. 307, 312 ff.; HYhVaY^, EY\_b_eYp `aQSQ, S. 53, 55 ff. 2 Die weitere knappe Zusammenfassung der verfassungsrechtlichen Entwicklung orientiert sich an der ausführlichen Darstellung in: 1SQ[mp^, ;_^bcYcdgY_^^_V `aQS_ A_bbYY I, Kap. 4. 3 Zum Wandel dieses Verständnisses, 1SQ[mp^, ;_^bcYcdgY_^^_V `aQS_ A_bbYY, S. 668.

I. Untersuchung des russischen Verfassungsrechts

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Universalität der Grundrechte von vornherein zugunsten einer strikten Klassentheorie. Die Idee der Menschen- oder Verfassungsrechte als von Geburt an gegebene und unantastbare Positionen wurde abgelehnt. Herrschend war die Lehre der vom Staat oktroyierten Rechte. So hatten auch die Verfassungsrechtslehrbücher in ihren Gliederungen keinen Platz für ein eigenes Kapitel, welches diesen Ideen gewidmet wäre. Sie wurden stattdessen zu einer „besonderen Art ideologischer Beziehungen“. Die Fragen des internationalen Rechts, vor allem im Zusammenhang mit der Tätigkeit der UNO, wurden ebenfalls lediglich abstrakt behandelt. In der Vorstellung der damaligen Verfassungslehre gab es diesbezüglich keinen Zusammenhang mit der sowjetischen (Rechts-)Wirklichkeit. Im heutigen Verständnis existierten die Grundrechte schlicht nicht. Erst in der späteren Phase der Sowjetunion, in den 70er und 80er Jahren, entstanden die Vrsten Arbeiten, die sich mit den Grundrechten ausdru¨cklich bescha¨ftigten4. Schließlich, nach langen Beratungen, innerpolitischen Kämpfen5 und legitimiert durch ein russlandweites, erfolgreiches Referendum, trat am 12. 12. 19936 die heutige Verfassung in Kraft. Eines der wichtigsten Anliegen ihrer Väter und Mütter war, neben der praktikablen Lösung volkswirtschaftlicher Probleme und der Entscheidung für eine der möglichen Regierungssysteme, einen Grundrechtsteil in die Verfassung einzuführen. Fortan sollten die Grundrechte eine zentrale Rolle im Leben des Staates spielen, und der Einzelne sollte vorrangig als Individuum mit unantastbarer Würde und Freiheiten begriffen werden7. Gleichzeitig wird die neue Verfassung als eine durch die gegenwärtige Volksherrschaft gegebene und getragene gesellschaftliche Ordnung verstanden, Art. 3 KRF8. Es versteht sich von selbst, dass alleine dadurch, dass die Grundrechte in der Konstitution der Russischen Föderation verankert wurden, noch lange kein dem europäischen ähnliches, gefestigtes liberales Rechtsverständnis oder eine immanente

4

Zu den Grundrechten in der Sowjetunion: ýd[QiVSQ (aVU.), @aQSQ hV\_SV[Q, S. 18 ff. Die ersten Forschungsarbeiten stammten von: 3Ycad[, (aVU.), ?faQ^YcV\m^lZ ]VfQ^YX] S `aQS_S_Z bYbcV]V b_gYQ\YX]Q; 3_VS_UY^, ;_^bcYcdgY_^^lV `aQSQ Y _RpXQ^^_bcY b_SVcb[Yf TaQWUQ^; ;dUapSgVS, @aQS_ Y `_SVUV^YV; =QcdX_S, ýYh^_bcm. @aQSQ. 5V]_[aQcYp. CV_aVcYhVb[YV `a_R\V]l bdRkV[cYS^_T_ `aQSQ; s. dazu auch: FdUp[_S, 4V^VXYb [_^bcYcdgY_^^lf _RpXQ^^_bcVZ T_bdUQabcSQ S A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, OaYUYhVb[YZ ]Ya, 2009 N 10, S. 25. 5 Zur Ausarbeitung der neuen Verfassung ausführlich, 1SQ[mp^, ;_^bcYcdgY_^^_V `aQS_ A_bbYY, Kap. 6; eine umfassende Darstellung findet sich bei Ad]p^gVS, 9X Ybc_aYY b_XUQ^Yp [_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY. ;_^bcYcdgY_^^Qp [_]YbbYp: bcV^_TaQ]]l, ]QcVaYQ\l, U_[d]V^cl (1990 – 1993 TT.). 6 Der 12. 12. 1993 war der Tag des Referendums. Die Konstitution wurde aber erst am 25. 12. 1993 in A_bbYZb[Qp 4QXVcQ vero¨ffentlicht (s. o. Fn. 17). 7 1SQ[mp^, ;_^bcYcdgY_^^_V `aQS_ A_bbYY, S. 329, 668 ff. 8 1SQ[mp^, ;_^bcYcdgY_^^_V `aQS_ A_bbYY, S. 370 ff.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

Grundrechtstradition entstanden ist9. Der Weg dahin ist vor dem beschriebenen Hintergrund mit vielen Schwierigkeiten gepflastert – die Missachtung der Menschenrechte ist zu tief in der russischen Geschichte verwurzelt. Im heutigen Russland kommt den Grundrechten leider nach wie vor keine angemessene Beachtung zu. Grundrechtsverletzungen finden noch überall statt und die rechtlichen, politischen und gesellschaftlichen Vorstellungen müssen sich erst noch wandeln10. Eine der wichtigsten Rollen im Wechsel dieser Vorstellung kommt russischen Gerichten zu. Ein Schritt in die richtige Richtung war deshalb auch der Beitritt Russlands zur EMRK. Die Menschenrechtsdogmatik des EGMR gewinnt mittlerweile auch in der Rechtsprechung der russischen Gerichte oberer Instanz immer mehr an Bedeutung. Die Konstitution der Russischen Föderation ist vor dem beschriebenen Hintergrund zu begreifen: Sie ist ein von demokratischer Intention getragenes Rechtskonstrukt, welches die europäischen Grundrechtsideen zum Bestandteil des russischen Rechtssystems und der russischen Wirklichkeit machen sollte, jedoch hinsichtlich seines Selbstverständnisses unmöglich frei von Einflüssen kommunistischer (Rechts-)Vergangenheit sein konnte. Aus diesem Zusammenspiel resultierte schließlich ein qualitativ neues Verfassungsverständnis, welches den herkömmlichen Instituten neue Facetten verlieh. b) Das Grundrechtsverständnis heute Seit nun zwei Jahrzehnten strebt die Verfassungslehre einen Neuanfang an. Dieser kann jedoch weder von den eigenen historischen Erfahrungen Russlands, noch von denen anderer europäischer Staaten frei sein. Die Konstitution der Russischen Föderation begreift die Grundrechte in naturrechtlicher Tradition11. Dies äußert sich vor allem in den Formulierungen der Art. 2, Art. 17 Abs. 1, 2 und Art. 55 Abs. 1 KRF, welche jeweils davon sprechen, dass die 9 Genauso wenig wie die Existenz einer Verfassung die Verfassungsmäßigkeit des Staates garantiert, so treffend NRXVVS, ýYh^_bcm Y T_bdUQabcS_: SXQY]^Qp _cSVcbcSV^^_bcm Y [_^bcYcdgY_^^lV _RpXQ^^_bcY, S. 105. 10 So auch ýd[QiVSQ (aVU.), @aQSQ hV\_SV[Q, S. 20 f. 11 Ob dies rechtsphilosophisch und -theoretisch gut oder schlecht, richtig oder falsch ist, kann hier nicht vertieft werden. Das Menschenrechtsverständnis dient als feststehender Ausgangspunkt für das gegenwärtige Verständnis der Grundrechte und ihrer Rolle in der Gesellschaft in den beiden Verfassungen. Dabei wird hier der Begriff des Naturrechts in seinem weitesten Verständnis verwendet, das bedeutet, dass damit zunächst nur die Überpositivität der genannten Rechtsgüter zum Ausdruck gebracht werden soll. Auch der russische Begriff „VbcVbcSV^^_V `aQS_“ wird von der heutigen russischen Rechtswissenschaft nicht etwa mit theologischen Gehalten besetzt. Er hat zudem zum Teil eine andere Fa¨rbung als der Deutsche Begriff des Naturrechts. Dies a¨ußert sich insbesondere darin, dass nach russischem Sprachversta¨ndnis damit „natu¨rliches“ Recht, also gerade das u¨berpositive Recht umschrieben wird, nicht etwa „Go¨ttliches“ Recht oder a¨hnliches. Solche Vorstellungen waren dem russischen Verfassungsgesetzgeber insbesondere vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Ablehnung jeglicher Religion in der Sowjetunion schlicht fremd.

I. Untersuchung des russischen Verfassungsrechts

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Grundrechte des Menschen die höchsten Werte seien, welche nicht nur jedem Menschen von Geburt an zustünden, sondern zudem unveräußerlich und vom Staat anzuerkennen, zu wahren und zu schützen seien. Die ausdrücklich aufgezählten Grundrechte sind dabei nicht als abschließender Katalog zu verstehen. Damit ist der Staat kein Grundrechtsgeber, sondern vielmehr ein Beschützer und Garant dieser Rechtspositionen. Auch formuliert die Verfassung der Russischen Föderation ihre Position menschenrechtsfreundlich: Art. 55 Abs. 1 i.V.m. 17 Abs. 1 KRF sieht die aufgezählten Grundrechte nicht als einen abschließenden Katalog an, vielmehr steht die Verfassung der Russischen Föderation den Entwicklungen auf dem Gebiet des Menschenrechtsschutzes offen gegenüber – sollten Rechtspositionen aufkommen, die auf dieser Ebene als gleichermaßen schutzwürdig angesehen werden, so sind auch diese durch die Verfassung geschützt12. Diese Sichtweise entspricht zumindest formal auch der Vorstellung des Grundgesetzes. Art. 1 Abs. 1, 2 GG stellt die Menschenwürde unter staatlichen Schutz, „darum“ bekennt sich das deutsche Volk zu den Menschenrechten. Diese Aussagen stellen auch klar, dass sowohl Menschenwürde als auch Menschenrechte nicht erst vom Staat oktroyiert wurden. Letztlich wird im zweiten Absatz die Idee der Unverletzlichkeit und Unveräußerlichkeit der Menschenrechte ausdrücklich ausgesprochen. Zudem ist der außerordentliche und nachhaltige Einfluss kommunistischer Erfahrung von großer Bedeutung. Die Verfassung der Russischen Föderation wurde nicht von Menschen geschrieben, die vom sozialistischen Einfluss unberührt geblieben waren. Sie entstand als Reaktion auf die Umbruchszeit der 80er und 90er Jahre des 20. Jahrhunderts in Russland. Das Volk sehnte sich nach Freiheit und marktwirtschaftlicher Stabilität. Diese Stimmung äußerte sich in der Perestroika und den Präsidentschaftswahlen des Jahres 1991. Die neue Verfassung musste nun der gegenwärtigen Situation gerecht werden und die Grundlage für einen demokratischen Staat schaffen. Sie sollte nach dem Willen ihrer Väter und Mütter auch im Einklang mit den völkerrechtlich anerkannten Prinzipien stehen13. Die neue Konstitution konnte aber nicht liberal-wirtschaftlicher Art sein. Zu lange hatte das Volk in einer sozialen (Plan-)Wirtschaft gelebt, in der für jeden gesorgt war und keiner auf der Strecke bleiben durfte. Das hatte zwar vielerlei negative Folgen, wie beispielsweise gerade die völlige Abwesenheit jeglicher Freiheiten. Doch war das Volk gewohnt, in vielen Lebensbereichen auf staatliche Unterstützung zählen zu können. Eine liberale Marktwirtschaftsordnung hätte deshalb zu jenem Zeitpunkt nicht aufgenommen werden können. Dies spiegelte sich schon in den Präsidentschaftswahlen des Jahres 1996, drei Jahre nach Einführung des Systems der freien

12

NRXVVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 55, S. 477. 13 8_am[Y^ S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, ;_^bcYcdgYp 1993 T_UQ — `aQS_SQp \VTYcY]QgYp ^_S_Z A_bbYY, S. 9.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

Marktwirtschaft14, wider, in welchem Jelzin nur einen knappen Sieg über den Kandidaten der kommunistischen Partei errang. Diese Entwicklung war auch schon 1993 im Rahmen der Beratungen zur neuen Verfassung deutlich geworden. Die Etablierung einer liberalen Marktwirtschaft war deshalb für die meisten Urheber der Verfassung undenkbar. Es sollte nun eine soziale Marktwirtschaftsordnung geschaffen werden15. Diese Entwicklungen waren jedoch nicht die einzige Folge der kommunistischen Vergangenheit16. Auch das Verständnis der Gesellschaft und des Staates von der eigenen Rolle konnte sich nicht von einem Tag auf den anderen vollkommen wandeln. Zwar unterdrückte der kommunistische Staat in der Praxis jede menschliche Freiheit, doch war Jahrzehnte lang eine Idee von Volksherrschaft und Gleichheit gelehrt worden17. Einen Herrscher „von Gottes Gnaden“ gab es schon lange nicht mehr. Solche Gefahren waren vergessen und als tragende Ideen überholt, zugleich fand aber noch keine Aufarbeitung von Verbrechen unter kommunistischer Herrschaft in der Sowjetunion statt. Der Hintergrund des Grundverständnisses der Verfassungsgesetzgeber von Staat und Gesellschaft war und blieb damit ein anderer. Man wollte das Volk nicht in erster Linie vor den Machthabern schützen, sondern vielmehr ein Staats- und Gesellschaftssystem schaffen, in dem Persönlichkeit und Rechte des Einzelnen anerkannt sind. Vor diesem Hintergrund versteht sich die KRF nicht vorrangig als ein Abwehrmechanismus gegen den Staat, sondern als eine Art Satzung der Gesellschaft18. Nicht zu verwechseln ist diese Vorstellung jedoch mit der ähnlichen Idee vom Gesellschaftsvertrag. Nach Meinung der russischen Rechtslehre ist letztere notwendigerweise mit der Wechselseitigkeit von Rechten und Pflichten verbunden19. Eine solche Vorstellung ist aber auf die geltende Ordnung und ihre Idee nicht anwendbar20. Der Staat als koordinierendes Organ ist den unantastbaren Rechten des Bürgers 14 Diese sollte zwar eine soziale sein, doch kann man sie nur schwerlich so bezeichnen. Der Staat stand an der Grenze zum Bankrott und konnte keine sozialen Leistungen erbringen. Dieser Zustand besserte sich nur langsam. 15 Zu den Beratungen und der Entscheidung der Kommission zwischen dem „Nachtwächterstaat“ und der sozialen Marktwirtschaft s. NRXVVS, ýYh^_bcm Y T_bdUQabcS_ S A_bbYY, S. 62 ff. m.w.N. 16 Dies soll hier nicht nur negativ verstanden werden. Das Wort „Kommunismus“ wird in der westlichen Kultur aus teils verständlichen Gründen, teils aufgrund der im 20. Jahrhundert aggressiv betriebenen antisowjetischen Propaganda (vgl. nur die Repressalien gegen die vermeintlichen Kommunisten in den USA) fast ausschließlich negativ wahrgenommen. Für Russland und andere ehemalige Mitglieder der Sowjetunion brachte der Kommunismus neben dem unbeschreiblichen Leid, welches hier nicht relativiert werden soll, auch überraschend positive Effekte im Bereich der sozialen Integration. 17 Wobei letztere freilich anders als heute bzw. nur im Klassensystem verstanden wurde. 18 5VU_S, C_aQX]Va^_bcm _TaQ^YhV^Yp bS_R_Ul `aVU`aY^Y]QcV\mbcSQ, S. 56 ff. 19 HVcSVa^Y^ (aVU.), ;_^bcYcdgYp A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY. @a_R\V]^lZ [_]]V^cQaYZ, S. 14. 20 Ebenda.

I. Untersuchung des russischen Verfassungsrechts

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verpflichtet (Art. 2, 17 Abs. 2 KRF) und existiert nur zum Zweck ihrer Verwirklichung. Seine Befugnisse sind durch die Verfassung bzw. die Grundrechte definiert und begrenzt21. Er kann dem Bürger die Grundrechte daher nicht durch Nichterfüllung seiner verfassungsrechtlichen oder anderer Pflichten entziehen oder verweigern22. Die Konstitution der Russischen Föderation ist damit vorrangig als Ausdruck der Herrschaft des Rechts und der grundlegenden juristischen Werte zu begreifen23. Aus diesem Blickwinkel ist die Trennung zwischen öffentlichem und Privatrecht lediglich relativ bzw. methodischer Art. Das Volk gibt sich selbst Leitlinien für die eigene Verhaltensordnung, welche in der Verfassung ihren Ausdruck finden. Seine Vertreter haben konkretisierende Regelungen zu treffen, wodurch die Grenze zwischen den Bereichen des Zivilrechts und der Grundrechte zusehends verschwimmt. Dieses Konzept ist freilich nicht neu. Er wurde zum Teil bereits Anfang des 20. Jahrhunderts von Pokrovskij ausgesprochen und ausführlich begründet24. In seiner Arbeit wies er darauf hin, dass die Grenze zwischen öffentlichem und privatem Recht sich im Laufe der menschlichen Geschichte oft geändert hat. Auch enthielten beide Bereiche stets Tatbestände des jeweils anderen Bereichs. So konnte im 19. Jahrhundert in Russland z. B. ein Amt in rechtmäßiger Weise gegen Entgelt erworben werden; heute noch werden manche Delikte nur auf Antrag des Geschädigten verfolgt und die Vertragsautonomie wird oft durch den Gesetzgeber eingeschränkt25. Nach dieser Theorie liegt der Unterschied zwischen öffentlichem und Privatrecht nicht in der Materie, sondern in den Methoden der Regulierung. Die Methoden des öffentlichen und des Privatrechts sind dem Recht gleichermaßen immanent. Damit ist eine öffentlich-rechtliche Art der Regulierung in jedem Lebensbereich denkbar, und umgekehrt26. Was das russische Privatrecht aber noch stärker beeinflusst hat war die über lange Zeit geltende marxistisch-leninistische Doktrin. Danach waren privatrechtliche Beziehungen überhaupt nur in äußerst beschränktem Rahmen zugelassen. Es galt Lenins Aussage: „Für uns sind alle Bereiche der Wirtschaft öffentlich-rechtlicher und nicht privater Art27“.

21 HVcSVa^Y^, A_bbYZb[Qp [_^bcYcdgY_^^Qp [_^gV`gYp `aQS_`_^Y]Q^Yp, ;_^bcYcdgY_^^_V `aQS_: 3_bc_h^_VSa_`VZb[_V _R_XaV^YV 2003, 28, 34. 22 HVcSVa^Y^, A_bbYZb[Qp [_^bcYcdgY_^^Qp [_^gV`gYp `aQS_`_^Y]Q^Yp, ;_^bcYcdgY_^^_V `aQS_: 3_bc_h^_VSa_`VZb[_V _R_XaV^YV 2003, 28, 34. 23 8_am[Y^, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, ;_^bcYcdgYp 1993 T_UQ — `aQS_SQp \VTYcY]QgYp ^_S_Z A_bbYY, S. 11, 17. 24 @_[a_Sb[YZ, ?b^_S^lV `a_R\V]l TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, S. 41 ff. 25 @_[a_Sb[YZ, ?b^_S^lV `a_R\V]l TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, S. 46 f. 26 @_[a_Sb[YZ, ?b^_S^lV `a_R\V]l TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, S. 46 f. mit ausfu¨hrlichen Beispielen. 27 Zitiert nach: ýd[QiVSQ (aVU.), @aQSQ hV\_SV[Q, S. 370.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

Vor diesem Hintergrund trägt also jede Norm den staatlichen wie den privaten Interessen gleichsam Rechnung28. Da aber – ausgehend von diesem Verfassungsverständnis und als Quintessenz des Art. 2 KRF – persönliche Interessen gleichzeitig staatliche sind (nicht aber etwa umgekehrt, was Eigenschaft eines totalitären Regimes wäre), wird das Recht als solches als Kompromiss gesellschaftlicher Interessen verstanden. Die Regelung dieses Prozesses ist Aufgabe des Staates: Dieser ist ausschließlich dazu da, durch seine Tätigkeit den Rechten und Freiheiten seiner Bürger zur Geltung zu verhelfen. Gleichzeitig stehen die verfassungsrechtlichen Werte über den Interessen Einzelner, sodass die Wahrnehmung von Interessen nur dann legitim ist, wenn diese den Verfassungsprinzipien entsprechen29. Damit spielt der Staat die Rolle eines rechtlichen Überbaus der Gesellschaft, eines sozialen Instruments zur Verwirklichung des Volkswillens. Die Verfassung ist das Grundgesetz für Staat und Gesellschaft, eine Art rechtlich-politisch, kollektivistisch gefärbtes Modell gesellschaftlicher Organisation und Ordnung30. Unter diesen Prämissen gilt die KRF nicht vorrangig im vertikalen Staat-BürgerVerhältnis, sondern ist vielmehr als Ausdruck grundlegender gesellschaftlicher Werte zu begreifen31. Die Grundrechte sind daher nicht in erster Linie als Abwehrmechanismen gegen staatliches Handeln32 zu verstehen (obgleich sie selbstverständlich auch diesem Zweck dienen), sondern als natürliche Rechte, die jedem, unabhängig vom Staat, immanent sind.

28

8_am[Y^, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, ;_^bcYcdgYp 1993 T_UQ — `aQS_SQp \VTYcY]QgYp ^_S_Z A_bbYY, S. 11. 29 8_am[Y^, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, ;_^bcYcdgYp 1993 T_UQ — `aQS_SQp \VTYcY]QgYp ^_S_Z A_bbYY, S. 21. 30 NRXVVS, ýYh^_bcm Y T_bdUQabcS_ S A_bbYY, S. 95 f. Zur Begru¨ndung dieser Sicht zieht die russische Rechtslehre oft die Rechtsphilosophie zu Rate. So wird mit den Aussagen von Kant, Rousseau oder Locke argumentiert. Nach Kant ist das Recht „die Gesamtheit der Bedingungen, unter welchen die Willku¨r des einen mit der Freiheit des anderen im Hinblick auf das allgemeine Freiheitsgesetz“ vereint werden kann; Rousseau hingegen sieht das Gesetz als eine Bedingung der gesellschaftlichen Existenz u¨berhaupt an und Locke schließlich unterstrich, dass es ohne Einversta¨ndnis in der Gesellschaft erst gar kein Gesetz gibt. Auch aus diesen Aussagen wird die Berechtigung des russischen Verfassungsversta¨ndnisses hergeleitet. Z.B.: 2QaV^R_Z], ;Q^c [Q[ _cVg ;_^bcYcdgYY A_bbYY, 8Q[_^_UQcV\mbcS_ Y n[_^_]Y[Q 2009, N 9, S. 5; _^ WV, @aQS_S_V T_bdUQabcS_ [Q[ `Qac^Va TaQWUQ^b[_T_ _RjVbcSQ: [ 150-\VcYo _`dR\Y[_SQ^Yp [_^gV`gYY „4_bdUQabcS_ [Q[ `a_YXSVUV^YV Yb[dbbcSQ“, 8Q[_^_UQcV\mbcS_ Y n[_^_]Y[Q 2010, N 9, S. 7; 5VU_S, b_aQX]Va^_bcm _TaQ^YhV^Yp bS_R_Ul `aVU`aY^Y]QcV\mbcSQ, S. 60 ff.; ýd[QiVSQ (aVU.), @aQSQ hV\_SV[Q, S. 280 f.; DcpiVS, @aQSQ Y bS_R_Ul hV\_SV[Q Y _RjVhV\_SVhVb[YV gV^^_bcY, 9bc_aYp T_bdUQabcSQ Y `aQSQ 2010, N 7, S. 9; IQeYa_S, 8Q[_^^_bcm S `aQS_S_] T_bdUQabcSV, A_bbYZb[Qp obcYgYp 2011, N 4, S. 41; NRXVVS, ýYh^_bcm Y T_bdUQabcS_ S A_bbYY, S. 131 ff. 31 8_am[Y^, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, ;_^bcYcdgYp 1993 T_UQ — `aQS_SQp \VTYcY]QgYp ^_S_Z A_bbYY, S. 17. 32 Das Staat-Bürger-Verhältnis wird gerade nicht als Antagonismus aufgefasst. Dies liegt daran, dass der Staat in seiner Funktion als Regulierungsmechanismus der Gesellschaft selbst begriffen und dieser deshalb nicht als entgegengesetzt wahrgenommen wird.

I. Untersuchung des russischen Verfassungsrechts

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2. Die Wirkung der Grundrechte unter den Privaten a) Grundriss der verfassungsrechtlichen Grundlagen des Staatsaufbaus Russlands Die Grundlagen des Staatsaufbaus Russlands sind im ersten Kapitel des ersten Teils der Verfassung der Russischen Föderation verankert, der insgesamt 16 Artikel beinhaltet. Gemäß Art. 16 Abs. 2 KRF wiederum darf der Rest der Verfassung diesen Regelungen nicht widersprechen. Nach Art. 1 Abs. 1 KRF ist Russland ein Rechtsstaat, in dem die Staatsgewalten an die Grundrechte gebunden sind. Der Staat hat die Grundrechte anzuerkennen, zu wahren und zu schützen, Art. 2 S. 2 KRF. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist in Art. 10 KRF verankert, die Definition der Staatsgewalten für die Föderation und ihre Subjekte findet sich in Art. 11 KRF. Die Bindung der Legislative an die Grundrechte wird an mehreren Stellen wiederholt und betont (Art. 15 Abs. 1 S. 2, Abs. 2, 18, 55 Abs. 2 KRF). Die Organe der Staatsgewalten haben gemäß Art. 15 Abs. 2 KRF insbesondere die Normen der Verfassung und die einfachen Gesetze zu befolgen. Gesetze und andere Rechtsakte dürfen der Verfassung dabei nicht widersprechen, Art. 15 Abs. 1 S. 2 KRF. Die Grundrechte bestimmen Inhalt und Anwendung der Gesetze sowie die Tätigkeit aller Staatsgewalten, Art. 18 GG. Gemäß Art. 55 Abs. 2 KRF dürfen in Russland keine verfassungswidrigen Gesetze erlassen werden. Die Bindung der Judikative an die Grundrechte kommt in Art. 15 Abs. 2 und 18 KRF zum Ausdruck, und auch die Richter sind nach Art. 120 Abs. 1 KRF (nur) an die Verfassung sowie die föderalen Gesetze gebunden. Die Verfassung der Russischen Föderation hat gemäß Art. 4 Abs. 2 i.V.m. 15 Abs. 1 S. 1 KRF auf dem gesamten Staatsterritorium Geltungsvorrang vor allen anderen Rechtsnormen, die dieser nicht widersprechen dürfen, Art. 15 Abs. 1 KRF. Wird vom Verfassungsgericht festgestellt, dass ein Gesetz der Verfassung widerspricht, tritt es gemäß Art. 125 Abs. 6 i.V.m. Abs. 2 und 4 KRF i.V.m. Art. 79 Abs. 3 KSRFZ33 außer Kraft. Sollten Verfügungen oder Verordnungen der Exekutive der Verfassung widersprechen, so kann der Präsident sie selbst aufheben, Art. 115 Abs. 3 KRF. Zwar ist das russische Staatssystem ein System repräsentativer Demokratie, Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 2 KRF, doch hebt die Verfassung daneben hervor, dass der Träger der Staatssouveränität und die einzige Quelle der Macht das russische Volk ist, Art. 3 Abs. 1 KRF. Die demokratischen Rechte der Bürger regelt dabei Art. 32 KRF. Obwohl Art. 3 Abs. 1 KRF und Art. 20 Abs. 2 S. 1, Abs. 1 GG sehr ähnlich klingen, hat Ersterer einen teilweise ganz anderen Gehalt. Gemeinsam ist beiden Regelungen, 33 Das Gesetz über das Verfassungsgericht der Russischen Föderation: EVUVaQ\m^lZ [_^bcYcdgY_^^lZ XQ[_^ _c 21. 07. 1994 No. 1 E;8 (aVU. _c 9. 02. 2011) «? ;_^bcYcdgY_^^_] BdUV A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY», B8 AE 25. 07. 1994/13/1447.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

dass diese von der Regierungsform der „Demokratie“ i.S.d. Volksherrschaft und Volkssouveränität sprechen34; das GG betont dabei, dass diese Gewalt „in Wahlen und Abstimmungen“ ausgeübt wird, während die russische Verfassung zumindest sprachlich im zweiten Absatz Elemente direkter Demokratie voranstellt und damit unterstreicht. Die deutsche Rechtslehre sieht das Volk gemäß Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG als „Ursprung der Trägerschaft der Staatsgewalt“35, während es nach russischem Verständnis das „physische Substrat“ des Staates bildet36. Damit versteht die KRF die Volksherrschaft weniger mittelbar als das Grundgesetz und ist bestrebt, dem Volk mehr Mitspracherecht auf direktdemokratischem Weg zukommen zu lassen37. Es zeigt sich also, dass die Grundrechte nach einem solchen Verständnis nicht vorrangig Abwehrrechte gegen den Staat sind. Auch unter diesem Blickwinkel versteht sich die Verfassung vielmehr als Regelwerk des Volkes für sich selbst. Dies ist zugleich einer der grundlegendsten Unterschiede zum deutschen Grundgesetz, welcher zweifellos ein Erbe sowjetischer Ideologie und Tradition darstellt. Hier wird deutlich, dass die russische Konstitution im Gegensatz zur deutschen nicht in der zentraleuropäischen Verfassungstradition steht, die eine Beschränkung der Herrschaftsgewalt des Monarchen als notwendig erachtet. Sie versteht sich vielmehr vorrangig als Ausdruck des Willens des Volkes und somit als Staatsordnung, an die sich die Volksrepräsentanten als Vertreter des Volkes zu halten haben. Nach dieser Vorstellung sind die Grenzen zwischen Staat und Volk fließend. Dieser unterschiedliche Blickwinkel der Väter und Mütter der Russischen Konstitution hinsichtlich des Staatsaufbaus auf der einen Seite und der Urheber des Grundgesetzes auf der anderen Seite ist auch der Grund für einige andere Differenzen im verfassungsrechtlichen Verständnis, auf die später noch zu sprechen zu kommen sein wird. Auch wenn die Russische Verfassung, genau wie das Grundgesetz, nicht ausdrücklich von Grundpflichten spricht, betont sie diese dennoch an unterschiedlichen Stellen, was naturgemäß an der oben beschriebenen, qualitativ anderen ideologischen Vergangenheit liegt. So sind gemäß Art. 15 Abs. 2 KRF neben den Staatsgewalten auch Bürger und ihre Vereinigungen der Verfassung und den Gesetzen „verpflichtet“. Weitere Pflichten finden sich z. B. in Art. 57 (Pflicht zur Steuerzahlung), 58 (Pflicht zum Naturschutz) und 59 (Wehrpflicht für Männer) KRF. Damit rückt das Institut bürgerlicher „Grundpflichten“ im Vergleich zum GG deutlich stärker in den Vordergrund.

34

Für Russland: ;dcQeY^, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 3, S. 75; fu¨r Deutschland: Dreier, in: ders., GG, Art. 20 (Demokratie), Rn. 19, 76. 35 Dreier, in: ders., GG, Art. 20 (Demokratie), Rn. 78. 36 ;dcQeY^, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 3, S. 74. 37 Denn gewiss handelt es sich in beiden Fällen um ein Ideal. Dieses Staatsziel ist deshalb nicht buchstäblich zu verstehen. Auch in Russland sind Referenden auf allen Ebenen ähnlich wie in Deutschland eine Seltenheit.

I. Untersuchung des russischen Verfassungsrechts

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Daneben haben auch die grundrechtlichen Schutzpflichten des Staates einen deutlichen Eingang in die russische Verfassung gefunden. Gemäß Art. 2 S. 2 KRF hat der Staat den Menschen, seine Rechte und Freiheiten zu schützen. Der Schutz von Grundrechten und -freiheiten wird auch in Art. 45 Abs. 1 KRF garantiert, und nach Art. 18 KRF hat die Judikative die Grundrechte zu gewährleisten. Im Übrigen spricht sich die Verfassung teils auch ausdrücklich für den Schutz einzelner Grundrechte aus: Gemäß Art. 8 Abs. 2 i.V.m. 35 Abs. 1 KRF schützt der Staat das Eigentum, nach Art. 21 Abs. 1 KFR bzw. Art. 38 Abs. 1 KRF werden die Menschenwürde bzw. Mütter und Kinder geschützt. Anhand dieses knappen Überblicks kann bereits festgehalten werden, dass in Russland sowohl die Legislative als auch die Judikative unmittelbar und direkt an die Verfassung bzw. an die Grundrechte gebunden sind, Art. 2 S. 2, 15 Abs. 1 S. 1, 18 KRF. Auch ist das Konzept der staatlichen Schutzpflichten der russischen Verfassung alles andere als fremd. Es ergibt sich ein dem deutschen sehr ähnliches Ausgangsbild: Die Zivilgesetze müssen im Rahmen des durch die Verfassung bzw. die Grundrechte Erlaubten erlassen werden, Art. 15 Abs. 1 S. 1, 18 KRF; die Staatsgewalten sind daran unmittelbar gebunden und die Gerichte haben diese zu gewährleisten. Der Staat darf die von der Verfassung aufgestellten Rahmenbedingungen nicht missachten (abwehrrechtliche Seite) und muss sich zugleich schützend vor die Grundrechte stellen (grundrechtliche Schutzpflichten). Damit wäre die Annahme eines wie auch immer gearteten Einflusses der Grundrechte auf das Zivilrecht auch für Russland zumindest naheliegend. Zugleich ist, wie bereits angedeutet38, die Sichtweise der russischen Verfassung auf die Grundrechte eine andere, was viele spannende Unterschiede zwischen den beiden Rechtsordnungen in dem zu untersuchenden Bereich erahnen lässt. Vorweg bedarf aber noch Einiges der Klarstellung. Zum einen sind die Grundlagen des Verfassungsrechts dogmatisch bisher nur wenig bearbeitet39. Zum anderen können sich viele ältere, renommierte Autoren noch nicht ganz von der alten Ideologie lossagen. Die Werke von Marx, Engels und Lenin werden oft und gerne als Argumentationshilfen für grundrechtliche Konstruktionen zitiert40. Bis heute verhindert dieser Zustand der Verfassungsrechtstheorie häufig die Entstehung einer autonomen Grundrechtsdogmatik. Zugleich sehen weder die Autoren noch die Gerichte das Privatrecht als Gegenpol zu den Grundrechten. Vielmehr werden die Grundrechte wie selbstverständlich als Argumentationsmaterial in jedem Bereich des Rechts verwendet41. Ob dies seine Berechtigung hat, wird im Weiteren aufzudecken sein. 38

s. o. C., I., 1., b). Vgl. dazu ;dcQeY^, A_bbYZb[YZ [_^bcYcdgY_^Q\YX], S. 2. 40 s. z.B. 3Ycad[, ?RjQp cV_aYp `aQS_S_T_ `_\_WV^Yp \Yh^_bcY, S. 221 ff.; NRXVVS, ýYh^_bcm Y T_bdUQabcS_: SXQY]^Qp _cSVcbcSV^^_bcm Y [_^bcYcdgY_^^lV _RpXQ^^_bcY, S. 187. 41 Siehe als Beispiele aus der Rechtsprechung des WSRF: @_bcQ^_S\V^YV @\V^d]Q 3B AE _c 29. 09. 1994 N 7 (aVU. _c 29. 06. 2010): „? `aQ[cY[V aQbb]_caV^Yp bdUQ]Y UV\ _ 39

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

b) Untersuchung einzelner Bestimmungen Abgesehen von den für die Erklärung des Phänomens der Drittwirkung in Deutschland entwickelten und im ersten Teil ausgeführten Ansätzen (Bindung der Staatsgewalten an die Grundrechte, sowie abwehrrechtliche Grundrechtspositionen und grundrechtliche Schutzpflichten42), welche sich beinahe deckungsgleich auch in der russischen Verfassung finden, bieten sich in der KRF einige Normen zur direkten Anknüpfung an. So hat die Konstitution der Russischen Föderation gemäß Art. 15 Abs. 1 S. 1 KRF höchste juristische Geltungskraft, direkte43 Wirkung und wird auf dem gesamten Territorium der Russischen Föderation angewandt. Überdies sind nach Art. 15 Abs. 2 KRF die Organe der Staatsgewalten, die Organe der örtlichen Selbstverwaltung, Amtsträger sowie Bürger und ihre Vereinigungen verpflichtet, die Verfassung der Russischen Föderation und ihre Gesetze zu beachten. Wie bereits erwähnt, gehört diese Norm zu denen des ersten Kapitels im ersten Teil der Verfassung, welches gemäß Art. 16 Abs. 2 KRF Vorrang vor den anderen Normen der Verfassung hat. Daneben darf nach Art. 17 Abs. 3 KRF die Wahrnehmung der Rechte und Freiheiten eines Menschen die Rechte und Freiheiten anderer Personen nicht verletzen. Schließlich stellt Art. 18 S. 1 KRF sogar fest, dass die Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers unmittelbar gelten. Aus der Zusammenschau dieser Normen erwächst die Frage, ob die russische Verfassung möglicherweise so zu verstehen ist, dass sie eine „direkte Drittwirkung“ ausdrücklich anerkennt oder gar voraussetzt. Ob dies der Fall ist, muss durch Auslegung der jeweiligen verfassungsrechtlichen Bestimmungen vor dem Hintergrund ihres einheitlichen und historisch geformten Selbstverständnisses untersucht werden. Im Folgenden soll eine systematische Analyse der betreffenden Rechtsnormen anhand klassischer juristischer Methoden sowie der Literatur vorgenommen werden. XQjYcV `aQS `_caVRYcV\VZ“, A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 26. 11. 1994/230, Ziff. 5; @_bcQ^_S\V^YV @\V^d]Q 3B AE _c 17. 03. 2004 N 2 (aVU. _c 28. 09. 2010): „? `aY]V^V^YY bdUQ]Y A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY CadU_S_T_ [_UV[bQ A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY“, A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 31. 12. 2006/297, Ziff. 10; aus der Literatur: C_\hVVSQ, þQbc_\m^Qp [^YTQ bdUmY `_ TaQWUQ^b[Y] UV\Q], S. 13; ;_bcY^, 4aQWUQ^b[_-`aQS_SQp XQjYcQ hVbcY, U_bc_Y^bcSQ Y UV\_S_Z aV`dcQgYY, 2VX_`Qb^_bcm RYX^VbQ, 2006 N 4, S. 23. 42 Zu diesen s. unter C., I., 2., b), aa), (4). 43 An dieser Stelle ist wichtig zu unterstreichen, dass der Ausdruck „`ap]_V UVZbcSYV“ (im Gegensatz zum Ausdruck „^V`_baVUbcSV^^_V UVZbcSYV“, wie in Art. 18 S. 1 KRF) als „direkte Wirkung“ und nicht als „unmittelbare Wirkung“ u¨bersetzt wird. Dies sind im Russischen wie im Deutschen zwei unterschiedliche Begriffe, die unterschiedliche Bedeutung haben ko¨nnen und ¨ bersetzung vom Prof. Fincke daher unterschiedlich u¨bersetzt werden mu¨ssen. Insofern ist die U auf http://www.constitution.ru/de/index.htm (s. auch Anhang) ungenau.

I. Untersuchung des russischen Verfassungsrechts

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Aufgrund der mangelnden Behandlung des Themas in der russischen Rechtsliteratur wird hier zusätzlich ein Versuch unternommen werden, die Aussagen der Rechtsprechung und der Lehre zu den jeweiligen Normen für das zu behandelnde Thema fruchtbar zu machen. aa) Die Pflichten des Staates im Spannungsverhältnis zwischen Schutz und Anerkennung der Grundrechte i.S.d. Art. 2 KRF (1) Art. 2 KRF als Grundlage des Staatsaufbaus Die Untersuchung einzelner Regelungen sollte aufgrund der systematischen Stellung und des grundlegenden Inhalts mit Art. 2 KRF begonnen werden. Danach stellen der Mensch und seine Rechte und Freiheiten die höchsten Werte dar. Anerkennung, Wahrung und Schutz der Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers sind Pflicht des Staates. Ähnlich dem Grundgesetz setzt die Verfassung der Russischen Föderation die Verpflichtung des Staates zum Schutz der Grundrechte an den Anfang. Dies und auch die Regelung des Art. 16 KRF machen den Inhalt des Art. 2 KRF zu einem vorrangigen, wenn nicht sogar zum obersten Prinzip des staatlichen Handelns. Art. 2 S. 2 KRF ist überdies die einzige Norm der KRF, die ausdrücklich von staatlichen Pflichten spricht. Damit werden Anerkennung, Wahrung und Schutz der Menschenrechte zur obersten staatlichen Aufgabe und Schranke staatlichen Handelns. Es ist das Einzige, woran sich der Staat bei seiner Tätigkeit orientieren muss. Es ist sein Ziel und gleichzeitig seine Grenze44. Aus Art. 2 i.V.m. Art. 17 Abs. 2 KRF geht deutlich die naturrechtliche Position der russischen Verfassung in Bezug auf die Grundrechte hervor45. Sie sind nicht mehr vom Staat oktroyiert, sondern werden vielmehr zu einem unabdingbaren Bestandteil der Rechtsposition eines Bürgers im Verhältnis zum Staat46. Im Einklang dazu stehen die noch genauer zu untersuchenden Art. 17 Abs. 2 und 18 KRF. Der Mensch wird damit zum Ziel „in sich“, zu einem „Selbstwert“47. Eine einzelne Person darf deshalb, betont durch Art. 55 Abs. 3 KRF, nicht als Mittel für das Gemeinwohl oder andere

44 ýd[QiVSQ (aVU.), @aQSQ hV\_SV[Q, S. 153; NRXVVS umschreibt diese Funktion treffend und bildlich als „Zaum“, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 2, S. 69. 45 1SQ[mp^, ;_^bcYcdgY_^^_V `aQS_ A_bbYY, S. 586 ff.; 3Ycad[, ?RjQp cV_aYp `aQS_S_T_ `_\_WV^Yp \Yh^_bcY, S. 97; 5]YcaYVS, S: ders. (aVU.), ;_^bcYcdgYp A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, þQdh^_-`aQ[cYhVb[YZ `_bcQcVZ^lZ ;_]]V^cQaYZ, Art. 2, S. 7; NRXVVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 2, S. 66. s. dazu auch C., I., 1., b). 46 BQU_S^Y[_SQ, ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY (`_bcQcVZ^lZ), Art. 2, S. 3; NRXVVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 2, S. 66. 47 @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 03. 05. 1995 N 4-@, B8 AE 08. 05. 1995/19/1764.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

staatliche Interessen benutzt werden48. Anzumerken ist in diesem Zusammenhang erneut, dass die KRF nicht nur die im ersten Teil des zweiten Kapitels aufgezählten Grundrechte und -freiheiten anerkennt, sondern auch solche, die keinen Eingang in die Verfassung gefunden haben49. Dies wird durch Art. 15 Abs. 4, 17 Abs. 1, 55 Abs. 1 KRF klargestellt. Gemeint sind mit den „anderen“ Menschenrechten die in den völkerrechtlichen Verträgen niedergelegten Rechtspositionen. Dies gilt für den Fall, dass sie noch nicht ausdrücklich von der KRF normiert sind. Zwar lässt sich darüber streiten, ob angesichts eines ausführlichen Grundrechtskatalogs der russischen Verfassung – der bereits 45 Normen enthält, die genug Raum für Auslegung zulassen – eine solche Notwendigkeit besteht, doch unterstreicht es umso mehr den Willen der Mütter und Väter der russischen Verfassung, die neue Rechtsordnung in Einklang mit anerkannten völkerrechtlichen Grundsätzen zu bringen und entledigt die Gerichte damit in solchen (wohl sehr seltenen) Fällen der Pflicht, ihr grundrechtliches Auslegungsinstrumentarium überzustrapazieren. (2) Art. 2 KRF als allgemeine grundrechtliche Schutzpflicht des Staates Daneben ist die Funktion der Norm als ausdrückliche Feststellung der staatlichen Schutzpflicht hinsichtlich der grundrechtlichen Position des Bürgers diesem gegenüber festzuhalten. Nach Ansicht der Literatur ist der Staat gemäß Art. 2 KRF auch zur Mitwirkung bei Wahrnehmung der Grundrechte durch die Bürger verpflichtet50. Er muss hierzu entsprechend günstige Bedingungen in Form von Einrichtungen und effektiven Rechtswegen schaffen und diese durch ausreichende Finanzierung unterstützen51. Überdies muss er sie vor den Übergriffen Dritter schützen. Einer Grundrechtsverletzung muss vorgebeugt werden, und wenn eine solche bereits stattgefunden haben sollte, muss sie geahndet werden52. So hat das KSRF in seinem Urteil vom 1. 12. 1997 No. 18-@53 in Bezug auf den Schadensersatzanspruch der Bu¨rger im Zusammenhang mit der Tschernobyl-Katastrophe entschieden, dass das Ausmaß der Katastrophe eine eigene Art von Beziehungen zwischen Staat und Bu¨rger hatte entstehen lassen. Im Hinblick auf die 48 NRXVVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 2, S. 66, ders. ýYh^_bcm Y T_bdUQabcS_: SXQY]^Qp _cSVcbcSV^^_bcm Y [_^bcYcdgY_^^lV _RpXQ^^_bcY, S. 107. 49 NRXVVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 2, S. 69. 50 ýd[QiVSQ (aVU.), @aQSQ hV\_SV[Q, S. 213. 51 2QafQc_SQ, ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY (`_bcQcVZ^lZ), Art. 2, S. 3; @pc[Y^Q, S: ?[d^m[_S (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 2, S. 17 und Blalf, cQ] WV, 3bcd`\V^YV [ T\QSV 1, S. 17; BQU_S^Y[_SQ, ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY (`_bcQcVZ^lZ), Art. 2, S. 3; NRXVVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 2, S. 70. 52 5]YcaYVS, S: 5]YcaYVS (aVU.), ;_^bcYcdgYp A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, þQdh^_`aQ[cYhVb[YZ `_bcQcVZ^lZ ;_]]V^cQaYZ, Art. 2, S. 7. 53 B8 AE 15. 12. 1997/50/5711, Ziff. 1.

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Grundrechte der Bu¨rger bezu¨glich des Schutzes der Umwelt und verla¨sslicher Informationen daru¨ber i.S.d. Art. 42 KRF, sowie bezu¨glich der Freizu¨gigkeit i.S.d. Art. 27 KRF, des Rechts auf eine Wohnung i.S.d. Art. 25, 40 KRF und des Rechts auf Leben und ko¨rperliche Unversehrtheit i.S.d. Art. 20 Abs. 1 KRF, hatte der Staat – im Einklang mit Art. 2, 18 KRF – den Opfern nach Art. 53 KRF den entstandenen Schaden unabha¨ngig von den bestehenden Rechtsschutzmo¨glichkeiten, welche zum damaligen Zeitpunkt nicht ausreichend waren, zu ersetzen54. In diesem Judikat spiegelte sich die Janusko¨pfigkeit der grundrechtlichen Positionen wider. Diese besagen auf der einen Seite, dass der Staat ein Garant der Grundrechte ist. Um diesen zur Geltung zu verhelfen, mu¨sste er hier den Schadensersatz fu¨r das grundrechtsverletzende Ereignis unabha¨ngig von den geltenden Rechtsnormen leisten. Der Schadensersatz wa¨re nach den damaligen Gesetzen sonst nicht ausreichend gewesen. Der zugefu¨gte Schaden war zwar letztlich tatsa¨chlich nicht ersetzbar, doch war es Pflicht des Staates anzustreben, diesen in mo¨glichst großem Umfang zu ersetzen. Auf der anderen Seite hat der Staat die jeweiligen grundrechtlichen Positionen zu schu¨tzen. Diese Pflicht des Staates erwa¨chst aber gleichzeitig aus dem Recht sowohl der gegenwa¨rtigen als auch der zuku¨nftigen Generation auf Schutz vor der radioaktiven Strahlung. Dies korreliert letztlich auch mit dem Rechts- und Sozialstaatsprinzip i.S.d. Art. 1, 2 und 7 KRF. Auch daraus folgte nach Ansicht des Verfassungsgerichts der Russischen Fo¨deration eine staatliche Schadensersatzpflicht55. Zum Schluss a¨ußert sich das KSRF hinsichtlich eines uneingeschra¨nkten Zugangs der Bu¨rger zu den Gerichten im Falle einer Grundrechtsverletzung durch ein verfassungswidriges Gesetz. Der effektive Schutz der Grundrechte, so das KSRF, setze das Bestehen eines Rechtsweges voraus. Nur so ko¨nnten die Betroffenen ihre Grundrechte auch tatsa¨chlich wahrnehmen56. Aus dieser Feststellung la¨sst sich also zum einen folgern, dass aus der Regelung des Art. 2 KRF in Bezug auf das jeweilige Grundrecht auch eine staatliche Schutzpflicht neben der abwehrrechtlichen Rechtsposition erwa¨chst. Zum anderen folgt daraus, dass dem Bu¨rger aber auch die Mo¨glichkeit gegeben werden muss, die Verletzung solcher staatlicher Schutzpflichten als Verletzung einer grundrechtlichen Position gerichtlich geltend machen zu ko¨nnen. (3) Die Schutzpflicht des Staates als Grundlage eines subjektiven Rechts des Bürgers Ob aus dieser staatlichen Schutzpflicht auch ein subjektives Recht des Bürgers erwächst, ist in der russischen Literatur noch nicht abschließend geklärt. So meint Ebzeev, das Recht auf Schutz sei nicht mit der tatsächlichen staatlichen Pflicht gleichzusetzen. Die Pflicht Grundrechte zu schützen ist nach seiner Meinung unmittelbar mit einer Rechtsverletzung durch den Staat verbunden. Das Recht auf 54 55 56

B8 AE 15. 12. 1997/50/5711, Ziff. 2. B8 AE 15. 12. 1997/50/5711, Ziff. 5. B8 AE 15. 12. 1997/50/5711, Ziff. 4.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

Schutz wird damit nur dann zu einem subjektiven Recht, wenn die Grundrechtsverletzung durch das Handeln staatlicher Organe eingetreten ist. Dagegen ist die staatliche Verpflichtung zum Schutz gegen Übergriffe Dritter „als Teil der normativen Charakteristik eines der Prinzipien der Konstitution“ lediglich ein Teil eines objektiv-rechtlichen Auftrags an den Staat, der von diesem noch durch Gesetze konkretisiert werden muss. Letztere verankern dann die jeweiligen subjektiven Ansprüche gegen Dritte. Dieser Auftrag soll sich also darin erschöpfen, die jeweiligen Rechtsschutzmechanismen zu schaffen57; eine Begründung dieser Position bleibt der Autor jedoch schuldig. Es ist zu vermuten, dass diese überkommene Definition des subjektiven Rechts aus der sowjetischen Vergangenheit stammt. Danach wurde das subjektive Recht als „das durch die Gesetze gewährleistete Maß möglichen Verhaltens verstanden“58. Letztlich sehen die Anhänger dieser Position die Subjektivität des Rechts nur in Zusammenhang mit einem Rechtsverhältnis entstehen59. Der Wortlaut des Art. 2 KRF trifft jedoch keine Differenzierung zwischen den Wirkungsdimensionen einzelner Positionen. Es lässt sich deshalb argumentieren, dass Anerkennung, Wahrung und Schutz der Grundrechte durch einen einheitlichen Auftrag des Staates garantiert werden können. Dabei meint der Ausdruck „Wahrung“ gerade die staatlichen Grundrechtsverletzungen. Der „Schutz“ richtet sich dagegen nach dem allgemeinen Wortverständnis immer gegen Angriffe Dritter. Damit bleibt es bei Ebzeevs unklar, warum diese einzelnen Elemente als Teilstücke eines umfassenden Auftrages, welcher auch als das oberste Prinzip an der Spitze der Verfassung steht, unterschiedliche Wirkung haben sollen. Vielmehr liegt die Schlussfolgerung nahe, dass all diese Elemente bei Verletzung eines Grundrechts eine subjektive Rechtsposition gegenüber dem Staat begründen. Der Inhalt dieser Pflicht soll sich dabei nach der Art der jeweiligen Verletzung richten. Nur unter diesem Blickwinkel kann das Prinzip des Art. 2 KRF auch tatsächlich funktionsfähig sein. Die eigentliche Art und der Gestaltungsrahmen solcher staatlichen Pflichten i.S.d. Art. 2 KRF hängen letztlich von der jeweiligen Grundrechtsposition ab, also davon, welches Grundrecht in seinem Schutzbereich eingeschränkt wurde. Erst Letzterer verleiht der Schutzpflicht naturgemäß ihren Inhalt. In der russischen Literatur werden dabei unterschiedliche Klassifizierungen von Grundrechten vorgeschlagen. Eine oft aufzufindende Klassifizierung unterscheidet die Grundrechte nach ihrem Inhalt. Danach gibt es persönliche, politische, ökonomische, soziale und kulturelle Grundrechte60. Sie sagt jedoch letztlich nichts über die Staat-Bürger-Beziehung aus. 57 NRXVVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 2, S. 72. 58 2aQcdbm, BdRkV[cl TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, S. 11. 59 Ausführlich zur Entwicklung dieser Theorie 3Ycad[, ?RjQp cV_aYp `aQS_S_T_ `_\_WV^Yp \Yh^_bcY, S. 229 ff. 60 1SQ[mp^, ;_^bcYcdgY_^^_V `aQS_ A_bbYY, S. 329, 668 ff.; 3Ycad[, ?RjQp cV_aYp `aQS_S_T_ `_\_WV^Yp \Yh^_bcY, S. 256; ýd[QiVSQ (aVU.), @aQSQ hV\_SV[Q, S. 153 ff.

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Weit verbreitet ist auch die historische Einteilung der Grundrechte in Generationen61. Diese betrachtet die Grundrechte jeweils als Produkt ihrer rechtshistorischen Entwicklung und gibt ebenfalls keinen Aufschluss über die interessierenden Fragen. Mancherorts wird auf die Theorie von Georg Jellinek ausdrücklich62 oder sinngemäß63 verwiesen. Danach werden die Grundrechte – wie auch in der deutschen Grundrechtsdogmatik – in status negativus, status positivus und status aktivus unterteilt, womit der Bereich abgegrenzt wird, in den der Staat eingreifen darf bzw. muss64. Von einer einheitlichen dogmatischen Erkenntnis im Hinblick auf den wissenschaftliche Gehalt ist die russische Rechtswissenschaft jedoch noch weit entfernt, sodass es derzeit dabei bleiben muss, den Inhalt staatlicher Pflichten jeweils in Bezug auf das einzelne Recht und die Situation zu bestimmen, was jedoch zugleich dazu beitragen könnte, dass die Dogmatik einzelner Grundrechte genauer herausgearbeitet und den Bedürfnissen des Einzelfalles Rechnung getragen wird. (4) Die Rechtslage in Deutschland Während die Figur der Schutzpflicht in Russland dogmatisch noch weitgehend ungeklärt bleibt, kann sich auch die deutsche Rechtswissenschaft und Rechtsprechung nicht damit rühmen, dieser klare Konturen verliehen zu haben. Vielmehr bleibt diese Materie bis auf die Tatsache der Anerkennung von grundrechtlichen Schutzpflichten als solchen stark umstritten und in vielen Bereichen noch ungeklärt. Zugleich lassen sich aber dennoch einige Feststellungen machen. So folgert das Bundesverfassungsgericht das Bestehen grundrechtlicher Schutzpflichten dem Grunde nach ebenfalls aus Art. 1. Abs. 1 GG, wobei deren „Gegenstand und – von ihm her – ihr Maß“ durch das jeweilige Grundrecht bestimmt wird65. Gleichzeitig liegen die Schutzpflichten der „objektiven Wertentscheidung des jeweils betroffenen Grundrechts“ zugrunde66. Dabei leitete es z. B. (ähnlich dem russischen Verfassungsgericht) daraus auch den Schutz der Bürger vor Gefahren der friedlichen Nutzung der Kernenergie ab67. 61 1SQ[mp^, ;_^bcYcdgY_^^_V `aQS_ A_bbYY, S. 329, 668 ff.; 3Qa\Q]_SQ, CaVcmV `_[_\V^YV `aQS hV\_SV[Q? A_bbYZb[YZ oaYUYhVb[YZ Wda^Q\ 2011 N 2, S. 9; 3Ycad[, ?RjQp cV_aYp `_\_WV^Yp \Yh^_bcY, S. 66 ff.; ýd[QiVSQ (aVU.), @aQSQ hV\_SV[Q, S. 147 ff. 62 ýdi^Y[_SQ/ýdi^Y[_S, ;dab `aQSQ b_gYQ\m^_T_ _RVb`VhV^Yp, S. 107; NRXVVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 2, S. 71; _^ WV, ýYh^_bcm Y T_bdUQabcS_ S A_bbYY, S. 117; HVcSVa^Y^, 5V]_[aQcYhVb[_V [_^bcYcdgY_^YcdgY_^^_V T_bdUQabcS_. 3SVUV^YV S cV_aYo, S. 31. 63 Ad]p^gVS (aVU.), ?RVb`VhV^YV `aQS Y bS_R_U hV\_SV[Q `aQS__faQ^YcV\ml]Y _aTQ^Q]Y A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, S. 114; HVcSVa^Y^, @a_R\V]l cV_aYY `aQSQ U\p _b_R_ _UQar^^lf bcdUV^c_S, S. 45 f. 64 Pieroth/Schlink, Rn. 75 ff.; Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 419 ff. 65 BVerfGE 88, 203, 251 f. 66 BVerfGE 7, 198, 205; 35, 79, 114; 39, 1, 42; 46, 160, 164; 56, 54, 163. 67 BVerfGE 49, 89, 140 ff.; 53, 30, 57 ff.

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In der Literatur besteht dagegen in weiten Teilen Streit über die Begründungsansätze der Rechtsfigur grundrechtlicher Schutzpflichten68. So wird in dem hier vor allem interessierenden Zusammenhang bemängelt, dass ein subjektives Recht auf Schutz die freiheitssichernde Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte ins Gegenteil verkehren würde, da mit dem Schutz vor Übergriffen Dritter immer eine Einschränkung ihrer Rechtspositionen einhergehen würde69. Das stimmt. Was aber keine Zustimmung verdienen kann, ist die diesem Umstand entgegengebrachte Skepsis. Das Spannungsverhältnis zwischen den Rechtsgütern einzelner Personen ist in einer Gemeinschaft eine natürliche Sache, und im Grundgesetz selbst angelegt, vor allem in Art. 1 Abs. 1 GG und durch vielfache Schrankenregelungen. Die Apodiktik, mit der Problematik der Ausbalancierung dieser Rechtspositionen in der Literatur diskutiert wird, leuchtet daher nicht ohne Weiteres ein. Vielmehr würde der Staat seine Hauptfunktion als Friedensgarant in der Gesellschaft verfehlen und jegliche Legitimation verlieren, wenn er sich aus diesen Aufgaben zurückziehen wollte. Zugespitzt formuliert kann die Abwehrfunktion der Grundrechte nicht darin bestehen, dass der Bürger „für immer und trotz seiner Hilferufe in Ruhe“ gelassen wird. Auch der kritisierende Ansatz, der vor dem Aufkommen eines „Jurisdiktionsstaates“ warnt, welcher die Gewaltenteilung verwässern würde, kann nicht überzeugen70. Vielmehr ist die Kontrollfunktion des Verfassungsgerichts – genauso wie auch die Tatsache, dass seine Rechtsprechung die Tätigkeit der Legislative korrigiert – im Grundgesetz angelegt (dies gilt auch in den Fällen, in denen diese Korrektur den Gesetzgeber auf die einzig richtige Entscheidung stößt; ihm bleibt damit letztendlich kein Entscheidungsraum, welcher ihm aber im Rahmen seiner Bindung an die Verfassung auch vorher schon nicht zustand). Schlussendlich wird aber vor allem angesichts des Wortlauts des Art. 1 Abs. 1 GG und des Gedankens der Verletzung des Untermaßverbots durch den Staat die Existenz verfassungsrechtlicher Schutzpflichten als solche nicht in Frage gestellt. Zugleich herrscht auch weitgehende Einigkeit über das Fehlen einer Symmetrie der beiden Grundrechtsfunktionen71, sodass nach der Vorstellung der deutschen Rechtslehre die Konstellation eines subjektiven Rechts auf staatlichen Schutz neben der abwehrrechtlichen Position eine viel seltenere ist und bleiben soll. Gleichwohl kommt nach Meinung von Starck zumindest der Menschenwürde in ihrer Unantastbarkeit Drittwirkung über die staatliche Schutzpflicht gemäß Art. 1 Abs. 1 GG zu, welche erst dadurch zu ihrer notwendigen Effektivität gelangen kann72. Diese Schutzpflicht beinhaltet aber auch nach Ansicht der deutschen Lite68 Ausführlich dazu Calliess, in: Papier/Merten, Handbuch der Grundrechte II, § 44, Rn. 8 ff. 69 Calliess, in: Papier/Merten, Handbuch der Grundrechte II, § 44, Rn. 8. 70 Für alle Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, S. 190 ff. 71 Calliess, in: Papier/Merten, Handbuch der Grundrechte II, § 44, Rn. 8. 72 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 1, Abs. 1 Rn. 40; Diederichsen, Die Rangverhältnisse, in: Starck, Rangordnung der Gesetze, S. 39, 53; Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 150 ff.; a.A. Ruffert, Vorrang der Verfassung, S. 152.

I. Untersuchung des russischen Verfassungsrechts

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ratur die legislative Pflicht zur Normierung der Würdegarantie73. So erfordert das Rechtsgut des Lebens als existenzielle Grundlage der Menschenwürde die Schaffung entsprechender strafrechtlicher Vorschriften; der Schutz vor Ehrverletzungen dagegen kann auch privatrechtlich geregelt werden74. Die grundrechtlichen Schutzpflichten sind damit vor allem Pflichten zum Schutz vor Übergriffen durch Dritte75. (5) Zusammenfassung Indem Art. 2 KRF die Wirkung der Grundrechte zwischen Staat und Bürgern regelt, stellt er die Grundlage all solcher Rechtsverhältnisse dar. Art. 2 KRF verankert ausdrücklich die Schutzpflichten des Staates sowohl hinsichtlich aller Grundrechte der KRF als auch hinsichtlich der Menschenrechte und anderer vergleichbarer Rechtspositionen (Art. 17 Abs. 2, Art. 55 Abs. 1 KRF), und folgert daraus gleichzeitig eine abwehrrechtliche Position des Bürgers gegenüber dem Staat76. Darin besteht der wesentliche Unterschied zum Grundrechtsverständnis in Deutschland, wonach die Grundrechte vorrangig Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat sind. Als verfassungsrechtliches Prinzip ist die Schutzpflicht für die Konstitution der Russischen Föderation die Grundlage aller weiteren Regelungen im Bereich des staatlichen Handelns, die eine Erweiterung ihres Anwendungsbereichs nicht ausschließt. Daneben bildet sie auch die negative Grenze77 im vertikalen Verhältnis zwischen Bürger und Staat. Art. 2 KRF sagt jedoch über die Wirkung der Grundrechte zwischen den Bürgern zunächst nicht mehr aus als auch Art. 1 Abs. 1 GG. Die in Art. 2 KRF verankerte Rechtsposition des Bürgers könnte jedoch durch andere verfassungsrechtliche Normen erweitert bzw. konkretisiert worden sein. bb) Die direkte Wirkung der Verfassung gemäß Art. 15 Abs. 1 S. 1 KRF Die durch Art. 2 KFR niedergelegte Rechtsposition des Bürgers könnte zunächst durch Art. 15 Abs. 1 S. 1 KRF erweitert worden sein. Als eines ihrer grundlegenden Prinzipien postuliert die russische Verfassung neben höchster juristischer Geltungskraft und umfassender Geltung auch ihre eigene „direkte Wirkung“. Im darauffolgenden Satz schreibt sie vor, dass Gesetze und andere Rechtsakte der Kon73 Kunig, in: v. Münch/Kunig, Art. 1, Rn. 30; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 1, Abs. 1 Rn. 42; Ruffert, Vorrang der Verfassung, S. 153. 74 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 1, Abs. 1 Rn. 42. 75 Dreier, in: ders., GG, Art. 1 I, Rn. 78; Kunig, in: v. Münch/Kunig, Art. 1, Rn. 31. 76 2QafQc_SQ, ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY (`_bcQcVZ^lZ), Art. 2, S. 3; @pc[Y^Q S: ?[d^m[_S (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 2, S. 17 und Blalf, cQ] WV, 3bcd`\V^YV [ T\QSV 1, S. 13; BQU_S^Y[_SQ, ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY (`_bcQcVZ^lZ), Art. 2, S. 3; NRXVVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 2, S. 66. 77 NRXVVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 2, S. 69, 73.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

stitution nicht widersprechen dürfen. Fraglich ist hier also, was die russische Verfassung unter eigener „direkter Wirkung“ versteht. (1) Direkte Wirkung und konkretisierende Rechtsvorschriften Aus dem Zusammenhang mit den anderen Verfassungsprinzipien ergibt sich zunächst, dass es sich hierbei um die Normierung der Geltungskraft der Verfassung handelt. Damit folgt der zweite Satz bereits aus dem ersten78: Geht man vom Vorrang der Verfassung aus, so schließt dies folgerichtig bereits mit ein, dass die in ihrer Hierarchie unter der Verfassung stehenden Normen der Verfassung nicht widersprechen dürfen. Der zweite Satz hat also lediglich deklaratorischen Charakter und die Normenhierarchie wird dann durch die Regelung des Art. 76 KRF präzisiert. Dem Begriff „direkt“ lässt sich sodann entnehmen, dass der Verfassung zumindest keine lediglich „indirekte“ Wirkung zukommt. Das heißt, zu ihrer Wirkung bedarf die Verfassung grundsätzlich keiner konkretisierenden Rechtsnormen. Die Konstitution ist sozusagen eine „self-executing“ Norm79. Freilich kann sie auch über konkretisierende Normen zur Anwendung gelangen. Existieren solche nicht, haben die Vertreter der Judikative, Exekutive oder Legislative die Bestimmungen der Konstitution als solche anzuwenden. Daraus folgt zugleich die Notwendigkeit der Auslegung der jeweiligen Verfassungsnorm durch den Anwender. Wie auch im deutschen Grundgesetz verlangt die russische Verfassung an manchen Stellen aber auch ausdrücklich nach rechtsgestaltenden Regelungen durch den Gesetzgeber, so z. B. in Art. 29 Abs. 6 S. 2 KRF oder Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG. Es ist also eine sich aus der Verfassung ergebende Pflicht des Gesetzgebers, eine Regelung zu schaffen. Ein solcher Verfassungsauftrag nivelliert jedoch entgegen der Meinung mancher Wissenschaftler80 nicht die Bedeutung des Begriffs der „direkten Geltung“. Es hat vielmehr praktische Gründe, dass die Verfassung sich kurz fasst und in einigen Fällen den Gesetzgeber ausdrücklich zur Konkretisierung beruft. Diese Tatsache steht ihrer Auslegung als direkt wirkende Rechtsnorm aber nicht entgegen. Sie gewährleistet vielmehr die Möglichkeit für die Konstitution als oberstes Gesetz, sich an die ständig verändernde Umwelt im Sinn kultureller und gesellschaftlicher Entwicklung der Gemeinschaft anzupassen. Zudem lässt ein von Menschen erdachtes Wort immer mehrere Deutungen zu. Der Grund dafür liegt in der menschlichen Psyche: Kein Gesetz kann so konkret sein, dass es nur eine Deutungsmöglichkeit zulässt. Andererseits ist es aber auch nicht die Aufgabe der Verfassung, 78 NRXVVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 15, S. 153. 79 1SUVV^[_SQ, S: 5]YcaYVS (aVU.), ;_^bcYcdgYp A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, þQdh^_`aQ[cYhVb[YZ `_bcQcVZ^lZ ;_]]V^cQaYZ, Art. 15, S. 30; NRXVVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 15, S. 153. 80 1SUVV^[_SQ, S: 5]YcaYVS (aVU.), ;_^bcYcdgYp A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, þQdh^_`aQ[cYhVb[YZ `_bcQcVZ^lZ ;_]]V^cQaYZ, Art. 15, S. 30, mit dem Argument, dass aufgrund der knappen Formulierung die entsprechenden Normen oder Normen, welche Rechtssetzungsauftra¨ge an den Gesetzgeber beinhalten, nicht direkt angewandt werden ko¨nnen.

I. Untersuchung des russischen Verfassungsrechts

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rechtliche und tatsächliche Entwicklungen vorauszusehen. Vielmehr ist es eine verfassungsimmanente Aufgabe der Staatsgewalten, die grundlegenden Rechtsnormen des Staates im Hinblick auf gesellschaftliche Veränderungen auszulegen. Gerichte, ausführende und gesetzgebende Gewalten sind qua Verfassung dazu berufen, ihre Normen entsprechend der jeweiligen Situation auszulegen und anzuwenden81. Die Verfassung ist damit ein Teil des geltenden Rechtssystems und hat eine zunächst abstrakt regulierende Wirkung auf die gesellschaftlichen Beziehungen. Damit ist sie jedoch nicht lediglich eine unverbindliche Deklaration politischer bzw. sozialer Werte, sondern muss, unabhängig von der Existenz konkretisierender Rechtsnormen, stets beachtet werden 82. Sie ist damit vor allem objektives, direkt wirkendes Recht. So stellte das Oberste Gericht der Russischen Föderation (WSRF) in seinem kommentierenden Plenarbeschluss83 in Bezug auf die judikative Tätigkeit fest, dass die Konstitution dann unmittelbar anzuwenden ist, wenn die Verfassungsnormen keiner Ausfüllung durch den Gesetzgeber bedürfen oder wenn die jeweilige Rechtsnorm verfassungswidrig ist. Die in dem Beschluss vorgenommene Aufzählung der jeweiligen Fälle, in welchen die Gerichte die verfassungsrechtlichen Bestimmungen unmittelbar anzuwenden haben, ist dabei ausdrücklich nicht abschließend84. Zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines formellen Gesetzes müssen sich die Gerichte jedoch an das Verfassungsgericht der Russischen Föderation wenden, Art. 125 Abs. 4 KRF85. Hierfür ist das Verfassungsgericht ausschließlich zuständig. Der Ausdruck „direkte Wirkung“ bedeutet also zunächst, dass die KRF zu ihrer Geltung in allen Fällen ihrer Anwendung durch die Staatsgewalten grundsätzlich keines konkretisierenden Rechtsakts bedarf86. Die Verfassung soll kein „dekorativer Schmuck“ der Gesellschaft, sondern eine funktionierende Rechtsnorm sein, welche

81 NRXVVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 15, S. 154. 82 NRXVVS, ýYh^_bcm Y T_bdUQabcS_: SXQY]^Qp _cSVcbcSV^^_bcm Y [_^bcYcdgY_^^lV _RpXQ^^_bcY, S. 280 f. 83 Mit dem Ausdruck „kommentierender Plenarbeschluss“ wird der russische Begriff „`_bcQ^_S\V^YV @\V^d]Q“ u¨bersetzt. Das WSRF gibt gema¨ß Art 126 KRF Erla¨uterungen zu den Fragen der Gerichtspraxis. Dies sind eigene Normkommentierungen, die auf der Analyse bisheriger Rechtsprechung unterer Gerichte im Vergleich zur eigenen Rechtsprechung basieren und fu¨r die Rechtsanwendung durch die Richter bindend sind. 84 „Das Gericht (…) hat die Verfassung direkt anzuwenden, insbesondere: (…)“, Ziff. 2 @_bcQ^_S\V^Yp @\V^d]Q 3B AE _c 31. 10. 1995 N 8 (aVU. oc 06. 02. 2007): „? ^V[_c_alf S_`a_bQf `aY]V^V^Yp bdUQ]Y ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY `aY _bdjVbcS\V^YY `aQS_bdUYp“, A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 28. 12. 1995/247, Ziff. 2. 85 Diese an sich klare Aussage der Verfassung bestätigte das Verfassungsgericht in: @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 16. 06. 1998 N 19-@, 3Vbc^Y[ ;B AE, 1998/5, Ziff. 5. 86 Im Bezug auf die Prinzipien des Steuerrechtes: @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 27. 05. 2003 N 9-@, Ziff. 2, B8 AE 16. 06. 2003/24/243.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

die Staatsgewalten anzuwenden und zu befolgen haben87. Betrachtet man die soeben erwähnten Judikate, so fällt auf, dass die Gerichte zumindest in den erstgenannten Fällen die Verfassungsnormen (und somit auch die Grundrechte) als unmittelbar geltendes Recht anzuwenden haben. Diese Feststellung schließt ein, dass auch die Zivilgerichtsbarkeit in ihren Entscheidungen die Grundrechte zu beachten hat. Das oberste Gericht und das Verfassungsgericht der Russischen Föderation (welches den kommentierenden Plenarbeschluss im Übrigen nicht beanstandet hat) sehen die direkte Anwendung der Verfassung im Zivilrecht als selbstverständlich an88. Damit sollen sich auch die Bürger auf die verfassungsrechtlichen Bestimmungen im Zivilprozess unmittelbar berufen können89. In der Verfassung scheint daher eine etwaige Unterscheidung nach dem Subjekt des Verfassungsrechts nicht verankert zu sein, obgleich sowohl die Bürger als auch die Staatsgewalten die Verfassung gemäß Art. 15 Abs. 2 S. 2 KRF gleichermaßen befolgen müssen (dazu sogleich mehr)90. Aus diesem Grund können sich die Bürger im Zivilprozess auch auf die Normen des Verfassungsrechts berufen, obwohl doch die konkretisierenden Rechtsvorschriften vorrangig angewandt werden sollen91. Dies wird so auch von Art. 11 Abs. 1 GPKRF92 gesehen, wenn dieser davon spricht, dass das „Gericht die Streitigkeit auf der Grundlage der Verfassung der Russischen Föderation (…) entscheiden soll“. Art. 15 Abs. 1 S. 1 KRF trifft selbst jedoch keine Entscheidung darüber, ob die Verfassung auch die Bürger bindet. Damit ist der Begriff der „direkten Wirkung“ der Vorstellung von den Grundrechten als „unmittelbar geltendem Recht“ i.S.d. Art. 1 Abs. 3 GG inhaltlich sehr nah. Diese bedeutete auch einen Bruch mit der Vorstellung von den Grundrechten als bloßen Programmsätzen und war berufen, die Staatsgewalten unabhängig von der Existenz des einfachen Rechts zu ihrer Beachtung zu zwingen93. Die Grundrechte wurden dadurch zu „direkt geltendem und vollzugsfähigem Recht“ aufgewertet. Dies steht zwar nicht im Widerspruch zu legislativem, grundrechtskonkretisierendem Handeln, bedeutet aber vor allem die Pflicht zur verfassungskon-

87 1SQ[mp^, ;_^bcYcdgY_^^_V `aQS_ A_bbYY, S. 161, 334; ýd[QiVSQ (aVU.), @aQSQ hV\_SV[Q, S. 210. 88 @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 21. 04. 2003 N 6-@, Ziff. 3, B8 AE 28. 04. 2003/17/1657. 89 4_\_jQ`_S, @ap]_V UVZbcSYV [_^bcYcdgY_^^lf ^_a] Y `aY^gY`_S, 8Q[_^^_bcm, N 4, 2004, S. 46, 47. 90 s. unter C., I., 2., b), cc). 4_\_jQ`_S, @ap]_V UVZbcSYV [_^bcYcdgY_^^lf ^_a] Y `aY^gY`_S, 8Q[_^^_bcm, N 4, 2004, S. 46, 48. 91 4_\_jQ`_S, @ap]_V UVZbcSYV [_^bcYcdgY_^^lf ^_a] Y `aY^gY`_S, 8Q[_^^_bcm, N 4, 2004, S. 46, 48. 92 4aQWUQ^b[YZ `a_gVbbdQ\m^lZ [_UV[b AE (Zivilprozesskodex der Russischen Fo¨deration (GPKRF)) N 138-E8 v. 14. 11. 2002, in der Fassung vom 01. 07. 2007, B8 AE 18. 11. 2002/46/4532. 93 Dreier, in: ders., GG, Art. 1 III, Rn. 18; Kunig, in: v. Münch/Kunig, Art. 1, Rn. 50; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 1 Abs. 3, Rn. 261.

I. Untersuchung des russischen Verfassungsrechts

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formen Auslegung94. Zugleich beinhaltet dieses Gebot „im Zweifel“ eine subjektive Wirkung der Grundrechte95: Durch die Möglichkeit der Durchsetzung grundrechtlicher Positionen wird die Unmittelbarkeit der Bindung erst gewährleistet, was zu ihrer eigenen Effektivität beiträgt. Etwaige „Zweifel“ über die Subjektivität dieser Rechtspositionen können deshalb tatsächlich nur bei den Programmsätzen bestehen96. (2) Die Verfassung der Russischen Föderation als Grundlage des gesamten Rechtssystems Der direkten Wirkung der Verfassung i.S.d. Art. 15 Abs. 1 S. 1 KRF soll daneben auch eine zusätzliche Bedeutung zukommen. Nach Meinung einiger Autoren in der russischen Literatur soll sie Mittel zur Legalisierung des Rechts durch die gesamte Gesellschaft zugunsten ihrer einzelnen Mitglieder sein97. Die Verfassung der Russischen Föderation stelle somit das Zentrum des russischen Rechtssystems dar98. Sie soll so Grundlage aller politischen, wirtschaftlichen und sozialen Prozesse in der russischen Gesellschaft sein99 und Einfluss auf die gesellschaftlichen Beziehungen nehmen. Diese Wirkung ist allen Fällen der Rechtsverwirklichung bzw. -wahrnehmung immanent, sei es in den Fällen staatlichen oder privaten Handelns, sei es beim Schutz oder bei der Inanspruchnahme des Rechts100. Diese Sichtweise erinnert stark an die Formel der „objektiven Werteordnung“ des Bundesverfassungsgerichts101. Sie folgt aus dem Gedanken, nach dem die Verfassung, ihre Werte und Prinzipien von den Staatsgewalten unmittelbar angewandt werden müssen. Damit wirken sie in jede hoheitliche Entscheidung hinein. Für das staatliche Handeln leuchtet diese These ein, für das Privatrecht finden sich jedoch lediglich die bereits erwähnten Anknüpfungspunkte der direkten Bindung der Legislative sowie eine in der russischen höchstrichterlichen Rechtsprechung viel weiter als in der deutschen Rechtslehre anerkannte Bindung der Gerichte an die Verfassung bzw. Grundrechte.

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Unmittelbare Bindung bedeutet nicht, dass die Möglichkeit direkten Zugriffs auf die Grundrechte gegen den Gesetzgeber ausgespielt werden darf, näher dazu Dreier, in: ders., GG, Art. 1 III, Rn. 18, 21. 95 BVerfGE 6, 386, 387; 54, 117, 124; 63, 181, 195; Dreier, in: ders., GG, Art. 1 III, Rn. 21; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 1, Rn. 14; Kunig, in: v. Münch/Kunig, Art. 1, Rn. 50. 96 Die inzwischen auch zum unmittelbar geltenden Recht geworden sind, s. dazu Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 1 Abs. 3, Rn. 261. 97 ;dcQeY^, A_bbYZb[YZ [_^bcYcdgY_^Q\YX], S. 137. 98 ;dcQeY^, A_bbYZb[YZ [_^bcYcdgY_^Q\YX], S. 137. 99 1SQ[mp^, ;_^bcYcdgY_^^_V `aQS_ A_bbYY, S. 335. 100 NRXVVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 15, S. 153. 101 Z.B.: BVerfGE 7, 198, 205; 33, 303, 330; 49, 89, 141 f.; 61, 18, 25; 62, 323, 329.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

cc) Die Pflicht zur Achtung der Verfassung durch die Bürger und deren Vereinigungen i.S.d. Art. 15 Abs. 2 KRF (1) Der normative Inhalt der Pflicht aus Art. 15 Abs. 2 KRF Art. 15 Abs. 2 KRF bindet wortwörtlich die Organe der Staatsgewalt, die Organe der örtlichen Selbstverwaltung, die Amtsträger sowie die Bürger und ihre Vereinigungen an die Verfassung und an die Gesetze. Sie alle haben diese „zu beachten“. Dem Wortlaut nach besteht also kein Unterschied zwischen der Bindung des Staates und der der Bürger. Durch die Verwendung des Begriffs der „Konstitution der Russischen Föderation“ werden die Adressaten an das gesamte Regelwerk und somit auch an die im zweiten Kapitel des ersten Teils geregelten Grundrechte gebunden. Dabei folgt aus der systematischen Stellung der Norm im ersten Kapitel ihre Stellung als eine der „Grundlagen der Verfassungsordnung“. Es fragt sich in diesem Zusammenhang, ob sich aus Art. 15 Abs. 2 KRF die Bindung der Bürger an die Grundrechte ergeben könnte. Art. 15 Abs. 2 KRF begründet, trotz aufzählender und damit scheinbar abschließender Formulierung, eine für alle Subjekte der Rechtsordnung universelle Pflicht zur Achtung der Konstitution und der Gesetze102. Es wird auch keine Ausnahme für die Art der Tätigkeit des jeweiligen Subjekts gemacht – jegliche Handlung des Staates oder des Bürgers hat sich an der Verfassung und den Gesetzen zu messen. Dieses Prinzip wird auch als das „Gesetzlichkeitsprinzip“ bezeichnet103. Das Verhältnis zwischen der Verfassung und einfachen Gesetzen ist dabei in Art. 15 Abs. 1 S. 2 KRF durch den Vorrang der Verfassung festgelegt104. Die Achtung der Verfassung als verfassungsrechtliche Pflicht i.S.d. Art. 15 Abs. 2 KRF soll sich aber nicht lediglich darin erschöpfen, dass der jeweilige Adressat die Normen der Verfassung nicht verletzt; er hat nach Ansicht der russischen Literatur insofern zusätzlich eine aktive Position, als dass diese darauf gerichtet sein soll, die Ziele der Verfassung zu verwirklichen105. Dies soll sogar so weit gehen, dass neben den an die Bürger gerichteten Verboten solche, die sich eigentlich an den Gesetz-

102

1SUVV^[_SQ, S: 5]YcaYVS (aVU.), ;_^bcYcdgYp A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, þQdh^_`aQ[cYhVb[YZ `_bcQcVZ^lZ ;_]]V^cQaYZ, Art. 15, S. 31, die die Universalita¨t sehr weit sieht, sodass sich die Pflicht auf die Befolgung aller Rechtsnormen beziehen soll; NRXVVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 15, S. 156. 103 1^UaVVS, =VfQ^YX] TaQWUQ^b[_-`aQS_S_Z XQjYcl, S. 39; 3Ycad[, ?RjQp cV_aYp oaYUYhVb[_Z _cSVcbcSV^^_bcY, S. 105; ;_SQ\V^[_/=_f_SQ/EY\Y``_SQ (aVU.), 4aQWUQ^b[YZ `a_gVbb: DhVR^Y[, S. 14; =QXdaV^[_, A_bbYZb[Qp `aQS_cS_ahVb[Qp `_\YcY[Q: [_^gV`gYp Y aVQ\m^_bcm, S. 34. 104 Vgl. soeben C., I., 2., b), bb), (2). 105 NRXVVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 15, S. 156.

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geber wenden, für alle Rechtsanwender – also auch für Bürger – gleichermaßen gelten sollen.106. In diesem Zusammenhang führte das Verfassungsgericht der Russischen Föderation bereits 1993 in einem seiner ersten Urteile aus, dass die gebietsübergreifenden, abstrakten Prinzipien der Gerechtigkeit, juristischen Gleichheit, Garantie der Menschenrechte sowie der Amtshaftung den Inhalt der konstitutionellen Rechte der Bürger sowie ihre Rechte auf dem jeweiligen Rechtsgebiet bestimmen. Sie hätten universellen Charakter und würden deshalb auf allen Rechtsgebieten regulierend wirken. Die Bindung aller Rechtssubjekte an diese Prinzipien äußere sich sowohl im Vorrang der Verfassung als auch in der Bindung aller Rechtssubjekte an sie107. Damit sind nach Meinung des Gerichts auch Bürger an diese Prinzipien gebunden. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch der Beschluss des Verfassungsgerichts108 vom 21. 12. 1996 in Bezug auf die Verfassungsmäßigkeit des Art. 168 GKRF109. Dort führte das Gericht aus, dass diese Norm eine Konkretisierung des Art. 15 Abs. 2 KRF darstelle. Die Nichtigkeit eines Rechtsgeschäfts, welches gegen ein gesetzliches Verbot verstößt, folge aus der Verpflichtung der Bürger, die Verfassung und die Gesetze zu befolgen. Diese Norm stelle dabei ein Rechtsschutzmittel dar110. Mit diesen Aussagen stellte das Verfassungsgericht klar, dass die verfassungsmäßige Pflicht zur Achtung der Verfassung und der Gesetze ihren Ausdruck in den einfachgesetzlichen Normen findet. Auch in diesem Zusammenhang besteht nicht der geringste Anschein, dass das Gericht Bedenken bei einer solchen Interpretation einer privatrechtlichen Bestimmung hätte. Zwar stellt Art. 168 GKRF eine Generalklausel dar, doch findet sich in der Entscheidung keine diesbezügliche Einschränkung. Vielmehr stellt diese Generalklausel einen direkten Ausfluss eines grundlegenden verfassungsrechtlichen Gedankens im Zivilrecht dar. Damit ist aber freilich noch nicht gesagt, ob die Verfassung als solche nicht des einfachen Gesetzes als Medium für ihre Wirkung im Privatrecht bedarf. Indes finden sich in vielen einfachen Gesetzen Verweise auf die Verfassung (z. B.: Art. 2 Abs. 1 GKRF, Art. 11 Abs. 1 GPKRF, Art. 2 S. 1, 5 S. 1 TKRF111, Art. 1 Abs. 3

106 NRXVVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 15, S. 156. 107 @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 27. 01. 1993 N 1-@, 3Vbc^Y[ ;B AE, 1993/2 – 3, S. 3. 108 ?`aVUV\V^YV ;B AE _c 21. 12. 2006 N 554-? (unvero¨ffentlicht) Ziff. 2.1. 109 4aQWUQ^b[YZ ;_UV[b A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY (hQbcm `VaSQp) (Zivilkodex der Russischen Fo¨deration (erster Teil)) 1-E8 v. 30. 11. 1994, in der Fassung vom 06. 04. 2011, B8 AE 05. 12. 1994/32/3301. Die Norm entspricht in etwa dem § 134 BGB. 110 ?`aVUV\V^YV ;B AE _c 21. 12. 2006 N 554-?, (unvero¨ffentlicht), Ziff. 2.1. 111 CadU_S_Z [_UV[b AE (Arbeitskodex RF) N 197-E8 v. 30. 12. 2001, in der Fassung vom 18. 07. 2011, B8 AE 07. 01. 2002/1 (1)/3.

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ZhKRF112). Diese regeln eine im Einklang mit der Verfassung stehende Geltung der entsprechenden Gesetze und schreiben den Schutz der jeweiligen Rechte der Bürger vor. Dies erlaubt es, das Rechtmäßigkeitsprinzip des Art. 15 Abs. 2 KRF als ein gebietsübergreifendes Prinzip zu betrachten113. Es kann natürlich nicht ohne Weiteres von einer einfachgesetzlichen Regelung auf die von der Verfassung selbst verfolgten Ziele geschlossen werden. Zugleich kann daraus aber gefolgert werden, dass der Zivilgesetzgeber die verfassungsrechtlichen Ziele stets als Rahmen für seine Tätigkeit und für die sie konkretisierenden Gesetze betrachtet, und dass sich die privatrechtlichen Verhältnisse an den verfassungsrechtlichen Werten zu messen haben. Diese Schlussfolgerung steht auch im Einklang mit dem oben genannten Beschluss des Verfassungsgerichts der Russischen Föderation114, welcher eine einfachgesetzliche Norm als Ausdruck des Rechtmäßigkeitsprinzips i.S.d. Art. 15 Abs. 2 KRF sieht. (2) Die Notwendigkeit von Generalklauseln zur Bindung der Bürger an die Verfassung Damit ist aber nur gesagt, dass die verfassungsrechtlichen Bestimmungen stets Eingang in die einfachen Gesetze finden, und dass diese im Einklang mit der Konstitution stehen sollen. Diese Feststellung folgt aber bereits aus den Bestimmungen der Art. 15 Abs. 1 S. 1 und 2 KRF. Es fragt sich jedoch, ob die Verfassung zu ihrer Wirkung auf dem Gebiet des Privatrechts stets eines einfachen Gesetzes als Medium bedarf und ob dieses Medium etwa – wie nach der in Deutschland von einigen Autoren favorisierten Ansicht – generalklauselartig ausgestaltet sein muss. In einer Entscheidung zur Rechtmäßigkeit einer Wohnraumräumungsverfügung stellte das Verfassungsgericht der Russischen Föderation indes fest, dass der Schutz des Eigentumsrechts gemäß Art. 15 Abs. 2, 17 Abs. 3, 19 Abs. 1, Abs. 2 und 55 Abs. 1, Abs. 3 KRF aufgrund des Verhältnismäßigkeitsprinzips erfolgen müsse. Damit solle das Gleichgewicht zwischen den Rechten und Interessen aller Beteiligten (Gläubiger, Schuldner und Eigentümer) gewahrt bleiben115. Der Ausdruck „Schutz“ des Eigentumsrechts ist dabei neutral und meint nicht nur den gerichtlichen, sondern auch den außergerichtlichen Schutz. Damit hat auch der Gläubiger das Recht des Eigentümers und seiner Familie auf eine menschenwürdige Existenz aus Art. 21 Abs. 1 KRF und Art. 25 Allgemeiner Erklärung der Menschenrechte zu beachten. Dabei finden diese Bestimmungen ihren Ausdruck in Art. 446 GPKRF, welcher bestimmt, dass der einzige, zum Wohnen geeignete Wohnraum des Eigentümers grundsätzlich nicht gepfändet werden darf. Das Gericht wiederholte somit 112

7Y\Yj^lZ [_UV[b AE (Wohnkodex RF) N 188-E8 v. 29. 12. 2004, in der Fassung vom 08. 07. 2011, B8 AE 03. 01. 2005/1 (1)/14. 113 ;_SQ\V^[_/=_f_SQ/EY\Y``_SQ (aVU.), 4aQWUQ^b[YZ `a_gVbb: DhVR^Y[, S. 14. 114 ?`aVUV\V^YV ;B AE _c 21. 12. 2006 N 554-?, (unvero¨ffentlicht), Ziff. 2.1. 115 ?`aVUV\V^YV ;B AE _c 04. 12. 2003 N 456-?, 3Vbc^Y[ ;B AE 04. 12. 2003/3/2004, Ziff. 2.

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auch hier, dass die Grundrechte ihre Wirkung ohne Weiteres auch auf das Privatrecht entfalten. Aus dieser Entscheidung lassen sich zwei Schlussfolgerungen ziehen. Zum einen müssen die Parteien bei Wahrnehmung ihrer eigenen Rechte die (Grund-)Rechte anderer beachten. Zum anderen stellt Art. 446 GPKRF zwar keine Generalklausel dar, die Grundrechte finden jedoch auch hier ihren Eingang. Dies entspricht schließlich auch der bereits erwähnten gebietsübergreifenden Wirkung des Gesetzlichkeitsprinzips116, sodass die Grundrechte also nicht nur von Gerichten zu beachten sind und zu ihrer Geltung keiner „Generalklausel“ bedürfen. (3) Zusammenfassung Für eine direkte Wirkung der Verfassung auch auf dem Gebiet des Privatrechts spricht somit zunächst der eindeutige Wortlaut des Art. 15 Abs. 2 KRF. Wenn die Bürger die Verfassung genau wie der Staat zu befolgen haben, so sind sie ebenfalls an die Grundrechte gebunden. Dennoch kann die Art dieser Bindung nicht die gleiche sein. Die russische Konstitution, wie auch das Grundgesetz, enthält eine Reihe von Bestimmungen, die sich inhaltlich in erster Linie nur an den Staat richten. Dies sind vor allem die staatsorganisationsrechtlichen Bestimmungen. Dieser Konflikt kann aber dadurch gelöst werden, dass die Bindung, je nach Subjekt, qualitativ unterschiedlich betrachtet wird, denn auch die jeweiligen Organe der Staatsgewalten sind nicht gleichermaßen an die verfassungsrechtlichen Bestimmungen, sondern nur an die jeweils an sie adressierten sowie an die universellen Bestimmungen gebunden117. So richten sich beispielsweise die Bestimmungen der Art. 118 bis 128 KRF nur an die Judikative. Die anderen Staatsgewalten sind an diese Bestimmungen nur insoweit gebunden, als dass sie die verfassungsrechtliche Position der Gerichte zu beachten haben und diesbezüglich also in ihren Handlungen beschränkt sind. In dieser Art sind auch die Bürger an Normen der Verfassung gebunden, welche ursprünglich nur die Staatsorganisation betreffen. Zwar stellen sie nicht direkte Adressaten dar, doch haben auch sie die Positionen der Staatsorgane zu beachten und sich an die verfassungsmäßige Ordnung zu halten. Auch die ausgeführte Rechtsprechung des russischen Verfassungsgerichts spricht für eine direkte Wirkung. Das KSRF spricht sich deutlich für den gebietsübergreifenden Einfluss der Grundrechte aus, unabhängig von der Art der Norm. Auch in seiner Entscheidung zum gesetzlichen Verbot wird klar, dass die Bürger an die Grundrechte anderer gebunden sind. Die Literatur äußert sich zu diesem Thema

116

@_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 27. 01. 1993 N 1-@, 3Vbc^Y[ ;B AE 1993/2 – 3, S. 3. Die von der KRF in Art. 15 Abs. 2 gewählte Lösung unterscheidet sich von der des Art. 1 Abs. 3 GG vor allem im Umfang der Bindung, aber auch für die Bindung der öffentlichen Gewalten an die Grundrechte durch das GG wird selbstverständlich nach der Art der Tätigkeit des jeweiligen Organs unterschieden, vgl. z. B. Jarass, in: ders./Pieroth, GG, Art. 1, Rn. 22 ff. 117

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

dagegen nur unbestimmt. Zwar wiederholen die meisten Kommentare den Wortlaut der Norm, doch finden sich dazu keine näheren Ausführungen118. Damit wäre die Frage nach der Wirkung der Grundrechte durch (alle) gesetzlichen Bestimmungen zu bejahen. Ungeklärt bleibt noch, ob diese Wirkung stets nur „mittelbarer“ oder auch „unmittelbarer“ Art, also ohne Zwischenschaltung der einfachen Gesetze, sein kann. Die Antwort auf diese Frage in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts der Russischen Föderation zu suchen wäre wenig sinnvoll, denn dieses prüft bei Verfassungsbeschwerden von Bürgern gemäß Art. 125 Abs. 4 KRF lediglich die Verfassungsmäßigkeit der jeweiligen Norm, die im entsprechenden Fall anzuwenden war oder angewendet wurde. Dagegen kann es im Wege einer Verfassungsbeschwerde nicht prüfen, ob eine Rechtsnorm auch richtig angewendet wurde. Auch hier muss deshalb auf den Wortlaut der Verfassung abgestellt werden. Die Bürger sind „an die Verfassung und die Gesetze“ gebunden. Die Vorschrift zählt beide Arten von Rechtsnormen nebeneinander auf. Überdies ergibt sich aus Art. 15 Abs. 1 KRF auch besagte direkte Wirkung der Verfassung, wonach diese grundsätzlich keiner konkretisierenden Bestimmung für die eigene Geltung bedarf. Es ist deshalb kein Grund dafür ersichtlich, eine Bindung an die Grundrechte etwa nur „durch die Gesetze“ zuzulassen, obwohl doch die Verfassung gemäß Art. 15 Abs. 1 S. 2 KRF Vorrang hat und die einfachen Normen ohnehin ihr zu entsprechen bzw. sie zu konkretisieren haben, insoweit also lediglich „Sekundärnomen“ sind. Zugleich ist festzustellen, dass in Bezug auf die Bindung der Bürger an die Grundrechte diese nur im Verhältnis zu anderen Grundrechtsträgern relevant werden kann. Da der Staat jedoch gerade kein solcher ist, kann diese Verfassungsbestimmung insoweit nur den Inhalt haben, dass die Bürger untereinander an die Grundrechte gebunden sind. Damit ergibt sich bereits aus Art. 15 Abs. 2 KRF, welcher die Bindung der Bürger (neben der anderer Subjekte des Verfassungsrechts) an die Konstitution niederlegt, eine direkte Wirkung der Grundrechte (auch) auf das Privatrecht. Es ist zum einen festzuhalten, dass diese Bindung der Bürger mit der von Staatsgewalten nicht gleichzusetzen ist und notwendigerweise anderer Art sein muss. Zum anderen muss zugestanden werden, dass diese Bindung in Bezug auf die Grundrechte nur im horizontalen Verhältnis unter Bürgern relevant werden kann, was zu dem Schluss zwingt, dass die russische Verfassung die Grundrechte als absolute Rechte versteht. Im Weiteren ist zu untersuchen, ob sich diese Feststellung durch andere Normen der KRF und ihre Systematik untermauern lässt.

118 1SUVV^[_SQ, S: 5]YcaYVS (aVU.), ;_^bcYcdgYp A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, þQdh^_`aQ[cYhVb[YZ `_bcQcVZ^lZ ;_]]V^cQaYZ, Art. 15, S. 31; 2QafQc_SQ, ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY (`_bcQcVZ^lZ), S. 11; 3Ycad[, ?RjQp cV_aYp `aQS_S_T_ `_\_WV^Yp \Yh^_bcY, S. 288 f.; BQU_S^Y[_SQ, ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY (`_bcQcVZ^lZ), S. 10; NRXVVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 15, S. 156.

I. Untersuchung des russischen Verfassungsrechts

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dd) Die Unmittelbare Geltung der Grundrechte i.S.d. Art. 18 S. 1 KRF (1) Grundlegender Gehalt des Art. 18 Abs. 1 KRF Gemäß Art. 18 S. 1 KRF gelten „die Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers unmittelbar“. Während derselbe Ausdruck in Art. 1 Abs. 3 GG vorrangig als Abkehr von dem Verständnis der Weimarer Reichsverfassung verstanden wird und den Grundrechten eine subjektiv-rechtliche Dimension zu verleihen berufen ist119, galt es bei der Entstehung der Verfassung auch für Russland, das sowjetische Erbe zu überwinden, welches die Geltung der (ohnehin anders verstandenen120) Grundrechte an die jeweiligen einfachgesetzlichen Normen knüpfte121. Die Geltung der Grundrechte sollte deshalb nicht mehr an die Existenz einer unterkonstitutionellen Rechtsnorm geknüpft werden122. Neben Art. 2 KRF drückt auch diese Bestrebung der Mütter und Väter der russischen Konstitution das naturrechtliche Verständnis der Grundrechte aus123. (2) „Direkte“ Wirkung der Verfassung und „unmittelbare“ Wirkung der Grundrechte Festzuhalten ist hier zunächst erneut, dass der Ausdruck „unmittelbar“ mit der Wortwahl des Art. 15 Abs. 1 S. 1 KRF, in dem von der „direkten“ Wirkung der Verfassung gesprochen wird, nicht identisch ist124. Neben dem sprachlichen Argument lässt sich aber auch die systematische Stellung der beiden Normen sowie deren Inhalt anführen. Während Art. 15 Abs. 1 S. 1 KRF ein grundlegendes Verfas119

Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 1 Rn. 21. s. o. C., I., 1., a). 121 @pc[Y^Q S: ?[d^m[_S (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 18, S. 41. 122 Grundlegend zur Anwendung des Art. 18 KRF: @_bcQ^_S\V^YV @\V^d]Q 3B AE _c 31. 10. 1995 N 8 (aVU. oc 06. 02. 2007): „? ^V[_c_alf S_`a_bQf `aY]V^V^Yp bdUQ]Y ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY `aY _bdjVbcS\V^YY `aQS_bdUYp“, A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 28. 12. 1995/247, Ziff. 2; vgl. auch: ?`aVUV\V^YV ;B AE _c 22. 05. 1996 N 63-?, „;_^bcYcdgY_^^lZ bdU A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY: @_bcQ^_S\V^Yp. ?`aVUV\V^Yp. 1992 – 1996“, =_b[SQ 1997, Ziff. 2; @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 13. 06. 1996 N 14-@, A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 02. 07. 1996/124, Sondervotum des Richters Vitruk; 2QafQc_SQ, ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY (`_bcQcVZ^lZ), Art. 18; ;_^of_SQ, S: 5]YcaYVS (aVU.), ;_^bcYcdgYp A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, þQdh^_-`aQ[cYhVb[YZ `_bcQcVZ^lZ ;_]]V^cQaYZ, Art. 18; BQU_S^Y[_SQ, ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY (`_bcQcVZ^lZ), Art. 18. 123 2_^UQam, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 18, S. 178; BQU_S^Y[_SQ, ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY (`_bcQcVZ^lZ), Art. 18, S. 11. 124 Vgl. bereits oben: Fn. 41. Auf diesen Unterschied weist auch 2_^UQam, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 15, S. 177, sowie NRXVVS, ýYh^_bcm Y T_bdUQabcS_: SXQY]^Qp _cSVcbcSV^^_bcm Y [_^bcYcdgY_^^lV _RpXQ^^_bcY, S. 276 ff., 281 ff. hin. 120

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

sungsprinzip postuliert und von der Geltung der Verfassung als solcher spricht, regelt Art. 18 nur die Geltung der Grundrechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers, die im zweiten Kapitel des ersten Teils der KRF niedergelegt sind. Überdies ergibt sich aus dem zweiten Satz, dass die Grundrechte den Sinn, Inhalt und die Anwendung der Gesetze, die Tätigkeit der gesetzgebenden und der vollziehenden Gewalt sowie der örtlichen Selbstverwaltung bestimmen und durch die Rechtsprechung gewährleistet werden. Damit wird die besondere Rolle der Grundrechte gegenüber den restlichen Verfassungsbestimmungen hervorgehoben. Diese müssen zur Quintessenz staatlichen Handelns werden. Art. 18 S. 1 KRF als ein anderer verfassungsrechtlicher Grundsatz steht deshalb mit der Regelung des Art. 15 Abs. 1 S. 1 KRF deutlich in Verbindung – die unmittelbare Wirkung der Grundrechte könnte sogar als Unterfall der direkten Wirkung der Verfassung betrachtet werden125. Dies folgt daraus, dass die Grundrechte als ein Teil der KRF nach Art. 15 Abs. 1 S. 1 KFR in jedem Fall direkt wirken müssen. Der Begriff der unmittelbaren Wirkung muss aber aufgrund dieser Feststellungen auch einen eigenen, zusätzlichen Sinngehalt, gegebenenfalls einen engeren aber auch qualitativ anderen Regelungsbereich umfassen. Seine systematische Auslegung darf sich deshalb nicht ausschließlich an dem Verständnis der direkten Wirkung i.S.d. Art. 15 Abs. 1 S. 1 KRF orientieren. Damit sind bereits wichtige Feststellungen getroffen: Art. 18 KRF regelt nur die Geltung der Grundrechte, und der zweite Satz ist ausschließlich an die öffentlichen Gewalten adressiert. Man könnte deshalb argumentieren, dass sich, unabhängig vom Inhalt des „Unmittelbarkeitsbegriffs“, auch die Regelung des Art. 18 S. 1 KRF nur an den Staat richtet. Dies ist jedoch logisch keine zwingende Schlussfolgerung. Der zweite Satz bestimmt den Einfluss der Grundrechte auf die Handlungen der öffentlichen Gewalt, der erste Satz verankert daneben ein eigenes Prinzip. Aufgrund der grammatikalischen Trennung und der Annahme, dass die Verfassung sich nicht wiederholt, muss davon ausgegangen werden, dass die beiden Aussagen jeweils einen eigenen Regelungsgehalt haben und deshalb zwar als zusammenhängend, aber als dennoch eigenständig zu betrachten sind. (3) Art. 18 KRF als Maßstab der Rechtmäßigkeit Indes interpretiert die Literatur, freilich ohne weitere Erklärung, Art. 18 KRF als allgemeinen Maßstab für die Rechtmäßigkeit menschlichen Handelns126. Diese Sichtweise lässt die Norm in völlig anderem Licht erscheinen. Die Grundrechte wären damit nicht als Abwehrrechte zu sehen, sondern bekämen vielmehr den Charakter des „status activus“ verliehen. Damit wäre die Verfassung, nicht nur eine 125 4_\_jQ`_S, @ap]_V UVZbcSYV [_^bcYcdgY_^^lf ^_a] Y `aY^gY`_S, 8Q[_^^_bcm 2004, N 4, S. 46, 48; NRXVVS, ýYh^_bcm Y T_bdUQabcS_: SXQY]^Qp _cSVcbcSV^^_bcm Y [_^bcYcdgY_^^lV _RpXQ^^_bcY, S. 284. 126 2QafQc_SQ, ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY (`_bcQcVZ^lZ), Art. 18, S. 15; ;_^of_SQ, S: 5]YcaYVS (aVU.), ;_^bcYcdgYp A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, þQdh^_-`aQ[cYhVb[YZ `_bcQcVZ^lZ ;_]]V^cQaYZ, Art. 18; @pc[Y^Q, S: ?[d^m[_S (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 18.

I. Untersuchung des russischen Verfassungsrechts

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Regelung, die sich vorrangig an den Gesetzgeber richtet, sondern auch, neben den einfachen Gesetzen, eine Verhaltensordnung für die Bürger. In diesem Sinne wäre aber auch die bereits angesprochene127 dogmatische Einteilung Jellinek modifiziert zu betrachten. Jede Grundfreiheit wäre so nicht nur status negativus, sondern gleichzeitig auch status activus. Es fragt sich in diesem Zusammenhang jedoch, wem gegenüber dieses Handeln dann als widerrechtlich oder rechtmäßig gelten soll: nur dem Staat, oder auch den anderen Bürgern gegenüber? Um diese Frage zu beantworten muss Art. 18 S. 1 KRF genauer betrachtet werden. (4) Grundrechte als subjektive Rechte Die Grundrechte gelten danach objektiv unmittelbar, dürfen aber nicht unmittelbar geltend gemacht werden; erst eine einfachgesetzliche Rechtsnorm gibt dem Bürger diese Möglichkeit, also ein subjektives Recht. Diese Ansicht sieht somit die Grundrechte nur bei der Tätigkeit öffentlicher Gewalten Die zentrale, in der Literatur umstrittene Frage ist, ob sich aus Art. 18 S. 1 KRF bzw. aus der Unmittelbarkeit der Grundrechtswirkung ergibt, dass es sich dabei um eine subjektive Rechtsposition des Bürgers handelt. Zunächst wird zwischen den zu konkretisierenden und den nicht zu konkretisierenden Grundrechten unterschieden128. Einige Normen, wie auch Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG, schreiben den Erlass konkretisierender Rechtsvorschriften durch den Gesetzgeber selbst vor, so z. B. Art. 29 Abs. 4 S. 2, Art. 36 Abs. 3, Art. 37 Abs. 3, Art. 39 Abs. 1, Abs. 2, Art. 50 Abs. 3 und Art. 51 Abs. 1 KRF. Dieser Auftrag an den Gesetzgeber soll dem Zweck dienen, die grundrechtliche Rechtsposition genau auszugestalten, um den Anspruch des Bürgers zu konkretisieren. Der Staat soll damit, orientiert an seinen finanziellen Möglichkeiten und der allgemeinen wirtschaftlichen Situation, die Höhe der Mindestlöhne, den Umfang der Unterstützung der sozial Schwachen und andere Schranken bestimmen. Daraus wird von den meisten Autoren gefolgert, dass die Grundrechte, die keiner Konkretisierung bedürfen, unmittelbar als subjektive Rechte geltend gemacht werden können129. Bezüglich anderer Grundrechte besteht jedoch Uneinigkeit. Nach einer Ansicht können sich die Bürger auch auf diese vor Gericht unmittelbar berufen. Als Ausdruck der unmittelbaren Geltung wird auch das sogenannte „Benachrichtigungsprinzip“ angesehen. Darunter wird verstanden, dass der Bürger, um sein Grundrecht wahrzunehmen, die öffentlichen Gewalten darüber lediglich in Kenntnis zu setzten braucht und sonst keiner Erlaubnis hierfür bedarf. Dieses Prinzip wird vor allem in Zusammenhang mit dem Versammlungsrecht erwähnt (wie auch in Deutschland, wobei 127

s. o. C., I., 2., b), aa), (3) am Ende. 4QUWYVS, þV`_baVUbcSV^^_V `aY]V^V^YV bdUQ]Y [_^bcYcdgY_^^lf ^_a], „A_bbYZb[Qp obcYgYp“ 1995, N 12, S. 24 ff.; ;_^of_SQ, S: 5]YcaYVS (aVU.), ;_^bcYcdgYp A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, þQdh^_-`aQ[cYhVb[YZ `_bcQcVZ^lZ ;_]]V^cQaYZ, Art. 18. 129 ;_^of_SQ, S: 5]YcaYVS (aVU.), ;_^bcYcdgYp A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, þQdh^_`aQ[cYhVb[YZ `_bcQcVZ^lZ ;_]]V^cQaYZ, S. 42; ;dUapSgVS (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, S. 85 f.; HVcSVa^Y^, 5V]_[aQcYhVb[_V [_^bcYcdgY_^^_V T_bdUQabcS_. 3SVUV^YV S cV_aYo, S. 29. 128

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

zwischen ordentlichen, Eil- und Spontanversammlungen unterschieden wird130). Eine zunehmende Ausdehnung des Geltungsbereichs dieses Prinzips soll zur Durchsetzung und Effektivität der unmittelbaren Geltung der Grundrechte beitragen131. Der Inhalt der zu konkretisierenden Gesetze muss sich jedoch gemäß Art. 18 S. 2 KRF wiederum an den jeweiligen Grundrechten orientieren, deren Konkretisierung und Schranken diese darstellen, und nicht umgekehrt132. Dafür spricht auch die Rechtsprechung des russischen Verfassungsgerichts. So hat das KSRF in seinem Beschluss vom 22. 05. 1996 N 63-O133 in Bezug auf das Grundrecht zur Wehrpflichtverweigerung i.S.d. Art. 59 Abs. 3 KRF ausgeführt, dass dieses, wie auch die sonstigen Grundrechte, gemäß Art. 18 KRF unmittelbar gelte und unabhängig von der Existenz eines entsprechend konkretisierenden Gesetzes gewährleistet werden müsse. Diese Entscheidung wurde durch das Verfassungsgericht später in einem weiteren Urteil134 insoweit konkretisiert, als dass nach Art. 18 KRF auch im Fall des Erlasses einer solchen Rechtsnorm das jeweilige Grundrecht unmittelbar geltend bleibt und bei der Auslegung der jeweiligen Rechtsnorm beachtet werden muss. Gegen die Schlussfolgerung, dass alle Grundrechte unmittelbar und unabhängig von der Existenz der jeweiligen konkretisierenden Rechtsnorm gelten, könnte jedoch im Einklang mit dem kommentierenden Beschluss vom 31. 10. 1995 N 8135 der Einwand gebracht werden, dass das Grundrecht zur Wehrpflichtverweigerung i.S.d. Art. 28, 59 Abs. 3 KRF von der Konstitution bestimmt formuliert ist und dem Gesetzgeber nur wenig Spielraum für eine Konkretisierung lässt. Der konkrete Auftrag in Art. 28, 59 Abs. 3 KRF hat eher den Sinn, die hierfür nötigen behördlichen Prozeduren auszugestalten. In diesem Zusammenhang ist aber erneut der bereits

130

Vgl. z. B. Art. 13 BayVersG. 2QafQc_SQ, ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY (`_bcQcVZ^lZ), Art. 18, S. 15; ;_^of_SQ, S 5]YcaYVS (aVU.), ;_^bcYcdgYp A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, þQdh^_-`aQ[cYhVb[YZ `_bcQcVZ^lZ ;_]]V^cQaYZ, Cc. 18, S. 43; ýd[QiVSQ (aVU.), @aQSQ hV\_SV[Q, S. 210; @pc[Y^Q S: ?[d^m[_S (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 18, S. 42; BQU_S^Y[_SQ, ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY (`_bcQcVZ^lZ), Art. 18, S. 11. 132 2_^UQam, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 18, S. 177; ;_^of_SQ, S: 5]YcaYVS (aVU.), ;_^bcYcdgYp A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, þQdh^_-`aQ[cYhVb[YZ `_bcQcVZ^lZ ;_]]V^cQaYZ, S. 43; @pc[Y^Q S: ?[d^m[_S (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 18, S. 42. 133 ?`aVUV\V^YV ;B AE _c 22. 05. 1996 N 63-?, Ziff. 2, „;_^bcYcdgY_^^lZ bdU A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY: @_bcQ^_S\V^Yp. ?`aVUV\V^Yp. 1992 – 1996“, =_b[SQ 1997. 134 @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 23. 11. 1999 N 16-@, 3Vbc^Y[ ;B AE 1999/6, Ziff. 4. 135 @_bcQ^_S\V^YV @\V^d]Q 3B AE _c 31. 10. 1995 N 8 (aVU. oc 06. 02. 2007): „? ^V[_c_alf S_`a_bQf `aY]V^V^Yp bdUQ]Y ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY `aY _bdjVbcS\V^YY `aQS_bdUYp“, A_bbYZb[Qp 4QXVcQ N 247, 28. 12. 1995. 131

I. Untersuchung des russischen Verfassungsrechts

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genannte, kommentierende Beschluss von Bedeutung136. Darin legte das Oberste Gericht der Russischen Föderation Art. 15 Abs. 1 KRF aus und stellte fest, dass die Gerichte bei der Anwendung der Verfassung diese grundsätzlich, und insbesondere in bestimmten Fällen, als einen Rechtsakt mit direkter Wirkung anzuwenden haben. Dies soll vor allem dann der Fall sein, wenn die jeweiligen Konstitutionsnormen keiner weiteren Konkretisierung bedürfen. So könnte man auch in Bezug auf die hier zu untersuchende Frage annehmen, dass der Hinweis auf die unmittelbare Geltung des Grundrechts auf Wehrpflichtverweigerung lediglich dadurch bedingt war, dass dieses keiner weiteren Konkretisierung bedarf. Dagegen spricht aber neben dem eindeutigen Wortlaut der Entscheidung („alle Grundrechte“137), dass es sich bei diesem Beschluss um die Auslegung des Art. 15 Abs. 1 KRF und nicht des Art. 18 S. 1 KRF handelt. Es geht also um die direkte Wirkung der Verfassung, nicht um die unmittelbare Geltung der Grundrechte. Folgerichtig scheint deshalb auch, dass die beiden erwähnten Entscheidungen zum Umfang des Rechts auf Wehrpflichtverweigerung auch nicht auf diesen Beschluss verweisen. Im Einklang mit diesen beiden Entscheidungen und der soeben gemachten Schlussfolgerung hat das russische Verfassungsgericht in einem weiteren Urteil138 bezüglich der Grundrechte auf Wohnung und Freizügigkeit i.S.d. Art. 40, 27 Abs. 1 KRF beschlossen, dass eine der damals geltenden Normen des Wohnkodexes diesen widerspricht. Nach Ansicht des Verfassungsgerichts der Russischen Föderation hätten die zuständigen Gerichte jedoch gemäß Art. 18 S. 1 KRF aufgrund der unmittelbaren Geltung der Grundrechte eben diese unmittelbar, und nicht die fragliche Norm anwenden müssen. Festzustellen ist hier auch, dass sowohl das Recht auf Freizügigkeit als auch das Recht auf Wohnung nicht hinreichend bestimmt sind, sondern konkretisierender Vorschriften bedürfen. Dies liegt auf der Hand: Weder kann dem Verfassungsgesetzgeber unterstellt werden, dass nach seiner Vorstellung jeder Mensch tatsächlich jeden Ort aufsuchen dürfen muss – wie z. B. Militäreinrichtungen oder Gefängnisse, um extreme Beispiele zu nennen –, noch ist klar, wie groß die Wohnung sein muss, um dem Grundrecht aus Art. 40 KRF gerecht zu werden. Beide Grundrechte sind also nicht ausreichend bestimmt, trotzdem hatten die Gerichte diese unmittelbar anzuwenden. Die Unterscheidung zwischen den Grundrechten, die der einfachgesetzlichen Konkretisierung bedürfen, und solchen, die keinen entsprechenden Auftrag an den Gesetzgeber enthalten, scheint deshalb ohne weiterführendes Erkenntnisinteresse zu sein und ist aus diesem Grund abzulehnen. Zu untersuchen ist schließlich die ganz extreme Position Bondars, welcher eine subjektive Dimension grundsätzlich erst in den jeweiligen, konkretisierenden Re136

@_bcQ^_S\V^YV @\V^d]Q 3B AE _c 31. 10. 1995 N 8 (aVU. oc 06. 02. 2007): „? ^V[_c_alf S_`a_bQf `aY]V^V^Yp bdUQ]Y ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY `aY _bdjVbcS\V^YY `aQS_bdUYp“, A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 28. 12. 1995/247. 137 Ebenda, am Anfang. 138 @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 25. 04. 1995 N 3-@, B8 AE 24. 06. 1996/26/3185, Ziff. 3.

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gelungen des Gesetzgebers erblickt139. Seiner Ansicht nach darf die unmittelbare Wirkung nicht mit der Möglichkeit der unmittelbaren Wahrnehmung und Geltendmachung gleichgesetzt werden. Danach beschreibt die unmittelbare Geltung lediglich „eine bestimmte Beziehung zwischen dem Staat und dem Bürger, dem Staat und der Gesellschaft und die Existenz einer bestimmten Reihe an Selbstverwirklichungsinstrumenten für die Bürger“140. Die Grundrechte gelten danach objektiv unmittelbar, dürfen aber nicht unmittelbar geltend gemacht werden; erst eine einfachgesetzliche Rechtsnorm gibt dem Bürger diese Möglichkeit, also ein subjektives Recht. Diese Ansicht sieht somit die Grundrechte nur bei der Tätigkeit öffentlicher Gewalten als unmittelbar geltend an und somit im unmittelbaren Zusammenhang mit der direkten Geltung der Verfassung i.S.d. Art. 15 Abs. 1 S. 1 KRF. Diese Ansicht steht nicht nur im Widerspruch zu den genannten Judikaten des Verfassungsgerichts der Russischen Föderation, sondern würde auch bedeuten, dass Art. 18 S. 1 KRF im Verhältnis zu Art. 15 Abs. 1 KRF eine lediglich wiederholende Vorschrift wäre141. Dagegen sprechen die bereits oben erwähnten Gesichtspunkte142. Unklar wäre dann zudem auch die unterschiedliche Wortwahl. Im Übrigen würde das Institut der unmittelbaren Geltung ohne die Möglichkeit der unmittelbaren Wahrnehmung letztlich Gefahr laufen, seine tatsächliche und praktische Wirkung dadurch zu verlieren, dass es von den öffentlichen Gewalten nicht mehr beachtet werden würde. Die Mechanismen der Geltendmachung sind ein unabdingbarer Bestandteil eines rechtsstaatlichen Verständnisses der Menschenrechte. Aus diesen Gründen ist diese Meinung abzulehnen. Dies wird auch durch Art. 15 Abs. 2 KRF bestätigt: Sind die Bürger an die Grundrechte gebunden, so muss ihnen durch den Staat auch die Möglichkeit ihrer Geltendmachung als subjektive Rechtspositionen zur Verfügung gestellt werden. Anderenfalls würde es sich bei dieser Bindung um eine einseitige und zum Teil gegenstandslose Verpflichtung handeln. Die Verletzung dieses Bindungsverhältnisses könnte dann nur der Staat geltend machen. (5) Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich sagen, dass alle Grundrechte der KRF unmittelbar gelten. Die konkretisierenden Gesetze sollen lediglich ihre Schranken und die Prozesse der Geltendmachung bestimmen. Ihre Abwesenheit darf der Wahrnehmung der subjektiven Rechtsposition nicht entgegenstehen. Dies würde den Sinn der Regelung ins Gegenteil verkehren und die Grundrechte erneut vom Erlass einfachgesetzlicher Bestimmungen abhängig machen. Die unmittelbare Wirkung der 139 2_^UQam, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 18, S. 178 f. 140 2_^UQam, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 18, S. 177 – die Unbestimmtheit dieser Umschreibung liegt freilich auf der Hand. 141 Dies wird vom Autor geleugnet: 2_^UQam, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 18, S. 177. 142 s. o. Argumentation am Anfang dieser Bearbeitung C., I., 2., b), bb), (1) und bei Art. 15 Abs. 1.

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Grundrechte in ihrem naturrechtlichen Verständnis vor dem Hintergrund der verfassungsgeberischen Intention bedeutet jedoch schließlich, dass sie dem einzelnen Menschen zustehen, unabhängig davon, ob sie in den geltenden Rechtsnormen Ausdruck gefunden haben oder nicht. Sie können mit allen rechtlichen und tatsächlichen Mitteln innerhalb der Rechtsordnung verteidigt werden. Der Bürger kann sich bei der Wahrnehmung seiner Grundrechte einzig auf den Wortlaut der Verfassung stützen, soweit keine einfachgesetzliche Norm existiert und er in seinen Grundrechten verletzt ist143. Die unmittelbare Geltung darf zwar mit der unmittelbaren Geltendmachung nicht gleichgesetzt werden, jedoch verlangt das Rechtsstaatsprinzip – setzt man den staatlichen Willen voraus, die Grundrechte tatsächlich funktionsfähig zu machen und ihren Schutz zu gewährleisten – die Möglichkeit ihrer unmittelbaren Geltendmachung. Damit liegt der Unterschied zwischen der direkten Wirkung der Verfassung i.S.d. Art. 15 Abs. 1 S. 1 KRF und der unmittelbaren Wirkung der Grundrechte i.S.d. Art. 18 S. 1 KRF darin, dass Letztere den Bürgern zusätzlich eine subjektive Rechtsposition verleiht. Die Grundrechte sind nicht nur von den Staatsgewalten als objektives Recht zu beachten, sondern können auch von den Bürgern geltend gemacht werden. In diesem Zusammenhang stellt sich schließlich die Frage, ob die Grundrechte auch im Verhältnis zwischen den Bürgern eine unmittelbare Wirkung entfalten, also ob sich ein Bürger im Fall einer privatrechtlichen Auseinandersetzung unmittelbar auf diese berufen darf. Art. 18 S. 1 KRF richtet sich, wie bereits ausgeführt, nicht an einen bestimmten Adressaten. Da die Grundrechte gemäß Art. 2, 15 Abs. 2 und 18 S. 2 KRF die Staatsgewalten binden, ist in diesem Verhältnis die unmittelbare Wirkung als ihre Folge nicht von der Hand zu weisen. Der Staat hat die Grundrechte zu achten und zu schützen, unabhängig von der Existenz einer konkretisierenden Norm. Anderenfalls könnte er sich dieser Verpflichtung durch legislatives Unterlassen entledigen und die Bürger hätten, wenn der Inhalt der Normen des ersten Teils des zweiten Kapitels der KRF keine subjektiven Rechte verleihen würde, nicht einmal eine Möglichkeit, gegen dieses Verhalten zu klagen. Für das Verhältnis zwischen den Bürgern, und damit auch für die Frage, ob Art. 18 S. 1 KRF als sogenannter Maßstab der Rechtmäßigkeit auch dort wirkt, gibt diese Norm jedoch keine eindeutige Antwort. Da der Schluss des zweiten Satzes kein zwingender ist, ist die Antwort in anderen Bestimmungen der Verfassung zu suchen. ee) Wechselwirkung grundrechtlicher Positionen i.S.d. Art. 17 Abs. 3 KRF Auch Art. 17 Abs. 3 KRF könnte einen verfassungsrechtlichen Anknüpfungspunkt für eine direkte Wirkung der Grundrechte unter Privaten darstellen. Dieser besagt, dass die Wahrnehmung der Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers die Rechte und Freiheiten anderer nicht verletzen darf. 143

ýd[QiVSQ (aVU.), @aQSQ hV\_SV[Q, S. 210 f.

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Dieser verfassungsrechtliche Gedanke ist für das russische Verfassungsrecht nicht neu. So bediente sich bereits die Verfassung der UdSSR 1977 in ihrem Art. 39 Abs. 2 einer ähnlicher Formulierung: Statt von der Wahrnehmung sprach die Verfassung von der Benutzung und setzte sich gleichzeitig zum Ziel, die Interessen der Bürger nicht nur mit solchen anderer Bürger in Einklang zu bringen, sondern auch vorrangig mit denen der Gesellschaft und des Staates. (1) Adressatenkreis der Norm Art. 17 Abs. 3 KRF wirft nun vor allem die Frage auf, ob sich sein Regelungsgehalt auch an die Bürger richtet und diese damit bei der Wahrnehmung eigener Grundrechte auch an die der anderen bindet. Dies würde seinerseits bedeuten, dass Art. 18 S. 1 KRF als „Maßstab rechtmäßigen Handelns“ auch im horizontalen Verhältnis wirkt. Art. 17 Abs. 3 KRF weist einige Ähnlichkeit mit dem Begriff der „praktischen Konkordanz“ auf, jedoch liegt der Unterschied darin, dass es dort um die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit einer staatlichen Handlung und hier gerade um die Wahrnehmung der Grundrechte geht, sodass es zwar Parallelen geben kann, diese aber nur darin liegen, dass die Interessen einzelner Bürger ins Gleichgewicht zueinander gebracht werden sollen. Die inhaltlich ähnliche Abwägung passiert aber auf unterschiedlichen Stufen. Bei der praktischen Konkordanz geht es um die Abwägung auf der letzten Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung einer staatlichen Maßnahme, die den Schutzbereich vorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte verkürzt. Bei der Wahrnehmung i.S.d. Art 17 Abs. 3 KRF geht es dagegen um eine allgemeine Schranke bei der Ausübung aller Grundrechte. Geht man von dem zu Art. 15 Abs. 2 KRF Gesagten aus, also von der gleichartigen Bindung der dort aufgezählten Rechtssubjekte, sowie von ihrer systematischen Grundlagenposition, so ist diese Bestimmung an die Organe der Staatsgewalt, der örtlichen Selbstverwaltung, an Amtsträger, Bürger und deren Vereinigungen adressiert. Die andere Interpretation wäre, dass die Bürger nur gegenüber dem Staat an verfassungsrechtliche Pflichten gebunden sind und Art. 17 Abs. 3 KRF unter Anknüpfung an die Kant’sche Rechtslehre144 lediglich eine allgemeine Schranke der Grundrechte i.S.d. Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes verankert. Zieht man einen rechtshistorischen Vergleich zu Art. 39 Abs. 2 VerfUdSSR 1977, so könnte man daraus insofern einen Umkehrschluss folgern, als dass der Verfassungsgesetzgeber mit der Entfernung anderer Adressaten aus der Bestimmung nur noch natürliche Personen als Subjekte dieser Norm verpflichten wollte. Die Norm formuliert indes allgemein, dass sich „die Wahrnehmung“ erst einmal nicht auf einen bestimmten Adressaten bezieht. Sie könnte sich deshalb entweder an

144 Kant, Die Metaphysik der Sitten, Erster Theil, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Königsberg, 1797, VI, S. 230.

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alle in Art. 15 Abs. 2 KRF aufgezählten Rechtssubjekte richten oder aber teleologisch oder systematisch einen besonderen Adressatenkreis haben. Gegen die Inanspruchnahme des Staates als Adressaten der Grundrechtswahrnehmung spricht bereits, dass es naturgemäß nicht Aufgabe des Staates ist bzw. nicht zum Kreis seiner Befugnisse gehört, Grundrechte wahrzunehmen. Der Staat muss die Grundrechte vielmehr anerkennen, wahren und schützen, Art. 2 S. 2 KRF – dies sind seine Pflichten. Letztlich kann der Staat die Grundrechte auch tatsächlich nicht wahrnehmen, vor allen Dingen weil er keine Grundrechte hat. Diese stehen nach dem Wortlaut der jeweiligen Verfassungsbestimmungen nur den Bürgern zu, so ausdrücklich Art. 2 S. 1, 17, 18 S. 1 und Art. 19 bis 63 KRF. Der Staat ist damit kein Grundrechtsträger. Auch spricht gegen die Grundrechtsfähigkeit des Staates die Tatsache, dass diese nur persönlich geltend gemacht werden können, Art. 125 Abs. 4 Alt. 1 KRF i.V.m. Art. 96 Abs. 1 KSRFZ145. Daraus folgt, dass die Grundrechte grundsätzlich146 nur von ihren Trägern, also von den Bürgern und deren Vereinigungen wahrgenommen werden können. Damit richtet sich die Norm an die Bürger, sodass diese bei der Wahrnehmung ihrer Grundrechte die Grundrechte anderer zu beachten haben. Daraus folgt zugleich auch die Wirkung von Art. 18 S. 1 KRF im horizontalen Verhältnis. (2) Art. 17 Abs. 3 KRF als verfassungsunmittelbare Schranke Diese Schlussfolgerung entspricht auch der Sicht der Literatur147. Danach geht es bei der Regelung des Art. 17 Abs. 3 KRF um eine natürliche, immanente Schranke eines jeden Grundrechts, um die „goldene Verhaltensregel“148. Kein Grundrecht, keine Grundfreiheit könne uneingeschränkt gewährt werden149. Der Grund dafür 145 EVUVaQ\m^lZ ;_^bcYcdgY_^^lZ 8Q[_^ „? ;_^bcYcdgY_^^_] BdUV A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY“ (fo¨derales Verfassungsgesetz u¨ber das Verfassungsgericht der Russischen Fo¨deration) vom 21. 07. 1994 N 1-E;8 in der Fassung vom 28. 12. 2010, B8 AE 25. 07. 1994/13/ 1447. 146 Daneben kann auch der Ombudsmann, welcher gemäß Art. 103 Abs. 1 f.) KRF ein Verfassungsorgan ist, nach Art. 125 Abs. 4 KRF i.V.m. Art. 29 Abs. 1 Var. 5) des föderalen Verfassungsgesetzes über den Ombudsmann in der Russischen Föderation (EVUVaQ\m^lZ ;_^bcYcdgY_^^lZ 8Q[_^ _R D`_\^_]_hV^^_] `_ @aQSQ] HV\_SV[Q S A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY _c 26. 2. 1997 T. N 1-E;8, B8 AE 03. 03. 1997/9/1011) eine Verfassungsbeschwerde einlegen. 147 NRXVVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 17, S. 173; Art. 55, S. 479. 148 NRXVVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 17, S. 173. 149 2QafQc_SQ, ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY (`_bcQcVZ^lZ), Art. 15, S. 15; ;_^of_SQ, S: 5]YcaYVS (aVU.), ;_^bcYcdgYp A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, þQdh^_-`aQ[cYhVb[YZ `_bcQcVZ^lZ ;_]]V^cQaYZ, Cc. 18, S. 43; @pc[Y^Q S: ?[d^m[_S (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 17, S. 41; BQU_S^Y[_SQ, ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY (`_bcQcVZ^lZ), Art. 17, S. 11. Mit dieser Behauptung la¨sst sich zumindest in Bezug auf die Menschenwu¨rde i.S.d. Art. 21 Abs. 1 KRF streiten. Wenn der Mensch ein Selbstwert ist, so mu¨sste seine Wu¨rde unantastbar sein.

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wird darin gesehen, dass jeder Mensch in einer Gesellschaft lebt, in der jede Wahrnehmung des Rechts auf irgendeine Art und Weise die Rechte und Freiheiten anderer berührt150. Damit handelt es sich hier um eine Verhaltensregel gegenüber anderen Personen, ihren Vereinigungen und der Gesellschaft als solchen. Daraus wird auch das allgemeine Verbot des Rechtsmissbrauchs gefolgert151. Konkretisiert wird es durch die einfachgesetzlichen Regelungen, wie z. B. die Einschränkung der Vertragsfreiheit zum Schutz des schwächeren Kontrahenten. Gleichzeitig wird daraus gefolgert, dass das Verhalten so lange rechtmäßig ist, wie die Rechte und Freiheiten anderer nicht verletzt werden152. Daneben regelt Art. 56 KRF die Möglichkeit der Grundrechtseinschränkungen für den Fall des Ausnahmezustands, und Art. 55 Abs. 3 KRF stellt zusätzlich eine allgemeine verfassungsunmittelbare Schranke dar, welche eine Konkretisierung zu den Art. 15 Abs. 1 S. 2, 18 S. 2 KRF darstellt153. In diesem Sinne ist auch die von Ebzeev aufgeworfene Frage, ob es sich bei Art. 17 Abs. 3 KRF auch um ein an den Gesetzgeber gerichtetes Prinzip handelt154, zu beantworten: Die Norm richtet sich nicht direkt an den Gesetzgeber, sondern nur an die Grundrechtsträger. Indes muss der Staat, um einen fruchtbaren Rahmen für verfassungsgemäßes Verhalten der Bürger zu schaffen, den Gedanken des Art. 17 Abs. 3 KRF auch bei seiner Tätigkeit beachten. Dieser These steht auch nicht entgegen, dass die das Verhalten des Einzelnen konkretisierende Gesetze erst erlassen werden müssen. Der Inhalt dieser Norm richtet sich nur mittelbar an die Legislative. Sie muss beachten, dass die Gesetze ein solches Verhalten ermöglichen155. Dies dient letztlich der Rechtssicherheit und ermöglicht erst die Wahrnehmung der Grundrechte durch den Einzelnen. (3) Zusammenfassung Art. 17 Abs. 3 KRF richtet sich also an den Menschen als verfassungsrechtliches Subjekt und begründet die unmittelbare Wirkung der Grundrechte auf die Rechtsverhältnisse unter Privaten. Daraus und aus der Zusammenschau mit den Art. 15 Abs. 2, 18 S. 1 KRF folgt die unmittelbare Bindung der Bürger an die Grundrechte.

150 NRXVVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 17, S. 172. 151 ;_^of_SQ, S: 5]YcaYVS (aVU.), ;_^bcYcdgYp A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, þQdh^_`aQ[cYhVb[YZ `_bcQcVZ^lZ ;_]]V^cQaYZ, Cc. 17, S. 41; NRXVVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 17, S. 173. 152 NRXVVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 17, S. 173. 153 Ausführlich dazu sogleich, C., I., 2., b), ff). 154 NRXVVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 17, S. 173. 155 NRXVVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 17, S. 172 f.

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ff) Schranken der Grundrechte: Art. 17 Abs. 3, 55 Abs. 2, Abs. 3, 56 KRF Damit wäre als Nächstes der Frage nachzugehen, wie weit ein Grundrecht eingeschränkt werden kann und wie sich dies auf die Wirkung der Grundrechte unter Privaten auswirkt. Nach Ansicht der Literatur stellt die russische Verfassung bereits an sich (auch neben der Garantie) eine übergreifende Einschränkung der Grundrechte dar, indem sie die Wechselwirkung von Rechten und Pflichten in der Gesellschaft regelt156. Im Folgenden werden nur die allgemeinen Schranken aus den Art. 17 Abs. 3, 55 Abs. 2, Abs. 3 und 56 KRF zur Vervollständigung des Bildes der direkten und unmittelbaren Wirkung der Grundrechte unter Privaten betrachtet. Auf die einzelnen speziellen, verfassungsunmittelbaren Schranken des jeweiligen Grundrechts, wie z. B. die des Art. 22 Abs. 2 KRF, wird hier nicht näher eingegangen. (1) Art. 17 Abs. 3 KRF Wie man bereits anhand der Analyse des Art. 17 Abs. 3 KRF sehen konnte, richtet sich diese Norm an die Bürger und hat die Regulierung ihrer rechtlichen Beziehungen zum Gegenstand. Insofern stellt Art. 17 Abs. 3 KRF primär eine allgemeine, verfassungsimmanente Schranke der Grundrechte für den Fall ihrer Wahrnehmung durch die Bürger dar157. Zugleich bestimmt diese Norm aber auch die Tätigkeit des Gesetzgebers158. Dies geschieht mittelbar über die staatliche Schutzpflicht aus Art. 2 KRF, sodass auch der Staat bei seiner Tätigkeit auf die Einhaltung des status quo der Grundrechte achten muss159. Verglichen mit Art. 2 Abs. 1 GG, welcher eine besondere Schranke des Grundrechts auf freie Entfaltung der Person darstellt, muss Art. 17 Abs. 3 KRF hingegen als eine allgemeine Schranke jeder Grundrechtsausübung, seiner Form nach einer Generalklausel ähnlich, verstanden werden. (2) Art. 55 Abs. 2, Abs. 3 KRF (a) Art. 55 Abs. 2 KRF: Aufhebung und Schmälerung der Grundrechte und Freiheiten des Bürgers Art. 55 und 56 i.V.m. Art. 2 KRF sind hingegen an den Staat und nicht an die Bürger gerichtet. Ausgehend von seiner Schutzpflicht muss der Staat die Grundrechte der Bürger einschränken, dies jedoch nur zu diesem bzw. zu den dort ge156 NRXVVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 55, S. 477. 157 NRXVVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 55, S. 479. 158 HVcSVa^Y^ (aVU.), ;_^bcYcdgYp A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY. @a_R\V]^lZ [_]]V^cQaYZ, S. 9. 159 1iYf]Y^Q, ;_^bcYcdgY_^^_-`aQS_S_Z ]VfQ^YX] _TaQ^YhV^Yp `aQS Y bS_R_U hV\_SV[Q Y TaQWUQ^Y^Q S A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, S. 24.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

nannten Zwecken, und nur soweit nötig160. Die absolute Grenze jeder Grundrechtseinschränkung bildet dabei Art. 55 Abs. 2 KRF161. Danach dürfen keine Gesetze erlassen werden, welche die Grundrechte und Freiheiten des Bürgers aufheben oder schmälern würden162. Dieser Grundsatz steht im Einklang mit der naturrechtlichen Tradition und folgt aus Art. 17 Abs. 2 KRF, der die Unantastbarkeit der Grundrechte postuliert. Gemeint ist mit dem Begriff der Aufhebung die Aushebelung eines Grundrechtstatbestandes163. Mit Schmälerung ist hingegen eine Verengung von Grenzen des jeweiligen Grundrechts oder seines materiellen Gehalts gemeint, genauer gesagt die Nivellierung seines materiellen Wertes oder eine qualitative Änderung des Grundrechtsgehalts164. Dies ist dann der Fall, wenn die gesetzlich bestimmten Rahmen der Grundrechtsausübung enger sind, als dies aus der Sicht des grundlegenden Inhalts dieser Rechte und Freiheiten notwendig wäre165. In diesem Sinne urteilte auch das Verfassungsgericht der Russischen Föderation166. In der betreffenden Entscheidung ging es darum, dass es nach dem geltenden Gesetz von Moskau zu Einschränkungen in Bezug auf die Größe eines Grundstücks kam, auf dem von einer Person ein Sachenrecht geltend gemacht werden konnte. In dem Fall hatte die Klägerin ein lebenslanges Nutzungsrecht an einem größeren Grundstück inne, auf dem ihr Eigentumshaus stand. Von der öffentlichen Verwaltung wurde ihr ein Mietvertrag in Bezug auf den „überschüssigen“ Rest angeboten. Da das Grundrecht auf Eigentum gemäß Art. 35 KRF alle Sachenrechte schützt167, hatte das Verfassungsgericht entschieden, dass das betreffende Gesetz das fragliche Nutzungsrecht i.S.d. Art. 55 Abs. 2 KRF geschmälert habe168.

160 HVcSVa^Y^, A_bbYZb[Qp [_^bcYcdgY_^^Qp [_^gV`gYp `aQS_`_^Y]Q^Yp, ;_^bcYcdgY_^^_V `aQS_: 3_bc_h^_VSa_`VZb[_V _R_XaV^YV 2003, S. 28, 32. 161 8_am[Y^, ;_^bcYcdgYp Y `aQSQ hV\_SV[Q S XXI SV[V, S. 86; HVcSVa^Y^ (aVU.), ;_^bcYcdgYp A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY. @a_R\V]^lZ [_]]V^cQaYZ, S. 9. 162 Dazu allgemein: @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 30. 10. 2003 N 15-@, B8 AE 03. 11. 2003/ 44/4358. 163 NRXVVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 55, S. 478. 164 ýQ`QVSQ, @a_R\V]Q _TaQ^YhV^Yp `aQS Y bS_R_U hV\_SV[Q Y TaQWUQ^Y^Q S ;_^bcYcdgYY AE (_`lc U_[caY^Q\m^_T_ _b]lb\V^Yp), 7da^Q\ a_bbYZb[_T_ `aQSQ 2005, N 7, S. 13, 20; NRXVVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 55, S. 478. 165 ýQ`QVSQ, @a_R\V]Q _TaQ^YhV^Yp `aQS Y bS_R_U hV\_SV[Q Y TaQWUQ^Y^Q S ;_^bcYcdgYY AE (_`lc U_[caY^Q\m^_T_ _b]lb\V^Yp), 7da^Q\ a_bbYZb[_T_ `aQSQ 2005, N 7, S. 13, 20. 166 @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 13. 12. 2001 N 16-@, B8 AE 24. 12. 2001/52 (2)/5014, Ziff. 3 f. 167 Ständige Rspr. seit: @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 16. 05. 2000 N 8-@, B8 AE 22. 05. 2000/ 21/2258, Ziff. 3. 168 @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 13. 12. 2001 N 16-@, B8 AE 24. 12. 2001/52 (2)/5014, Ziff. 6.

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Diese Rechtsprechung wurde später insoweit präzisiert, als dass der Gesetzgeber bei seiner Tätigkeit innerhalb verfassungsrechtlich bestimmter Grenzen die Grundrechte nur so weit einschränken darf, wie das Grundrecht in seinem Wesen nicht verletzt wird und seinen tatsächlichen Inhalt nicht verliert169. Die Regelung des Art. 55 Abs. 2 KRF ist insoweit mit der „Wesensgehaltsgarantie“ i.S.d. Art. 19 Abs. 2 GG vergleichbar170. Zugleich würde ein Gesetz, das gegen Art. 55 Abs. 2 KRF verstößt, auch gegen Art. 18 S. 2 und Art. 15 Abs. 1 S. 2 KRF verstoßen, die nach Art. 15 Abs. 1 S. 1 KRF direkt gelten. (b) Allgemeine Grundrechtsschranke des Art. 55 Abs. 3 KRF (aa) Inhaltliche Vorgaben der Art. 55 Abs. 3 KRF Obwohl Art. 55 Abs. 3 KRF dies nicht ausdrücklich ausspricht, können die Grundrechte nur in den von der Verfassung bestimmten Fällen eingeschränkt werden171. Das bedeutet, die Einschränkung kann nur dann und nur soweit erfolgen, wie dies von den jeweiligen Grundrechten bzw. durch Art. 17 Abs. 3 KRF als zulässig bestimmt ist. Dies ergibt sich aus der Systematik der KRF und der Tatsache, dass die von der Verfassung in den jeweiligen Bestimmungen niedergelegten Schranken sonst gegenstandslos wären. Dabei spielt Art. 55 Abs. 3 KRF auch eine ausgleichende Rolle zwischen den gesellschaftlichen und persönlichen Interessen, wobei die Interessen der Allgemeinheit ebenfalls der Sicherung individueller Rechte dienen sollen172. Art. 55 Abs. 3 KRF konkretisiert somit die verfassungsimmanenten Schranken der jeweiligen Grundrechte hinsichtlich ihres legitimen Zwecks bzw. hinsichtlich der Werte, zu deren Gunsten grundrechtliche Positionen eingeschränkt werden können173, wobei sein Tatbestand je nach dem jeweiligen einzuschränkenden Grundrecht auch enger ausfallen kann174. 169 @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 30. 10. 2003 N 15-@, B8 AE 03. 11. 2003/44/4358, Ziff. 3; HVcSVa^Y^ (aVU.), ;_^bcYcdgYp A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY. @a_R\V]^lZ [_]]V^cQaYZ, S. 9. 170 s. auch ýQ`QVSQ, @a_R\V]Q _TaQ^YhV^Yp `aQS Y bS_R_U hV\_SV[Q Y TaQWUQ^Y^Q S ;_^bcYcdgYY AE (_`lc U_[caY^Q\m^_T_ _b]lb\V^Yp), 7da^Q\ a_bbYZb[_T_ `aQSQ 2005, N 7, S. 13, 20; @YaRdUQT_SQ, ; S_`a_bd _ [_^bcYcdgY_^^lf `aVUV\Qf _TaQ^YhV^Yp _b^_S^lf `aQS Y bS_R_U hV\_SV[Q Y TaQWUQ^Y^Q S A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, OaYUYhVb[YZ ]Ya 2009, N 12, S. 15. 171 @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 30. 10. 2003 N 15-@, B8 AE 03. 11. 2003/44/4358, Ziff. 3; ýQ`QVSQ, @a_R\V]Q _TaQ^YhV^Yp `aQS Y bS_R_U hV\_SV[Q Y TaQWUQ^Y^Q S ;_^bcYcdgYY AE (_`lc U_[caY^Q\m^_T_ _b]lb\V^Yp), 7da^Q\ a_bbYZb[_T_ `aQSQ 2005, N 7, S. 13, 18 ff. mit Verweis auf Art. 19 Abs. 1 GG; =Q\Y^_Sb[Qp, @aQS_]Va^_V _TaQ^YhV^YV [_^bcYcdgY_^^lf `aQS Y bS_R_U hV\_SV[Q Y TaQWUQ^Y^Q S A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, S. 35; @YaRdUQT_SQ, ; S_`a_bd _ [_^bcYcdgY_^^lf `aVUV\Qf _TaQ^YhV^Yp _b^_S^lf `aQS Y bS_R_U hV\_SV[Q Y TaQWUQ^Y^Q S A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, OaYUYhVb[YZ ]Ya 2009, N 12, S. 15, 17; NRXVVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 55, S. 479. 172 NRXVVS, 2.B., S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 55, S. 479. 173 ýQ`QVSQ, @a_R\V]Q _TaQ^YhV^Yp `aQS Y bS_R_U hV\_SV[Q Y TaQWUQ^Y^Q S ;_^bcYcdgYY AE (_`lc U_[caY^Q\m^_T_ _b]lb\V^Yp), 7da^Q\ a_bbYZb[_T_ `aQSQ 2005,

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

(bb) Gesetzgebungskompetenz des Art. 55 Abs. 3 KRF Die Regelung des Art. 55 Abs. 3 KRF lässt Einschränkungen der Grundrechte nur durch föderale Gesetze zu. Das bedeutet zunächst, dass nur der föderale Gesetzgeber die Rechtsakte, welche die Grundrechte i.S.d. Art. 55 Abs. 3 KRF einschränken, erlassen darf. Es handelt sich somit um eine Frage der Kompetenzverteilung, die in den Art. 71 f. KRF näher erläutert wird. Um der Vielfalt denkbarer Grundrechtseinschränkungen und damit einer möglichen Diskriminierung abhängig vom Aufenthalts- oder Wohnort vorzubeugen, darf diese Kompetenz auch nicht an die Subjekte der Russischen Föderation delegiert werden175. Im Einklang damit macht Art. 71 c) KRF die Regelung und den Schutz von Rechten und Freiheiten des Menschen und Bürgers zur ausschließlichen Kompetenz der Föderation. Gleichzeitig gehört gemäß Art. 72 Abs. 1 b) KRF auch der Schutz der Rechte und Freiheiten des Bürgers zu den gemeinsamen Kompetenzen. Damit sind aufgrund der Formulierung „Gesetze“ (und nicht etwa „föderale Gesetze“) die in Art. 24 Abs. 2, Art. 35 Abs. 1 und 34 Abs. 1 KRF erwähnten zulässigen Gesetze zur Einschränkung der jeweiligen Rechte nur solche Schutzgesetze, die durch die Subjekte der Russischen Föderation erlassen werden dürfen176. Dies hängt unmittelbar mit der universellen Verpflichtung des Staates als solchem zusammen, das heißt mit der Verpflichtung all seiner Organe, die Rechte des Menschen i.S.d. Art. 2 S. 2, 18 S. 2 KRF zu schützen177. Damit gehört der Schutz der Menschenrechte sowohl zur Kompetenz der Föderation als auch zu der gemeinsamen. Dies führt zu einem scheinbaren Widerspruch bei der Zuständigkeit. Die Kompetenz der Föderation ist eine ausschließliche178. Bereits aus diesem Grund scheint eine gemeinsame Kompetenz eigentlich undenkbar. Gleichzeitig haben die föderalen Gesetze auf diesem Gesetzgebungsgebiet Vorrang vor den Gesetzen der Subjekte der Russischen Föderation, Art. 4 Abs. 2, 76 Abs. 2, Abs. 5

N 7, S. 13, 18 ff.; ;adbb, CV_aYp [_^bcYcdgY_^^_T_ `aQS_`_\mX_SQ^Yp, S. 244; @YaRdUQT_SQ, ; S_`a_bd _ [_^bcYcdgY_^^lf `aVUV\Qf _TaQ^YhV^Yp _b^_S^lf `aQS Y bS_R_U hV\_SV[Q Y TaQWUQ^Y^Q S A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, OaYUYhVb[YZ ]Ya 2009, N 12, S. 15; @hV\Y^gVS, @aVUV\l _TaQ^YhV^YZ `aQS Y bS_R_U hV\_SV[Q S db\_SYpf _b_Rlf `aQS_Slf aVWY]_S: b_SaV]V^^lV `_Uf_Ul, „7da^Q\ a_bbYZb[_T_ `aQSQ“ 2005, N 8, S. 3. 174 @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 19. 04. 2010 N 8-@, B8 AE 3. 05. 2010/18/2276, Sondervotum des Richters Gadshiev; ýQ`QVSQ, @a_R\V]Q _TaQ^YhV^Yp `aQS Y bS_R_U hV\_SV[Q Y TaQWUQ^Y^Q S ;_^bcYcdgYY AE (_`lc U_[caY^Q\m^_T_ _b]lb\V^Yp), 7da^Q\ a_bbYZb[_T_ `aQSQ 2005, N 7, S. 13, 18 ff. 175 HVcSVa^Y^ (aVU.), ;_^bcYcdgYp A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY. @a_R\V]^lZ [_]]V^cQaYZ, S. 10. 176 HVcSVa^Y^, (aVU.), ;_^bcYcdgYp A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY. @a_R\V]^lZ [_]]V^cQaYZ, S. 10. 177 2_^UQam, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 72, S. 599. 178 IQfaQZ, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 71, S. 544.

I. Untersuchung des russischen Verfassungsrechts

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KRF179. Was den Subjekten als Kompetenz bleibt, ist damit der Ausbau schutzrechtlicher Bestimmungen, die sich aus den föderalen Gesetzen ergeben, somit also nur ihre Vervollständigung180. Zwar dürfen die Subjekte im Fall des Fehlens von föderalen Rechtsnormen eine „überholende“ Regelung erlassen, diese muss dann aber bei Inkrafttreten eines föderalen Gesetzes diesem entsprechend angepasst werden181, anderenfalls wäre sie nach Art 76 Abs. 5 KRF unwirksam. Letztlich muss zugegeben werden, dass die verfassungsrechtliche Regelung hier widersprüchlich ist. Der Widerspruch kann deswegen nur schwerlich aufgelöst werden, weil eine Schutzregelung meist auch gleichzeitig eine Grundrechtseinschränkung nach sich ziehen wird. Die Kompetenz der Subjekte der Russischen Föderation stellt ihrem Inhalt nach daher nur eine Ableitung der föderalen Kompetenz i.S.d. Art. 71 c) KRF dar. (cc) Der Gesetzesvorbehalt des Art. 55 Abs. 3 KRF als Parlamentsvorbehalt Die Bestimmung des Art. 55 Abs. 3 KRF scheint jedoch auch aus einem anderen Grund unerfüllbar, wenn man sie wortwörtlich nimmt. Geht man davon aus, dass die Grundrechte nur durch föderale Gesetze eingeschränkt werden können, ist es doch offensichtlich, dass sowohl durch Gesetzesnormen eines der Subjekte der Russischen Föderation als auch Verordnungen und Akte der Verwaltung die Grundrechte der Bürger meist einschränken werden. Dieser Widerspruch spitzt sich angesichts der Regelungen der Art. 80 Abs. 2, 82 Abs. 1, 90 Abs. 2 i.V.m. Art. 125 Abs. 2 KRF zu, wonach solche Kompetenzen auch dem Präsidenten zustehen, da dieser Direktiven erlassen kann. Auch der Regierung stehen entsprechende Kompetenzen zu, Art. 114 Abs. 1 f), 115 Abs. 1, 125 Abs. 2 a) KRF. Dieser Widerspruch kann nur aufgelöst werden, indem Art. 55 Abs. 3 KRF als „aufgrund eines föderalen Gesetzes“ gelesen wird182. Für ein solches Verständnis spricht auch die Regelung des Art. 76 Abs. 2 bis 6 KRF, welche die Rangordnung von Rechtsnormen in der Russischen Föderation regelt. 179

@_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 29. 11. 2004 N 17-@, B8 AE 06. 12. 2004/49/4948, Ziff. 4.1. ?`aVUV\V^YV ;B AE _c 24. 02. 2011 N 255-?-?, (unvero¨ffentlicht), Ziff. 2.2; @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 11. 03. 2008 N 4-@, A_bbYZb[Qp 4QXVcQ, 19. 3. 2008/4615, Ziff. 2.2.; @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 23. 03. 2000 N 4-@, 3Vbc^Y[ ;B AE, 2000/3, Ziff. 3, 5; ?`aVUV\V^YV ;B AE _c 22. 10. 1999 N 162-?, 3Vbc^Y[ ;B AE, 2000/2, Ziff. 3. 181 2_^UQam, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 72, S. 600. 182 Ebzeev ist deshalb nur insoweit zuzustimmen, als dass der föderale Gesetzgeber einen Rahmen für die Handlungen der Subjekte der Russischen Föderation und der Verwaltung schaffen muss, vgl. NRXVVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 55, S. 478; dagegen kann der fo¨derale Gesetzgeber nicht alle Bereiche der Grundrechtseinschra¨nkungen regeln – dies folgt sowohl aus der Kompetenzverteilung i.S.d. Art. 71 ff. KRF und dem fo¨deralen Aufbau der Russischen Fo¨deration i.S.d. Art. 65 KRF ff. als auch aus dem Gewaltenteilungsprinzip bzw. der Aufgabenverteilung zwischen der Legislative und der Exekutive, Art. 10, 110 ff. KRF; dafu¨r spricht auch die Entscheidung des KSRF @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 27. 04. 1998 N 12-@, B8 AE 04. 05. 1998/18/2063, Ziff. 3. 180

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

Somit kann die gemeinsame Kompetenz als überflüssig betrachtet werden. Eine Kompetenz der Subjekte der Russischen Föderation folgt zum einen aus der Möglichkeit, eigene Gesetze aufgrund föderaler Gesetze zu erlassen, und zum anderen kann die Grenze zwischen Schutz und Eingriff meist nur schwer gezogen werden. Gesetze, die die Grundrechte nur schützen, ohne auch gleichzeitig in sie einzugreifen, sind nur in Bezug auf die Einschränkung staatlicher Maßnahmen denkbar; auch hier wären es aber nur wenige Fälle, sodass für eine solche Kompetenz äußerst wenig Raum bliebe. (dd) Art. 55 Abs. 3 KRF als Verankerung des Verhältnismäßigkeitsprinzips Die Einschränkungen i.S.d. Art. 55 Abs. 3 KRF dürfen weiterhin nur in dem Maße erfolgen, in dem sie dazu auch notwendig sind, Art. 55 Abs. 3 KRF. Damit kommt das Prinzip der Verhältnismäßigkeit zum Ausdruck. Hier müssen die Gerichte darauf achten, dass diese Formulierung nicht zu weit ausgelegt183, sondern gerade als Verhältnismäßigkeitsprinzip verstanden wird. Um dieser Gefahr entgegenzuwirken wurden von Literatur und Rechtsprechung mehrere Anforderungen an die Rechtmäßigkeit der Schranken i.S.d. Art. 55 Abs. 3 KRF herausgearbeitet184. So dürfen die in den einfachen Gesetzen niedergelegten Schranken nicht erweiternd ausgelegt werden185. Aus diesem Grund müssen sie auch bestimmt und deutlich sein186. Solche Gesetze dürfen nicht zur Einschränkung anderer als der von ihrem Zweck bestimmten Rechte und Freiheiten der Bürger herangezogen werden187 und keine rückwirkende Kraft haben188. Schließlich hat das Verfassungsgericht der Russischen Föderation der deutschen Verhältnismäßigkeitsprüfung ähnliche Anforderungen189 in Bezug auf legitimen Zweck, Erforderlichkeit, Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne an die Verfassungsmäßigkeit der grundrechtseinschränkenden Gesetze aufgestellt190. Die hier skizzierte Vorgehensweise bei der Prüfung von Grundrechtsverletzungen stellt bislang leider noch keine einheitliche Dogmatik dar. Darin können aber durchaus solche Bestrebungen erblickt werden. 183

2QT\QZ, ;_^bcYcdgY_^^_V `aQS_ A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, S. 167. 8_am[Y^, ;_^bcYcdgYp Y `aQSQ hV\_SV[Q S XXI SV[V, S. 85 ff. 185 @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 20. 12. 1995 N 17-@, B8 AE 01. 01. 1996/1/54, Ziff. 3. 186 @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 30. 10. 2003 N 15-@, B8 AE 03. 11. 2003/44/4358, Ziff. 3. 187 Ebenda. 188 Ebenda. 189 Zur Genese des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, 5VU_S, C_aQX]Va^_bcm _TaQ^YhV^Yp bS_R_Ul `aVU`aY^Y]QcV\mbcSQ, S. 9 ff., wo auf die deutschen Wurzeln hingewiesen wird. 190 @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 30. 10. 2003 N 15-@, 03. 11. 2003/44/4358, Ziff. 3; 3_\[_SQ, ?RjVbcSV^^Qp RVX_`Qb^_bcm Y XQ[_^_UQcV\mbcS_ _ `aQSQf hV\_SV[Q, 7da^Q\ a_bbYZb[_T_ `aQSQ N 2, 2005, S. 93 ff.; 5VU_S, C_aQX]Va^_bcm _TaQ^YhV^Yp bS_R_Ul `aVU`aY^Y]QcV\mbcSQ, S. 25 ff.; =Q\Y^_Sb[Qp, @aQS_]Va^_V _TaQ^YhV^YV [_^bcYcdgY_^^lf `aQS Y bS_R_U hV\_SV[Q Y TaQWUQ^Y^Q S A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, S. 34 f. 184

I. Untersuchung des russischen Verfassungsrechts

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Des Weiteren benennt die Verfassung ausdrücklich die Zwecke, zu welchen die Grundrechte eingeschränkt werden dürfen. Aufgrund der verwendeten sprachlichen Form ist diese Aufzählung enumerativ und deshalb als abschließend zu betrachten191. Danach können Grundrechte zum Zweck des Schutzes von Grundlagen der Verfassungsordnung, Moral, Gesundheit, Rechten und gesetzlichen Interessen anderer sowie zur Gewährleistung der Landesverteidigung und Staatssicherheit unter den oben genannten Voraussetzungen eingeschränkt werden. Die aufgezählten Werte sind dabei nicht als ein zu den verfassungsunmittelbaren Schranken zusätzlicher verfassungsrechtlicher Auftrag anzusehen, sondern vielmehr als eine weitere Schranke für den Gesetzgeber192. Ob diese Aufzählung geglückt ist, scheint auch in Anbetracht ihrer historischen Intention fraglich. Die Formulierung entstand als Entsprechung zu den völkerrechtlichen Verträgen193. So wiederholt die Benennung der Interessen anderer die Regelung des Art. 17 Abs. 3 i.V.m. 2 S. 2 KRF194, welche bereits einen entsprechenden Auftrag an den Gesetzgeber normiert. Überdies gehört die Gesundheit auch zu den Rechten anderer, sodass eine erneute Benennung überflüssig scheint. Des Weiteren wird Moral als legitimer Zweck der Grundrechtseinschränkung benannt. Der Begriff der Moral ist jedoch ein sehr unbestimmter, wenn nicht sogar ein leerer195. Der Inhalt dieses Begriffs variiert von Person zur Person, sodass kaum von der Moral einer bestimmten Gesellschaft gesprochen werden kann. Auch hier ist Tschetvernin zuzustimmen wenn er sagt, dass die rechtliche Freiheit einer Person ihr gerade so weit ein unmoralisches Verhalten erlaubt, wie dies die Rechte anderer nicht berührt196. Schließlich können die Grundrechte auch zum Zweck des Schutzes der Verfassungsordnung eingeschränkt werden. Dabei kann die verfassungsrechtliche Ordnung ihrem normativen Inhalt nach nicht über oder in eine Reihe mit den Grundrechten gestellt werden197. Sie wird im Rahmen der durch die Konstitution als zulässig bestimmten Grenzen vielmehr als ihr Garant angesehen und zudem als Gesamtheit der 191

HVcSVa^Y^ (aVU.), ;_^bcYcdgYp A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY. @a_R\V]^lZ [_]]V^cQaYZ, S. 8. 192 @YaRdUQT_SQ, ; S_`a_bd _ [_^bcYcdgY_^^lf `aVUV\Qf _TaQ^YhV^Yp _b^_S^lf `aQS Y bS_R_U hV\_SV[Q Y TaQWUQ^Y^Q S A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, OaYUYhVb[YZ ]Ya 2009, N 12, S. 15, 17. 193 ýQ`QVSQ, @a_R\V]Q _TaQ^YhV^Yp `aQS Y bS_R_U hV\_SV[Q Y TaQWUQ^Y^Q S ;_^bcYcdgYY AE (_`lc U_[caY^Q\m^_T_ _b]lb\V^Yp), 7da^Q\ a_bbYZb[_T_ `aQSQ 2005, N 7, S. 13 ff. 194 s. o. C., I., 2., b), ff), (1). 195 Zu diesem Begriff und unterschiedlichen Definitionen: =Q\Y^_Sb[Qp, @aQS_]Va^_V _TaQ^YhV^YV [_^bcYcdgY_^^lf `aQS Y bS_R_U hV\_SV[Q Y TaQWUQ^Y^Q S A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, S. 32 f. 196 HVcSVa^Y^, A_bbYZb[Qp [_^bcYcdgY_^^Qp [_^gV`gYp `aQS_`_^Y]Q^Yp, ;_^bcYcdgY_^^_V `aQS_: 3_bc_h^_VSa_`VZb[_V _R_XaV^YV 2003, S. 28, 32. 197 Ebenda.

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grundrechtlichen Positionen in ihrem darüber hinaus bestehenden Mehrwert, welcher zugleich diesen zu dienen bestimmt ist, als schützenswert erachtet. (ee) Landesverteidigung und Staatssicherheit: die Schranken der Art. 55 Abs. 3 und Art. 56 KRF Schließlich ist gemäß Art 55 Abs. 3 KRF eine Einschränkung der Grundrechte auch zur Gewährleistung der Landesverteidigung und Staatssicherheit zulässig. Die Landesverteidigung ist ausschließlich im Falle eines Krieges als solche zu verstehen198. Bei der Staatssicherheit muss es sich aufgrund des systematischen Zusammenhangs mit der Landesverteidigung ebenfalls um gemeinsame, dauerhafte Interessen aller Bürger handeln. Eine andere Auslegung würde sich mit der Regelung des Art. 56 KRF, welche die Möglichkeit einer vorübergehenden und gegebenenfalls teilweisen Einschränkung von Grundrechten regelt, überschneiden199. Es stellt sich somit die Frage nach dem Verhältnis zwischen dieser Einschränkungsmöglichkeit und der Schranke des Art. 56 KRF. Art. 56 KRF regelt die Möglichkeit der Einschränkung von Grundrechten für den Notstandsfall. Dabei verweist die Regelung auf ein föderales Verfassungsgesetz, welches gemäß dem zweiten Absatz die Fälle und das Verfahren des Verhängens eines Ausnahmezustands bestimmt200. Die Einschränkungen aufgrund dieser Norm dürfen ausdrücklich nur zum Schutz der Verfassungsordnung und der Bürger vorgenommen werden. Dabei müssen diese beiden Zwecke aus Gründen effektiven Bevölkerungsschutzes nicht kumulativ vorliegen. Zugleich darf die jeweilige Einschränkung nur unter Angabe ihrer Grenzen und der Geltungsfrist, also nur möglichst weitgehend bestimmt und befristet ergehen. Aus diesen Anforderungen, welche die Verfassung an die so erlassenen, grundrechtseinschränkenden Bestimmungen stellt, folgt, dass diese nur in viel engeren Grenzen als denen i.S.d. Art. 55 Abs. 3 KRF zulässig sind. Daher kann auch der Notstandsfall i.S.d. Art. 56 KRF nicht mit dem Kriegsfall bzw. der Staatssicherheit i.S.d. Art. 55 Abs. 3 KRF verwechselt werden. Folglich darf der Staat aufgrund des Gesetzes über den Ausnahmezustand (bzw. gemäß Art. 4, 5 des Gesetzes über den Ausnahmezustand durch Erlass des Präsidenten) in die Grundrechte – mit Ausnahme der in Art. 56 Abs. 3 KRF genannten201 – weiter als durch die verfassungsimmanenten bzw. verfassungsunmittelbaren Schranken bestimmt, eingreifen. Damit stellt Art. 56 Abs. 1 KRF einen Sonderfall, 198 HVcSVa^Y^ (aVU.), ;_^bcYcdgYp A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY. @a_R\V]^lZ [_]]V^cQaYZ, S. 11 f. 199 Ebenda. 200 EVUVaQ\m^lZ ;_^bcYcdgY_^^lZ XQ[_^ _ haVXSlhQZ^_] `_\_WV^YY, N 3-E;8 vom 30. 05. 2001 (aVU. 07. 03. 2005) B8 AE 04. 06. 2001/23/2277. 201 Diese werden jedoch nicht schon deswegen als absolute Grundrechte anerkannt, so das KSRF: @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 06. 07. 1998 N 21-@, B8 AE 13. 07. 1998/28/3394, Ziff. 2; @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 30. 07. 2001 N 13-@, B8 AE 06. 08. 2001/32/3412, Ziff. 4; s. dazu auch CQaYR_, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 56, S. 485; diese Regelung ist deshalb mit dem Art. 79 Abs. 3 GG nicht vergleichbar.

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das heißt ein lex specialis zum Fall des Krieges bzw. der Staatssicherheit i.S.d. Art. 55 Abs. 3 KRF dar, sodass die übrigen, durch Art. 56 Abs. 1 KRF nicht modifizierten Grundsätze bestehen bleiben; insbesondere bleibt die Grenze des Art. 55 Abs. 2 KRF unantastbar202. Nach Meinung einiger Autoren wird das Verhältnismäßigkeitsprinzip in diesen Fällen insoweit modifiziert, als dass das jeweilige Mittel das einzig wirksame und adäquate, gleichzeitig aber auch das am besten geeignete sein muss203. Der Staat hat seine Handlungen damit unter strengere Kontrolle zu stellen, sodass sich seine Einschätzungsprärogative verengt. (ff) Vergleichende Betrachtung des Regelungsinhalts des Art. 55 Abs. 3 KRF Auch die Grundrechte des Grundgesetzes sollten zunächst eine dem Art. 55 Abs. 3 KRF ähnliche, allgemeine Schranke erhalten. So enthielt Art. 21 Abs. 3 und 4 des Entwurfs vom Herrenchiemsee (1948) noch folgende Formulierung: „Die Grundrechte sind, soweit sich aus ihrem Inhalt nichts anderes ergibt, im Rahmen der allgemeinen Rechtsordnung zu verstehen. Eine Einschränkung der Grundrechte ist nur durch Gesetz und unter der Voraussetzung zulässig, dass es die öffentliche Sicherheit, Sittlichkeit und Gesundheit zwingend erfordert204“. Die Urheber des Grundgesetzes entschieden sich im Weiteren jedoch für ein ausdifferenziertes Schrankensystem. Eine allgemeine, für alle Grundrechte gleichermaßen geltende Schranke erschien ihnen als Generalklausel gefährlich, sodass man bemüht war, für jedes einzelne Grundrecht eine individuelle Lösung zu finden. Deswegen besteht auch nicht die ungeschriebene, generelle Möglichkeit einer Einschränkungsrechtfertigung205. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf einen sogenannten „Gemeinschaftsvorbehalt“. Wie gezeigt gingen die Mütter und Väter der KRF ihren eigenen Weg, indem sie nicht nur eine doch sehr ähnliche Regelung des Art. 55 Abs. 3 KRF in die Verfassung aufnahmen, sondern sich daneben um vorrangig geltende, spezielle Schrankenbestimmungen bemühten206. Jede Grundrechtseinschränkung muss sich deshalb vor 202

ýQ`QVSQ, @a_R\V]Q _TaQ^YhV^Yp `aQS Y bS_R_U hV\_SV[Q Y TaQWUQ^Y^Q S ;_^bcYcdgYY AE (_`lc U_[caY^Q\m^_T_ _b]lb\V^Yp), 7da^Q\ a_bbYZb[_T_ `aQSQ 2005, N 7, S. 13, 15. 203 ýd[QiVSQ (aVU.), @aQSQ hV\_SV[Q, S. 114 f. 204 JöR N.F. 1 (1951), S. 177. 205 BVerfGE 30, 173, 191 ff.; dazu auch Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 105; Dreier, in: ders. GG, Vorb. Rn. 84. 206 Ob damit eine Herabsetzung des Schutzniveaus schrankenlos gewährleisteter Grundrechte einherging, kann zumindest aus dogmatischer Sicht im Rahmen dieser Arbeit nicht eindeutig beantwortet werden – dies würde eine umfangreiche, vergleichende Analyse der Rechtsprechung beider Länder voraussetzen, die nicht Gegenstand dieser Arbeit ist. Klar scheint jedoch, dass eine Einschränkung aufgrund des Art. 55 Abs. 3 KRF im Gegensatz zu der Abwägung mit den anderen Grundrechten und anderen mit Verfassungsrang ausgestatteten Werten im Wege der „praktischen Konkordanz“ den Staatsgewalten weniger Begründungsmühen abverlangt.

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allen Dingen in ihrer Rechtmäßigkeit an der Natur des jeweiligen Grundrechts orientieren207. In der Differenz dieser Regelungen der beiden Verfassungen tritt zugleich ihr unterschiedliches Grundrechtsverständnis in Bezug auf das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft zu Tage. gg) Verfassungsrechtliche Pflichten (1) Verfassungsrechtliche Pflichten im System der KRF Über die Pflichten des Staates ist bereits oben einiges gesagt worden208. Die wichtigste staatliche Pflicht ist die, die Grundrechte anzuerkennen, zu wahren und zu schützen, Art. 2 S. 2 KFR. Diese Pflicht ist auch die einzige Legitimation des Staates. Daneben normiert die russische Verfassung aber auch ausdrücklich die Pflichten der Bürger. So legt die KRF teils nur den Bürgern, teils allgemein allen Menschen einige Verhaltenspflichten auf. Auch diese Entwicklung im Verfassungsrecht kann zumindest zum Teil durch den Einfluss der Rechtsdoktrin vergangener Zeit erklären werden209. So müssen die Bürger und ihre Vereinigungen die Verfassung befolgen, Art. 15 Abs. 2 KRF [s. bereits oben C., I., 2., b), cc)]; jeder muss bei Ausübung seiner Grundrechte die der anderen beachten, Art. 17 Abs. 3 KRF. Art. 38 Abs. 2 KRF erlegt den Eltern die Pflicht zur Erziehung ihrer Kinder auf, Art. 43 Abs. 4 S. 2 KRF verpflichtet sie, den Kindern den Zugang zur Ausbildung zu gewährleisten. Gemäß Art. 44 Abs. 3 KRF ist jeder verpflichtet, historisches und kulturelles Erbe und Denkmäler zu erhalten und zu bewahren. Art. 57 KRF verankert die Pflicht zur Steuerzahlung, Art. 58 KRF verpflichtet zum sorgsamen Umgang mit der Natur, Art. 59 KRF erlegt den russischen Bürgern eine allgemeine Wehrpflicht auf usw. Dabei formuliert die Verfassung die Pflichten des Bürgers sowohl direkt als auch in Form von Verboten210. Wie aus dem Inhalt der durch die Verfassung benannten Pflichten folgt, könnten darunter manche als direkte Korrelate der Grundrechte aufgefasst werden. Andere dagegen sind scheinbar eigenständige, verfassungsrechtliche Institute. Überdies wird in der Literatur anerkannt, dass die Grundrechte des einen diesen auch ohne eine ausdrückliche Regelung zur Beachtung derer des anderen verpflichten211. Dies scheint im Lichte der Art. 15 Abs. 2, 17 Abs. 3, 18 KRF und der daraus resultierenden, direkten Wirkung der Grundrechte auf die Rechtsverhältnisse unter Bürgern 207

;adbb, CV_aYp [_^bcYcdgY_^^_T_ `aQS_`_\mX_SQ^Yp, S. 249. Zum Art. 2 S. 2 KRF s. o. C., I., 2., b), aa). 209 So zitiert z. B. 3Ycad[, ?RjQp cV_aYp `aQS_S_T_ `_\_WV^Yp \Yh^_bcY, S. 248, ausschließlich Quellen aus der sowjetischen Zeit. 210 Zu der Typologie von den Pflichten: NRXVVS, ýYh^_bcm Y T_bdUQabcS_: SXQY]^Qp _cSVcbcSV^^_bcm Y [_^bcYcdgY_^^lV _RpXQ^^_bcY, S. 243 ff. 211 1SQ[mp^, ;_^bcYcdgY_^^_V `aQS_ A_bbYY, C_] 1, S. 796 f.; 3Ycad[, ?RjQp cV_aYp `aQS_S_T_ `_\_WV^Yp \Yh^_bcY, S. 251. 208

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folgerichtig. So ergibt sich aus dem Grundrecht auf Leben i.S.d. Art. 20 Abs. 1 KRF das Verbot, einen Menschen zu töten. Die strafrechtliche Folge212 stellt eine Sanktion dar, welche sich aus dem russischen Grundrechtsverständnis heraus als eine Folge der Wechselwirkung zwischen den Grundrechten und -pflichten eines jeden und den Schutzpflichten des Staates ergibt. Dieses Verhältnis begründet jedoch gerade keine Wechselseitigkeit von Rechten und Pflichten213. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Formulierung des Art. 24 Abs. 1 KRF im Gegensatz zu seinem zweiten Absatz214. Der erste Absatz ist in Bezug auf das Verbot des Sammelns und Verwendens von privaten Informationen Dritter allgemein, der zweite dagegen nur an die öffentlichen Gewalten adressiert. Freilich ist der Regelungsgehalt des zweiten Absatzes, welcher den Zugang des Betroffenen zu den Informationen betrifft, die der Staat über sein Leben hat, ein anderer und zugleich auch ein engerer. Der Umkehrschluss, der erste Absatz richte sich auch an die Bürger, wäre daher, ebenfalls in Verbindung mit den Regelungen der Art. 15 Abs. 2, 17 Abs. 3, 18 KRF, zulässig. Dieselbe Schlussfolgerung würde dann auch auf die meisten anderen Grundrechte zutreffen. Damit sind Verbote bestimmten Verhaltens keine eigenständigen Bürgerpflichten, sondern lediglich verfassungsrechtliche Normierungen von Schranken der Grundrechte, bzw. eine logische Folge der Art. 15 Abs. 2, 17 Abs. 3, 18 KRF. Die vom Staat aufgestellten, die Verfassung konkretisierenden Schranken der Grundrechte tragen als jeweilige Grenzen der Grundrechtsausübung zur Regulierung von Rechtsverhältnissen zwischen Privaten bei und verhelfen den Konstitutionsbestimmungen in ihrer Geltung zu mehr Bestimmtheit und so zur Steigerung ihrer Funktionsfähigkeit in der Gesellschaft. (2) Originäre verfassungsrechtliche Pflichten und ihr Verhältnis zu den Grundrechten Etwas anderes könnte aber für die originären verfassungsrechtlichen Pflichten215 gelten. Solche sind in Art. 15 Abs. 2, 57, 58216 und 59 KRF geregelt. Es fragt sich daher, ob diese ein selbstständiges Institut neben den Grundrechten darstellen.

212 1SQ[mp^, ;_^bcYcdgY_^^_V `aQS_ A_bbYY, C_] 1, S. 797; das Thema des strafrechtlichen Schutzes der Grundrechte wird unter 4. na¨her erla¨utert. 213 HVcSVa^Y^ (aVU.), ;_^bcYcdgYp A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY. @a_R\V]^lZ [_]]V^cQaYZ, S. 14 f. 214 Dieses Beispiel führt auch Avakian an: 1SQ[mp^, ;_^bcYcdgY_^^_V `aQS_ A_bbYY, C_] 1, S. 796 f. 215 1SQ[mp^, ;_^bcYcdgY_^^_V `aQS_ A_bbYY, C_] 1, S. 796 f.; 3Ycad[, ?RjQp cV_aYp `aQS_S_T_ `_\_WV^Yp \Yh^_bcY, S. 251 f. 216 Wobei man die Pflicht aus Art. 58 KRF ebenfalls als Ableitung des Grundrechts aus Art. 42 KRF sehen könnte, so auch 2_T_\oR_S, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 58, S. 491.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

Dieses Thema ist in der Literatur noch nicht entsprechend behandelt worden, sodass sich noch kein einheitliches Konzept herausgebildet hat217. Ein Teil der Literatur betrachtet die Pflichten des Bürgers, neben seinen Rechten, als unabdingbare Bestandteile eines jeden Rechtssystems, dessen Regulierung gerade durch die Wechselwirkung dieser beiden Elemente erreicht wird. Damit würden die beiden Institute grundsätzlich gleichberechtigt nebeneinander stehen218. Dies folgt aus dem oben beschriebenen Verständnis der Verfassung als Gesellschaftsordnung219. Gleichzeitig erscheint es notwendig anzumerken, dass das Rechtsinstitut verfassungsrechtlicher Pflichten bereits in den Verfassungen der UdSSR existierte und die wichtigste Methode der politischen und juristischen Regulierung der kommunistischen Gesellschaft darstellte220. Es wird deshalb von der Wissenschaft nicht als neu, sondern vielmehr als selbstverständlich sowie eher reflexartig und ohne eine dogmatische Rekapitulation betrachtet221. Dabei werden diese Pflichten als natürliche 217

s. ausführlich zu dieser Problematik: NRXVVS, ýYh^_bcm Y T_bdUQabcS_: SXQY]^Qp ¨ brigen existiert nicht _cSVcbcSV^^_bcm Y [_^bcYcdgY_^^lV _RpXQ^^_bcY, =_b[SQ 2007. Im U einmal Einigkeit u¨ber die Bezeichnung dieser Rechtsfigur, es wird na¨mlich sowohl von verfassungsrechtlichen Pflichten als auch von Verantwortlichkeit gesprochen, was zwar unterschiedliche Aspekte der Problematik behandelt, jedoch auf denselben Kern zuru¨ckfu¨hrt: 2Q\Q[Y^Q, ;_^bcYcdgY_^^lV `aQSQ, bS_R_UQ Y _RpXQ^^_bcY hV\_SV[Q Y TaQWUQ^Y^Q, þ_S_bYRYab[ 2010; 2V\_b[dab[Qp, ;_^bcYcdgY_^^Qp _cSVcbcSV^^_bcm [Q[ b`_b_R _RVb`VhV^Yp Yb`_\^V^Yp [_^bcYcdgY_^^lf _RpXQ^^_bcVZ hV\_SV[Q Y TaQWUQ^Y^Q, 4_bdUQabcSV^^Qp S\Qbcm Y ]Vbc^_V bQ]_d`aQS\V^YV, 2011 N 1 S. 31; 4_a_f_SgVS, ;_^bcYcdgY_^^Qp _cSVcbcSV^^_bcm S A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, =_b[SQ 2008; 7_TY^, ;_^bcYcdgY_^^Qp _cSVcbcSV^^_bcm [Q[ _RkV[c cV_aVcY[_-`aQS_S_T_ Ybb\VU_SQ^Yp, @V^XQ 2008; 8QSmp\_S, ;_^bcYcdgY_^^Qp _cSVcbcSV^^_bcm [Q[ _b_RlZ SYU oaYUYhVb[_Z _cSVcbcSV^^_bcY, 3_\T_TaQU 2002; ;QRQ[_SQ, ;_^bcYcdgY_^^lV _RpXQ^^_bcY TaQWUQ^ S A_bbYY: nS_\ogYp `aQS_S_Z aVT\Q]V^cQgYY Y `aQ[cY[Q aVQ\YXQgYY, ;aQb^_UQa 2006; ;Q`Yc_^_SQ, ;_^bcYcdgY_^^lV _RpXQ^^_bcY aVRV^[Q S A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, @V^XQ 2010; ;_\_b_SQ, ;_^bcYcdgY_^^Qp _cSVcbcSV^^_bcm — bQ]_bc_pcV\m^lZ SYU oaYUYhVb[_V _cSVcbcSV^^_bcY, 4_bdUQabcS_ Y `aQS_, 1997, N 2 S. 86; ;_iV\VS, ;_^bcYcdgY_^^Qp _cSVcbcSV^^_bcm S A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, VV bcQUYY, ?]b[ 2006; @_`_S, BYbcV]Q [_^bcYcdgY_^^lf _RpXQ^^_bcVZ TaQWUQ^ AE, BQaQc_S 2008; IVbcQVS (aVU.), ;_^bcYcdgY_^^lV `aQSQ Y _RpXQ^^_bcY \Yh^_bcY: bR_a^Y[ ]QcVaYQ\_S =VWSdX_Sb[_Z ^Qdh^_Z [_^eVaV^gYY, =_b[SQ 2007; I_^, ;_^bcYcdgY_^^Qp _cSVcbcSV^^_bcm, 4_bdUQabcS_ Y `aQS_, 1995 N 7, S. 35; FQhQcda_S, OaYUYhVb[YV _RpXQ^^_bcY TaQWUQ^Y^Q A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY. @a_R\V]l cV_aYY Y `aQ[cY[Y, BQ^[c@VcVaRdaT 2000. 218 1SQ[mp^, ;_^bcYcdgY_^^_V `aQS_ A_bbYY, C_] 1, S. 796 f.; 2V\_b[dab[Qp, ;_^bcYcdgY_^^Qp _cSVcbcSV^^_bcm [Q[ b`_b_R _RVb`VhV^Yp Yb`_\^V^Yp [_^bcYcdgY_^^lf _RpXQ^^_bcVZ hV\_SV[Q Y TaQWUQ^Y^Q, 4_bdUQabcSV^^Qp S\Qbcm Y ]Vbc^_V bQ]_d`aQS\V^YV, 2011 N, 1 S. 31; 3Ycad[, ?RjQp cV_aYp `aQS_S_T_ `_\_WV^Yp \Yh^_bcY, S. 254; NRXVVS, ýYh^_bcm Y T_bdUQabcS_: SXQY]^Qp _cSVcbcSV^^_bcm Y [_^bcYcdgY_^^lV _RpXQ^^_bcY, S. 144 ff. 219 s. o. C., I., 1., b). 220 Zu der Genese der verfassungsrechtlichen Pflichten vgl. NRXVVS, ýYh^_bcm Y T_bdUQabcS_: SXQY]^Qp _cSVcbcSV^^_bcm Y [_^bcYcdgY_^^lV _RpXQ^^_bcY, S. 149 ff. 221 Vgl. aus der älteren Literatur: =Qb\V^^Y[_S, ;_^bcYcdgY_^^lV `aQSQ Y _RpXQ^^_bcY TaQWUQ^ BBBA; =QcdX_S/BV]V^V[_, 9bb\VU_SQ^YV `a_R\V]l oaYUYhVb[Yf _RpXQ^-

I. Untersuchung des russischen Verfassungsrechts

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und eigenständige Schranken der Rechte gesehen (wobei doch bereits hier qualitative Ungleichheit beider Kategorien zum Vorschein kommt: Die Pflichten seien danach kein Korrelat, sondern vielmehr eine Schranke, dazu sogleich). Da der Mensch frei geboren wird, jedoch die Vorteile der Gesellschaft in der er lebt nutzt, soll er auch die von der gesellschaftlichen Ordnung auferlegten Pflichten erfüllen222. Zugleich werden die als angeboren angesehenen Freiheiten ohne solche Schranken als Willkürherrschaft und deshalb, angesichts des übergreifenden Ziels das wohlfunktionierende Zusammensein zu gewährleisten, als undenkbar angesehen223. Diese Position offenbart deutliche Parallelen zum status subjectionis bei Jellinek224. Dieser Blickwinkel auf den Menschen und seine Persönlichkeit ist vom Grundsatz her ein anderer als in Deutschland. Während das Grundgesetz die Persönlichkeit als solche als höchsten Wert ansieht, wäre in Russland mit dieser Meinung letztlich kein so großer Schritt weg von der kommunistischen Doktrin getan. Der Mensch wäre so nur im Zusammenhang mit der Gesellschaft zu betrachten, in welche er hineingeboren wurde; seine Freiheiten wären damit gleichzeitig mir der Geburt durch die gesellschaftliche Ordnung determiniert225, die Persönlichkeit würde in Ketten der Gesellschaft liegen. Ihre Rechte wären durch die Pflichten definiert und begrenzt. Das Primat der Persönlichkeit aus Art. 2 KRF wäre dadurch stark relativiert. Deshalb stieß diese Sicht zunehmend auf Widerstand. Gegen sie lässt sich zunächst die Reflexion der kommunistischen Vergangenheit anführen. Genauso wenig, wie man ein Werk zur Rechtsstellung des Bürgers im Staat aus den Zeiten des Kommunismus einfach durch äußerliche Anpassungen auf die geltende demokratische Verfassung anwenden kann, kann die Vorstellung von den Pflichten auf die Vorstellung von den angeborenen (und nicht vom Staat verliehenen) Grundrechten angewendet werden. Dagegen spricht gerade der Wortlaut des Art. 2 KRF. Dieser erlegt dem Staat die Pflicht auf, die Grundrechte der Bürger zu schützen ohne diese von etwaigen Pflichten des Bürgers abhängig zu machen. Ausgehend von dem naturrechtlichen Verständnis der Grundrechte der Verfassung hat der Bürger eine Reihe von Freiheiten, die der Staat anzuerkennen und zu schützen hat. Sie stellen die Rechte des Bürgers gegenüber dem Staat dar und setzen zugleich die Grenzen des staatlichen Handelns. Die Grundrechte sind unbedingt und können nicht von der Erfüllung

^_bcVZ TaQWUQ^ BBBA, B_SVcb[_V T_bdUQabcS_ Y `aQS_ 1980, N 12, S. 16; Fal[Y^, ; S_`a_bd _ `_^pcYY [_^bcYcdgY_^^lf _RpXQ^^_bcVZ b_SVcb[Yf TaQWUQ^. @a_R\V]l [_^bcYcdgY_^^_T_ `aQSQ: =VWSdX_SlZ ^Qdh^lZ bR_a^Y[. 222 NRXVVS, ýYh^_bcm Y T_bdUQabcS_: SXQY]^Qp _cSVcbcSV^^_bcm Y [_^bcYcdgY_^^lV _RpXQ^^_bcY, S. 145. 223 NRXVVS, ýYh^_bcm Y T_bdUQabcS_: SXQY]^Qp _cSVcbcSV^^_bcm Y [_^bcYcdgY_^^lV _RpXQ^^_bcY, S. 146. 224 Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl. Tübingen 1919, S. 86 f.; vgl. dazu auch Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 230 ff. 225 NRXVVS, ýYh^_bcm Y T_bdUQabcS_: SXQY]^Qp _cSVcbcSV^^_bcm Y [_^bcYcdgY_^^lV _RpXQ^^_bcY, S. 146, 170 f.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

etwaiger Pflichten abhängig gemacht werden226. Die Pflichten, die der Staat dem Bürger auferlegt, sind dagegen keine vorstaatlichen „Naturpflichten“227, sondern gerade vom Staat gesetzt. Auch die Pflichten, die das Volk sich selbst auferlegt, sind keine angeborenen, sondern nur willkürliche. Sie müssen sich deshalb ebenfalls an den Grundrechten messen. Der Staat als regulierendes Organ hat kraft seines Verfassungsauftrags die Pflicht, eine funktionierende Gesellschaft mit dem Zweck der Wahrung der Grundrechte zu gewährleisten. Nur in diesem Zusammenhang steht ihm das Recht zu, den Bürgern nach Art. 15 Abs. 2 KRF etwaige Pflichten aufzuerlegen228. Tschetvernin ist deshalb zuzustimmen, dass letztlich nur eine abstrakte Pflicht des Bürgers denkbar ist und dies auch nur zu dem Zweck, dass der Staat seine Verpflichtungen erfüllen kann: nämlich die, durch einfache Gesetze auferlegte, konkrete Pflichten zu erfüllen, Art. 15 Abs. 1 S. 2, 18 KRF229. Damit sind die Pflichten des Bürgers keine eigenständigen Korrelate der Grundrechte, sondern ihre unselbständigen Schranken, die der Staat zum Zweck der Erfüllung seiner Schutzpflichten aufstellen muss. Ein anderer Aspekt den Tschetvernin anführt ist die Beliebigkeit von Pflichten. Bis auf die genannte, allgemeine Pflicht aus Art. 15 Abs. 2 KRF können sie je nach politischer Situation variieren230. Auch das der russischen Verfassung immanente Selbstverständnis als gesellschaftliche Ordnung führt nicht zwangsläufig zur Anerkennung von „Grundpflichten“ als „Vertragspflichten“. Vielmehr ist ein solches Verständnis von der Wechselseitigkeit i.S. einer Vertragstheorie auch der Verfassung der Russischen Föderation fremd. Die Theorie von den „Grundpflichten“ als einem eigenständigen, den Grundrechten ebenbürtigen Institut ist daher abzulehnen und die Grundpflichten als oktroyiert und von den Grundrechten abhängig zu betrachten. (3) Der Stellenwert der verfassungsrechtlichen Pflichten im Licht der direkten Wirkung von Grundrechten Gleichzeitig lässt aber auch die Bindung der Privaten an die der Grundrechte diese in neuem Licht erscheinen. Sie treten für die Bürger nun nicht nur als Rechte auf, sondern stellen gleichzeitig Pflichten im Verhältnis zu anderen Bürgern dar. Dies begründet keine neue Eigenschaft der grundrechtlichen Positionen – neu ist im Vergleich zur Status-Theorie nur ihr Adressat. Diese Pflichten wären auch hier le226 Zu diesem Schluss kommt letztlich auch NRXVVS, ýYh^_bcm Y T_bdUQabcS_: SXQY]^Qp _cSVcbcSV^^_bcm Y [_^bcYcdgY_^^lV _RpXQ^^_bcY, S. 214; s. auch HVcSVa^Y^, A_bbYZb[Qp [_^bcYcdgY_^^Qp [_^gV`gYp `aQS_`_^Y]Q^Yp, ;_^bcYcdgY_^^_V `aQS_: 3_bc_h^_VSa_`VZb[_V _R_XaV^YV 2003, 28, 33. 227 HVcSVa^Y^ (aVU.), ;_^bcYcdgYp A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY. @a_R\V]^lZ [_]]V^cQaYZ, S. 15. 228 HVcSVa^Y^, A_bbYZb[Qp [_^bcYcdgY_^^Qp [_^gV`gYp `aQS_`_^Y]Q^Yp, ;_^bcYcdgY_^^_V `aQS_: 3_bc_h^_VSa_`VZb[_V _R_XaV^YV 2003, S. 28, 33. 229 Ebenda. 230 HVcSVa^Y^, A_bbYZb[Qp [_^bcYcdgY_^^Qp [_^gV`gYp `aQS_`_^Y]Q^Yp, ;_^bcYcdgY_^^_V `aQS_: 3_bc_h^_VSa_`VZb[_V _R_XaV^YV 2003, S. 28, 34.

I. Untersuchung des russischen Verfassungsrechts

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diglich als Schranken der Wahrnehmung eigener Rechtspositionen denkbar. Damit könnte die Status-Theorie grundsätzlich auch im horizontalen Verhältnis angewandt werden. Freilich müsste vor allem aber der status positivus überdacht werden. Die Bürger können zumindest untereinander keine sozialen Leistungen oder die Gewährleistung eines funktionierenden Gesundheitssystems (jeweils Art. 39, 41 KRF) verlangen. Dies sind keine verfassungsrechtlichen Aufträge, die von einzelnen Personen getragen werden können, sondern nur vom Staat bzw. der Gesellschaft, die auch zu deren Erfüllung da ist. Somit kann nur die Gesellschaft in ihrer als Staat gefassten Form Schuldner dieser Ansprüche sein. Dagegen wäre die Frage interessant, ob ein Bürger von einem anderen z. B. Zahlung von entsprechenden Beiträgen oder Steuern verlangen kann, wenn das jeweilige System für seine Funktionsfähigkeit darauf angewiesen ist. Man könnte die Situation verkomplizieren und fragen, ob ein Bürger vom anderen sogar die Erfüllung eigenständiger verfassungsrechtlicher Pflichten verlangen kann, wie beispielsweise die Ableistung des Militärdienstes. Richtig erscheint es, in dieser Situation solche Ansprüche als an den Staat übertragen zu sehen, welcher letztlich auch die Aufgabe trägt, die Funktionsfähigkeit der jeweiligen Institutionen zu gewährleisten. Demgegenüber ist die Geltendmachung von Pflichten der Eltern durch das Kind – und umgekehrt – i.S.d. Art. 38 Abs. 2, Abs. 3 KRF unschwer vorstellbar. Entgegen der deutschen Sicht in Bezug auf Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG erlaubt die direkte Wirkung der Grundrechte unter Bürgern die Anerkennung eines direkt aus der Verfassung stammenden und durch das Unterhaltsrecht ausgestalteten Anspruchs eines Kindes gegen die Eltern, und umgekehrt. Die Konstruktion eines Anspruchs auf die Erfüllung dieser Pflichten durch die Eltern oder das Kind gegenüber dem Staat, welcher der staatlichen Schutzpflicht entspringt, wirkt vor allem angesichts der Schaffung familienrechtlicher Regelungen und Rechtswege zur Geltendmachung solcher Ansprüche gekünstelt oder doch zumindest überflüssig. Gleichzeitig tritt der Widerspruch in der Auslegung der entsprechenden Grundpflicht in der deutschen Rechtstheorie zu Tage: Durch die Anerkennung einer lediglich gegen den Staat gerichteten Wirkung dieser Pflicht wird ihr Inhalt, welcher sich dann in der Schaffung von Rechtsinstituten und Überwachungsstellen wie Jugendämtern erschöpft, weitgehend ausgehöhlt. Eine Klage gegen den Staat mit dem Ziel der Gewährleistung von Elternpflichten ist kaum denkbar, mit der Auferlegung dieser verkappten Pflicht wird gar die staatliche Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG gegenüber dem Kind als erfüllt angesehen231. Warum die Auferlegung einer Pflicht gegenüber einer dritten Partei zum Schutz des Kindeswohls reichen soll ist indes auch deswegen unklar, weil der Staat nach dieser Auslegung, die im Übrigen keine zwingende ist, den Eltern sich selbst gegenüber diese Pflicht auferlegt, sodass man zu einem Zirkelschluss kommt und feststellen muss, dass es schließlich bei der Pflicht des Staates zum Eingreifen bleibt, wenn die Eltern ihm gegenüber diese Pflicht nicht 231

Gröschner, in: Dreier, GG, Art. 6, Rn. 100.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

erfüllen. Gleichzeitig kann diese dem Staat gegenüber nur mittelbar durch den entsprechenden Umgang mit dem Kind erfüllt werden. Aus der Ablehnung der Wirkung dieser Pflicht gegenüber dem Kind folgt letzten Endes, dass sich die im GG statuierte Pflicht weitgehend auf die ohnehin bestehende Schutzpflicht des Staates gegenüber dem Kind aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. 1 Abs. 1 S. 2 GG beschränkt, und damit gegenstandslos bleibt. (4) Die Vorstellung von den Grundpflichten in der deutschen Rechtslehre Wie man gesehen hat ist der Begriff der Grundpflichten dem Grundgesetz nicht fremd, auch wenn er an keiner Stelle ausdrücklich erwähnt wird. Die Grundpflichten werden in Deutschland als dem Individuum durch das Grundgesetz auferlegte und der staatlichen Gemeinschaft gegenüber zu erfüllende Pflichten definiert232. Auch das Bundesverfassungsgericht unterstreicht die „Gemeinschaftsgebundenheit“ des Individuums233, bleibt diesem Thema gegenüber im Übrigen jedoch zurückhaltend. Die Grundpflichten fristen in der deutschen Theorie angesichts einer scharfen Abkehr von der Vorstellung der Weimarer Verfassung sowie zugleich einer starken Betonung liberaler Grundrechtsvorstellung ein Schattendasein, welches von historisch begründeter Skepsis gegenüber dieser Rechtsfigur getragen wird234. Schließlich herrscht auch hier ein ähnlich ungeklärter theoretischer Zustand wie in Russland. Umstritten ist z. B. die Existenz der im Grundgesetz nicht ausdrücklich erwähnten Pflichten. Als solche werden die Pflicht zum Gesetzesgehorsam235, die Steuerpflicht236, Friedenspflicht, Verfassungstreuepflicht, Nichtstörungspflicht und andere genannt237. Daneben führt die Ablehnung der „unmittelbaren Drittwirkung“ von Grundrechten in der Literatur auch zur Ablehnung einer solchen in Bezug auf die Grundpflichten238. Würde man diese jedoch bejahen, so müsste man konsequenterweise auch hier eine Bindung der Bürger an die Grundrechte als Pflichten annehmen239 und sich zum anderen fragen, ob sich diese, je nach Anerkennung einer direkten Wirkung von Grundpflichten, dann in Rechte verkehren würden.

232

Randelzhofer, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte II, § 37, Rn. 1. BVerfGE 4, 7, 15 f. 234 Randelzhofer, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte II, § 37, Rn. 1, 13 ff. 235 Bethge, JA 1985, 249, 256; Isensee, DÖV 1982, 609, 612; ablehnend Pieroth/Schlink, Rn. 210. Eine solche Pflicht, welche noch im Art. 19 des Herrenchiemseer Entwurfs enthalten war, wurde ins Grundgesetz nicht aufgenommen, Stern, Staatsrecht III/2, 985, 1015. 236 Bethge, JA 1985, 249, 257; Stern, Staatsrecht III/2, 985, 1036 f. 237 Stern, Staatsrecht III/2, 985, 1026 ff.. 238 Merten, BayVBl 1978, 554, 555; Randelzhofer, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte II, § 37, Rn. 62. 239 Pieroth/Schlink (21. Aufl.), Rn. 192, welche jedoch darauf hinweisen, dass diese Sicht keine neuen Erkenntnisse mit sich bringt, sondern lediglich die bereits bekannten Probleme seitenverkehrt darstellt. 233

I. Untersuchung des russischen Verfassungsrechts

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Übereinstimmungen bestehen zum einen im Wesentlichen darüber, dass unter den Grundpflichten nicht etwa die Pflichten des Staates gemeint sind240. Zum anderen wird heute auch in Deutschland überwiegend anerkannt, dass die Grundpflichten, im Gegensatz zu den Grundrechten, keine naturrechtliche oder vorstaatliche Wurzel aufweisen241. Zugleich stellt sich ebenfalls die Frage, welche an den Bürger gerichteten Pflichten des Grundgesetzes genau als „Grundpflichten“ bezeichnet werden können, und ob solche direkt wirken oder einer eigenen „Aktualisierung“ durch den Gesetzgeber bedürfen. Sie sollen auch kein Pendant zu den Grundrechten darstellen, sie füllen vielmehr ihre eigenen Funktionen aus. Andererseits können einige von ihnen als Kehrseite der Grundrechte242 oder anderer Staatsprinzipien aufgefasst werden. Systematisch und dogmatisch stellen sie jedoch kein Komplementärstück zu den Grundrechten dar, weder im Sinne einer Symmetrie243, noch als gleichberechtigtes Pendant. Sie sind vielmehr eine selbstständige verfassungsrechtliche Kategorie neben den Grundrechtsschranken, diesen in ihrer Wirkung jedoch ähnlich, wenn hierfür auch ganz unterschiedliche theoretische Vorstellungsansätze in den Raum gestellt werden244. hh) Zusammenfassung Es ist nun ganz zentral für das Verständnis der russischen Verfassungsidentität festzuhalten, dass, während Grundrechte in Deutschland vorrangig als Abwehrrechte gegen den Staat verstanden werden, diese in Russland hingegen in erster Linie dem Staat grundrechtliche Schutzpflichten auferlegen. Zum Schutz grundrechtlicher Güter hat die Legislative Gesetze zu erlassen, welche diesbezügliche Rechtsverhältnisse regeln. Dies folgt aus dem Verständnis der Verfassung als „Satzung“ der Gesellschaft – einer Ordnung der russischen Gemeinschaft. In diesem „flachen“ Aufbau, in dem der Staat die Rolle des „Geschäftsführers“ übernimmt, der zur 240 Merten, BayVBl 1978, 554 f.; Randelzhofer, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte II, § 37, Rn. 20; Stern, Staatsrecht III/2, 985, 999. 241 Dies im Gegensatz von dem früheren Verständnis des Naturrechts, welches die Rechte in untrennbarer Verbindung mit den Pflichten sah, s. dazu Stern, Staatsrecht III/2, 985, 986 ff. Was ihre eigentliche Wurzel ist, bleibt dabei umstritten, vgl. Darstellung bei Randelzhofer, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte II, § 37, Rn. 21 ff. 242 So verhält es sich z. B. mit der Wehrpflicht aus Art. 12a Abs. 1 GG nach Ansicht des BVerfG, welcher in ihr die Kehrseite der staatlichen Schutzpflicht sieht, BVerfGE 48, 127, 161; a.A. Merten, BayVBl 1978, 554, 555 f. 243 Gemeint ist damit die Pflicht das Grundrecht wahrzunehmen, s. Isensee, DÖV 1982, 609, 614 f.; Merten, BayVBl 1978, 554, 557; Randelzhofer, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte II, § 37, Rn. 43 ff., s. insb. seinen Hinweis auf das Verständnis von Grundpflichten in den Staaten des Ostblocks, Rn. 45; Stern, Staatsrecht III/2, 985, 1065 f. 244 Dreier, in: ders., GG, Vorb. Rn. 85; Isensee, DÖV 1982, 609, 614 f.; Pieroth/Schlink (21. Aufl.), Rn. 194, wobei aufgrund der Aktualisierungsnotwendigkeit die Pflichten dann zu Schranken „werden“; Randelzhofer, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte II, § 37, Rn. 43, 54 ff. auch mit Nachweisen zur älteren gegenteiligen Ansicht, welche alle Grundrechtsschranken als Pflichten auffasste und zum Ergebnis kam, dass es keine „echten“ Grundpflichten gäbe; Stern, Staatsrecht III/2, 985, 1052 ff.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der Gesellschaft im Rahmen und nach den Richtlinien der Verfassung berufen ist, bleibt der abwehrrechtlichen Funktion nur eine untergeordnete Bedeutung. Damit kehrt sich das Verfassungsverständnis im Vergleich zu dem in Deutschland dogmatisch um. Ausgehend von dieser Vorstellung der KRF als Gemeinschaftsordnung erscheint die Bindung der Bürger an die Verfassung, und somit auch an die Grundrechte, neben der der Staatsgewalten als einzig logische Folge. Zugleich ergibt es sich aus ihrer Rechtsstellung und Funktion, dass für die „Geschäftsführer“ andere Handlungs- bzw. Bindungsrahmen als für die „Gesellschafter“ gelten müssen. (1) Die Verfassungsrechtliche Vorstellung von der Gesellschaft und der Person Die heutige Verfassungsvorstellung in Russland kann nur vor dem Hintergrund ihrer historischen Entwicklung verstanden werden. In der Verfassung der Russischen Föderation spiegeln sich im Gegensatz zum Grundgesetz und seiner individualistischen Ausrichtung die Vorstellungen vom kollektiven Zusammenleben in der russischen Gesellschaft wider. Der Mensch soll nicht mehr nur als ein Teil einer Gemeinschaft begriffen werden, welchem zu dienen der oberste Wert ist; vielmehr ist er als ein Wert an sich zugleich ein unabdingbarer Teil davon. Das soziale Element spielt, bedingt durch die langjährige kommunistische Vergangenheit, eine zentrale Rolle im russischen Verfassungsverständnis. Eine grundrechtliche Tradition in Russland muss sich erst noch entwickeln, sodass man noch nicht auf eine gefestigte Grundrechtsdogmatik zurückgreifen kann. Der Stellenwert und das Verständnis von Gesellschaft und Staat sind zu der in Deutschland vorherrschenden Vorstellung verschieden. Die Gesellschaft wird in Russland als das tragende Element des Staates bzw. als seine natürliche Grundlage und Voraussetzung verstanden. Der Staat ist seinerseits dazu da, das Zusammenleben in der Gesellschaft zu ordnen und zu verbessern. Dies ist sein einziges Ziel und seine einzige Berechtigung. Es ist aber auch zugleich die Grenze seines Handelns245. Die Verfassung versteht sich selbst als die in Rechtsnormen gefasste, vom russischen Volk gegebene Ordnung der Gesellschaft. Sie vereint mehrere Ziele. Dies sind die Festlegung der Grundwerte246 der Gesellschaft und ihrer Entwicklungsrichtlinien, sowie der Aufbau des öffentlichen Machtapparats. Damit wird die Verfassung als „Satzung“ der Gesellschaft und der Staat als ihre „Geschäftsführung“ verstanden. In diesem Verständnis gibt es aber keinen Platz für die Wechselseitigkeit von Rechten und Pflichten247. Aus dem Blickwinkel des verfassungsrechtlichen 245 ýd[QiVSQ (aVU.), @aQSQ hV\_SV[Q, S. 153; NRXVVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 2, S. 69. 246 8_am[Y^ S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, ;_^bcYcdgYp 1993 T_UQ — `aQS_SQp \VTYcY]QgYp ^_S_Z A_bbYY, S. 11, 17, 21. 247 5]YcaYVS, S: _^ WV (aVU.), ;_^bcYcdgYp A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, þQdh^_`aQ[cYhVb[YZ `_bcQcVZ^lZ ;_]]V^cQaYZ, Art. 2, S. 7; HVcSVa^Y^, A_bbYZb[Qp [_^-

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Verständnisses „verzichtet“248 der Mensch auf einen Teil seiner angeborenen Rechte insoweit, als dass der Staat das Recht, ja gar die Pflicht auferlegt bekommt, in diesem Rahmen die Grundrechte gerade zu ihrem eigenen Schutze einzugrenzen249. Daraus folgt die Pflicht des Bürgers, die vom Staat normierten Pflichten als Schranken seiner Grundrechte anzuerkennen und zu befolgen. Aus der grundrechtlichen Schutzpflicht des Staates resultiert damit, vereinfacht gesagt, die Pflicht des Bürgers, die vom Staat aufgestellten Verhaltensregeln in Form von Gesetzen zu befolgen. Der Staat ist um der Grundrechte Willen da. Seine Legitimation liegt ausschließlich in ihrer Gewährleistung. Nur zu diesem Zweck darf er den Menschen etwaige Pflichten auferlegen. Die ausführliche Regelung der Pflichten in der KRF darf deshalb nicht über ihren Stellenwert hinwegtäuschen. Das verfassungsrechtliche Instrument der Pflichten kann vom Staat nur zur Erfüllung eigener Aufgaben genutzt werden250. Die meisten als Pflichten gefassten Gebote sind sogar keine Pflichten, sondern vielmehr verfassungsunmittelbare Schranken der Grundrechte zugunsten eines Interessenausgleichs unter den Mitgliedern der Gesellschaft. Ein solches Verständnis des Staatsaufbaus kann im Gegensatz zum entsprechenden Verständnis in Deutschland, wo das Individuum dem Staat gegenübergestellt wird und welches man daher als „vertikal“ bezeichnen könnte, als ein „flaches“ verstanden werden. Die russische Verfassung geht von einem überpositiven Grundrechtsverständnis i.S.d. Art. 17 Abs. 2, Art. 2 KRF aus. Danach erschöpft sich der materielle Gehalt der Grundrechte nicht in ihrem normativen Gehalt251, vielmehr sind diese der Rechtsstellung des Menschen immanent. Die Grundrechte sind ein vorstaatlich verstandenes Element seiner Rechtsposition252, wohingegen die Pflichten oktroyiert sind253. Art. 2 S. 2 KRF erhebt Garantie, Gewährleistung und den Schutz der Grundrechte zu den obersten Aufgaben des Staates. Diese Vorstellung passt zugleich nur bedingt zum eingangs beschriebenen „flachen“ Staatsaufbau. Der Wert der Grundrechte in ihrer bcYcdgY_^^Qp [_^gV`gYp `aQS_`_^Y]Q^Yp, ;_^bcYcdgY_^^_V `aQS_: 3_bc_h^_VSa_`VZb[_V _R_XaV^YV 2003, 28, 33. 248 Mit einem Verzicht gemeint ist nur eine in diesem Zusammenhang zu verstehende Fiktion, freilich kann der Mensch auf seine Grundrechte nicht verzichten, Art. 17 Abs. 2 KRF: 5]YcaYVS, S: _^ WV (aVU.), ;_^bcYcdgYp A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, þQdh^_-`aQ[cYhVb[YZ `_bcQcVZ^lZ ;_]]V^cQaYZ, Art. 17, S. 40; @pc[Y^Q, S: ?[d^m[_S (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY (`_bcQcVZ^lZ), Art. 17, S. 40; HVcSVa^Y^, A_bbYZb[Qp [_^bcYcdgY_^^Qp [_^gV`gYp `aQS_`_^Y]Q^Yp, ;_^bcYcdgY_^^_V `aQS_: 3_bc_h^_VSa_`VZb[_V _R_XaV^YV 2003, 28, 34 f. 249 HVcSVa^Y^, A_bbYZb[Qp [_^bcYcdgY_^^Qp [_^gV`gYp `aQS_`_^Y]Q^Yp, ;_^bcYcdgY_^^_V `aQS_: 3_bc_h^_VSa_`VZb[_V _R_XaV^YV 2003, 28, 33. 250 8_am[Y^, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, ;_^bcYcdgYp 1993 T_UQ — `aQS_SQp \VTYcY]QgYp ^_S_Z A_bbYY, S. 11. 251 ;adbb, CV_aYp [_^bcYcdgY_^^_T_ `aQS_`_\mX_SQ^Yp, S. 243. 252 Dies gilt auch angesichts des möglicherweise bestehenden Widerspruchs i.S. einer positivistischen Vorstellung. 253 NRXVVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 17, S. 171.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

naturrechtlichen Vorstellung wird durch die als unabdingbar betrachtete gesellschaftliche Einbettung relativiert, was aufgrund der Erweiterung ihrer Einschränkungsmöglichkeiten bzw. der Veränderung des Gleichgewichts im Wertesystem in der Praxis zur Verminderung ihres Schutzes führt. Als Pendant in einem verfassungsrechtlichen Ausgleich kommen nun nicht nur die Grundrechte anderer, oder gegebenenfalls ein als Summe dieser Grundrechtspositionen zu betrachtendes Allgemeinwohl, sondern das Gemeinwohl als Ausdruck des Wertes der Gesellschaft in Form eines Mehrwerts als zusätzliches Abwägungselement in Betracht. Einen Ausdruck dieser Vorstellung in Russland bildet auch der Katalog legitimer Zwecke von Grundrechtseinschränkungen i.S.d. Art. 55 Abs. 3 KRF, welcher bis zu einem gewissen Grad zu Widersprüchen bezüglich des Stellenwerts des Menschen als Person in einem Staat i.S.d. Art. 2 KRF führt. Zwar nehmen auch in Deutschland die Interessen der Gesellschaft eine wichtige Position ein, sie sind jedoch kein Wert an sich, sondern bilden einen solchen nur als Gesamtheit von Grundrechten Einzelner254. Mit der Vorstellung des Art. 2 S. 2 KRF und aus dem Blickwinkel des beschriebenen Verfassungsverständnisses rücken auch die staatlichen Schutzpflichten in den Vordergrund öffentlicher Aufgaben. Sie ergeben sich aus der Verfassung selbst und sind vom Staat vorrangig zu erfüllen. Dabei müssen die Grundrechte nicht nur vor Eingriffen des Staates255, sondern auch vor rechtswidrigen Übergriffen anderer Menschen geschützt werden, was sowohl präventiv durch entsprechende Normgebung passieren, als auch repressiv sanktioniert werden soll256. In Deutschland hat die grundrechtliche Schutzpflicht des Staates dagegen eine andere Bedeutung und Stellenwert. Nachdem der Bürger nur gegenüber dem Staat Grundrechte hat, kann auch nur dieser sie verletzen. Deshalb spielt diese Schutzpflicht auch nur eine untergeordnete Rolle in der Grundrechtsdogmatik. Genau aus diesem Grund wird sie durch staatliches Unterlassen der durch Verhalten Dritter oder äußere Umstände gebotenen Handlung verletzt. Nur dies bedeutet eine Grundrechtsverletzung, nicht dagegen etwa die Handlung des Privaten, der die Rechtsposition eines anderen Bürgers verletzt. Dass diese Vorstellung in sich nicht stimmig ist, sieht man aber schon daran, dass es um ein und dieselben verletzen Rechtsgüter geht, die dann jeweils von privat- oder verfassungsrechtlicher Seite beurteilt werden. Ob Leben, Gesundheit, Eigentum oder anderes Rechtsgut mit Verfassungsrang – inhaltlich ändert es nichts, ob ein Staatsbediensteter oder ein privater Dritter den Betroffenen tötet, schlägt oder sein Haus willkürlich besetzt. Das Ziel der jeweiligen Handlung liegt außerhalb des Rechtsguts als rechtlicher Figur. Es stellt vielmehr die Eigenschaft der verletzenden Handlung dar und kann deshalb das von dem Grundrecht geschützte Rechtsgut nicht beeinflussen. 254

s. dazu bereits oben C., I., 1., b), ff), (2), (b), (ff). @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 01. 12. 1997 N 18-@, B8 AE 15. 12. 1997/50/5711, Ziff. 1. 256 NRXVVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 2, S. 69. 255

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(2) Unmittelbare und direkte Wirkung der Grundrechte Neben dem Verständnis der grundrechtlichen Schutzpflichten spricht auch die Bindung der Staatsgewalten an die Verfassung und die Grundrechte für die Geltung der Grundrechte im russischen Privatrecht. In diesem Zusammenhang ist erneut auf die direkte und unmittelbare Geltung der Verfassung gemäß Art. 15 Abs. 1 S. 1 KRF bzw. der Grundrechte nach Art. 18 S. 1 KRF hinzuweisen. Die beiden Rechtsinstitute gehen dabei an die Wirkung verfassungsrechtlicher Bestimmungen von unterschiedlichen Seiten heran257. Die „direkte“ Wirkung der Verfassung i.S.d. Art. 15 Abs. 1 S. 1 KRF stellt eine allgemeine Umschreibung verfassungsrechtlicher Geltungskraft und der Tatsache dar, dass die Verfassung auf der einen Seite zu ihrer Geltung keiner konkretisierenden Rechtsnorm bedarf, und auf der anderen ihre Geltungskraft auch im Fall der Existenz solcher Normen nicht verliert258. Damit wird die KRF ins Zentrum des staatlichen Lebens gerückt, wo sie eine direkte regulierende Rolle mittels ihres Wertesystems spielen soll259. Die unmittelbare Wirkung der Grundrechte i.S.d. Art. 18 S. 1 KRF kann als Unterfall der direkten Wirkung der Verfassung verstanden werden260. Sie umschreibt die Geltung der Grundrechte und die Notwendigkeit ihrer Beachtung (diese findet ihren Niederschlag bereits in Art. 15 Abs. 2 KRF) unabhängig von der Existenz einer konkretisierenden Rechtsnorm261, welche ohnehin nur der Konkretisierung grundrechtlicher Positionen und der Regelung ihrer Geltendmachung dient. Daneben wird, wiederum unabhängig von der Existenz einer konkretisierenden Rechtsvorschrift, durch die unmittelbare Grundrechtsgeltung der Person ein subjektives Recht auf die Grundrechtsdurchsetzung verliehen262. 257

NRXVVS, ýYh^_bcm Y T_bdUQabcS_: SXQY]^Qp _cSVcbcSV^^_bcm Y [_^bcYcdgY_^^lV _RpXQ^^_bcY, S. 284. 258 1SUVV^[_SQ, S: 5]YcaYVS (aVU.), ;_^bcYcdgYp A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, þQdh^_`aQ[cYhVb[YZ `_bcQcVZ^lZ ;_]]V^cQaYZ, Art. 15, S. 30; NRXVVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 15, S. 153. 259 ;dcQeY^, A_bbYZb[YZ [_^bcYcdgY_^Q\YX], S. 137. 260 NRXVVS, ýYh^_bcm Y T_bdUQabcS_: SXQY]^Qp _cSVcbcSV^^_bcm Y [_^bcYcdgY_^^lV _RpXQ^^_bcY, S. 284. 261 @_bcQ^_S\V^YV @\V^d]Q 3B AE _c 31. 10. 1995/8 (aVU. oc 06. 02. 2007): „? ^V[_c_alf S_`a_bQf `aY]V^V^Yp bdUQ]Y ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY `aY _bdjVbcS\V^YY `aQS_bdUYp“, A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 28. 12. 1995/247, Ziff. 2; vgl. auch ?`aVUV\V^YV ;B AE _c 22. 05. 1996 N 63-?, „;_^bcYcdgY_^^lZ bdU A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY: @_bcQ^_S\V^Yp. ?`aVUV\V^Yp. 1992 – 1996“, =_b[SQ 1997, Ziff. 2; @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 13. 06. 1996 N 14-@, A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 02. 07. 1996/124, Sondervotum des Richters Vitruk; 2QafQc_SQ, ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY (`_bcQcVZ^lZ), S.15; ;_^of_SQ, S: 5]YcaYVS (aVU.), ;_^bcYcdgYp A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, þQdh^_-`aQ[cYhVb[YZ `_bcQcVZ^lZ ;_]]V^cQaYZ, S. 42; BQU_S^Y[_SQ, ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY (`_bcQcVZ^lZ), S. 11. 262 ýd[QiVSQ (aVU.), @aQSQ hV\_SV[Q, S. 210; @pc[Y^Q S: ?[d^m[_S (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 18, S. 42; BQU_S^Y[_SQ, ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY (`_bcQcVZ^lZ), Art. 18, S. 11.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

Als Beispiel der unmittelbaren Wirkung der Grundrechte kann der aus der Verfassung folgende Anspruch auf Unterhaltsleistungen gemäß Art. 38 Abs. 2 oder Abs. 3 KRF genannt werden. Freilich werden die Unterhaltsansprüche einfachgesetzlich geregelt. Diese Regelungen stellen jedoch nur eine Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Anspruchs dar. Auch in ihrer Abwesenheit könnte der jeweils Berechtigte von dem jeweils Verpflichteten Leistungen fordern. (3) Die Verfassung als universelle Rechtsnorm Keine der beiden Normen gibt jedoch letztlich einen eindeutigen Aufschluss über die Wirkung der Grundrechte im Verhältnis zwischen Privaten. Dies tut schließlich Art. 15 Abs. 2 KRF, wonach die Bürger ausdrücklich neben den Staatsgewalten an die Verfassung gebunden sind. Die Bindung der Staatsgewalten äußert sich dabei in ihrer Pflicht zur Beachtung von verfassungsrechtlichen Bestimmungen, einschließlich der Grundrechte, im Rahmen ihrer hoheitlichen Tätigkeit. Dasselbe gilt auch für die Bürger, die durch Art. 15 Abs. 2 KRF neben den anderen verfassungsrechtlichen Bestimmungen an die Grundrechte gebunden sind. Die Verfassung macht dabei keinen Unterschied in der Art der Grundrechtsbindung. Aufgrund dieser fehlenden Einschränkung in Bezug auf den Umfang müssen auch Bürger die Grundrechte anderer beachten. Die Pflicht zur Beachtung von Grundrechten ist deshalb eine universelle263. Dieses Gebot wiederholt sich dann auch im Art. 17 Abs. 3 KRF, wo es zugleich zu einer allgemeinen, verfassungsimmanenten Grundrechtsschranke erwächst264. Auch beschränkt sich diese Bindung nach der Rechtsprechung des KSRF weder auf die sogenannte „Generalklauseln“, noch auf die Existenz einer konkretisierenden Rechtsnorm überhaupt265. Dies ergibt sich im Übrigen auch aus der Wechselwirkung mit der unmittelbaren Geltung der Grund263

1SUVV^[_SQ, S: 5]YcaYVS (aVU.), ;_^bcYcdgYp A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, þQdh^_`aQ[cYhVb[YZ `_bcQcVZ^lZ ;_]]V^cQaYZ, Art. 15, S. 31, die die Universalita¨t sehr weit sieht, sodass sich die Pflicht auf die Befolgung aller Rechtsnormen beziehen soll; NRXVVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 15, S. 156. Die Universalita¨t ist hier nicht mit der der Menschenrechte zu verwechseln. Diese beiden Begriffe beschreiben nicht dieselbe Eigenschaft, wie man bereits unschwer erahnen konnte. Die „russische“ Universalita¨t meint letztlich die absolute Wirkung der Verfassung, mit welcher diese sowohl die Staatsgewalten als auch die Bu¨rger bindet. Die Tatsache, dass dieser Begriff hier nicht durch den der Absolutheit ersetzt wurde, ist dem Umstand geschuldet, dass dieser Ausdruck auch im Russischen so verwendet wird („[_^bcYcdgYp, [Q[ d^YSVabQ\m^Qp ^_a]Q `aQSQ“). 264 2QafQc_SQ, ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY (`_bcQcVZ^lZ), Art. 15, S. 15; ;_^of_SQ, S: 5]YcaYVS (aVU.), ;_^bcYcdgYp A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, þQdh^_-`aQ[cYhVb[YZ `_bcQcVZ^lZ ;_]]V^cQaYZ, Cc. 18, S. 43; @pc[Y^Q S: ?[d^m[_S (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 17, S. 41; BQU_S^Y[_SQ, ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY (`_bcQcVZ^lZ), Art. 17, S. 11; NRXVVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 17, S. 173. 265 s. z.B. ?`aVUV\V^YV ;B AE _c 21. 12. 2006 N 554-? (unvero¨ffentlicht), Ziff. 2.1; ?`aVUV\V^YV ;B AE _c 04. 12. 2003 N 456-?, 3Vbc^Y[ ;B AE 2004/3, Ziff. 2.

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rechte i.S.d. Art. 18 S. 1 KRF. Damit wird die Verfassung, und somit die Grundrechte, zu einer universellen Rechtsnorm266 und, entsprechend der konstitutionellen Vorstellung, zur Grundlage aller gesellschaftlichen Prozesse in Russland. Die Grundrechte haben folglich nach der Vorstellung der Verfassung der Russischen Föderation eine doppelte Rolle: Auf der einen Seite bilden sie den Inhalt und die Grenzen des staatlichen Handelns, auf der anderen Seite stellen sie aber auch die Grenzen des menschlichen Handelns dar. In dieser Stellung spiegelt sich erneut der Charakter der Verfassung als „Satzung der Gesellschaft“ wider, die der Herstellung und Aufrechterhaltung des inneren Friedens und der verfassungsrechtlichen Ordnung zu dienen berufen ist267. Gerade dazu sieht die Verfassung gemäß Art. 55 Abs. 3 KRF auch die Möglichkeit einer verhältnismäßigen Grundrechtseinschränkung zugunsten gesellschaftlich wertvoller Zwecke vor268. Auch darin drückt sich die Besonderheit der Wertevorstellung der KRF aus. Aus dem Zusammenhang der genannten Normen sowie vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Verständnisses und Art. 15 Abs. 2 KRF lässt sich der Schluss ziehen, dass die Grundrechte auf die Rechtsverhältnisse unter Bürgern unmittelbar anwendbar sind. Dafür spricht auch Art. 17 Abs. 3 KRF, welcher die Regelung von den Rechtsverhältnissen zwischen Bürgern beschreibt und so der unmittelbaren Wirkung der Grundrechte im horizontalen Verhältnis i.S.d. Art. 18 KRF zur Geltung verhilft. Aus diesem Grund ist der Begriff der „Drittwirkung“ in Bezug auf die Rechtsverhältnisse unter Privaten für die russische verfassungsrechtliche Vorstellung kein zutreffender. Da die russische Verfassung die unmittelbare Bindung der Bürger an die Grundrechte festlegt, bzw. das vertikale Staat-Bürger-Verhältnis nicht als ihren vorrangigen Geltungsgrund ansieht, sind die Bürger ja gerade keine „Dritten“, sondern gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft, wenn nicht sogar die vorrangigen Adressaten der Verfassung. (4) Abweichende Meinung in der Literatur: doch nur eine „mittelbare Drittwirkung“? Die Analyse entsprechender verfassungsrechtlicher Normen vor dem Hintergrund ihres historischen und gesellschaftlichen Verständnisses ergibt somit eine durch die Konstitution angeordnete unmittelbare Wirkung der Grundrechte zwischen Privaten. Auch die Bürger haben die Verfassung bzw. die Grundrechte anderer zu achten. In der Literatur finden sich jedoch auch ablehnende Stimmen. So vertritt N. Rumjantsev

266 1SUVV^[_SQ, S: 5]YcaYVS (aVU.), ;_^bcYcdgYp A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, þQdh^_`aQ[cYhVb[YZ `_bcQcVZ^lZ ;_]]V^cQaYZ, Art. 15, S. 31; ;dcQeY^, A_bbYZb[YZ [_^bcYcdgY_^Q\YX], S. 136; NRXVVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 15, S. 156. 267 5VU_S, C_aQX]Va^_bcm _TaQ^YhV^Yp bS_R_Ul `aVU`aY^Y]QcV\mbcSQ, S. 56; NRXVVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 17, S. 168. 268 5VU_S, C_aQX]Va^_bcm _TaQ^YhV^Yp bS_R_Ul `aVU`aY^Y]QcV\mbcSQ, S. 64.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

eine der deutschen Theorie von der mittelbaren Drittwirkung ähnliche Position269. Seiner Ansicht nach kommen bei einer privatrechtlichen Streitigkeit nur die prozessualen Grundrechte zur Geltung270. Einen anderen Anknüpfungspunkt für seine Ansicht sieht er in der Möglichkeit der Individualverfassungsbeschwerde271. Zur Begründung führt er aus, dass die privaten Rechte mit den Grundrechten nichts gemein haben und der russische Zivilprozesskodex die Grundrechte nicht ausdrücklich schützt, Art. 2 GPKRF. Eine weitere Argumentation zur Begründung dieser Position folgt freilich nicht. Indes darf die Grundrechtswirkung aufgrund des Vorrangs der Verfassung (Art. 15 Abs. 1 S. 2 KRF) nicht (nur) anhand einer einfachgesetzlichen Norm untersucht werden. Diese muss vielmehr im Einklang mit der Verfassung stehen bzw. verfassungskonform ausgelegt werden. Eine solche Analyse wird vom N. Rumjantsev nicht vorgenommen. Daneben wird vom Autor vorgebracht, dass nicht alle Grundrechte auch subjektive Rechtspositionen begründen272. Zugleich definiert er die Grundrechte als subjektive Rechtspositionen, die allen Menschen in gleicher Weise zustehen273. Bereits diese beiden Aussagen sind in sich widersprüchlich. Falls nur manche Grundrechte eine subjektiv-rechtliche Rechtsposition begründen, ein Grundrecht aber gleichzeitig in seiner Qualität auch eine subjektive Dimension aufweisen muss, so müsste daraus folgen, dass manche verfassungsrechtlichen Positionen, die von der Konstitution als Grundrechte bezeichnet werden, keine solchen sind. Das kann auch angesichts einer fehlenden Begründung dieser Position nicht überzeugen. Zum anderen ist die subjektiv-rechtliche Komponente der Grundrechte bereits oben ausführlich dargestellt und begründet worden274. Diese Position verdient daher keine Zustimmung. 3. Das russische Verfassungsgericht275 : Eine „Superrevisionsinstanz“? Eine der größten Sorgen der Skeptiker der „unmittelbaren Drittwirkung“ in Deutschland ist es, das BVerfG nicht zu einer „Superrevisionsinstanz“ werden zu lassen276. Sollten die einfachen Gerichte uneingeschränkt an die Grundrechte ge269 Ad]p^gVS (aVU.), ?RVb`VhV^YV `aQS Y bS_R_U hV\_SV[Q `aQS__faQ^YcV\ml]Y _aTQ^Q]Y A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, S. 113 ff. 270 Ad]p^gVS (aVU.), ?RVb`VhV^YV `aQS Y bS_R_U hV\_SV[Q `aQS__faQ^YcV\ml]Y _aTQ^Q]Y A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, S. 118, 126. 271 Ad]p^gVS (aVU.), ?RVb`VhV^YV `aQS Y bS_R_U hV\_SV[Q `aQS__faQ^YcV\ml]Y _aTQ^Q]Y A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, S. 120 ff. 272 Ad]p^gVS (aVU.), ?RVb`VhV^YV `aQS Y bS_R_U hV\_SV[Q `aQS__faQ^YcV\ml]Y _aTQ^Q]Y A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, S. 114. 273 Ad]p^gVS (aVU.), ?RVb`VhV^YV `aQS Y bS_R_U hV\_SV[Q `aQS__faQ^YcV\ml]Y _aTQ^Q]Y A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, S. 116 f. 274 s. o. C., I., 1., b), dd), (4). 275 Zur Entwicklung und der jüngsten Geschichte der Verfassungsgerichtsbarkeit in Russland: Morsˇcˇakova, Verfassungsgerichtsbarkeit – ein Neubeginn in Russland, in: Nussberger/Schmidt/Morsˇcˇakova, Verfassungsrechtsprechung in der Russischen Föderation, S. 1 ff. 276 Vgl. z. B. Kokott, in: dies./Rudolf, Gesellschaftsgestaltung, S. 65 f. m.w.N.

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bunden sein, so wäre, überspitzt gesagt, jede Entscheidung eines ordentlichen Gerichts nicht nur vom Bundesgerichtshof, sondern auch vom Bundesverfassungsgericht zu überprüfen. Denn jede unrichtige Entscheidung verletzt die unterliegende Partei in ihren Grundrechten. Nimmt man an, dass das russische Rechtssystem eine Einwirkung der Grundrechte auf das Privatrecht, in welcher Weise auch immer, zulässt, so stellt sich dieselbe Frage nach der Stellung des KSRF in Russland. Auch in Russland existiert das Rechtsinstitut der Individualverfassungsbeschwerde, Art. 125 Abs. 4 KRF i.V.m. Art. 3 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 1, 96 – 100 KSRFZ. Gemäß Art. 125 Abs. 4 KRF prüft das russische Verfassungsgericht bei Verletzung verfassungsmäßiger Rechte und Freiheiten auf Antrag der Bürger oder auf Ersuchen von Gerichten die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes, welches in dem konkreten Fall angewendet worden ist oder angewendet werden sollte. Mit dieser Norm regelt die Verfassung der Russischen Föderation nun gleichzeitig die konkrete Normenkontrolle und die Individualverfassungsbeschwerde, welche ausweislich des Gesetzes über das Verfassungsgericht unterschiedliche Verfahren sind (Art. 96 bis 100 KSRFZ für die Verfassungsbeschwerde und Art. 101 bis 104 KSRFZ für die konkrete Normenkontrolle). Wie man dieser Regelung entnehmen kann, überprüft das Verfassungsgericht nur die Verfassungsmäßigkeit des jeweiligen Gesetzes277. Der Begriff des Gesetzes wird von ihm eng ausgelegt: Darunter werden alle formellen (Parlaments-)Gesetze des Bundes und der Länder i.S.d. Art. 96 Abs. 1, 97 KSRFZ subsumiert278. Die nichtparlamentarischen sowie verfassungsändernden Gesetze fallen dagegen nicht darunter279. Zwar hat das Verfassungsgericht der Russischen Föderation durch seine Rechtsprechung den Beschwerdegegenstand auf Rechtsakte der Regierung280 bzw. Verordnungen281, Beschlüsse der Staatsduma282 und die ständige Rechtsprechung283 – soweit diese ihrer Rechtsnatur nach Gesetzen ver-

277 Die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen der Exekutive wird von den Fachgerichten geprüft, vgl. Kap. 25 GPKRF, die Rechtmäßigkeit der Gerichtsentscheidungen unterliegt nur der Überprüfung durch die obersten Gerichte im Zuge der Berufung und Revision. 278 Schmidt, Organisation und Verfahren der russischen Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Nussberger/Schmidt/Morsˇcˇakova, Verfassungsrechtsprechung in der Russischen Föderation, S. 13, 32. 279 ýd[QiVSQ (aVU.), @aQSQ hV\_SV[Q, S. 307; Yustus, Verfassungsgerichtsbarkeit in Russland und Deutschland, S. 92 f. 280 @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 27. 01. 2004 N 1-@, B8 AE 02. 02. 2004/5/403, Ziff. 2. 281 ?`aVUV\V^YV ;B AE _c 04. 03. 2004 N 138-?, A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 16. 06. 2004/125 Ziff. 4, =QXda_S, «;_]]V^cQaYZ [ E;8 «? ;_^bcYcdgY_^^_] BdUV AE» Cc. 96, S. 325 ff.; þVb]Vp^_SQ, BdUVR^Qp `aQ[cY[Q ;B AE b [_]]V^cQaYp]Y, S. 15, Yustus, Verfassungsgerichtsbarkeit in Russland und Deutschland, S. 92. 282 @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 05. 07. 2001 N 11-@, A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 18. 07. 2001/135, Ziff. 2.1. 283 Yustus, Verfassungsgerichtsbarkeit in Russland und Deutschland, S. 94 f. m.w.N.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

gleichbar284 sind – erweitert, doch verweigert das Gericht stets die Entscheidung, wenn aus seiner Sicht der Verstoß gegen die Verfassung nicht am Gesetz selbst, sondern an seiner Anwendung durch die Gerichte liegt. Ob nun das Gesetz selbst oder seine Auslegung durch die Gerichte verfassungswidrig sein soll – dazwischen liegt manchmal nur ein schmaler Grat. Dies gibt dem Verfassungsgericht aber die Möglichkeit, sich der Antwort mit ihren zwingenden rechtlichen wie politischen Konsequenzen zu entziehen285. Durch den engen Beschwerdegegenstand kann das in Russland geltende Verfahren der Individualverfassungsbeschwerde auch als ein „personalisiertes Verfahren der konkreten Normenkontrolle“286 bezeichnet werden. Damit ist die Befugnis des KSRF in diesem Bereich auch viel enger als die des BVerfG i.S.d. § 90 Abs. 1 BVerfGG. Das Problem der „Superrevisionsinstanz“ stellt sich somit aufgrund der Beschränkung des möglichen Beschwerdegegenstandes auf die Verfassungsmäßigkeit des im jeweiligen Fall anzuwendenden Gesetzes nicht. Das KSRF prüft ausdrücklich nicht, ob die Instanzgerichte die Gesetzesnormen auch richtig angewandt haben. Dies steht als ausschließliche Kompetenz den obersten bzw. Revisionsgerichten zu. Diese Konsequenz war auch dem Gesetzgeber bei der Regelung des Beschwerdegegenstandes bewusst, sodass die gesetzliche Regelung gerade dem Zweck zu dienen hatte, dem Verfassungsgericht keine Überprüfungskompetenz im Hinblick auf die Entscheidungen der Fachgerichte oder der Verwaltung zukommen zu lassen287. Ob diese Kompetenzverteilung nun auch tatsächlich sinnvoll ist, kann zwar bezweifelt werden, doch ist festzuhalten, dass sie zumindest das Problem einer „Superrevisionsinstanz“ erst gar nicht aufkommen lässt. 4. Schutz der Grundrechte durch das Strafrecht Der Schutz der Grundrechte durch das Strafrecht, welcher sich auf die Privatrechtsverhältnisse konzentriert, gehört auf den ersten Blick nicht zum Gegenstand dieser Untersuchung. Die strafrechtlichen Verhältnisse entstehen nicht aufgrund privatautonomer Entscheidungen. Sie werden vielmehr hoheitlich begründet. Zugleich bildet das Strafrecht eine Materie, die zum größten Teil ebenfalls die 284

Schmidt, Organisation und Verfahren der russischen Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Nussberger/Schmidt/Morsˇcˇakova, Verfassungsrechtsprechung in der Russischen Föderation, S. 13, 33 m.w.N. 285 Einen der gravierenden Fälle einer solchen Weigerung stellt die Entscheidung in der Sache Natalja Morar dar: ?`aVUV\V^YV ;B AE _c 19. 05. 2009 N 545-?-?, 3Vbc^Y[ ;B AE 2009/6. 286 So auch ýQXQaVS/BQSYg[YZ S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 125, S. 915. 287 Zur Entstehungsgeschichte der Norm vgl. Schmidt, Organisation und Verfahren der russischen Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Nussberger/Schmidt/Morsˇcˇakova, Verfassungsrechtsprechung in der Russischen Föderation, S. 13, 31 m.w.N.

I. Untersuchung des russischen Verfassungsrechts

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Rechtsfolgen bestimmter Beziehungen zwischen Privaten regelt. Es interessiert hier auch deshalb, weil es in vielen Bereichen mit den durch die zivilrechtlichen Kodifizierungen geregelten deliktischen Rechtsverhältnissen Schnittmengen aufweist. Zu bedenken ist auch, dass das Verhalten der Menschen im Laufe der Zeit die Eigenschaft eigener Strafbarkeit im Sinne der strafrechtlichen Verfolgung durch den Staat verlieren oder im Gegenteil gewinnen kann. Die Grenze ist hier oft fließend. Hinzu kommt die Tatsache, dass hier dasselbe Verhalten (welches im Übrigen durchaus von freiem Willen getragen wird, sonst käme man zur Straflosigkeit, was eine zusätzliche Parallele erkennen lässt) sowohl strafrechtliche als auch zivilrechtliche Rechtsfolgen hervorruft. Diese Untersuchung wäre deshalb nicht vollständig, wenn sie nicht auch einen Blick auf das Strafrecht richten würde, denn auch hier geht es um das Verhältnis von Rechtspositionen unter Privaten288. Das 19. Kapitel des russischen Strafgesetzbuchs289, welches ausdrücklich die „Straftaten gegen konstitutionelle Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers“ beinhaltet, stellt bestimmte Übergriffe gegen einige Grundrechte der KRF unter Strafe. So erklärt z. B. Art. 136 UKRF bestimmte Arten der Diskriminierung zur Straftat. Art. 137 UKRF ahndet Übergriffe auf das Privatleben. Das Kapitel enthält insgesamt 13 Artikel, die nur zum Teil jeweils ein Äquivalent im deutschen StGB haben. So stehen die in den Art. 136, 145 UKRF verankerten Grundrechte auf Gleichbehandlung (jeweils Art. 19 und Art. 38 Abs. 1, Abs. 2 i.V.m. Art. 7 Abs. 2, Abs. 1 KRF) jeweils dem Grundrecht auf Unternehmensfreiheit nach Art. 34 Abs. 1 KRF sowie einem anderen Grundrecht, in dessen Schutzbereich die von dem Täter bei der Erfüllung des Tatbestandes ausgeübte Handlung fällt, gegenüber290. Die Tatbestände des 19. Kapitels des UKRF teilen sich in zwei Gruppen: Allgemeindelikte und Amtsdelikte (Allgemeindelikte mit den jeweiligen Qualifikationen für Amtsträger). Bei den Amtsdelikten (Art. 140 UKRF) oder den jeweiligen Qualifikationen kommt die abwehrrechtliche Grundrechtsposition der Bürger gegenüber dem Staat zur Geltung. Diese sind hier deswegen weniger interessant. Ähnlich verhält es sich mit den Art. 141 bis 142.1 UKRF, welche Straftaten gegen das Wahlrecht i.S.d. Art. 32 i.V.m. 3 Abs. 2 KRF regeln, sich jedoch nicht nur gegen die Amtsträger richten. Bei den anderen Delikten stehen sich aber gerade die grundrechtlichen Positionen einzelner Bürger gegenüber. Die Grundrechte werden aber nicht nur durch das 19. Kapitel des UKRF geschützt. Letztlich schützen die meisten291 Regelungen des UKRF (Amtsdelikte sind 288

Kokott, in: dies./Rudolf, Gesellschaftsgestaltung, S. 73. DT_\_S^lZ [_UV[b A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY (Strafkodex der Russischen Fo¨deration, im Weiteren UKRF) N 63-E8 v. 13. 06. 1996, in der Fassung vom 21. 07. 2011, B8 AE 17. 06. 1996/25/2954. 290 Die russische Verfassung kennt kein dem Grundrecht auf freie Entfaltung gemäß Art. 2 Abs. 1 GG entsprechendes Grundrecht. 291 ;\V]V^cmVSQ, @aVbcd`\V^Yp, `_bpTQojYV ^Q \Yh^lV `aQSQ hV\_SV[Q, A_bbYZb[YZ b\VU_SQcV\m 2005, N 9, S. 1. 289

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

hier wiederum auszublenden) die Grundrechte des Einzelnen gegen die rechtswidrigen Übergriffe anderer Privatpersonen; die Straftaten gegen die Person stehen – dies systematisch unterstreichend – als erster Abschnitt ganz am Anfang des besonderen Teils (Abschnitt VII.)292. Die Straftaten des 19. Kapitels sind nur ein Unterfall der Straftaten gegen die Person. Der Schluss auf die in Art. 2 S. 2 KRF verankerten staatlichen Schutzpflichten liegt hier naturgemäß nahe293. Letztlich stellt das Strafrecht nur eine staatliche Sanktion für das widerrechtliche Verhalten privater Personen im Verhältnis zu anderen dar294. Dafür spricht auch der Wortlaut des Art. 2 Abs. 1 UKRF, welcher den Schutz der Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers zu den Aufgaben des Strafrechts ernennt. Die strafrechtliche Verantwortlichkeit dient zur Erfüllung der Aufgabe295. Die jeweiligen strafrechtlichen Bestimmungen des UKRF müssen auch gemäß Art. 15 Abs. 1, 18 S. 1 KRF im Lichte der Grundrechte ausgelegt werden296. Dies wird durch Art. 1 Abs. 1 UKRF wiederholt, wonach der Strafrechtskodex auf der Verfassung der Russischen Föderation gründet. Diese Schlussfolgerung zieht nach sich, dass die oben genannten Prinzipien der Grundrechtseinschränkung i.S.d. Art. 17 Abs. 3, 55 Abs. 2, Abs. 3, 56 KRF ebenfalls beachtet werden müssen, wobei insbesondere die Regelung des Art. 17 Abs. 3 KRF unter dem Blickwinkel grundrechtlicher Schutzpflichten i.S.d. Art. 2 KRF als das Strafrecht legitimierend beurteilt werden muss297. Aus dem Gesagten lässt sich folgern, dass die Grundrechte298 der russischen Verfassung als Rechtsobjekt durch das Strafrecht als Ausfluss gesetzgeberischer Tätigkeit und staatlicher Schutzpflicht im Rahmen der zulässigen Einschrän-

292 1]aQf_S, @aQSQ Y bS_R_Ul hV\_SV[Q Y TaQWUQ^Y^Q [Q[ _RkV[c dT_\_S^_-`aQS_S_Z _faQ^l, S. 98 f.; 2aY\\YQ^c_S, S: _^ WV (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ DT_\_S^_]d [_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY (`_bcQcVZ^lZ), Art. 2, S. 5; 293 In diesem Sinne: 1]aQf_S, @aQSQ Y bS_R_Ul hV\_SV[Q Y TaQWUQ^Y^Q [Q[ _RkV[c dT_\_S^_-`aQS_S_Z _faQ^l, S. 83 f.; 2VbbQaQR_S/;QiQVS, 8QjYcQ a_bbYZb[_Z `a_[daQcda_Z `aQS Y bS_R_U hV\_SV[Q Y TaQWUQ^Y^Q, S. 1. 294 1SQ[mp^, ;_^bcYcdgY_^^_V `aQS_ A_bbYY, C_] 1, S. 797. 295 ?`aVUV\V^YV ;B AE _c 26. 01. 2010 N 112-?-? (unvero¨ffentlicht), Ziff. 2; 2aY\\YQ^c_S, S: _^ WV (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ DT_\_S^_]d [_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY (`_bcQcVZ^lZ), @a_b`V[c, 2010, Art. 2, S. 5; HdhQVS (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ DT_\_S^_]d [_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY (`_bcQcVZ^lZ), Art. 2, S. 5. 296 In diesem Sinne auch: 1]aQf_S, @aQSQ Y bS_R_Ul hV\_SV[Q Y TaQWUQ^Y^Q [Q[ _RkV[c dT_\_S^_-`aQS_S_Z _faQ^l, S. 88 f. 297 s. o. C., I., 1., b) ff) (1). Sowie @_bcQ^_S\V^YV @\V^d]Q 3B AE _c 28. 06. 2011 N 11: „? bdUVR^_Z `aQ[cY[V `_ dT_\_S^l] UV\Q] _ `aVbcd`\V^Ypf n[bcaV]Ybcb[_Z ^Q`aQS\V^^_bcY“, A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 04. 07. 2011/142, Ziff. 1. 298 Im Bezug auf das Recht auf Leben =Qa[Y^b[Qp, ;_^gV`cdQ\m^lV ^QhQ\Q ^QgY_^Q\m^_T_, ]VWUd^Qa_U^_T_ Y XQadRVW^_T_ XQ[_^_UQcV\mbcSQ S _R\QbcY _faQ^l `aQSQ ^Q WYX^m Y _RVb`VhV^Yp RVX_`Qb^_bcY \Yh^_bcY, S. 39.

I. Untersuchung des russischen Verfassungsrechts

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kungsmöglichkeiten vor den Übergriffen Privater geschützt sind299. Dabei soll der Meinungsfreiheit – und dabei vor allem ihrem Umfang – besonderer Schutz zukommen300. Diese Strukturen sind dem deutschen Recht nicht fremd. Zwar spricht das StGB nicht von den Grundrechten, doch decken sich die geschützten Rechtsgüter der Straftatbestände weitgehend mit den des Grundgesetzes. Kennzeichnend für den fließenden Übergang zwischen den Rechtsbereichen ist auch die Schnittstelle des § 823 Abs. 2 BGB, welcher dem Gläubiger einen Anspruch auf Schadensersatz für die Fälle der Verletzung von Schutzgesetzen (dies sind u. a. gerade die Strafgesetze) gewähren. Auch ist hier die nicht zu verkennende Ähnlichkeit des Persönlichkeitsschutzes gemäß § 823 Abs. 1 und der §§ 185 ff. StGB ins Feld zu bringen301. Zugleich zeigt sich in Deutschland im Bereich des Strafrechts letztlich eine sehr ähnliche Problematik wie im Privatrecht. Dies trat z. B. in der „Soldaten sind Mörder“-Entscheidung des BVerfG deutlich zu Tage, wo es um die Kollision der Meinungsfreiheit mit dem Persönlichkeitsrecht bzw. dem Recht auf Schutz persönlicher Ehre und Würde ging302. Auch in der berühmt gewordenen Entscheidung des Landgerichts Köln, welches sich mit der Strafbarkeit einer religiös motivierten Beschneidung eines kleinen Jungen beschäftigte, geht es letztlich ebenfalls um die Abwägung zwischen dem Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit und dem Recht auf Freiheit der Religionsausübung303. Dieser oberflächliche Vergleich zeigt Parallelen im Aufbau der strafrechtlichen Kodifikationen in Bezug auf die geschützten Güter sowie hinsichtlich der Probleme, welcher die Rechtsprechung Herr werden muss. 5. Zusammenfassung und vergleichende Schlussfolgerungen a) Rangordnung der Rechtsnormen In Russland baut das gesamte einfache Recht ausdrücklich auf der durch die Verfassung geschaffenen und vorgegebenen Vorstellung auf, welche als „allgemeiner Teil“ der Rechtsordnung in der Gesellschaft begriffen werden kann. Dies ergibt sich sowohl aus der Verfassung selbst (direkte und unmittelbare Wirkung der Konstitution, Art. 15 Abs. 1, Art. 18, Art. 17 Abs. 3 KRF) als auch aus den einfachen Gesetzen, welche meist auf die Verfassung bzw. die Grundrechte verweisen. 299 1]aQf_S, @aQSQ Y bS_R_Ul hV\_SV[Q Y TaQWUQ^Y^Q [Q[ _RkV[c dT_\_S^_-`aQS_S_Z _faQ^l, S. 100. 300 1]aQf_S, @aQSQ Y bS_R_Ul hV\_SV[Q Y TaQWUQ^Y^Q [Q[ _RkV[c dT_\_S^_-`aQS_S_Z _faQ^l, S. 89 f. 301 Hager, JZ 1994, 373, 374. 302 BVerfGE 93, 266; ausführlich dazu Kokott, in: dies./Rudolf, Gesellschaftsgestaltung, S. 73 ff. 303 LG Köln, Urt. v. 7. 05. 2012, Az. 151 Ns 169/11.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

Das deutsche Rechtssystem wird dagegen auch aus historischen Gründen als anders aufgebaut verstanden. Das Privatrecht bzw. das BGB hat eine viel längere Entwicklungsgeschichte als das Grundgesetz, welche sich weitgehend parallel zu der Entwicklung grundrechtlicher Ideen vollzog. Dies mündete schließlich in der Vorstellung einer „grundsätzlichen Beziehungslosigkeit“ beider Rechtsbereiche zueinander304. Auch heute noch gibt es Ansichten, die, auf die Autonomie des Zivilrechts abstellend, den Einfluss der Grundrechte zu verneinen suchen305. Dem kann heute unter der Geltung des Grundgesetzes nicht mehr zugestimmt werden. Würden Zivilrecht und Verfassungsrecht Parallelen zueinander darstellen, so könnte ein privatrechtliches Gesetz nicht eine Schranke der Grundrechte bilden. Eine solche Feststellung wäre jedoch angesichts der Bindung des Gesetzgebers (auch im Bereich des Privatrechts)306 an die Grundrechte nach Art. 1 Abs. 3 GG unhaltbar. Daneben ist auch der Zivilrichter gemäß Art. 1 Abs. 3 GG an die Grundrechte gebunden. Freilich muss er bei seinen Entscheidungen den hohen Stellenwert der Privatautonomie, welche ihrerseits ebenfalls durch die Verfassung geschützt wird307, beachten308. Die Vorstellung von der genannten „Beziehungslosigkeit“ beider Rechtsbereiche gehört jedoch auch in Anbetracht verfassungsrechtlicher Schutzpflichten des Staates der Vergangenheit an und kann heute, im geltenden Rechtssystem Deutschlands, nicht mehr vertreten werden. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass auch Wagner, der die Grundsatzposition von der Autonomie des Privatrechts vertritt, schließlich zum Ergebnis kommt, dass diese i.S.d Art. 2 Abs. 1 GG neben dem Gleichheitsgebot i.S.d. Art.3 GG steht, so dass ihr per se kein Vorrang zukommt und sich dem gestaltenden Zugriff des Gesetzgebers nicht entziehen kann309. Zuzustimmen ist dem Autor jedoch darin, dass die Gerichte bei der Lösung von privatrechtlichen Streitigkeiten zunächst auf leges speciales in Gestalt zivilrechtlicher Regelungen zurückgreifen und sich deren Instrumentarien bedienen müssen – auch dies ist ein Gebot des Rechtsstaatsprinzips.

304 So Diederichsen, Rangverhältnisse, in: Starck, Rangordnung der Gesetze, S. 39, 45 unter Verweis auf die Aussage von Konrad Hesse. 305 Wagner, Materialisierung des Schuldrechts, S. 13 ff. 306 Zum Streit über die Bindung des Privatrechtsgesetzgebers an die Grundrechte vgl. Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 11 ff.; Hager, JZ 1994, 373, 374; zustimmend auch Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 150, 155; dagegen Diederichsen, Rangverhältnisse, in: Starck, Rangordnung der Gesetze, S. 39, 46 ff. Angesichts des klaren Wortlauts der Norm verdient die Position von Canaris und Hager Zustimmung. 307 Privatautonomie wird gemäß Art. 2 Abs. 1 GG geschützt; ständige Rspr. seit BVerfGE 8, 274, 328; vgl. auch z. B. BVerfGE 95, 267, 303. Zustimmend, Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, S. 55 ff. 308 Hager, JZ 1994, 373, 376 f. 309 Wagner, Materialisierung des Schuldrechts, S. 13, 80.

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b) Stellenwert der Grundrechte Geht man im Einklang mit den beiden zu vergleichenden Verfassungen von dem naturrechtlichen bzw. überpositiven Verständnis310 der Grundrechte aus, so muss eingesehen werden, dass diese aufgrund ihrer „Vorstaatlichkeit“ von einer sie anerkennenden Verfassung unabhängig sein müssen. Nur das Werte-Gleichgewicht kann sich von Gesellschaft zur Gesellschaft aufgrund der historisch-kulturellen Hintergründe verschieben. Damit stellt sich folgende Frage: Geht man auf den fiktiven vorstaatlichen Zustand zurück, so würden die Grund- bzw. Menschenrechte als ein natürlicher Bestandteil einer jeden Rechtsposition bereits in diesem Zustand existieren und so zwischen den Bürgern gelten. Können also die Grundrechte durch eine Verfassung ausschließlich in das Staat-Bürger-Verhältnis verrückt werden und dadurch ihre Wirkung auf die privatrechtlichen Beziehungen verlieren? Die russischen Verfassung und Verfassungslehre beantwortet diese Frage eindeutig mit „Nein“. Auch wenn das Strafrecht einen Teil des öffentlichen Rechts darstellt, so ist es doch kennzeichnend, dass es auch zum Schutz von grundrechtlichen Gütern eingesetzt wird. Es wäre mit seiner Systematik unvereinbar, wenn diese nur im StaatBürger-Verhältnis als Grundrechte gälten, dagegen aber im horizontalen Verhältnis diese Qualität verlören. Auch wenn man diese dann nur als „Rechts- oder Schutzgüter“ bezeichnen möchte, so würde deren Wesen sich dadurch nicht verändern. So hat z. B. gemäß Art. 22 Abs. 1, 29 KRF jeder das Recht auf geistige und körperliche Unversehrtheit, d. h. auch auf den staatlichen Schutz vor solchen Eingriffen311. Der Kommentar des Verfassungsgerichts definiert den Schutz der Grundrechte und Freiheiten i.S.d. Art. 2 S. 1 KRF unter anderem als die „durch den Staat gewährleistete, effektive Möglichkeit ihrer Nutzung, diesbezüglich staatliche Hilfestellung sowie die Beseitigung von Hindernissen, Vorbeugung ihrer Verletzung und Enthaltung des Staates vor eigenen grundlosen und rechtswidrigen Grundrechtseinschränkungen“312. Daraus und aus Art. 76 Abs. 1 KRF wird nicht nur das Recht des Gesetzgebers, sondern auch seine Pflicht hergeleitet, die entsprechenden, zur Wahrnehmung und Durchsetzung von Grundrechten notwendigen Rechtsnormen zu schaffen313. Daraus könnte des Weiteren geschlossen werden, dass aus der Sicht des 310 Für Deutschland ergibt sich diese Annahme aus dem Wortlaut der Art. 1 Abs. 1, 2 und 3 GG und der Entstehungsgeschichte, vgl. z. B. Dreier, in: ders., GG, Vorb. Rn. 4 ff., Art. 1 II Rn. 1; mit Nachweisen aus der Rechtsprechung v. Hodenberg, Das Bekenntnis, S. 13 ff., aus der Literatur S. 17 ff.; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 1 Abs. 2, Rn. 126 ff.; Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 151 m.w.N.; ablehnend Kunig, in: v. Münch/Kunig, Art. 1 Rn. 38 ff.; für Russland s. bereits oben C., I., 1., b). 311 HVcSVa^Y^ (aVU.), ;_^bcYcdgYp A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY. @a_R\V]^lZ [_]]V^cQaYZ, S. 11. 312 2_^UQam, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 71, S. 548. 313 @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 01. 02. 2005 N 1-@, A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 08. 02. 2005/24, Ziff. 2, Abs. 6; ?`aVUV\V^YV ;B AE _c 06. 11. 1998 N 149-? (unvero¨ffentlicht), Ziff. 2,

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

Strafrechts die Grundrechte der Bürger gegeneinander zu schützen sind – was ein zusätzliches Argument für das vom deutschen verschiedene Verständnis der grundrechtlichen Schutzpflichten darstellt. Der Staat tritt damit als „Schiedsrichter“ bei privaten Auseinandersetzungen auf. Für die Geltung der Grundrechte außerhalb des Staat-Bürger-Verhältnisses spricht in diesem Zusammenhang auch die Legitimation der Bestrafung von Delikten gegen die Allgemeinheit, was der umfassenden Geltung des Art. 2 Abs. 1 UKRF und z. B. dem Wortlaut des Kap. 19 entspricht. Anders betrachtet müssen Dritte die Grundrechte auch verletzen können, damit der Staat die Grundrechte der Bürger vor Übergriffen anderer schützen kann. Aber auch das Grundgesetz gibt genügend Raum für ein der russischen Konstitution ähnliches Verständnis. Zum einen ist hier auf die unmittelbare Wirkung der Menschenwürde i.S.d. Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG zu verweisen. Diese bindet nicht nur die Staatsgewalten, sondern auch die Bürger, was sich aus dem Zusammenhang mit dem zweiten und dritten Absatz sowie aus der Entstehungsgeschichte ergibt314. Sie stellt damit einen absoluten Wert dar. In diesem Zusammenhang ist an den Kerngehalt an Menschenwürde einzelner Grundrechte zu denken315. Zumindest in diesem müssen auch sie absolut wirken. Daneben liefert Art. 1 Abs. 2 GG genügend Raum für eine Interpretation zugunsten solcher Vorstellung. Danach soll es (vorstaatliche bzw. überpositive) Menschenrechte geben, die die „Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft“ darstellen. Zum einen spricht Art. 1 Abs. 2 GG (im Rekurs auf die Menschenwürde) damit von einer anderen Kategorie der Rechte. Im Gegensatz zum dritten Absatz ist hier nicht von den Grundrechten die Rede, die die Staatsgewalten binden, sondern von den Menschenrechten, welchen offensichtlich eine gewisse Allgemeingültigkeit zukommen soll. In der Literatur besteht über den Inhalt dieses Begriffs keine Einigkeit316. Einheitlich wird nur beurteilt, dass die Menschenrechte mit den Grundrechten nicht identisch sind. Letztere sind allein Rechtspositionen des Grundgesetzes317. Die Idee und Vorstellung der Existenz von Menschenrechten weist dagegen unverkennbare Ähnlichkeit und Schnittmengen mit den Rechten internationaler Verträge auf. Allen zuvörderst nahm die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die nach dem Zweiten Weltkrieg aufgekommene Idee universeller Rechte und Werte als Grundlage von Frieden und Gerechtigkeit in der Welt nach Vorstellung von Kant Einfluss auf die Grundrechtsideen318. Damit wird freilich keine Aussage über den Mindestgehalt des Menschenrechtsbegriffs i.S.d. Art. 1 Abs. 2 GG gewonnen. Abs. 3; 2_^UQam, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 71, S. 548. 314 Ausführlich und unter zusätzlicher Einbeziehung vom Sozialstaatprinzip Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 150 ff. 315 Herdegen, in: Maunz/Dürig, Art. 1 Abs. 1 Rn. 26. 316 Zum Meinungsstand: v. Hodenberg, Das Bekenntnis, S. 65 ff.; Starck, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, Art. 1 Abs. 2, Rn. 124; Valentin, Grundlagen und Prinzipien, S. 53 f. 317 Statt aller Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 1 Abs. 2, Rn. 124. 318 Dreier, in: ders., GG, Art. 1 II Rn. 1.

I. Untersuchung des russischen Verfassungsrechts

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Klar ist allerdings, dass das Grundgesetz seinem Wortlaut nach von der Vorstellung von Gütern lebt, welche dem Menschen bereits kraft seiner Natur zukommen und unabhängig von dem jeweiligen herrschenden Staatssystem geschützt werden müssen319. Zum anderen wird von dem Bekenntnis des gesamten deutschen Volkes als pouvoir constituant gesprochen, nicht nur des Staates. Schließlich sollen Menschenrechte die Grundlage menschlicher Gemeinschaft (und nicht etwa nur staatlichen Handelns) werden. Daraus wird von einigen Autoren richtigerweise (meist aber nur vorsichtig) „Drittwirkung“ von Menschenrechten320 bzw. der Menschenwürde gefolgert321. Die herrschende Meinung kann diese Position nur dadurch leugnen, dass sie der Aussage des Art. 1 Abs. 2 GG seinen normativen Charakter weitgehend abspricht. Dieser Position kann indes nicht zugestimmt werden. Als Teil der Verfassung, höchster, direkt wirkender Norm und insbesondere als an deren Spitze stehend und den eigenen Sinngehalt unterstreichend wäre es zunächst systematisch begründungsbedürftig, die Normativität des Art. 1 Abs. 2 GG abzulehnen. Zudem lässt sich aus diesem Rechtssatz ein wenn auch nur sehr allgemeines Gebot der Beachtung der Menschenrechte ablesen, sodass es sich um einen deonetischen Satz handelt322. Dieses Gebot verpflichtet das deutsche Volk. Unabhängig von dem Streit, ob darunter die einzelnen Bürger oder lediglich der Staat als das „personale Substrat“ zu verstehen ist323, sei hier die Aussage unterstrichen, dass die Menschenrechte die Grundlage der menschlichen Gemeinschaft bilden. Darin klingt unverkennbar der Gedanke einer der Gesellschaft (und darüber hinaus auch der Weltgemeinschaft) gemeinsamen Wertevorstellung an. Sich auf diese Vorstellung stützend sind in der deutschen Literatur unterschiedliche Schlussfolgerungen gemacht worden. So sieht Böckenförde in Art. 1 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 GG Anknüpfungspunkte für die Anerkennung der objektiven Gehalte der Grundrechte324. Hodenberg folgert daraus die unmittelbare Drittwirkung der Menschenwürde325. Weiter geht Starck, indem er 319

Dass dies in vielen Staaten nicht der Fall ist, ändert nichts an dieser Vorstellung, die vor allem als ein Gebot aufgefasst werden muss. 320 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 1 Abs. 2, Rn. 138. 321 v. Hodenberg, Das Bekenntnis, S. 61 ff. 322 Die Feststellung der Normqualität richtet sich hier nach Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 40 ff.; für die Normativität des Art. 1 Abs. 2 GG auch v. Hodenberg, Das Bekenntnis, S. 58 ff.; dagegen Valentin, Grundlagen und Prinzipien, S. 57 f., welcher mit der Unmöglichkeit der Klage argumentiert. 323 Das „Deutsche Volk“ als „personales Substrat“: Kunig, in: v. Münch/Kunig, Art. 1 Rn. 37 mit Hinweis auf Poldech; dagegen Dreier, in: ders., GG, Art. 1 II Rn. 13; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 1 Abs. 2, Rn. 130; zur Diskussion: v. Hodenberg, Das Bekenntnis, S. 61 ff. Letzterer Auffassung ist mit dem Ergebnis, dass Art. 1 Abs. 2 GG sowohl den Staat als auch die Bürger bindet, vor allem im Hinblick auf Art. 20 Abs. 2 GG zuzustimmen. 324 Böckenförde, Der Staat 29 (1990), S. 1, 3 f. 325 v. Hodenberg, Das Bekenntnis, S. 61 ff.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

daraus „vorsichtig eine gewisse Drittwirkung von menschenrechtlich fundierten Grundrechten“ ableitet326. Der Gedanke, die Bürger könnten ihre Ansprüche aus der Verfassung direkt ableiten, ist indes auch für die deutsche Rechtslehre wenn überhaupt nur auf den ersten Blick abschreckend. Auch das Argument der Rechtssicherheit ist wenig stichhaltig, zieht man sich die Rechtsprechung der obersten Gerichte sowie die gegenwärtige Regelungsdichte vor Augen. Die meisten Bereiche sind tatsächlich bereits spezialgesetzlich geregelt, sodass nur noch wenig Raum für „Überraschungen“ bleibt. Sollte dennoch eine Lücke entdeckt werden, so wird sie meist mittels verfassungskonformer Analogie geschlossen werden können. Andererseits lässt sich die deutsche Rechtsprechung bei Auslegung von einfachen privatrechtlichen Normen längst von den Grundrechten leiten. Dies ist aus dem Blickwinkel der Bindung der Judikative an die Grundrechte auch unabdingbar, führt jedoch letztlich zu demselben Ergebnis wie die Bindung der Bürger an die Grundrechte untereinander. Gleichzeitig erscheinen sowohl der aufgekommene Begriff der „objektiven Werteordnung“ (der unabhängig von der starken Kritik aus den verfassungsrechtlichen Abhandlungen nicht mehr wegzudenken ist327) als auch andere Judikate der obersten Gerichte, welche die Grundrechte bei der Auslegung einfacher Gesetze zu Rate ziehen, im Lichte der Ablehnung der Bindung von Bürgern an die Grundrechte wenig konsequent und sorgen dadurch nicht immer für Rechtssicherheit. Geht man davon aus, dass die Bürger die Ansprüche gegen den Staat direkt aus den Grundrechten ableiten können (und nur so kann die direkte Wirkung der Verfassung bzw. der Grundrechte aufgefasst werden), so fragt es sich auch (vielleicht etwas übertrieben), warum der Staat diesen Zustand überwinden kann, ein Bürger aber nicht. Es scheint letztlich keinen großen Unterschied zu machen, vor allem im Lichte der Rechtsprechung, die solche direkt aus den Grundrechten abgeleiteten Ansprüche gegen den Staat ebenfalls nur selten zulässt.

II. Grundrechte im russischen Privatrecht Wie im Laufe von verfassungsrechtlichen Untersuchungen des russischen Rechts gezeigt wurde, sieht die Verfassung der Russischen Föderation aufgrund ihres Selbstverständnisses die Geltung der Grundrechte unter Privaten ausdrücklich vor. Dies bedeutet, dass Private untereinander in erster Linie an die Grundrechte der Verfassung gebunden sind, welche dann in den privatrechtlichen Normen zur Geltung kommen. Diese Bindung müsste sich auch an den Normen des russischen Privatrechts ablesen lassen. Im Folgenden ist daher die zu untersuchende Grundrechtswirkung von ihrer privatrechtlichen Seite näher zu betrachten. Diese zweite Seite ist zwar von der verfassungsrechtlichen untrennbar, wird hier aber der Ein326 327

Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 1 Abs. 2, Rn. 138. Diederichsen, Rangverhältnisse, in: Starck, Rangordnung der Gesetze, S. 39, 45.

II. Grundrechte im russischen Privatrecht

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fachheit halber und um einen besseren Vergleich mit dem deutschen Rechtsverständnis zu ermöglichen, von ihr unterschieden. Im Zuge dieser Untersuchung werden ausgesuchte Normen des Zivilkodexes näher betrachtet, wobei es sich vor allem um die grundlegenden Normen des allgemeinen Teils des GKRF handeln wird. Als markanteste Ausprägung der grundrechtlichen Positionen im Privatrecht wird anschließend exemplarisch auf die Persönlichkeitsrechte näher eingegangen werden. Als Erstes soll die Aufmerksamkeit auf die Grundstrukturen des GKRF gelenkt werden. Wenn die Grundrechte der russischen Verfassung unter Privaten gelten, so muss die Verfassung auch eine Quelle des Privatrechts darstellen. Auch könnten sich im Vergleich zum deutschen Recht einige Unterschiede bei den Subjekten und Objekten des Privatrechts ergeben. Namentlich könnte auch der Staat als Subjekt anzusehen sein. Noch deutlicher wird die Verknüpfung zwischen Privat- und Verfassungsrecht in Art. 2 Abs. 2 GKRF, wonach das Zivilrecht unter anderem „die unantastbaren Rechte und Freiheiten des Menschen, sowie andere immaterielle Güter zu schützen berufen ist, soweit sich aus ihrem Wesen nichts anderes ergibt“. Scheinbar wiederholen die einfachgesetzlichen Regelungen die Normen des Verfassungsrechts. Zugleich bedeutet die Unantastbarkeit der Grundrechte aber auch, dass die verfassungsrechtlichen Rechte den Sinn und Inhalt anderer Rechtsbereiche bestimmen328. Beispielsweise sind auch die in Art. 2 GPKRF genannten und zu schützenden Rechte und Freiheiten verfassungskonform als konstitutionelle Rechte und Freiheiten zu lesen329. Insbesondere im Schadensrecht bzw. bei den Bestimmungen zum Schutz immaterieller Güter, wie zum Beispiel den Persönlichkeitsrechten, erwartet man, eine ausdrucksstarke Einwirkung der Grundrechte anzutreffen. In der Tat trifft man die deutlichsten Worte zum Einfluss der Grundrechte auf das Privatrecht im bereits erwähnten Plenarbeschluss des WSRF N 3 vom 24. 02. 2005330, welches die Regelungen des gerichtlichen Schutzes der Ehre der Bürger zum Gegenstand hat. Dies verwundert insofern wenig, als dass die Entwicklung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts Ende des 19. Jahrhunderts ihren Ursprung hatte, als die europäischen Rechtsordnungen sich gegenseitig noch stark beeinflussten331. Insofern ist es auch wenig überraschend, eine der deutschen ähnliche Dogmatik dieser Rechtsfigur anzutreffen. Daneben soll der Blick auf Art. 1 GKFR gelenkt werden. Dieser trägt die Überschrift „Grundlegende Prinzipien“ und postuliert unter anderem die Vertragsfreiheit und die Unantastbarkeit der Privatautonomie, aber auch die Gleichheit der Teilnehmer des Privatrechts sowie den Schutz ihres Eigentums. Gleichzeitig ist der Kontrahierungszwang im russischen Privatrecht viel öfter anzutreffen als im deut328 NRXVVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 17, S. 170. 329 Vgl. oben C., I., 2., b), hh), (4). 330 @_bcQ^_S\V^YV @\V^d]Q 3B A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY _c 24. 02. 2005 N 3: „? bdUVR^_Z `aQ[cY[V `_ UV\Q] _ XQjYcV hVbcY Y U_bc_Y^bcSQ TaQWUQ^, Q cQ[WV UV\_S_Z aV`dcQgYY TaQWUQ^ Y oaYUYhVb[Yf \Yg“, A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 15. 03. 2005/50. 331 @_[a_Sb[YZ, ?b^_S^lV `a_R\V]l TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, VII. Kap.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

schen. Im Gegensatz zur deutschen Rechtslehre wird er nicht geächtet, sondern vielmehr als vollkommen unabdingbar angesehen332. Dies könnte einerseits als Erbe der UdSSR-Vergangenheit angesehen werden, andererseits könnte der Kontrahierungszwang aber auch als eines der Instrumente zur Durchsetzung „grundlegender Prinzipien“ i.S.d. Art. 1 Abs. 1 GKRF im Zivilrecht anzusehen sein. Aufgrund ihrer zumindest sprachlich starken Anlehnung an die Grundrechtspositionen der Verfassung wird auch die normative Qualität dieser Prinzipien sowie ihre Wirkung auf die anderen Normen des GKRF zu untersuchen sein. Die nachfolgende Untersuchung beschränkt sich aus Gründen des Arbeitsumfangs fast ausschließlich auf die Analyse der genannten zentralen Bestimmungen des Zivilkodexes als wichtigstem privatrechtlichem Regelwerk. Ihre Ergebnisse können jedoch auch auf andere Bereiche und Rechtsnormen des Privatrechts sinngemäß übertragen werden. 1. Grundriss der historischen Entwicklung des russischen Privatrechts Zum Verständnis eines jeden Rechtsgebiets ist die Kenntnis seiner Entstehungsgeschichte zumindest in Grundzügen unabdingbar. Dies gilt umso mehr, wenn dessen Grundstrukturen und -begriffe durchdrungen werden müssen. Der Blick ist daher zunächst, wie im Rahmen des Verfassungsrechts, erneut auf die historische Entwicklung des Rechtsgebiets zu lenken. Russland bekam als eines der letzten europäischen Länder eine moderne privatrechtliche Kodifikation. Für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und der Revolution war im europäischen Raum eine gemeinsame Entwicklung der Rechtstheorie in ihren Leitlinien kennzeichnend, auch wenn sich die bereits damals vorgenommenen Kodifikationen voneinander unterschieden. Durch enge Verflechtung der Lehre wurde ein starker Einfluss der deutschen und französischen Rechtslehre auf die russische deutlich333. Auch im russischen Imperium wurde eine Kodifizierung seit Langem angestrebt334. Bis zur Revolution blieb das Privatrecht jedoch als aus unterschiedlichen Rechtsnormen zusammengesetzt bestehen, die teilweise nur enge Rechtsbereiche zum Gegenstand ihrer Regelung hatten335. Zwar entstand im 19. Jahrhundert die 332 s. nur 2aQTY^b[YZ/3Ycap^b[YZ, 5_T_S_a^_V `aQS_. ;^YTQ `VaSQp. ?RjYV `_\_WV^Yp, S. 153 ff. 333 Vgl. z. B. ;dX^Vg_SQ, þ_a]l – `aY^gY`l a_bbYZb[_T_ TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, S. 157; @_[a_Sb[YZ, ?b^_S^lV `a_R\V]l TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, S. 249 f. 334 Die Kommission begann ihre Arbeit 1882. Es folgten intensive Arbeit und mehrere Gesetzesprojekte des Zivigesetzbuches, die jedoch durch den Ersten Weltkrieg und die Revolution abgebrochen und dann gegenstandslos wurden, vgl. 2V\_S, 4aQWUQ^b[_V `aQS_, _RjQp hQbcm, C_] I. 3SVUV^YV S TaQWUQ^b[_V `aQS_, S. 150 f. 335 2V\_S, 4aQWUQ^b[_V `aQS_, _RjQp hQbcm, C_] I. 3SVUV^YV S TaQWUQ^b[_V `aQS_, S. 149.

II. Grundrechte im russischen Privatrecht

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Sammlung der Gesetze des russischen Imperiums, doch wurde sie als „monstrum simile“ empfunden, was vor allem daran lag, dass sich insbesondere der zivilrechtliche und handelsrechtliche Teil aus Rechtsnormen zusammensetzte, die zu unterschiedlichen Zeiten entstanden und nicht aufeinander abgestimmt waren336. Inhaltlich sah die russische Zivilrechtslehre, ähnlich wie in Deutschland, den Grundstein des Privatrechts neben dem Privateigentum in der Vertragsfreiheit337. Es wurde jedoch auch schon damals anerkannt, dass diese nicht grenzenlos gewährt werden kann338. Dabei kam bereits in jener Zeit die Frage nach der Anordnung des Kontrahierungszwangs für die sogenannten „öffentlichen“ Verträge339 auf340. Auch war schon damals das Institut der Persönlichkeitsrechte bekannt, welche, der deutschen Doktrin ähnlich, als ein einheitlicher Begriff mit unterschiedlichen Ausprägungen begriffen wurden341. Nach der Revolution ging das russische Privatrecht seinen eigenen Weg, in dem das Privateigentum, ja das Private überhaupt342, weitgehend als obsolet betrachtet und deshalb, soweit wie möglich, abgeschafft wurden. Die vorrevolutionäre Lehre konnte und durfte deshalb nur noch in geringem Maße fruchtbar gemacht werden. Die Vertragsfreiheit als solche stellte in der UdSSR eine Ausnahme dar, Regel war dagegen der Kontrahierungszwang343. Nun wurden im Laufe der 70 Jahre der Entwicklung der Sowjetunion über verschiedene Etappen zwei344 Zivilkodexe verabschiedet, die an sich aufgrund der Ablehnung des Privaten keine privatrechtlichen Regelungen darstellten, sondern vielmehr in starkem Maße eine öffentlich-rechtliche Natur aufwiesen345.

336

Ebenda. ;dX^Vg_SQ, þ_a]l – `aY^gY`l a_bbYZb[_T_ TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, S. 157; @_[a_Sb[YZ, ?b^_S^lV `a_R\V]l TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, S. 247 f.; IVaiV^VSYh, DhVR^Y[ adbb[_T_ TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, S. 401. 338 @_[a_Sb[YZ, ?b^_S^lV `a_R\V]l TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, S. 249. 339 In Russland werden darunter Verträge über die Leistungen an die Öffentlichkeit verstanden, wobei unter dem Begriff der „Öffentlichkeit“ jeder Einzelne und nicht die Öffentlichkeit als solche verstanden wird, vgl. Art. 426 Abs. 1 GKRF. 340 @_[a_Sb[YZ, ?b^_S^lV `a_R\V]l TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, S. 248, mit Verweis auf Dernburg, Das bu¨rgerliche Recht, Bd. II, § 83. 341 3_a_RmrS, 9^bcYcdc [_]`V^bQgYY ]_aQ\m^_T_ SaVUQ S a_bbYZb[_] TaQWUQ^b[_] `aQSV, BQ^[c-@VcVpRdaT 2008, S. 14; @_[a_Sb[YZ, ?b^_S^lV `a_R\V]l TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, S. 123 ff., 132 ff. 342 =Q[_Sb[YZ, ? [_UYeY[QgYY TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ (1922 – 2006), S. 60 f. 343 2aQTY^b[YZ/3Ycap^b[YZ, 5_T_S_a^_V `aQS_. ;^YTQ `VaSQp. ?RjYV `_\_WV^Yp, S. 210. 344 Die dritte Kodifizierung, die Anfang neunziger Jahre erstrebt wurde, wurde nicht mehr beendet. 345 Eine zusammenfassende Darstellung findet sich z. B. bei: 2V\_S, 4aQWUQ^b[_V `aQS_, _RjQp hQbcm, C_] I. 3SVUV^YV S TaQWUQ^b[_V `aQS_, S. 152 ff. 337

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

Auch die immateriellen Güter und Rechte waren dem sowjetischen Privatrecht nicht fremd. Während die erste Kodifizierung nur deliktische Rechtsgutsverletzungen des Lebens und der Gesundheit erwähnte, sah der zweite Zivilkodex auch schon den Schadensersatzanspruch für Ehrverletzungen und die Verletzungen des Rechts am eigenen Bild vor, wobei diese Erweiterung abschließend war346. Nach dem Zerfall der Sowjetunion musste die neue Wirtschaftsordnung einen entsprechenden rechtlichen Rahmen erlangen. Aufgrund der Rückkehr zur Marktwirtschaft fanden sich die Mütter und Väter des neuen Zivilkodexes vor der Notwendigkeit der Wiederherstellung alter Institute aus der vorrevolutionären Zeit wieder. So entstand der GKRF, welches nun die erste privatrechtliche Kodifizierung Russlands darstellt. Freilich konnte auch diese weder von Einflüssen vorrevolutionärer Lehren, noch von der kommunistischen Ideologie völlig frei bleiben. Daneben hat man sich bemüht, die europäischen Erfahrungen in diesem Bereich auch für sich fruchtbar zu machen347. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass der GKRF und die moderne russische Rechtslehre vielerlei Institute und Gedanken aus dem 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts rezipierten. Viele Aussagen der Gelehrten aus der Zeit vor der Revolution sind und werden348 auf die heutige Rechtsdoktrin übertragen. Zugleich trägt der GKRF aber auch deutliche Spuren der sowjetischen Vergangenheit. Dies bezieht sich vor allem auf die im heutigen Recht viel deutlicher ausgeprägte soziale Ader des GKRF, die sich z. B. in der Einschränkung der Vertragsfreiheit durch den Kontrahierungszwang äußert. Aus diesem Blickwinkel erscheint auch die Verwendung vieler Werke sowjetischer Zivilisten als folgerichtig. Bei der nachfolgenden Untersuchung dürfen diese Tatsachen nicht aus den Augen verloren werden, sie werden vielmehr stets begleitend den Hintergrund bilden. 2. Die Grundrechte im russischen Privatrecht a) Die Verfassung als Quelle des Privatrechts Geht man von der Stellung der russischen Verfassung als „Grundregelung“ auch für die Rechtsverhältnisse unter Privaten aus, so stellt sich als Erstes und ganz zentral die Frage, inwieweit die Verfassung als Quelle des Zivilrechts dienen kann, bzw. eine solche (ggf. subsidiäre) Quelle darstellt. Unter dieser Prämisse und angesichts einer Direktwirkung der Verfassung gemäß Art. 15 Abs. 1 S. 1 KRF stellt sich die Konstitution als Wurzel des Privatrechts dar. Zugleich treffen Art. 3, 5 und 7 GKRF, die 346 ;aQbQShY[_SQ, @_^pcYV Y bYbcV]Q \Yh^lf, ^V bSpXQ^^lf b Y]djVbcSV^^l]Y `aQS TaQWUQ^ (eYXYhVb[Yf \Yg) S TaQWUQ^b[_] `aQSV A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, S. 14 f.; =Q\VY^Q, ýYh^lV ^VY]djVbcSV^^lV `aQSQ TaQWUQ^ (`_^pcYV, _bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ), S. 44 f. 347 =Q[_Sb[YZ, ? [_UYeY[QgYY TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ (1922 – 2006), S. 367 ff., 399 ff. 348 Teilweise leider ohne entsprechende Überprüfung bestehender Ideenkompatibilität.

II. Grundrechte im russischen Privatrecht

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die Quellen des Privatrechts ausdrücklich benennen, jedoch keine Aussagen dazu. Sie regeln lediglich jeweils das Verhältnis einfachgesetzlicher zivilrechtlicher Rechtsnormen untereinander sowie die Anwendbarkeit des Gewohnheitsrechts und die Geltungskraft völkerrechtlicher Verträge. Man meint annehmen zu können, dies spräche auf der einen Seite dafür, dass die Aufzählung der entsprechenden Normen abschließend sei und dass der Zivilkodex die Verfassung nicht als eine seiner unmittelbaren Quellen ansieht. Auf der anderen Seite kann die Aussage eines einfachen Gesetzes zur Stellung der Verfassung nur schwerlich als Argumentation herangezogen werden, da diese der Verfassung selbst nicht hätte widersprechen dürfen, Art. 15 Abs. 1 S. 2 KRF. Die Frage danach, ob die Verfassung der Russischen Föderation eine Quelle russischen Zivilrechts darstellt, als Teil der Frage, ob die Verfassungsnormen überhaupt einem der Rechtsbereiche angehören können, war in der russischen Literatur zunächst umstritten. Die Verfassungsnormen und ihre Wirkung werden, wie bereits oben dargestellt349, unterschiedlich bewertet. Zum einen könnte die Verfassung, und somit auch die Grundrechte, eine lediglich objektive Wirkung entfalten. Nach dieser Vorstellung wäre die Verfassung damit nur „eine Norm über den anderen Normen“, d. h. lediglich ein Maßstab für die Rechtsnormen und ein Auftrag an den Gesetzgeber, welcher keine direkte Wirkung auf die privatrechtlichen Rechtspositionen entfalten kann350. Dieses Argument sagt jedoch im Grunde nichts über die hier zu entscheidende Frage aus. Auch eine lediglich objektiv-rechtliche Norm kann ohne Weiteres als Quelle einer anderen besonderen Norm dienen, es wäre dann sogar ihre primäre Aufgabe. Die Ablehnung ihrer subjektiven Dimension351 sagt nur darüber etwas aus, ob sich die Bürger auch direkt auf sie berufen können, was für die Frage nach ihrer Qualität als Quelle anderen Rechts (auch wenn es hier um das Privatrecht geht, welches seiner Natur nach im Wesentlichen subjektiv-rechtlich gestaltet ist) keine Rolle spielt. Die Tatsache, dass die Verfassung auch einige konkrete Aufträge an den Gesetzgeber enthält, z. B. Art. 36 Abs. 3 KRF oder Art. 37 Abs. 3 KRF, spricht ebenfalls weder für die eine noch für die andere Ansicht, da sich diese an den Zivilgesetzgeber richten und deshalb die Beziehung unter Privaten nicht unmittelbar betreffen. Für die Stellung der Verfassung als Quelle des Zivilrechts spricht die direkte und unmittelbare Wirkung der Verfassung und der Grundrechte sowie die Pflicht der Bürger, die Verfassungsbestimmungen zu befolgen, Art. 15 Abs. 1 S. 1, Abs. 2, 17 Abs. 3 KRF352. Damit setzt die Verfassung die Richtlinien für das Privatrecht und 349

Zur subjektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte vgl. oben C., I., 2., b), hh), (4). s. dazu m.w.N. A_UY_^_SQ, 9bc_h^Y[Y TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ: Ybc_aYp Y b_SaV]V^^_bcm, S. 161. 351 Was ohnehin oben bereits abgelehnt wurde, vgl. C., I., 2., b), hh), (4). 352 2V\_S, 4aQWUQ^b[_V `aQS_, _RjQp hQbcm, C_] I, 3SVUV^YV S TaQWUQ^b[_V `aQS_, S. 158; 5YUV^[_, BYbcV]Q Ybc_h^Y[_S TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY: QSc_aVeVaQc UYc. [Q^UYUQcQ oaYUYhVb[Yf ^Qd[, S. 18; ?b]Q^_S, @aY^gY`l Y bdUVR^lV `aVgVUV^cl [Q[ Ybc_h^Y[Y a_bbYZb[_T_ TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ Y Yf [_^bcYcdgY_^^Qp 350

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

regelt einige zivilrechtlichen Institute353, wodurch sie den Inhalt des Privatrechts teilweise vorherbestimmt. Sie gilt zudem auch dann direkt, wenn die konkretisierenden Rechtsnormen bestehen und wirksam sind354 – was zugleich nicht ausschließt, dass die Verfassung eine „übergesetzliche Norm“ im Sinne ihrer Rolle als Maßstab der einfachen Gesetze darstellt355. Das bedeutet, dass die KRF die Grundlage der Privatrechtsnormen darstellt und die Leitlinien der Zivilrechtsordnung bildet. Sie kann aber auch selbst direkt angewandt werden, wenn eine konkretisierende Rechtsnorm noch nicht existiert, rechtswidrig ist oder der Auslegung bedarf356. Dies kann freilich nicht in Bezug auf alle Normen der Verfassung behauptet werden. So werden Normen der KRF von der russischen Rechtswissenschaft diesbezüglich in zwei Gruppen unterteilt: „einseitige“ und „wechselseitige“ Normen357. Die „einseitigen“ Normen regeln nur verfassungs-(organisations-)rechtliche Fragen und haben damit einen ausschließlichen Anwendungsbereich. Die „mehrseitigen“ Normen regeln dagegen auch die angrenzenden Bereiche anderer Rechtsgebiete. Dabei genießen sie als höherrangige Normen entweder Anwendungsvorrang oder sind bei Anwendung einfacher Rechtsnormen in diese hineinzulesen358. Der Inhalt solcher „mehrseitigen“ Normen im jeweiligen Bereich des Rechts ist aber, egal ob diese Norm modifiziert übernommen oder inkorporiert wird, mit dem Inhalt der verfassungsrechtlichen Normen nicht deckungsgleich359. Die verfassungsrechtlichen Normen und Begriffe gehen zwar unstreitig auf dieselben Wurzeln wie die gleichen _b^_SQ, S. 32 ff.; A_UY_^_SQ, 9bc_h^Y[Y TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ: Ybc_aYp Y b_SaV]V^^_bcm, S. 161. 353 Privateigentum gemäß Art. 8 Abs. 2, 35, 36 KRF, Unternehmerische und wirtschaftliche Freiheit gemäß Art. 34 Abs. 1 KRF, geistiges Eigentum gemäß Art. 44 Abs. 1 S. 2 KRF, Erbrecht gemäß Art. 35 Abs. 4 KRF u. a.; dazu auch ?b]Q^_S, @aY^gY`l Y bdUVR^lV `aVgVUV^cl [Q[ Ybc_h^Y[Y a_bbYZb[_T_ TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ Y Yf [_^bcYcdgY_^^Qp _b^_SQ, S. 34. 354 @_bcQ^_S\V^YV @\V^d]Q 3B AE _c 31. 10. 1995 N 8 (aVU. oc 06. 02. 2007): „? ^V[_c_alf S_`a_bQf `aY]V^V^Yp bdUQ]Y ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY `aY _bdjVbcS\V^YY `aQS_bdUYp“, A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 28. 12. 1995/247, Ziff. 2. 355 2V\_S, 4aQWUQ^b[_V `aQS_, _RjQp hQbcm, C_] I. 3SVUV^YV S TaQWUQ^b[_V `aQS_, S. 157. 356 Dazu ausführlich @_bcQ^_S\V^YV @\V^d]Q 3B AE _c 31. 10. 1995 N 8 (aVU. oc 06. 02. 2007): „? ^V[_c_alf S_`a_bQf `aY]V^V^Yp bdUQ]Y ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY `aY _bdjVbcS\V^YY `aQS_bdUYp“, A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 28. 12. 1995/247, Ziff. 2. 357 Mit „wechselseitig“ soll der Begriff „b]VW^lV“ umschrieben werden. Diese Theorie wurde begru¨ndet in: 3QbY\mVS/ýQ`QVSQ/þY[YcY^Q/@ViY^/@_bc^Y[_S/@pc[Y^Q/CYf_]Ya_S, ;_^gV`gYp aQXSYcYp [_^bcYcdgY_^^_T_ XQ[_^_UQcV\mbcSQ, S: ;_^gV`gYY aQXSYcYp a_bbYZb[_T_ XQ[_^_UQcV\mbcSQ, S. 22, 26. 358 Dies entspricht dem Begriff der Normensubsidiarität, vgl. 3QbY\mVS/ýQ`QVSQ/ þY[YcY^Q/@ViY^/@_bc^Y[_S/@pc[Y^Q/CYf_]Ya_S, ;_^gV`gYp aQXSYcYp [_^bcYcdgY_^^_T_ XQ[_^_UQcV\mbcSQ, S: ;_^gV`gYY aQXSYcYp a_bbYZb[_T_ XQ[_^_UQcV\mbcSQ, S. 22, 26. Zustimmend 4QUWYVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 35, S. 328. 359 4QUWYVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 35, S. 329.

II. Grundrechte im russischen Privatrecht

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Begriffe des Privatrechts zurück, sind mit ihnen aber nicht identisch360. Eine verfassungsrechtliche Norm ist naturgemäß eine höherrangige Norm, deren Wirkungsbereich sich auf mehrere einfache Rechtsbereiche erstreckt; sie hat deshalb allgemeineren Inhalt und weist einen abstrakteren Grad der Formulierung auf. Ihre Intention ist es, in möglichst vielen Fällen zur Anwendung zu kommen, notfalls mittels erweiternder Auslegung. Deshalb besitzt sie auch „höhere juristische Konzentration“361 im Sinne einer umfassenden Anwendungsmöglichkeit. Letztlich spricht für die Stellung der Verfassung als eine der Quellen des Zivilrechts auch die im ersten Teil der Untersuchung russischen Rechts gemachte Schlussfolgerung der unmittelbaren Wirkung der Grundrechte unter Privaten. Stellen diese die Grundlage aller Rechtsbeziehungen zwischen Privaten dar, so müssen ihre einfachgesetzlichen Ausprägungen darauf gründen und daraus ihren Inhalt schöpfen. Es lässt sich somit folgern, dass nicht nur die Bürger in ihren (Privat-)Rechtsbeziehungen untereinander die Verfassungsbestimmungen zu beachten haben, sondern der Gesetzgeber auch die Normen des Zivilrechts so zu verfassen hat, dass diese den verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechen. Damit bildet die Verfassung die unmittelbare und wichtigste Quelle des russischen Zivilrechts – nicht nur aus der Sicht öffentlicher Gewalten, sondern auch aus der Sicht der Bürger. Das führt logischerweise auch zur Notwendigkeit der Anerkennung der subjektivrechtlichen Dimension einschlägiger, verfassungsrechtlicher Bestimmungen in privatrechtlichen Streitigkeiten. Ob der jeweiligen verfassungsrechtlichen Norm aber eine solche subjektiv-rechtliche Dimension zukommt, kann sich nur einzeln und nur nach Verfassungsrecht entscheiden. b) Der Staat als Subjekt des Privatrechtsverkehrs – eine „Flucht ins Private“? Der russische Zivilkodex zählt ausdrücklich und abschließend die möglichen Teilnehmer des Privatrechtsverkehrs auf. Dies sind zunächst ganz klassisch gemäß Art. 2 Abs. 1 S. 2 Alt. 1 i.V.m. 17 GKRF die natürlichen und gemäß Art. 2 Abs. 1 S. 2 Alt. 2 i.V.m. 49 GKRF die juristischen Personen. Damit sind aber noch nicht alle möglichen Subjekte genannt. Gemäß Art. 2 Abs. 1, 3 i.V.m. Art. 124 ff. GKRF sind neben den natürlichen und juristischen Personen auch die Russische Föderation, ihre Subjekte sowie die Kommunen gleichberechtigte Teilnehmer am Privatrechtsverkehr. So erstaunlich dies aus der Sicht der deutschen Rechtstheorie auch sein mag, so steht es doch im Lichte der grundsätzlich gleichen Bindung362 von Staat und Privaten 360 4QUWYVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 35, S. 328. 361 Ebenda. 362 Gemeint ist, versteht sich, die Tatsache, dass die Subjekte des Art. 15 Abs. 2 KRF an die Verfassung gleichermaßen gebunden sind; dagegen nicht etwa, dass die Art der Bindung und die daraus resultierenden Rechte und Pflichten gleich wären.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

an die Verfassung dem verfassungsrechtlichen Konzept Russlands gemäß Art. 15 Abs. 2 KRF zumindest nicht entgegen – wenn diese Ausgestaltung nicht sogar als folgerichtig zu betrachten ist. Denn nicht nur der Staat, sondern alle Teilnehmer des Privatrechts sind an die Grundrechte gebunden. Aufgrund dieser Bindung besteht im Vergleich zu Deutschland gerade keine Gefahr der staatlichen „Flucht ins Private“363, wo keine Grundrechtsbindung mehr bestände364. Egal, ob der Staat öffentlichrechtlich oder privatrechtlich handelt, er ist stets an die Grundrechte gebunden. Die Frage der Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen des öffentlichen Rechts muss gleichzeitig von der Frage der grundsätzlichen Möglichkeit privatrechtlichen Handelns unterschieden werden. Begibt sich der Staat auf die Ebene des Privatrechts, so muss er sich gar nicht zwangsläufig auf die Grundrechte berufen können365. Da sich die Privatrechtsteilnehmer aus der Sicht der deutschen Rechtsprechung und Lehre untereinander ohnehin nicht auf die Grundrechte berufen können, spielt die Grundrechtsfähigkeit für die Qualität als Privatrechtsteilnehmer zunächst keine Rolle. Daraus folgt auch für Russland, dass der Staat sich bei seiner Betätigung auf privatrechtlicher Ebene nicht auf einmal als ein Grundrechtsträger entpuppen kann, weshalb auch dieser Gedanke seiner grundsätzlichen Eigenschaft als Subjekt privaten Rechts nicht entgegensteht. Aus der Feststellung, der Staat sei ein vollwertiges Subjekt privaten Rechts, folgt freilich die Frage nach der Art dieser Rechtsposition. Da der Staat neben den natürlichen und juristischen Personen berechtigt wird am Privatrechtsrechtsverkehr teilzunehmen, muss er sich im Privatrechtsverkehr den allgemeinen Prinzipien und Grundlagen des Privatrechts i.S.d. Art. 1 Abs. 1 GKRF unterordnen. Er muss deshalb dort entsprechend dem Prinzip der Gleichheit der Privatrechtsteilnehmer i.S.d. Art. 1 Abs. 1 i.V.m. 124 Abs. 1 GKRF366 seine Machtposition aufgeben und den anderen Teilnehmern gegenüber gleich auftreten367, nur so kann er den Anforderungen des 363 Die Problematik der sog. „Flucht ins Private“ beschreibt den Grundsatz fehlender Grundrechtsberechtigung des Staates und fußt in dem Gedanken, dass staatliche Einrichtungen Adressate und nicht Berechtigte der Grundrechte seien, im Falle der Handlung als Private wären sie jedoch gemäß Art. 1 Abs. 3 GG gerade nicht unmittelbar an die Grundrechte gebunden, st. Rspr. des BVerfG, s. z. B. BVerfGE 21, 362, 369; 61, 82, 100 f.; 68, 193, 206. 364 An dieser Stelle soll auch angemerkt werden, dass Russland kein dem deutschen ähnliches Verwaltungsrecht kennt: Ein Verwaltungsverfahrensgesetz oder die Verwaltungsgerichtsbarkeit sind dem russischen Rechtssystem fremd. 365 Im Übrigen kann der Staat auch in Deutschland in einigen Fällen privatrechtsförmig handeln, s. dazu z. B. Dreier, in: ders., GG, Art. 19 Abs. 3, Rn. 68 ff. 366 2aQTY^b[YZ, S: BQUY[_S (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d [_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, hQbcY `VaS_Z, `_bcQcVZ^lZ, Art. 124, S. 156; ?c^o[_SQ, S: 4aYiQVS/ NaUV\VSb[YZ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d [_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, hQbcY `VaS_Z, `_bcQcVZ^lZ, Art. 124, S. 143. 367 BVaTVVS, S: BVaTVVS (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d ;_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 124, S. 365 f. Dies ist leider nicht immer der Fall. Oft machen die staatlichen Organisationen einen Anspruch auf bevorzugte Behandlung gegenu¨ber anderen Privatrechtsteilnehmern geltend. So versuchen sich die Kommunen oft der Haftung unter der Begru¨ndung fehlender Budgetmittel zu entziehen, vgl. @_bcQ^_S\V^YV E1B @_S_\Wb[_T_ _[adTQ _c

II. Grundrechte im russischen Privatrecht

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Rechtsstaatsprinzips genügen368. Damit wäre zum einen festgestellt, dass dem Staat im Privatrechtsverkehr jedenfalls keine Machtbefugnisse zustehen können: Begibt sich der Staat auf die private Ebene, so muss er die Parität der dort agierenden Mächte wahren. Zum anderen muss aber die Rechtsfähigkeit des Staates i.S.d. Art. 124 ff. i.V.m. 2 Abs. 1, UAbs. 2, S. 2 GKRF, welcher die Natur der staatlichen Rechtsfähigkeit neben der Verfassung regelt, besonderer Art sein369. Der GKRF ordnet zunächst die grundsätzliche Geltung der Normen über die Rechtsstellung der juristischen Person an, soweit sich nicht aus den Gesetzen oder dem Wesen staatlicher Privatrechtssubjekte etwas anderes ergibt. Nach Art. 124 Abs. 2 i.V.m. 49 Abs. 1 GKRF sind die staatlichen Rechtssubjekte, entsprechend den juristischen Personen, in dem Maße rechtsfähig, wie die Ziele ihrer Tätigkeit reichen370. Diese Besonderheit der staatlichen Rechtsstellung drückt sich vor allem in speziellen Bestimmungen des Zivilkodexes für den Staat aus, so z. B. in der Bestimmung besonderer Eigentumsarten für den Staat gemäß Art. 212 Abs. 3 GKRF, den besonderen Formen des Eigentumserwerbs und -verlustes gemäß Art. 225, 228, 279, 217, 235 GKRF, der Amtshaftung gemäß Art. 16 i.V.m. 1069 f. GKRF, den besonderen Vertragsformen sowie im Vertrag über Dienstleistungen und Lieferungen zur Erfüllung staatlicher Aufgaben gemäß Art. 529 Abs. 5, 526 GKRF. Dagegen kann der Staat aber z. B. nicht aufgrund privatrechtlicher Bestimmungen liquidiert werden371. Die Fragen der Vertretung oder Haftung einzelner staatlicher Subjekte für ihre juristischen Personen, andere Subjekte und umgekehrt werden in den Art. 125 – 127 GKRF gesondert geregelt. Vereinzelt enthalten neben dem Zivilkodex auch andere einfachgesetzliche Regelungen Bestimmungen über die Rechtsstellung staatlicher Privatrechtssubjekte372. Das aufgezeigte Normgefüge hat zwar zur Klärung der Frage der grundsätzlichen Privatrechtsfähigkeit staatlicher Einrichtungen beigetragen, jedoch die Art der Rechtsfähigkeit öffentlich-rechtlicher Privatrechtssubjekte und in vielen Punkten auch die praktische Handhabung dieser Problematik ungeklärt gelassen, sodass das 25. 06. 2002 N 112-10014/01-4 (unvero¨ffentlicht); @_bcQ^_S\V^YV E1B =_b[_Sb[_T_ _[adTQ _c 02. 03. 2000 N ;4-140/710-00 (unvero¨ffentlicht); BdfQ^_S, ?R _cSVcbcSV^^_bcY T_bdUQabcSQ `_ TaQWUQ^b[_ – `aQS_Sl] _RpXQcV\mbcSQ], 3Vbc^Y[ 31B AE, 2001/3, S. 117, 124. 368 2QaV^R_Z]/4QUWYVS/ýQeYcb[YZ/=Qd, ;_^bcYcdgY_^^Qp n[_^_]Y[Q, DhVR^Y[ U\p oaYUYhVb[Yf Y SlbiYf n[_^_]YhVb[Yf XQSVUV^YZ, S. 285. 369 ?`aVUV\V^YV ;B AE _c 04. 12. 1997 N 139-? (unvero¨ffentlicht), Ziff. 3; =_X_\Y^, S: 1R_SQ/;QRQ\[Y^Q (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d [_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, C_] 1, Art. 124, S. 142; BVaTVVS, S: BVaTVVS (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d ;_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 124, S. 366. 370 BVaTVVS, S: BVaTVVS (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d ;_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 124, S. 366. 371 6ai_S/BdcpTY^/;QZ\m (aVU.), @_bcQcVZ^lZ [_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d [_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 124, S. 95. 372 Dazu: 2aQTY^b[YZ, S: BQUY[_S (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d [_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, hQbcY `VaS_Z, `_bcQcVZ^lZ, Art. 124, S. 156.

128

C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

Wesen der staatlichen Rechtsfähigkeit in der russischen Rechtswissenschaft umstritten bleibt und auf eine umfassende Untersuchung wartet373. c) Die Grundrechte als Objekte des russischen Privatrechts, Art. 2 Abs. 2 GKRF Das russische Zivilrecht schützt gemäß Art. 2 Abs. 2 GKRF374 „die unantastbaren Rechte und Freiheiten des Menschen und andere immaterielle Güter, wenn sich nicht etwas anderes aus dem Wesen dieser immateriellen Güter ergibt“. Diese Erweiterung des Kreises an Objekten des Privatrechts entspricht der historischen Entwicklung der Vorstellung von immateriellen Gütern, und steht in einer langen Rechtstradition375. Seine Konkretisierung findet Art. 2 Abs. 2 GKRF in Art. 150 GKRF, welcher die immateriellen Güter, die durch den GKRF geschützt werden, im Einzelnen bezeichnet376, wobei die Aufzählung dort nicht abschließend ist377. Damit sieht der GKRF die „unantastbaren Rechte und Freiheiten des Menschen“ seinem Wortlaut nach als einen Unterfall immaterieller Güter an. Den immateriellen Gütern i.S.d. Art. 2 Abs. 2 GKRF ist gemein, dass sie einen allgemein gültigen und faktischen Charakter378 haben. Sie sind nicht privatrechtlicher Natur, sondern im Wesentlichen im zweiten Kapitel der KRF verankert379. Gemeint sind dabei die verfassungsrechtlichen Rechte und Freiheiten, denn nur solche werden von der 373 Ausführliche Darstellung dieses Streits findet sich bei: 2QaV^R_Z]/4QUWYVS/ ýQeYcb[YZ/=Qd, ;_^bcYcdgY_^^Qp n[_^_]Y[Q, DhVR^Y[ U\p oaYUYhVb[Yf Y SlbiYf n[_^_]YhVb[Yf XQSVUV^YZ, S. 280 ff.; s. auch: BVaTVVS, S: ders. (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d ;_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 124, S. 366. Zur Problematik der Stellung des Staates als Privatrechtssubjekt angesichts seiner legislativen Befugnisse vgl. ;_]YbbQa_SQ, @aY^gY`l S `aQSV Y _b^_S^lV ^QhQ\Q TaQWUQ^b[_T_ XQ[_^_UQcV\mbcSQ, S. 196 ff. 374 Zu der Kritik an der Formulierung bzw. der Unvollständigkeit und der Ungenauigkeit der Norm vgl. 2V\_S, 4aQWUQ^b[_V `aQS_, _RjQp hQbcm, C_] I. 3SVUV^YV S TaQWUQ^b[_V `aQS_, 44 ff. 375 s. o. C., II., 1. Zu den entsprechenden Ansichten in der Literatur der Sowjetzeit: 9_eeV, ýYh^lV ^VY]djVbcSV^^lV `aQSQ Y Yf ]Vbc_ S bYbcV]V b_SVcb[_T_ TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, B_SVcb[_V T_bdUQabcS_ Y `aQS_ 1966, N 7, S. 51 ff.; HVaV`QfY^ (aVU.), 4aQWUQ^b[_`aQS_SQp _faQ^Q Y^cVaVb_S \Yh^_bcY, S. 58 ff.; P[_S\VS, 4aQWUQ^b[_-`aQS_S_Z ]Vc_U aVTd\Ya_SQ^Yp _RjVbcSV^^lf _c^_iV^YZ, S. 49. 376 Eine genaue Untersuchung der immateriellen Güter erfolgt unter C., II., 2., e). 377 =_X_\Y^, S: 1R_SQ/;QRQ\[Y^Q (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d [_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, C_] 1, Art. 2, S. 10. 378 BQUY[_S (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_: DhVR^Y[, C_] 1, S. 4; Bd\VZ]V^_S, @aVU]Vc, ]Vc_U Y bYbcV]Q TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ: `a_R\V]l cV_aYY Y `aQ[cY[Y, S: 3Ycap^b[YZ/ BdfQ^_S (aVU.), ?b^_S^lV `a_R\V]l hQbc^_T_ `aQSQ. BR_a^Y[ bcQcVZ [ oRY\Vo U_[c_aQ oaYUYhVb[Yf ^Qd[, `a_eVbb_aQ 1\V[bQ^UaQ ýmS_SYhQ =Q[_Sb[_T_, S. 209; BdfQ^_S (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_: 3 4 c. ?RjQp hQbcm: DhVR^Y[, C_] 1, S. 20. 379 =_X_\Y^/=Qb\pVS (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_: DhVR^Y[, hQbcm 1, S. 4; A_S^lZ, S: BVaTVVS (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d ;_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 2, S. 25.

II. Grundrechte im russischen Privatrecht

129

Privatrechtsordnung als unantastbar betrachtet380. Die Erwähnung „anderer immaterieller Güter“ dient vor diesem Hintergrund wohl als „Auffangtatbestand“ i.S.d. Art. 55 Abs. 1 KRF, wobei seine Notwendigkeit angesichts der Offenheit des Begriffs der „unantastbaren Rechte und Freiheiten“ angezweifelt werden kann. Auch an dieser Stelle kommt die naturrechtliche Grundrechtsposition der KRF zum Ausdruck: Die Grundrechte werden damit nicht als durch die Verfassung gegeben begriffen – sie werden als durch die Verfassung lediglich zu einer Rechtsordnung zusammengeführt verstanden, bzw. als darin in einer bestimmten Form zur unmittelbaren Geltung gebracht. Daneben haben die einfachen Gesetze die unmittelbare Aufgabe, diesen Rechtspositionen zur Geltung zu verhelfen. Auch nach dem Wortlaut des GKRF geht es nicht nur um die Grundrechte im engeren Sinne, sondern vielmehr um die unantastbaren Menschenrechte und -freiheiten, sodass ein Gefüge aus überstaatlichen Rechtsgütern umfassend begriffen wird. Unter den „unantastbaren Rechten und Freiheiten des Menschen“ versteht der GKRF in seiner (im Übrigen dem Art. 17 Abs. 2 i.V.m. 2 S. 2 KRF sehr ähnlichen) Formulierung die Grundrechte der russischen Verfassung381, bzw. die Menschenrechte. Es ist deshalb auch folgerichtig, dass das Privatrecht sie deshalb nur schützen382 und nicht etwa bestimmen kann383. Darin spiegelt sich u. a. auch der Unterschied zu den im ersten Absatz genannten Rechtspositionen, welche gerade nicht geschützt, sondern „bestimmt“ und „geregelt“ werden. Dies ist auch insofern zutreffend, als dass diese Rechtsgüter (dem Grunde nach noch nicht einmal) durch die Verfassung geregelt werden, bzw. die Verfassung diese „in eine rechtliche Form gießt“. Eine einfachgesetzliche Rechtsnorm kann diese Güter deshalb nicht mehr „regeln“ oder „bestimmen“. Ihre Rolle kann sich dann nur im Schutz durch Ausbalancierung einzelner Güter untereinander, in den Grenzen des Art. 55 Abs. 3, 2 i.V.m. 17 Abs. 3 KRF sowie einzelnen, besonderen verfassungsrechtlichen Schranken erschöpfen, was die vorrangige Aufgabe des Gesetzgebers ist, Art. 2 S. 2 KRF. Nach Meinung einiger Autoren besteht eine andere Besonderheit dieses Schutzes darin, dass er nur bei einer Verletzung der jeweiligen Rechtsposition greifen kann384. Damit wird die Grenze zwischen „Regelung“ und „Schutz“ darin gesehen, dass bei der Regelung ein Rechtsverhältnis immer und unabhängig von seinem Zustand modifiziert wird, wohingegen der Schutz nur im Fall der Verletzung gewährt werden

380

A_S^lZ, S: BVaTVVS (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d ;_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 2, S. 25. 381 =_X_\Y^/=Qb\pVS (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_: DhVR^Y[, hQbcm 1, S. 4; A_S^lZ S: BVaTVVS (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d ;_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 2, S. 25. 382 Die Arten des Schutzes sind genauer in Art. 12 GKRF geregelt. 383 NaUV\VSb[YZ S: 4aYiQVS/NaUV\VSb[YZ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d [_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, hQbcY `VaS_Z, `_bcQcVZ^lZ, Art. 2, S. 7. 384 A_S^lZ, S: BVaTVVS (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d ;_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 2, S. 25 f.

130

C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

muss385. Gleichzeitig entnimmt diese Ansicht den Art. 19, 151 Abs. 1, 1265 GKRF, dass das Wesen mancher solcher Rechtspositionen die Möglichkeit ihrer Regelung nicht ausschließt. Daraus wiederum wird geschlossen, dass die Rechtmäßigkeit der Wahrnehmung mancher Rechte durchaus gesetzgeberisch geregelt werden kann, was die Grenze zwischen den beiden Begriffen letztlich nivelliert386. Dagegen lässt sich jedoch einwenden, dass sich das Verständnis des Begriffs des Schutzes nicht in der Wiederherstellung des rechtmäßigen Zustandes nach Rechtsverletzungen erschöpfen muss. Der Schutz kann in Übereinstimmung mit dem verfassungsrechtlichen Schutzauftrag i.S.d. Art. 2 S. 2 KRF ebenfalls präventiver Natur387 sein, was die Möglichkeit der gesetzgeberischen Regelung in den Grenzen des Art. 55 Abs. 2, 3 KRF erklärt und durchaus ermöglicht, eine Grenze zwischen den beiden Begriffen zu ziehen. Dies wird auch durch den Wortlaut des Art. 2 Abs. 1 S. 1 GKRF zum Ausdruck gebracht, welcher die persönlichen, immateriellen Rechtsverhältnisse unter Privaten zum Regelungsobjekt des Zivilrechts macht. Hier wird deutlich, dass nur die äußere „Schale“ der immateriellen Güter, also die damit in Verbindung stehenden Rechtsverhältnisse, und insbesondere für den Fall der Kollision mit den Rechten anderer i.S.d. Art. 17 Abs. 3 KRF, geregelt werden kann, nicht jedoch diese Rechtsgüter selbst388. Aus dem Gesagten lässt sich folgern, dass die Grund- und Menschenrechte durch das Zivilrecht in Form von Rechtsgütern wahrgenommen werden. Auf diese Weise ist der Begriff „immaterielle Güter“ ein privatrechtlicher terminus technicus, der weiter als der Begriff der Grundrechte ist, mit welchem er aber eine Schnittmenge insoweit aufweist, als dass die Grundrechte natürlichen Personen von Geburt an zustehen, natürlicher Art und unveräußerlich sind (Art. 17 Abs. 2 GKRF) und meist keinen unmittelbaren wirtschaftlichen Wert haben. Dies führt letztlich dazu, dass sie im Fall der Verletzung nicht in vollem Maße wiederhergestellt werden können389. Aber auch andere immaterielle Güter, wie das Namensrecht oder der Geschäftsruf,

385 A_S^lZ, S: BVaTVVS (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d ;_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 2, S. 25 f. 386 6ai_S/BdcpTY^/;QZ\m, @_bcQcVZ^lZ [_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d [_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 2, S. 4; ;aQbQShY[_SQ, @_^pcYV Y bYbcV]Q \Yh^lf, ^V bSpXQ^^lf b Y]djVbcSV^^l]Y `aQS TaQWUQ^ (eYXYhVb[Yf \Yg) S TaQWUQ^b[_] `aQSV A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, S. 33; A_S^lZ, S: BVaTVVS (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d ;_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 2, S. 26; BQUY[_S, S: BQUY[_SQ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d [_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, hQbcY `VaS_Z, `_bcQcVZ^lZ, Art. 1, S. 18. 387 NRXVVS, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 2, S. 69. 388 So auch =Q\VY^Q, ýYh^lV ^VY]djVbcSV^^lV `aQSQ TaQWUQ^ (`_^pcYV, _bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ), S. 9, nach deren Meinung das Bu¨rgerliche Recht die immateriellen Rechtsgu¨ter schu¨tzt und die perso¨nlichen immateriellen Rechtsverha¨ltnisse regelt. 389 A_S^lZ, S: BVaTVVS (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d ;_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 2, S. 25.

II. Grundrechte im russischen Privatrecht

131

sind letztlich Facetten der jeweiligen Grundrechte der Bürger und deshalb davon nur schwer zu trennen. Der Zivilkodex erweiterte damit zum ersten Mal den Katalog von Objekten des russischen Zivilrechts390 : Dazu gehören nun nicht nur die in Art. 2 Abs. 1 GKRF genannten Sachenrechte, die Rechtsstellung der Teilnehmer am Privatrechtsverkehr, das Recht des Know-how, die Rechte aus Schuldverhältnissen und andere materiellen Rechte, sondern gemäß Art. 2 Abs. 2 GKRF auch die immateriellen Güter391, u. a. die Grundrechte der Bürger. Letztere sind jedoch insoweit Objekte eigener Art, als dass sie durch das Zivilrecht nicht bestimmt oder geregelt, sondern nur geschützt werden können, also seine Schutzobjekte sind. d) Verfassungsrechtliche Gehalte der „grundlegenden Prinzipien“ des russischen Privatrechts i.S.d. Art. 1 GKRF Auch Art. 1 GKRF verhilft im russischen Privatrecht einigen verfassungsrechtlichen Bestimmungen zur Geltung. Dies sind der Grundsatz der Gleichheit i.S.d. Art. 19 Abs. 1, Abs. 2 KRF, das Recht des Privateigentums i.S.d. Art. 35 Abs. 1, Abs. 2 i.V.m. 8 Abs. 2 KRF, die Unantastbarkeit des Privatlebens i.S.d. Art. 23 Abs. 1 KRF, das Recht auf effektiven Rechtsschutz gemäß Art. 45, 46 Abs. 1 KRF und die unternehmerische Freiheit i.S.d. Art. 34 Abs. 1 KRF. Gemäß Art. 1 Abs. 1 GKRF gründen die privatrechtlichen Gesetze auf der Anerkennung der Gleichheit der Teilnehmer der zu regulierenden Rechtsbeziehungen, welche sich in einer Reihe weiterer Normen äußert, unter anderem: in der gleichen Rechtsfähigkeit i.S.d. Art. 17 GKRF bzw. Art. 49 GKRF, die in Art. 2 Abs. 1 GKRF wiederholt wird; in der Unantastbarkeit des Eigentums (welche durch das Sachenrecht ausdifferenziert wird); in der Vertragsfreiheit, welche in Art. 241 GKRF näher geregelt wird; in der Unzulässigkeit von Einmischung in privaten Angelegenheiten, welche die Regelungen über den Schutz bürgerlicher Rechte i.S.d. Art. 11 ff. GKRF und immaterieller Güter zur Geltung verhilft; und schließlich in der Notwendigkeit uneingeschränkter Wahrnehmung bürgerlicher Rechte sowie der Gewährleistung der Wiederherstellung verletzter Rechte (welche in Art. 11 f. GKRF näher bestimmt werden) und ihres gerichtlichen Schutzes. Gemäß Art. 1 Abs. 2 UAbs.1392 GKRF erlangen und nehmen die Bürger (als natürliche Personen) und juristische Personen ihre 390 =_X_\Y^, S: 1R_SQ/;QRQ\[Y^Q (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d [_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, C_] 1, Art. 2, S. 10. 391 Bd\VZ]V^_S, @aVU]Vc, ]Vc_U Y bYbcV]Q TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ: `a_R\V]l cV_aYY Y `aQ[cY[Y, S: 3Ycap^b[YZ/BdfQ^_S (aVU.), ?b^_S^lV `a_R\V]l hQbc^_T_ `aQSQ. BR_a^Y[ bcQcVZ [ oRY\Vo U_[c_aQ oaYUYhVb[Yf ^Qd[, `a_eVbb_aQ 1\V[bQ^UaQ ýmS_SYhQ =Q[_Sb[_T_, S. 206. 392 Hier soll der Streit, ob auch Abs. 2 und 3 zu den „grundlegenden Prinzipien“ gezählt werden sollen, aufgrund sprachlich klaren Ausdrucks gesetzgeberischer Intention, die in der Überschrift und dem Inhalt der Norm ihren Niederschlag findet, nicht näher dargestellt werden. Die hier vertretene Meinung entspricht der herrschenden Ansicht, s. @a_f_a[_, 5Yb`_XYcYS^_bcm [Q[ `aY^gY` a_bbYZb[_T_ TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, S. 109 ff. m.w.N.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

bürgerlichen Rechte „auf eigenen Wunsch und im eigenen Interesse“ wahr. Sie sind danach frei in der Begründung von eigenen Rechten und Pflichten aufgrund eines Vertrages und in der Vereinbarung jeglicher vertraglicher Bestimmungen, die dem Gesetz nicht widersprechen. Dabei dürfen die bürgerlichen Rechte gemäß Art. 1 Abs. 2 UAbs. 2 GKRF nur aufgrund eines föderalen Gesetzes und nur in dem Maße begrenzt werden, wie dies zum Schutz von Grundlagen der verfassungsrechtlichen Ordnung, Moral, Gesundheit, Rechte und rechtmäßigen Interessen anderer Personen sowie zur Gewährleistung der Landesverteidigung und Staatssicherheit notwendig ist. Ausweislich amtlicher Überschrift sind dies die „grundlegenden Prinzipien bürgerlichen Rechts393“, welche zum Ziel haben, die Verfassungskonformität des bürgerlichen Rechts zu gewährleisten und im Hinblick darauf also nur als ein Gefüge begriffen werden können394. aa) Ähnlichkeit in den Formulierungen der KRF und GKRF Beim Lesen der Norm fällt als Erstes auf, dass Art. 1 Abs. 2 UAbs. 2 GKRF, wie im Übrigen auch Art. 1 Abs. 3 GKRF, jeweils die Bestimmungen der Art. 55 Abs. 3 und 74 Abs. 2 KRF wortwörtlich wiederholt. Der einzige Unterschied im Wortlaut des Art. 1 Abs. 2 UAbs. 2 GKRF gegenüber Art. 55 Abs. 3 KRF liegt darin, dass der Ausdruck „Grundrechte und Freiheiten des Bürgers“ aus Art. 55 Abs. 3 KRF durch den Ausdruck „bürgerliche Rechte“ ersetzt wird. Es stellt sich deshalb die Frage, ob sich darin gegebenenfalls eine bewusste Abkehr vom Schutz der Grundrechte zeigt. Dagegen spricht zunächst Art. 2 Abs. 2 GKRF, welcher die Grundrechte zu Objekten des bürgerlichen Rechts macht395. Es lässt sich sodann anführen, dass die Grundrechte im bürgerlichen Recht – neben den anderen Rechten, die dieses Rechtsgebiet hervorbringt – ja gerade zu den Rechten der Bürger im Sinne des Zivilrechts werden und deshalb unter den Begriff der bürgerlichen Rechte fallen müssen. Der Begriff der „bürgerlichen Rechte“ ist damit, wie auch der der „immateriellen Güter“, ein weiter Begriff sowie terminus technicus des bürgerlichen Rechts, welches neben den grundrechtlichen Rechtspositionen auch andere Rechte umfasst. Das bedeutet letztlich, dass der Zivilkodex den Rahmen der Zulässigkeit von Einschränkungen 393 Art. 1 GKRF trägt die Überschrift „?b^_S^lV ^QhQ\Q TaQWUQ^b[_T_ ¨ bersetzung nicht den XQ[_^_UQcV\mbcSQ“ damit benutzt er entgegen der hier verwendeten U Ausdruck „`aY^gY`l“ (Prinzipien), sondern „^QhQ\Q“ (Anfa¨nge, Grundlagen). Die wort¨ bersetzung wu¨rde deshalb lauten „Grundlegende Anfa¨nge/Grundlagen ziviler wo¨rtliche U Gesetzgebung“. Von diesem Ausdruck wird jedoch zugunsten eines besseren Versta¨ndnisses und einer besseren Ausdrucksform Abstand genommen. Eine Ungenauigkeit entsteht deswegen nicht, weil die russische Rechtslehre die beiden Begriffe als weitgehend deckungsgleich betrachtet, vgl. @a_f_a[_, 5Yb`_XYcYS^_bcm [Q[ `aY^gY` a_bbYZb[_T_ TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, S. 96 und 102 mit jeweils w.N.; auch ;_]YbbQa_SQ, @aY^gY`l S `aQSV Y _b^_S^lV ^QhQ\Q TaQWUQ^b[_T_ XQ[_^_UQcV\mbcSQ, S. 128 ff. 394 =_X_\Y^, S: 1R_SQ/;QRQ\[Y^Q (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d [_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, C_] 1, Art. 1, S. 4; A_S^lZ, S: BVaTVVS (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d ;_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 1, S. 17. 395 Vgl. soeben C., II., 2., c).

II. Grundrechte im russischen Privatrecht

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i.S.d. Art. 55 Abs. 3 KRF auf alle Rechte, die sich aus bürgerlichen Rechtsverhältnissen ergeben, erstreckt. Dies steht insoweit im Einklang mit dem Vorrang der Verfassung und ihrer direkten Wirkung i.S.d. Art. 15 Abs. 1 KRF396, als dass es die Anwendbarkeit dieser qualifizierten Schrankenbestimmung nicht verengt, sondern im Gegenteil auch auf andere Bereiche des Privatrechts ausdehnt. Die wortwörtliche Wiederholung der jeweiligen verfassungsrechtlichen Normen397 erklärt sich indes historisch durch die anfängliche Unsicherheit der Urheber des Zivilkodexes und durch ihren Wunsch, den verfassungsrechtlichen Vorgaben im Privatrecht Geltung zu verschaffen398. Die Normen der Verfassung können aufgrund ihrer Zielsetzung und Abstraktion jedoch nur schwerlich der zivilrechtlichen Realität genügen. Im Gegensatz zum Privatrecht muss die Verfassung viel allgemeiner und abstrakter formuliert sein. Ihr Ziel ist es nicht, bestimmte Rechtsbeziehungen zu regeln, sondern rechtliche Grundlagen des Zusammenlebens in der Gesellschaft und Richtlinien der rechtlichen Entwicklung zu schaffen. Aufgrund von Besonderheiten der russischen Verfassung wendet sich diese sowohl an den Staat als auch gleichsam an die Bürger, sodass sich das Problem ihrer Auslegung auf zwei Ebenen, nämlich der des Staat-Bürger- sowie der des Bürger-Bürger-Verhältnisses, stellt. Eine Implementierung verfassungsrechtlicher Bestimmungen ohne Konkretisierung im Hinblick auf das konkrete Regelungsziel kann daher meist keine einfachgesetzliche Regelung in ihrer typischen Form hervorbringen399, sodass eine Anpassung stets vonnöten ist, auch wenn ein verfassungsrechtlicher Gedanke auf das einfache Recht übertragen werden soll400. Aus dem Gesagten kann geschlossen werden, dass der normative Gehalt des Art. 1 Abs. 2 UAbs. 2 GKRF in den Vorgaben für die Rechtmäßigkeit von Schranken bürgerlicher Rechte liegt. Die systematische Stellung des Art. 1 GKRF sollte jedoch nicht über ihren Anwendungsreich hinwegtäuschen – nicht nur die dort bezeichneten „bürgerlichen Rechte“, sondern auch die „grundlegenden Prinzipien“ des Abs. 1 Abs. 1 GKRF als Ausdruck verfassungsrechtlicher Rechte können eingeschränkt werden401. Der Grund dafür liegt darin, dass die „bürgerlichen Rechte“ aufgrund dieser grundlegenden Prinzipien i.S.d. Art. 1 Abs. 2 S. 3 GKRF und in dem von ihnen vorgegebenen Rahmen entstehen. Dagegen spielen die Prinzipien als solche zunächst keine selbstständige Rolle im Rechtsverkehr – sie sind lediglich die Grundlage bzw. der 396

A_S^lZ, S: BVaTVVS (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d ;_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 1, S. 17. 397 Zu den anderen Beispielen solcher „Inkorporationen“ verfassungsrechtlicher Bestimmungen in den GKRF s. ?b]Q^_S, @aY^gY`l Y bdUVR^lV `aVgVUV^cl [Q[ Ybc_h^Y[Y a_bbYZb[_T_ TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ Y Yf [_^bcYcdgY_^^Qp _b^_SQ, S. 61 f. 398 =Q[_Sb[YZ, ? [_UYeY[QgYY TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ (1922 – 2006), S. 344. 399 =Q[_Sb[YZ, ? [_UYeY[QgYY TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ (1922 – 2006), S. 344 ff. 400 Vgl. zu diesem Thema bereit oben, unter C., II., 2., c). 401 =_X_\Y^, S: 1R_SQ/;QRQ\[Y^Q (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d [_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, C_] 1, Art. 1, S. 4; A_S^lZ, S: BVaTVVS (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d ;_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 1, S. 9, 18.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

Rahmen privatrechtlicher Rechtsverhältnisse. Die Prinzipien bürgerlichen Rechts sind also „die verallgemeinerte Information darüber, was die Subjekte der Privatrechts dürfen oder nicht402“. Im hypothetischen Fall völliger Abwesenheit anderer privatrechtlicher Bestimmungen müssten sich daraus Verhaltensnormen ergeben403. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob die „grundlegenden Prinzipien“ des Art. 1 GKRF auch subjektive Rechte gewähren können (und, wenn dies zu bejahen sein sollte, in welchen Fällen) oder z. B. aufgrund der Überlagerung mit spezialgesetzlichen Normen ausschließlich objektives Recht darstellen. bb) Art. 1 GKRF als sogenannte „Prinzipiennorm“ Bei Art. 1 GKRF handelt es sich um eine sogenannte „Prinzipiennorm“. Unter „Prinzipiennormen“ werden in der russischen Rechtswissenschaft „spezialisierte, imperative, äußerst allgemein gehaltene Regelungen, die den Inhalt aller anderen privatrechtlichen Rechtsnormen bestimmen und in Bezug auf diese höchste juristische Kraft haben, atypische Struktur aufweisen und spezifische Funktionen in der bürgerlich-rechtlichen Regulierung besitzen“ verstanden404. Dabei müssen die grundlegenden Prinzipien des bürgerlichen Rechts von den bürgerlich-rechtlichen Prinzipien unterschieden werden, welche die konstituierenden privatrechtlichen Institute meinen. Dies sind z. B. die Testierfreiheit i.S.d. Art. 1119 GKRF oder der Grundsatz „pacta sunt servanda“, welcher in Art. 309 GKRF zum Ausdruck kommt. Einige dieser in Art. 1 Abs. 1, 2 UAbs. 1 GKRF genannten grundlegenden Prinzipien könnten aufgrund der Abstraktheit ihrer Begriffe als lediglich objektive verfassungsrechtliche Werte betrachtet werden. Diese Ansicht wurde von manchen Autoren in der älteren Literatur vertreten. Diese meinten, dass die Rechtsprinzipien im Allgemeinen und die Prinzipiennormen im Besonderen bereits aufgrund ihrer Rechtsnatur nur mittelbar angewandt werden könnten405 und deshalb zur Entscheidung einer konkreten juristischen Frage mangels konkreter Verhaltensregelung schlicht ungenügend seien406. Dagegen spricht jedoch bereits die Verankerung dieser Prinzipien im Zivilkodex, der das Privatrecht unmittelbar regelt. Auch Art. 1 Abs. 1 GKRF in Verbindung mit der direkten Wirkung der Verfassung erlaubt eine andere Betrachtung. Danach stellen diese Prinzipien eine einfachgesetzliche, privatrecht-

402 ;_]YbbQa_SQ, @aY^gY`l S `aQSV Y _b^_S^lV ^QhQ\Q TaQWUQ^b[_T_ XQ[_^_UQcV\mbcSQ, S. 72, 135. 403 ;_]YbbQa_SQ, @aY^gY`l S `aQSV Y _b^_S^lV ^QhQ\Q TaQWUQ^b[_T_ XQ[_^_UQcV\mbcSQ, S. 135. 404 ;dX^Vg_SQ, þ_a]l-`aY^gY`l a_bbYZb[_T_ TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, S. 47. 405 ýVdiY^, 5Y^Q]Yh^_bcm b_SVcb[_T_ `aQSQ Y S_b`_\^V^YV `a_RV\_S S XQ[_^_UQcV\mbcSV, S. 198. 406 =Yg[VSYh, þ_a]l b_SVcb[_T_ `aQSQ. @a_R\V]l cV_aYY, @aQS_SVUV^YV 1990, N 4, S. 104, 105.

II. Grundrechte im russischen Privatrecht

135

liche Umsetzung der jeweiligen Grundrechte dar407. Dies bestätigt auch der bereits erwähnte kommentierende Beschluss des WSRF408, in welchem das Oberste Gericht den einfachen Gerichten vorgab, die Verfassung in bestimmten Fällen bei ihren Entscheidungen direkt anzuwenden, wobei erneut darauf hinzuweisen ist, dass die vorgenommene Aufzählung der Fälle ausdrücklich nicht abschließend ist409. Damit würde systematisch nichts gegen die Vermittlung auch von subjektiven Rechtspositionen durch die „grundlegenden Prinzipien“ des Art. 1 GKRF sprechen. Zwar drückt Art. 1 Abs. 1 GKRF die Prinzipien des bürgerlichen Rechts auf direkte Art aus, seine Regelungen tragen jedoch allgemeinen Charakter, sie bestimmen somit zunächst keine konkreten Rechte und Pflichten und sind deshalb subsidiär410. Dies schließt ihre direkte Anwendung jedoch nicht aus. Auch wenn die „grundlegenden Prinzipien“ keine typischen Normen im Sinne der Festlegung eines Tatbestandes und konkreter Rechtsfolgen sind, so besitzen sie als zivilrechtliche Normen411 doch alle formalen Eigenschaften einer gewöhnlichen Norm412. Ihr primäres Ziel ist es, eine Hierarchie der rechtlichen Werte zu schaffen, welche durch die Regelungen des GKRF zu schützen sind413. Deshalb weisen sie auch eine eigene, von der gewöhnlichen abweichende Struktur auf. Sie können mittelbar durch andere Rechtsnormen gelten, wie auch unmittelbar angewandt werden414. Dies kann aufgrund von Lü407 @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 21. 04. 2003 N 6-@, Ziff. 3, B8 AE 28. 04. 2003/17/1657. Im Bezug auf die Prinzipien des Steuerrechtes: @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 27. 05. 2003 N 9-@, Ziff. 2, B8 AE 16. 06. 2003/24/2431. In diesem Sinne werden die grundlegenden Prinzipien auch von: =_X_\Y^, S: =Qb\pVS (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_: DhVR^Y[, hQbcm 1, S. 11; BdfQ^_S (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_: 3 4 c. ?RjQp hQbcm: DhVR^Y[, C_] 1, S. 39 gesehen, welche die einzelnen Grundlagen als Ausdruck jeweiliger Grundrechte sehen. 408 @_bcQ^_S\V^YV @\V^d]Q 3B AE _c 31. 10. 1995 N 8 (aVU. oc 06. 02. 2007): „? ^V[_c_alf S_`a_bQf `aY]V^V^Yp bdUQ]Y ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY `aY _bdjVbcS\V^YY `aQS_bdUYp“, A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 28. 12. 1995/247. 409 @_bcQ^_S\V^YV @\V^d]Q 3B AE _c 31. 10. 1995 N 8 (aVU. oc 06. 02. 2007): „? ^V[_c_alf S_`a_bQf `aY]V^V^Yp bdUQ]Y ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY `aY _bdjVbcS\V^YY `aQS_bdUYp“, A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 28. 12. 1995/247, Ziff. 2 („S hQbc^_bcY“, also „insbesondere“ in den aufgeza¨hlten Fa¨llen). 410 ;dX^Vg_SQ, þ_a]l-`aY^gY`l a_bbYZb[_T_ TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, S. 51. 411 ;_]YbbQa_SQ, @aY^gY`l S `aQSV Y _b^_S^lV ^QhQ\Q TaQWUQ^b[_T_ XQ[_^_UQcV\mbcSQ, S. 138. 412 Die Normqualität von Prinzipiennormen wurde indes auch schon grundsätzlich abgelehnt. Diese Ansicht wird heute nicht mehr vertreten – die Normqualität eines Rechtssatzes richtet sich nach seiner äußeren Form und nicht nach dem Abstraktionsgrad seines Inhalts, vgl. dazu ;dX^Vg_SQ, þ_a]l-`aY^gY`l a_bbYZb[_T_ TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, S. 128; ausfu¨hrlich @a_f_a[_, 5Yb`_XYcYS^_bcm [Q[ `aY^gY` a_bbYZb[_T_ TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, S. 94 ff. Zustimmend auch ;_]YbbQa_SQ, @aY^gY`l S `aQSV Y _b^_S^lV ^QhQ\Q TaQWUQ^b[_T_ XQ[_^_UQcV\mbcSQ, S. 72, 129. Auch aus der Sicht deutscher Rechtswissenschaft sind Prinzipien neben den Regeln unter dem Oberbegriff der Norm zusammenzufassen, s. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 72. 413 ;_]YbbQa_SQ, @aY^gY`l S `aQSV Y _b^_S^lV ^QhQ\Q TaQWUQ^b[_T_ XQ[_^_UQcV\mbcSQ, S. 131. 414 ;dX^Vg_SQ, þ_a]l-`aY^gY`l a_bbYZb[_T_ TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, S. 128; @_cQ`_SQ, @aY^gY`l TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, S. 7.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

cken415 oder Widersprüchen416 zwischen geltenden Normen im Zivilrecht passieren417. Damit können die Prinzipien als Argumentationshilfe, bei Auslegung, zur Begründung analoger Anwendung sowie direkt als Grundlage einer gerichtlichen Entscheidung, bzw. von den Parteien als Einwendung, benutzt werden418. Dies, genauso wie der Gedanke der vorvertraglichen Haftung (culpa in contrahendo) in Bezug auf die Vertragsfreiheit, spricht für eine Anerkennung der „Grundlegenden Prinzipien“ als subjektive Rechtspositionen419. cc) Die Grundlegenden Prinzipien und ihr Verhältnis zu den Grundrechten Die „grundlegenden Prinzipien“ des Art. 1 Abs. 1 GKRF stellen aber schließlich lediglich Prinzipien des Zivilrechts dar420. Sie sind deshalb von den Grundrechten, von welchen sie abgeleitet wurden, trotz ihrer Ähnlichkeit zu trennen. Dieselben Begriffe des Verfassungsrechts sind naturgemäß aufgrund ihrer bereichsübergreifenden Geltung weiter als ihre „Verwandten“ im Privatrecht anzusehen, auch wenn sie eine Schnittmenge aufweisen421. Aber auch die verfassungsrechtlichen Normen als solche können Einfluss auf das Privatrecht ausüben. Dazu müssen sie sich jedoch erst im Privatrecht „auflösen“422. In diesem Sinn und in der Form verfassungsrechtlicher Prinzipien üben sie als Prüfsteine eine objektive Wirkung auf das Privatrecht aus423. Die „grundlegenden Prinzipien“ sind jedoch keine Prinzipien des 415 @_bcQ^_S\V^YV E1B =_b[_Sb[_T_ _[adTQ _c 15. 04. 2003 N ;4-140/2028-03 (unvero¨ffentlicht); @_bcQ^_S\V^YV E1B @_S_\Wb[_T_ _[adTQ _c 20. 04. 1999 N 90/8, N 153/8 (unvero¨ffentlicht),; zur Anwendung von „grundlegenden Prinzipien“ in den Fa¨llen von Gesetzeslu¨cken, s. ;_]YbbQa_SQ, @aY^gY`l S `aQSV Y _b^_S^lV ^QhQ\Q TaQWUQ^b[_T_ XQ[_^_UQcV\mbcSQ, S. 147. 416 @_bcQ^_S\V^YV E1B DaQ\mb[_T_ _[adTQ _c 20. 06. 2003 N E09-1506/2003-4; `_ UV\d N 176-19283/2003 (unvero¨ffentlicht). 417 3QSY\Y^, ?bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ TaQWUQ^b[Yf `aQS, S. 183. 418 ;dX^Vg_SQ, þ_a]l-`aY^gY`l a_bbYZb[_T_ TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, S. 131. Z.B.: @_bcQ^_S\V^YV E1B BVSVa_-;QS[QXb[_T_ _[adTQ _c 17. 03. 1999 N E08-403/99 (unvero¨ffentlicht), wo die Verletzung des Prinzips der Gleichheit zur Unwirksamkeit eines Vertrags fu¨hrte. Zustimmend @a_f_a[_, 5Yb`_XYcYS^_bcm [Q[ `aY^gY` a_bbYZb[_T_ TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, S. 101. 419 ;aQcV^[_, 8\_d`_caVR\V^YV bS_R_U_Z U_T_S_aQ: hQbc^_`aQS_SlV Y `dR\Yh^_`aQS_SlV Qb`V[cl, S. 5 ff. 420 In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass auch andere Kodifikationen Russlands (namentlich Familien-, Arbeits- und Steuerkodex) solche oder ähnliche Regelungen beinhalten, dazu ;_]YbbQa_SQ, @aY^gY`l S `aQSV Y _b^_S^lV ^QhQ\Q TaQWUQ^b[_T_ XQ[_^_UQcV\mbcSQ, S. 128. 421 2QaV^R_Z]/4QUWYVS/ýQeYcb[YZ/=Qd, ;_^bcYcdgY_^^Qp n[_^_]Y[Q, DhVR^Y[ U\p oaYUYhVb[Yf Y SlbiYf n[_^_]YhVb[Yf XQSVUV^YZ, S. 48. 422 2QaV^R_Z]/4QUWYVS/ýQeYcb[YZ/=Qd, ;_^bcYcdgY_^^Qp n[_^_]Y[Q, DhVR^Y[ U\p oaYUYhVb[Yf Y SlbiYf n[_^_]YhVb[Yf XQSVUV^YZ, S. 53. 423 @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 27. 01. 1993 N 1-@, 3Vbc^Y[ ;B AE, 1993/N 2 – 3, S. 3.

II. Grundrechte im russischen Privatrecht

137

Privatrechts, sondern bilden vielmehr dessen verfassungsrechtliche Grundlagen, welche ihre Wirkung auf das gesamte Privatrecht ausüben424. Daraus folgt gleichzeitig, dass die grundlegenden Prinzipien als integrativer Bestandteil der bürgerlichen Rechte gleichzeitig mit diesen eingeschränkt werden können. Zugleich kann auch die Existenz mehrerer Prinzipien nebeneinander nicht schrankenlos gewährleistet werden. Das Zusammenspiel von diesen Prinzipien kann ebenfalls nur infolge ihrer wechselseitigen Einschränkung i.S.d. Art. 1 Abs. 2 UAbs. 2 GKRF sichergestellt werden. Es darf zudem nicht übersehen werden, dass die bürgerlichen Rechte auch vertraglich oder durch eine Gerichtsentscheidung eingeschränkt werden können425. So wäre beispielsweise eine Dienstbarkeit eine solche Beschränkung des Eigentums. Eine gerichtliche Entscheidung dagegen kann nur selten eine neue Belastung für das jeweilige Recht mit sich bringen, vielmehr wird sie die bestehenden Verhältnisse für die Parteien klarstellen. Jedoch sind auch solche Fälle, vor allem bei rechtsgestaltenden Entscheidungen – wie beispielsweise der Beendigung des Eigentumsrechts i.S.d. Art. 235 Abs. 2 Ziff. 5), 6) i.V.m. 242, 243 GKRF – möglich. Daran wird erneut die Ungenauigkeit der Formulierung des Art. 55 Abs. 3 KRF426 deutlich, die der Zivilgesetzgeber nun mit in das Privatrecht übernommen hat. Darin ist jedoch keine Einschränkung von Prinzipien als mittelbarem Verfassungsrecht durch Handlungen Privater oder der Justiz zu sehen, sondern es handelt sich, genauer betrachtet, vielmehr um das Zusammentreffen unterschiedlicher Prinzipien und/oder ihrer Schranken, je nachdem, ob es sich dabei um einen Ausgleich mit privaten oder Interessen der Allgemeinheit handelt. Deswegen, und aufgrund ihrer besonderen Struktur, sind die „grundlegenden Prinzipien“ auch im Sinne der deutschen Lehre von den „Prinzipien“ bzw. den „Grundrechten als Optimierungsgeboten“ zu verstehen427. Auch die „grundlegenden Prinzipien“ sind Optimierungsgebote im Sinne dieser Theorie, da auch sie gebieten, die ihnen zugrundeliegenden Werte „in einem relativ auf die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten möglichst hohen Maße“ zu realisieren428. Damit sind auch die Fälle ihrer Kollision nach dem Gesetz der Prinzipienkollision zu lösen429. Bei der Frage nach der Rechtmäßigkeit einer Prinzipieneinschränkung gebietet der innewohnende Grundrechtsgehalt dieser Prinzipien dann auch die Anwendung des Verhältnismä424 @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 25. 07. 2001 N 12-@, B8 AE 06. 08. 2001/32/3411, Ziff. 4; 2QaV^R_Z]/4QUWYVS/ýQeYcb[YZ/=Qd, ;_^bcYcdgY_^^Qp n[_^_]Y[Q, DhVR^Y[ U\p oaYUYhVb[Yf Y SlbiYf n[_^_]YhVb[Yf XQSVUV^YZ, S. 59 f. 425 A_S^lZ, S: BVaTVVS (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d ;_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 1, S. 20; BQUY[_S, S: BQUY[_SQ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d [_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, hQbcY `VaS_Z, `_bcQcVZ^lZ, Art. 1, S. 16. 426 s. o. C., I., 1., b), ff), (2), (b). 427 Gemeint ist damit die Theorie von Alexy, welche auf Dworkin’s Prinzipientheorie gründet und in seiner Schrift „Theorie der Grundrechte“ ausdifferenziert und beschrieben wird, s. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 71 ff. 428 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75. 429 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 78 ff.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

ßigkeitsgrundsatzes430. Dieses Ergebnis wird von Art. 6 Abs. 2 GKRF noch untermauert. Danach sollen, falls die Gesetzesanalogie i.S.d. Art. 6 Abs. 1 GKRF unmöglich ist, „die Rechte und Pflichten der Subjekte ausgehend von den grundlegenden Prinzipien und Gedanken des bürgerlichen Rechts (Rechtsanalogie) sowie der Gutgläubigkeit, Vernünftigkeit und Gerechtigkeit bestimmt werden“. Damit legt der Gesetzgeber den Rechtsanwendern die Pflicht auf, im Falle einer Gesetzeslücke die Rechtsfragen unter Zuhilfenahme der grundlegenden Prinzipien zu lösen. Die Begriffe der „Gutgläubigkeit, Vernünftigkeit und Gerechtigkeit“ sind dabei den deutschen Begriffen „Treu und Glaube“ in ihrem Verständnis sehr ähnlich. Die grundlegenden Prinzipien stellen also eine zivilrechtliche Normierung verfassungsrechtlicher Bestimmungen dar431 und tragen deshalb verfassungsrechtlichen Charakter432. Aus diesem Grund können trotz der auf den ersten Blick abschließenden Aufzählung auch andere verfassungsrechtliche Bestimmungen als dazugehörend angesehen werden433. Dies wären vor allem die Bestimmung des Art. 17 KRF sowie Meinungsfreiheit, Kunstfreiheit und andere Grundrechte434. Für diese erweiternde Vorstellung spricht wiederum Art. 2 Abs. 2 GKRF, welcher die Grundrechte und Freiheiten unter zivilrechtlichen Schutz stellt. Im Übrigen ist das geistige Eigentum (Art. 44 Abs. 1 2 KRF) durch Art. 2 Abs. 1 GKRF ausdrücklich benannt. Im Ergebnis spielen die „Prinzipien“, neben anderen Rechtsnormen, im russischen Zivilrecht in gewisser Weise die Rolle der Generalklauseln des deutschen Privatrechts435 und der „Werteordnung-Theorie“ des Bundesverfassungsgerichts. Ihnen kommt trotz abstrakter Formulierung keine ausschließlich objektive Geltung zu, sie können vielmehr in bestimmten Fällen auch als subjektive Rechte geltend gemacht werden. Sie ähneln darin zwar mehr den Generalklauseln des deutschen Privatrechts, in Anbetracht ihrer objektiven Gehalte entsprechen sie aber eher dem Konstrukt der „objektiven Werteordnung“. 430 Zur Deduzierbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus dem Begriff des Prinzips als Optimierungsgebot, s. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 100 ff. 431 Dazu ?b]Q^_S, @aY^gY`l Y bdUVR^lV `aVgVUV^cl [Q[ Ybc_h^Y[Y a_bbYZb[_T_ TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ Y Yf [_^bcYcdgY_^^Qp _b^_SQ, S. 60. 432 @_bcQ^_S\V^YV E1B =_b[_Sb[_T_ _[adTQ _c 15. 04. 2003 N ;4-140/2028-03 (unvero¨ffentlicht); in diesem Sinne auch 3QSY\Y^, ?bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ TaQWUQ^b[Yf `aQS, S. 193; so ausdru¨cklich: A_S^lZ, S: BVaTVVS (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d ;_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 1, S. 16; BQUY[_S (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_: DhVR^Y[, C_] 1, S. 217. 433 So auch: 6ai_S/BdcpTY^/;QZ\m, @_bcQcVZ^lZ [_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d [_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 1, S. 2; A_S^lZ, S: BVaTVVS (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d ;_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 1, S. 16; wohl anders ;Q\]l[_S, ? X^QhV^YY _RjYf `_\_WV^YZ TaQWUQ^b[_T_ XQ[_^_UQcV\mbcSQ. 4aQWUQ^b[YZ [_UV[b A_bbYY. @a_R\V]l. CV_aYp. @aQ[cY[Q: BR_a^Y[ `Q]pcY B.1. F_f\_SQ, S. 47. Ausfu¨hrlich zum Streit u¨ber das Gerechtigkeitsprinzip @a_f_a[_, 5Yb`_XYcYS^_bcm [Q[ `aY^gY` a_bbYZb[_T_ TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, S. 102 ff. 434 A_S^lZ, S: BVaTVVS (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d ;_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 1, S. 16. 435 Ähnlich auch: 3QSY\Y^, ?bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ TaQWUQ^b[Yf `aQS, S. 182.

II. Grundrechte im russischen Privatrecht

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Im Weiteren sind einige dieser Prinzipien sowie ihre Rolle im russischen Privatrecht genauer zu betrachten. dd) Einzelne Prinzipien des Art. 1 GKRF (1) Das Prinzip der Unantastbarkeit des Eigentums Das Privateigentum ist die Grundlage des Privatrechts im System der freien Marktwirtschaft. Trotz jahrzehntelanger Negation des Privateigentums in der UdSSR war seine Einführung der erste Schritt auf dem Weg zur Demokratisierung der Gesellschaft während der Perestroika436. Gemäß Art. 35 Abs. 1 ist das Recht des Privateigentums geschützt. Gleichzeitig erkennt Art. 8 Abs. 2 i.V.m. Art. 9 Abs. 2 KRF das Eigentum Privater neben dem staatlichen und kommunalen Eigentum437 an. In diesem Zusammenhang ist die Unterscheidung zwischen dem Eigentum als einem privatrechtlichen Institut, welches von Art. 8 Abs. 2 und 9 Abs. 2 KRF anerkannt und geschützt wird, und dem Recht am Privateigentum, welches gemäß Art. 35 Abs. 1 KRF geschützt ist und dessen Schutzbereich und Schranken nach Art. 35 Abs. 2 und 3 sowie Art. 36 KRF festgelegt werden, von entscheidender Bedeutung. Auch in Russland hat das Privateigentum als Grundrecht einen besonderen Charakter. Das Eigentumsrecht Privater existiert nämlich nicht außerhalb des Privatrechts und wird dadurch erst geformt – es ist die Prärogative des Zivilgesetzgebers438. Davon zu unterscheiden ist aber das Privateigentum als solches: Es stellt ein Institut der Marktwirtschaft dar, auf welches der Gesetzgeber trifft und welches er nicht formen, sondern nur anerkennen und schützen kann, und dies auch muss. Der GKRF regelt deshalb seinem Anwendungsbereich nach nur das Recht am Privateigentum, nicht dagegen des Staats- oder Kommunaleigentumsrecht, oder gar das Eigentum als solches. Letzteres wäre bereits wegen der Formulierung des Art. 8 Abs. 2 KRF („anerkennen und schützen“) unzulässig. Im GKRF trifft man deswegen nur auf das „Recht einzelner Subjekte, wie es im GKRF normiert ist. (…) es gibt nur das subjektive Recht am Privateigentum, welches unterschiedlichen Subjekten zustehen kann, dies ist aber gleichzeitig das einheitliche Eigentumsrecht im objektiven Sinne, eine einheitliche Kategorie“439. Daraus folgt, dass Art. 1 Abs. 1 GKRF mit der Formulierung „Die privatrechtlichen Gesetze beruhen auf (…) Unantastbarkeit des 436

Vgl. oben C., II., 1. Auf „die anderen Arten des Eigentums“ i.S.d. Art. 8 Abs. 2 i.V.m. 9 Abs. 2 KRF soll hier nicht näher eingegangen werden. 438 5_X_agVS, @aY^gY`YQ\m^lV hVacl `aQSQ b_RbcSV^^_bcY S 4aQWUQ^b[_] [_UV[bV. 4aQWUQ^b[YZ [_UV[b A_bbYY. @a_R\V]l. CV_aYp. @aQ[cY[Q: BR_a^Y[ `Q]pcY B.1. F_f\_SQ, S. 229. 439 5_X_agVS, @aY^gY`YQ\m^lV hVacl `aQSQ b_RbcSV^^_bcY S 4aQWUQ^b[_] [_UV[bV. 4aQWUQ^b[YZ [_UV[b A_bbYY. @a_R\V]l. CV_aYp. @aQ[cY[Q: BR_a^Y[ `Q]pcY B.1. F_f\_SQ, S. 231. 437

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

Eigentums“ nicht etwa meint, dass das Eigentumsrecht unantastbar sei – dies wäre angesichts der Notwendigkeit der Ausgestaltung des Privateigentumsrechts unzulässig und letztlich in sich widersprüchlich. Mit der Unantastbarkeit bezieht sich der GKRF ausschließlich auf den Bestand des Instituts des Privateigentums als solchen und stellt deshalb eher einen historischen Rekurs dar, ohne jedoch etwa zu meinen, dass das jeweilige Eigentumsrecht unantastbar sei. Das bedeutet, dass zwar die konkrete Eigentumsposition entzogen werden kann, das Eigentum an sich aber unantastbar bleiben muss440. Jedes Eigentumsrecht kann eingeschränkt werden. In Fällen von Einschränkung des Eigentumsrechts müssen dann aber neben den Regelungen des Art. 55 Abs. 3 KRF i.V.m. Art. 1 Abs. 2 UAbs. 2 GKRF auch die Besonderheiten der Art. 35 Abs. 3 und 36 Abs. 2 KRF berücksichtigt werden441. So darf z. B. in Übereinstimmung mit verfassungsrechtlichen Anforderungen die Enteignung nur gegen Entgelt erfolgen442. Ausgehend von dem Gesagten müssen deshalb die Regelungen des Erlöschens bzw. des Eigentumsverlusts möglichst konkret und abschließend sein, um den verfassungsrechtlichen Anforderungen zu genügen. Nur so kann die jeweilige Regelung Art. 35 Abs. 1, 2 i.V.m. 8 Abs. 2 KRF genügen443. So ist beispielsweise die Enteignung i.S.d. Art. 35 Abs. 3 KRF in Art. 235 Abs. 1 Var. 1, Abs. 2 S. 1, Ziff. 3) i.V.m. 239 GKRF näher geregelt. Auch diese Tatsache zeigt, dass die Grenze zwischen russischem Privatrecht und russischem öffentlichen Recht fließend ist. Gleichzeitig kann sich der Gehalt des Prinzips der Unantastbarkeit des Eigentums nicht auf die Bestandsgarantie des Privateigentumsinstituts beschränken. Der Grund dafür liegt darin, dass die Privaten, an die sich der GKRF richtet, das Eigentum als solches auch nicht verletzen können. Dies könnten nur die staatlichen Gewalten tun, indem z. B. der Gesetzgeber das Eigentum Privater abschaffen oder Gerichte und Verwaltung es negieren würden. Gleichzeitig soll auch dieses Prinzip, wie die anderen „grundlegenden Prinzipien“, ein zivilrechtlich verankertes Grundrecht darstellen444, welches gemäß Art. 15 Abs. 2 KRF von allen Teilnehmern des russischen Rechtsverkehrs zu beachten wäre. Deshalb muss dieses Prinzip einen weiterführenden Gehalt haben, welcher zwar die Grundgedanken des Privateigentums statuiert, aber gleichzeitig dem Gesetzgeber Raum für die Ausgestaltung des Privateigentumsrechts lässt. Aus diesem Grund erkennt die russische Lehre unter dem 440 2QaV^R_Z]/4QUWYVS/ýQeYcb[YZ/=Qd, ;_^bcYcdgY_^^Qp n[_^_]Y[Q, DhVR^Y[ U\p oaYUYhVb[Yf Y SlbiYf n[_^_]YhVb[Yf XQSVUV^YZ, S. 260. 441 @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 24. 02. 2004 N 3-@, B8 AE 01. 03. 2004/9/830, Ziff. 5.2. 442 @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 16. 05. 2000 N 8-@, B8 AE 22. 05. 2000/21/2258, Ziff. 7; 2QaV^R_Z]/4QUWYVS/ýQeYcb[YZ/=Qd, ;_^bcYcdgY_^^Qp n[_^_]Y[Q, DhVR^Y[ U\p oaYUYhVb[Yf Y SlbiYf n[_^_]YhVb[Yf XQSVUV^YZ, S. 261 f. 443 @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 18. 07. 2003 N 14-@, B8 AE 28. 07. 2003/30/3102, Ziff. 2; 4_aRQhrS/þQ], ;_^bcYcdgY_^^lV TQaQ^cYY _faQ^l `aQS b_RbcSV^^_bcY, F_XpZbcS_ Y `aQS_ 1997, No. 11, S. 124. 444 A_S^lZ, S: BVaTVVS (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d ;_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 1, S. 16.

II. Grundrechte im russischen Privatrecht

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Prinzip der Unantastbarkeit des Eigentums das Recht des Eigentümers auf Wahrnehmung aller mit dem Eigentum verbundenen Rechte sowie auf den Ausschluss aller rechtswidrigen Einwirkungen und Einmischungen anderer Personen in seine Eigentümerrechtsposition als Kernbereich des Privateigentumsrechts an445. Indem das Eigentumsrecht neben den Rechten des Eigentümers selbst die Pflicht anderer begründet, rechtswidrige Übergriffe auf das Eigentum zu unterlassen, wirkt es absolut, das heißt gegenüber allen. Das Eigentumsrecht wird so auch in Russland als ein ausschließliches Recht verstanden446. (2) Der Schutz bürgerlicher Rechte Art. 45, 46 KRF i.V.m. Art. 11 ff. GKRF Den Prinzipien der Unzulässigkeit willkürlicher Einmischung in private Angelegenheiten auf der einen Seite und der Gewährleistung der Wiederherstellung verletzter Rechte i.S.d. Art. 1 Abs. 1 GKRF auf der anderen Seite verhelfen die Regelungen über den Schutz bürgerlicher Rechte i.S.d. Art. 11 ff. GKRF zur Geltung. Ohne wirksame Mechanismen zur Durchsetzung und zum Schutz der Rechte wären sie weitgehend obsolet, daher garantiert die Verfassung der Russischen Föderation die Möglichkeit eines effektiven Rechtsschutzes, Art. 45 Abs. 2, 46 Abs. 1 KRF. Nachdem oben447 festgestellt worden ist, dass der Begriff der bürgerlichen Rechte auch die grundrechtlichen Positionen umfasst, ist nun zu untersuchen, wie diese Rechtspositionen durch die Bürger selbst geschützt werden können. Die Art. 11 ff. GKRF haben die einzelnen Arten des möglichen Schutzes (Art. 12, 14 f. GKRF), die Zuständigkeit der Gerichte (Art. 11 GKRF), aber auch solche Fälle zum Regelungsgegenstand, in welchen der Schutz bürgerlicher Rechte gegenüber dem Staat bei dessen Teilnahme an Rechtsverhältnissen (Art. 12, 13, 16 GKRF) erfolgen soll. Dem Grunde nach gehören aber bereits Art. 9 und 10 GKRF dazu. Diese regeln jeweils die Wahrnehmung bürgerlicher Rechte und ihre Grenzen. Unter dem Schutz bürgerlicher Rechte werden in der russischen Rechtslehre „die auf die Wiederherstellung oder Anerkennung von bürgerlichen Rechten und auf den Schutz von Interessen im Fall ihrer Verletzung oder bei Streitigkeit gerichteten, gesetzlich vorgesehenen Maßnahmen“448 verstanden. Dabei wurde in der älteren Literatur die Ansicht vertreten, das subjektive Recht auf Schutz sei keine eigenständige Rechtsposition, sondern ein integrativer Bestandteil des jeweils zu schützenden subjektiven Rechts, ohne welchen jenes kein Recht im eigentlichen Sinne wäre, weil es ihm an Durchsetzbarkeit fehlen würde449. Dem ist in der neueren Zeit entschieden entgegengetreten worden. Das Recht auf Schutz sei ein eigenständiges 445 =_X_\Y^, S: 1R_SQ/;QRQ\[Y^Q (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d [_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, C_] 1, 3-V YXUQ^YV, Art. 1, S. 4. 446 ;dX^Vg_SQ, þ_a]l-`aY^gY`l a_bbYZb[_T_ TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, S. 145. 447 Vgl. oben C., II., 2., d), cc). 448 BVaTVVS (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_: DhVR^Y[, C_] 1, S. 540. 449 2aQcdbm, OaYUYhVb[Qp _cSVcbcSV^^_bcm Y XQ[_^^_bcm, S. 73 f.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

subjektives Recht, welches erst im Falle der Verletzung einer anderen Rechtsposition entstehe450. Dem ist zuzustimmen. Das eigentliche subjektive Recht und das Schutzrecht, das im Zusammenhang mit der Verletzung des Ersteren entsteht, führen jeweils ein eigenständiges Leben, haben unterschiedliche Entstehungs- und Untergangsvoraussetzungen, und sind durchaus als voneinander unabhängig existierend vorstellbar. Insbesondere die Verfassung bezeichnet die prozessualen Rechte als Schutzrechte, auch wenn dies nicht durchgängig der Fall ist, wie z. B. in Art. 45 Abs. 2, 46 Abs. 3451 KRF. Die einzelnen Möglichkeiten des Schutzes bürgerlicher Rechte sind (ausdrücklich nicht abschließend) im Art. 12 GKRF aufgezählt. Dies sind sowohl die Möglichkeiten des gerichtlichen als auch des außergerichtlichen Schutzes, wie z. B. Anerkennung des Rechts oder Notwehr. Dabei wird in der Literatur aufgrund der unterschiedlichen Rechtsnatur zwischen Schutzmöglichkeiten – wie die der Wiederherstellung von Rechtspositionen oder der Unterbindung rechtsverletzender Handlungen – und rechtlicher Verantwortlichkeit – wie beispielsweise der Pflicht zur Leistung von Schadensersatz, welche nur gegenüber dem das subjektive Recht schuldhaft verletzenden Subjekt geltend gemacht werden kann – unterschieden. Gleichzeitig wird die Vermengung dieser Rechtspositionen kritisiert452. Während die meisten Rechtswege die Einschaltung der Gerichte voraussetzen und damit der Erfüllung der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 45, 46 i.V.m. Art. 2 S. 2 KRF dienen, bildet das Notwehrrecht die eigentümlichste Art des Rechtsschutzes453. Sie bildet eine Ausprägung der Regelung des Art. 45 Abs. 2 KRF, wonach jeder berechtigt ist, seine Rechte und Freiheiten mit allen durch das Gesetz nicht verbotenen Mitteln zu schützen. Dabei bedient sich Art. 14 GKRF einer eher für das Verfassungsrecht üblichen Kategorie. So formuliert er: „Der eigenständige Schutz bürgerlicher Rechte wird zugelassen. Die Mittel der Notwehr454 müssen der Verletzung angemessen sein und nicht über das zum Schutz Notwendige hinausgehen“. Diese Anlehnung erscheint angesichts der direkten Wirkung der Grundrechte auch folgerichtig – in den Bereichen, wo das Gesetz keine besondere Regelung vorsieht bzw. die Regulierung von Rechtsverhältnissen unter Bürgern durch diese selbst zulässt, treffen die Grundrechtspositionen aufeinander. Die Auflösung einer solchen Kollision muss dann unter Beachtung derselben (materiellen) Regeln stattfinden, unter deren Anwendung auch der Gesetzgeber die Situation geregelt hätte. Dies folgt aus seiner Schutzpflicht gemäß Art. 2 S. 2 KRF und findet seinen Niederschlag in 450 3\Qb_SQ, Bcad[cdaQ bdRkV[cYS_T_ TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, S. 94; BVaTVVS (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_: DhVR^Y[, C_] 1, S. 541 m.w.N.; BdfQ^_S (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_, C_] 1, S. 409. 451 In beiden Fällen wird der Ausdruck „S`aQSV“, also „berechtigt“ verwendet. 452 BVaTVVS (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_: DhVR^Y[, C_] 1, S. 545 ff. 453 Nach BVaTVVS, ist die Notwehr kein Schutzmittel, sondern lediglich eine Form dessen, BVaTVVS (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d ;_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, S. 72. 454 Die Begriffe des „eigenständigen Schutzes“ und der „Notwehr“ werden hier deckungsgleich mit der Übersetzung des russischen Begriffs „bQ]_XQjYcQ“ verwendet.

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dieser Regelung und gegebenenfalls in der Gerichtsentscheidung. Damit sind die Bürger auch mittelbar an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden455. Freilich muss sich das russische Zivilrecht angesichts der Geltung der Grundrechte unter Privaten letzten Endes in (gewollter wie ungewollter) Abwesenheit konkretisierender Rechtsnormen dieser bedienen. Diese Folge ist genau das, was von der deutschen Rechtslehre als eines der schlagenden Argumente gegen die Anerkennung der Wirkung von Grundrechten unter Privaten vorgebracht wird. Gleichzeitig ergeht es dem deutschen Gesetzgeber nicht anders, wenn er die Regelungen für Notwehr (§ 227 BGB) und Notstand (§ 228 BGB) trifft, welche ebenfalls darauf angewiesen sind, mit den Begriffen der Erforderlichkeit und Gebotenheit zu operieren. Freilich handelt es sich hier um vorkonstitutionelle und im Rang unter der Verfassung stehende Normen. Auch sind es unbestimmte Begriffe, in welche man bei ihrer Auslegung einen objektiven grundrechtlichen Gehalt hineinlesen müsste. Doch gleichzeitig und auch gerade weil es sich hier um vorkonstitutionelle, d. h. von den Wertungen der heutigen Rechtstheorie unbeeinflusste Rechtsgedanken handelt, stellt sich die Frage, ob zwischen den grund- und zivilrechtlichen Rechtspositionen nicht doch eine natürliche456 wie auch rechtliche Verbindung besteht. (3) Die Vertragsfreiheit und ihre Schranken im russischen Zivilrecht Auch die Vertragsfreiheit stellt eines der „grundlegenden Prinzipien“ des russischen Privatrechts dar. Dies erscheint im Lichte der Art. 34 Abs. 1, 37 Abs. 1 KRF folgerichtig. Angesichts der Befürchtungen der deutschen Rechtslehre, dass durch die Anerkennung der Drittwirkung der Grundrechte die Privatautonomie unterlaufen würde, gebietet sich eine genaue Untersuchung des Stellenwerts der Vertragsfreiheit im russischen Privatrecht. Ist sie möglicherweise nur ein leeres Versprechen, welches aufgrund der Wirkung der Grundrechte unter Privaten und wegen der verstärkten Anwendung von Abwägungslösungen im Rahmen der Verhältnismäßigkeit gar nicht eingehalten werden kann? Ein anderer hier zu untersuchender Gesichtspunkt ist die Tatsache, dass der russische Gesetzgeber das Instrument des Kontrahierungszwangs häufiger einsetzt als der deutsche. Der Kontrahierungszwang bildet des Öfteren eine Schranke der Privatautonomie i.S.d. Art. 1 Abs. 2 UAbs. 2 GKRF i.V.m. Art. 55 Abs. 3 KRF. Das heißt gleichzeitig, dass seine Anwendung dem Schutz der dort genannten Güter dienen muss. Im Folgenden ist auch auf diese Wechselwirkung näher einzugehen.

455

Eine unmittelbare Bindung ergibt sich dagegen aus dem Art. 17 Abs. 3 KRF. „Natürlich“ wird hier ausdrücklich nicht etwa als „naturrechtlich“, sondern eher als „selbstverständlich“, „sich aus der Sache ergebend“ verstanden (s. o. Fn. 9 auf S. 50). 456

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(a) Die Vertragsfreiheit als Grundsatz des russischen Zivilrechts (aa) Begriffsbestimmung Zur weiteren Untersuchung bedarf es zunächst der Begriffsklärung. Gemäß Art. 1 Abs. 1 3. Var. GKRF gründen die bürgerlichen Gesetze unter anderem auf der „Freiheit der Verträge“. Die Vertragsfreiheit steht also als eines der Grundprinzipien des Privatrechts an der prominentesten Stelle. Gleichzeitig „erwerben und nehmen die Bürger (natürliche Personen) und juristische Personen ihre bürgerlichen Rechte nach eigenem Willen und in eigenem Interesse wahr. Sie sind frei in der Festlegung ihrer Rechte und Pflichten aufgrund von Verträgen und der Bestimmung jeglicher Vertragsbedingungen, soweit diese dem Gesetz nicht widersprechen“, so Art. 1 Abs. 2 UAbs. 1 GKRF. Letzterer konkretisiert nach einhelliger Ansicht in der Literatur das Prinzip der Vertragsfreiheit aus Abs. 1457. Damit spricht der GKRF nur von der Vertragsfreiheit und erwähnt auch später an keiner Stelle die Privatautonomie. Der Begriff der Privatautonomie findet aber auch in der russischen Rechtslehre keine Entsprechung, sodass man zu dem Ergebnis gelangen könnte, dass das russische Privatrecht gar keine Privatautonomie kennt, ja dass dies möglicherweise gerade an der Wirkung der Grundrechtspositionen unter Privaten liegt. Um diese Frage zu beantworten müssen die deutschen Begriffe der Privatautonomie und Vertragsfreiheit sowie ihre Beziehung zueinander geklärt werden. Vielfach werden die beiden Begriffe auch als Synonyme verwendet458. Unter Privatautonomie versteht man in der deutschen Rechtswissenschaft die rechtliche Möglichkeit, „seine Rechtsverhältnisse durch Rechtsgeschäft nach seinem Willen zu gestalten“459. Vertragsfreiheit als Ausprägung der Privatautonomie bedeutet dagegen „die Freiheit des einzelnen, seine Lebensverhältnisse durch Vertrag eigenverantwortlich zu gestalten“460. Aus diesen Definitionen wird ersichtlich, dass der russische Begriff der Vertragsfreiheit i.S.d. Art. 1 Abs. 1 Var. 3, Abs. 2, UAbs. 2 GKRG weiter als der deutsche ist und zumindest seiner Legaldefinition nach dem deutschen Begriff der Privatautonomie entspricht461. In der Literatur wird die Vertragsfreiheit als die Möglichkeit einer Person angesehen, Tatsache, Maß, Dauer, Möglichkeiten und andere Eigenschaften seiner Teilnahmen am Privatrechtsrechtsverkehr eigenständig zu bestimmen462. Daraus folgt, dass das russische Recht 457 2aQTY^b[YZ/3Ycap^b[YZ, 5_T_S_a^_V `aQS_. ;^YTQ `VaSQp. ?RjYV `_\_WV^Yp, S. 153, BVaTVVS (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d ;_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, S. 17. 458 Flume, AT II, S. 12. 459 Medicus, BGB AT, Rn. 4, 174, dort unter Verweis auf Flume, AT II § 1, S. 2; ähnlich auch Heinrichs, in: Palandt, Überbl. vor § 104, Rn. 1. Der eigentumsrechtliche Bestandteil soll hier ausgespart bleiben. 460 Heinrichs, in: Palandt, Einf. vor § 145, Rn. 7. 461 Die begriffliche Richtigkeit der Bezeichnung als Vertragsfreiheit, welche weitaus mehr als nur Freiheit vertraglicher Gestaltung umfasst, kann hier dahin gestellt bleiben. 462 2V\_S, 4aQWUQ^b[_V `aQS_, _RjQp hQbcm, C_] I. 3SVUV^YV S TaQWUQ^b[_V `aQS_, S. 47.

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zwar den Begriff der Privatautonomie nicht kennt, ihr Gehalt dagegen unter dem Begriff der Vertragsfreiheit eines der grundlegenden Prinzipien des russischen Privatrechts bildet. Im Weiteren wird bei der Untersuchung des russischen Rechts aus Gründen begrifflicher Genauigkeit nur die Bezeichnung „Vertragsfreiheit“ verwendet werden, wobei jedoch der ihr durch den GKRF beigemessene Gehalt stets vor Augen behalten werden soll. (bb) Verfassungsrechtlicher Gehalt der Vertragsfreiheit Der Grundsatz der Vertragsfreiheit in seinem weiten Verständnis i.S.d. Art. 1 Abs. 1 Var. 3, Abs. 2, UAbs. 2 GKRG folgt aus den Art. 35 Abs. 2, 37, 22 Abs. 1 KRF463, und wird weiter in Art. 421 GKRF in Bezug auf die Verträge konkretisiert464. In der russischen Rechtstheorie werden danach unter der Vertragsfreiheit folgende Elemente verstanden: Zunächst bedeutet sie die Freiheit der Parteien, einen Vertrag zu schließen oder nicht, Art. 421 Abs. 1 GKRF. So darf niemand zu einem Vertragsabschluss gezwungen werden. Dabei wird der Kontrahierungszwang nur in den gesetzlich bestimmten Fällen für zulässig erklärt465. Sodann bezeichnet er die Freiheit vom Typenzwang: Die Parteien sind frei einen Vertrag zu schließen, der im Kodex nicht vorgesehen ist, oder die unterschiedlichen Vertragsmodelle miteinander zu kombinieren, Art. 421 Abs. 2, Abs. 3 GKRF. Schließlich beinhaltet sie die Freiheit, die Vertragsbedingungen nach eigenem Wunsch zu gestalten, Art. 421 Abs. 4 GKRF. Von einigen Autoren wird zusätzlich die Wahlfreiheit in Bezug auf den Vertragspartner hervorgehoben466. Allen Elementen ist dabei gemein, dass sie dazu berufen sind, wirtschaftliche Unabhängigkeit, Eigentumsfreiheit sowie die Freiheit der unternehmerischen und künstlerischen Betätigung zu gewährleisten, um die Kontrahenten vor überschüssigem staatlichem Paternalismus zu schützen467. Auch ist dieser Grundsatz mit dem Prinzip der Freiheit des Wirtschaftsraums bzw. der Wa463 Z.B. @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 23. 02. 1999 N 4-@, 3Vbc^Y[ ;B AE, 1999/3, Ziff. 4; @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 25. 07. 2001 N 12-@, 3Vbc^Y[ ;B AE, 2001/6, Ziff. 4; @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 26. 05. 2011 N 10-@, B8 AE 06. 06. 2011/23/3356, Ziff. 3.1. 464 In dieser Konkretisierung nähert sich wiederum der russische Begriff der Vertragsfreiheit dem deutschen an. 465 Dazu sogleich unter C., II., 2., d), dd), c), aa). 466 Für die Einführung des vierten Elements treten u. a.: ;_]YbbQa_SQ, @aY^gY`l S `aQSV Y _b^_S^lV ^QhQ\Q TaQWUQ^b[_T_ XQ[_^_UQcV\mbcSQ, S. 203 f., =_X_\Y^/=Qb\pVS (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_: DhVR^Y[, hQbcm 1, S. 30; BQUY[_S, S: ders. (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d [_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, hQbcY `VaS_Z, `_bcQcVZ^lZ, 3-V YXUQ^YV, Yb`aQS\V^^_V, `VaVaQR_cQ^^_V Y U_`_\^V^^_V, Art. 1, S. 3; BdfQ^_S (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_: 3 4 c. ?RjQp hQbcm: DhVR^Y[, C_] 1, 3-V YXUQ^YV, `VaVaQR_cQ^^_V Y U_`_\^V^^_V, S. 52 ein, dagegen halten 2aQTY^b[YZ/3Ycap^b[YZ, 5_T_S_a^_V `aQS_. ;^YTQ `VaSQp. ?RjYV `_\_WV^Yp, S. 121 und CQ^QTQ, @aY^gY` bS_R_Ul U_T_S_aQ S TaQWUQ^b[_] `aQSV A_bbYY, S. 37. Freilich bildet dieses Element aber einen Bestandteil der Freiheit, einen Vertrag ¨ brigen werden die einzelnen Elemente der Vertragsfreiheit in der zu schließen oder nicht. Im U Literatur uneinheitlich und unterschiedlich detailliert aufgeteilt, was jedoch inhaltlich letztlich keinen Unterschied macht. 467 =Q[_Sb[YZ, ? [_UYeY[QgYY TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ (1922 – 2006), S. 425.

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renverkehrsfreiheit i.S.d. Art. 8 Abs. 1 KRF, konkretisiert durch Art. 1 Abs. 3 GKRF, eng verbunden. Der deutschen Vorstellung von der Privatautonomie ähnlich drückt sich die russische Vertragsfreiheit zudem in der Dispositivität der meisten Regelungen vertraglicher Rechtsverhältnisse im GKRF aus, Art. 421 Abs. 4 S. 2 GKRF468. Sie stellt nach der russischen Rechtsvorstellung auch einen integrativen Bestandteil der Vertragsfreiheit dar469. Mit Dispositivität ist hier die Subsidiarität von Rechtsnormen gemeint: Dispositive Regelungen kommen erst zur Geltung, wenn die Vertragsparteien selbst jeweils keine getroffen haben470, und stellen somit, salopp ausgedrückt, den „Tipp“ des Gesetzgebers an die weniger rechtskundigen Kontrahenten dar471. Dispositivität sichert den Bürgern einen gewissen Freiheitsraum, und äußert sich in erster Linie in ihrer Wahlfreiheit. Letztere meint die Möglichkeit die Tatsache, das Maß, die Dauer, und andere Eigenschaften ihrer Teilnahme am Privatrechtsrechtsverkehr eigenständig bestimmen zu können. Ist die Wahl jedoch getroffen, so trägt die jeweilige Person die volle rechtliche und vertragliche Verantwortung, unabhängig davon, ob diese für sie selbst vor- oder nachteilig ist472. Damit wird die Dispositivität in der russischen Literatur als ein Organisationselement im Wahrnehmungsmechanismus bürgerlicher Rechter und Pflichten begriffen. Sie dient der Regelung von Mitteln und Wegen der Rechtswahrnehmung473 und drückt sich in der Möglichkeit von unterschiedlichem rechtmäßigem Verhalten aus474. Sie beeinflusst so sowohl das Stadium des Vertragsabschlusses als auch das der Geltendmachung von Rechten475. Ein Vertrag muss aber zugleich auch den zwingenden Vorschriften des GKRF genügen, Art. 422 Abs. 1 GKRF. Diese bilden damit die unmittelbaren Schranken der Vertragsfreiheit zum Schutz von Interessen der Öffentlichkeit i.S.d. Art. 1 Abs. 2, 468 3QSY\Y^, ?bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ TaQWUQ^b[Yf `aQS, S. 268, BQUY[_S, S: BQUY[_SQ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d [_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, hQbcY `VaS_Z, `_bcQcVZ^lZ, 3-V YXUQ^YV, Yb`aQS\V^^_V, `VaVaQR_cQ^^_V Y U_`_\^V^^_V, Art. 1, S. 17. Dies wird von ;dX^Vg_SQ, þ_a]l – `aY^gY`l a_bbYZb[_T_ TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, S. 156 f. genau umgekehrt gesehen. Sie sieht die Vertragsfreiheit als Teil des Disposivita¨tsprinzips an. Dagegen wird das Dispositivita¨tsprinzip z. B. vom 3QSY\Y^ als Auspra¨gung der Privatautonomie und Eigentumsfreiheit gesehen. 469 Zwar wird in der Arbeit von Prochorko suggeriert, es bestehe keine Einigkeit über den Begriff der Dispositivität, jedoch erweist sich diese Behauptung angesichts mehrerer zitierter Definitionen, die mit unterschiedlichen Worten dieselbe Erscheinung beschreiben, als unhaltbar, s. @a_f_a[_, 5Yb`_XYcYS^_bcm [Q[ `aY^gY` a_bbYZb[_T_ TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, S. 112 ff. 470 =Q[_Sb[YZ, ? [_UYeY[QgYY TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ (1922 – 2006), S. 425. 471 BdfQ^_S (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_, C_] 3, S. 177. 472 2V\_S, 4aQWUQ^b[_V `aQS_, _RjQp hQbcm, C_] I. 3SVUV^YV S TaQWUQ^b[_V `aQS_, S. 47. 473 3QSY\Y^, ?bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ TaQWUQ^b[Yf `aQS, S. 273. 474 3QSY\Y^, ?bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ TaQWUQ^b[Yf `aQS, S. 271. 475 3QSY\Y^, ?bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ TaQWUQ^b[Yf `aQS, S. 271.

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UAbs. 2 GKRF i.V.m. Art. 55 Abs. 3 KRF476. Ein anderes Beispiel für eine solche Schranke, welcher im Blick auf Art. 17 Abs. 3 KRF zusätzlich Nachdruck verliehen wird, ist der Grundsatz „pacta sunt servanda“, der in den zwingenden Normen des Vertragsrechts seinen Niederschlag findet und durch die Vertragsfreiheit nicht nivelliert werden darf477. Aus diesem Grundsatz folgen die Einschränkungen der Vertragsfreiheit im Bereich der Beendigung vertraglicher Schuldverhältnisse478. Neben diesen Fällen muss stets daran gedacht werden, dass auch andere grundlegende Prinzipien des GKRF mit der Vertragsfreiheit i.S.d. Art. 17 Abs. 3 KRF in Einklang zu bringen sind. Sie können deswegen ebenfalls in vielen Situationen ihre Schranken darstellen. Das Gleichgewicht müsste hier jeweils nach der oben hergeleiteten allgemeinen Regel hergestellt werden479. Von einigen Autoren wird zusätzlich anhand der Rechtsfolgen zwischen Grenzen (mit der Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts als Rechtsfolge) und Schranken (mit unterschiedlichen Arten der Aufhebungsmöglichkeit als Rechtsfolge) der Vertragsfreiheit unterschieden480. Gegen diese Unterscheidung lässt sich neben der systemwidrigen Vorgehensweise jedoch folgender Gedanke anführen: Jedes Recht, jedes Prinzip hat seine Grenzen dort, wo ein rechtswidriger Eingriff in das Recht des anderen bzw. in öffentliche Interessen anfängt, Art. 17 Abs. 3, 55 Abs. 3 KRF i.V.m. Art. 1 Abs. 2 UAbs. 2 GKRF. Der Gesetzgeber unterbindet solche Übergriffe mittels gesetzlicher Bestimmungen und setzt dabei, je nach Schwere des Eingriffs bzw. unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, unterschiedliche Rechtsfolgen ein. Die Gerichte müssen anschließend ihrerseits eine Entscheidung unter Beachtung dieser Rechtsnormen treffen. Egal, ob eine privatrechtliche Rechtsnorm Nichtigkeit oder Anfechtbarkeit als Rechtsfolge setzt – sie ist und bleibt in dieser Funktion lediglich eine Schranke zur Gewährleistung der verfassungsrechtlichen Ordnung durch den Gesetzgeber, gleichgültig wie man sie nennt. Von der Art der privatrechtlichen Rechtsfolge auf den Umfang einer verfassungsrechtlichen Rechtsposition zu schließen wäre daher logisch nicht zwingend, sondern vielmehr aufgrund des Vorrangs der Verfassung nach Art. 15 Abs. 1 S. 1 KRF systemwidrig. Aus diesem Grund scheint die angebotene Unterscheidung wenig erkenntnisreich. 476 2QaV^R_Z]/4QUWYVS/ýQeYcb[YZ/=Qd, ;_^bcYcdgY_^^Qp n[_^_]Y[Q, DhVR^Y[ U\p oaYUYhVb[Yf Y SlbiYf n[_^_]YhVb[Yf XQSVUV^YZ, S. 321; ;dX^Vg_SQ, þ_a]l – `aY^gY`l a_bbYZb[_T_ TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, S. 162; BdfQ^_S (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_, C_] 3, S. 175. 477 @_bcQ^_S\V^YV E1B =_b[_Sb[_T_ _[adTQ _c 12. 09. 2003 N ;4-140/5922-03 (unvero¨ffentlicht). 478 Dazu ausführlich ;_]YbbQa_SQ, @aY^gY`l S `aQSV Y _b^_S^lV ^QhQ\Q TaQWUQ^b[_T_ XQ[_^_UQcV\mbcSQ, S. 206 ff. 479 s. o. C., II., 2., d), bb). 480 ;aQcV^[_, 8\_d`_caVR\V^YV bS_R_U_Z U_T_S_aQ: hQbc^_`aQS_SlV Y `dR\Yh^_`aQS_SlV Qb`V[cl, S. 10 m.w.N. Wichtig ist hier anzumerken, dass sich um diese Begriffe noch keine klare Dogmatik herausgebildet hat, sodass es im Grunde nicht darum geht, einen bestimmten Gehalt dieser abzustreiten, sondern darum, zum einen ihre Beliebigkeit offen zu legen und zum anderen eine Gemeinsamkeit hervorzuheben.

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Aus dem Gesagten lässt sich folgern, dass die Vertragsfreiheit letztlich einen direkten Ausdruck verfassungsrechtlich garantierter wirtschaftlicher Freiheit, Unternehmensfreiheit sowie von Eigentumsfreiheit i.S.d. Art. 8 Abs. 1, 34 Abs. 1, 35 Abs. 2 KRF darstellt und sich darin aber zugleich als ein eigener, verfassungsrechtlich garantierter Freiheitsraum wiederfindet und damit ein eigenes Grundrecht bildet481. Die Kehrseite der im GKRF vorgenommenen Regelung der Vertragsfreiheit bildet ihre Garantie. Sie äußert sich z. B. in der Anfechtbarkeit von unter Zwang abgeschlossenen Verträge gemäß Art. 179 i.V.m. 166 Abs. 1 Alt. 1 GKRF. Mit solchen Regelungen kommt der russische Gesetzgeber seiner Schutzpflicht aus Art. 2 S. 2 KRF nach. Ihre Schranke i.S.d. Art. 17 Abs. 3 KRF bilden die Vertragsfreiheit des (möglichen) Kontrahenten sowie Rechte anderer. Paradigmatisch ist hierfür das Verbot des Rechtsmissbrauchs i.S.d. Art. 10 Abs. 1 S. 1 GKRF482. Unter diesem Blickwinkel kann von absoluten und relativen Elementen der Vertragsfreiheit gesprochen werden. Absolute Elemente sind solche, die nur vom Willen des Vertragsschließenden abhängig sind und nicht eingeschränkt werden können483. Sie gehören i.S.d. Art. 55 Abs. 2 KRF zum Kerngehalt dieser Freiheit. Relative Elemente sind dagegen wechselseitiger Natur und mit dem Willen beider Parteien unmittelbar verbunden484. Dies ist auch der Grund, warum die Vertragsfreiheit in jedem ihrer Elemente Einschränkungen findet und nicht in ihrer reinen Form existieren kann. Im Weiteren soll auf die Schutzzwecke und Arten dieser Einschränkungen näher eingegangen werden. (b) Der Schutz der schwächeren Seite und das Prinzip der Gleichheit der Teilnehmer am Privatrechtsverkehr Der zentrale Grund der Einschränkung der Privatautonomie liegt in ihrer eigenen Prämisse des idealen Zustands in Bezug auf die Gleichheit der Teilnehmer des Privatrechtsverkehrs485. Diesen Zustand gab es nie und wird es nie geben, daher war der Gesetzgeber schon immer vor die Herausforderung gestellt, den Vertragsschließenden zugleich größtmöglichen Freiraum zu gewähren und zumindest ansatzweise Gleichheit der Parteien herzustellen486. Mit der voranschreitenden wirtschaftlichen Entwicklung und Industrialisierung brachte die Vertragsfreiheit aber

481

@_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 23. 02. 1999 N 4-@, 3Vbc^Y[ ;B AE, 1999/3, Ziff. 4; @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 25. 07. 2001 N 12-@, 3Vbc^Y[ ;B AE, 2001/6, Ziff. 4; ;aQcV^[_, 8\_d`_caVR\V^YV bS_R_U_Z U_T_S_aQ: hQbc^_`aQS_SlV Y `dR\Yh^_-`aQS_SlV Qb`V[cl, S. 3. 482 Darauf wird unten näher einzugehen sein, s.u. C., II., 2., d), dd), (4). 483 ;dX^Vg_SQ, þ_a]l – `aY^gY`l a_bbYZb[_T_ TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, S. 167 f. 484 Ebenda. 485 ;_]YbbQa_SQ, @aY^gY`l S `aQSV Y _b^_S^lV ^QhQ\Q TaQWUQ^b[_T_ XQ[_^_UQcV\mbcSQ, S. 204. 486 Dazu @_[a_Sb[YZ, ?b^_S^lV `a_R\V]l TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, S. 261 ff. mit Beispielen aus XII Tafeln und spa¨teren gesetzlichen Regelungen in Europa.

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auch die Gefahr der „Diktatur des Willens der wirtschaftlich stärkeren Seite“487. Dies wurde in Deutschland in dieser Form spätestens von Nipperdey erkannt488. In der UdSSR wurde dem längere Zeit die „Diktatur des Proletariats“ und die zentralisierte Planwirtschaft gegenübergestellt. Mit dem Übergang zur freien Marktwirtschaft musste aber auch die Russische Föderation diesbezüglich neue Wege gehen. Aus der Sicht der russischen Literatur ist deshalb eine staatliche Regulierung vor allem im Bereich des Aufeinandertreffens von natürlichen Personen und wirtschaftlich mächtigen Organisationen durch seine Schutzpflichten nicht nur geboten, sondern auch notwendig489. Wie soeben angedeutet wird die Vertragsfreiheit deshalb durch den Zivilkodex vielerorts eingeschränkt490. Diese Einschränkungen sollen dem Schutz des jeweils wirtschaftlich Schwächeren dienen491 und sind zum einen Ausprägungen der unmittelbaren Schranken der Vertragsfreiheit zum Schutz öffentlicher Interessen i.S.d. Art. 1 Abs. 2 3 GKRF i.V.m. Art. 55 Abs. 3 KRF492, zum anderen aber auch staatliche Schutzpflicht zum Ausgleich privater Interessen i.S.d. Art. 2 S. 2 KRF493. (aa) Schutzmechanismen des Privatrechts Dem Schutz der schwächeren Seite dienen zunächst die zwingenden Normen des Zivilkodexes, denen gemäß Art. 422 Abs. 1 GKRF jeder Vertrag entsprechen soll494. Obgleich solche Bestimmungen vielfach eine Einschränkung der die Marktwirtschaft konstituierenden Vertragsfreiheit darstellen, dienen sie doch zugleich auch meist den Bedürfnissen des freien Markts495. Das vom Privatrecht zu lösende zentrale Problem ist der Ausgleich zwischen den Interessen Privater, der sich in der Möglichkeit der freien Vertragsgestaltung äußert. Diese Interessen müssen ihrerseits 487 ;aQcV^[_, 8\_d`_caVR\V^YV bS_R_U_Z U_T_S_aQ: hQbc^_`aQS_SlV Y `dR\Yh^_`aQS_SlV Qb`V[cl, S. 9; =Q[_Sb[YZ, ? [_UYeY[QgYY TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ (1922 – 2006), S. 424. 488 s. o. B., I., 1., a). Aber auch bereits in der Phase der Entwicklung des BGB wurde dies zuvörderst von v.Gierke erkannt, welcher den berühmten „Tropfen des sozialistischen Öls“ im neuen Privatrecht gefordert hat. 489 ;_]YbbQa_SQ, @aY^gY`l S `aQSV Y _b^_S^lV ^QhQ\Q TaQWUQ^b[_T_ XQ[_^_UQcV\mbcSQ, S. 196. 490 Ausführliche Aufzählung solcher Normen des GKRF, s. bei: B\QSVg[YZ, @aY^gY` XQjYcl b\QR_Z bc_a_^l TaQWUQ^b[_-`aQS_S_T_ U_T_S_aQ, S. 78 f. 491 =Q[_Sb[YZ, ? [_UYeY[QgYY TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ (1922 – 2006), S. 424. 492 ;dX^Vg_SQ, þ_a]l – `aY^gY`l a_bbYZb[_T_ TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, S. 162; BdfQ^_S (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_, C_] 3, S. 175, 177. 493 3QSY\Y^, ?bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ TaQWUQ^b[Yf `aQS, S. 50. 494 4QUWYVS, ;_^bcYcdgY_^^lV `aY^gY`l al^_h^_Z n[_^_]Y[Y. AQXSYcYV _b^_S TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ S aViV^Ypf [_^bcYcdgY_^^_T_ bdUQ A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, S. 191; ;aQcV^[_, 8\_d`_caVR\V^YV bS_R_U_Z U_T_S_aQ: hQbc^_`aQS_SlV Y `dR\Yh^_-`aQS_SlV Qb`V[cl, S. 1; =_X_\Y^/=Qb\pVS (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_: DhVR^Y[, hQbcm 1, S. 21; BdfQ^_S (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_, C_] 3, S. 177. 495 4QUWYVS, ;_^bcYcdgY_^^lV `aY^gY`l al^_h^_Z n[_^_]Y[Y. AQXSYcYV _b^_S TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ S aViV^Ypf [_^bcYcdgY_^^_T_ bdUQ A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, S. 191.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

gleichzeitig mit der öffentlichen Wirtschaftsordnung in Einklang gebracht werden, was in zwingenden Normen verankert wird496. Freilich bleibt für die Vertragsfreiheit der Bürger immer weniger Raum, je mehr solche Regelungen Einzug in das Privatrecht halten. Es fragt sich aber zugleich, ob der Schutz der schwächeren Seite stets eine Einschränkung der Vertragsfreiheit bedeutet und ob damit gar ihr Untergang besiegelt wird. Die Beantwortung dieser Frage erfordert einen vertieften Blick auf dieses Prinzip, dessen Wechselwirkung mit anderen Prinzipien des russischen Privatrechts sowie in das Instrumentarium des Gesetzgebers. Auch soll dabei die Rechtsnatur dieses Prinzips geklärt werden: Das Prinzip des Schutzes der schwächeren Seite wird nicht von Art. 1 GKRF als eines der „grundlegenden Prinzipien“ benannt. Indes ist die Aufzählung dieser Norm, wie bereit gezeigt, nicht abschließend und lässt grundsätzlich eine Erweiterung zu497. Eine solche wäre dann zulässig, wenn dieses Prinzip eine vergleichbare Rolle und Gewicht im russischen Privatrecht hätte. (bb) Schutzsubjekte Beim Schutz der schwächeren Seite geht es stets um den Schutz des Subjekts eines privaten Rechtsverhältnisses498, welches durch den Vertragsabschluss aus dem einen oder anderen Grund in einer seiner Freiheiten eingeschränkt wird499. Diese schwächere Partei kann sich auf verschiedenen Seiten einer rechtsgeschäftlichen Verbindung befinden. Die Ungleichheit kann dabei durch Einflussmöglichkeiten auf die Vertragsbedingungen, die Erfüllung oder Unterschiede in der Rechtskundigkeit unter anderem verursacht werden. Die jeweilige Partei kann ihre Eigenschaft sogar im Zuge der Entwicklung eines Rechtsverhältnisses ändern. Dies ist durch die Dynamik des jeweiligen Rechtsgeschäfts bedingt. Ein Beispiel dafür stellt Art. 349 Abs. 1 GKRF dar. Dieser regelt, dass eine Vereinbarung unwirksam ist, welche einen Verkauf der Pfandsache ohne vorherige Anrufung des Gerichts ermöglicht und die vor dem Eintritt des Verwertungsgrunds getroffen wurde. Hier wechselt im Verlauf des vertraglichen Lebens die schwächere Seite: Zunächst ist dies der Pfandgläubiger, welcher zu Anfang eine Sicherheit brauchte, und später, mit dem Eintritt der Verwertungsvoraussetzungen, der Schuldner. Auch dient diese Norm dem Schutz der Interessen anderer Gläubiger, welche durch die gerichtliche Überprüfung von Verwertungsvoraussetzungen geschützt werden sollen500. Die Frage, welche Seite als die 496

Ebenda. 6ai_S/BdcpTY^/;QZ\m, @_bcQcVZ^lZ [_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d [_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 1, S. 2; A_S^lZ, S: BVaTVVS (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d ;_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 1, S. 16. 498 2aQTY^b[YZ/3Ycap^b[YZ, 5_T_S_a^_V `aQS_. ;^YTQ `VaSQp. ?RjYV `_\_WV^Yp, S. 798. 499 3QSY\Y^, ?bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ TaQWUQ^b[Yf `aQS, S. 51; B\QSVg[YZ, @aY^gY` XQjYcl b\QR_Z bc_a_^l TaQWUQ^b[_-`aQS_S_T_ U_T_S_aQ, S. 13. 500 2aQTY^b[YZ/3Ycap^b[YZ, 5_T_S_a^_V `aQS_. ;^YTQ `VaSQp. ?RjYV `_\_WV^Yp, S. 247; 3QSY\Y^, ?bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ TaQWUQ^b[Yf `aQS, S. 51. 497

II. Grundrechte im russischen Privatrecht

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„schwächere“ bezeichnet werden soll, und in welchen Fällen sie zu schützen ist, entzieht sich naturgemäß einer allgemeingültigen Lösung501. Klassischerweise sind Gläubiger oder Geschädigter die schwächere Seite eines privaten Rechtsverhältnisses502. Aber auch der Schuldner kann durchaus der Schwächere im Verhältnis sein, da er die Leistung zu erbringen hat503. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn er auf die Gestaltung der Vertragsbedingungen nur wenig Einfluss ausüben konnte504. Zugleich gehören auch die in ihrer Einsichtsfähigkeit eingeschränkten Subjekte, wie Minderjährigen oder Geisteskranken, zu dieser Kategorie505. Die Regelungsinstrumente, die vom Gesetzgeber zum Zweck des Schutzes eingesetzt werden, sind unterschiedlicher Art. Diese können einerseits in der Stärkung der Rechtsposition der schwächeren Seite, andererseits aber auch in der Ausdehnung der Pflichten und der Verantwortungsbereiche der stärkeren Seite liegen506. Ob die eine oder andere Methode vom Gesetzgeber angewandt wird, hängt von den Besonderheiten der jeweiligen Konstellation ab. Zugleich muss stets die bereits erwähnte Tatsache vor Augen gehalten werden, dass die Vertragspartner in unterschiedlichen Stadien der Vertragsdynamik unterschiedliche Risiken tragen und ihre Stellung sich deshalb ändern kann. In diesen Fällen muss der Gesetzgeber auf beiden Seiten Schutzmechanismen507 einbauen, oder dem Rechtsverhältnis seinen freien Lauf lassen und das Gleichgewicht so als in seiner Natur gewahrt sehen. Auf dieser Gratwanderung im Ausgleich verfassungsrechtlicher Freiheiten ist die Frage von entscheidender Bedeutung, wann die staatliche Schutzpflicht es gebietet, eine Regelung zu treffen, und wann sie den Gesetzgeber verpflichtet, eine solche zu unterlassen508. (cc) Gesetzliche Fallgruppen und Beispiele Paradigmatisch für die staatliche Handlungspflicht ist der Fall der monopolähnlichen Stellung eines Anbieters, die die Lauterkeit des Wettbewerbs zu verletzen droht. Die andere wichtige Fallgruppe ist die des Verbraucherschutzes. Die Verbraucher befinden sich stets zumindest anfänglich in der schwächeren Position ge501 3QSY\Y^, ?bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ TaQWUQ^b[Yf `aQS, S. 50; B\QSVg[YZ, @aY^gY` XQjYcl b\QR_Z bc_a_^l TaQWUQ^b[_-`aQS_S_T_ U_T_S_aQ, S. 29. 502 F_f\_S, S: ;_Xlam/=Q[_Sb[YZ/F_f\_S (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ TaQWUQ^b[_]d [_UV[bd a_bbYZb[_Z eVUVaQgYY HQbcm Sc_aQp, Art. 36, S. 236 f. 503 3QSY\Y^, ?bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ TaQWUQ^b[Yf `aQS, S. 50, 58. 504 3QSY\Y^, ?bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ TaQWUQ^b[Yf `aQS, S. 58; B\QSVg[YZ, @aY^gY` XQjYcl b\QR_Z bc_a_^l TaQWUQ^b[_-`aQS_S_T_ U_T_S_aQ, S. 41 f. m.w.N. 505 4Q]RQa_S, ;dab hQbc^_T_ `aQSQ, C_] 1, hQbcm _RjQp, S. 266; B\QSVg[YZ, @aY^gY` XQjYcl b\QR_Z bc_a_^l TaQWUQ^b[_-`aQS_S_T_ U_T_S_aQ, S. 32 f. 506 3QSY\Y^, ?bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ TaQWUQ^b[Yf `aQS, S. 54. 507 3QSY\Y^, ?bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ TaQWUQ^b[Yf `aQS, S. 68. 508 Trotz starker Betonung der Privatautonomie hat sich freilich auch der deutsche Gesetzgeber in diesem Zusammenhang nie dem Vorwurf der Verletzung vom Untermaßgebot ausgesetzt gesehen.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

genüber dem Unternehmer. Erreicht diese Ungleichheit ein Maß, in dem die sich gegenüberstehenden Parteien derart unterschiedlich sind, dass ihre Positionen sich nicht mehr vergleichen lassen, so ist der Gesetzgeber im Rahmen seines verfassungsrechtlichen Auftrags i.S.d. Art. 2 S. 2 KRF berufen, das Interessengleichgewicht und die Parität der Parteien durch zwingende Rechtsnormen wiederherzustellen, um dem Prinzip der Gleichheit der Parteien des Privatrechtsverkehrs i.S.d. Art. 1 Abs. 1 GKRF zu genügen509. Dieser verfassungsrechtliche Auftrag wird vom Gesetzgeber durch Normen wie Art. 426 i.V.m. 445 oder z. B. Art. 400 Abs. 2 GKRF wahrgenommen. So wird auch die (Haupt-)Zahlungspflicht des Käufers im Vergleich zum gewöhnlichen Kaufvertrag modifiziert. Kommt der Verbraucher seiner Zahlungspflicht im Fall seiner Vorleistungspflicht nicht nach, wird dies als sein Rücktritt gewertet, ohne dass er schadensersatzpflichtig wird, Art. 500 Abs. 2 GKRF. Daneben werden durch Art. 503 f. GKRF die umfangreichen Gewährleistungsrechte des Verbrauchers geregelt, die deutlich über die regelmäßigen schuldrechtlichen Bestimmungen hinausgehen. Ein anderes Beispiel für den Verbraucherschutz stellt der sogenannte „Einzelhandelskaufvertrag“ i.S.d. Art. 492 Abs. 1 GKRF dar. Dieser ist ein Sonderfall des Kaufvertrags, bei dem auf der Seite des Verkäufers ein gewerblich handelnder Unternehmer und auf der Seite des Käufers ein Verbraucher steht, welcher die Sache zur privaten Nutzung erwirbt. Dieser Vertrag ist ein öffentlicher Vertrag i.S.d. Art. 426 i.V.m. 492 Abs. 2 GKRF510, wobei die invitatio ad offerendum in diesem Fall gemäß Art. 494 Abs. 1 i.V.m. 437 Abs. 2 GKRF zu den sogenannten „öffentlichen Angeboten“ gehört und damit verbindlich ist511. Der Einzelhandelskaufvertrag kann oft auch einen „Anknüpfungsvertrag“ i.S.d. Art. 428 GKRF darstellen. Die Konstruktion eines solchen „Anknüpfungsvertrags“ bevorteilt einen der Kontrahenten aufgrund der Art der Vertragsschließung512. Beim „Anknüpfungsvertrag“ handelt es sich um eine den Allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB) ähnliche Erscheinung513. Es geht um die Vertragsbedingungen, die von einer Vertragspartei beim Vertragsabschluss regelmäßig, formularartig und ohne Verhandlung in den Vertrag aufgenommen werden514 ; dabei gehört jedoch die Verbrauchereigenschaft der den Anknüpfungsvertrag annehmenden Seite nicht zum Tatbestand der Norm. Die Regelung folgt vielmehr aus dem allgemeinen Gedanken der Notwen509 2aQTY^b[YZ/3Ycap^b[YZ, 5_T_S_a^_V `aQS_. ;^YTQ `VaSQp. ?RjYV `_\_WV^Yp, S. 797 f.; 3QSY\Y^, ?bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ TaQWUQ^b[Yf `aQS, S. 53. 510 Auf die „öffentlichen Verträgen“ wird unter C., II., 2., d), dd), (3), (c), (aa) näher einzugehen sein. 511 2aQTY^b[YZ/3Ycap^b[YZ, 5_T_S_a^_V `aQS_. ;^YTQ `VaSQp. ?RjYV `_\_WV^Yp, S. 803. 512 2aQTY^b[YZ/3Ycap^b[YZ, 5_T_S_a^_V `aQS_. ;^YTQ `VaSQp. ?RjYV `_\_WV^Yp, S. 259, 800. 513 Zu den Gründen der Privilegierung vgl. B\QSVg[YZ, @aY^gY` XQjYcl b\QR_Z bc_a_^l TaQWUQ^b[_-`aQS_S_T_ U_T_S_aQ, S. 47 f., wo Gru¨nde bzw. Rechtsgedanken aufgeza¨hlt werden, die dem deutschen AGB-Recht zugrunde liegen. 514 2aQTY^b[YZ/3Ycap^b[YZ, 5_T_S_a^_V `aQS_. ;^YTQ `VaSQp. ?RjYV `_\_WV^Yp, S. 800.

II. Grundrechte im russischen Privatrecht

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digkeit vom Gleichgewichtsausgleich in solchen Fällen, basierend auf der Tatsache, dass diese Bedingungen aufgrund wirtschaftlicher Übermacht aufgezwungen werden515. Als Rechtsfolge kann die andere Seite die Aufhebung des Vertrags verlangen, wie es bei anderen Vertragsformen nicht möglich wäre, Art. 428 GKRF. Damit wird die anfängliche Ungleichheit der Parteien durch die Möglichkeit einer Rechtsfolgengestaltung ausgeglichen. Dabei knüpft sie nicht an die etwaige Wiederrechtlichkeit des Rechtsgeschäfts an, sondern vielmehr an die theoretische Möglichkeit der Benachteiligung der anderen Partei durch die Einschränkung ihrer Vertragsfreiheit im Stadium des Vertragsabschlusses516. Ähnlich verhält es sich auch mit dem Mietvertrag i.S.d. Art. 626 GKRF. Bei diesem handelt es sich gemäß Art. 626 Abs. 3 i.V.m. 426 GKRF ebenfalls um einen öffentlichen Vertrag. Überdies kann der Vertrag für höchstens ein Jahr geschlossen werden, Art. 627 Abs. 1 GKRF. Nach Art. 627 Abs. 2 i.V.m. 621 Abs. 2 GKRF kann sich der Vertrag allgemein auch bei weiterer Nutzung nicht in einen unbefristeten Mietvertrag umwandeln. Gemäß Art. 627 Abs. 3 GKRF ist dieser Vertrag schließlich jederzeit durch den Mieter unter Einhaltung einer 10-Tage-Frist kündbar. (dd) Zusammenfassung Anhand der ausgeführten Beispiele lässt sich ein differenziertes System nachvollziehen, welches vom russischen Gesetzgeber zum Schutz der schwächeren Seite gebildet wurde517. Damit wird diese z. B. durch zusätzliche Rechte für den Verbraucher bzw. durch zusätzliche Pflichten auf Seiten des Unternehmers bevorzugt behandelt. Die Einschränkung der Vertragsfreiheit zum Schutz der schwächeren Seite soll dabei dem Prinzip der Gleichheit dienen. Unter der Gleichheit der Teilnehmer privatrechtlicher Rechtsbeziehungen i.S.d. Art. 1 Abs. 1 1. Var. GKRF wird in der russischen Rechtslehre neben juristischer Gleichheit518 auch die Abwesenheit von Zwang bzw. eines Über- und Unterordnungsverhältnisses zwischen den Teilnehmern des Privatrechtsverkehrs519 verstanden, und somit das Gleichgewicht ihrer Rechte und Pflichten520. Das Prinzip der Gleichheit drückt sich gemäß Art. 18 GKRF 515 Freilich sind auch die ABG-Regelungen des BGB ebenfalls auf die Verträge ohne Verbraucherbeteiligung anwendbar, § 310 Abs. 1 BGB. 516 @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 23. 02. 1999 N 4-@, B8 AE 08. 03. 1999/10/1254, Ziff. 4; 2aQTY^b[YZ/3Ycap^b[YZ, 5_T_S_a^_V `aQS_. ;^YTQ `VaSQp. ?RjYV `_\_WV^Yp, S. 801. 517 =_X_\Y^/=Qb\pVS (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_: DhVR^Y[, hQbcm 1, S. 162. 518 3QSY\Y^, ?bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ TaQWUQ^b[Yf `aQS, S. 259; ;_]YbbQa_SQ, @aY^gY`l S `aQSV Y _b^_S^lV ^QhQ\Q TaQWUQ^b[_T_ XQ[_^_UQcV\mbcSQ, S. 195; BdfQ^_S (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_, C_] 1, S. 51. 519 BQUY[_S, S: _^ WV (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d [_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, hQbcY `VaS_Z, `_bcQcVZ^lZ, Art. 1, S. 3; BdfQ^_S (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_, C_] 1, S. 51. 520 @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 26. 12. 2002 N 17-@, 3Vbc^Y[ ;B AE, 2003/1, Ziff. 5; @_bcQ^_S\V^YV E1B BVSVa_-;QS[QXb[_T_ _[adTQ _c 17. 03. 1999 N E08-403/99 (unvero¨ffentlicht); @_bcQ^_S\V^YV E1B @_S_\Wb[_T_ _[adTQ _c 02. 02. 1999 N 155-39/98-5 (un-

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

vor allem in der gleichen Rechtsfähigkeit natürlicher Personen aus. Bezogen auf die Balance von Rechten und Pflichten beschränkt beispielsweise Art. 155 GKRF die Wirkung von einseitigen Rechtsgeschäften auf die andere Partei des jeweiligen Rechtsgeschäfts. Damit bedeutet Gleichheit hier vorrangig die Gleichheit von Handlungsmöglichkeiten der Subjekte des Privatrechts521. Im Hinblick auf ihre wirtschaftliche Stärke unterscheiden sich die Privatrechtssubjekte jedoch oft gravierend. Zugleich kann von Vertragsfreiheit nicht die Rede sein, wenn die Parteien derart ungleich sind, dass die eine Seite der anderen den Vertragsabschluss bzw. die Vertragsbedingungen aufzwingen kann. Um das Prinzip der Gleichheit zu gewährleisten und es zu voller Entfaltung kommen zu lassen, muss die Vertragsfreiheit eingeschränkt werden, wobei ihre paradoxe Wechselwirkung stets zum Vorschein kommt: Die Gleichheit von Parteien und ihre Vertragsfreiheit soll durch ihre Ungleichstellung erreicht werden522. Man hat es hier also gleichzeitig mit der Abweichung vom Prinzip der Gleichheit523 und mit seiner Verwirklichung524 zu tun. Durch dieses Vorgehen wird vor allem der Ausgleich anfänglicher Ungleichstellung der Parteien525, in Entsprechung seiner sozialen Aufgaben i.S.d. Art. 7 Abs. 1 i.V.m. 2 S. 2 KRF, zum Ziel des Privatrechts526. Das kann sich sowohl in der Verankerung anfänglich unterschiedlicher Voraussetzungen der Teilnahme am Rechtsverkehr als auch in besonderen Bedingungen der Vertragsschließung, -auflösung, und -erfüllung sowie in zusätzlichen Rechten der schwächeren Seite oder Pflichten der stärkeren äußern527. Daraus lässt sich wiederum verallgemeinernd folgern, dass die Qualifizierung einer der Parteien als schwächere Seite dadurch gekennzeichnet ist, dass diese durch eigene anfängliche Ungleichstellung aufgrund objektiver oder subjektiver Umstände, auf welche sie keinen oder nur wenig Einfluss hat, im Vergleich zur anderen Partei in ihrer Vertragsfreiheit i.S.d. Art. 8 Abs. 1, 34 Abs. 1, 35 Abs. 2 KRF i.V.m. Art. 1 Abs. 1, 2 UAbs. 1 GKRF eingeschränkt ist. In der Feststellung dieser Einschränkung verbirgt sich bereits die Einordnung des Prinzips des Schutzes der schwächeren Seite: Es stellt damit kein eigenes grundlegendes Prinzip i.S.d. Art. 1 Abs. 1 GKRF dar, sondern ist vielmehr eine Ausprägung des grundlegenden Prinzips der Gleichheit der Teilnehmer am Privatrechtsverkehr sowie eines der tragenden vero¨ffentlicht); ;_]YbbQa_SQ, @aY^gY`l S `aQSV Y _b^_S^lV ^QhQ\Q TaQWUQ^b[_T_ XQ[_^_UQcV\mbcSQ, S. 196. 521 ;dX^Vg_SQ, þ_a]l – `aY^gY`l a_bbYZb[_T_ TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, S. 132. 522 @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 03. 07. 2001 N 10-@, B8 AE 16. 07. 2001/29/3058, Ziff. 2. 523 3QSY\Y^, ?bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ TaQWUQ^b[Yf `aQS, S. 266. 524 2aQTY^b[YZ/3Ycap^b[YZ, 5_T_S_a^_V `aQS_. ;^YTQ `VaSQp. ?RjYV `_\_WV^Yp, S. 797. 525 2aQTY^b[YZ/3Ycap^b[YZ, 5_T_S_a^_V `aQS_. ;^YTQ `VaSQp. ?RjYV `_\_WV^Yp, S. 798, str., dazu: B\QSVg[YZ, @aY^gY` XQjYcl b\QR_Z bc_a_^l TaQWUQ^b[_-`aQS_S_T_ U_T_S_aQ, S. 63 m.w.N. 526 B\QSVg[YZ, @aY^gY` XQjYcl b\QR_Z bc_a_^l TaQWUQ^b[_-`aQS_S_T_ U_T_S_aQ, S. 61. 527 2aQTY^b[YZ/3Ycap^b[YZ, 5_T_S_a^_V `aQS_. ;^YTQ `VaSQp. ?RjYV `_\_WV^Yp, S. 798.

II. Grundrechte im russischen Privatrecht

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Gesichtspunkte im Ausgleich rechtlich geschützter Positionen Privater528. Dieses Prinzip fußt im Grundrecht auf Gleichbehandlung i.S.d. Art. 19 KRF529 und in der verfassungsrechtlichen Garantie des rechtlichen Schutzes i.S.d. Art. 45 Abs. 1 KRF530. Danach und insbesondere aus der Garantie des Art. 19 Abs. 2 S. 1 i.V.m. 2 S. 2 KRF folgt, dass der Gesetzgeber die verfassungsrechtlichen Freiheiten aller Teilnehmer am Privatrechtsverkehr in höchstmöglichem Maße und unabhängig von Umständen, die in Art. 19 Abs. 2 S. 1 KRF ausdrücklich nicht abschließend aufgezählt werden, gewährleisten muss. In seiner Funktion als Ausprägung des Prinzips der Gleichheit stellt das Prinzip des Schutzes der schwächeren Seite gemäß Art. 17 Abs. 3 KRF eine Schranke für die anderen grundlegenden Prinzipien – wie das der Vertragsfreiheit531 oder der Gleichheit selbst i.S.d. Art. 1 Abs. 1 GKRF – dar. Die abstrakte Formulierung des Gleichheitsprinzips kann zu seiner Verwirklichung nicht ausreichend sein, was dazu führt, dass der Gesetzgeber versuchen muss, die Gleichheit mittels gewisser Bevorteilung der schwächeren Seite zu erreichen532, damit die Bürger auch im Privatrechtsverkehr in gleichem Maße von ihren Freiheiten Gebrauch machen können. Der Gedanke des Schutzes der schwächeren Seite eines Rechtsverhältnisses erfüllt dabei im russischen Recht zum Teil die Aufgaben, welche im deutschen Recht die §§ 138 und 242 BGB erfüllen533. Dies geschieht teilweise mittels des Kontrahierungszwangs, der die Vertragsfreiheit einschränkt, um sie auf der anderen Seite gleichzeitig zu gewährleisten. (c) Der Kontrahierungszwang als Instrument zur Durchsetzung von Grundrechten im Privatrecht Obgleich die Vertragsfreiheit auch in der russischen Rechtslehre als eine der Grundlagen des Privatrechts angesehen wird und einen beträchtlichen Beitrag zur freien Entfaltung der Person sowie zur Gleichberechtigung der Parteien im Rechtsverkehr leistet534, kann sie, wie jedes andere Recht, demnach nicht schrankenlos gewährt werden. Dies würde die Volkswirtschaft in Frage stellen sowie so-

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Dagegen: B\QSVg[YZ, @aY^gY` XQjYcl b\QR_Z bc_a_^l TaQWUQ^b[_-`aQS_S_T_ U_T_S_aQ, S. 81. Fu¨r die Legalisierung dieses Prinzips neben den anderen Prinzipien des Art. 1 Abs. 1 GKRF 3QSY\Y^, ?bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ TaQWUQ^b[Yf `aQS, S. 67. 529 @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 03. 07. 2001 N 10-@, B8 AE 16. 07. 2001/29/3058, Ziff. 2. 530 3QSY\Y^, ?bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ TaQWUQ^b[Yf `aQS, S. 53. 531 2V\_S, 4aQWUQ^b[_V `aQS_, _RjQp hQbcm, C_] I. 3SVUV^YV S TaQWUQ^b[_V `aQS_, S. 47; =Q[_Sb[YZ, ? [_UYeY[QgYY TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ (1922 – 2006), S. 425. 532 @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 23. 02. 1999 N 4-@, 08. 03. 1999, N 10, Art. 1254, Ziff. 5. 533 B\QSVg[YZ, @aY^gY` XQjYcl b\QR_Z bc_a_^l TaQWUQ^b[_-`aQS_S_T_ U_T_S_aQ, S. 74, der die Frage diskutiert, ob dieser Gedanke durch den Gedanken der Billigkeit ersetzt werden soll. 534 IVaiV^VSYh, DhVR^Y[ TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, C_] 2, S. 78.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

ziale Programme und den Frieden in der Gesellschaft gefährden535. Der Grund dieser Unmöglichkeit liegt in der Divergenz zwischen der gewünschten Gleichheit und der tatsächlichen Ungleichheit der Rechtsverkehrsteilnehmer der Marktwirtschaft. Die Notwendigkeit von Einschränkung der Privatautonomie ist deshalb nur natürlich und durch die Verfassung und den Zivilkodex vorgegeben, Art. 17 Abs. 3, 55 Abs. 3 KRF i.V.m. Art. 1 Abs. 2 UAbs. 2 GKRF. In diesem Sinn wird in Russland in den privatrechtlichen Normen die Rechtfertigung für die starke Verbreitung des Kontrahierungszwangs als Ausprägung des Gleichheitsprinzips gesehen536. Die Vertragsfreiheit findet ihre konkretisierenden Schranken in den zwingenden Bestimmungen des Zivilrechts. Gleichzeitig sind die Schranken durch die verfassungsrechtlichen Vorgaben determiniert, sodass sich die beiden Kategorien wechselseitig bedingen. Das bedeutet zugleich, dass die Vertragsfreiheit nur gewährleistet werden kann, wenn auch alle anderen Prinzipien funktionsfähig sind. So würde sie z. B. ohne die Eigentumsfreiheit oder die Gleichberechtigung der Parteien leerlaufen. Um die anderen Prinzipien zu gewährleisten, wird vom russischen Gesetzgeber das Instrument des Kontrahierungszwangs eingesetzt. (aa) Der Kontrahierungszwang und seine Mechanismen im GKRF Der Kontrahierungszwang wird von vielen Rechtsnormen des Zivilkodexes angeordnet. Einen dieser Fälle stellt der bereits angesprochene, sogenannte „öffentliche Vertrag“ i.S.d. Art. 426 GKRF dar. Der „öffentliche Vertrag“ wird zwischen dem Verbraucher537 und einer kommerziellen Organisation538 geschlossen, die aufgrund der Art ihrer Tätigkeit – wie beispielsweise dem Verbrauchsgüterkauf i.S.d. Art. 492 GKRF, dem Betrieb öffentlicher Verkehrsmittel i.S.d. Art. 789 GKRF oder der Energielieferung i.S.d. Art. 539 GKRF, aber auch bei der Bereitstellung von Kommunikationsdiensten i.S.d. Art. 730 GKRF, medizinischen Diensten, Hotelbetrieb usw. – jedem ihre Dienste bzw. Güter im Rahmen des Möglichen539 anbieten muss. 535 2aQTY^b[YZ/3Ycap^b[YZ, 5_T_S_a^_V `aQS_. ;^YTQ `VaSQp. ?RjYV `_\_WV^Yp, S. 159. 536 @_bcQ^_S\V^YV E1B DaQ\mb[_T_ _[adTQ _c 30. 09. 2002 N E09-767/02-4; (unvero¨ffentlicht); ;dX^Vg_SQ, þ_a]l – `aY^gY`l a_bbYZb[_T_ TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, S. 135. 537 Der Begriff des Verbrauchers wird vom GKRF nicht definiert, eine Definition findet sich in der Einführung zum „Gesetz über den Schutz von Verbraucherrechten“ („8Q[_^ _ XQjYcV `aQS `_caVRYcV\VZ“ _c 07. 02. 1992 (aVU. _c 27. 06. 2011) N 162-E8, A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 15. 01. 1996/8). Die jeweiligen Bestimmungen des GKRF stellen jeweils unterschiedliche Anforderungen an die Eigenschaften des Subjekts. Die einen verlangen, dass der Verbraucher ein Bu¨rger ist (so z. B. Art. 730 Abs. 2 GKRF), die anderen dagegen umschreiben den Verbraucher gar nicht (z. B. 492 Abs. 2 GKRF), sodass es wohl auch eine juristische Person sein kann, vgl. 2aQTY^b[YZ/3Ycap^b[YZ, 5_T_S_a^_V `aQS_. ;^YTQ `VaSQp. ?RjYV `_\_WV^Yp, S. 255. 538 Dagegen wird der Begriff der „kommerziellen Organisation“ in Art. 50 Abs. 1 Alt. 1 GKRF definiert. 539 Wobei die Beweislast bei der Organisation liegt, vgl. @_bcQ^_S\V^YV @\V^d]Q 3B AE N 6, @\V^d]Q 31B AE N 8 _c 01. 07. 1996: „? ^V[_c_alf S_`a_bQf, bSpXQ^^lf b `aY]V^V^YV] hQbcY `VaS_Z 4aQWUQ^b[_T_ [_UV[bQ A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY“, A_bbYZb[Qp

II. Grundrechte im russischen Privatrecht

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Die gesetzliche Aufzählung ist dabei nicht abschließend, sondern beispielhaft; durch sie wird der Tatbestand der Art von Tätigkeiten exemplarisch umschrieben. Liegt dieser vor, so müssen die Rechtsfolgen des Art. 426 GKRF zum Tragen kommen. Manche Verträge werden im Zivilkodex ausdrücklich als „öffentliche“ bezeichnet, so auch die Verträge über eine Geldanlage eines Verbrauchers bei der Bank i.S.d Art. 834 GKRF540, über die Lagerung von Gütern in öffentlichen Lagerräumen Art. 908 GKRF, über die Verwahrung im Pfandhaus, Art. 919 GKRF, oder in einigen Fällen auch über Dienstleistungen und Lieferungen zur Erfüllung staatlicher Aufgaben nach Art. 529 Abs. 5, 526 GKRF. Ob die genannten Verträge jedoch den Rechtsfolgen des Art. 426 GKRF unterliegen, liegt weniger an ihrer Bezeichnung, als vielmehr an der tatsächlichen Erfüllung des Tatbestandes, also an den teleologischen Erwägungen541. Durch die Konstruktion des „öffentlichen Vertrags“ i.S.d. Art. 426 Abs. 1, 2, 3 GKRF soll den kommerziellen Organisationen des Weiteren die Möglichkeit genommen werden, sich ihre Vertragspartner aus den Interessenten auszusuchen, andere Interessenten dadurch vom Vertragsabschluss auszuschließen oder einige der Vertragspartner gegenüber den anderen zu bevorteilen. Die diskriminierenden Vertragsbedingungen sind ex tunc nichtig, was bedeutet, dass sie entweder gemäß Art. 180 GKRF pes se nichtig sind, oder die Nichtigkeit des Vertrages gemäß Art. 446 GKRF nach den Regeln über den Dissens eintritt. Nach Art. 445 Abs. 4 i.V.m. 426 Abs. 1, 2 GKRF kann der jeweilige Anbieter als Folge seiner Zuwiderhandlung zum Vertragsabschluss und/oder Schadensersatz durch Urteil verpflichtet werden. Dabei kann der Verbraucher das Gericht auch ohne einen vorherigen außergerichtlichen Klärungsversuch anrufen542. Gleichzeitig ist dieser Kontrahierungszwang einseitiger Art, was bedeutet, dass der Verbraucher zum Vertragsabschluss nicht gezwungen werden darf543. Schließlich regelt Art. 445 GKRF die Anforderungen an den Konsens sowie die Rechtsfolgen für alle Fälle, in denen der Vertragsabschluss zwingend ist.

4QXVcQ 13. 08. 1996/152, Ziff. 41; 2aQTY^b[YZ/3Ycap^b[YZ, 5_T_S_a^_V `aQS_. ;^YTQ `VaSQp. ?RjYV `_\_WV^Yp, S. 251. 540 Ob dieser Vertrag zu den „öffentlichen“ gehört ist umstritten, s. 2aQTY^b[YZ/ 3Ycap^b[YZ, 5_T_S_a^_V `aQS_. ;^YTQ `VaSQp. ?RjYV `_\_WV^Yp, S. 254. 541 2aQTY^b[YZ/3Ycap^b[YZ, 5_T_S_a^_V `aQS_. ;^YTQ `VaSQp. ?RjYV `_\_WV^Yp, S. 253. 542 @_bcQ^_S\V^YV @\V^d]Q 3B AE N 6, @\V^d]Q 31B AE N 8 _c 01. 07. 1996: „? ^V[_c_alf S_`a_bQf, bSpXQ^^lf b `aY]V^V^YV] hQbcY `VaS_Z 4aQWUQ^b[_T_ [_UV[bQ A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY“, A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 13. 08. 1996/152, Ziff. 55; 2aQTY^b[YZ/ 3Ycap^b[YZ, 5_T_S_a^_V `aQS_. ;^YTQ `VaSQp. ?RjYV `_\_WV^Yp, S. 251, 799. 543 @_bcQ^_S\V^YV E1B BVSVa_-8Q`QU^_T_ _[adTQ _c 06. 09. 2004 N 121-10093/03-B2 (unvero¨ffentlicht); @_bcQ^_S\V^YV E1B 8Q`QU^_-BYRYab[_T_ _[adTQ _c 12. 01. 2005 N E04-9327/2004 (7622-175-8), (unvero¨ffentlicht); 2aQTY^b[YZ/3Ycap^b[YZ, 5_T_S_a^_V `aQS_. ;^YTQ `VaSQp. ?RjYV `_\_WV^Yp, S. 251; B[S_ag_S, S: BVaTVVS (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d ;_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 426, S. 863.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

Das System der „öffentlichen Verträge“ stellt offensichtlich eine Ausnahme zum privatrechtlichen Grundsatz der Vertragsfreiheit und zugleich einen Fall des heteronomen Kontrahierungszwangs dar. Das Konstrukt eines öffentlichen Vertrags dient in erster Linie den öffentlichen Interessen und stellt damit ein Beispiel für den Einfluss des öffentlichen Ansatzes im Privatrecht dar544. Zu den Schutzzwecken der öffentlichen Verträge gehören: Verbraucherschutz, Gewährleistung der Markt- und Wettbewerbsfreiheit sowie Unterbindung von Monopolen545, und damit die Interessen und Rechte anderer i.S.d. Art. 1 Abs. 2 UAbs. 2 GKRF i.V.m. Art. 55 Abs. 3 KRF. Dabei wird zum Schutz dieser Rechtsgüter die Vertragsfreiheit des Unternehmens sowohl im Hinblick auf die Wahl des Kontrahenten als auch auf den Vertragsabschluss an sich ausgeschlossen. Zugleich werden die Rechte des Verbrauchers im Vergleich zur Normalsituation erweitert. Art. 428 und 429 GKRF stellen im Vergleich dazu keine echten Ausprägungen des heteronomen Kontrahierungszwangs dar. Beim sogenannten „Anknüpfungsvertrag“ i.S.d. Art. 428 GKRF handelt es sich, wie bereits oben angedeutet, um eine den allgemeinen Geschäftsbedingungen ähnliche Form von Vertragsbedingungen, welche der anderen Partei aufgrund von Besonderheiten der Vertragsabschlussumstände aufgezwungen wurden, das heißt die sie also nicht beeinflussen bzw. verhandeln konnte. Diesen Teil des Vertrags, bzw. den ganzen Vertrag, kann die unterliegende Partei in bestimmten Fällen gemäß Art. 428 GKRF anfechten. Dagegen handelt es sich beim Vorvertrag i.S.d. Art. 429 GKRF um die autonome Bindung der Parteien im Hinblick auf den Abschluss eines zukünftigen Vertrags. Diese Form des Kontrahierungszwangs stellt daher, wie bei jedem anderen Vertrag, eine willentliche Selbstbindung der Parteien und keinen staatlich angeordneten Kontrahierungszwang dar546. (bb) Die Gleichheit der Teilnehmer des Privatrechtsverkehrs als Schutzzweck des Kontrahierungszwangs Das zentrale Schutzziel der aufgezeigten Regelungen ist die Gleichheit der Teilnehmer im Privatrechtsverkehr. Diese Gleichheit ist daher die wichtigste Schranke der Vertragsfreiheit i.S.d. Art. 17 Abs. 3 KRF, zugleich aber auch ihre wichtigste Garantie. Somit stellt neben den anderen Instrumenten des Zivilkodexes auch der Kontrahierungszwang eine Schranke der Vertragsfreiheit zum Schutz der Interessen der Öffentlichkeit bzw. der Gleichheit der Privatrechtsparteien dar, Art. 1

544 2aQTY^b[YZ/3Ycap^b[YZ, 5_T_S_a^_V `aQS_. ;^YTQ `VaSQp. ?RjYV `_\_WV^Yp, S. 246. 545 2aQTY^b[YZ/3Ycap^b[YZ, 5_T_S_a^_V `aQS_. ;^YTQ `VaSQp. ?RjYV `_\_WV^Yp, S. 248 ff. 546 A_S^lZ, S: BVaTVVS (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d ;_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 429, S. 867 f.

II. Grundrechte im russischen Privatrecht

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Abs. 2 UAbs. 2 GKRF i.V.m. Art. 55 Abs. 3 KRF547. Der Kontrahierungszwang ist damit ebenfalls Ausdruck des Grundrechts auf Gleichbehandlung i.S.d. Art. 19 KRF, der aufgrund der Bindung Privater an die Grundrechte zu einem Recht auf Gleichbehandlung im Zivilrecht erwächst548. Dieses wird folglich mit Art. 17 Abs. 3 KRF zu einer natürlichen Schranke der Vertragsfreiheit. Die Verletzung des Gleichbehandlungsprinzips kann deshalb in seiner logischen Folge zur Unwirksamkeit eines Vertrags führen549. Die Übernahme des Gleichbehandlungsgebots wird in der russischen Rechtswissenschaft auch keineswegs als „das Ende der Privatautonomie“, sondern vielmehr als natürlicher Bestandteil einer sozialen Marktwirtschaft i.S.d. Art. 7 Abs. 1 KRF verstanden. (d) Die Wechselwirkung zwischen den grundlegenden Prinzipien der Vertragsfreiheit und der Gleichheit der Teilnehmer des Privatrechtsverkehrs (aa) Der Inhalt des Gleichheitsprinzips im russischen Privatrecht Das Prinzip der Gleichheit wird in der russischen Rechtstheorie als Eckpfeiler des Privatrechts angesehen. Im Einklang mit Art. 19 Abs. 1 KRF versteht man darunter in der russischen Rechtslehre zunächst nur die Symmetrie der Rechtsstellung der Parteien550. Diese Gleichstellung bezieht sich auf alle Privatrechtssubjekte, somit auch auf den Staat, und soll dadurch ein Unterscheidungskriterium gegenüber dem öffentlichen Recht bilden551. Die Diskussion über den Gehalt des Gleichheitsprinzips im Privatrecht geht auf die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts und damit auf das UdSSRZivilrecht zurück552. Dies wird gewiss einer der Gründe sein, warum die russische Rechtslehre keine Berührungsängste mit der Anwendung des Prinzips der Gleichheit im Privatrecht hat, dass dieses für sie sogar selbstverständlich ist553, wobei das Gleichheitsprinzip im kommunistischen Privatrechtssystem freilich einen anderen Gehalt hatte. In jener Zeit wurzelt auch der Streit über die Prinzipienqualität der 547 ;dX^Vg_SQ, þ_a]l – `aY^gY`l a_bbYZb[_T_ TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, S. 162; BdfQ^_S (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_, C_] 3, S. 175. 548 @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 03. 07. 2001 N 10-@, B8 AE 16. 07. 2001/29/3058, Ziff. 2; 3QSY\Y^, ?bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ TaQWUQ^b[Yf `aQS, S. 263. 549 @_bcQ^_S\V^YV E1B BVSVa_-;QS[QXb[_T_ _[adTQ _c 17. 03. 1999 N E08-403/99 (unvero¨ffentlicht). 550 3QSY\Y^, ?bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ TaQWUQ^b[Yf `aQS, S. 260; ;_]YbbQa_SQ, @aY^gY`l S `aQSV Y _b^_S^lV ^QhQ\Q TaQWUQ^b[_T_ XQ[_^_UQcV\mbcSQ, S. 195. 551 ;_]YbbQa_SQ, @aY^gY`l S `aQSV Y _b^_S^lV ^QhQ\Q TaQWUQ^b[_T_ XQ[_^_UQcV\mbcSQ, S. 186. 552 Wobei die Gleichheit als Methode des Zivilrechts begriffen wurde. Ausführlich zu den damals in der Literatur vertretenen Ansichten, ;_]YbbQa_SQ, @aY^gY`l S `aQSV Y _b^_S^lV ^QhQ\Q TaQWUQ^b[_T_ XQ[_^_UQcV\mbcSQ, S. 186 f. 553 Freilich hatte das Prinzip der Gleichheit damals einen ganz anderen Gehalt als heute; leider bleibt aber die Übertragung alter Theorien auf die neue Rechtswirklichkeit nicht selten unreflektiert.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

Gleichheit im Zivilrecht – nach damals zum Teil vertretener Ansicht handelte es sich hierbei um eine Methode des Privatrechts554. Gegen die Übernahme dieser Ansicht in die gegenwärtige russische Rechtstheorie spricht neben dem klaren Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 GKRF auch der normative Gehalt des Gleichheitsprinzips, der einer bloßen Methode nicht zusteht. Die Forderung nach der Status-Symmetrie des Art. 19 KRF i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GKRF wird durch den Schutzauftrag i.S.d. Art. 19 Abs. 2 i.V.m. 2 S. 2 KRF sowie die soziale Zielsetzung i.S.d. Art. 7 Abs. 1 KRF angereichert, woraus gefolgert wird, dass der Gesetzgeber sich nicht darauf beschränken darf, die rechtliche Gleichheit zu proklamieren. Vielmehr muss er die wirtschaftlich schwächere Seite in bestimmten Situationen bevorteilen, um Gleichheit bei der Vertragsfreiheit zu gewährleisten555. Die Anwendbarkeit von Methoden kann je nach Art des konkreten Falls variieren, ein grundlegendes Prinzip als Optimierungsgebot und Ausdruck grundrechtlicher Rechtspositionen muss dagegen stets zur Geltung kommen556. Ein solcher regelnder Gehalt kommt dem Prinzip der Gleichheit damit aufgrund seines direkt wirkenden grundrechtlichen Gehalts zu. (bb) Einschränkungen der Vertragsfreiheit durch die Mechanismen zum Schutz der schwächeren Seite Die Qualität der Maßnahmen des Gesetzgebers zum Schutz der schwächeren Seite wird in der russischen Literatur nicht einheitlich beurteilt. Es wird insbesondere angezweifelt, ob diese auch tatsächlich Einschränkungen des Gleichheitsprinzips und der Vertragsfreiheit darstellen. Oben wurde bereits auf ihre Janusköpfigkeit hingewiesen. Eine Mindermeinung folgert daraus, dass in den zwingenden Regelungen zum Schutz der schwächeren Seite gerade keine Einschränkung der Vertragsfreiheit liegt, sondern vielmehr ihre Garantie557. Diese Position wird damit begründet, dass eine zwingende Regelung stets Freiheit bedeutet, dagegen gewollte oder ungewollte Gesetzeslücken deren Einschränkung nach sich ziehen, da die Parteien gerade dann uneingeschränkt in die Freiheit des Kontrahenten eingreifen können558. Damit wäre eine Einschränkung der grundlegenden Prinzipien nur durch Handlungen Privater und lediglich mittelbar durch staatliche Regelungen in Form von Unterlassen möglich. Soweit man darunter eine Einschränkung i.S.d. Art. 55 Abs. 2, Abs. 3 KRF i.V.m. Art. 1 Abs. 2 UAbs. 2 GKRF versteht, wozu aber jegliche

554 ;_]YbbQa_SQ, @aY^gY`l S `aQSV Y _b^_S^lV ^QhQ\Q TaQWUQ^b[_T_ XQ[_^_UQcV\mbcSQ, S. 188 m.w.N. 555 @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 23. 02. 1999 N 4-@, A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 03. 03. 1999/40, Ziff. 5. 556 s. o. C., II., 2., d), bb), (cc). Ebenso ;_]YbbQa_SQ, @aY^gY`l S `aQSV Y _b^_S^lV ^QhQ\Q TaQWUQ^b[_T_ XQ[_^_UQcV\mbcSQ, S. 189 f. 557 B\QSVg[YZ, @aY^gY` XQjYcl b\QR_Z bc_a_^l TaQWUQ^b[_-`aQS_S_T_ U_T_S_aQ, S. 71 f. 558 Ebenda.

II. Grundrechte im russischen Privatrecht

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Ausführungen fehlen, würde dies dem Wortlaut dieser Normen widersprechen559. Die herrschende Meinung und die Rechtsprechung560 sind deshalb der Ansicht, dass auch zwingende Regelungen sehr wohl eine Einschränkung darstellen561. Der letzteren Meinung ist zuzustimmen. Obwohl der Schutz der schwächeren Seite die Parität der Vertragsparteien wiederherstellen soll, sind die Einschränkungen von Rechten der anderen Seite dennoch offensichtlich. So kann die bis dahin stärkere Seite ihre Vertragspartner oder die Tatsache des Vertragsabschlusses nicht mehr frei aussuchen. Auf der anderen Seite stellt eine solche Einschränkung die Freiheit aber auch wieder her562. Daraus kann gefolgert werden, dass der Schutz der schwächeren Seite zwar dieser zur Verwirklichung ihrer Rechtspositionen verhilft, für die andere aber zugleich einen Eingriff in ihre verfassungsrechtlich garantierten Freiheitsräume und deshalb sehr wohl eine Einschränkung von Rechten einer Seite bei gleichzeitiger Erweiterung der Rechtsposition der anderen darstellt. Aus diesem Grund sind in solchen Maßnahmen richtigerweise sowohl Einschränkungen als auch Garantien zu sehen, denn der Gesetzgeber schränkt das Prinzip der Vertragsfreiheit sowie das Prinzip der Gleichheit ein, um die Gleichheit wiederherzustellen563. Diese Einschränkungen bilden dabei geradezu ein Paradebeispiel für die Realisierung des Art. 17 Abs. 3 KRF im Privatrecht564 und tragen starke protektionistische Züge565. Nach Ansicht der russischen Literatur können im Privatrecht die Vertragsfreiheit und die Gleichheit der Parteien ohne den Schutz der schwächeren Seite nicht gewährleistet werden566. Ausgehend von diesem Gedanken stellt dieser einen der Schutz559 Unter Einschränkung könnte man dann nur solche Verkürzungen verfassungsrechtlich garantierter Freiheitsräume verstehen, welche i.S.d. Art. 17 Abs. 3 KRF durch Private erfolgen. Für Einschränkungen durch den Staat i.S.d. Art. 55 Abs. 2, Abs. 3 KRF i.V.m. Art. 1 Abs. 2 UAbs. 2 GKRF müsste dann ein eigener Begriff gefunden werden. Eine solche dogmatische Tendenz zeichnet sich in der russischen Rechtslehre, wie im Übrigen auch bei dem Autor dieser Meinung, jedoch nicht ab. 560 Z.B. @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 23. 02. 1999 N 4-@, B8 AE 08. 03. 1999/10/1254, Ziff. 5; @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 06. 06. 2000 N 9-@, B8 AE 12. 06. 2000/24/2658, Ziff. 4. 561 2aQTY^b[YZ/3Ycap^b[YZ, 5_T_S_a^_V `aQS_. ;^YTQ `VaSQp. ?RjYV `_\_WV^Yp, S. 157; A_S^lZ, S: BVaTVVS (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d ;_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 1, S.17; BQUY[_S (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_: DhVR^Y[, C_] 1, S. 162; BQ\m^Y[_SQ, ? `aVUV\Qf U_T_S_a^_Z aQR_cl, þQ\_TY (TQXVcQ), 2009, N 24, S. 4; CQ^QTQ, @aY^gY` bS_R_Ul U_T_S_aQ S TaQWUQ^b[_] `aQSV A_bbYY, S.18 f. 562 @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 23. 02. 1999 N 4-@, B8 AE 08. 03. 1999/10/1254, Ziff. 5 spricht sogar von dem verfassungsrechtlichen Auftrag des Gesetzgebers zur Schaffung von Rechtsnormen, die die schwa¨chere Seite bevorteilen. 563 A_S^lZ, S: BVaTVVS (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d ;_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 1, S.17. 564 Auch BQ\m^Y[_SQ, ? `aVUV\Qf U_T_S_a^_Z aQR_cl, þQ\_TY (TQXVcQ), 2009, N 24, S. 3, sieht im Schutz der schwa¨cheren Seite den Ausdruck des verfassungsrechtlichen Auftrags i.S.d. Art. 17 Abs. 3 KRF; so letztlich auch B\QSVg[YZ, @aY^gY` XQjYcl b\QR_Z bc_a_^l TaQWUQ^b[_-`aQS_S_T_ U_T_S_aQ, S. 73. 565 A_S^lZ, S: BVaTVVS (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d ;_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 1, S. 17. 566 3QSY\Y^, ?bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ TaQWUQ^b[Yf `aQS, S. 53.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

aufträge des Staates i.S.d. Art. 2 S. 1 KRF dar567. Dieser Schutzpflicht gegenüber der schwächeren Seite kommt der Staat nach, indem er zwingende Regelungen aufstellt, die die Vertragsfreiheit einschränken568. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Vertragsfreiheit und zwingenden Rechtsnormen entspricht in Russland der Frage der Ausbalancierung grundrechtlicher Positionen und somit der Verhältnismäßigkeit staatlicher Handlungen i.S.d. Art. 55 Abs. 3 KRF569. Die Vertragsfreiheit ist dabei eines der grundlegenden Prinzipien des Privatrechts und eine verfassungsrechtliche Freiheit des Bürgers i.S.d. Art. 8, 34, 35 KRF570. Sie ist zugleich ein Begriff des Verfassungsrechts und des Privatrechts571. Deshalb kann sie auch nur in den Grenzen des Art. 55 Abs. 2, Abs. 3 KRF i.V.m. Art. 1 Abs. 2 UAbs. 2 GKRF zugunsten der dort genannten Rechtsgüter eingeschränkt werden572. (cc) Vergleichende Betrachtung der Rechtslage in Deutschland Mit der Figur des „öffentlichen Vertrags“ unterstellt der GKRF weitaus mehr Rechtsgeschäftsarten dem Kontrahierungszwang als der deutsche Gesetzgeber. Insbesondere kennt das BGB keine dem „öffentlichen Vertrag“ ähnliche Rechtsfigur oder einen sonstigen allgemeinen Kontrahierungszwang; vielmehr werden im deutschen Recht vor allem Anbieter mit monopolähnlicher Marktstellung im Wege spezialgesetzlicher Regulierung ausdrücklich dem Kontrahierungszwang ausgesetzt (z. B. § 20 Abs. 1, 2 GWB, § 18 Abs. 1 EnWG). Der Vorvertrag wird dagegen auch in Deutschland nicht als echtes Instrument des Kontrahierungszwangs im engeren Sinn angesehen. Er stellt eine autonome, in einem Vorvertrag festgelegte Entscheidung der Parteien dar, einen Vertrag einzugehen573. Trotz Fehlen einer ausdrücklichen Vertragsabschlusspflicht kann eine solche mittelbar durch Verletzung bestimmter Rechtspositionen im Wege des Schadensersatzanspruchs begründet werden. Verletzte Rechtspositionen können dabei die guten Sitten i.S.d. § 826574 (ggf. i.V.m. 567 @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 23. 02. 1999 N 4-@, B8 AE 08. 03. 1999/10/1254, Ziff. 5; 3QSY\Y^, ?bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ TaQWUQ^b[Yf `aQS, S. 50. 568 3QSY\Y^, ?bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ TaQWUQ^b[Yf `aQS, S. 53; 4QUWYVS, ;_^bcYcdgY_^^lV `aY^gY`l al^_h^_Z n[_^_]Y[Y. AQXSYcYV _b^_S TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ S aViV^Ypf [_^bcYcdgY_^^_T_ bdUQ A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, S. 191. 569 4QUWYVS, ;_^bcYcdgY_^^lV `aY^gY`l al^_h^_Z n[_^_]Y[Y. AQXSYcYV _b^_S TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ S aViV^Ypf [_^bcYcdgY_^^_T_ bdUQ A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, 191. 570 @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 23. 02. 1999 N 4-@, B8 AE 08. 03. 1999/10/1254, Ziff. 5; @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 06. 06. 2000 N 9-@, B8 AE 12. 06. 2000/24/2658, Ziff. 2. 571 @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 23. 02. 1999 N 4-@, B8 AE 08. 03. 1999/10/1254, Ziff. 5. 572 3QSY\Y^, ?bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ TaQWUQ^b[Yf `aQS, S. 53. 573 Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, S. 113. 574 § 826 BGB stellt dabei einen zentralen Anknüpfungspunkt für die Befürworter des Kontrahierungszwangs im Bereich der Daseinsvorsorge o. a. Schlussendlich liefert § 826 BGB aber einen engen Rahmen für die Entfaltung solcher Theorien, sodass der Kontrahierungszwang nur im engen Rahmen zulässig bleibt. Ausführlich dazu: Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, S. 162 ff.

II. Grundrechte im russischen Privatrecht

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§§ 12 S. 1, 862 Abs. 1 S. 1, 1004 Abs. 1 S. 1 BGB575), die Rechtsgüter des § 823 Abs. 1 BGB oder ein Schutzgesetz i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB sein. Die Zuwiderhandlung kann dabei zur Schadensersatzpflicht nach § 826 BGB in Form des Vertragsabschlusses führen. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang der Schadensersatzanspruch aus § 21 Abs. 2 S. 1 AGG, welcher aufgrund des Anwendungsbereichs des Gesetzes gemäß Art. 2 AGG den Kreis der Verpflichteten sehr weit zieht. Die genannten Fälle des Vertragsabschlusszwangs werden in der deutschen Literatur weitgehend als mit der Selbstbestimmungsfreiheit vereinbar und im Interesse der Rechtsordnung stehend gesehen, jedoch nur, soweit er der Sicherung dieser Freiheit dient576. Damit wird der „gemeinwohlverpflichtete“ Kontrahierungszwang als dem Prinzip der Gerechtigkeit und nicht dem Selbstbestimmungsrecht folgend kritisch betrachtet577. Der russischen Rechtswissenschaft ist eine solche Unterscheidung fremd. Auch dient die Regelung des „öffentlichen Vertrags“ zwar mittelbar der Sicherung der Selbstbestimmungsfreiheit im Sinne der deutschen Rechtsdogmatik, doch ist vordergründiges Ziel die paternalistische Marktregulierung im öffentlichen Interesse. Der Unterschied zwischen den beiden Rechtsordnungen erklärt sich indes historisch578 und liegt in der Wahrnehmung des Kontrahierungszwangs als Rechtsinstitut. Dabei wird es in der russischen Rechtstheorie eher als Fortschritt betrachtet, dass die Fälle der Anordnung des Kontrahierungszwangs weniger geworden sind als noch zu Sowjetzeiten, und die Tatsache, dass sich das Regel-Ausnahme-Verhältnis in Bezug auf Vertragsabschlussfreiheit und Kontrahierungszwang umgekehrt hat579. Zugleich wird dieses Instrument aber immer noch als zur Gewährleistung der Daseinsversorgung notwendig erachtet. Die Struktur dieses „gemeinwohlverpflichteten“ Kontrahierungszwangs als Institut ist der Idee des Vertragsabschlusszwangs in Russland insoweit sehr ähnlich, als wie diese die Umverteilung von Freiheitsräumen im öffentlichen Interesse im Auge hat und vom Gesetzgeber im Einklang mit der Verfassung verwirklicht wird580. Auch in Deutschland wird die unmittelbare Verbindung zwischen dem Prinzip der Privatautonomie und dem „allgemeinen Prinzip der Selbstbestimmung des Menschen“ gesehen und als ein durch das Grundgesetz der Rechtsordnung vorgegebener und „in ihr zu verwirklichender Wert“ anerkannt581. Ebenfalls wird anerkannt, dass 575 Kontrahierungszwang aus quasinegatorischem Anspruch: Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, S. 230 ff. 576 Im Bezug auf den allgemeinen Kontrahierungszwang: Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, S. 139. 577 Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, S. 140. 578 s. o. C., II., 1. 579 2aQTY^b[YZ/3Ycap^b[YZ, 5_T_S_a^_V `aQS_. ;^YTQ `VaSQp. ?RjYV `_\_WV^Yp, S. 211. 580 Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, S. 647. 581 BVerfGE 8, 274, 328; BVerfGE 95, 267, 303. Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, S. 55 ff.; Flume, AT II, S. 1.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

die Privatautonomie nur im System einer Rechtsordnung und damit im Zusammenhang von Freiheit und Bindung wirken kann, was den Gesetzesvorbehalt nur natürlich macht582. Die Begriffe der Privatautonomie und der Vertragsfreiheit haben zumindest von ihrem Grundverständnis her denselben Gehalt, wie der russische Begriff der Vertragsfreiheit583. Das deutsche Privatrecht baut unstreitig auf dem Prinzip der formalen Gleichheit der Beteiligten des Privaterechtsverkehrs auf584, ja die Vertragsfreiheit selbst basiert auf dem Gedanken formaler Gleichheit585. Gleichzeitig wird aber auch hier gesehen, dass diese Prämisse der Gleichheit der Vertragsabschlussfreiheit tatsächlich in vielen Fällen nur scheinbarer Art ist. Deshalb muss die Freiheit als Grundlage der Privatrechtsordnung vielerorts eingeschränkt werden, um die Funktionsfähigkeit des Selbstbestimmungsprinzips zu gewährleisten586. Auf der anderen Seite bleibt eines der schlagenden Argumente gegen die „Drittwirkung“ der Grundrechte in Deutschland, dass die Bindung Privater an den allgemeinen Gleichheitssatz mit den Freiheitsrechten nicht vereinbar sei587 und „im Verhältnis zwischen den Bürgern (…) die Freiheitsrechte gerade die Nichtgeltung der Gleichheitsrechte“ geböten588. Monopolsituationen und extreme Fälle sozialer Macht sollen allerdings die gezeigten Ausnahmen rechtfertigen589. Zugleich führte dieser Gedanke und die Möglichkeit der Einschränkung der Privatautonomie, die ihre verfassungsrechtliche Grundlage in Art. 2 Abs. 1 GG findet590 und damit im Verhältnis zu anderen grundrechtlichen Freiheitsnormen bzw. zur verfassungsmäßigen Ordnung eingeschränkt werden kann591, zu mehrfachen Einschränkungen der Vertragsfreiheit. Auch im Bereich der eigentumsrechtlichen Privatautonomie kam es durch Ausdehnung des Regelungsbereichs des öffentlichen Baurechts zur „Veröffentlichung“ weiter Teile privaten Eigentumsrechts. Damit wird auch in der deutschen Literatur ein Durchbruch grundrechtlicher Wertung auf das Privatrecht dezidiert für die Fälle eklatanter Ungleichstellung von vertragschließenden Parteien zugelassen. Auch hier spielt der Gedanke hinein, dass 582 Flume, AT II, S. 6, 17, 19. Nach Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, S. 139, handelt es sich bei der Vertragsfreiheit um eine von vornherein gebundene. 583 s. o. C., II., 2., d), dd), (3), (a). 584 Heun, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte II, § 34, Rn. 54. 585 Medicus, BGB AT, Rn. 177. 586 Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, S. 125; Medicus, BGB AT, Rn. 178. 587 Z.B. Maurer, Staatsrecht I, § 9 V, Rn. 38. 588 Heun, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte II, § 34, Rn. 54. 589 Heun, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte II, § 34, Rn. 54. 590 Ständige Rspr. seit BverfGE 8, 274, 328; vgl. auch z. B. BVerfGE 95, 267, 303. Zustimmend Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, S. 55 ff. 591 BVerfGE 95, 267, 306. So auch Flume, AT II, S. 21 unter zustimmendem Hinweis auf Nipperdey in der Fn. 25a für die von ihm benannten Fälle; Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 154.

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in solchen Fällen auf der Seite des schwächeren Kontrahenten keine Rede von Vertragsfreiheit sein kann, sodass seine Freiheit erst durch die Einschränkung der Freiheit auf der anderen Seite gewährleistet werden kann. Die Freiheit dieser schwächeren Seite ist proportional zur Einschränkung der der stärkeren. Auch in Fällen gravierender Diskriminierungen, welche in den Kernbereich der Menschenwürde eingreifen und staatliche Gegenmaßnahmen erfordern, ist die Einschränkung der Freiheit des Handelnden nicht nennenswert im Hinblick auf seine Privatautonomie. Für den ungleich Behandelten schafft sie überhaupt erst die Möglichkeit privatautonomen Handelns, sodass ohne diese Wirkung verfassungsrechtlicher Gehalte erst gar keine Privatautonomie denkbar ist592. Unter diesem Blickwinkel ist auch die Wirkung des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes nicht mehr so abschreckend593. Als Ausdruck dieses Gedankens wurde von der Rechtsprechung die Figur des sog. „strukturellen Ungleichgewichts“ geprägt594. Nach der viel kritisierten Bürgschaftsentscheidung des BVerfG muss die Zivilrechtsordnung dann korrigierend eingreifen, wenn eine typisierbare Fallgestaltung „eine strukturelle Ungleichheit des einen Vertragsteils erkennen lässt“, außergewöhnlich belastende Folgen hervorruft595 und diese Ungleichheit zu unhaltbaren Einschränkung des individuellen Selbstbestimmungsrechts führt. Dabei stellt das Gericht ausdrücklich auf das Prinzip der praktischen Konkordanz ab596. Das BVerfG knüpft in diesen Fällen an die psychische Drucksituation und Vermögenslosigkeit des schwächeren Kontrahenten beim Vertragsschluss an. Worin im Übrigen gerade das „strukturelle“ Ungleichgewicht bestehen soll, bleibt unklar. Gleichwohl verlangt das BVerfG in einem solchen Fall das Eingreifen des Staates597. Problematisch ist in diesem Zusammenhang insbesondere, dass auch abseits „typisierbarer“ Konstellationen vergleichbar schwere Belastungen vorliegen können. Dies wird von dieser Theorie aus den Augen gelassen, was die Möglichkeit einer sachgerechten Entscheidung, die die Bürgschafts-Entscheidung gerade anstrebt, versperren. Aus diesem Grund und angesichts der Tatsache, dass diese Problematik auch mit dem Instrumentarium des geltenden Rechts hätte gelöst werden können, ohne hierfür Grundrechte bemühen zu müssen, wurde diese Entscheidung stark kritisiert598. Nichtsdestotrotz sind sie und die ihr gefolgten Entscheidungen599 für diese Arbeit insofern von großem Interesse, als das BVerfG die ordentlichen Gerichte dazu verpflichtet, die Inhaltskontrolle von Verträgen in be592

Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 154. Hager, JZ 1994, 373, 377 f. mit Beispielen. 594 s. z.B. BVerfGE 89, 214, 234; 103, 89, 94. 595 BVerfGE 89, 214, 234. 596 BVerfGE 89, 232. 597 BVerfGE 89, 214, 232. 598 Hierzu: Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, S. 94 ff. m.w.N., Wagner, Materialisierung des Schuldrechts, S. 13, 21 ff. m.w.N., der auch an der Figur der „schwächeren“ Seite zweifelt und stattdessen auf die Entscheidungsfreiheit abstellt. 599 s. z.B. BVerfGE 92, 365; 103, 89. 593

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

stimmten Fällen an Grundrechtspositionen der Vertragsparteien zu messen. Damit unterstreicht das erneut die Einheit der Rechtsordnung und den auch für das Zivilrecht geltenden Vorrang der Verfassung unterstrichen600. Unabhängig davon, ob man es mit Schutzpflichten oder einer abwehrrechtliche Position begründen möchte – Flume hat doch Recht, wenn er mit Verweis auf das Bundesverfassungsgericht und die Entstehungsgeschichte des BGB601 meint, dass das Privatrecht unter umfassendem Einfluss grundrechtlicher Wertungen steht, welche in den privatrechtlichen Normen zum Ausdruck kommen602. Freilich ist der Begriff der „Wertungen“ ein interpretationsoffener, will er doch nur beschreiben, dass die grundrechtlichen Positionen hinsichtlich ihrer Wirkung gegenüber dem Staat nicht deckungsgleich auf das Privatrecht übertragen werden können, der selbstverständlich auch dort in ihren Kerngehalten wirken und Rechtsgeschäfte im Fall von Einschränkungen solcher Rechtspositionen für nichtig erklärt werden müssen. Aufgrund des den Parteien zugestandenen Entfaltungsspielraums hat der Gesetzgeber die Privatrechtsnormen an anderen Maßstäben als denen des öffentlichen Rechts zu messen. Aufgrund der Wechselwirkung von privatrechtlichen Rechtsgüter und unter Einbeziehung des Verhältnismäßigkeitsprinzips im Lichte seiner Einschätzungsprärogative hat der Gesetzgeber auf der einen Seite mehr, auf der anderen Seite aber auch weniger Spielraum bei der Normsetzung dort, wo er auf die Schranke der Gewährleistung dieser Entfaltungsfreiheit trifft. So gilt auch in Russland, trotz direkter Wirkung der Grundrechte im Verhältnis unter Privaten, nicht anderes. Durch eine entsprechende Gestaltung der Privatrechtsordnung muss der Staat, so BVerfG, verhindern, dass diese Balance gestört wird und eine Partei ein so starkes Übergewicht bekommt, dass sie den Inhalt des Vertrages einseitig bestimmen kann603. Die Anerkennung der Geltung des grundrechtlichen Gehalts des Gleichheitsprinzips im russischen Privatrecht bedeutet in keiner Weise, dass die Bürger in einem öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnis genauso daran gebunden sind, wie die staatlichen Gewalten. Für sie bedeutet das zunächst nur, dass sie die Rechtsstellung anderer nicht beeinträchtigen und die anderen nicht diskriminieren dürfen. Eines der Instrumente, das diese Rechtspositionen ins Gleichgewicht bringen soll, ist gerade 600

Ausführlich zu dieser Wirkung: Ruffert, Vorrang der Verfassung, 335 ff. Danach sollten die Verträge, durch welche jemand z. B. in seiner Koalitionsfreiheit, Gewissensfreiheit, der Ausübung oder Nichtausübung des Wahlrechts beschränkt wird, zweifellos gegen die guten Sitten i.S.d. § 138 verstoßen, Mugdan I, 969. 602 Flume, AT II, S. 22. Freilich muss auch hier dem Einwand zugestimmt werden, dass das BGB ein vorkonstitutionelles und einfaches Gesetz ist, mit dem die Wirkung verfassungsrechtlicher Normen methodisch nicht erklärt werden kann. Doch kommt hier der auch den Urhebern des GGs gewiss nicht fremd gebliebene Gedanke der Einheit der Rechtsordnung zum Ausdruck; zudem beruft sich Flume hier darauf, dass diese Werte nicht erst durch das GG erfunden wurden oder dieses zu ihrer Geltung bedurften, sondern vielmehr seit jeher galten, was gewiss richtig ist. 603 BVerfGE 89, 214, 255; 98, 365, 395. 601

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der Kontrahierungszwang. Im Hinblick darauf soll er zunächst die im Vertragsverhältnis unterliegende Partei, sodann die Gläubigerinteressen und schließlich die staatlichen Interessen, welche die Quintessenz der gesellschaftlichen Interessen darstellen604, schützen. Damit gilt für Russland wie für Deutschland, dass stets vor Augen gehalten werden muss, dass sich auch die Vertragsfreiheit als Ausdruck des Grundrechts auf Selbstbestimmung des Einzelnen nicht nur auf diesen als solchen, sondern auch auf den Einzelnen als Mitglied einer Gemeinschaft bezieht605. (4) Rechtsmissbrauch i.S.d. Art. 10 Abs. 1 GKRF Die Teilnehmer des privaten Rechtsverkehrs können ihre Rechte nach eigenem Belieben wahrnehmen, Art. 9 Abs. 1 GKRF. Gemäß Art. 10 Abs. 1 S. 1 GKRF ist die Ausübung bürgerlicher Rechte mit dem ausschließlichen Zweck, einem anderen Schaden zuzufügen, unzulässig. Rechtsmissbrauch wird nun in Art. 10 Abs. 1 S. 1 a.E. GKRF als „bewusst treuwidrige Ausübung bürgerlicher Rechte“ definiert. Aus der Formulierung dieser Norm folgt, dass Handlungen mit ausschließlichem Schädigungsvorsatz einen Unterfall des Rechtsmissbrauchs darstellen, wobei der Rechtsmissbrauch auch in anderen Formen vorkommen kann606. Daneben benennt der GKRF in Art. 10 Abs. 1 S. 2 als weitere Fälle des Missbrauchs die Einschränkung des Wettbewerbs sowie den Missbrauch einer dominierenden Marktstellung. Durch die Novellierung 2012607 wird auch die Gesetzesumgehung unter Verfolgung eines rechtswidrigen Ziels ebenfalls zum Unterfall des Rechtsmissbrauchs, Art. 10 Abs. 1 S. 1, 2. Var. GKRF. (a) Die dogmatische Stellung des Missbrauchsverbots im russischen Zivilrecht Wie aus der Gesetzessystematik folgt, ist das Verbot des Rechtsmissbrauchs keines der grundlegenden Prinzipien des Zivilrechts i.S.d. Art. 1 Abs. 1 GKRF. Zugleich bedeutet es entsprechend seiner Überschrift („Grenzen der Wahrnehmung bürgerlicher Rechte“) ebenfalls eine Schranke von Rechten der Teilnehmer des privaten Rechtsverkehrs608 und stellt einen direkten Ausdruck des Art. 17 Abs. 3

604

2aQTY^b[YZ/3Ycap^b[YZ, 5_T_S_a^_V `aQS_. ;^YTQ `VaSQp. ?RjYV `_\_WV^Yp, S. 159. 605 Flume, AT II, S. 17. 606 A_S^lZ, S: BVaTVVS (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d ;_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 10, S. 60. 607 EVUVaQ\m^lZ XQ[_^ _c 30. 12. 2012 N 302-E8 (aVU. _c 04. 03. 2013) „? S^VbV^YY YX]V^V^YZ S T\QSl 1, 2, 3 Y 4 hQbcY `VaS_Z 4aQWUQ^b[_T_ [_UV[bQ A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY“, B8 AE 31. 12. 2012/53 (1)/7627. 608 A_S^lZ, S: BVaTVVS (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d ;_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 10, S. 59.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

KRF dar609. Es muss deshalb geklärt werden, welche dogmatische Stellung diese Norm im Gefüge der allgemeinen Bestimmungen des GKRF einnimmt. Nach Meinung einiger Autoren stellt das Verbot des Rechtsmissbrauchs ebenfalls eines der Prinzipien des Privatrechts dar610. Festgehalten werden soll deshalb zunächst, dass das Verbot des Rechtsmissbrauchs im russischen Privatrecht in der Tat eine wichtige Rolle spielt. Zugleich ist es jedoch durch das Prinzip der Vertragsfreiheit und eine Vielzahl dispositiver Normen bedingt. Auf der einen Seite muss den Teilnehmern des privaten Rechtsverkehrs möglichst viel Raum zur freien Entfaltung verbleiben. Auf der anderen Seite darf auch dieser Freiraum in den Fällen krasser Einschränkung von Grundrechten anderer i.S.d. Art. 17 Abs. 3 KRF nicht ungeregelt bleiben. Anders gesagt dürfen die Parteien von ihren Rechten nur so weit Gebrauch machen, wie dadurch die Rechte anderer nicht unverhältnismäßig eingeschränkt werden. Aus dem Zusammenspiel dieser beiden Gedanken resultiert besonders im Privatrecht zunächst die auf der Hand liegende Folge, dass es rechtliche Freiräume gibt und geben muss. Hinzu kommt, dass auch eine zwingende Regelung nicht alle Probleme unzulässiger Rechtsausübung im Voraus lösen kann611. Aber auch wenn im letzteren Fall mit der analogen Anwendung von anderen Regelungen i.S.d. Art. 6 Abs. 1 GKRF abgeholfen werden kann, so verbietet dieser Grundgedanke doch eine Handlung, die in den einer Person zustehenden Rechtsraum auf unzulässige Art und Weise eingreift. Unter Einbeziehung dieser Erwägungen stellt Rechtsmissbrauch unter dem instrumentalisierenden Blickwinkel einiger Autoren eine Form bürgerlich-rechtlicher Rechtsverletzung dar, die auf dem Gedanken gründet, dass das Kriterium der Rechtsmäßigkeit in Abwesenheit besonderer Regelungsvorschriften bzw. Verbote seinen Grund in allgemeinen Rechtsnormen hat612. Andere Autoren lehnen das Verständnis des Rechtsmissbrauchs als Rechtsverletzung mit dem Argument ab, dass derjenige, der innerhalb des ihm zustehenden Rechts handelt, schon begrifflich kein Delikt begangen haben kann, und suchen einen anderen dogmatischen Begrün609

3QSY\Y^, ?bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ TaQWUQ^b[Yf `aQS, S. 275; 4QUWYVS, ;_^bcYcdgY_^^lV `aY^gY`l al^_h^_Z n[_^_]Y[Y. AQXSYcYV _b^_S TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ S aViV^Ypf [_^bcYcdgY_^^_T_ bdUQ A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, S. 104; ;_]YbbQa_SQ, @aY^gY`l S `aQSV Y _b^_S^lV ^QhQ\Q TaQWUQ^b[_T_ XQ[_^_UQcV\mbcSQ, S. 250; =Q\Y^_Sb[YZ, þVU_`dbcY]_bcm X\_d`_caVR\V^Yp `aQS_] [Q[ _RjV`aQS_S_Z `aY^gY`, @aQS_ Y `_\YcY[Q, 2006, N 9, S. 30, 31. 610 4QUWYVS, ;_^bcYcdgY_^^lV `aY^gY`l al^_h^_Z n[_^_]Y[Y. AQXSYcYV _b^_S TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ S aViV^Ypf [_^bcYcdgY_^^_T_ bdUQ A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, S. 104; =Q\Y^_Sb[YZ, þVU_`dbcY]_bcm X\_d`_caVR\V^Yp `aQS_] [Q[ _RjV`aQS_S_Z `aY^gY`, @aQS_ Y `_\YcY[Q, 2006, N 9, S. 30; BdfQ^_S (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_, C_] 1, S. 391; OUY^, 8\_d`_caVR\V^YV `a_gVbbdQ\m^l]Y `aQSQ]Y S TaQWUQ^b[_] bdU_`a_YXS_UbcSV, S. 38 f. 611 BdfQ^_S (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_, C_] 1, S. 391. 612 4aYRQ^_S, ?bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ TaQWUQ^b[Yf `aQS, S. 62 f.; ;aQcV^[_, 8\_d`_caVR\V^YV bS_R_U_Z U_T_S_aQ: hQbc^_`aQS_SlV Y `dR\Yh^_-`aQS_SlV Qb`V[cl, S. 12, BdfQ^_S (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_, C_] 1, S. 391.

II. Grundrechte im russischen Privatrecht

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dungsweg für diese Rechtsfigur, wobei sie teilweise sogar ganz abgelehnt wird613. Hier soll dieser Streit aufgrund der klaren Aussage des Gesetzes nicht weiter dargestellt werden. Gemäß Art. 10 Abs. 1 GKRF sind Handlungen von Bürgern und juristischen Personen, die nur zum Zweck der Schädigung vorgenommen werden, sowie andere Formen des Rechtsmissbrauchs unzulässig. Aus dem Wortlaut des Art. 10 Abs. 4 GKRF, der feststellt, dass im Falle einer Rechtsverletzung durch Rechtsmissbrauch ein Schadensersatzanspruch entsteht, kann zudem systematisch und grammatikalisch geschlossen werden, dass eine Rechtsverletzung keine notwendige Folge des Rechtsmissbrauchs darstellt. Ob Rechtsmissbrauch nun ein Delikt darstellt oder nicht, spielt für die Frage des grundrechtlichen Gehalts darüber hinaus keine Rolle. Unter den allgemeinen Rechtsnormen, deren Verletzung den Tatbestand des Rechtsmissbrauchs begründen soll, werden dabei die Prinzipien des GKRF verstanden, welche den grundrechtlichen Gehalten zum Ausdruck verhelfen. Damit kann der Rechtsmissbrauch aber selbst nicht mehr als Prinzip in dem hier verstandenen Sinne begriffen werden. Er ist vielmehr ein Instrument bzw. eine Methode des Privatrechts zur Wiederherstellung verletzter Rechte. Eine Handlung ist entweder rechtmissbräuchlich oder nicht, sodass es sich hier auch um eine andere Normstruktur handelt und der Rechtsmissbrauch nicht als Prinzip im Sinn eines Optimierungsgebots verstanden werden kann. Gegen die Einordnung des Art. 10 Abs. 1 S. 1 GKRF in die Reihe der grundlegenden Prinzipien spricht auch seine systematische Stellung, die sich in Übereinstimmung mit der Überschrift des zweiten Kapitels auf die bürgerlichen Rechte und Pflichten bezieht und damit keine derart übergreifende Wirkung auf alle privatrechtlichen Gebiete wie die allgemeinen Prinzipien hat. Richtiger ist es deshalb, aufgrund der beschriebenen Weite des Anwendungsbereichs und der direkten Herleitung der Norm aus Art. 17 Abs. 3 KRF – die beide für eine bereichsübergreifende Bedeutung dieses Grundsatzes sprechen614 – das Verbot des Rechtsmissbrauchs als ein Prinzip der Rechtsanwendung (im Unterschied zu einem „grundlegenden Prinzip“ i.S.d. Art. 1 Abs. 1 GKRF) anzusehen615. Dies nivelliert auch in keiner Weise die verfassungsrechtliche Verwurzelung und Wichtigkeit dieses Grundsatzes für alle Bereiche des privaten Rechts616.

613 Zum ganzen Streit ausführlich ;_]YbbQa_SQ, @aY^gY`l S `aQSV Y _b^_S^lV ^QhQ\Q TaQWUQ^b[_T_ XQ[_^_UQcV\mbcSQ, S. 252 ff. m.w.N. 614 4QUWYVS, ;_^bcYcdgY_^^lV `aY^gY`l al^_h^_Z n[_^_]Y[Y. AQXSYcYV _b^_S TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ S aViV^Ypf [_^bcYcdgY_^^_T_ bdUQ A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, S. 104. 615 Diese Bezeichnung findet sich auch bei BdfQ^_S (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_, C_] 1, S. 391; a.A. 2QaV^R_Z]/4QUWYVS/ýQeYcb[YZ/=Qd, ;_^bcYcdgY_^^Qp n[_^_]Y[Q, DhVR^Y[ U\p oaYUYhVb[Yf Y SlbiYf n[_^_]YhVb[Yf XQSVUV^YZ, S. 191. 616 Zur verfassungsrechtlichen Stellung des Prinzips des Rechtsmissbrauchsverbots: 2QaV^R_Z]/4QUWYVS/ýQeYcb[YZ/=Qd, ;_^bcYcdgY_^^Qp n[_^_]Y[Q, DhVR^Y[ U\p oaYUYhVb[Yf Y SlbiYf n[_^_]YhVb[Yf XQSVUV^YZ, S. 192.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

Die Besonderheit des Verbots des Rechtsmissbrauchs besteht indes darin, dass dieses die bereits bestehenden Rechte bzw. die Möglichkeit ihrer Inanspruchnahme und Geltendmachung durch ihren Inhaber innerhalb eines bestehenden Rechts betrifft617. Der Inhaber des Rechts handelt dabei zwar im Rahmen der gesetzlichen Grenzen, überschreitet aber zugleich solche des zulässigen Verhaltens im Hinblick auf die Rechte anderer, sodass sein Verhalten eine derartige Form und Charakter annimmt, dass dadurch die Rechte anderer verletzt werden können618, bzw. es treuwidrig ist. In diesem Zusammenhang wird sogar das Prinzip der Gleichheit von manchen Autoren als Ausprägung des Verbots des Rechtsmissbrauchs angesehen619. (b) Schikaneverbot i.S.d. Art. 10 Abs. 1, 1. Var. GKRF In der Gestalt des von der Norm ausdrücklich ausgesprochenen Verbots der Rechtsausübung zum ausschließlichen Zweck der Schädigung anderer Personen präsentiert sich das bereits den Römern bekannte Schikaneverbot. Die Missbilligung durch das geltende Recht hat seinen Grund in der Tatsache, dass das jeweilige Subjekt sein Recht nicht zum Zweck der Befriedigung seiner Bedürfnisse ausübt, sondern ausschließlich, um den andern zu schädigen. Darunter wird auch in der russischen Literatur direkter Vorsatz verstanden620. Damit ist Art. 10 Abs. 1, 1. Var. GKRF mit dem Tatbestand des Schikaneverbots in Art. 226 BGB deckungsgleich. Der russische Gesetzgeber beschränkte sich aber nicht darauf, sondern formulierte einen weiteren offenen Tatbestand „anderer bewusst treuwidriger Ausübung bürgerlicher Rechte (Rechtsmissbrauch)“. Damit stellt das Schikaneverbot einen Unterfall der treuwidrigen Rechtsausübung (des allgemeinen Rechtsmissbrauchsverbots) dar. (c) Rechtsfolgen des Rechtsmissbrauchs Unter der angestrebten Rechtsfolge der Schädigung wird nicht nur der Schaden i.S.d. Art. 15 Abs. 2 GKRF, sondern alle für die andere Seite negativen Folgen solchen Handelns verstanden621. In der Literatur wird insbesondere auch hervorgehoben, dass die Rechtsfolge des Rechtsmissbrauchs gemäß Art. 10 Abs. 2 GKRF in

617

3QSY\Y^, ?bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ TaQWUQ^b[Yf `aQS, S. 275. A_S^lZ, S: BVaTVVS (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d ;_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 10, S. 60. 619 B\QSVg[YZ, @aY^gY` XQjYcl b\QR_Z bc_a_^l TaQWUQ^b[_-`aQS_S_T_ U_T_S_aQ, S. 78. Freilich liegt der Grund fu¨r eine solche Sicht der Dinge darin, dass die Dogmatik dieser Begriffe bislang ungekla¨rt ist. 620 BdfQ^_S (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_, C_] 1, S. 391. 621 @QiY^, 3lpS\V^YV X\_d`_caVR\V^Yp, N7-OaYbc 2005, N 5, S. 1; @_acY[_SQ, @a_R\V]Q X\_d`_caVR\V^Yp bdRkV[cYS^l] TaQWUQ^b[Y] `aQS_], S. 66; A_S^lZ, S: BVaTVVS (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d ;_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 10, S. 60. 618

II. Grundrechte im russischen Privatrecht

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der möglichen622 Verweigerung des Rechtsschutzes durch das Gericht623 besteht, sodass Fälle denkbar sind, in welchen es noch nicht zum Schaden gekommen ist, dieser aber unmittelbar möglich erscheint. Daraus wird gefolgert, dass der Eintritt des Schadens gerade kein Tatbestandsmerkmal des Schikaneverbots ist624, vielmehr genügt auch die Gefahr seines Eintritts sowie ideeller Schaden625. Dem ist im Hinblick auf Art. 10 Abs. 4 GKRF, der im Umkehrschluss davon ausgeht, dass nicht alle treuwidrigen Handlungen Schaden hervorrufen müssen, zuzustimmen. Nach Meinung einiger Autoren soll auch die Schädigung öffentlicher Interessen einen Rechtsmissbrauch darstellen können626. Dieser Ansicht ist nur zum Teil zuzustimmen. Art. 10 Abs. 1 S. 2 GKRF schränkt die Möglichkeit der Rechtswahrnehmung auch hinsichtlich der Verzerrung des freien Wettbewerbs und des Missbrauchs einer dominierenden Stellung auf dem Markt ein. Die beiden Handlungen setzten keinen unmittelbaren Schaden voraus, sondern pönalisieren allgemein solche Tätigkeiten, die der verfassungsrechtlichen Vorstellung von freier und sozialer Marktwirtschaft widersprechen. Diese Einschränkung erfolgt in der Tat im öffentlichen Interesse i.S.d. Art. 55 Abs. 3 KRF i.V.m. Art. 1 Abs. 2 S. 3 GKRF. Die beiden Einschränkungen stellen jedoch, der Systematik der Norm nach, keine Formen des Rechtsmissbrauchs, sondern eigene Fälle der Einschränkung von Rechten dar627. Das Verbot des Rechtsmissbrauchs i.S.d. Art. 10 Abs. 1 S. 1 GKRF schließt zwar grammatikalisch die Fälle des Schutzes öffentlicher Interessen („sowie Rechtsmissbrauch in anderen Formen“) nicht aus. Sieht man jedoch im Rechtsmissbrauch 622 Nach eindeutigem Wortlaut des Art. 10 Abs. 2 GKRF steht diese Möglichkeit im Ermessen des Gerichts. 623 Für eine erweiternde Auslegung: ;aQcV^[_, 8\_d`_caVR\V^YV bS_R_U_Z U_T_S_aQ: hQbc^_`aQS_SlV Y `dR\Yh^_-`aQS_SlV Qb`V[cl, 16 m.w.N. Daneben kann das Gericht gema¨ß Art. 151, 1099 ff., 1064 GKRF der anderen Seite den Schadensersatz zusprechen, sowie gema¨ß Art. 169 GKRF das Rechtsgescha¨ft als nichtig qualifizieren, s. 2QaV^R_Z]/4QUWYVS/ ýQeYcb[YZ/=Qd, ;_^bcYcdgY_^^Qp n[_^_]Y[Q, DhVR^Y[ U\p oaYUYhVb[Yf Y SlbiYf n[_^_]YhVb[Yf XQSVUV^YZ, S. 194; 4QUWYVS, ;_^bcYcdgY_^^lV `aY^gY`l al^_h^_Z n[_^_]Y[Y. AQXSYcYV _b^_S TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ S aViV^Ypf [_^bcYcdgY_^^_T_ bdUQ A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, S. 106. 624 @QiY^, 3lpS\V^YV X\_d`_caVR\V^Yp, N7-OaYbc 2005, N 5, S. 1; kritisch @_acY[_SQ, @a_R\V]Q X\_d`_caVR\V^Yp bdRkV[cYS^l] TaQWUQ^b[Y] `aQS_], S. 66. 625 Mit Beispielen 6ai_S/BdcpTY^/;QZ\m, @_bcQcVZ^lZ [_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d [_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 10, S. 27; ;\VY^, S: BQUY[_S (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d [_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, hQbcY `VaS_Z, `_bcQcVZ^lZ, Art. 10, S. 27. 626 Diese Feststellung erfolgt freilich ohne jegliche Begründung: 2QaV^R_Z]/4QUWYVS/ ýQeYcb[YZ/=Qd, ;_^bcYcdgY_^^Qp n[_^_]Y[Q, DhVR^Y[ U\p oaYUYhVb[Yf Y SlbiYf n[_^_]YhVb[Yf XQSVUV^YZ, S. 193 f.; 6ai_S/BdcpTY^/;QZ\m, @_bcQcVZ^lZ [_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d [_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 10, S.14; ;\VY^, S: BQUY[_S (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d [_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, hQbcY `VaS_Z, `_bcQcVZ^lZ Art. 10, S. 27. 627 ;aQcV^[_, 8\_d`_caVR\V^YV bS_R_U_Z U_T_S_aQ: hQbc^_`aQS_SlV Y `dR\Yh^_`aQS_SlV Qb`V[cl, S. 13, der die jeweiligen a¨ußeren Bedingungen beider Fa¨lle des Art. 10 Abs. 1 S. 2 GKRF als Mittel zum Missbrauch sieht.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

einen Ausdruck des Art. 17 Abs. 3 KRF, so liegt es nahe, daraus den Schluss zu ziehen, dass dieser nur Handlungen einschränken kann, welche die Rechte konkreter anderer Personen berühren. Ein Indiz für diese Schlussfolgerung stellt auch das Beispiel des Schikaneverbots dar. Damit sind Einschränkungen von Rechtspositionen im öffentlichen Interesse zwar ebenfalls i.S.d. Art. 55 Abs. 3 KRF i.V.m. Art. 1 Abs. 2 UAbs. 2 GKRF möglich, jedoch nicht im Fall des Rechtsmissbrauchsverbots. Mit dem Rechtsmissbrauchsverbot begründete Handelsgericht die Abweisung der Klage eines Gläubigers gegen den Garanten i.S.d. Art. 368 GKRF628, welcher die vertraglich vereinbarte Zahlung an den Gläubiger deswegen verweigerte, weil diese bereits durch Dritte erfolgt war629. Ein anderes Beispiel für die Anwendung des Verbots des Rechtsmissbrauchs stellt der Fall, in dem ein Gläubiger auf die Gewährung des Zugangs zu den in einer Sparkasse aufbewahrten Sachen klagte. Während der Gerichtsverhandlung stellte sich heraus, dass die Sparkasse dem Gläubiger diesbezügliche mehrmals Verhandlungen angeboten hatte, im Zuge welcher der Zugang innerhalb der Öffnungszeiten geregelt werden sollte, auf welche der Kläger sich aber nicht eingelassen hatte. In diesem Verhalten erblickte das Gericht den Tatbestand des Rechtsmissbrauchsverbots und wies die Klage auf Grundlage des Art. 10 Abs. 1 S. 1 GKRF ab630. (d) Die Tatbestände des Art. 10 Abs. 1 GKRF neben dem allgemeinen Rechtsmissbrauchsverbot Die genannten Beispiele verdeutlichen, dass die Konstruktion des Art. 10 Abs. 1 GKRF das Schikaneverbot als solches in der Praxis hat weitgehend überflüssig werden lassen, sodass zwischen dem allgemeinen Missbrauchsverbot und dem Schikaneverbot nicht mehr unterschieden werden muss. Beim allgemeinen Rechtsmissbrauchsverbot handelt es sich um die rechtliche Konstellation, in der das Rechtssubjekt zwar innerhalb der ihm zustehenden Rechtsposition handelt, dies aber bewusst treuwidrig tut. Ob der jeweilige Fall als Rechtsmissbrauch i.S.d. Art. 17 Abs. 3 KRF bewertet werden soll, kann nur aufgrund einer genauen Analyse des jeweiligen Falles unter Einbeziehung einer wertenden Sicht auf die Rechtspositionen beider Subjekte festgestellt werden. Das wichtigste Kriterium dabei ist die Feststellung, dass das konkrete Recht entgegen seinem eigentlichen Zweck benutzt wird631. So hat ein föderales Handelsgericht entschieden, dass eine AG-Umstrukturierung gemäß Art. 10 Abs. 1 GKRF unwirksam war, weil diese den größten Teil

628 9^e_a]QgY_^^_V `Ybm]_ @aVXYUYd]Q 31B AE _c 15. 01. 1998 N 27, Ziff. 4: „?RX_a `aQ[cY[Y aQXaViV^Yp b`_a_S, bSpXQ^^lf b `aY]V^V^YV] ^_a] 4aQWUQ^b[_T_ [_UV[bQ A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY _ RQ^[_Sb[_Z TQaQ^cYY“, 3Vbc^Y[ 31B AE, 1998/3. 629 Im deutschen Recht wird dieselbe Problematik meist mit der „dolo agit“-Einrede gelöst. 630 ?`aVUV\V^YV 31B AE _c 13. 12. 2007 N 15653/07 `_ UV\d N 162-4914/2006 (unvero¨ffentlicht). 631 BdfQ^_S (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_, C_] 1, S. 392.

II. Grundrechte im russischen Privatrecht

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der Schulden bei der ursprünglichen AG belassen und das Vermögen überwiegend unter den zwei neuen Aktiengesellschaften aufgeteilt hatte632. Zu den anderen Formen des bereits angesprochenen verwerflichen Verhaltens i.S.d. Art. 10 Abs. 1 UAbs. 2 GKRF gehören z. B. solche Formen des unlauteren Wettbewerbs, die vom Gesetz sonst noch nicht pönalisiert worden sind und die anderen Personen oder ihrem Ruf schaden können, wie z. B. die Verbreitung von falschen, ungenauen oder verfälschten Informationen633. Ein anderer Fall, der nach einer in der Literatur vertretenen Meinung mit dem Verbot des Rechtsmissbrauchs hätte gelöst werden sollen, betraf eine nach Ansicht des Beklagten verspätete Klage des Gläubigers auf Zahlung der vereinbarten Summe nebst den Verzugszinsen, die zu jenem Zeitpunkt bereits die Höhe der Hauptleistung überschritten634. Der Rechtsmissbrauch lag nach dieser Ansicht darin, dass der Kläger zu spät vor Gericht gezogen war und dadurch den Anspruch auf Verzugszinsen absichtlich in die Höhe hatte wachsen lassen. Das Oberste Handelsgericht, wie im Übrigen auch die unteren Instanzgerichte, sah im Verhalten des Gläubigers jedoch richtigerweise keinen Rechtsmissbrauch635, da es zu den Pflichten des Schuldners gehöre, den Anspruch zu erfüllen, um die Verzugszinsen damit zu vermeiden. Die Möglichkeit des Gläubigers zu klagen, fände ihre Grenze dagegen nur in den Verjährungsfristen. Gleichzeitig ließ das Oberste Handelsgericht aber die Minderung des Anspruchs auf Verzugszinsen gemäß Art. 333 GKRF durch das Berufungsgericht unberührt636. Die genannten Beispiele aus der Rechtsprechung zeigen, dass die Anwendung des Verbots des Rechtsmissbrauchs noch recht uneinheitlich ist und eine genaue Dogmatik noch auf ihre Ausarbeitung wartet. Die damit gelösten Fälle ließen sich auch mit anderen, konkreteren Rechtsinstrumenten lösen, wie dies richtigerweise bei der Entscheidung des Obersten Handelsgerichts geschehen war. Das Rechtsmissbrauchsverbot in Form einer rechtsvernichtenden Einwendung gemäß Art. 10 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 GKRF ist ein scharfes Schwert, das im Zweifel die Vertragsfreiheit unnötig einschränkt, was zu besonders vorsichtigem Umgang damit mahnt. Viele Fälle des Rechtsmissbrauchs sind indes vom Gesetzgeber besonders geregelt wor-

632

@_bcQ^_S\V^YV E1B DaQ\mb[_T_ _[adTQ _c 25. 07. 2002 N E09-171/02-4; `_ UV\d N 150-10978/01, (unvero¨ffentlicht); wobei in Deutschland es eher mit dem Instrument des Gesetzesverbots gearbeitet wa¨re. 633 A_S^lZ, S: BVaTVVS (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d ;_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 10, S. 61 f. 634 3QSY\Y^, ?bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ TaQWUQ^b[Yf `aQS, S. 278. 635 ?`aVUV\V^YV 31B AE _c 18. 01. 2008 N 18043/07 `_ UV\d N 132-4857/2007-17/90 (unvero¨ffentlicht). 636 Art. 333 UAbs. 1 GKRF lautet: „Entspricht die Höhe der Verzugszinsen offensichtlich nicht den Folgen, die durch die Pflichtverletzung hervorgerufen wurden, kann das Gericht sie mindern“. Auch in dieser Norm kommt der historisch bedingte paternalistische Ansatz des russischen Gesetzgebers ganz deutlich zur Geltung.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

den; so dient diesem Zweck beispielsweise auch die bereits erwähnte Konstruktion des „Anknüpfungsvertrags“ i.S.d. Art. 428 GKRF. Gleichzeitig wird aber die Janusköpfigkeit dieser Einschränkung deutlich: Die Vertragsfreiheit der einen Partei wird zugunsten der Wiederherstellung von Parität und damit zugunsten der Vertragsfreiheit der anderen Partei eingeschränkt, und findet darin ihre Garantie. Aus dem Gesagten lässt sich klarstellend folgern, dass das Rechtsmissbrauchsverbot eine Schranke der Vertragsfreiheit darstellt637. (e) „Gutgläubigkeit von Handlungen der Teilnehmer am Privatrechtsverkehr“ i.S.d. Art. 1 Abs. 3 GKRF Schließlich muss noch geklärt werden, was Art. 10 Abs. 5 GKRF unter „Gutgläubigkeit638 der Teilnehmer am Privatrechtsverkehr und Vernünftigkeit ihrer Handlungen“ versteht und in welchem Verhältnis diese Regelung zum Rechtsmissbrauchsverbot bzw. zu Art 1 Abs. 3 GKRF steht. Mit Art. 10 Abs. 5 GKRF wird dabei lediglich eine Beweislastumkehr geregelt, wonach die Gutgläubigkeit der Teilnehmer am Privatrechtsverkehr und die Vernünftigkeit ihrer Handlungen in allen Fällen vermutet wird, in denen das Gesetz den Schutz bürgerlicher Rechte unter die Bedingung der vernünftigen und gutgläubigen Rechtsanwendung stellt. Einen materiellen Gehalt hat diese Regelung nicht. Zugleich ist hier aber Art. 1 Abs. 3 GKRF zu beachten: Danach müssen die Teilnehmer am Privatrechtsverkehr bei Begründung, Ausübung und dem Schutz sowie bei der Erfüllung von Zivilpflichten gutgläubig handeln. Der GKRF erwähnt auch an vielen anderen Stellen die Begriffe der Vernünftigkeit und Gutgläubigkeit, manchmal auch in engem Zusammenhang mit dem Begriff der Billigkeit639. Die meisten Autoren sehen darin ein weiteres Prinzip der Rechtswahrnehmung – das Prinzip der Vernünftigkeit und Gutgläubigkeit640. Für diese Sicht streitet auch die Verwendung dieser Begriffe in Art 6 Abs. 2 GKRF: Diese Rechtsnorm spricht davon im Hinblick auf die Analogie des Rechts.

637

;aQcV^[_, 8\_d`_caVR\V^YV bS_R_U_Z U_T_S_aQ: hQbc^_`aQS_SlV Y `dR\Yh^_`aQS_SlV Qb`V[cl, S. 12 ff.; BdfQ^_S (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_, C_] 3, S. 178. 638 Mit dem Begriff der „Gutgläubigkeit“ wird hier der russische Begriff „U_Ra_b_SVbc^_bcm“ (wortwo¨rtlich: guten Gewissens) u¨bersetzt. Es soll darauf hingewiesen werden, dass der russische Begriff „U_Ra_b_SVbc^_bcm“ weiter als der deutsche Begriff der Gutgla¨ubigkeit zu verstehen ist. Der letztere wird vor allem im Zusammenhang mit dem Erwerb einer Rechtsposition (vor allem Eigentum) verwendet. Der russische Begriff wird dagegen a¨hnlich den Begriffen „Treu und Glauben“ i.S.d. § 242 BGB verstanden. 639 Z.B. Art. 6 Abs. 2, 53 Abs. 3 S. 1, 220 Abs. 1 S. 2, 223 Abs. 2 S. 2, 234 Abs. 1 S. 1, 302 f., 602 Abs. 3, 662 S.. 2 GKRF usw. 640 3QSY\Y^, ?bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ TaQWUQ^b[Yf `aQS, S. 284; 4QUWYVS, ;_^bcYcdgY_^^lV `aY^gY`l al^_h^_Z n[_^_]Y[Y. AQXSYcYV _b^_S TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ S aViV^Ypf [_^bcYcdgY_^^_T_ bdUQ A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, S. 104; ;_]YbbQa_SQ, @aY^gY`l S `aQSV Y _b^_S^lV ^QhQ\Q TaQWUQ^b[_T_ XQ[_^_UQcV\mbcSQ, S. 264; =Q\Y^_Sb[YZ, þVU_`dbcY]_bcm X\_d`_caVR\V^Yp `aQS_] [Q[ _RjV`aQS_S_Z `aY^gY`, @aQS_ Y `_\YcY[Q, 2006, N 9, S. 30, 32.

II. Grundrechte im russischen Privatrecht

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Daraus folgt die Notwendigkeit der Abgrenzung des Begriffs des Rechtsmissbrauchs von den Begriffen der „Vernünftigkeit und Gutgläubigkeit“641. Zwar stellt nunmehr Art. 10 Abs. 1 S. 1 Var. 3 GKRF klar, dass Rechtsmissbrauch bewusst treuwidriges Verhalten darstellt, womit eine Schnittmenge beider Rechtsfiguren deutlich zum Ausdruck kommt. In der Literatur ist indes umstritten, ob das Prinzip des Rechtsmissbrauchsverbots aus dem Prinzip der gutgläubigen und vernünftigen Rechtswahrnehmung folgen soll oder umgekehrt642. Einige Autoren sehen im Prinzip der gutgläubigen und vernünftigen Rechtswahrnehmung eine Prävention des Rechtsmissbrauchs, bzw. eine Garantie der Rechtmäßigkeit643. Nach Ansicht Vavilins soll das Prinzip der Vernünftigkeit und Gutgläubigkeit sogar ein überpositives Rechtsprinzip darstellen644. Nach Meinung Gadschievs soll das Prinzip der vernünftigen und gutgläubigen Rechtswahrnehmung gegenüber dem Prinzip des Rechtsmissbrauchsverbots als das allgemeinere verstanden werden, das letztere soll aus ersterem folgen645. Diese Schlussfolgerung wird durch die Regelung des Art. 1 Abs. 3 GKRF unterstützt. Art. 1 Abs. 3 GKRF erhebt das Prinzip der gutgläubigen Rechtswahrnehmung zu einem allgemeinen Prinzip privatrechtlichen Handelns i.S.d. Art. 17 Abs. 3 KRF. Die Verbindung zwischen dem Rechtsmissbrauchsverbot und dem Gedanken der Vernünftigkeit und Gutgläubigkeit folgt dabei bereits aus der Legaldefinition des Rechtsmissbrauchsverbots des Art. 10 Abs. 1 S. 1 Var. 3 GKRF. Darüber hinaus stellen gemäß Art. 6 Abs. 2 GKRF die Gutgläubigkeit, Vernünftigkeit und Billigkeit neben den grundlegenden Prinzipien den Maßstab für die Beurteilung von Fällen lückenhafter gesetzlicher Regelung dar. Folgt man diesen Gedanken, so soll derselbe Maßstab auch bei der Beantwortung der Frage nach dem Vorliegen eines allgemeinen Rechtsmissbrauchstatbestandes herangezogen werden. Erst durch die Gesamtschau dieser beiden Normen erfährt der Tatbestand des Rechtsmissbrauchs seinen vollen materiellen Gehalt: im Hinblick auf Vernunft und Gutgläubigkeit subjektiv646 (was vermutet wird), im Hinblick auf die grundlegenden Prinzipien und insbesondere Art. 1 Abs. 3 GKRF objektiv. Der Begriff des Rechtsmissbrauchs folgt also aus dem Prinzip der gutgläubigen Rechtsausübung i.S.d. Art. 1 Abs. 3 GKRF als einer 641 Zur alten Rechtslage z. B. 4QUWYVS, ;_^bcYcdgY_^^lV `aY^gY`l al^_h^_Z n[_^_]Y[Y. AQXSYcYV _b^_S TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ S aViV^Ypf [_^bcYcdgY_^^_T_ bdUQ A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, S. 104; =Q\Y^_Sb[YZ, þVU_`dbcY]_bcm X\_d`_caVR\V^Yp `aQS_] [Q[ _RjV`aQS_S_Z `aY^gY`, @aQS_ Y `_\YcY[Q 2006, N 9, S. 30, 32. 642 s. dazu: @_acY[_SQ, @a_R\V]Q X\_d`_caVR\V^Yp bdRkV[cYS^l] TaQWUQ^b[Y] `aQS_], S. 73. 643 =Q\Y^_Sb[YZ, þVU_`dbcY]_bcm X\_d`_caVR\V^Yp `aQS_] [Q[ _RjV`aQS_S_Z `aY^gY`, @aQS_ Y `_\YcY[Q 2006, N 9, S. 30, 32 m.w.N. 644 3QSY\Y^, ?bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ TaQWUQ^b[Yf `aQS, S. 287. 645 4QUWYVS, ;_^bcYcdgY_^^lV `aY^gY`l al^_h^_Z n[_^_]Y[Y. AQXSYcYV _b^_S TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ S aViV^Ypf [_^bcYcdgY_^^_T_ bdUQ A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, S. 104 f. 646 So im Ergebnis auch ;_]YbbQa_SQ, @aY^gY`l S `aQSV Y _b^_S^lV ^QhQ\Q TaQWUQ^b[_T_ XQ[_^_UQcV\mbcSQ, S. 264 f.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

Prinzipiennorm Dies führt folglich dazu, dass bei seiner Auslegung der durch Art. 17 Abs. 3 KRF vorgegebene Rahmen nicht aus den Augen verloren werden darf. (f) Zusammenfassung und Vergleich Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Prinzip des Rechtsmissbrauchsverbots, wie jede generalklauselartige Regelung, mit unbestimmten Rechtsbegriffen operiert, die stets in die subjektiven Vorstellungen des Rechtsanwenders eingebettet sind. Die Gefahr der Rechtsunsicherheit, welche für die freie Marktwirtschaft und Privatautonomie stets negativ zu bewerten ist, ist deshalb nicht von der Hand zu weisen. Daher sollte der Regelungsgehalt dieses Verbots so weit wie möglich in die besonderen Regelungen einfließen, wie dies beispielsweise bei § 333 GKRF geschehen ist. Überdies würde eine solche Vorgehensweise erlauben, die starren Rechtsfolgen des Art. 10 Abs. 2 bis 4 i.V.m. Abs. 1 GKRF zu modifizieren, um eine ausgewogene Gewährleistung von Rechtspositionen beider Seiten zu garantieren. Fälle von Gesetzeslücken sollten daher vorzugsweise durch analoge Anwendung von Rechtsnormen gelöst werden. Erst wenn das nicht möglich sein sollte, käme die Einwendung des Rechtsmissbrauchsverbots unter Berücksichtigung von grundlegenden Prinzipien der Gutgläubigkeit, Vernünftigkeit und Billigkeit i.S.d. Art. 10 Abs. 1 GKRF i.V.m. Art. 6 Abs. 2, 2. Alt. GKRF in Betracht. Der Grundsatz des Rechtsmissbrauchsverbots stellt im europäischen Rechtsraum ein universelles Prinzip dar647; so überrascht es nicht, den auf den ersten Blick sehr ähnlichen Tatbestand des § 226 BGB auch im deutschen Recht zu finden. Auch hier wird der Rechtsmissbrauch als eine gebietsübergreifende, allgemeine Schranke subjektiver Rechte verstanden. Die deutsche Rechtslehre und -praxis ist hier jedoch einen teilweise anderen Weg gegangen. So hat das Schikaneverbot i.S.d. § 226 BGB aufgrund seiner ausdrücklichen Begrenzung darauf, dass die Rechtsausübung einen Schädigungszweck und damit einen verwerflichen subjektiven Tatbestand haben muss, einen äußerst engen Anwendungsraum648. Stattdessen entwickelte sich im Laufe der Zeit die Lehre von der unzulässigen Rechtsausübung649. Diese knüpfe an den Gedanken der Sittenwidrigkeit i.S.d. § 138 und § 826 BGB und in seiner weiteren Entwicklung an das Gebot von Treu und Glauben i.S.d. §§ 242, 157, 162, 320 Abs. 2, 815 BGB an, das weitgehend an objektive Voraussetzungen anknüpft; später

647

3QSY\Y^, ?bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ TaQWUQ^b[Yf `aQS, S. 275 f. Mit Beispielen aus der Rechtsprechung: Medicus, BGB AT, Rn. 130. Die Enge dieses Tatbestandes erklärt sich aus den Entstehungsgründen. Der Tatbestand sollte zunächst nicht kodifiziert werden, schaffte es dann aber doch im letzten Moment in dieser engen Fassung in den Entwurf. Indes zögerten die meisten europäischen Kodifikationen mit der Aufnahme des Rechtsmissbrauchstatbestandes, entschieden sich dann aber doch, vor allem im 20. Jahrhundert, für seine Aufnahme. Zur Entstehungsgeschichte: Repgen, in: Staudinger, AT 5, § 226, Rn. 1 ff.; schön nachgezeichnet unter Einbeziehung unterschiedlicher Kodifikationen auch bei @_[a_Sb[YZ, ?b^_S^lV `a_R\V]l TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, S. 115. 649 Grünberg, in: Palandt, § 242, Rn. 38 ff.; Repgen, in: Staudinger, AT 5, § 226, Rn. 9. 648

II. Grundrechte im russischen Privatrecht

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wurde sie auch auf die sonstige Rechtsausübung erstreckt650. In Konkretisierung dieser Entwicklung entstand zudem der Gedanke der Verwirkung, welcher neben der zeitlichen Komponente auch das schutzwürdige Vertrauen der einen Seite, das durch das Verhalten der anderen Partei ausgelöst wurde, erfordert651. Auch sind hier die Einwendungen des § 853 BGB und die sogenannte Einrede der Arglist zu nennen. Angesichts dieser Entwicklung scheint das Schikaneverbot zu einem Rudiment aus der römischen Zeit degradiert und dadurch obsolet geworden zu sein652, denn es stellt sich mittlerweile als ein Unterfall der unzulässigen Ausübung dar653, deren Umschreibung sogar der Begriff des Rechtsmissbrauchs nicht mehr gerecht wird654. Auf der anderen Seite zeigte sich, dass der Rechtsanwender ein bezüglich des Anwendungsbereichs weiteres Instrumentarium als das Schikaneverbot i.S.d. § 226 BGB brauchte, welches er aus den allgemeinen, nicht zuletzt freiheitsrechtlichen Gedanken der einheitlichen Rechtsordnung geschöpft hat. Auch in Deutschland wird dieses gesamte Instrumentarium als vielfache immanente Grenze der Rechtsausübung verstanden655, welche zum Ausdruck bringt, dass es keine grenzenlosen subjektiven Rechte gibt656. Gleichzeitig zeigt sich in beiden Rechtsordnungen, wie nah der Begriff von Treu und Glauben an dem des Rechtsmissbrauchs liegt657, sodass letztlich doch von einer in weiten Teilen sehr ähnlichen Entwicklung gesprochen werden kann. So wie in Russland spielen auch im deutschen Recht längst objektive Kriterien in die Beurteilung der Rechtsausübung als rechtsmissbräuchlich mit hinein, fast schon im Sinne einer „exeptio doli generalis“. e) Der Schutz immaterieller Güter Zum Schluss ist der Blick auf die immateriellen Güter und ihre Stellung im russischen Privatrecht zu richten. Wie eingangs gezeigt, soll der GKRF die immateriellen Güter i.S.d. Art. 2 Abs. 2 GKRF schützen, regelt dabei aber die persönlichen immateriellen Rechtsverhältnisse658. Konkretisiert wird diese Norm in den Art. 150, 650

Medicus, BGB AT, Rn. 135 f. In dem oben angesprochenen russischen Fall würde sich für den Schuldner gerade die Einwendung der Verwirkung anbieten. Mangels entsprechenden Vortrags müsste das Gericht jedoch wiederum von seiner fehlenden Schutzwürdigkeit ausgehen. 652 Repgen, in: Staudinger, AT 5, § 226, Rn. 12 m.w.N. 653 So Ellenberger, in: Palandt, § 226, Rn. 1. Zu bedenken wäre bei dieser Entwicklung die Idee der Väter des BGB, wonach § 226 BGB eine Ausnahme darstellen sollte. Nun wurde diese Ausnahme zu einem Unterfall von einem viel weiteren Tatbestand, dessen Existenz gerade abgelehnt wurde. 654 So Roth, in: MüKo, § 242, Rn. 176, 180. 655 BGH 30, 145; BGH NJW-RR 2005, 619; BAG NJW 11, 2684. 656 Medicus, BGB AT, Rn. 126 ff.; Repgen, in: Staudinger, AT 5, § 226, Rn. 10 ff. 657 Paradigmatisch ist hierfür Art. 2 Schweizerischen Zivilgesetzbuches: 1. Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln 2. Der offenbare Missbrauch eines Rechtes findet keinen Rechtsschutz. 658 Vgl. oben C., II., 2., c). 651

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

151 GKRF. Wie bereits festgestellt wurde, versteht der GKFR unter den immateriellen Gütern die Grundrechte der russischen Verfassung659. Im Folgenden sollen die immateriellen Güter im Sinne des russischen Zivilkodexes in Ausprägung seiner diesbezüglichen besonderen Vorschriften näher betrachtet werden. aa) Das Wesen immaterieller Güter und Rechte Der GKRF enthält keine Definition oder Umschreibung des Inhalts immaterieller Güter. Aus Art. 2 Abs. 2 GKRF folgt, dass sie durch das Zivilrecht geschützt werden, und Art. 128 GKRF bezeichnet sie als Objekte privater Rechte. Eine (ausdrücklich nicht abschließende660) Aufzählung immaterieller Güter findet sich in Art. 150 GKRF. Beispielhaft werden Leben, Gesundheit, persönliche Ehre und guter Ruf, Geschäftsehre, Unantastbarkeit des Privat- und Familienlebens, Freizügigkeit, das Recht am eigenen Namen sowie das Urheberrecht genannt. Gemein ist all diesen Gütern gemäß Art. 150 GKRF, dass sie den Bürgern von Geburt an oder kraft Gesetzes zustehen, unantastbar und unübertragbar sind. Nach Art. 150 Abs. 1 S. 2 GKRF können jedoch die Erben in den gesetzlich bestimmten Fällen und auf gesetzlich bestimmte Art die persönlichen Rechte ihrer eigentlichen Subjekte wahrnehmen. Die gesetzlich aufgestellte Prämisse, dass immaterielle Rechtsgüter dem Bürger auch kraft Gesetzes gehören können, spricht auf den ersten Blick dafür, dass es nicht nur Grundrechte sein können, da Letztere den Bürgern von Geburt an gehören, Art. 17 Abs. 2 KRF. Der Kreis der in Frage kommenden Rechtspositionen wäre daher erweitert. Klarstellend ist in diesem Zusammenhang jedoch die Aussage des Art. 128 GKRF, welcher die Objekte bürgerlicher Rechte regelt und die geschützten Ergebnisse intellektueller Tätigkeit und das ihnen gleichgestellte geistige Eigentum ausdrücklich als eigene Gruppe neben den immateriellen Gütern benennt661. Zugleich ist der Wortlaut der Norm insofern verwirrend, als dass er die immateriellen Güter mit immateriellen Rechten vermengt und so den Blick auf die Rechtsobjekte verstellt662. Unter diesem Blickwinkel soll daher zunächst geklärt werden, was überhaupt ein Rechtsgut ist. Die Definition eines solch grundlegenden Begriffs bereitet naturgemäß Schwierigkeiten und muss zwangsläufig in hoher Abstraktheit münden. So ist nach Sergeev ein Rechtsgut im allgemeinen Sinne alles, was einen gesellschaftlich an659

Ebenda. Die Offenheit dieses Katalogs gibt u. a. die Intention des Art. 55 Abs. 1 KRF wieder, wonach nicht nur die in der Verfassung ausdrücklich anerkannten Grundrechte, sondern auch andere ggf. noch aufkommende Rechtspositionen als gleichermaßen schutzwürdig angesehen werden. 661 So auch =Q\VY^Q, ýYh^lV ^VY]djVbcSV^^lV `aQSQ TaQWUQ^ (`_^pcYV, _bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ), S. 23. 662 Zuzustimmen ist daher ;aQbQShY[_SQ, @_^pcYV Y bYbcV]Q \Yh^lf, ^V bSpXQ^^lf b Y]djVbcSV^^l]Y `aQS TaQWUQ^ (eYXYhVb[Yf \Yg) S TaQWUQ^b[_] `aQSV A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, S. 6. 660

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erkannten Wert oder eine Bedeutung für jedes Rechtssubjekt hat und worauf sein Verhalten gerichtet ist663. Die Rechtsgüter sind, anders ausgedrückt, Werte, die als Objekte von Rechtsverhältnissen auftreten und auf welche das Verhalten von Subjekten gerichtet ist664. Die Rechtsgüter können ihrerseits materieller und immaterieller Art sein. „Immateriell“ bedeutet zunächst die „außerwirtschaftliche“, ideelle Eigenschaft der Güter, weswegen diese auch nicht in Geld bewertet werden können und daher nicht zum Vermögen gehören665. Dem steht die Möglichkeit des Schadenersatzes in Falle ihrer Verletzung nicht entgegen. Ein immaterielles Gut wird dadurch nicht zum Vermögen. Die Möglichkeit des Schadensersatzes stellt nur eines der notwendigen Schutzinstrumente dieser Güter dar, erhebt aber keinen Anspruch darauf, sie tatsächlich zu bewerten oder verkehrsfähig zu machen, und verändert deshalb ihre Rechtsnatur nicht666. Sodann kennzeichnen sich die immateriellen Güter durch ihre Untrennbarkeit von der Person ihres Trägers, was sich darin äußert, dass sie unveräußerlich und unübertragbar sind, Art. 150 Abs. 1 GKRF, weswegen sie auch nicht „vollwertige“ Objekte des privaten Rechtsverkehrs, sondern nur seine Schutzobjekte sein können667. Schließlich sind sie auf die Gewährleistung der physischen und sozialen Existenz der Person gerichtet. Dies macht sie in Bezug auf jede andere Person einzigartig. Aus dieser Sicht heraus sollten die immateriellen Güter vorzugsweise als „persönliche immaterielle Güter“ bezeichnet werden. Zusammenfassend lässt sich formulieren, dass immaterielle Güter solche geistigen Güter außerwirtschaftlichen Charakters sind, welche mit der Person ihres Trägers untrennbar verbunden, unübertragbar, unveräußerlich und auf allseitige Gewährleistung persönlicher Existenz gerichtet sind668.

663

BVaTVVS (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_: DhVR^Y[, C_] 1, S. 411. Ebenda. Im russischen wie im deutschen Recht trauen sich nur sehr wenige Wissenschaftler an die Definition von Rechtsgütern heran. Dies erklärt sich nicht nur aus der Furcht vor der genannten Abstraktheit, sondern auch daraus, dass sie praktisch aufgrund ausführlicher Regelung von Privatrechtsobjekten nur wenig Relevanz hat. Hier soll es daher bei dieser Definition bleiben. 665 BdfQ^_S (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_: 3 4 c. ?RjQp hQbcm: DhVR^Y[, C_] 1, 3-V YXUQ^YV, `VaVaQR_cQ^^_V Y U_`_\^V^^_V, S. 35. 666 @_bcQ^_S\V^YV @\V^d]Q 3B A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY _c 24. 02. 2005 N 3, A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 15. 03. 2005/50, Ziff. 15; ;aQbQShY[_SQ, @_^pcYV Y bYbcV]Q \Yh^lf, ^V bSpXQ^^lf b Y]djVbcSV^^l]Y `aQS TaQWUQ^ (eYXYhVb[Yf \Yg) S TaQWUQ^b[_] `aQSV A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, S. 18 ff. 667 Vgl. bereits oben 2 S. S. auch: ;aQbQShY[_SQ, @_^pcYV Y bYbcV]Q \Yh^lf, ^V bSpXQ^^lf b Y]djVbcSV^^l]Y `aQS TaQWUQ^ (eYXYhVb[Yf \Yg) S TaQWUQ^b[_] `aQSV A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, S. 24; =Q\VY^Q, ýYh^lV ^VY]djVbcSV^^lV `aQSQ TaQWUQ^ (`_^pcYV, _bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ), S. 9; BdfQ^_S (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_: 3 4 c. ?RjQp hQbcm: DhVR^Y[, C_] 1, S. 191. 668 BVaTVVS (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_: DhVR^Y[, C_] 1, S. 413. 664

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

(1) Die Vorstellung von Rechtsgütern und Rechten im russischen Recht Indes macht der Wortlaut des Art. 150 GKRF bei unbefangener Lektüre zunächst stutzig: In ihrem 2. Absatz spricht die Norm davon, dass in Fällen, in denen die Interessen des Bürgers es erforderlich machen, seine immateriellen Güter insbesondere durch die Anerkennung der Verletzung von seinem „persönlichen Nichtvermögensrecht“, geschützt werden können. Auch Art. 151 S. 1 GKRF trägt insoweit nicht zur Klärung bei: Kann das Gericht den Schädiger zum Schadensersatz verpflichten, wenn der Bürger dadurch geschädigt wurde, dass seine persönlichen Nichtvermögensrechte verletzt oder seinen immateriellen Gütern gegenüber „Übergriffe versucht wurden669“. Die vor Oktober 2013 geltende Fassung670 drückte sich noch missverständlicher aus: Sie sprach von „anderen persönlichen Nichtvermögensrechten und anderen immateriellen Gütern“. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis die beiden Begriffe Recht und Rechtsgut zueinander stehen. Zuerst ist festzuhalten, dass der Gesetzgeber bei Formulierung der alten Fassung der Norm auf die Abgrenzung zwischen immateriellen Gütern und persönlichen immateriellen Rechten zugunsten des allgemeinen Rechtsschutzes i.S.d. Art. 2 Abs. 2 GKRF verzichtet hat671. Zwar rückt die neue Fassung die immateriellen Güter deutlicher in den Vordergrund, doch spricht dies nicht dagegen, eine dogmatische Abgrenzung zum Zweck der Klarheit zu wagen. Sowohl aus dem Wortlaut des nunmehr geltenden Art. 151 S. 1 GKRF als auch aus dem Wortlaut des Art. 150 Abs. 1 GKRF in seiner alten Fassung könnte sich also zunächst folgern lassen, dass die persönlichen Nichtvermögensrechte einen Unterfall der immateriellen Güter bilden. Dafür spricht neben dem Wortlaut des (insoweit unverändert gebliebenen) Art. 2 Abs. 2 GKRF auch der Wortlaut dieser beiden Normen. Es wirft indes Zweifel auf, ob ein Recht überhaupt einen Unterfall eines Rechtsguts darstellen kann672. Das subjektive Recht ist – nach pointierter Darstellung Scherschenevitschs – ein Mittel zur Gewährleistung von Wahrnehmungsmöglichkeiten immaterieller Güter, letzteres gehört jedoch zum Begriff des Rechts „genauso wenig wie der Garten zum Gartenzaun“673. Ein Rechtsgut kann daher nur ein Objekt 669

So wortwörtliche Übersetzung: „`_bpTQojYZ“. Das 8. Kapitel des GKRF ist im Rahmen einer umfassenden Novellierung des Zivilgesetzbuches durch EVUVaQ\m^lZ XQ[_^ A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY _c 2 Yo\p 2013 T. N 142E8 „? S^VbV^YY YX]V^V^YZ S `_UaQXUV\ 3 aQXUV\Q I hQbcY `VaS_Z 4aQWUQ^b[_T_ [_UV[bQ A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY“, A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 5. 7. 2013/6121, grundlegend reformiert worden. 671 =Q[_Sb[YZ, ? [_UYeY[QgYY TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ (1922 – 2006), S. 345 f. 672 Kritisch zur alten Fassung: =Q\VY^Q, ýYh^lV ^VY]djVbcSV^^lV `aQSQ TaQWUQ^, S.14; BVaTVVS (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_: DhVR^Y[, C_] 1, S. 414; CVaVjV^[_, S: BVaTVVS (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d ;_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 151, S. 407. 673 IVaiV^VSYh, ?RjQp cV_aYp `aQSQ, 3. Aufl., S. 613. 670

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des Rechts sein, wohingegen das Recht in diesem Zusammenhang die erlaubte und in diesem Rahmen mögliche Verhaltensweise darstellt674. Die beiden Kategorien beziehen sich also derart aufeinander, dass das eine aus dem anderen nicht unmittelbar abgeleitet werden kann675. Die persönlichen immateriellen Rechte stellen die durch die Rechtsnormen geregelten Beziehungen zwischen den Subjekten in Bezug auf die immateriellen Güter676, jedoch keine immateriellen Güter an sich dar. Die genannten Rechte entstehen kraft GKRF zum Zweck des effektiven Rechtsschutzes von Gütern677. Für diese Ansicht lässt sich auch Art. 2 Abs. 2 GKRF insoweit anführen, als dass dieser nur von immateriellen Gütern und nicht von Rechten spricht. Keine Auflösung dieser Problematik stellt dagegen die Ansicht dar, nach der sich alle immateriellen Güter in zwei Gruppen unterteilten: auf der einen Seite die immateriellen Güter selbst, auf der anderen Seite die persönlichen Rechte daran, welche aufgrund des Gesetzes entstehen678. Denn wie gezeigt sind die immateriellen persönlichen Rechte kein Unterfall von Gütern, obgleich die Güter zu ihrem Schutz die Existenz dieser subjektiven Rechte bedürfen. Für dieses Ergebnis spricht auch der Wortlaut des Art. 128 GKRF, wonach die immateriellen Güter (Schutz-)Objekte bürgerlicher Rechte sind. Die Erwähnung von „persönlichen Nichtvermögensrechten“ im neuen Art. 151 S. 2 GKRF blieb deshalb genauso verwirrend und überflüssig wie der Wortlaut des alten Art. 150 Abs. 1 S. 1 GKRF. Sie trägt nicht zur Effektivität des Schutzes immaterieller Güter bei, denn der Begriff der immateriellen Güter deckt bereits einen umfassenden Schutzbereich ab679. Auch der Bezug des Art. 151 GKRF zum Schmerzensgeld680 rechtfertigt keine andere Betrachtungsweise: Gemäß Art. 12 GKRF stellt das Schmerzensgeld eines der Schutzinstrumente der persönlichen Rechte dar. Jedoch kann diese Formulierung 674 Hier geht es nur um das subjektive Recht in seinem Verhältnis zum Rechtsgut. Dagegen soll hier auf den Streit um die Definition des subjektiven Rechts mangels Bedeutung für die hier zu behandelnde Materie nicht weiter eingegangen werden. Beispielhaft dazu: Windscheid/Kipp, Pandektenrecht, S. 155 ff.; Dernburg, Pandekten I, S. 86 ff. 675 =Q\VY^Q, ýYh^lV ^VY]djVbcSV^^lV `aQSQ TaQWUQ^ (`_^pcYV, _bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ), S. 24. 676 =Q\VY^Q, ýYh^lV ^VY]djVbcSV^^lV `aQSQ TaQWUQ^ (`_^pcYV, _bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ), S. 31; BdfQ^_S (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_: 3 4 c. ?RjQp hQbcm: DhVR^Y[, C_] 2, S. 183. 677 ;aQbQShY[_SQ, @_^pcYV Y bYbcV]Q \Yh^lf, ^V bSpXQ^^lf b Y]djVbcSV^^l]Y `aQS TaQWUQ^ (eYXYhVb[Yf \Yg) S TaQWUQ^b[_] `aQSV A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, S. 37; =Q\VY^Q, ýYh^lV ^VY]djVbcSV^^lV `aQSQ TaQWUQ^ (`_^pcYV, _bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ), S. 24. 678 EQUUVVSQ, S: BVaTVVS/C_\bc_Z (aVU.) 4aQWUQ^b[_V `aQS_, DhVR^Y[, C_] 1, S. 379. 679 Der novellierende Gesetzgeber folgte wohl den gewichtigen Stimmen in der Literatur, die vorschlugen, den Begriff der „anderen Nichtvermögensrechte“ aus Gründen der Normklarheit zu streichen, s. dazu: =Q\VY^Q, ýYh^lV ^VY]djVbcSV^^lV `aQSQ TaQWUQ^, S.24; a¨hnlich auch ;aQbQShY[_SQ, @_^pcYV Y bYbcV]Q \Yh^lf, ^V bSpXQ^^lf b Y]djVbcSV^^l]Y `aQS TaQWUQ^ (eYXYhVb[Yf \Yg) S TaQWUQ^b[_] `aQSV A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, S. 6. 680 Wortwörtlich: „Ersatz des geistigen Schadens“.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

nicht als Argument für die Gleichstellung von Rechten und Gütern verstanden werden: Art. 12 GKRF beschreibt nur die Arten des Schutzes bürgerlicher Rechte. Im Einklang damit und i.S.d. Art. 18 S. 1, 17 Abs. 2 KRF stellt auch Art. 18 GKRF fest, dass die persönlichen immateriellen Rechte zum Umfang der Rechtsfähigkeit der Bürger gehören. Daraus lässt sich folgern, dass die Grundrechte der Bürger zu privatrechtlichen Gütern und somit zu (Schutz-)Objekten des Privatrechts werden. Die (subjektiven) persönlichen immateriellen Rechte werden den Bürgern dagegen kraft des Privatrechts als Mittel zum Schutz dieser Güter i.S.d. Art. 2 S. 2 KRF i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GKRF verliehen681. Eine andere Besonderheit der persönlichen immateriellen Rechte ist, dass diese neben dem Eigentum und aufgrund ihrer Natur absolute Rechte darstellen682. Zugleich besteht ein wesentlicher Unterschied zum Eigentumsrecht darin, dass das Subjekt eines immateriellen persönlichen Rechts aufgrund dessen Unveräußerlichkeit gemäß Art. 150 Abs. 1 GKRF i.V.m. Art. 17 Abs. 3 KRF nicht darüber verfügen kann. Die Absolutheit dieser Rechte besteht demnach in der Möglichkeit der Ausschließung anderer Subjekte aus ihrem Wirkungsbereich. Damit stellen die persönlichen immateriellen Rechte das Mittel zur Gewährleistung von persönlichen immateriellen Gütern der Bürger683 und das privatrechtliche Mittel ihres Schutzes i.S.d. Art. 2 Abs. 2 GKRF dar. (2) Die Vorstellung von Rechtsgütern und Rechten im deutschen Recht Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass auch der deutsche Gesetzgeber die Frage nach dem Verhältnis zwischen den persönlichen immateriellen Rechtsgütern und solchen Rechten nicht gelöst, diese Problematik bei § 823 Abs. 1 BGB aber auf den ersten Blick sprachlich geschickt verschleiert hat684. Dies geschah, wie auch in Russland, zugunsten eines umfassenden Deliktsschutzes685. Nach dem Wortlaut des § 823 Abs. 1 BGB scheint es, als ob Leben, Körper, Gesundheit und Freiheit neben dem Eigentum ebenfalls subjektive Rechte darstellen würden. Von vielen wird jedoch vorgebracht, dass diese Rechtspositionen, im Gegensatz zum Eigentum, gerade keine Rechte, sondern (immaterielle) Rechtsgüter seien686. Die Formulierung „oder ein sonstiges Recht“ ist unter diesem Blickwinkel 681 ;aQbQShY[_SQ, @_^pcYV Y bYbcV]Q \Yh^lf, ^V bSpXQ^^lf b Y]djVbcSV^^l]Y `aQS TaQWUQ^ (eYXYhVb[Yf \Yg) S TaQWUQ^b[_] `aQSV A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, S. 37 ff. 682 ;aQbQShY[_SQ, @_^pcYV Y bYbcV]Q \Yh^lf, ^V bSpXQ^^lf b Y]djVbcSV^^l]Y `aQS TaQWUQ^ (eYXYhVb[Yf \Yg) S TaQWUQ^b[_] `aQSV A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, S. 48 f.; BdfQ^_S (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_: 3 4 c. ?RjQp hQbcm: DhVR^Y[, C_] 2, S. 183. 683 BdfQ^_S (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_: 3 4 c. ?RjQp hQbcm: DhVR^Y[, C_] 2, S. 183. 684 Damit erteilte der deutsche Gesetzgeber beiden Ansichten eine Absage: weder wurde die Forderung Gierke’s und v. Listz’s nach umfassender Anerkennung der Lebensgüter als subjektive Rechte erfüllt, noch erfolgte eine anderweitige Klarstellung, dazu Fezer, Teilhabe und Verantwortung, S. 479 f.; Deutsch, Haftungsrecht, S. 16 f. 685 Fezer, Teilhabe und Verantwortung, S. 491. 686 Sprau, in: Palandt, § 823, Rn. 1.

II. Grundrechte im russischen Privatrecht

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keine glückliche. So wird, ähnlich wie in Russland, von einigen Autoren vertreten, dass es sich hierbei um Rechtsgüter handelt, die unter deliktsrechtlichen Schutz gestellt werden687. Als Rechtsgüter sollen dabei als die „vitalen Lebensinteressen“688 oder „Gegenstände geschützter Lebensbereiche“689 bezeichnet werden, die „zwar absolut, d. h. gegenüber jedermann geschützt, aber aufgrund ihrer Unübertragbarkeit nicht als absolute Rechte ausgestaltet sind“690. In der Tat besteht, wie auch im russischen Recht, ein nicht zu übersehender Unterschied in der Qualität beider Arten von Rechtspositionen. Diese Problematik wurde bereits im 19. Jahrhundert erkannt und diskutiert. So schrieb Windscheid: „Das BGB ist der Auffassung, dass das objektive Recht die Person schützt, und aus seiner Verletzung erst ein subjektives Recht des Verletzten hervorgeht, nämlich eine Forderung aus unerlaubter Handlung“691. Dies steht auch im Einklang mit der These, dass die subjektiven Rechte nur im Verhältnis zu anderen Personen be- und entstehen, nicht aber als solche692. Damit wäre z. B. das Leben an und für sich kein subjektives Recht, sondern ebenfalls ein Rechtsgut, welches zunächst durch das objektive Recht unter Schutz gestellt wird. Erst im Fall seiner Verletzung würde ein subjektives Recht entstehen693. Dernburg definiert indes bereits das subjektive Recht aus dem Blickwinkel der Rechtsgüter als „ein dem Individuum nach der Rechtsordnung zustehender Anteil an den Lebensgütern“694 und rückt ihre Überpositivität damit deutlich ins Licht695. Nach anderer Ansicht handelt es sich hierbei jedoch ebenfalls um Rechte696, bzw. stellen danach subjektive Rechte Sonderfälle geschützter Rechtsgüter dar697. Vorgebracht wird auch, dass die Unterscheidung letztlich keinen Erkenntnisgewinn mit sich bringe und daher obsolet sei698. Richtigerweise stellt das BGB jedoch die (immateriellen) Rechtsgüter dem Eigentumsrecht sprachlich nur gleich, um ihren umfassenden Schutz zu gewährleisten699. Im Übrigen mag diese Differenzierung in 687 Fikentscher/Heinemann, Schuldrecht, Rn. 1558; Larenz/Canaris, Schuldrecht Abs. 2/2, S. 374; Medicus, Schuldrecht, Rn. 777. 688 Deutsch/Ahrens, Deliktsrecht, Rn. 231. 689 Deutsch, Haftungsrecht, S. 15. 690 Deutsch/Ahrens, Deliktsrecht, Rn. 231; so bereits Windscheid/Kipp, Pandektenrecht, S. 174. 691 Windscheid/Kipp, Pandektenrecht, S. 174. 692 Winsdcheid/Kipp, Pandektenrecht, S. 167, 173; auch Deutsch, Haftungsrecht, S. 11. 693 So ausdrücklich Windscheid/Kipp, Pandektenrecht, S. 175. 694 Dernburg, Pandekten I, S. 86. 695 Treffend ist in diesem Zusammenhang die Aussage Fezers, wonach sich die Entstehungsgeschichte des bürgerlichen Deliktsrechts als Spannungsfeld zwischen dem Naturrecht und der Pandektenwissenschaft erwies, Fezer, Teilhabe und Verantwortung, S. 527. 696 Larenz/Wolf, BGB AT, § 14 Rn. 15; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 359 ff.; Wagner, in: MüKo, § 823, Rn. 163. 697 Deutsch, Haftungsrecht, S. 15. 698 Fezer, Teilhabe und Verantwortung, S. 527; Deutsch, Haftungsrecht, S. 17. 699 Fezer, Teilhabe und Verantwortung, S. 491.

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der Praxis für den Geschädigten keine Rolle spielen, doch ist sie für das Verständnis eines Rechtssystems und seiner Methoden unabdingbar. (3) Die theoretischen Vorstellungen von persönlichen immateriellen Gütern in der russischen Rechtstheorie Was den Inhalt der persönlichen immateriellen Gütern angeht, so versucht man in der russischen Rechtstheorie, diesen greifbar zu machen, indem man die Güter in Gruppen unterteilt, wobei aber keine einheitliche Klassifizierung besteht700. Diesbezüglich lässt sich zusammenfassend sagen, dass die immateriellen Güter entweder nach dem Grund ihrer Entstehung oder nach ihrem Bezug zum Subjekt (wie soziale, physische, psychische u. a. Güter) unterteilt werden701. Die Theorie des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, wie sie in Deutschland existiert (wenn man das allgemeine Persönlichkeitsrecht überhaupt als eine einheitliche Theorie begreifen will), wird dabei zwar diskutiert, aber als unzureichend abgelehnt702, was mit der detaillierten Regelung der Verfassung in Bezug auf die Grundrechte im Einklang steht703. Kennzeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass die von den Autoren benannten, im GKRF nicht ausdrücklich erwähnten Rechtsgüter mit dem Katalog der Grundrechte der KRF im Wesentlichen übereinstimmen704. Hier sollen die einzelnen Theorien nicht weiter ausgeführt werden, denn unabhängig von der gewählten Systematisierung werden die jeweiligen Rechte, wie z. B. das am eigenen Bild oder Wort, die Ehre usw., als einzelne Rechtspositionen verstanden; dabei gilt ihre derartige Katalogisierung nur der Bequemlichkeit wissenschaftlicher Forschung und, ähnlich wie bei der Systematisierung der Grundrechte705, hat bisher keinen weiterführenden Erkenntniswert gewinnen lassen706. Gegen eine solche Systematisierung spricht indes auch die dem Begriff des Persönlichkeitsrechts immanente Unbestimmtheit. Genauso wenig wie eine Person in Schutzpositionen „unterteilt“ werden kann, ist dies auch beim Persönlichkeitsrecht nicht möglich. Eine starre Systema700

Vgl. nur: ;aQbQShY[_SQ, @_^pcYV Y bYbcV]Q \Yh^lf, ^V bSpXQ^^lf b Y]djVbcSV^^l]Y `aQS TaQWUQ^ (eYXYhVb[Yf \Yg) S TaQWUQ^b[_] `aQSV A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, S. 78 ff.; =Q\VY^Q, ýYh^lV ^VY]djVbcSV^^lV `aQSQ TaQWUQ^ (`_^pcYV, _bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ), S. 32 f.; BVaTVVS (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_: DhVR^Y[, C_] 1, S. 415 ff., wo auch andere Theorien dargestellt werden; BdfQ^_S (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_: 3 4 c. ?RjQp hQbcm: DhVR^Y[, C_] 2, S. 184. 701 Zusammenfassende Darstellung s. BVaTVVS (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_: DhVR^Y[, C_] 1, S. 415 ff. 702 =Q\VY^Q, ýYh^lV ^VY]djVbcSV^^lV `aQSQ TaQWUQ^ (`_^pcYV, _bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ), S. 32 f.; BVaTVVS (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_: DhVR^Y[, C_] 1, S. 415, Fn. 2. 703 Wie bereits erwähnt, formuliert die russische Verfassung kein dem Art. 2 Abs. 1 GG entsprechendes Grundrecht auf freie Entfaltung der Person. 704 Vgl. nur BVaTVVS (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_: DhVR^Y[, C_] 1, S. 415 ff.; BdfQ^_S (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_: 3 4 c. ?RjQp hQbcm: DhVR^Y[, C_] 2, S. 184. 705 s. o. C., I., 2., b), aa), (3). 706 Anders, =Q\VY^Q, ýYh^lV ^VY]djVbcSV^^lV `aQSQ TaQWUQ^ (`_^pcYV, _bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ), S. 37.

II. Grundrechte im russischen Privatrecht

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tisierung könnte letztlich sogar die Einschränkung des Persönlichkeitsrechts als Sammelbegriff bedeuten. Zugleich spricht nichts gegen eine katalogisierende Aufarbeitung der in der Rechtsprechung und Literatur vorhandenen Schutzrichtungen. (4) Rechtslage in Deutschland Die Unsicherheit im Umgang mit dem Persönlichkeitsrecht in der deutschen Rechtslehre fußt in der bewussten Ablehnung seiner Erwähnung durch das BGB707. Zwar werden die Rechtsverhältnisse im Zusammenhang mit dem Recht am eigenen Namen durch § 12 BGB ansatzweise geregelt, und das Recht am eigenen Bild fand seinen Niederschlag in den §§ 22 ff. KunstUrhG, doch wurde dem damals diskutierten Rechtsgut der Ehre ein umfassender deliktsrechtlicher Schutz zunächst verweigert. Nach und nach entwickelte jedoch die Rechtsprechung eigene Ansätze zur Lösung von Fällen, in denen es zentral um die Anerkennung solcher Rechtspositionen ging708. Nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes gestand der Bundesgerichtshof dem Persönlichkeitsrecht immer umfangreicheren Schutz zu. War dieser zuvor lediglich im engen Rahmen des § 826 BGB möglich709, so befand sich jetzt das Persönlichkeitsrecht im Vordringen. Es bildete sich zu der in ihrer äußeren Gestalt einheitlichen Rechtsfigur des allgemeinen Persönlichkeitsrechts710 heraus, wobei aber auch hier immer wieder Stimmen nach Systematisierung und Herausarbeitung einzelner Schutzpositionen laut wurden711. Bald ging der Gerichtshof sogar so weit, das durch Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG gewährleistete allgemeine Persönlichkeitsrecht als ein sonstiges, gegenüber jedermann geltendes Recht i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB zu verstehen712. Als Schranke dienten auch hier neben der verfassungsmäßigen Ordnung die Rechte anderer, in Abwägung mit welchen die Rechtswidrigkeit einer Handlung überhaupt erst festgestellt werden konnte713. Dabei soll das Persönlichkeitsrecht zugleich immaterielle und vermögensrechtliche Bestandteile aufweisen714. Damit entsprach jene Rechtsprechung der der heutigen russischen Gerichte715. 707

Mugdan, Abs. 2 S. 1297; Protokolle II, S. 640. Ausführlich dazu: Uesseler, Einwirkung der Grundrechte, S. 70 ff. 709 Brüggemeier, Deliktsrecht, S. 152 m.w.N. 710 Freilich wird unter dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht keine homogene Rechtsposition, sondern die Rechtsfigur eines „Rahmenrechts“ verstanden, s. dazu z. B. Medicus/Lorenz, Schuldrecht II, Rn. 1308 f. 711 Deutsch/Ahrens, Deliktsrecht, Rn. 231; Helle, Besondere Persönlichkeitsrechte im Privatrecht, S. 20 ff. s. dazu auch Windscheid/Kipp, Pandektenrecht, S. 175, welche sich gegen ein allgemeines Persönlichkeitsrecht als Sammelbegriff aussprechen. 712 BGHZ 13, 334, 338; 15, 249, 257; 24, 72,79. 713 BGHZ 24, 72, 80; allg. Medicus/Lorenz, Schuldrecht II, Rn. 1308. 714 Wagner, in: MüKo, § 823, Rn. 182 ff. 715 Das gilt ungeachtet dessen, ob man die Anerkennung des Persönlichkeitsrechts im Wege der Schutzpflichten oder abwehrrechtlichen Positionen der Bürger zu begründen sucht. Es geht vielmehr darum, dass der BGH einem Grundrecht im Privatrecht direkte Geltung zusprach. 708

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

Nach und nach beugte sich der BGH jedoch dem kritischen Druck in Bezug auf die Trennung zwischen den privaten und den Grundrechten und nahm von solch direkten Aussagen zunehmend Abstand716. Was blieb war der Begriff des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und seine restliche Dogmatik717, d. h. bis auf den begrifflichen Rückzug änderte sich der Kernbereich dieser Rechtsfigur nicht. Damit schützt das deutsche Deliktsrecht Immaterialgüterrechte als „sonstige Rechte“718. (5) Zusammenfassung Ausgehend vom Gesagten drängt sich auf, dass der Begriff des „allgemeinen Persönlichkeitsrechts“ für den Vergleich beider Rechtsordnungen unzureichend und daher unverwendbar ist. Soweit dies vonnöten ist, wird er daher im Folgenden durch den Oberbegriff der „Persönlichkeitsrechte“ ersetzt, wobei klargestellt werden soll, dass auch dieser kein Pendant in der Lehre und dem Gesetz in Russland hat. Es lässt sich folgern, dass bisher weder die russische noch die deutsche Rechtsordnung eine klare Linie in Bezug auf die Kodifizierung des Persönlichkeitsschutzes durch das Privat- bzw. Deliktsrecht herausarbeiten konnten. Keine der beiden Rechtsordnungen hat sich für eine Lösung in der Frage nach der Trennung zwischen Rechtsgut und Recht entscheiden können. Zugleich sind die Parallelen im Umgang damit nicht zu übersehen, insbesondere gehen beide von der Notwendigkeit des Schutzes solcher Güter wie Leben, Körper, Gesundheit und Freiheit mit dem Instrument des subjektiven Rechts auch im Bereich des Privatrechts aus. Freilich liegen diese Probleme auch an der rechtstheoretischen und philosophischen Schwierigkeit dieses Themas719. Eine Beantwortung dieser Fragen, an der sich die besten Juristen der letzten Jahrhunderte im europäischen Raum versucht haben, steht bisher aus und ist für die nächste Zeit auch nicht zu erwarten. bb) Die Handhabung der Persönlichkeitsrechte in russischer Lehre und Rechtsprechung Wie bereits ausgeführt, kennt das russische Privatrecht kein einheitliches Rechtsgut des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in dem Sinne, wie es in Deutschland verstanden wird. Es formuliert einzelne Rechte und lässt, wie das deutsche Recht im Übrigen auch, Raum für neu aufkommende Rechtspositionen, wobei ein übergreifender Begriff auch von der Literatur abgelehnt wird720. Auch existiert im

716

BVerfG NJW 2006, 3409; BAG NJW 10, 104, Tz. 21; BGHZ 128, 1; 131, 332; 183, 227. Sprau, in: Palandt, § 823, Rn. 86 ff. 718 Wagner, in: MüKo, § 823, Rn. 163. 719 Zum Streit um die Definition des subjektiven Rechts, vgl. Baumann, Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 251 ff. 720 ;aQbQShY[_SQ, @_^pcYV Y bYbcV]Q \Yh^lf, ^V bSpXQ^^lf b Y]djVbcSV^^l]Y `aQS TaQWUQ^ (eYXYhVb[Yf \Yg) S TaQWUQ^b[_] `aQSV A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, S. 236 ff.; 717

II. Grundrechte im russischen Privatrecht

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russischen Recht keine einheitliche Regelung für den Ersatz des immateriellen Schadens im Fall einer Verletzung dieser Rechtspositionen. Zum besseren Verständnis des Umgangs mit diesen Fällen soll nun zum Schluss ihre rechtliche Struktur skizziert werden. Die zentrale Rolle bei der Regelung des Schutzes persönlicher immaterieller Güter spielen die Art. 150 ff. GKRF. Danach werden insbesondere Ehre, Würde und Geschäftsruf i.S.d. Art. 152 GKRF sowie das Recht am eigenen Bild i.S.d. Art. 152.1. GKRF ausdrücklich benannt. Daneben bestehen mehrere einzelne Regelungen: Art. 12 GKRF regelt das Recht am eigenen Namen, Art. 1099 ff. GKRF gelten für den Fall deliktischen Schadens, Art. 15 des Gesetzes „Über den Schutz von Rechten der Verbraucher“721, Art. 18 Abs. 5 des Gesetzes „Über die Rechtsstellung von Militärbediensteten“722, Art. 8 Abs. 3 des Gesetzes „Über die betriebliche Pflichtunfallversicherung und die Pflichtversicherung für die Fälle betrieblich bedingter Krankheiten“723 sowie Art. 38 Abs. 2 des Gesetzes „Über die Werbung“724 treffen weitere Bestimmungen in diesem Zusammenhang. Auch im Familien- und im Arbeitskodex (z. B. Art. 237 TKRF) finden sich Regelungen einiger besonderer Fragen zum Schutz immaterieller Güter725. Aber auch andere, in Art. 150 GKRF nicht erwähnten immateriellen Güter können durch diese Norm i.V.m. Art. 12 GKRF, Art. 55 Abs. 1 KRF geschützt werden726. Die Gerichte der Russischen Föderation haben sich schon früh mit den Fragen der Handhabung der Persönlichkeitsrechte befasst. Zunächst und ganz zentral sind in diesem Zusammenhang der Plenarbeschluss N 10 vom 20. 12. 1994 „Über einige Fragen zur Anwendung der Gesetze über den Ersatz immateriellen Schadens“727 und der Plenarbeschluss N 3 vom 24. 02. 2005 „Über die gerichtliche Praxis in Sachen des Schutzes der Ehre und Würde sowie des Geschäftsrufes von Bürgern und juristischen

=Q\VY^Q, ýYh^lV ^VY]djVbcSV^^lV `aQSQ TaQWUQ^ (`_^pcYV, _bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ), S. 190 ff. 721 EVUVaQ\m^lZ XQ[_^ „? XQjYcV `aQS `_caVRYcV\VZ“ _c 07. 02. 1992 (aVU. _c 27. 06. 2011) N 162-E8, A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 15. 01. 1996/8. 722 EVUVaQ\m^lZ XQ[_^ „? bcQcdbV S_V^^_b\dWQjYf“ _c 27. 05. 1998 (aVU. _c 21. 04. 2011) N 76-E8, A_bbYZb[Qp 4QXVcQ N 104, 02. 06. 1998. 723 EVUVaQ\m^lZ XQ[_^ „?R _RpXQcV\m^_] bcaQf_SQ^YY _c ^VbhQbc^lf b\dhQVS ^Q `a_YXS_UbcSV Y `a_eVbbY_^Q\m^lf XQR_\VSQ^YZ“ _c 24. 07. 1998 (aVU. _c 09. 12. 2010) N 125-E8, A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 12. 08. 1998/153 – 154. 724 EVUVaQ\m^lZ XQ[_^ „? aV[\Q]V“ _c 13. 03. 2006 N 38-E8, (aVU. _c 18. 07. 2011), A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 15. 03. 2006/51. 725 =Q\VY^Q, ýYh^lV ^VY]djVbcSV^^lV `aQSQ TaQWUQ^ (`_^pcYV, _bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ), S. 17 f. 726 3_a_RmrS, 9^bcYcdc [_]`V^bQgYY ]_aQ\m^_T_ SaVUQ S a_bbYZb[_] TaQWUQ^b[_] `aQSV, S. 51. 727 @_bcQ^_S\V^YV @\V^d]Q 3B AE _c 20. 12. 1994 N 10 (aVU. _c 06. 02. 2007), A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 08. 02. 1995/29. Die Grundsa¨tze dieser Entscheidung sind auch nach der Novellierung im Jahre 2013 sinngema¨ß anwendbar.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

Personen“728 des Obersten Gerichts der Russischen Föderation zu nennen. Diese Urteile stellten Richtlinien für die Vorgehensweise der russischen Fachgerichte bei Entscheidungen im Zusammenhang mit Streitigkeiten dar, die den Schutz der Ehre und Würde der Bürger sowie den des Geschäftsrufs zum Gegenstand haben. Dabei hat das WSRF die Kollision zwischen den genannten Rechtsgütern und der Meinungs- und Pressefreiheit sowie ihren Einfluss auf Art. 152 (Schutz der Ehre, der Würde und des Geschäftsrufs) GKFR sehr deutlich herausgearbeitet. So stellte es unter anderem fest, dass das in Art. 23 und 46 KRF verankerte und in Art. 152 GKRF besonders geregelte Recht auf Schutz der Ehre und des guten Namens eine notwendige Einschränkung der Presse- und Wortfreiheit i.S.d. Art. 29 Abs. 1, 4 KRF bildet729. Dieses Recht auf Schutz ist gemäß Ziff. 1 des Beschlusses ein Verfassungsrecht730. Die Wechselwirkung beider Rechtspositionen arbeitete das Gericht dann in den Ziff. 12, 14 des Urteils im Zuge der Interpretation des Gesetzes über die Massenmedien deutlich heraus731. So sind unter anderem dessen Tatbestände der Befreiung von der Verantwortlichkeit für unwahre und beleidigende Tatsachen abschließend zu betrachten und restriktiv auszulegen. Diese Aussage steht auch im Einklang mit der Position des KSRF, welches ausdrücklich anerkannte, dass die Regelung des Art. 152 GKRF die Wahrnehmung von Rechten auf Ehre und gutem Namen durch das Verfassungsrecht bestimmt und einen Teil des allgemeinen Systems der verfassungsrechtlichen Regulierung darstellt732. Aus diesem Grund und gemäß Art. 17 Abs. 3 KRF müssen die Gerichte bei Anwendung dieser Norm auf das Gleichgewicht zwischen dem genannten Recht des Betroffenen und den Grundrechten anderer, insbesondere der Presse- und Meinungsfreiheit achten733. Die Klagen auf Schutz der Ehre, der Würde und des Geschäftsrufes i.S.d. Art. 152 GKRF müssen von den anderen Klagen auf Schutz der immaterieller Güter i.S.d. Art. 150 GKRF abgegrenzt werden. Diese Abgrenzung richtet sich danach, ob die verbreiteten Informationen einen beleidigenden Charakter haben oder gar unwahr 728 @_bcQ^_S\V^YV @\V^d]Q 3B A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY _c 24. 02. 2005 N 3: „? bdUVR^_Z `aQ[cY[V `_ UV\Q] _ XQjYcV hVbcY Y U_bc_Y^bcSQ TaQWUQ^, Q cQ[WV UV\_S_Z aV`dcQgYY TaQWUQ^ Y oaYUYhVb[Yf \Yg“, A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 15. 03. 2005/50. 729 @_bcQ^_S\V^YV @\V^d]Q 3B A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY _c 24. 02. 2005 N 3: „? bdUVR^_Z `aQ[cY[V `_ UV\Q] _ XQjYcV hVbcY Y U_bc_Y^bcSQ TaQWUQ^, Q cQ[WV UV\_S_Z aV`dcQgYY TaQWUQ^ Y oaYUYhVb[Yf \Yg“, A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 15. 03. 2005/50, Ziff. 3. 730 Zustimmend NaUV\VSb[YZ, 8QjYcQ hVbcY, U_bc_Y^bcSQ Y UV\_S_Z aV`dcQgYY S bdUVR^_Z `aQ[cY[V, S. 1. 731 8Q[_^ AE «? baVUbcSQf ]Qbb_S_Z Y^e_a]QgYY» _c 27. 12. 1991, N 2124-1, (aVU. _c 11. 07. 2011), A_bbYZb[Qp 4QXVcQ N 32, 08. 02. 1992; @_bcQ^_S\V^YV @\V^d]Q 3B AE _c 24. 02. 2005 N 3: „? bdUVR^_Z `aQ[cY[V `_ UV\Q] _ XQjYcV hVbcY Y U_bc_Y^bcSQ TaQWUQ^, Q cQ[WV UV\_S_Z aV`dcQgYY TaQWUQ^ Y oaYUYhVb[Yf \Yg“, A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 15. 03. 2005/ 50, Ziff. 12, 14. 732 ?`aVUV\V^YV ;B AE _c 04. 12. 2003 N 508-?, 3Vbc^Y[ ;B AE 2004/3, A_bbYZb[Qp 4QXVcQ, 15. 03. 2005/50, Ziff. 3. Ausfu¨hrlich dazu NaUV\VSb[YZ, ? `_Uf_UV ;B AE [ XQjYcV UV\_S_Z aV`dcQgYY Y Y^lf R\QT oaYUYhVb[Yf \Yg. 733 ?`aVUV\V^YV ;B AE _c 04. 12. 2003 N 508-?, A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 15. 03. 2005/50, Ziff. 3.

II. Grundrechte im russischen Privatrecht

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waren und ob ihre Verbreitung an sich den Bürger in seinen verfassungsrechtlich geschützten Rechten verletzt hat. Auch in diesen Fällen kann eine Pflicht zum Ersatz des immateriellen Schadens i.S.d. Art. 150, 151 GKRF begründet werden. Klagebefugt bzw. Anspruchsinhaber ist dabei jede natürliche oder juristische Person, über welche die unwahren Tatsachen verbreitet wurden734. Dabei ist gemäß Art. 150 Abs. 2 UAbs. 3, 152 Abs. 1 S. 2 GKRF auch postmortaler Schutz ausdrücklich möglich. Außergerichtlich äußert sich die Schutzmöglichkeit beispielsweise im Recht auf Replik gemäß Art. 152 Abs. 2 GKRF. Der Kläger muss nach Art. 152 Abs. 8 GKRF den Beklagten nicht benennen, falls dies nicht möglich ist. Vielmehr kann das Gericht gemäß Art. 262, 263 GPKRF auf Antrag des Geschädigten ein Feststellungsurteil mit dem Inhalt erlassen, die verbreiteten Informationen seien unwahr. Passiv legitimiert sind dabei die Urheber vermeintlich unwahrer Informationen sowie die Personen, die diese Informationen verbreitet haben sollen; dies kann unter anderem die Redaktion oder der Inhaber des Mediums sein. Dabei entspricht die Rechtsverletzung im zivilrechtlichen Sinn nicht dem strafrechtlichen Tatbestand der Verleumdung i.S.d. Art. 129 UKRF, was bedeutet, dass das zivilrechtliche Verfahren auch dann ohne weiteres zulässig ist, wenn kein Strafrechtsverfahren in diesem Zusammenhang eingeleitet wurde735. Wobei es sich, wie auch im deutschen Recht, um eine Tatsachenbehauptung und nicht lediglich eine subjektive Meinungsäußerung handeln darf736, was wiederum den hohen Wert der Meinungsfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft zum Ausdruck bringt. Nicht anders sind grundsätzlich auch Politiker zu behandeln. Diese müssen jedoch, nachdem sie sich zum Objekt öffentlicher Diskussion gemacht haben, auch bereit sein, kritisiert zu werden. Die gesetzlichen Regelungen über die Verletzung von Ehre, Würde und Geschäftsruf waren nach Ansicht der Rechtsprechung des OGRF737, die von dem KSRF gebilligt wurde738, vor der Novellierung des Art. 151 Abs. 7 GKRF (alte Fassung) auch auf juristische Personen entsprechend anwendbar. Insofern konnte man gewisse Parallelen zu der deutschen Rechtsfigur des „eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs“ erkennen. Die nunmehr geltende Fassung stellt ausdrücklich klar, dass die Regelungen über das Schmerzensgeld (Art. 151 GKRF) auf juristische 734

Der Begriff der Verbreitung unwahrer Tatsachen entspricht dabei dem vom EGMR verwendeten Begriff der Diffamierung, vgl. Ziff. 1 des Beschlusses; zustimmend auch NaUV\VSb[YZ, 8QjYcQ hVbcY, U_bc_Y^bcSQ Y UV\_S_Z aV`dcQgYY S bdUVR^_Z `aQ[cY[V, S. 1. 735 @_bcQ^_S\V^YV @\V^d]Q 3B AE _c 24. 02. 2005 N 3, A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 15. 03. 2005/ 50, Ziff. 6. 736 @_bcQ^_S\V^YV @\V^d]Q 3B AE _c 24. 02. 2005 N 3, A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 15. 03. 2005/ 50, Ziff. 9. 737 @_bcQ^_S\V^YV @\V^d]Q 3B AE _c 20. 12. 1994 N 10 (aVU. oc 06. 02. 2007), A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 08. 02. 1995/29, Ziff. 5; @_bcQ^_S\V^YV @\V^d]Q 3B AE _c 24. 02. 2005 N 3, A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 15. 03. 2005/50, Ziff. 15. 738 ?`aVUV\V^YV ;B AE _c 04. 12. 2003 N 508-?, 3Vbc^Y[ ;B AE 2004, N 3, A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 15. 03. 2005/50, Ziff. 2.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

Personen nicht anwendbar sind. Diese Gesetzesänderung ist zu begrüßen: Der Geschäftsruf eines Unternehmens ist nicht mit dem Recht der natürlichen Person auf Schutz ihrer Ehre, Würde und ihres Geschäftsrufs gleichzusetzen. In der Literatur wurde bereits vor der Novellierung zu Recht daran gezweifelt, ob eine juristische Person überhaupt einen immateriellen Schaden erleiden kann739. Insbesondere wurde darauf hingewiesen, dass der immaterielle Schaden i.S.d. Art. 151 Abs. 1 GKRF „physische oder geistige Qualen“ voraussetzt740, welche von einer juristischen Person nicht erlitten werden können741. Auch eine gemäß Art. 152 Abs. 7 GKRF in seiner alten Fassung mögliche entsprechende Anwendung dieser Regelung stieß hier an ihre methodologischen Grenzen im Hinblick auf die Vergleichbarkeit der beiden Begriffe. Eine entsprechende Anwendung einer Rechtsnorm baut unter anderem auf der Vergleichbarkeit der Tatbestände auf, aufgrund welcher dieselbe Rechtsfolge angenommen werden kann742. Vorliegend müsste jedoch auch das zentrale Tatbestandsmerkmal der „physischen oder geistigen Qual“ hinzugedacht werden. Damit liegt eine mangelnde Vergleichbarkeit der beiden Situationen auf der Hand, was zur Unmöglichkeit einer entsprechenden Anwendung führt743. Im Gegensatz zum deutschen Deliktsrecht liegt die Beweislast der Richtigkeit der verbreiteten Informationen beim Beklagten, Art. 152 Abs. 1 GKRF; der Kläger muss aber die Tatsache der Verbreitung von Daten sowie ihren beleidigenden Charakter darlegen744. Schadensersatz steht dem Geschädigten zu, wenn die Äußerung beleidigend war, Art. 150, 151 GKRF, 130 UKRF745. Gleichzeitig kommt es gemäß Art. 1100 Var. 3 GKRF nicht auf ein Verschulden an746.

739 So z. B. mit ausführlicher Erklärung NaUV\VSb[YZ, 8QjYcQ hVbcY, U_bc_Y^bcSQ Y UV\_S_Z aV`dcQgYY S bdUVR^_Z `aQ[cY[V, S. 1; NaUV\VSb[YZ, ? `_Uf_UV ;B AE [ XQjYcV UV\_S_Z aV`dcQgYY Y Y^lf R\QT oaYUYhVb[Yf \Yg, S. 1 ff.; s. auch: 3_a_RmrS, 9^bcYcdc [_]`V^bQgYY ]_aQ\m^_T_ SaVUQ S a_bbYZb[_] TaQWUQ^b[_] `aQSV, S. 143 f.; ;_X\_SQ, @a_R\V]Q [_]`V^bQgYY «^V]QcVaYQ\m^_T_ SaVUQ» `aYhY^r^^_]d oaYUYhVb[_]d \Ygd, ;_a`_aQcYS^lZ oaYbc 2006, N 2, S. 34; B[\_Sb[YZ, ?R _cSVcbcSV^^_bcY baVUbcS ]QbbYS_Z Y^e_a]QgYY XQ `aYhY^V^YV SaVUQ UV\_S_Z aV`dcQgYY, F_XpZbcS_ Y `aQS_ 2005, N 3, S. 94 ff. 740 Vgl. auch diesbezügliche Ausführungen des WSRF: @_bcQ^_S\V^YV @\V^d]Q 3B AE _c 20. 12. 1994 N 10 (aVU. oc 06. 02. 2007), A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 08. 02. 1995/29, Ziff. 5. 741 ;_X\_SQ, @a_R\V]Q [_]`V^bQgYY «^V]QcVaYQ\m^_T_ SaVUQ» `aYhY^r^^_]d oaYUYhVb[_]d \Ygd, ;_a`_aQcYS^lZ oaYbc 2006, N 2, S. 34. 742 Grundlegend dazu 3Qbm[_Sb[YZ, GYSY\YbcYhVb[Qp ]Vc_U_\_TYp, HQbcm I: DhV^YV _ c_\[_SQ^YY Y `aY]V^V^YY TaQWUQ^b[Yf XQ[_^_S, S. 214 ff. 743 Die Frage nach der Möglichkeit eines immateriellen Schadens kann bisher nicht als gelöst betrachtet werden, s. ausführliche Darstellung bei ;_X\_SQ, @a_R\V]Q [_]`V^bQgYY «^V]QcVaYQ\m^_T_ SaVUQ» `aYhY^r^^_]d oaYUYhVb[_]d \Ygd, ;_a`_aQcYS^lZ oaYbc 2006, N 2, S. 34. 744 @_bcQ^_S\V^YV @\V^d]Q 3B A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY _c 24. 02. 2005 N 3, A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 15. 03. 2005/50, Ziff. 9. 745 Ebenda.

II. Grundrechte im russischen Privatrecht

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Vor dem Hintergrund der gesetzlichen Regelung des Art. 151 S. 1 GKRF definierte das Gericht den betreffenden Schadensbegriff folgendermaßen: „Unter dem immateriellen („moralischen“747) Schaden werden moralische oder physische Qualen verstanden, die dem Bürger durch Handlung oder Unterlassen zugefügt werden, welche die ihm von Geburt an oder per Gesetz zustehenden immateriellen Güter (Leben, Gesundheit, Würde des Menschen, Geschäftsruf, Unantastbarkeit des privaten Lebens, persönliches und Familiengeheimnis), seine persönlichen Nichtvermögensrechte (Recht am eigenen Namen, Urheberrecht und andere durch das Gesetz bestimmten Rechte auf das geistige Eigentum) oder Vermögensrechte verletzen“748. Indem das Gericht auch die Möglichkeit des Schadensersatzes für die Verletzung von Vermögensrechten zuerkennt, geht es in seiner Definition des „moralischen“ Schadens über das vom Gesetz in Art. 151 S. 1 GKRF Vorgegebene749 hinaus. Auch wenn die gesetzliche Formulierung die Möglichkeit des Schadenersatzanspruchs für Vermögensverletzungen nicht ausschließt, so erlaubt es diesen nur in den gesetzlich bestimmten Fällen. Deshalb ist auch die Definition des Gerichts nur vor dem Hintergrund der gesetzlichen Bestimmung zu lesen, wobei ein immaterieller Schaden aber letztlich in den Fällen der Vermögensverletzung, ähnlich wie bei der juristischen Person, schwer vorstellbar ist: Das Gesetz setzt physische oder moralische Qualen voraus, was wohl stets die Verletzung von immateriellen Gütern als eine Folge der eigentlichen Vermögensverletzung und daher nur eine mittelbare Verletzung darstellen wird750. Vor dem Hintergrund der Unbestimmtheit der Begriffe der immateriellen Güter und Rechte bleibt damit auch der Begriff des „moralischen“ Schadens weiterhin umstritten751.

746 Auf das Verschulden kommt es nach Art. 1100 GKRF auch nicht an in Fällen der Schadenszufügung durch eine Gefahrenquelle (Var. 1), in Fällen des Justizunrechts (Var. 2) und in anderen durch das Gesetz vorgesehenen Fällen (Var. 4). 747 Der russische Begriff des „]_aQ\m^lZ SaVU“ bezeichnet eine Art des immateriellen Schadens und ko¨nnte sonst mit dem Begriff des „geistigen“ Schadens umschrieben werden; sein deutsches Pendant ist auf der Rechtsfolgenseite der Begriff des Schmerzensgeldes i.S.d. § 253 BGB. Der Begriff „]_aQ\m^lZ“ kann zwar in der russischen Sprache auch „moralisch“ bedeuten, umschreibt aber meist die ganze geistige Welt des Menschen. 748 @_bcQ^_S\V^YV @\V^d]Q 3B AE _c 20. 12. 1994 N 10 (aVU. _c 06. 02. 2007): „þV[_c_alV S_`a_bl `aY]V^V^Yp XQ[_^_UQcV\mbcSQ _ [_]`V^bQgYY ]_aQ\m^_T_ SaVUQ“, A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 08. 02. 1995/29, Ziff. 2. 749 Wobei auch die gesetzliche Definition in der Literatur kritisiert wird, 3_a_RmrS, 9^bcYcdc [_]`V^bQgYY ]_aQ\m^_T_ SaVUQ S a_bbYZb[_] TaQWUQ^b[_] `aQSV, S.137 ff.; BVaTVVS (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ 4aQWUQ^b[_]d ;_UV[bd A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, Art. 151, S. 407 f. 750 Diese Ansicht der Rechtsprechung führte verstärkt dazu, dass der materielle Schaden vermehrt über die immaterielle Komponente gerichtlich geltend gemacht wird, 3_a_RmrS, 9^bcYcdc [_]`V^bQgYY ]_aQ\m^_T_ SaVUQ S a_bbYZb[_] TaQWUQ^b[_] `aQSV, S.140 ff. 751 3_a_RmrS, 9^bcYcdc [_]`V^bQgYY ]_aQ\m^_T_ SaVUQ S a_bbYZb[_] TaQWUQ^b[_] `aQSV, S. 47 ff., 137.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

Der Schadensersatzanspruch trägt in den genannten Fällen persönlichen Charakter und kann deswegen nicht übertragen werden752. Der Ersatz des Schadens kann dabei gemäß Art. 152 GKRF im Wege der revidierenden Äußerung, des Ersatzes immateriellen sowie materiellen Schadens u. a.753 erfolgen, Art. 152 Abs. 2 bis 6 151 Abs. 1 GKRF. Gleichzeitig äußert sich der Schutz der Rechte des Schädigers i.S.d. Art. 29 Abs. 3 KRF auch darin, dass er auf dem Gerichtswege nicht zu einer Entschuldigung gezwungen werden kann754. Bei der Feststellung der Höhe des Schadensersatzanspruchs i.S.d. Art. 151 Abs. 2, 1101 Abs. 2 GKRF, welcher stets in Geld aufzuwiegen ist, hat das Gericht alle Umstände des jeweiligen Falls umfassend zu betrachten und gegeneinander abzuwägen755; dabei darf es wiederum nicht zu unverhältnismäßigen Einschränkungen der Pressefreiheit kommen756. Dieser kurze Umriss der Rechtsprechung und Lehre zeigt deutlich den unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Grundrechten und den bürgerlichen Rechten im russischen Rechtssystem. Letztere dienen dabei der Konkretisierung und Erreichung verfassungsrechtlicher Vorgaben. Dabei tritt die Wechselwirkung unterschiedlicher grundrechtlicher Positionen deutlich zu Tage. Gleichzeitig sind die Ähnlichkeiten mit dem deutschen Recht sowohl im Bereich allgemeiner Begriffe des Deliktsrechts als auch in der Handhabung nicht von der Hand zu weisen. 3. Zusammenfassung Die Grundrechte als solche stellen ein verfassungsrechtliches Institut dar757. Sie werden vom Privatrecht gemäß Art. 2 S. 2 KRF i.V.m. 2 Abs. 2 GKRF als Schutzgüter wahrgenommen. Die Grundrechte in Form von immateriellen Rechtsgütern sind nicht nur Objekte des Privatrechts, sondern auch vieler anderer Rechtsgebiete758. Die (subjektiven) persönlichen immateriellen Rechte werden den Bürgern dagegen kraft des Privatrechts als Mittel zum Schutz dieser Güter i.S.d. Art. 2 S. 2 KRF i.V.m. 752

@_bcQ^_S\V^YV @\V^d]Q 3B A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY _c 24. 02. 2005 N 3, A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 15. 03. 2005/50, N 4, 2005, Ziff. 18. 753 Die neue Fassung des Art. 151 Abs. 4 bis 5 GKRF sieht besondere Möglichkeiten des Schutzes im Hinblick auf die neuen informationellen Technologien vor. 754 @_bcQ^_S\V^YV @\V^d]Q 3B A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY _c 24. 02. 2005 N 3, A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 15. 03. 2005/50, N 4, 2005, Ziff. 18. 755 @_bcQ^_S\V^YV @\V^d]Q 3B AE _c 20. 12. 1994 N 10 (aVU. _c 06. 02. 2007), N 29, 08. 02. 1995, Ziff. 8. 756 @_bcQ^_S\V^YV @\V^d]Q 3B AE _c 20. 12. 1994 N 10 (aVU. _c 06. 02. 2007), A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 08. 02. 1995/29, Ziff. 1; @_bcQ^_S\V^YV @\V^d]Q 3B A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY _c 24. 02. 2005 N 3, A_bbYZb[Qp 4QXVcQ 15. 03. 2005/50, Ziff. 15. 757 =Q\VY^Q, ýYh^lV ^VY]djVbcSV^^lV `aQSQ TaQWUQ^ (`_^pcYV, _bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ), S. 14. 758 ;aQbQShY[_SQ, @_^pcYV Y bYbcV]Q \Yh^lf, ^V bSpXQ^^lf b Y]djVbcSV^^l]Y `aQS TaQWUQ^ (eYXYhVb[Yf \Yg) S TaQWUQ^b[_] `aQSV A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, S. 34 ff., 41 f.; =Q\VY^Q, ýYh^lV ^VY]djVbcSV^^lV `aQSQ TaQWUQ^ (`_^pcYV, _bdjVbcS\V^YV Y XQjYcQ), S. 13.

II. Grundrechte im russischen Privatrecht

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Art. 2 Abs. 1 GKRF verliehen759. Damit bilden die Grundrechte der KRF die Grundlage der Regelung von persönlichen immateriellen Gütern und Rechten760. Dabei wurden die Art. 150, 151 GKRF bewusst gerade als Ausdruck verfassungsrechtlicher Bestimmungen in den GKRF aufgenommen761. Aber auch materielle Güter des Privatrechts haben ihre Wurzeln in der russischen Verfassung als der wichtigsten Quelle des GKRF, so z. B. das Eigentum bzw. die Eigentumsfreiheit. Diese Sicht spiegelt sich auch in der Entscheidung des russischen Verfassungsgerichts wider, wenn dieses erklärt, Art. 152 GKRF und damit eine Norm des Privatrechts, regele die Wahrnehmung von Verfassungsrechten und stehe im allgemeinen System der verfassungsrechtlichen Regulierung762. Damit verleiht sie der Vorstellung von der Funktion der KRF als einer Basis-Rechtsnorm, aufgrund welcher die speziellen Rechtsnormen entwickelt werden, einen verstärkten Nachdruck. Die Bestimmungen des Zivilrechts können freilich nicht per se als Beweis für die direkte Wirkung der Grundrechte unter Privaten dienen. Erstere sind einfachgesetzliche Normen, deren Auslegung sich an den verfassungsrechtlichen Vorgaben zu orientieren hat und welche deshalb auch nicht als Indiz oder Auslegungshilfe für Letztere dienen kann. Deshalb könnte die soeben vorgenommene Untersuchung der zivilrechtlichen Bestimmung an sich keine Wirkung der Grundrechte unter Privaten darlegen. Man könnte gegebenenfalls höchstens, ähnlich wie in Deutschland, von verfassungsrechtlichen Werten sprechen, die im GKRF gemäß Art. 18 S. 2 KRF ihren Niederschlag gefunden haben. Es wären aber keine verfassungsrechtlichen Rechte und Freiheiten als solche, wenn man in diesen Begriff lediglich die vertikale Wirkung hineinlesen würde. Die Untersuchung des russischen Verfassungsrechts im zweiten Teil der Arbeit erlaubt es demgegenüber, die Rechtsgüter des Privatrechts als unmittelbaren Ausdruck verfassungsrechtlicher Rechte und Freiheiten zu sehen. Im Einklang mit der Verfassung drücken sich hier mehrere Facetten des konstitutionellen Auftrags aus. Zunächst erfüllt der Gesetzgeber mit der Einbeziehung der Grundrechte in den Kreis der Objekte des Privatrechts gemäß Art. 2 Abs. 2 GKRF seine Schutzpflichti.S.d. Art. 2 S. 2 KRF. Dies tut er sowohl präventiv durch die Regelung mancher Rechtsverhältnisse, die solche Rechte berühren, als auch repressiv, durch zivilrechtliche Sanktionierung ihrer widerrechtlichen Verletzung. Zum anderen erfüllt der Zivilgesetzgeber auch seinen regulierenden Auftrag i.S.d. Art. 55 Abs. 3, 17 Abs. 3 KRF im Spannungsverhältnis zwischen den Rechtspositionen unterschiedlicher Grundrechtssubjekte, indem er die Grenzen der Rechtsausübung im Verhältnis unter Privaten bestimmt und ihre Rechtsverhältnisse damit durch aufgestellte Rah759 ;aQbQShY[_SQ, @_^pcYV Y bYbcV]Q \Yh^lf, ^V bSpXQ^^lf b Y]djVbcSV^^l]Y `aQS TaQWUQ^ (eYXYhVb[Yf \Yg) S TaQWUQ^b[_] `aQSV A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, S. 37 ff. 760 ;aQbQShY[_SQ, @_^pcYV Y bYbcV]Q \Yh^lf, ^V bSpXQ^^lf b Y]djVbcSV^^l]Y `aQS TaQWUQ^ (eYXYhVb[Yf \Yg) S TaQWUQ^b[_] `aQSV A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, S. 31 ff.; BdfQ^_S (aVU.), 4aQWUQ^b[_V `aQS_: 3 4 c. ?RjQp hQbcm: DhVR^Y[, C_] 2, S. 180. 761 =Q[_Sb[YZ, ? [_UYeY[QgYY TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ (1922 – 2006), S. 345 f. 762 ?`aVUV\V^YV ;B AE _c 04. 12. 2003 N 508-?, 3Vbc^Y[ ;B AE 2004/3, Ziff. 3.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

menbedingungen gestaltet. Die Verfassung dient dabei als unmittelbare Quelle des Privatrechts. Verfassungsrechtliche Bestimmungen und insbesondere die Grundrechte stellen in Gestalt „grundlegender Prinzipien“ gemäß Art. 1 GKRF (nicht nur objektiv wirkende) Prinzipien-Normen als Optimierungsgebote dar. Sie können im Einklang mit Art. 17 Abs. 3, 55 Abs. 3 KRF nur als ein Gefüge verstanden werden: Sie schränken sich gegenseitig ein und stellen damit vielfach eigene und wechselseitige Garantien dar. Der verfassungsrechtliche Charakter der grundlegenden Prinzipien bedeutet auf der anderen Seite, dass sie nur in dem durch die Verfassung bestimmten Rahmen eingeschränkt werden können763. Nur mithilfe dieser Einschränkungen kann die Funktionsfähigkeit aller Prinzipien gewährleistet werden. Damit drückt sich im russischen Zivilrecht die bereits in der Verfassung niedergelegte direkte Wirkung der Grundrechte aus. Das Zivilrecht bringt also keine neue Erkenntnis, es führt nur folgerichtig den verfassungsrechtlichen Auftrag aus. Damit müssen auch die Rechte Privater untereinander als Ausdruck bzw. Ableitung ihrer Verfassungsrechte für diesen Rechtsbereich verstanden werden. Das Prinzip der Vertragsfreiheit i.S.d. Art. 1 Abs. 1, 421 Abs. 1 S. 1 GKRF stellt so einerseits eine logische Folge verfassungsrechtlicher Prinzipien dar, hat aber auf der anderen Seite einen eigenen Inhalt und Anwendungsbereich764. Dabei ist es eng mit anderen grundlegenden Prinzipien verbunden: mit dem Prinzip der Gleichheit, dem der Privatautonomie und dem Verbot von Einmischung in Privatangelegenheiten anderer Personen765. Nur durch diesen als Netz zu begreifenden Prinzipienkatalog kann die verfassungsrechtliche Ordnung zum Ausdruck gebracht werden. Die Prinzipien des Art. 1 Abs. 1 GKRF stellen zugleich subsidiäre Rechtsnormen dar, die im Fall der Abwesenheit besonderer Regelungen in einem konkreten Fall zur Anwendung kommen. Damit sind sie nicht nur objektive Gebote, sondern vielmehr subjektive Rechte der Bürger766. Ein deutliches Beispiel für die wechselseitige Garantie und Bedingung der Prinzipien stellt das Instrument des Kontrahierungszwangs dar, welches der Erfüllung des staatlichen Schutzauftrags dient. Dabei verhält sich die Vertragsfreiheit zum Kontrahierungszwang wie ein Grundrecht zu seiner Schranke, die es zur Aufgabe hat, den Grundrechten anderer Bürger in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip i.S.d. Art. 7 Abs. 1 KRF zur Geltung zu verhelfen. Schlussendlich könnte die Vertragsfreiheit ohne den Kontrahierungszwang nicht mit dem Prinzip der Gleichheit der Parteien in Ausgleich gebracht werden. Daran zeigt sich, dass das Zivilrecht als Konkretisierung und Ausbalancierung der Grundrechte begriffen wird. Hier treten 763 ;aQcV^[_, 8\_d`_caVR\V^YV bS_R_U_Z U_T_S_aQ: hQbc^_`aQS_SlV Y `dR\Yh^_`aQS_SlV Qb`V[cl, S. 3. 764 ;aQcV^[_, 8\_d`_caVR\V^YV bS_R_U_Z U_T_S_aQ: hQbc^_`aQS_SlV Y `dR\Yh^_`aQS_SlV Qb`V[cl, S. 3. 765 CQ^QTQ, @aY^gY` bS_R_Ul U_T_S_aQ S TaQWUQ^b[_] `aQSV A_bbYY, S. 31 ff. 766 ;aQcV^[_, 8\_d`_caVR\V^YV bS_R_U_Z U_T_S_aQ: hQbc^_`aQS_SlV Y `dR\Yh^_`aQS_SlV Qb`V[cl, S. 5 ff.; ;dX^Vg_SQ, þ_a]l-`aY^gY`l a_bbYZb[_T_ TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, S. 128; @_cQ`_SQ, @aY^gY`l TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, S. 7.

II. Grundrechte im russischen Privatrecht

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zugleich die Einflüsse der sowjetischen Vergangenheit wie auch die vorrevolutionären Wurzeln deutlich zu Tage. Dass eine solche Vorstellung aber auch der deutschen Rechtslehre nicht fremd ist zeigt sich an der Aussage von Windscheid: „Alles Privatrecht beschäftigt sich nur mit der Beantwortung der Frage, inwieweit der Wille des Einzelnen von dem ihm gegenüberstehenden Einzelnen anerkannt werden müsse767“. Das Verbot des Rechtsmissbrauchs i.S.d. Art. 10 Abs. 1 S. 1 GKRF stellt dagegen eine Implementierung des verfassungsrechtlichen Prinzips i.S.d. Art. 17 Abs. 3 KRF im Privatrecht dar768. Der Grundsatz des Rechtsmissbrauchsverbots i.S.d. Art. 10 GKRF i.V.m. Art. 17 Abs. 3 KRF ist ein Prinzip der Rechtsanwendung und kein „grundlegendes Prinzip“ des Privatrechts i.S.d. Art. 1 GKRF. Ausgehend von der oben dargelegten Bedeutung dieser verfassungsrechtlichen Norm769 und dem Stellenwert der Grundrechte im russischen Zivilrecht lässt sich folgern, dass Private die Grundrechte anderer im Privatrechtsverkehr zu beachten haben. Mit Art. 10 Abs. 1 GKRF wurde Art. 17 Abs. 3 KRF im Privatrecht implementiert bzw. wiederholt und konkretisiert. Auch dies zeigte erneut, dass sich die Wirkung verfassungsrechtlicher Bestimmungen auf die Wahrnehmung aller in der Verfassung verankerten Rechte, auch in Form bürgerlicher Rechte, erstreckt. In den Rechtsbereichen ohne eine solche spezielle Regelung wird von Gerichten daher Art. 17 Abs. 3 KRF angewandt770. Eine öffentlich-rechtliche Regulierung des Zivilrechts soll im Einklang mit dem verfassungsrechtlichen Auftrag die Extreme privater Rechtsverhältnisse bzw. die egoistischen Interessen, die ihr zu Grunde liegen, zugunsten eines friedvollen Zusammenseins in der Gesellschaft ausgleichen. Die Normen des Verfassungsrechts stellen die verfassungsrechtliche, öffentlich-wirtschaftliche Ordnung her. Das bedeutet, dass die wirtschaftlichen Grundrechte verhältnismäßigen Schranken unterliegen. Gleichzeitig schränkt das Verfassungsrecht diese Rechte nicht nur ein, sondern schützt sie auch771. Im Bereich einfachgesetzlicher Normierung von Persönlichkeitsrechten zeigen sich starke Parallelen in den Regelungen beider Länder. Art. 150 f. GKRF zeigte deutlich, dass es sich bei den geschützten Rechtsgütern nicht nur um Grundrechte 767 Windscheid/Kipp, Pandektenrecht, S. 175; ähnlich Deutsch, Haftungsrecht, S. 13 mit Verweis auf Protokolle. 768 2QaV^R_Z]/4QUWYVS/ýQeYcb[YZ/=Qd, ;_^bcYcdgY_^^Qp n[_^_]Y[Q, DhVR^Y[ U\p oaYUYhVb[Yf Y SlbiYf n[_^_]YhVb[Yf XQSVUV^YZ, S. 192; 4QUWYVS, ;_^bcYcdgY_^^lV `aY^gY`l al^_h^_Z n[_^_]Y[Y. AQXSYcYV _b^_S TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ S aViV^Ypf [_^bcYcdgY_^^_T_ bdUQ A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, S. 104; =Q\Y^_Sb[YZ, þVU_`dbcY]_bcm X\_d`_caVR\V^Yp `aQS_] [Q[ _RjV`aQS_S_Z `aY^gY`, @aQS_ Y `_\YcY[Q, 2006, N 9, S. 30, 31. 769 s. o. C., I., 2., b), ee). 770 =Q\Y^_Sb[YZ, þVU_`dbcY]_bcm X\_d`_caVR\V^Yp `aQS_] [Q[ _RjV`aQS_S_Z `aY^gY`, @aQS_ Y `_\YcY[Q, 2006, N 9, S. 30, 31. 771 2QaV^R_Z]/4QUWYVS/ýQeYcb[YZ/=Qd, ;_^bcYcdgY_^^Qp n[_^_]Y[Q, DhVR^Y[ U\p oaYUYhVb[Yf Y SlbiYf n[_^_]YhVb[Yf XQSVUV^YZ, S. 48.

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C. Bindung der Privaten an Grundrechte in der russischen Rechtstheorie

handelt, sondern vielmehr um die überpositiven Güter, die nicht erst durch die Verfassung vorgegeben werden, sondern, je nach dem Stand kultureller und historischer Entwicklung der Gesellschaft in einer Momentaufnahme, ihrem Selbstverständnis immanent sind. Nichts anderes gilt aber, aufgezeigt am Beispiel der Persönlichkeitsrechte, auch für Deutschland, unabhängig von der anderen Sicht auf die Grundrechte. Auch bei den deutschen Regelungen des Notstands und der Notwehr ist insofern bezeichnend, dass sie gerade als vorkonstitutionelle Normen zum Ausdruck bringen, dass es in zwischenmenschlichen Beziehungen auch oder gerade jenseits des StaatBürger-Verhältnisses immer zu Situationen kommen wird, in welchen Güter ausdrücklich gegeneinander abgewogen werden müssen. Dies gilt unabhängig davon, ob man die Wirkung der Grundrechte unter Privaten anerkennt. In diesem Zusammenhang ist erneut auf fast schon eine Beliebigkeit der Abgrenzung zwischen öffentlichem und privatem Recht hinzuweisen. Dies führt zu dem Schluss, dass es in einer Gesellschaft stets um einen Güterausgleich geht. Diese Güter in ein Rechtssystem gefasst (um deren Willen es im Übrigen auch besteht) werden zu Rechtsgütern. Sie ändern ihre Substanz nicht abhängig davon, ob sie solche des Privatrechts oder des öffentlichen Rechts sind. Sie werden durch ein Rechtssystem als solches geschützt und in ein mehr oder weniger detailliert ausgearbeitetes „Korsett geschnürt“. Das einfachste Beispiel in diesem Zusammenhang ist das Rechtsgut „Leben“. Der Schutz des Lebens wird durch beide Bereiche des Rechts gewährleistet. Das Rechtssystem verleiht einem ein Recht darauf – eine künstliche Kategorie, die einen Zustand darin bezeichnet. Ob es vom Staat oder vom Bürger verletzt wird, ändert nichts an seinem Gehalt; es werden nur unterschiedliche Regelungen getroffen, wie mit dieser Rechtsverletzung umzugehen ist, was sich aus den unterschiedlichen Arten der möglichen verletzenden Subjekte und der mit der jeweiligen Regelung verfolgten Ziele ergibt. Ob ein öffentlich-rechtliches oder privatrechtliches Recht verletzt wird ändert nichts an der Verletzung als solcher. Eine der Besonderheiten des russischen Privatrechts gegenüber dem deutschen liegt in der Berechtigung des Staates als dessen Subjekt. Dieser agiert trotz notwendiger Modifikationen in Bezug auf Privatrechtsverhältnisse als ein gleichberechtigtes und -verpflichtetes Subjekt, was ihn der Rechtsstellung privater juristischer Personen in Bezug auf die Beachtung von Grundrechten annähert. Dies ist insbesondere deshalb möglich, weil alle genannten Rechtssubjekte gemäß Art. 15 Abs. 2, 18 S. 2 KRF an die Verfassung und die Grundrechte gebunden sind. Deshalb ist auch im Gegensatz zum deutschen Verständnis keine „Flucht ins Private“ mehr möglich, bzw. würde diese staatlichen Einrichtungen keinen Vorteil im Sinne der Entledigung ihrer Grundrechtsbindung gewähren. Aus dieser Konstruktion folgt auch eine teilweise Überlagerung der in Deutschland als öffentlich-rechtlich wahrgenommenen Ansprüche des Bürgers gegen den Staat, so z. B. die Möglichkeit des Schutzes bürgerlicher Rechte gegenüber

II. Grundrechte im russischen Privatrecht

197

dem Staat gemäß Art. 12, 13, 16 GKRF. Auch darin zeigt sich erneut die Relativität der Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten Rechtspositionen. Zu betonen ist in diesem Zusammenhang, dass diese Lösung auch für das russische Recht keine zwingende ist, d. h. eine direkte Wirkung der Grundrechte unter Privaten bedeutet nicht gleichzeitig, dass der Staat dadurch zum Subjekt des Zivilrechts werden muss. Vielmehr betonen die Schwierigkeiten bei der Bestimmung von Einzelheiten seiner Rechtsfähigkeit die Besonderheit seiner Rechtsnatur, die freilich daraus resultieren, dass hoheitliche Einrichtungen ihrem Wesen nach aus einem anderen Rechtsbereich stammen und deshalb für privatrechtliches Handeln einer gewissen Adoption bedürfen. Wie das russische Recht ebenfalls gezeigt hat, bedeutet dies aber auf der anderen Seite keinesfalls, dass der Staat im Privatrecht ein Fremdkörper bleiben muss. Vielmehr wären im russischen Rechtssystem beide Lösungen möglich. Aber auch unter der Prämisse der deutschen Vorstellung von einer nur mittelbaren Wirkung der Grundrechte im Privatrecht wäre unter Modifizierung der Rechtsstellung des Staates im Privatrecht seine „Versubjektivierung“ für diesen Bereich denkbar. Angesichts dieser nur geringfügigen Unterschiede im Bereich des Privatrechts bzw. der Ähnlichkeit der privatrechtlichen Institute stellt sich die Frage, ob dies für die Anerkennung einer „unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte“ in Deutschland spricht. Diese Frage kann aus dem Blickwinkel des Zivilrechts jedoch nicht positiv beantwortet werden. Die Antwort ist vielmehr in der Verfassung zu suchen. Diese Analyse muss vom Verfassungsrecht aus vorgenommen werden. In den einfachgesetzlichen Bestimmungen können allenfalls Indizien für das Verfassungsverständnis des Gesetzgebers gefunden werden (die jedoch ebenfalls nicht unterschätzt werden dürfen). Das Grundgesetz ist in der Tat vorrangig auf das vertikale Staat-Bürger-Verhältnis ausgelegt, das zunächst keine Direktwirkung vorsieht. Jedoch verschließt es sich das demgegenüber nicht völlig, was sich in den Schutzpflichten und nicht zuletzt in der abwehrrechtlichen Position ausdrückt.

D. Schlussfolgerungen und Ausblick Der vorgenommene Vergleich lässt eine Reihe von Schlussfolgerungen zu. Diese sind, wie jedes Ergebnis einer Induktion, empirisch nicht zwingend, drängen sich aber gleichwohl auf. Die Untersuchung hat unter Einbeziehung der Rechtsprechung und Literatur ganz zentral aufgezeigt, dass die beiden verglichenen Verfassungen die jeweilige Rechtsordnung und Rolle der Person im Staat scheinbar unterschiedlich bewerten. Daraus ergibt sich auf dieser auf den ersten Blick gleichen Grundlage demokratischer Rechtsstaatlichkeit der scheinbar eklatante Unterschied bei der Bindung Privater an die Grundrechte: Das Grundgesetz lehnt diese grundsätzlich ab, die Verfassung der Russischen Föderation ruft sie grundsätzlich aus. Man hat aber zugleich gesehen, dass sich die zivilrechtlichen Strukturen der beiden Länder deswegen (oder trotzdem) nicht grundlegend voneinander unterscheiden. Eine in der deutschen Literatur verschriene Knechtung der Privatautonomie bzw. Vertragsfreiheit hat in Russland nicht stattgefunden. Auch auffallende Unterschiede, wie zum Beispiel bei der Subjektstellung des Staates im Privatrecht, bedingen nicht zwingend eine absolute Wirkung der Grundrechte, sondern wären vielmehr auch unter anderen Prämissen denkbar. Die Frage, ob das deutsche Recht den Begriff der „Drittwirkung“ überhaupt braucht, hat sich auf dem gesamten Weg dieser Untersuchung aufgedrängt. Obwohl die beiden Verfassungen auf den zweiten Blick doch nicht mehr so ähnlich erschienen, zeigen sie bei genauerer Betrachtung doch mindestens genauso viele Gemeinsamkeiten wie die Privatrechtssysteme der beiden Länder. Diese äußern sich vordergründig im hohen Stellenwert der Grundrechte und ihren Funktionen, wobei beiden Regelwerken das soziale Element immanent ist. Es kamen deshalb einige Zweifel an der etablierten Position der deutschen Rechtsdoktrin in Bezug auf dieses Thema auf.

I. Wandel der Gesellschaft und Dimensionen der Grundrechte Zuerst ist es bereits fraglich, ob die Betonung der eingriffsabwehrrechtlichen Dimension in der deutschen Grundrechtsdoktrin nicht überproportioniert ist. Diese Position baut auf einer liberalen Vorstellung der Grundrechte auf, welche sich im Zuge der Aufklärung und entgegen einer solchen von der untrennbaren Bindung des Individuums an die Gesellschaft im Sinne früher Naturrechtslehre und

I. Wandel der Gesellschaft und Dimensionen der Grundrechte

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Vertragstheorien entwickelte. Diese Position basierte ihrerseits auf der Vorstellung von einem autonomen Individuum, begann sich aber bereits im 19. Jahrhundert wieder zu wandeln, als die gesellschaftlichen Verflechtungen vor allem angesichts der Kriege immer mehr zu der Erkenntnis führten, dass der Einzelne auf die Gemeinschaft angewiesen ist1. Diese Entwicklung mündete schließlich im Sozialstaatsprinzip i.S.d. Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 S. 1 GG, welches einen Wandel vom liberalen zum sozialen Rechtsstaat auch in dogmatischer Hinsicht einleitete2. Daneben hat auch der Staat durch ein vielfältiges Netz an Einschränkungen seiner Handlungsmöglichkeiten seinen „Schrecken“ und seine „Bedrohlichkeit für den Bürger grundsätzlich verloren“3. Umso deutlicher wurden die Gefahren für Rechte und Freiheiten der Bürger im Rahmen der privaten Verhältnisse selbst. Diese Erkenntnis spiegelte sich im Aufkommen der Drittwirkungsproblematik wider. Der Wandel vom Staat als Grundrechtsfeind zum Staat als Grundrechtsgarant ist bis heute nicht endgültig vollzogen, findet aber, überwiegend unter dem Blickwinkel grundrechtlicher Schutzpflichten, immer mehr Anhänger4. In demselben Sinn ist die Wiederkehr5 der objektiven Dimension der Grundrechte zu verstehen, welche im Kern unumstritten ist. Eine isolierte Sicht auf die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte entspricht somit nicht den tatsächlichen Gegebenheiten. Die Grundrechte hatten nämlich von Anfang an (auch) die Funktion, das gesellschaftliche Leben zu ordnen, sie waren als „Ordnungsprinzipien“ gedacht6. Nicht anders ist auch die Vorstellung des Grundgesetzes. In diesem Zusammenhang geben insbesondere die Grundpflichten des Bürgers, auch wenn sie kein Pendant zu den Grundrechten darstellen, doch ebenfalls Aufschluss über diese Frage: „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten, souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum–Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und der Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten. Das ergibt sich insbesondere aus einer Gesamtsicht der Art. 1, 2, 12, 14, 15, 19 und 20“7. Freilich sind die Grundrechte in einem „gesellschaftsfreien“ Zustand nur schwerlich denkbar. Eine Wechselseitigkeit entsteht erst in einer Gesellschaft. Der Staat ist ein gesellschaftliches Phänomen. Auch oder gerade in einer repräsentativen Demokratie, vor allem aus dem Blickwinkel der Art. 20 Abs. 2 S. 1, der Präambel 1

Pieroth/Schlink, Rn. 95. Pieroth/Schlink, Rn. 96. 3 Böckenförde, Freiheitssicherung gegenüber gesellschaftlicher Macht, S. 69. 4 Ruffert, Vorrang der Verfassung, S. 155 m.w.N. 5 Diese Dimension ist die eigentlich ursprüngliche, s. dazu Böckenförde, Grundrechtsgeltung gegenüber Trägern gesellschaftlicher Macht?, S. 77, 78 ff. 6 Böckenförde, Grundrechtsgeltung gegenüber Trägern gesellschaftlicher Macht?, S. 77, 79. 7 BVerfGE 4, 7, 15 f.; vgl. auch BVerfGE 47, 327, 369; 50, 290, 353. 2

200

D. Schlussfolgerungen und Ausblick

und Art. 1 Abs. 2 GG, sollte er ebenfalls als Vertretung des deutschen Volkes verstanden werden. Die Grundrechte in ihrem vernunftrechtlichen Verständnis sind dagegen vorstaatliche Rechtsverhältnisse. Deshalb ist dem Bundesverfassungsgericht zuzustimmen, wenn es im „Lüth-Urteil“ feststellt, dass die Grundrechte auf die Rechtsverhältnisse der Bürger untereinander bzw. auf das Privatrecht einwirken8. Eine Beschränkung ihrer Wirkung auf das vertikale Staat-Bürger-Verhältnis wäre eine Beschneidung ihres Inhalts. Daneben ist die Prämisse der abwehrrechtlichen Funktion der Grundrechte unter einem anderen Blickwinkel auch für den deutschen Staatsaufbau fraglich. In einer demokratischen Gesellschaft ist ein solches Verständnis nämlich schlicht überholt. In einer funktionierenden rechtsstaatlichen Demokratie (also einer Staatsform, in welcher die staatliche Herrschaft vom Volk ausgeht und vom Volk oder seinen Repräsentanten ausgeübt wird) geht es nämlich (wieder einmal) darum, das Zusammenleben in der Gesellschaft zu regeln. Die abwehrrechtliche Dimension verliert hier zunehmend an Bedeutung, denn die Abgeordnetenimmunität reicht niemals an die Sonderstellung eines Alleinherrschers. Zudem würde sie eine „Abwehr gegen sich selbst“ und damit bis zu einem gewissen Grad einen Zirkelschluss bedeuten. Das Primat der abwehrrechtlichen Grundrechtsdimension muss deshalb abgelehnt werden.

II. Rechte und Güter Die Untersuchung des Deliktsrechts in seinen grundlegenden Strukturen in beiden Ländern hat aufgezeigt, dass es hier wie dort um den Schutz bestimmter Güter gegen Übergriffe Dritter geht. Um denselben Schutz, mit dem Unterschied in der Methode, geht es auch im Strafrecht. Beides ist ein Ausdruck der grundrechtlichen Schutzpflicht. Wichtiger noch als diese an sich triviale Feststellung ist jedoch die Tatsache, dass es um dieselben Güter geht. Das Leben bleibt tatsächlich ein Leben, egal von wem der Eingriff darauf ausgeht. Welcher Gerichtszweig sich dann mit der Sache beschäftigt, ist die Frage der gesetzlichen Ordnung, also des gesetzgeberischen Willens unter den gegebenen Umständen, und damit im weitesten Sinne eine des Zufalls. Bestimmte Güter werden in den beiden verglichenen Gesellschaften aber als so wichtig angesehen, dass deren Schutz allseitig sein muss. Hierzu wird dem Bürger ein subjektives Recht in die Hand gegeben. Zum Zweck ihres Schutzes entsteht also ein Rechtssystem. Zwar gibt es, zugegebenermaßen, Rechte als soziale Ordnungsformen nur im Staat. Gleichzeitig gibt es aber bereits im theoretischen vorstaatlichen Zustand eine gewisse Reihe an Rechtsgütern. Dies erkennt das Grundgesetz ganz deutlich am Beispiel des Rechts der Eltern auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder an. Dieses ist 8

BVerfGE 7, 198, 205.

II. Rechte und Güter

201

vielleicht neben dem Leben das „natürlichste“ Recht überhaupt, es wird den Eltern nicht vom Staat verliehen; der Staat erkennt es als vorgegeben an9. Hier muss die Genese der Grund- bzw. Menschenrechte erneut vor Augen geführt werden. Diese vollzieht sich nämlich vom Privaten aus. Damit ist (vereinfacht) Folgendes gemeint: In einer einfachen Gesellschaft, die sich aus einzelnen wenigen Individuen zusammenschließt, geht es darum, das gemeinsame Leben zu organisieren, gemeinsam zu überleben und Regelungen zu schaffen, die dieser Gesellschaft helfen, existenzielle Probleme zu bewältigen. Diese Regelungen sind, da sie Beziehungen der Personen untereinander gestalten, zunächst privatrechtlicher Art. Langsam kristallisiert sich ein Stammesoberhaupt heraus. Am Anfang ist dieses nur eine Autorität, für die keine anderen Regeln als für die sonstigen Gesellschaftsmitglieder gelten. Mit der Verfestigung dieses Modells bekommen die Oberhäupter (Monarchen, Führer etc.) jedoch immer mehr Macht und entfernen sich in ihrer Stellung immer weiter von den anderen Mitgliedern der Gesellschaft. In diesem Moment kommt das Bedürfnis des Einzelnen nach Schutz vor ihrer Willkür auf. Diesen Schutz suchte man in einem Normenwerk, welches die Rechte des Machtapparats in welcher autoritären Form auch immer beschränkt. So entstand die Idee der abwehrrechtlichen Funktion der Verfassung, welche in jenem Moment keine vorrangig privatrechtliche Funktion mehr hatte. Hier war die Trennung des Verfassungs- vom Privatrecht vollkommen angebracht. Ein einfacher Bürger besaß nie die Sonderstellung und Macht eines Monarchen. Obwohl eine Verfassung in ihrem staatsorganisatorischen Teil dem üblichen Privatrecht nur wenig ähnelt, behielten die Grundrechte zugleich aber weiterhin ihre objektive Dimension als jene „Ordnungsprinzipien“, und zwar nicht nur für die Handlungen des Staates, sondern auch für die seiner Bürger. Diese Betrachtung rechtfertigt sich auch aus der Vorstellung von den Grundrechten als überpositiven Rechtspositionen, welche beiden Verfassungen zugrunde liegt. Sie geht ihrerseits auf unterschiedliche Ausprägungen des Natur- und Vernunftrechts zurück. Die jeweiligen Vertreter dieser Strömungen erkannten unterschiedliche Rechte als angeboren und damit im vorstaatlichen Zustand geltend an: Für Samuel Pufendorf waren die natürlichen Rechte die Würde, das Eigentum und das Leben, für John Locke hingegen „life, liberty, and estate“, und für Kant schließlich war es die Freiheit10. Auch die amerikanische Unabhängigkeitserklärung spricht von „life, liberty and the pursuit of happiness“. Die französische Tradition weicht davon nicht ab. Betrachtet man diese Entwicklung aus der beschriebenen Sicht, so werden die dem Menschen in einer Gesellschaft immanenten Güter durch das System des Rechts geschützt. Sowohl vor Übergriffen von Seiten des Staates als auch der Bürger. Ändern kann sich das Recht, je nach der Regulierungsmethode des jeweiligen Rechtsgebiets, nicht jedoch sein Schutzzweck und seine Berechtigung: das 9 10

BVerfGE 59, 360, 376. s. dazu m.w.N. Stern, Handbuch der Grundrechte I, § 1, Rn. 10 f.

202

D. Schlussfolgerungen und Ausblick

Rechtsgut. Mit dem Aufbau des Staates kommen diese unveräußerlichen Rechtsgüter in unterschiedlichen Bereichen des Rechts in unterschiedlicher Form zum Ausdruck, sodass die Grundrechte und die privatrechtlichen Rechte auf dieselbe Wurzel zurückkommen. Zu bedenken ist hier erneut die Beliebigkeit von Regelungsmöglichkeiten in Bezug auf diese Rechte: Die meisten von ihnen können sowohl öffentlich-rechtlich als auch privatrechtlich geregelt werden11, erneut gilt es aber festzustellen, dass die Gegenstände ihrer Regelung, die Rechtsgüter, gleich bleiben. Letztlich handelt es sich, nichtjuristisch ausgedrückt, um die grundlegenden Werte eines menschlichen Lebens, die in einer Gesellschaft vor einem kulturellen Hintergrund wie dem Deutschlands oder Russlands für ein friedliches Zusammenleben zwingend beachtet werden müssen. Für diese Sicht der Dinge in Deutschland spricht ganz zentral Art. 1 Art. 2 GG, welcher die (unveräußerlichen) Menschenrechte als Grundlage jeder Gemeinschaft anerkennt. Das Grundgesetz spricht dabei nicht von einer „Staatsgrundlage“, sondern gerade von der Grundlage der Gemeinschaft als Gesellschaft. Der Begriff „unveräußerlich“ weist dabei wiederum auf die Überpositivität der Menschenrechte hin. Gab es die Grundrechte (Menschenrechte oder besser: Rechtsgüter) schon bevor der Staat entstanden war, und waren sie schon damals unveräußerlich, so bleibt aus diesem Standpunkt heraus unklar, warum ihr Gehalt mit der Etablierung des Staates nur auf das vertikale Verhältnis zwischen Staat und Bürger beschränkt wird. Was hat der Staat an sich, dass es diese Grundwerte, welche er zu schützen berufen ist, qualitativ verändert? Diese Vorstellung bedeutet letztlich eine Einschränkung dieser Grund-/Menschenrechte bzw. des zu schützenden Bereichs dieser Güter. Nun könnte man aus der deutschen Sicht der Dinge argumentieren, die Grundrechte wären nicht eingeschränkt, da sie im Bereich des Privatrechts eine objektive Wirkung als Werteordnung entfalten. Dieses Argument setzt jedoch voraus, dass dieses Konstrukt der Wirksamkeit von Schutzmöglichkeiten nicht im Wege steht. Dies erscheint jedoch aufgrund mangelnder Möglichkeit der Geltendmachung äußerst fraglich.

III. Schutzpflichten des Staates Dies gilt auch, wenn man diesen Gedanken von der Seite staatlicher Schutzpflichten her aufgreift. Letztere sind in diesem historischen Verständnis, welchem die Vorstellung eines Gesellschaftsvertrages im weitesten Sinne zugrunde liegt, als Funktion der Sicherung von Rechten der Bürger vorausgesetzt und legitimieren den Staat ausschließlich12. Daraus folgt in logischer Schlussfolgerung eine staatliche Pflicht zum Schutz vor Übergriffen Dritter13.

11 12 13

@_[a_Sb[YZ, ?b^_S^lV `a_R\V]l TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, S. 44 ff. Ruffert, Vorrang der Verfassung, S. 156. Dreier, in: ders., GG, Vorb., Rn. 101.

III. Schutzpflichten des Staates

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Aus der Sicht der deutschen Rechtsdogmatik bestehen die grundrechtlichen Schutzpositionen nur im Verhältnis zum Staat, sie begründen dagegen erst einmal keine Pflicht anderer Bürger, die Übergriffe auf private Rechtsgüter zu unterlassen (dies geschieht erst durch einfachgesetzliche Normen, zu deren Erlass der Gesetzgeber wiederum kraft seiner Legitimation und der grundrechtlichen Schutzpflicht verpflichtet ist). Im Verhältnis zwischen den Bürgern werden dagegen die privaten Rechte bzw. Rechtsgüter, wie z. B. Leben und körperliche Unversehrtheit, verletzt. Nach dieser Vorstellung verletzt jedoch nicht etwa der private Atomkraftwerksbetreiber die Grundrechte der Bürger, wenn diese gesundheitsschädlichen Einwirkungen ausgesetzt werden, sondern erst der Staat, wenn er seiner bestehenden Schutzpflicht nicht nachkommt. Und hierin liegt der Widerspruch: Bereits aus der sprachlichen Formulierung folgt, dass die Schutzpflichten den Schutz vor Übergriffen Dritter meinen (der Schutz vor rechtswidrigem staatlichem Handeln wird dagegen von der eingriffsabwehrrechtlichen Position erfasst), was zugleich bedeutet, dass diese Dritten die Grundrechte aber auch verletzen können müssen. Warum sonst muss der Staat Strafvorschriften schaffen, obwohl doch Private keine Grundrechte verletzen können? Warum löst das Verhalten Privater, welches angeblich nichts mit den Grundrechten zu tun hat, dann doch auf einmal grundrechtliche Schutzpflichten aus? Haben die privatrechtlichen Ansprüche des Bürgers gegen den Betreiber eines Kernkraftwerks nicht denselben Kern und dieselbe Berechtigung, also die Verletzung von Leben und Gesundheit, wie die gegen den Staat? Diese Letzteren bedeuten nämlich drohende oder stattgefundene Grundrechtsverletzung. Sie liegen aber nicht im Handeln der Privaten, sondern in dem des Staates. Das einzig mögliche Durchbrechen dieses Zirkels liegt in der Gleichstellung von staatlichem Unterlassen und Verletzung. Betrachtet man aber die Situationen, in welchen der Staat präventiv ausreichend tätig geworden ist, so tritt in aller Deutlichkeit zur Tage, dass eine solche Gleichstellung logisch schlich ungenügend ist. Die theoretische Problematik solcher Konstruktionen liegt ebenfalls in der Ablehnung der Bindung Privater an die Grundrechte. In Russland stellen sich diese Fragen dagegen nicht. Aufgrund der Bindung der Privaten an die Grundrechte besteht kein logisches Problem in der Anerkennung der Möglichkeit ihrer Verletzung durch Dritte. Der Staat muss diesen gemäß Art. 2 KRF vorbeugen und repressiv tätig werden. Aber auch in Deutschland lässt sich gegen das eingangs dargestellte Verständnis Art. 1 Abs. 1 GG anführen. Danach ist die Menschenwürde der höchste aller Werte, vor welche sich der Staat schützend zu stellen hat. Niemand darf sie verletzen. Folgt man aber konsequent der dargestellten Position, so wäre dieser Satz im Privatrecht bzw. unter Privaten wirkungslos. Damit würde diese Theorie, zu Ende gedacht, zumindest in Bezug auf die Würde des Menschen, diesem seinen Wert entziehen.

204

D. Schlussfolgerungen und Ausblick

IV. Ergebnis Man darf nicht unterschätzen, wie sehr eine Gemeinschaft, ihre Strukturen und Ordnung durch kulturelle und historische Prägung beeinflusst werden. Die Verfassung eines sich als demokratisch verstehenden Rechtsstaates stellt seine vor dem historischen Hintergrund kulturelle Selbstwahrnehmung bzw. sein Identitätsspiegelbild dar. Sie ist stets eine Vorstellung vom Zusammenleben im jeweiligen Staat. Es ist deswegen folgerichtig, ihr allumfassende bindende Kraft zuzusprechen. Geschieht dies nicht oder nur teilweise, so bedarf es in einem entwickelten Rechtsstaat einer unzweideutigen Entscheidung des Verfassungsgebers, dass z. B. das Privatrecht in seiner Entwicklung seinerseits nur teilweise von der Verfassung bzw. den Grundrechten bestimmt wird. Das Privatrecht als solches hingegen kann darüber keine der Verfassung widersprechende Aussage treffen. Die strikte Trennung zwischen den Grundrechten und dem Privatrecht in der deutschen Dogmatik hat ihre Wurzel in der historischen Entwicklung des BGB neben dem sich ändernden Verfassungsrecht, sollte aber mittlerweile grundlegend überdacht werden. Das russische Recht hat dagegen den Vorteil genossen, sowohl die Verfassung als auch das Privatrecht gleichzeitig neu konzipieren zu können. Das brachte ihm die Möglichkeit, das gesamte Rechtssystem als Einheit mit strikter Hierarchie zu entwerfen. Ebenso fußen die Unterschiede in der Wahrnehmung der Grundrechtsdimensionen in dem historisch bedingten Verständnis der Rolle der Verfassung in Gesellschaft und Staat. Dabei werden die Rollen der Subjekte (Bürger-Staat-Gesellschaft) als unterschiedlich verteilt verstanden. Nach dem deutschen Verfassungsverständnis ist die Person als solche dem Staat gegenübergestellt und die Rolle der Gesellschaft eine im Vergleich zur russischen Verfassung untergeordnete, sodass es vorrangig tatsächlich um das vertikale Verhältnis zwischen Bürger und Staat geht. Im Gegensatz dazu sehen die russische Rechtsdoktrin und die Verfassung diese drei Elemente als ein Gesamtgefüge und den Staat als ein gesellschaftliches Organ zur Gewährleistung wohlfunktionierenden Zusammenlebens, sodass ein flaches (horizontales) Netz an Rechtsverhältnissen entsteht. Aus dieser Vorstellung heraus regeln die Normen des Privatrechts die Wahrnehmung von Verfassungsrechten und stehen im allgemeinen System verfassungsrechtlicher Regulierung14. Die Verfassung der Russischen Föderation hat so die Funktion einer Basis-Rechtsnorm, aufgrund welcher die speziellen Rechtsnormen entwickelt werden. Zu demselben Ergebnis kommt aber auch das deutsche Bundesverfassungsgericht, wenn es von der „objektiven Werteordnung“ spricht. Es werden letztlich identische Ergebnisse in den jeweiligen Fällen erreicht, ohne den direkten Einfluss der Grundrechte auf die deutsche Privatrechtsordnung anzuerkennen. Unter Anerkennung gewisser Güter als die im Staat bzw. der Gesellschaft zu schützenden hohen Werte und unter Anerkennung der Verfassung als Rechtsnorm mit höchster Geltungskraft für alle Rechtsgebiete und mit einem Katalog an 14

?`aVUV\V^YV ;B AE _c 04. 12. 2003 N 508-?, 3Vbc^Y[ ;B AE 2004/3, Ziff. 3.

V. Ausblick

205

Grundrechten, welcher genau diesen Werten und Gütern gewidmet ist, zeigt der Vergleich beider Rechtssysteme, dass die Frage nach der Geltung der Grundrechte als Grundlagen des Rechtssystems sich stets stellen wird. Bei Gesetzeslücken und anderen Zweifelsfällen wird man stets dazu kommen, die Grundrechte entweder direkt anzuwenden oder, lehnt man die Bindung der Bürger daran ab, kunstvolle Versuche zu unternehmen, ihnen im einfachen Recht auf anderem Wege zur Geltung zu verhelfen. Diese Letzteren braucht die deutsche Rechtslehre jedoch eigentlich nicht zu unternehmen. Das Grundgesetz erlaubt bereits unter Einbeziehung der Grundrechtsbindung des Privatrechtsgesetzgebers und des Richters gemäß Art. 1 Abs. 3 GG die Anwendung der Grundrechte im Privatrecht15. Daneben sind auch andere Konstrukte denkbar, die sich sogar zur Begründung der Bindung von Bürgern an die Grundrechte eignen würden16. Neuner hat Recht, wenn er sagt: „Es kommt im Ergebnis offenkundig nicht darauf an, von wem der Stiefel im Gesicht des Geschundenen stammt“17, denn es ist ein überragend wichtiges Gut verletzt, und nur darauf kommt es an. Der Staat schöpft seine Berechtigung aus dem Bedürfnis nach dem Schutz dieser Güter, welche sich in der Gesellschaft bereits entwickelt haben und welche er vorfindet. Von wem die Verletzungsgefahr ausgeht ist gleichgültig und ändert schon gar nichts an der Natur dieser Güter. Eine Trennung zwischen der Verfassung und dem Zivilrecht ist deshalb weder richtig noch notwendig. Eine solche Vorstellung ist vielmehr Folge eines geschichtlich und systematisch fragmentarischen Denkens. Auch in Deutschland gilt für den Gesetzgeber als oberste Pflicht und zugleich als seine Legitimation, die widerstreitenden Interessen der Bürger auszugleichen, was durch Regelungen aller Bereiche des Rechts geschehen soll18.

V. Ausblick Die gesellschaftliche Entwicklung kann die Verfassung eines Staates in unterschiedliche Richtungen führen. Diesen Entwicklungen können oft die einfachen Auslegungsmethoden sowie Verfassungsänderungen gerecht werden. Wenn sich dagegen das Gleichgewicht der Werte verändert, muss sich auch die Verfassung selbst ändern, anderenfalls bliebe sie mangels entsprechenden Gewährleistungswillen der Gesellschaft gegenstandslos. Den historischen Beweis dazu lieferten die Verfassungen der RSFSR, die sich dem Wandel der Gesellschaft ab einem bestimmten Moment nicht mehr anpassen konnten und damit die eigene Berechtigung aufgeben mussten.

15 16 17 18

Hager, JZ 1994, 373, 377. s. o. C., I., 5., b). Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 153. Hager, JZ 1994, 373, 375; Ruffert, Vorrang der Verfassung, S. 155 ff.

206

D. Schlussfolgerungen und Ausblick

Etwas anderes gilt für den Fall, wenn die verfassungsrechtlichen Werte erst um ihre Etablierung in der Gesellschaft kämpfen müssen. Sie sind nicht gegenstandslos – sie sind ein Programm. Darauf darf sich die Wirkung der Verfassung im Stadium ihrer Etablierung aber nicht beschränken. Es muss von Anfang an darum gekämpft werden, dieses Programm u. a. mittels subjektiver Rechtspositionen zu erfüllen. Diese Entwicklung zieht sich wie ein roter Faden durch die Dynamik sowohl des Grundgesetzes als auch der Verfassung der Russischen Föderation. Die Grundrechte und ihre Dogmatik werden umfangreicher und bestimmter. Die früher weniger wichtigen Rechtspositionen werden bedeutender. Neue Rechtsinstitute entstehen. Dies alles soll aber nicht entgegen, sondern vielmehr aufgrund bzw. zugunsten verfassungsrechtlicher Werte geschehen, sodass auch neuere Entwicklungen den anfänglichen Grundlagen immer wieder zur Geltung verhelfen sollen. Darin liegt ihre einzige Bestimmung. Pokrovskij bemerkte einst, dass es, je tiefer man bei der Untersuchung rechtlicher Probleme vordringt, umso deutlicher wird, dass ihr Grund in nichts anderem als in dem weiten Auseinanderfallen philosophischer Hintergründe sowie den ethischen Voraussetzungen für ihre Lösung liegt19. „Die sichtbaren Strömungen der Jurisprudenz stellen sich lediglich als Fortsetzung anderer, unsichtbarer Strömungen dar, die sich tief in unseren ethischen Überzeugungen und Veranlagungen verbergen. Und die wichtigste Rolle spielt in diesem Verhältnis die Antinomie, welche Lask und Radbruch als Gegensätzlichkeit von Personalismus und Transpersonalismus bezeichnet haben20“. Auch die vorliegende Untersuchung stößt auf dieses grundlegende Problem des Rechtsverständnisses. Natürlich kann eine Arbeit in dem vorgegebenen Umfang und vor dem Hintergrund ihres vorrangigen Ziels einer Rechtsvergleichung keine fundamentalen Probleme rechtsphilosophischer Art lösen, um damit zur Lösung des schon fast als ewig anmutenden Problems der „Drittwirkung“ der Grundrechte im deutschen Recht beizutragen oder für das russische Recht zu begründen. Diese Arbeit zeigt jedoch durch den Vergleich auf, wie allein das verfassungsrechtliche Grundverständnis und der Blickwinkel auf die Funktion des Staates die Sicht auf diese Problematik ändern kann und, nicht weniger wichtig, dass auch die deutsche Verfassung dieser Sicht bei näherer Betrachtung nicht grundsätzlich ablehnend gegenübersteht. Bei Licht betrachtet lebt Deutschland die Idealvorstellung der russischen Verfassung, während Russland selbst gut daran täte, nach einer allseitigen Auseinandersetzung und Aufarbeitung der sowjetischen Vergangenheit die Grundrechte in erster Linie als Eingriffsabwehrrechte zu betrachten und sich um einen unantastbaren Freiheitsbereich ihrer Bürger zu bemühen. Dies ist eine unerlässliche Voraussetzung, um den gegenwärtigen, sich immer mehr zuspitzenden Kampf um Demokratie zu gewinnen. Denn zum Teil wohnt dem russischen Volk leider immer noch die Vor19

@_[a_Sb[YZ, ?b^_S^lV `a_R\V]l TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ, S. 80. Ebenda. Dazu zitiert Pokrovskij Lask, Rechtsphilisophie, in: FS Kuno Fischer, Bd. II, S. 13 f. sowie Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie, S, 89 f., 97 f. 20

V. Ausblick

207

stellung inne, ihre Herrscher seien die „Herrscher von Gottes Gnaden“. In einer von der russischen Verfassung gedachten Gesellschaft muss aber jeder Verantwortung für sich und die Gemeinschaft übernehmen. Um das zu lernen müssen den Bürgern vom Staat aber zugleich mehr geschützte Freiräume zur Verfügung gestellt werden, in welchen sie sich nicht nur selbstständig entfalten können, sondern auch müssen. Ganz allgemein kann deshalb der Schluss gezogen werden, dass sich, unter bestimmten Rahmenbedingungen (wie nach dem Sturz einer Diktatur), der Staat vorrangig gerade um die individuellen Freiheiten in einem funktionierenden Rechtsstaat bemühen sollte. Dies ist die zentrale Voraussetzung für die Entwicklung des Selbstverständnisses eines Volkes als Gesellschaft. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang jenseits der theoretischen Forschung, dass das vertikale Modell Deutschlands den Bürgern schließlich mehr Freiheit und Frieden brachte. Es ist erstaunlich, dass sich das deutsche Volk bedeutend mehr mit seinem Staat als politischem System identifiziert und ein jeder sich als Teil der deutschen Gesellschaft begreift. Deutsche Bürger leben letztlich das russische Modell. Die russischen Bürger leben das deutsche. Womit das zusammenhängt – diese Frage soll hier nur aufgeworfen werden. „Die Verankerung der Grundrechte in der Verfassung macht den Menschen per se nicht freier, wie auch ein Kochbuch einen nicht satter machen würde21“ schreibt pointiert Tschetvernin. Russland hat noch einen sehr langen Weg vor sich, um die verfassungsrechtlichen Vorsätze zu erfüllen. Die Länge dieses Weges ist durch viele Umstände bedingt, die nicht immer begünstigend sind. Die kommunistische Vergangenheit ist ein Ballast, der zwar positive Momente im sozialen Bereich ausmacht, jedoch den Weg zu Freiheit und Grundrechten der Bürger erschwert. Insofern brachte das individualistische Bild der verfassungsrechtlichen Stellung des Menschen den europäischen Bürgern zumindest in den letzten 60 Jahren mehr als das kollektive. Möglicherweise auch deswegen, weil die Grundwerte, um die es hier geht, in einem kollektiven Rechtsverständnis eher in Gefahr laufen, in dem Gemenge aus wechselseitigen Rechten und Pflichten unterzugehen. Der Einzelne steht trotz des verfassungsrechtlichen Auftrags nicht mehr zentral und alleine im Fokus des Rechts.

21 HVcSVa^Y^, A_bbYZb[Qp [_^bcYcdgY_^^Qp [_^gV`gYp `aQS_`_^Y]Q^Yp, ;_^bcYcdgY_^^_V `aQS_: 3_bc_h^_VSa_`VZb[_V _R_XaV^YV 2003, S. 28, 31.

E. Zusammenfassung Der Begriff der „Drittwirkung von Grundrechten“ umschreibt in der deutschen Rechtstheorie die Frage nach der Bindung der Bürger an die Grundrechte. Nach ganz herrschender Ansicht in der Literatur und insbesondere im Hinblick auf Art. 1 Abs. 3 GG wirken die Grundrechte vorrangig im vertikalen Verhältnis zwischen Bürger und Staat. Die andere Privatperson wird hier zu einem „Dritten“, weil sie zu diesem Verhältnis quasi „hinzutritt“. Aufgrund dieser Annahme transformiert sich die Problematik der Grundrechtsbindung der Bürger in die Frage nach der Möglichkeit und Art der Wirkung der Grundrechte auf das Privatrecht, was jedoch lediglich den Blickwinkel, nicht dagegen den Inhalt dieser Problematik verändert. Dies bedeutet zugleich, dass der Begriff der „Drittwirkung“ als solcher abgelehnt werden muss: Geht man davon aus, dass die Grundrechte die Privaten binden, so sind diese keine „Dritten“, sondern untereinander und neben dem Staat grundrechtsverpflichtet bzw. untereinander und gegenüber dem Staat grundrechtsberechtigt. Lehnt man dagegen eine Grundrechtsbindung der Bürger ab, so könnte der Begriff der „Drittwirkung“ zwar weiterhin verwendet werden, der Zusatz „mittelbar“ würde jedoch eine Tautologie darstellen; die Verwendung dieses Begriffs ohne diesen Zusatz würde aber wiederum zu Verwirrung führen. Der Begriff der „Drittwirkung“ soll durch den Begriff der „horizontalen“, schlicht der Wirkung „der Grundrechte unter Privaten“ oder auch, für den Fall der Annahme einer Grundrechtsbindung der Bürger, durch den Ausdruck der „absoluten Wirkung der Grundrechte“1 ersetzt werden2. Die Fragen nach der Bindung der Staatsgewalten an die Grundrechte und die des Prüfungsumfangs des Verfassungsgerichts hängen zwar mit der Frage der Grundrechtsbindung der Bürger unmittelbar zusammen, sind aber zunächst keine immanenten Bestandteile davon. Aus diesem Grund kann auch die Differenzierung bei den einzelnen Fällen jeweils nach der grundrechtlichen Schutzpflicht des Staates und der abwehrrechtlichen Position eines Bürgers als Grundlage staatlicher Handlungspflicht im Dreiecksverhältnis keine einheitliche und eindeutige Antwort bringen. Eine solche einseitige Betrachtung stellt die grundrechtlichen Positionen nur unzulänglich dar und verfälscht ihre umfassende Natur. Vielmehr ist im Ausgangspunkt eine grundlegende Betrachtung aus der Sicht der jeweiligen Verfassung auf die Gesellschaft geboten. Diese muss dabei stets vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung vorgenommen werden. Nur dies ermöglicht es dem Interessenten, die Intention des Verfassungsgesetzgebers nachzuvollziehen und die anfänglichen Ziele und so das Gesamtbild verfassungsrechtlicher Werte nachzuempfinden. 1 2

So bereits Nipperdey, Grundrechte und Privatrecht, FS Molitor, S. 17, 24. B., II.

E. Zusammenfassung

209

Die historischen Wurzeln des Grundrechtsverständnisses des Grundgesetzes und der Verfassung der Russischen Föderation könnten innerhalb des christlich-abendländischen Kulturgebiets kaum unterschiedlicher sein. Die deutsche Grundrechtsidee schöpft sich aus den philosophischen Lehren der Antike und nahm während der Zeit der Aufklärung immer konkretere Formen an. Seit spätestens dem 19. Jahrhundert kämpfte sie um ihre verfassungsrechtliche Geltung. Die Paulskirchenverfassung und die Verfassung der Weimarer Republik waren ein Anfang, aus deren Fehlern die freiheitlich-demokratische Ordnung gelernt hat. Im Zuge dieser Entwicklung entstand eine grundrechtliche Tradition, für welche es angesichts bestehender politischer Systeme galt, die Befugnisse des Staates im Bezug auf die Eingriffe in die grundrechtlichen Schutzbereiche einzuschränken. Der Staatsaufbau war, bis auf den der Weimarer Republik, autoritärer Natur. Die Vorstellung von Menschen und Staat wandelte sich zwar, doch wurde der Staat sowohl in der Scholastik als auch in den Lehren der Aufklärung stets als Notwendigkeit, als Leviathan begriffen. Der Mensch wurde so teils als mit wenigen Rechten ausgestatteter Untertan, später im Zuge der Liberalisierung teils als eine einsame Figur begriffen, welche der Staatsmacht gegenüber verpflichtet und berechtigt war. Dieses Spannungsverhältnis löste sich durch das Grundgesetz zugunsten des Menschen als höchstem Schutzzweck des Staates auf. Auf der Strecke blieb bei dieser Vorstellung aber zunächst die Betrachtung der Gesellschaft und des Staates als einer funktionellen Einheit3. Die heutige russische Grundrechtsvorstellung wurzelt zwar ebenfalls in den benannten europäischen Lehren, doch erfuhr sie auch andere Einflüsse. Zum einen ist hier nur zu erwähnen, dass die Scholastik als philosophische Strömung in Russland aufgrund unterschiedlicher Religionen nicht zu vergleichbarer Blüte kommen konnte. Zum anderen stand Russland aufgrund seiner geographischen Lage und Größe schon immer abseits Europas. Schließlich und ganz zentral wurde die gerade erst aufkommende Liberalisierung und Aufklärung, welche ziemlich spät im Russischen Reich ankamen, durch den Kommunismus vernichtet, der schließlich die Gleichstellung aller Mitglieder der Gesellschaft unter Aufgabe ihrer persönlichen Identität anstrebte. An ihre Stelle traten kollektivistische Vorstellungen und Diktatur. Auf deren bis heute nicht aufgearbeiteten Trümmern entstanden der heutige Staat, seine Verfassung und sein gesamtes Rechtssystem. So ist es wenig überraschend, dass die russische Verfassung und das russische Privatrecht aus deutscher Sicht noch starke Züge autoritärer und kollektiver Staatlichkeit tragen. Dies zeigt sich z. B. an der Betonung der Schutzdimension gegenüber der Abwehrdimension der Grundrechte im Verfassungsrecht4 oder an der verstärkten Regelung von Rechtsinstituten wie dem Kontrahierungszwang im Privatrecht5.

3 s. zur Vereinigung beider Ideen von Leviathan und Hive: Kersten, Leviathan und Hive, RW 2012, 249. 4 C., I., 2., b), aa), (2). 5 C., II., 2., d), dd), (3), (c).

210

E. Zusammenfassung

In der Verfassung der Russischen Föderation spiegeln sich im Gegensatz zum Grundgesetz und seiner individualistischen Ausrichtung die Vorstellungen eines kollektiven Zusammenlebens in der russischen Gesellschaft wider. Der Mensch soll nicht mehr als nur ein Teil eines Ganzen begriffen werden, welchem zu dienen der oberste Wert ist; vielmehr ist er als ein Wert an sich zugleich ein unabdingbarer Teil davon. Das soziale Element spielt, bedingt durch die langjährige kommunistische Vergangenheit, eine zentrale Rolle im russischen Verfassungsverständnis. Der Stellenwert, das Verständnis von Gesellschaft und Staat sind verglichen zu der in Deutschland vorherrschenden Vorstellung deshalb verschieden. Die Gesellschaft wird in Russland als das tragende Element des Staates bzw. als seine natürliche Grundlage und Voraussetzung verstanden. Der Staat ist seinerseits dazu da, das Zusammenleben in der Gesellschaft zu ordnen und zu verbessern. Dies ist sein einziges Ziel und seine einzige Berechtigung. Es ist zugleich die Grenze seines Handelns. Unter diesen Prämissen entstand ein zum deutschen anderes Eigenverständnis der Verfassung. Die kommunistische Vergangenheit hinterließ in der neuen Konstitution ihre unverkennbare Spur. Während das Grundgesetz vorrangig als fester Rahmen staatlichen Handelns gesehen wird, versteht sich die russische Verfassung als eine Ordnung der russischen Gemeinschaft. Die Verfassung sieht sich selbst als die in Rechtsnormen gefasste, vom russischen Volk gegebene Ordnung der Gesellschaft und verfolgt damit mehrere Ziele: Sie legt die Grundwerte der Gesellschaft, ihre Entwicklungsrichtlinien sowie den Aufbau des öffentlichen Machtapparats fest. In diesem Verständnis gibt es aber zugleich keinen Platz für die Wechselseitigkeit von Rechten und Pflichten: Aus dem Blickwinkel des verfassungsrechtlichen Verständnisses „gibt“ der Mensch einen Teil seiner angeborenen Rechte insofern „auf“, als dass der Staat das Recht, ja gar die Pflicht auferlegt bekommt, sie in diesem Rahmen gerade zu ihrem eigenen Schutz, der Grundrechte einzugrenzen6. Daraus folgt die Pflicht des Bürgers, die vom Staat aufgestellten Pflichten als Schranken seiner Grundrechte anzuerkennen und zu befolgen. Aus der Schutzpflicht des Staates resultiert damit, vereinfacht gesagt, die Pflicht des Bürgers, die vom Staat aufgestellten Verhaltensregeln in Form von Gesetzen zu befolgen7. Die Legitimation staatlicher Gewalt liegt ausschließlich in ihrer Gewährleistung. Nur zu diesem Zweck darf der Staat dem Menschen etwaige Pflichten auferlegen. Die so ausführliche Regelung der Pflichten in der KRF darf deshalb nicht über ihren Stellenwert hinwegtäuschen. Das verfassungsrechtliche Instrument der Pflichten kann nur vom Staat zur Erfüllung eigener Aufgaben genutzt werden8. Die meisten als Pflichten gefassten Gebote sind deshalb gar keine Pflichten, sondern vielmehr verfassungsunmittelbare Schranken der Grundrechte zugunsten eines Interessen6

HVcSVa^Y^, A_bbYZb[Qp [_^bcYcdgY_^^Qp [_^gV`gYp `aQS_`_^Y]Q^Yp, ;_^bcYcdgY_^^_V `aQS_: 3_bc_h^_VSa_`VZb[_V _R_XaV^YV 2003, S. 28, 33. 7 C., I., 2., b), gg), (2). 8 8_am[Y^, S: 8_am[Y^ (aVU.), ;_]]V^cQaYZ [ ;_^bcYcdgYY A_bbYZb[_Z EVUVaQgYY, ;_^bcYcdgYp 1993 T_UQ — `aQS_SQp \VTYcY]QgYp ^_S_Z A_bbYY, S. 11.

E. Zusammenfassung

211

ausgleichs unter den Mitgliedern der russischen Gesellschaft9. Ein solches Verständnis vom Staatsaufbau kann im Gegensatz zu dem entsprechenden Verständnis in Deutschland, wo das Individuum dem Staat gegenübergestellt wird und welches man daher als „vertikal“ bezeichnen könnte, als ein „flaches“ verstanden werden. In der deutschen Verfassungsdogmatik spielen die Grundpflichten nur eine merkantile Rolle, obgleich ihre Existenz darauf hindeutet, dass auch das Grundgesetz (insbesondere unter Annahme seiner ausschließlich vertikalen Wirkung) eine Vorstellung von der wechselseitigen Beziehung zwischen Bürgern und Staat hat10. In diesem „flachen“ Aufbau, in dem der Staat die Rolle eines „Geschäftsführers“ übernimmt, welcher zur Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der Gesellschaft im Rahmen und nach den Richtlinien der Verfassung berufen ist, verbleibt der abwehrrechtlichen Funktion im Gegensatz zum deutschen Verfassungsverständnis nur eine untergeordnete Bedeutung. Damit kehrt sich das Verfassungsverständnis im Vergleich zu dem in Deutschland um. Während die Grundrechte in Deutschland vorrangig als Abwehrrechte gegen den Staat verstanden werden, legen sie demgegenüber in Russland dem Staat in erster Linie Schutzpflichten auf. Mit der Vorstellung des Art. 2 S. 2 KRF und aus dem Blickwinkel des beschriebenen Verfassungsverständnisses rücken die staatlichen Schutzpflichten in den Vordergrund öffentlicher Aufgaben. Sie ergeben sich aus der Verfassung selbst und sind vom Staat vorrangig zu erfüllen. Dabei müssen die Grundrechte nicht nur vor Verletzungen durch den Staat11, sondern auch vor rechtswidrigen Übergriffen anderer Menschen geschützt werden, was sowohl präventiv durch entsprechende Normgebung passieren als auch repressiv sanktioniert werden soll. Die grundrechtlichen Schutzpflichten haben in Deutschland dagegen eine andere Bedeutung und einen anderen Stellenwert. Nachdem der Bürger nur gegenüber dem Staat Grundrechte geltend machen kann, kann auch nur dieser sie verletzen. Deshalb spielen die grundrechtlichen Schutzpflichten auch nur eine zweitrangige Rolle in der Grundrechtsdogmatik. Diese wird vom Staat nur durch Unterlassen der durch Verhalten Dritter oder äußere Umstände gebotenen Handlung verletzt. Nur dies bedeutet eine Grundrechtsverletzung, nicht dagegen etwa die Handlung des Privaten, welche die Rechtsposition des Bürgers verletzt. Gleichwohl wird daran, dass es um ein und dieselben verletzen Rechtsgüter geht, welche dann jeweils von privat- oder verfassungsrechtlicher Seite beurteilt werden, deutlich, dass diese Vorstellung in sich nicht stimmig ist. Ob Leben, Gesundheit, Eigentum oder anderes Rechtsgut mit Verfassungsrang, so ändert es inhaltlich nichts, ob ein Staatsbediensteter oder ein privater Dritter den Betroffenen, tötet, schlägt oder sein Haus willkürlich besetzt. Das Ziel der jeweiligen Handlung liegt außerhalb des Rechtsguts als rechtlicher Figur. Es stellt vielmehr die Eigenschaft der verletzenden Handlung dar und kann deshalb das von dem Grundrecht geschützte Rechtsgut nicht beeinflussen. 9

C., I., 2., b), gg), (2). C., I., 2., b), gg), (4). 11 @_bcQ^_S\V^YV ;B AE _c 01. 12. 1997 N 18-@, B8 AE 15. 12. 1997/50/5711, Ziff. 1. 10

212

E. Zusammenfassung

Ausgehend von dieser Vorstellung der Verfassung der Russischen Föderation als Gemeinschaftsordnung erscheint die Bindung der Bürger an die Verfassung und somit auch die Grundrechte neben der der Staatsgewalten als einzig logische Folge. Zugleich ergibt sich aus ihrer Rechtsstellung und Funktion, dass für die „Geschäftsführer“ andere Handlungs- bzw. Bindungsrahmen als für die „Gesellschafter“ gelten müssen. Die Erklärungsansätze der Wirkung der Grundrechte auf das Zivilrecht knüpfen in der deutschen Rechtslehre unter anderem an die Bindung der Staatsgewalten an die Grundrechte an. Neben dem Verständnis von grundrechtlichen Schutzpflichten bildet – der Rechtslage in Deutschland ähnlich – auch in Russland die Bindung der Staatsgewalten an die Verfassung und die Grundrechte ein Indiz für die Geltung der Grundrechte im russischen Privatrecht. Daneben proklamiert die Verfassung der Russischen Föderation in Art. 15 Abs. 1 S. 1 KRF ihre direkte Wirkung. Die Grundrechte wirken dabei gemäß Art. 18 S. 1 KRF unmittelbar. Damit wird an die Geltungskraft verfassungsrechtlicher Bestimmungen von unterschiedlichen Seiten herangegangen. Die „direkte“ Wirkung der Verfassung i.S.d. Art. 15 Abs. 1 S. 1 KRF stellt eine allgemeine Umschreibung der verfassungsrechtlichen Geltungskraft und der Tatsache dar, dass sie auf der einen Seite zu ihrer Geltung keiner konkretisierenden Rechtsnorm bedarf, und ihre Geltungskraft auf der anderen auch im Fall der Existenz solcher Normen nicht verliert12. Die unmittelbare Wirkung der Grundrechte kann dagegen als Unterfall der direkten Wirkung der Verfassung verstanden werden. Sie umschreibt die Geltung der Grundrechte und die Notwendigkeit ihrer Beachtung, unabhängig von der Existenz einer konkretisierenden Rechtsnorm13. Durch die unmittelbare Grundrechtsgeltung wird der Person ein subjektives Recht auf die Grundrechtsdurchsetzung unabhängig von der Existenz einer konkretisierenden Rechtsvorschrift verliehen14. Doch gibt keine der beiden Normen einen eindeutigen Aufschluss über die Frage nach der Bindung russischer Bürger an die Grundrechte. Aufschluss findet sich hingegen schließlich in der Regelung des Art. 15 Abs. 2 KRF. Danach sind die Bürger neben den Staatsgewalten an die Verfassung gebunden. Die Verfassung macht dabei keinen Unterschied in der Art der Grundrechtsbindung ihrer Adressaten. Aufgrund dieser fehlenden Einschränkung in Bezug auf den Umfang müssen Bürger die Grundrechte anderer beachten. Die Pflicht zur Beachtung von Grundrechten ist deshalb eine universelle15. Dieses Gebot wiederholt sich in Art. 17 Abs. 3 KRF, wo es zugleich zu einer allgemeinen, verfassungsimmanenten Grundrechtsschranke erwächst. Art. 17 Abs. 3 KRF stellt eine allgemeine Regelung der Rechtsverhältnisse zwischen Bürgern dar und verhilft so der unmittelbaren Geltung der Grundrechte im horizontalen 12 13 14 15

C., I., 2., b), bb), (1). C., I., 2., b), dd), (2). C., I., 2., b), dd), (4). C., I., 2., b), cc), (1).

E. Zusammenfassung

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Verhältnis i.S.d. Art. 18 KRF zur Geltung. Auch beschränkt sich diese Bindung nach der Rechtsprechung des KSRF weder auf die sogenannten „Generalklauseln“, noch auf die Existenz einer konkretisierenden Rechtsnorm überhaupt16, was sich im Übrigen auch aus der Wechselwirkung mit der unmittelbaren Geltung der Grundrechte i.S.d. Art. 18 S. 1 KRF ergibt. Damit werden die Grundrechte zu universellen Rechtsnormen und, entsprechend der konstitutionellen Vorstellung, zur Grundlage aller gesellschaftlichen Prozesse in Russland17. Ihr Spiegelbild im Zivilrecht finden sie in der Vorschrift des Art. 10 Abs. 3 GKRF18. Die Grundrechte haben folglich nach der Vorstellung der Verfassung der Russischen Föderation eine doppelte Rolle: Auf der einen Seite bilden sie den Inhalt und die Grenzen des staatlichen Handelns, auf der anderen stellen sie aber auch die Grenzen des menschlichen Handelns dar. In dieser Funktion spiegelt sich erneut der Charakter der Verfassung als „Satzung der Gesellschaft“ wider, die der Herstellung und Aufrechterhaltung des inneren Friedens und der verfassungsrechtlichen Ordnung zu dienen berufen ist. Zu diesem Zweck sieht die Verfassung auch die Möglichkeit einer verhältnismäßigen Grundrechtseinschränkung zugunsten gesellschaftlich wertvoller Zwecke gemäß Art. 55 Abs. 3 KRF. Aus der Zusammenschau der untersuchten Normen und vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Verständnisses lässt sich der Schluss ziehen, dass die russischen Bürger an die Grundrechte unmittelbar gebunden und diese auf die Rechtsverhältnisse unter den Bürgern unmittelbar anwendbar sind. Die Grundrechte verleihen den Bürgern neben ihrer objektiven Dimension auch subjektive Rechte, sowohl gegenüber dem Staat, als auch gegenüber anderen Bürgern19. Die Grundrechte als solche stellen ein verfassungsrechtliches Institut dar und werden vom Privatrecht gemäß Art. 2 S. 2 KRF i.V.m. Art. 2 Abs. 2 GKRF als Schutzgüter wahrgenommen. Sie bilden in Form von materiellen und immateriellen Rechtsgütern Objekte des Privatrechts. Die (subjektiven) persönlichen Rechte werden den Bürgern dagegen kraft des Privatrechts als Mittel zum Schutz dieser Güter i.S.d. Art. 2 S. 2 KRF i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GKRF verliehen20. Damit bilden die Grundrechte der russischen Verfassung die Grundlage der Privatrechtsordnung. So wurden z. B. Art. 150 und 151 GKRF bewusst gerade als Ausdruck verfassungsrechtlicher Bestimmungen in den GKRF aufgenommen21. Die Verfassung der Russischen Föderation stellt damit eine zentrale und unmittelbare Quelle der Privatrechtsordnung dar22. Die Normen des Privatrechts regeln so die Wahrnehmung 16 ?`aVUV\V^YV ;B AE _c 21. 12. 2006 N 554-? (unvero¨ffentlicht), Ziff. 2; ?`aVUV\V^YV ;B AE _c 04. 12. 2003 N 456-?, 3Vbc^Y[ ;B AE 2004/3, Ziff. 2. 17 C., II., 2., d), aa). 18 C., II., 2., d), dd), (4), e). 19 C., I., 2., b), dd), (4). 20 C., II., 2., e), aa), (3). 21 =Q[_Sb[YZ, ? [_UYeY[QgYY TaQWUQ^b[_T_ `aQSQ (1922 – 2006), S. 345 f. 22 C., II., 2., a).

214

E. Zusammenfassung

von Verfassungsrechten in Form von Privatrecht und stehen im allgemeinen System verfassungsrechtlicher Regulierung23. Die Verfassung der Russischen Föderation bildet eine Basis-Rechtsnorm. Auf ihrer Grundlage und in ihrem Rahmen werden die speziellen Rechtsnormen des Privatrechts entwickelt. Damit erlaubt die vorgenommene Untersuchung des russischen Verfassungsrechts die Rechtsgüter des Privatrechts als unmittelbaren Ausdruck verfassungsrechtlicher Rechte und Freiheiten zu sehen. Im Einklang mit der Verfassung drücken sich hier mehrere Facetten des konstitutionellen Auftrags aus. Zunächst erfüllt der Gesetzgeber mit der Einbeziehung der Grundrechte in den Kreis der Objekte des Privatrechts gemäß Art. 2 Abs. 2 GKRF seine Schutzpflicht i.S.d. Art. 2 S. 2 KRF. Dies tut er sowohl präventiv durch die Regelung mancher Rechtsverhältnisse, die solche Rechte berühren, als auch repressiv, durch zivilrechtliche Sanktionierung ihrer widerrechtlichen Verletzung. Zum anderen erfüllt der Zivilgesetzgeber auch seinen regulierenden Auftrag i.S.d. Art. 55 Abs. 3, 17 Abs. 3 KRF im Spannungsverhältnis zwischen den Rechtspositionen unterschiedlicher Grundrechtssubjekte, indem er die Grenzen der Rechtsausübung im Verhältnis unter Privaten bestimmt und ihre Rechtsverhältnisse damit durch aufgestellte Rahmenbedingungen gestaltet. Daneben stellen verfassungsrechtliche Bestimmungen und insbesondere Grundrechte in Gestalt „grundlegender Prinzipien“ gemäß Art. 1 GKRF die Prinzipien-Normen als Optimierungsgebote im Sinne der Theorie von Alexy im Privatrecht dar24. Sie können im Einklang mit Art. 17 Abs. 3, 55 Abs. 3 KRF nur als ein Gefüge verstanden werden: Sie schränken sich gegenseitig ein und stellen damit vielfach eigene und wechselseitige Garantien dar. Damit drückt sich im russischen Zivilrecht die bereits in der Verfassung niedergelegte direkte Wirkung der Grundrechte bzw. der Verfassung aus. Die Prinzipien des Art. 1 Abs. 1 GKRF stellen dabei subsidiäre Rechtsnormen dar, die im Fall der Abwesenheit besonderer Regelungen in einem konkreten Rechtsfall zur Anwendung kommen, sonst aber eine objektive Wirkung entfalten; dies bedeutet, dass die Normen des Zivilkodexes also stets in ihrem Lichte ausgelegt werden müssen. So gesehen sind die Prinzipien des Art. 1 Abs. 1 GKRF nicht nur objektive Gebote, sondern auch subjektive Rechte der Bürger25. Im Bereich einfachgesetzlicher Normierung von Persönlichkeitsrechten zeigen sich starke Parallelen in den Regelungen beider Länder. Art. 150 f. GKRF zeigt deutlich, dass es sich bei den geschützten Rechtsgütern nicht nur um Grundrechte handelt, sondern vielmehr um überpositive Güter. Nichts anderes gilt aber, aufgezeigt am Beispiel der Persönlichkeitsrechte, auch für Deutschland, unabhängig von der anderen Sicht auf die Grundrechtsbindung Privater.

23 24 25

?`aVUV\V^YV ;B AE _c 04. 12. 2003 N 508-?, 3Vbc^Y[ ;B AE 2004/3, Ziff. 3. C., II., 2., d), cc). Ebenda.

E. Zusammenfassung

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Eine ähnliche Erkenntnis liefert auch die Betrachtung von Regelungen des Notstands und der Notwehr in beiden Ländern26. Es ist insofern bezeichnend, dass sie gerade als vorkonstitutionelle Normen zum Ausdruck bringen, dass es in den zwischenmenschlichen Beziehungen auch oder gerade jenseits des Staat–Bürger-Verhältnisses immer zu Situationen kommen wird, in welchen die Güter ausdrücklich und unmittelbar gegeneinander abgewogen werden müssen. Dies gilt unabhängig davon, ob man die Wirkung der Grundrechte unter Privaten anerkennt, und führt zu dem Schluss, dass es in einer Gesellschaft stets um einen Güterausgleich geht. Diese Güter in ein Rechtssystem gefasst (um deren Willen es im Übrigen auch besteht) werden zu Rechtsgütern. Ihre Substanz ändert sich auch nicht abhängig davon, ob sie solche des Privatrechts oder des öffentlichen Rechts sind. Aus dem Gesagten lassen sich zwei Schlüsse ziehen. Zum einen müssen die Rechte Privater untereinander als Ausdruck bzw. Ableitung ihrer Verfassungsrechte verstanden werden. Zum anderen wird sichtbar, dass es sowohl im Privaten als auch im öffentlichen Recht um den Schutz derselben Rechtsgüter geht. Das Prinzip der Vertragsfreiheit i.S.d. Art. 1 Abs. 1, 421 Abs. 1 S. 1 GKRF stellt deshalb einerseits eine logische Folge verfassungsrechtlicher Prinzipien und Grundrechte dar, hat aber auf der anderen Seite einen eigenen Inhalt und Anwendungsbereich. Es ist dabei eng mit den anderen grundlegenden Prinzipien verbunden: dem Prinzip der Gleichheit, der Privatautonomie und dem Verbot von Einmischung in Privatangelegenheiten anderer Personen27. In diesem Prinzipienkatalog wird der höchste Wert der verfassungsrechtlichen Ordnung im Privatrecht zum Ausdruck gebracht. Auch der Kontrahierungszwang dient der Erfüllung des staatlichen Schutzauftrags. Er verhält sich zur Vertragsfreiheit wie ihre Schranke, die es zur Aufgabe hat, den Grundrechten anderer Bürger und dem Sozialstaatsprinzip i.S.d. Art. 7 Abs. 1 KRF zur Geltung zu verhelfen. Damit wird das Zivilrecht als Konkretisierung und Ausbalancierung der Grundrechte begriffen. Die Einflüsse der sowjetischen Vergangenheit werden hier besonders deutlich. Aber auch der deutschen Rechtslehre ist eine solche Vorstellung nicht völlig fremd, vielmehr wird auch hier anerkannt, dass es im Privatrecht um den Ausgleich von Interessen geht, was den Einsatz dieses Instruments notwendig macht. Schließlich stellt das Verbot des Rechtsmissbrauchs i.S.d. Art. 10 Abs. 1 S. 1 GKRF eine Implementierung des verfassungsrechtlichen Prinzips i.S.d. Art. 17 Abs. 3 KRF im Privatrecht dar28. Dieser Grundsatz ist ein Prinzip der Rechtsanwendung und kein „grundlegendes Prinzip“ des Privatrechts i.S.d. Art. 1 GKRF. Hier kommt die direkte Wirkung der Grundrechte auf das Privatrecht erneut zum Ausdruck: Ausgehend von der dargelegten Bedeutung des Art. 17 Abs. 3 KRF29 und dem Stellenwert der Grundrechte im russischen Zivilrecht lässt sich auch aus dieser 26 27 28 29

C., II., 2., d), dd), (2). CQ^QTQ, @aY^gY` bS_R_Ul U_T_S_aQ S TaQWUQ^b[_] `aQSV A_bbYY, S. 31 ff. C., II., 2., d), dd), (4), (e). s. o. C., I., 2., b), ee).

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Gesamtbetrachtung folgern, dass die Bürger die Grundrechte im Privatrechtsverkehr gegenseitig zu beachten haben. Dies zeigte erneut, dass die Wirkung verfassungsrechtlicher Bestimmungen sich auf die Wahrnehmung aller in der Verfassung verankerten Rechte, auch in Form bürgerlicher Rechte, erstreckt. Die Zivilgerichte Russlands wenden deshalb Art. 17 Abs. 3 KRF direkt an, falls es an einer speziellen Norm fehlt. Die öffentlich-rechtliche Regulierung des Zivilrechts soll im Einklang mit dem verfassungsrechtlichen Auftrag die Extreme privater Rechtsverhältnisse bzw. die egoistischen Interessen, die ihr zu Grunde liegen, zugunsten eines friedvollen Zusammenseins in der Gesellschaft ausgleichen. Dies gilt sowohl für Russland als auch für Deutschland30. Eine der Besonderheiten des russischen Privatrechts gegenüber dem deutschen liegt in der Berechtigung des Staates als dessen Subjekt. Der Staat agiert trotz notwendiger Modifikationen in Bezug auf Privatrechtsverhältnisse als ein gleichberechtigtes und -verpflichtetes Subjekt, was ihn der Rechtsstellung privater juristischer Personen in Bezug auf die Beachtung von Grundrechten annähert. Dies ist insbesondere und gerade deshalb möglich, weil alle Rechtssubjekte des Privatrechts gemäß Art. 15 Abs. 2, 18 S. 2 KRF an die Verfassung und die Grundrechte gebunden sind. Deshalb ist auch im Gegensatz zum deutschen Verständnis keine „Flucht ins Private“ mehr möglich, bzw. würde diese staatlichen Einrichtungen keinen Vorteil im Sinne einer Entledigung ihrer Grundrechtsbindung gewähren31. Die Stellung des Staates als Subjekt des Privatrechts folgt zugleich nicht zwingend aus der absoluten Wirkung der Grundrechte. Diese Lösung wäre auch für Deutschland denkbar. Gleichzeitig wäre aber auch in Russland die „deutsche Lösung“ möglich. Dies zeigt, dass die Stellung des Staates als Privatrechtssubjekts keine zwingende Folge der absoluten Wirkung der Grundrechte darstellt. Die Rechtslage in Russland, stellt ein Zusammenspiel der Verfassung, mit allen anderen Rechtsgebieten, insbesondere mit dem Privatrecht dar, bei dem sie unstreitig eine zentrale und grundlegende Rolle spielt. Dies wird insbesondere, neben der Bindung der Bürger an die Verfassung, durch deren direkte Wirkung und die unmittelbare Geltung der Grundrechte gewährleistet. Die von der Verfassung garantierten Rechte haben aus dieser Sicht nicht nur verfassungsrechtlichen, sondern auch privatrechtlichen Charakter, und umgekehrt: Die privatrechtlichen Normen dienen der Verwirklichung verfassungsrechtlicher Ziele und Vorgaben32. Dabei kommt den „Grundlegenden Prinzipien“ i.S.d. Art. 1 GKRF eine besondere Bedeutung zu: Sie sind zugleich Ausdruck des naturrechtlichen33 Grundrechtsverständnisses in der heutigen russischen Rechtstheorie. 30 31 32 33

C., II., 2., d), dd), (3), (d), (cc). C., II., 2., b). C., II., 2., d), cc). s. ausführlich zu diesem Begriff Fn. 9 auf S. 50.

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Vor dem Hintergrund dieser Prämissen ist auch die Betrachtung der Normenhierarchie in den beiden Ländern zu sehen. Das gesamte einfache Recht Russlands baut ausdrücklich auf der durch die Verfassung geschaffenen und vorgegebenen Vorstellung auf, welche als „allgemeiner Teil“ der Rechtsordnung in der Gesellschaft begriffen werden kann. Dies ergibt sich sowohl aus der KRF selbst, welche die direkte und unmittelbare Wirkung der Konstitution gemäß Art. 15 Abs. 1, Art. 18, Art. 17 Abs. 3 KRF festlegt, als auch aus den einfachen Gesetzen, die meist auf die Verfassung bzw. Grundrechte verweisen. Das Russische Rechtssystem wurde insgesamt als eine abgeschlossene und „autarke“ Einheit aufgebaut. Dagegen wird das deutsche Rechtssystem teilweise als anders strukturiert gesehen. Das Privatrecht bzw. das BGB hat eine viel längere Entwicklungsgeschichte als das Grundgesetz, welche sich zu der Entwicklung grundrechtlicher Ideen weitgehend parallel vollzog. Dies mündete schließlich in der Vorstellung der „grundsätzlichen Beziehungslosigkeit“ beider Rechtsbereiche zueinander34. Diese Vorstellung gehört jedoch auch in Anbetracht der verfassungsrechtlichen Bindung aller Staatsgewalten an die Grundrechte und Schutzpflichten des Staates der Vergangenheit an und kann heute, im geltenden Rechtssystem, nicht mehr vertreten werden. Vielmehr muss auch das deutsche Recht als ein einheitliches Gefüge betrachtet werden, was eine unmittelbare Wirkung der Grundrechte auf das Privatrecht impliziert. Zwar wurde das Grundgesetz vorrangig für das vertikale Staat–Bürger-Verhältnis konzipiert, dies bedeutet jedoch nicht, dass eine andere Auslegung, an die bei der Entstehung aus unterschiedlichen Gründen nicht gedacht wurde, unmöglich wäre. Die deutsche Verfassung verschließt sich einer anderen Interpretation nicht. Es gibt vielmehr genügend Raum für ein der russischen Konstitution ähnliches Verständnis. Dafür spricht die unmittelbare Wirkung der Menschenwürde i.S.d. Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG, das Sozialstaatsprinzip i.S.d. Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 S. 1 GG35, der Wortlaut und Telos des Art. 1 Abs. 2 GG sowie die Überpositivität und die objektive Dimension der Grundrechte36. Daneben spricht auch die historische Betrachtung der Entwicklung des Rechts für die Einheit der Schutzgüter der Rechtsordnung37. Der Gedanke, dass die Bürger ihre Ansprüche aus der Verfassung direkt ableiten könnten, ist auch für die deutsche Rechtslehre nur auf den ersten Blick abschreckend. Auch das Argument der Rechtssicherheit ist wenig stichhaltig, führt man sich die Rechtsprechung der obersten Gerichte sowie die gegenwärtige Regelungsdichte vor Augen. Die meisten Bereiche sind tatsächlich bereits spezialgesetzlich geregelt, sodass nur noch wenig Raum für „Überraschungen“ bleibt. Sollte dennoch eine Lücke entdeckt werden, so kann sie meist mittels verfassungskonformer Analogie geschlossen werden. Andererseits lässt sich die deutsche Rechtsprechung bei der 34 So Diederichsen, Rangverhältnisse, in: Starck, Rangordnung der Gesetze, S. 39, 45 unter Verweis auf die Aussage vom Konrad Hesse. 35 Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 150 ff. 36 C., I., 5., b). 37 D., II.

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Auslegung von einfachen privatrechtlichen Normen längst von den Grundrechten leiten. Dies ist aus dem Blickwinkel der Bindung der Judikative an die Grundrechte auch unabdingbar, führt jedoch letztlich zu demselben Ergebnis wie die Bindung der Bürger untereinander an die Grundrechte. Gleichzeitig ist auch der aufgekommene Begriff der „objektiven Werteordnung“ sowie andere Judikate der obersten Gerichte, die die Grundrechte bei der Auslegung einfacher Gesetze zu Rate ziehen, im Licht der Ablehnung der Bindung von Bürgern an die Grundrechte wenig konsequent und erzeugt dadurch genau das Gegenteil von Rechtssicherheit. Demgegenüber hat die Untersuchung der Wirkung der Rechtsfigur der Grundrechtsbindung von Bürgern auf das russische Zivilrecht eindrucksvoll gezeigt, dass diese keine Aufgabe der Privatautonomie nach sich ziehen muss, sondern vielmehr die Sicherung bürgerlicher Freiheiten bedeuten kann.

Anhang: Verfassung der Russischen Föderation von 1993 VERFASSUNG DER RUSSISCHEN FÖDERATION1 Wir, das multinationale Volk der Rußländischen Föderation, vereint durch das gemeinsame Schicksal auf unserem Boden, die Rechte und Freiheiten des Menschen, den inneren Frieden und die Eintracht bekräftigend, die historisch entstandene staatliche Einheit wahrend, ausgehend von den allgemein anerkannten Prinzipien der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker, das Ansehen der Vorfahren ehrend, die uns Liebe und Achtung gegenüber dem Vaterland sowie den Glauben an das Gute und an die Gerechtigkeit überliefert haben, die souveräne Staatlichkeit Rußlands wiederbelebend und die Unerschütterlichkeit seiner demokratischen Grundlagen bekräftigend, danach strebend, das Wohlergehen und das Gedeihen Rußlands zu gewährleisten, ausgehend von der Verantwortung für unsere Heimat vor der jetzigen und vor künftigen Generationen, im Bewußtsein, Teil der Weltgemeinschaft zu sein, geben uns die VERFASSUNG DER RUSSLÄNDISCHEN FÖDERATION. Erster Abschnitt. Grundbestimmungen Kapitel l. Grundlagen der Verfassungsordnung Artikel l 1. Die Rußländische Föderation – Rußland ist ein demokratischer föderativer Rechtsstaat mit republikanischer Regierungsform. 2. Die Bezeichnungen Rußländische Föderation und Rußland sind gleichbedeutend. Artikel 2 Der Mensch, seine Rechte und Freiheiten bilden die höchsten Werte. Anerkennung, Wahrung und Schutz der Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers sind Verpflichtung des Staates. Artikel 3 1. Träger der Souveränität und einzige Quelle der Macht in der Rußländischen Föderation ist ihr multinationales Volk. 2. Das Volk übt seine Macht unmittelbar sowie durch die Organe der Staatsgewalt und die Organe der örtlichen Selbstverwaltung aus. 3. Höchster unmittelbarer Ausdruck der Volksmacht sind Referendum und freie Wahlen.

1 Die Übersetzung stammt von der Internetseite der Russischen Verfassung: http:// www.constitution.ru/de/. Zuletzt abgerufen am: 1. 1. 2014.

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4. Niemand darf die Macht in der Rußländischen Föderation an sich reißen. Die Machtergreifung und die Anmaßung von hoheitlichen Befugnissen werden aufgrund Bundesgesetzes verfolgt. Artikel 4 1. Die Souveränität der Rußländischen Föderation erstreckt sich auf ihr gesamtes Territorium. 2. Die Verfassung der Rußländischen Föderation und die Bundesgesetze haben auf dem gesamten Territorium der Rußländischen Föderation Vorrang. 3. Die Rußländische Föderation gewährleistet die Integrität und die Unverletzlichkeit ihres Territoriums. Artikel 5 1. Die Rußländische Föderation besteht aus Republiken, Regionen, Gebieten, bundesbedeutsamen Städten, einem autonomen Gebiet und autonomen Bezirken als den gleichberechtigten Subjekten der Rußländischen Föderation. 2. Die Republik ist ein Staat und hat ihre eigene Verfassung und Gesetzgebung. Die Region, das Gebiet, die bundesbedeutsame Stadt, das autonome Gebiet und der autonome Bezirk haben ihr Statut und ihre Gesetzgebung. 3. Die Bundesstaatlichkeit der Rußländischen Föderation gründet auf ihrer staatlichen Integrität, auf der Einheit des Systems der Staatsgewalt, auf der Abgrenzung der Zuständigkeitsbereiche und Befugnisse zwischen den Organen der Staatsgewalt der Rußländischen Föderation und den Organen der Staatsgewalt der Subjekte der Rußländischen Föderation sowie auf der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker in der Rußländischen Föderation. 4. In den Beziehungen zu den Bundesorganen der Staatsgewalt sind alle Subjekte der Rußländischen Föderation untereinander gleichberechtigt. Artikel 6 1. Die Staatsangehörigkeit der Rußländischen Föderation wird erworben und endet gemäß Bundesgesetz; sie ist einheitlich und gleich, unabhängig von den Gründen ihres Erwerbs. 2. Jeder Bürger der Rußländischen Föderation genießt auf seinem Territorium alle Rechte und Freiheiten und trägt die gleichen durch die Verfassung der Rußländischen Föderation vorgesehenen Pflichten. 3. Dem Bürger der Rußländischen Föderation darf seine Staatsangehörigkeit oder sein Recht, sie zu wechseln, nicht entzogen werden. Artikel 7 1. Die Rußländische Föderation ist ein Sozialstaat, dessen Politik darauf gerichtet ist, Bedingungen zu schaffen, die ein würdiges Leben und die freie Entwicklung des Menschen gewährleisten.

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2. In der Rußländischen Föderation werden Arbeit und Gesundheit der Menschen geschützt, ein garantierter Mindestlohn festgelegt, die staatliche Unterstützung von Familie, Mutterschaft, Vaterschaft und Kindheit, Invaliden und älteren Bürgern gewährleistet, ein System sozialer Dienste entwickelt sowie staatliche Renten, Beihilfen und andere Garantien des sozialen Schutzes festgelegt. Artikel 8 1. In der Rußländischen Föderation werden die Einheit des Wirtschaftsraums, der freie Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Kapital, die Unterstützung des Wettbewerbs und die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung garantiert. 2. In der Rußländischen Föderation werden private, staatliche, kommunale und andere Formen des Eigentums gleichermaßen anerkannt und geschützt. Artikel 9 1. Grund und Boden und die anderen Naturvorräte werden in der Rußländischen Föderation als Grundlage des Lebens und Wirkens der Völker, die auf dem entsprechenden Territorium leben, genutzt und geschützt. 2. Grund und Boden und die anderen Naturvorräte können sich in privater, staatlicher, kommunaler oder anderer Form des Eigentums befinden. Artikel 10 Die Staatsgewalt in der Rußländischen Föderation wird auf der Grundlage der Aufteilung in gesetzgebende, vollziehende und rechtsprechende Gewalt ausgeübt. Die Organe der gesetzgebenden, vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt sind selbständig. Artikel 11 1. Die Staatsgewalt in der Rußländischen Föderation wird vom Präsidenten der Rußländischen Föderation, der Föderationsversammlung (dem Bundesrat und der Staatsduma), der Regierung der Rußländischen Föderation und den Gerichten der Rußländischen Föderation ausgeübt. 2. Die Staatsgewalt in den Subjekten der Rußländischen Föderation üben die von diesen gebildeten Organe der Staatsgewalt aus. 3. Die Abgrenzung der Zuständigkeitsbereiche und Befugnisse zwischen den Organen der Staatsgewalt der Rußländischen Föderation und den Organen der Staatsgewalt der Subjekte der Rußländischen Föderation erfolgt durch diese Verfassung, den Föderationsvertrag und andere Verträge über die Abgrenzung der Zuständigkeitsbereiche und Befugnisse. Artikel 12 In der Rußländischen Föderation wird die örtliche Selbstverwaltung anerkannt und garantiert. Die örtliche Selbstverwaltung ist im Rahmen ihrer Befugnisse selbständig. Die Organe der örtlichen Selbstverwaltung gehören nicht zum System der Organe der Staatsgewalt.

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Artikel 13 1. In der Rußländischen Föderation ist die ideologische Vielfalt anerkannt. 2. Keine Ideologie darf als staatliche oder verbindliche festgelegt werden. 3. In der Rußländischen Föderation ist die politische Vielfalt und das Mehrparteiensystem anerkannt. 4. Die gesellschaftlichen Vereinigungen sind vor dem Gesetz gleich. 5. Die Bildung und die Tätigkeit gesellschaftlicher Vereinigungen, deren Ziele oder Handlungen auf gewaltsame Änderung der Grundlagen der Verfassungsordnung und auf Verletzung der Integrität der Rußländischen Föderation, auf Untergrabung der Sicherheit des Staates, auf Bildung von bewaffneten Formationen oder auf Entfachen sozialer, rassischer, nationaler und religiöser Zwietracht gerichtet sind, sind verboten. Artikel 14 1. Die Rußländische Föderation ist ein weltlicher Staat. Keine Religion darf als staatliche oder verbindlich festgelegt werden. 2. Die religiösen Vereinigungen sind vom Staat getrennt und vor dem Gesetz gleich. Artikel 15 1. Die Verfassung der Rußländischen Föderation hat die höchste juristische Kraft, gilt unmittelbar und findet auf dem gesamten Territorium der Rußländischen Föderation Anwendung. Gesetze und andere Rechtsakte, die in der Rußländischen Föderation verabschiedet werden, dürfen der Verfassung der Rußländischen Föderation nicht widersprechen. 2. Die Organe der Staatsgewalt, die Organe der örtlichen Selbstverwaltung, Amtsträger, Bürger und ihre Vereinigungen sind verpflichtet, die Verfassung der Rußländischen Föderation und die Gesetze zu beachten. 3. Die Gesetze müssen amtlich veröffentlicht werden. Nicht veröffentlichte Gesetze werden nicht angewandt. Jegliche normativen Rechtsakte, die die Rechte, Freiheiten und Pflichten des Menschen und Bürgers berühren, dürfen nicht angewandt werden, sofern sie nicht zur allgemeinen Kenntnisnahme amtlich veröffentlicht worden sind. 4. Die allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des Völkerrechts und die völkerrechtlichen Verträge der Rußländischen Föderation sind Bestandteil ihres Rechtssystems. Legt ein völkerrechtlicher Vertrag der Rußländischen Föderation andere Regeln fest als die gesetzlich vorgesehenen, so werden die Regeln des völkerrechtlichen Vertrages angewandt. Artikel 16 1. Die Bestimmungen dieses Kapitels der Verfassung bilden die Grundlagen der Verfassungsordnung der Rußländischen Föderation und können nicht anders geändert werden als in dem durch diese Verfassung festgelegten Verfahren. 2. Keine anderen Bestimmungen dieser Verfassung dürfen den Grundlagen der Verfassungsordnung der Rußländischen Föderation widersprechen.

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Kapitel 2. Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers Artikel 17 1. In der Rußländischen Föderation werden die Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers entsprechend den allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des Völkerrechts und in Übereinstimmung mit dieser Verfassung anerkannt und garantiert. 2. Die Grundrechte und -freiheiten des Menschen sind unveräußerlich und stehen jedem von Geburt an zu. 3. Die Wahrnehmung der Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers darf die Rechte und Freiheiten anderer nicht verletzen. Artikel 18 Die Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers gelten unmittelbar. Sie bestimmen den Sinn, den Inhalt und die Anwendung der Gesetze, die Tätigkeit der gesetzgebenden und der vollziehenden Gewalt sowie der örtlichen Selbstverwaltung und werden durch die Rechtsprechung gewährleistet. Artikel 19 1. Alle sind vor dem Gesetz und vor Gericht gleich. 2. Der Staat garantiert die Gleichheit der Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers unabhängig von Geschlecht, Rasse, Nationalität, Sprache, Herkunft, Vermögensverhältnissen und Amtsstellung, Wohnort, religiöser Einstellung, Überzeugungen, Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Vereinigungen oder von anderen Umständen. Jede Form der Einschränkung der Bürgerrechte aus Gründen der sozialen, rassischen, nationalen, sprachlichen oder religiösen Zugehörigkeit ist verboten. 3. Mann und Frau haben gleiche Rechte und Freiheiten und gleiche Möglichkeiten, sie zu verwirklichen. Artikel 20 1. Jeder hat das Recht auf Leben. 2. Bis zu ihrer Abschaffung kann ein Bundesgesetz die Todesstrafe als außerordentliche Strafmaßnahme für besonders schwere Straftaten gegen das Leben festlegen, wobei dem Beschuldigten das Recht auf Verhandlung seiner Sache durch ein Gericht unter Mitwirkung von Geschworenen gewährt wird. Artikel 21 1. Die Würde der Person wird vom Staat geschützt. Nichts kann ihre Schmälerung begründen. 2. Niemand darf der Folter, Gewalt oder einer anderen grausamen oder die Menschenwürde erniedrigenden Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Niemand darf ohne sein freiwilliges Einverständnis medizinischen, wissenschaftlichen oder anderen Versuchen unterworfen werden.

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Artikel 22 1. Jeder hat das Recht auf Freiheit und persönliche Unverletzlichkeit. 2. Arrest, Verhaftung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft sind nur aufgrund einer gerichtlichen Entscheidung zulässig. Bis zu einer gerichtlichen Entscheidung darf eine Person nicht länger als 48 Stunden festgehalten werden. Artikel 23 1. Jeder hat das Recht auf Unverletzlichkeit des Privatlebens, auf Personen- und Familiengeheimnis, auf Schutz seiner Ehre und seines guten Rufes. 2. Jeder hat das Recht auf das Geheimnis des Schriftverkehrs, von Telefongesprächen, postalischen, telegraphischen und anderen Mitteilungen. Eine Einschränkung dieses Rechts ist nur aufgrund einer gerichtlichen Entscheidung zulässig. Artikel 24 1. Das Sammeln, Aufbewahren, Verwenden und Verbreiten von Informationen über das Privatleben einer Person sind ohne deren Einwilligung unzulässig. 2. Die Organe der Staatsgewalt und die Organe der örtlichen Selbstverwaltung sowie ihre Amtsträger sind verpflichtet, jedem die Möglichkeit zur Einsicht in Dokumente und Materialien, die unmittelbar seine Rechte und Freiheiten berühren, zu gewährleisten, wenn ein anderes nicht durch Gesetz vorgesehen ist. Artikel 25 Die Wohnung ist unverletzlich. Niemand hat das Recht, in eine Wohnung gegen den Willen der dort lebenden Personen einzudringen, außer in den durch Bundesgesetz festgelegten Fällen oder aufgrund einer gerichtlichen Entscheidung. Artikel 26 1. Jeder ist berechtigt, seine nationale Zugehörigkeit zu bestimmen und anzugeben. 2. Niemand darf zur Bestimmung und Angabe seiner nationalen Zugehörigkeit gezwungen werden. 3. Jeder hat das Recht auf Gebrauch der Muttersprache sowie auf freie Wahl der Umgangs-, Erziehungs-, Ausbildungssprache und des künstlerischen Ausdrucks. Artikel 27 1. Jeder, der sich rechtmäßig auf dem Territorium der Rußländischen Föderation aufhält, hat das Recht, sich frei zu bewegen und seinen Aufenthalts- und Wohnort zu wählen. 2. Jeder kann frei aus der Rußländischen Föderation ausreisen. Der Bürger der Rußländischen Föderation hat das Recht, ungehindert in die Rußländische Föderation zurückzukehren.

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Artikel 28 Jedem wird die Gewissensfreiheit und die Glaubensbekenntnisfreiheit garantiert einschließlich des Rechts, sich allein oder gemeinsam mit anderen zu einer beliebigen Religion zu bekennen oder sich zu keiner zu bekennen, religiöse und andere Überzeugungen frei zu wählen, zu haben und zu verbreiten sowie nach ihnen zu handeln. Artikel 29 1. Jedem wird die Freiheit des Gedankens und des Wortes garantiert. 2. Unzulässig sind Propaganda und Agitation, die zu sozialem, rassenbedingtem, nationalem oder religiösem Haß und Feindschaft aufstacheln. Verboten ist das Propagieren sozialer, rassenbedingter, nationaler, religiöser und sprachlicher Überlegenheit. 3. Niemand darf gezwungen werden, seine Meinungen und Überzeugungen zu äußern oder sich von ihnen loszusagen. 4. Jeder hat das Recht, auf rechtmäßige gesetzliche Weise Informationen frei zu beschaffen, entgegenzunehmen, weiterzugeben, hervorzubringen und zu verbreiten. Eine Liste der Nachrichten, die ein Staatsgeheimnis darstellen, wird durch Bundesgesetz bestimmt. 5. Die Freiheit der Masseninformation wird garantiert. Zensur ist verboten. Artikel 30 1. Jeder hat das Recht auf Vereinigung einschließlich des Rechts, Gewerkschaften zum Schutz seiner Interessen zu gründen. Die Betätigungsfreiheit gesellschaftlicher Vereinigungen wird garantiert. 2. Niemand darf zum Eintritt oder zum Verbleib in irgendeiner Vereinigung gezwungen werden. Artikel 31 Die Bürger der Rußländischen Föderation haben das Recht, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln, Versammlungen, Kundgebungen, Demonstrationen und Umzüge durchzuführen sowie Streikposten aufzustellen. Artikel 32 1. Die Bürger der Rußländischen Föderation haben das Recht, an der Verwaltung von Angelegenheiten des Staates sowohl unmittelbar als auch durch ihre Vertreter teilzuhaben. 2. Die Bürger der Rußländischen haben das Recht, die Organe der Staatsgewalt und die Organe der örtlichen Selbstverwaltung zu wählen, in sie gewählt zu werden sowie am Referendum teilzunehmen. 3. Bürger, die gerichtlich für geschäftsunfähig erklärt worden sind oder aufgrund eines Gerichtsurteils in Haftanstalten einsitzen, haben nicht das Recht zu wählen und gewählt zu werden. 4. Die Bürger der Rußländischen Föderation haben gleichen Zugang zum Staatsdienst. 5. Die Bürger der Rußländischen Föderation haben das Recht, sich an der Ausübung der Rechtsprechung zu beteiligen.

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Artikel 33 Die Bürger der Rußländischen Föderation haben das Recht, sich persönlich an die Organe der Staatsgewalt und an die Organe der örtlichen Selbstverwaltung zu wenden sowie individuelle und kollektive Eingaben an sie zu richten. Artikel 34 1. Jeder hat das Recht auf freie Nutzung seiner Fähigkeiten und seines Vermögens zu unternehmerischer und zu anderer nicht durch Gesetz verbotener wirtschaftlicher Tätigkeit. 2. Unzulässig ist die auf Monopolisierung und unlauteren Wettbewerb gerichtete wirtschaftliche Tätigkeit. Artikel 35 1. Das Recht des Privateigentums wird durch Gesetz geschützt. 2. Jeder ist berechtigt, Vermögen allein oder gemeinsam mit anderen zu Eigentum zu haben, zu besitzen, zu nutzen und darüber zu verfügen. 3. Niemandem darf sein Vermögen entzogen werden, es sei denn auf Entscheidung eines Gerichts. Zwangsenteignung für staatliche Bedürfnisse darf nur bei vorheriger und gleichwertiger Entschädigung durchgeführt werden. 4. Das Erbrecht wird garantiert. Artikel 36 1. Die Bürger und ihre Vereinigungen sind berechtigt, Grund und Boden zu Privateigentum zu haben. 2. Besitz und Nutzung des Bodens und anderer Naturvorräte sowie die Verfügung über sie werden durch ihre Eigentümer frei ausgeübt, sofern dies nicht der Umwelt Schaden zufügt und nicht die Rechte und gesetzlich geschützten Interessen anderer verletzt. 3. Bedingungen und Verfahren der Bodennutzung werden aufgrund Bundesgesetzes bestimmt. Artikel 37 1. Die Arbeit ist frei. Jeder hat das Recht, frei über seine Arbeitsfähigkeiten zu verfügen und die Art seiner Tätigkeit und seines Berufes frei zu wählen. 2. Zwangsarbeit ist verboten. 3. Jeder hat das Recht auf Arbeitsbedingungen, die den Sicherheits- und Hygieneerfordernissen entsprechen, auf Arbeitsentgelt ohne wie auch immer geartete Diskriminierung und nicht unter dem Maß des durch Bundesgesetz festgelegten Mindestlohns sowie auf Schutz vor Arbeitslosigkeit. 4. Das Recht auf individuelle und kollektive Arbeitsstreitigkeiten unter Anwendung der durch Bundesgesetz festgelegten Mittel zu seiner Entscheidung, einschließlich des Streikrechts, wird anerkannt.

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5. Jeder hat das Recht auf Erholung. Dem arbeitsvertraglich Beschäftigten werden die bundesgesetzlichen Festlegungen der Arbeitszeit, der wöchentlichen Ruhetage, der Feiertage und des bezahlten Jahresurlaubs garantiert. Artikel 38 1. Mutter und Kind sowie die Familie stehen unter dem Schutz des Staates. 2. Die Sorge um die Kinder und ihre Erziehung sind gleiches Recht und Pflicht der Eltern. 3. Erwerbsfähige Kinder, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, müssen für ihre nicht erwerbsfähigen Eltern sorgen. Artikel 39 1. Jedem wird soziale Sicherung im Alter, bei Krankheit, Invalidität und Verlust des Ernährers, für die Erziehung der Kinder und in anderen gesetzlich festgelegten Fällen garantiert. 2. Die staatlichen Renten und die sozialen Beihilfen werden durch Gesetz festgelegt. 3. Die freiwillige Sozialversicherung, die Schaffung zusätzlicher Formen der sozialen Sicherung und die freie Wohlfahrtspflege werden gefördert. Artikel 40 1. Jeder hat das Recht auf Wohnung. Niemandem darf willkürlich die Wohnung entzogen werden. 2. Die Organe der Staatsgewalt und die Organe der örtlichen Selbstverwaltung fördern den Wohnungsbau und schaffen die Bedingungen für die Verwirklichung des Rechts auf Wohnung. 3. Bedürftigen und anderen durch Gesetz bezeichneten Bürgern, die eine Wohnung benötigen, wird diese unentgeltlich oder zu einem erschwinglichen Preis aus staatlichen, kommunalen oder anderen Wohnungsbeständen nach gesetzlich festgelegten Normen bereitgestellt. Artikel 41 1. Jeder hat das Recht auf Schutz der Gesundheit und auf medizinische Hilfe. Medizinische Hilfe in staatlichen und kommunalen Einrichtungen des Gesundheitsschutzes wird den Bürgern unentgeltlich zu Lasten des entsprechenden Haushalts, von Versicherungsbeiträgen und anderen Einnahmen geleistet. 2. In der Rußländischen Föderation werden Bundesprogramme zum Schutz und zur Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung finanziert, Maßnahmen zur Entwicklung des staatlichen, kommunalen und privaten Systems des Gesundheitsschutzes ergriffen und die Tätigkeit, die die Stärkung der Gesundheit des Menschen, die Entwicklung von Körperkultur und Sport sowie die ökologische und hygienisch-epidemiologische Wohlfahrt unterstützt, gefördert. 3. Amtsträger, die Tatsachen und Umstände verheimlichen, die eine Gefahr für Leben und Gesundheit von Menschen darstellen, haften gemäß Bundesgesetz.

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Arlikel 42 Jeder hat das Recht auf wohlbehaltene Umwelt, auf verläßliche Information über ihren Zustand sowie auf Ersatz des Schadens, der seiner Gesundheit oder seinem Vermögen durch ökologische Rechtsverletzung zugefügt worden ist. Artikel 43 1. Jeder hat das Recht auf Bildung. 2. Die allgemeine Zugänglichkeit und die Unentgeltlichkeit der Vorschul-, der grundlegenden Allgemein- und der mittleren Berufsbildung in staatlichen oder kommunalen Bildungseinrichtungen und in Betrieben wird garantiert. 3. Jeder ist berechtigt, aufgrund eines Auswahlverfahrens mit Wettbewerbscharakter unentgeltlich eine Hochschulbildung in einer staatlichen oder kommunalen Bildungseinrichtung oder in einem Betrieb zu erhalten. 4. Die grundlegende Allgemeinbildung ist obligatorisch. Die Eltern oder die sie ersetzenden Personen gewährleisten, daß die Kinder die grundlegende Allgemeinbildung erhalten. 5. Die Rußländische Föderation legt bundeseinheitliche staatliche Bildungsstandards fest und unterstützt die unterschiedlichen Formen der Bildung und der Selbstbildung. Artikel 44 1. Jedem wird die Freiheit literarischer, künstlerischer, wissenschaftlicher, technischer und anderer Arten schöpferischer Tätigkeit sowie die Freiheit der Lehre garantiert. Das geistige Eigentum wird gesetzlich geschützt. 2. Jeder hat das Recht auf Teilnahme am kulturellen Leben, auf Nutzung kultureller Einrichtungen und auf Zugang zu kulturellen Werten. 3. Jeder ist verpflichtet, für den Erhalt des historischen und des kulturellen Erbes zu sorgen und die Geschichts- und Kulturdenkmäler zu bewahren. Artikel 45 1. Der staatliche Schutz der Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers in der Rußländischen Föderation wird garantiert. 2. Jeder ist berechtigt, seine Rechte und Freiheiten mit allen Mitteln, die nicht gesetzlich verboten sind, zu verteidigen. Artikel 46 1. Jedem wird der gerichtliche Schutz seiner Rechte und Freiheiten garantiert. 2. Gegen Entscheidungen und Handlungen (oder die Untätigkeit) der Organe der Staatsgewalt, der Organe der örtlichen Selbstverwaltung, der gesellschaftlichen Vereinigungen und Amtsträger steht der Rechtsweg offen. 3. Jeder ist berechtigt, sich gemäß den völkerrechtlichen Verträgen der Rußländischen Föderation an die zwischenstaatlichen Organe zum Schutz der Menschenrechte und -freiheiten

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zu wenden, wenn alle bestehenden innerstaatlichen Mittel des Rechtsschutzes ausgeschöpft sind. Artikel 47 1. Niemandem darf das Recht auf Verhandlung seiner Sache vor dem Gericht und durch die Richter, die gesetzlich für sie zuständig sind, entzogen werden. 2. Der einer Straftat Beschuldigte hat in den durch Bundesgesetz vorgesehenen Fällen das Recht auf Verhandlung seiner Sache durch ein Gericht unter Mitwirkung von Geschworenen. Artikel 48 1. Jedem wird das Recht garantiert, qualifizierten juristischen Beistand zu erhalten. In den durch Gesetz vorgesehenen Fällen wird der juristische Beistand unentgeltlich geleistet. 2. Jeder Festgenommene, Verhaftete oder einer Straftat Beschuldigte hat das Recht, sich des Beistands eines Rechtsanwalts (Verteidigers) vom Moment seiner Festnahme, Verhaftung oder Beschuldigung an zu bedienen. Artikel 49 1. Jeder einer Straftat Beschuldigte gilt als unschuldig, solange seine Schuld nicht in dem durch Bundesgesetz vorgesehenen Verfahren bewiesen und durch rechtskräftiges Gerichtsurteil festgestellt worden ist. 2. Der Beschuldigte ist nicht verpflichtet, seine Unschuld zu beweisen. 3. Unüberwindliche Zweifel an der Schuld einer Person werden zugunsten des Beschuldigten ausgelegt. Artikel 50 1. Niemand darf wegen ein und derselben Straftat mehrmals verurteilt werden. 2. Bei der Ausübung der Rechtsprechung sind Beweise, die unter Verletzung eines Bundesgesetzes erlangt worden sind, nicht verwertbar. 3. Jeder wegen einer Straftat Verurteilte hat das Recht auf Überprüfung des Urteils durch ein höheres Gericht in dem durch Bundesgesetz festgelegten Verfahren sowie das Recht, um Begnadigung oder Strafmilderung nachzusuchen. Artikel 51 1. Niemand ist verpflichtet, gegen sich selbst, gegen seinen Ehegatten oder gegen nahe Verwandte, deren Kreis durch Bundesgesetz bestimmt wird, auszusagen. 2. Durch Bundesgesetz können andere Fälle des Zeugnisverweigerungsrechts festgelegt werden.

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Artikel 52 Die Rechte der Opfer von Straftaten oder von Machtmißbrauch werden durch Gesetz geschützt. Der Staat gewährleistet den Opfern den Zugang zur Gerichtsbarkeit und den Ersatz des zugefügten Schadens. Artikel 53 Jeder hat das Recht auf staatlichen Ersatz des Schadens, der durch ungesetzliches Handeln (oder Unterlassen) der Organe der Staatsgewalt oder ihrer Amtsträger verursacht wurde. Artikel 54 1. Ein Gesetz, das Haftung begründet oder verschärft, hat keine rückwirkende Kraft. 2. Niemand haftet für eine Tat, die im Zeitpunkt ihrer Begehung nicht als Rechtsverletzung galt. Wird nach der Begehung der Rechtsverletzung die Haftung für sie aufgehoben oder gemildert, so gilt das neue Gesetz. Artikel 55 1. Die Aufzählung der Grundrechte und Grundfreiheiten in der Verfassung der Rußländischen Föderation darf nicht als Verneinung oder Schmälerung anderer allgemein anerkannter Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers ausgelegt werden. 2. In der Rußländischen Föderation dürfen keine Gesetze erlassen werden, die die Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers aufheben oder schmälern. 3. Die Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers können durch Bundesgesetz nur in dem Maße eingeschränkt werden, wie dies zum Schutz der Grundlagen der Verfassungsordnung, der Moral, der Gesundheit, der Rechte und gesetzlichen Interessen anderer sowie zur Gewährleistung der Landesverteidigung und Staatssicherheit notwendig ist. Artikel 56 1. Unter den Bedingungen des Ausnahmezustandes können zur Gewährleistung der Sicherheit der Bürger und zum Schutz der Verfassungsordnung in Übereinstimmung mit einem Bundesverfassungsgesetz einzelne Beschränkungen der Rechte und Freiheiten unter Angabe ihrer Grenzen und ihrer Geltungsfrist festgelegt werden. 2. Der Ausnahmezustand auf dem gesamten Territorium der Rußländischen Föderation und in einzelnen ihrer Gegenden kann unter den Umständen und nach dem Verfahren verhängt werden, die durch Bundesverfassungsgesetz festgelegt sind. 3. Die in den Artikeln 20, 21, 23 Abs. 1, 24, 28, 34 Abs. 1, 40 Abs. 1, 46 – 54 der Verfassung der Rußländischen Föderation vorgesehenen Rechte und Freiheiten unterliegen keiner Einschränkung. Artikel 57 Jeder ist verpflichtet, die rechtmäßig festgesetzten Steuern und sonstige Abgaben zu zahlen. Gesetze, die neue Steuern einführen oder die Lage der Steuerzahler verschlechtern, haben keine rückwirkende Kraft.

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Artikel 58 Jeder ist verpflichtet, die Natur und die Umwelt zu erhalten und sorgsam mit den Naturreichtümern umzugehen. Artikel 59 1. Der Schutz des Vaterlandes ist Schuldigkeit und Pflicht des Bürgers der Rußländischen Föderation. 2. Der Bürger der Rußländischen Föderation leistet Militärdienst gemäß dem Bundesgesetz. 3. Der Bürger der Rußländischen Föderation hat das Recht, falls die Ableistung des Militärdienstes seinen Überzeugungen oder seinem Glaubensbekenntnis widerspricht, und ebenso in anderen durch Bundesgesetz festgelegten Fällen statt dessen einen zivilen Ersatzdienst zu leisten. Artikel 60 Von seinem 18. Lebensjahr an kann der Bürger der Rußländischen Föderation selbständig in vollem Umfang seine Rechte und Pflichten wahrnehmen. Artikel 61 1. Der Bürger der Rußländischen Föderation darf nicht aus der Rußländischen Föderation ausgewiesen oder an einen anderen Staat ausgeliefert werden. 2. Die Rußländische Föderation garantiert ihren Bürgern Fürsorge und Schutz über ihre Grenzen hinaus. Artikel 62 1. Der Bürger der Rußländischen Föderation kann in Übereinstimmung mit Bundesgesetz oder völkerrechtlichem Vertrag die Staatsangehörigkeit eines anderen Staates besitzen (doppelte Staatsangehörigkeit). 2. Besitzt ein Bürger der Rußländischen Föderation die Staatsangehörigkeit eines ausländischen Staates, so schmälert dies nicht seine Rechte und Freiheiten und befreit ihn nicht von den sich aus der rußländischen Staatsangehörigkeit ergebenden Pflichten, wenn nicht ein anderes durch Bundesgesetz oder völkerrechtlichen Vertrag der Rußländischen Föderation vorgesehen ist. 3. Ausländer und Staatenlose genießen in der Rußländischen Föderation die gleichen Rechte und tragen die gleichen Pflichten wie die Bürger der Rußländischen Föderation, außer in den durch Bundesgesetz oder völkerrechtlichen Vertrag der Rußländischen Föderation festgelegten Fällen. Artikel 63 1. Die Rußländische Föderation gewährt Ausländern und Staatenlosen politisches Asyl entsprechend den allgemein anerkannten Normen des Völkerrechts. 2. In der Rußländischen Föderation ist die Auslieferung von Personen, die wegen ihrer politischen Überzeugung sowie wegen in der Rußländischen Föderation nicht als Straftaten

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angesehene Handlungen (oder Unterlassung), verfolgt werden, an andere Staaten unzulässig. Die Auslieferung von Personen, die einer Straftat beschuldigt sind, und ebenso von Verurteilten, die ihre Strafe in anderen Staaten verbüßen sollen, richtet sich nach Bundesgesetz oder völkerrechtlichem Vertrag der Rußländischen Föderation. Artikel 64 Die Bestimmungen dieses Kapitels bilden die Grundlagen der Rechtsstellung des Einzelnen in der Rußländischen Föderation und dürfen nur in dem durch die vorliegende Verfassung festgelegten Verfahren geändert werden. Kapitel 3. Föderativer Aufbau Artikel 65 1. Die Rußländische Föderation bilden folgende Subjekte der Rußländischen Föderation: Republik Adygien (Adygien), Republik Altai, Republik Baschkortostan, Republik Burjatien, Republik Dagestan, Republik Inguschische, Kabardino-Balkarische Republik, Republik Kalmykjen, Karatschaisch-Tscherkessische Republik, Republik Karelien, Republik Komi, Republik Mari El, Republik Mordwinien, Republik Sacha (Jakutien), Republik Nordossetien – Alania, Republik Tatarstan (Tatar-stan), Republik Tuwa, Udmurtische Republik, Republik Chakassien, Tschetschenische Republik, Tschuwaschische Republik – Tschawasch; Region Altai, Region Krasnodar, Region Krasnojarsk, Region Primorje, Region Stawropol, Region Chabarowsk; Gebiet Amur, Gebiet Archangelsk, Gebiet Astrachan, Gebiet Belgorod, Gebiet Brjansk, Gebiet Wladimir, Gebiet Wolgograd, Gebiet Wologda, Gebiet Woronesch, Gebiet Iwanowo, Gebiet Irkutsk, Gebiet Kaliningrad, Gebiet Kaluga, Gebiet Kamtschatka, Gebiet Kemerowo, Gebiet Kirow, Gebiet Kostroma, Gebiet Kurgan, Gebiet Kursk, Gebiet Leningrad, Gebiet Lipezk, Gebiet Magadan, Gebiet Moskau, Gebiet Murmansk, Gebiet Nischni Nowgorod, Gebiet Nowgorod, Gebiet Nowosibirsk, Gebiet Omsk, Gebiet Orenburg, Gebiet Orjol, Gebiet Pensa, Gebiet Perm, Gebiet Pskow, Gebiet Rostow, Gebiet Rjuasan, Gebiet Samara, Gebiet Saratow, Gebiet Sachalin, Gebiet Swerdlowsk, Gebiet Smolensk, Gebiet Tambow, Gebiet Twer, Gebiet Tomsk, Gebiet Tula, Gebiet Tjumen, Gebiet Uljanowsk, Gebiet Tscheljabinsk, Gebiet Tschita, Gebiet Jaroslawl; Moskau, St. Petersburg – Städte föderalen Ranges; Jüdisches Autonomes Gebiet; Autonomer Bezirk der Aginer Burjaten, Autonomer Bezirk der Komi-Permjaken, Autonomer Bezirk der Korjaken, Autonomer Bezirk der Nenzen, Taimyrischer (DolganoNenzischer) Autonomer Bezirk, Autonomer Bezirk der Ust-Ordyner Burjaten, Autonomer Bezirk der Chanten und Mansen, Autonomer Bezirk der Tschuktschen, Autonomer Bezirk der Ewenken, Autonomer Bezirk der Jamal-Nenzen. 2. Ein neues Subjekt wird in dem durch Bundesverfassungsgesetz festgelegten Verfahren in die Rußländische Föderation aufgenommen oder innerhalb der Rußländischen Föderation gebildet.

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Artikel 66 1. Der Status einer Republik wird durch die Verfassung der Rußländischen Föderation und die Verfassung der Republik bestimmt. 2. Der Status einer Region, eines Gebiets, einer bundesbedeutsamen Stadt, eines autonomen Gebietes und eines autonomen Bezirks wird bestimmt durch die Verfassung der Rußländischen Föderation und das Statut der Region, des Gebiets, der bundesbedeutsamen Stadt, des autonomen Gebietes, des autonomen Bezirkes, das von dem Gesetzgebungs(Vertretungs-)organ des entsprechenden Subjekts der Rußländischen Föderation verabschiedet wird. 3. Auf Vorschlag der gesetzgebenden und vollziehenden Organe des autonomen Gebiets oder eines autonomen Bezirks kann ein Bundesgesetz über das autonome Gebiet bzw. den autonomen Bezirk verabschiedet werden. 4. Die Beziehungen der innerhalb einer Region oder eines Gebietes belegenen autonomen Bezirke können durch Bundesgesetz und Vertrag zwischen den Organen der Staatsgewalt des autonomen Bezirks und den Organen der Staatsgewalt der Region beziehungsweise des Gebiets geregelt werden. 5. Der Status eines Subjekts der Rußländischen Föderation kann in gegenseitigem Einvernehmen zwischen der Rußländischen Föderation und dem Subjekt der Rußländischen Föderation in Übereinstimmung mit einem Bundesverfassungsgesetz geändert werden. Artikel 67 1. Das Territorium der Rußländischen Föderation umfaßt die Territorien ihrer Subjekte, die Inneren Gewässer, das Küstenmeer und den darüberliegenden Luftraum. 2. Die Rußländische Föderation verfügt über die souveränen Rechte und übt die Jurisdiktion über den Festlandsockel und die ausschließliche Wirtschaftszone der Rußländischen Föderation gemäß der durch Bundesgesetz und Völkerrechtsnormen bestimmten Ordnung aus. 3. Grenzen zwischen Subjekten der Rußländischen Föderation können bei deren gegenseitigem Einvernehmen geändert werden. Artikel 68 1. Staatssprache der Rußländischen Föderation auf ihrem gesamten Territorium ist die russische Sprache. 2. Die Republiken sind berechtigt, ihre eigenen Staatssprachen festzulegen. Diese werden in den Organen der Staatsgewalt, den Organen der örtlichen Selbstverwaltung und den staatlichen Einrichtungen der Republiken gleichberechtigt neben der Staatssprache der Rußländischen Föderation verwendet. 3. Die Rußländische Föderation garantiert allen ihren Völkern das Recht auf Erhalt ihrer Muttersprache sowie die Schaffung von Bedingungen für deren Erlernen und deren Entwicklung.

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Artikel 69 Die Rußländische Föderation garantiert die Rechte der kleinen Urvölker in Übereinstimmung mit den allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des Völkerrechts und den völkerrechtliche Verträgen der Rußländischen Föderation. Artikel 70 1. Staatsflagge, -wappen und -hymne der Rußländischen Föderation, ihre Beschreibung und das Verfahren ihrer offiziellen Verwendung werden durch Bundesverfassungsgesetz festgelegt. 2. Hauptstadt der Rußländischen Föderation ist die Stadt Moskau. Der Status der Hauptstadt wird durch Bundesgesetz festgelegt. Artikel 71 Zur Zuständigkeit der Rußländischen Föderation gehören: a)

die Verabschiedung und Änderung der Verfassung der Rußländischen Föderation und der Bundesgesetze sowie die Kontrolle über ihre Einhaltung;

b) der bundesstaatliche Aufbau und das Territorium der Rußländischen Föderation; c)

die Regelung und der Schutz der Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers; die Staatsangehörigkeit der Rußländischen Föderation; die Regelung und der Schutz der Rechte der nationalen Minderheiten;

d) die Festlegung des Systems der Bundesorgane der gesetzgebenden, vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt sowie der Ordnung ihrer Organisation und Tätigkeit; die Bildung von Bundesorganen der Staatsgewalt; e)

das Bundeseigentum und dessen Verwaltung;

f)

die Festlegung der Grundsätze der Bundespolitik sowie Bundesprogramme auf dem Gebiet der staatlichen, wirtschaftlichen, ökologischen, sozialen, kulturellen und nationalen Entwicklung der Rußländischen Föderation;

g) die Festlegung der rechtlichen Grundlagen eines einheitlichen Marktes; die Regelung des Finanz-, Währungs-, Kredit- und Zollwesens, die Geldemission, die Grundsätze der Preispolitik; die Bundeswirtschaftsdienste einschließlich der Banken des Bundes; h) der Bundeshaushalt; die Bundessteuern und -abgaben; die Bundesfonds für Regionalentwicklung; i)

die Bundes-Energiesysteme, Kernenergie, spaltbare Materialien; Bundesverkehr, Bundesverkehrswege sowie Informations-, Post- und Fernmeldewesen des Bundes; Aktivitäten im Weltraum;

j)

die Außenpolitik und die internationalen Beziehungen der Rußländischen Föderation, völkerrechtliche Verträge der Rußländischen Föderation; Fragen von Krieg und Frieden;

k) die außenwirtschaftlichen Beziehungen der Rußländischen Föderation; l)

Verteidigung und Sicherheit; Rüstungsproduktion; die Bestimmung des Verfahrens für Verkauf und Kauf von Waffen, Munition, Militärtechnik und anderem Militärgut; die Produktion von Giftstoffen und Betäubungsmitteln sowie die Ordnung ihres Gebrauchs;

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m) die Bestimmung des Status und der Schutz der Staatsgrenze, des Küstenmeers, des Luftraums, der ausschließlichen Wirtschaftszone und des Festlandsockels der Rußländischen Föderation; n) die Gerichtsverfassung; die Staatsanwaltschaft; die Straf-, Strafprozeß- und Strafvollzugsgesetzgebung; Amnestie und Begnadigung; die Zivil-, Zivilprozeß- und Arbitrageverfahrensgesetzgebung; die rechtliche Regelung des geistigen Eigentums; o) das Bundeskollisionsrecht; p) der meteorologische Dienst, Industriestandards, Eichmaße, metrisches System und Zeitberechnung; Vermessungswesen und Kartographie; Benennungen geographischer Objekte, amtliche Statistik und Buchführung; q) die staatlichen Auszeichnungen und Ehrentitel der Rußländischen Föderation; r)

der Staatsdienst des Bundes.

Artikel 72 1. Zur gemeinsamen Zuständigkeit der Rußländischen Föderation und der Subjekte der Rußländischen Föderation gehören: a) die Gewährleistung der Übereinstimmung der Verfassungen und Gesetze der Republiken, der Statuten, Gesetze und anderen normativen Rechtsakten der Regionen, Gebiete, bundesbedeutsamen Städte, des autonomen Gebiets und der autonomen Bezirke mit der Verfassung der Rußländischen Föderation und den Bundesgesetzen; b) der Schutz der Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers; der Schutz der Rechte der nationalen Minderheiten; die Gewährleistung der Gesetzlichkeit, der Rechtsordnung und der öffentlichen Sicherheit; die Ordnung der Grenzgebiete; c) Fragen des Besitzes, der Nutzung und der Verfügung über Grund und Boden, Bodenschätze, Wasser- und andere Naturvorräte; d) die Abgrenzung des Staatseigentums; e) Naturnutzung; Umweltschutz und Gewährleistung der ökologischen Sicherheit; besonders geschützte Naturgebiete; Schutz von Geschichts- und Kulturdenkmälern; f)

allgemeine Fragen der Erziehung, der Bildung, der Wissenschaft, der Kultur, der Körperkultur und des Sports;

g) Koordination von Fragen des Gesundheitsschutzes; Schutz von Familie, Mutterschaft, Vaterschaft und Kindheit; sozialer Schutz einschließlich der sozialen Sicherung; h) die Durchführung von Maßnahmen zur Bekämpfung von Katastrophen, Naturkatastrophen und Epidemien sowie die Beseitigung ihrer Folgen; i)

die Festlegung allgemeiner Prinzipien der Besteuerung und Abgaben in der Rußländischen Föderation;

j)

die Verwaltungs-, Verwaltungsprozeß-, Arbeits-, Familien-, Wohnungs-, Boden-, Wasser- und Forstgesetzgebung; die Gesetzgebung über Bodenschätze und Umweltschutz;

k) das Personal der Gerichts- und Rechtsschutzorgane; Rechtsanwaltschaft, Notariat;

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Anhang: Verfassung der Russischen Föderation von 1993 Schutz des angestammten Lebensraums und der traditionellen Lebensform kleiner ethnischer Gemeinschaften;

m) die Festlegung allgemeiner Organisationsprinzipien für das System der Organe der Staatsgewalt und der örtlichen Selbstverwaltung; n) die Koordinierung der internationalen und außenwirtschaftlichen Beziehungen der Subjekte der Rußländischen Föderation und die Erfüllung der völkerrechtlichen Verträge der Rußländischen Föderation. 2. Die Bestimmungen dieses Artikels gelten gleichermaßen für die Republiken, Regionen, Gebiete, bundesbedeutsamen Städte, das autonome Gebiet und die autonomen Bezirke. Artikel 73 Außerhalb der Zuständigkeit der Rußländischen Föderation und der Befugnisse der Rußländischen Föderation im Bereich der gemeinsamen Zuständigkeit der Rußländischen Föderation und der Subjekte der Rußländischen Föderation verfügen die Subjekte der Rußländischen Föderation über die gesamte Fülle der Staatsgewalt. Artikel 74 1. Auf dem Territorium der Rußländischen Föderation ist die Einführung von Zollgrenzen, -gebühren und -abgaben oder von irgendwelchen anderen Behinderungen des freien Verkehrs von Waren, Dienstleistungen und Finanzmitteln unzulässig. 2. Beschränkungen des Waren- und Dienstleistungsverkehrs können in Übereinstimmung mit einem Bundesgesetz eingeführt werden, wenn dies für die Gewährleistung der Sicherheit, des Schutzes des Lebens und der Gesundheit von Menschen, des Naturschutzes und des Schutzes kultureller Werte notwendig ist. Artikel 75 1. Die Geldeinheit in der Rußländischen Föderation ist der Rubel. Die Geldemission erfolgt ausschließlich durch die Zentralbank der Rußländischen Föderation. Die Einführung und die Emission anderen Geldes in der Rußländischen Föderation ist unzulässig. 2. Der Schutz und die Gewährleistung der Stabilität des Rubels ist die Grundfunktion der Zentralbank der Rußländischen Föderation, die sie unabhängig von anderen Organen der Staatsgewalt ausübt. 3. Das System der Steuern, die an den Bundeshaushalt abgeführt werden, sowie die allgemeinen Prinzipien der Besteuerung und Abgaben in der Rußländischen Föderation werden durch Bundesgesetz festgelegt. 4. Staatsanleihen werden in einem durch Bundesgesetz bestimmten Verfahren emittiert und auf freiwilliger Basis untergebracht. Artikel 76 1. Im Zuständigkeitsbereich der Rußländischen Föderation werden Bundesverfassungsgesetze und Bundesgesetze verabschiedet, die auf dem gesamten Territorium der Rußländischen Föderation unmittelbar gelten.

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2. Im gemeinsamen Zuständigkeitsbereich der Rußländischen Föderation und der Subjekte der Rußländischen Föderation werden Bundesgesetze erlassen sowie in Einklang mit diesen verabschiedete Gesetze und andere normative Rechtsakte der Subjekte der Rußländischen Föderation. 3. Bundesgesetze dürfen Bundesverfassungsgesetzen nicht widersprechen. 4. Außerhalb des Zuständigkeitsbereichs der Rußländischen Föderation und des gemeinsamen Zuständigkeitsbereichs der Rußländischen Föderation und der Subjekte der Rußländischen Föderation treffen die Republiken, die Regionen, Gebiete, bundesbedeutsamen Städte, das autonome Gebiet und die autonomen Bezirke ihre eigenen rechtlichen Regelungen, einschließlich der Verabschiedung von Gesetzen und anderer normative Rechtsakte. 5. Die Gesetze und anderen normativen Rechtsakte der Subjekte der Rußländischen Föderation dürfen den Bundesgesetzen nicht widersprechen, die in Übereinstimmung mit den Absätzen 1 und 2 dieses Artikels verabschiedet wurden. Widersprechen ein Bundesgesetz und ein anderer in der Rußländischen Föderation erlassener Akt einander, so gilt das Bundesgesetz. 6. Wenn ein Bundesgesetz und ein normativer Rechtsakt eines Subjekts der Rußländischen Föderation, der in Übereinstimmung mit Absatz 4 dieses Artikels erlassen wurde, einander widersprechen, so gilt der normativer Rechtsakt des Subjekts der Rußländischen Föderation. Artikel 77 1. Das System der Organe der Staatsgewalt der Republiken, Regionen, Gebiete, bundesbedeutsamen Städte, des autonomen Gebietes und der autonomen Bezirke wird von den Subjekten der Rußländischen Föderation, in Übereinstimmung mit den Grundlagen der Verfassungsordnung der Rußländischen Föderation und den allgemeinen Prinzipien der Organisation der Vertretungs- und Vollzugsorgane der Staatsgewalt, die durch Bundesgesetz bestimmt sind, selbständig festgelegt. 2. In den Grenzen der Zuständigkeit der Rußländischen Föderation und der Befugnisse der Rußländischen Föderation im gemeinsamen Zuständigkeitsbereich der Rußländischen Föderation und der Subjekte der Rußländischen Föderation bilden die Bundesorgane der vollziehenden Gewalt und die Vollzugsorgane der Subjekte der Rußländischen Föderation ein einheitliches System der vollziehenden Gewalt in der Rußländischen Föderation. Artikel 78 1. Die Bundesvollzugsorgane können zur Ausübung ihrer Befugnisse eigene territoriale Organe bilden und entsprechende Amtsträger ernennen. 2. Die Bundesvollzugsorgane können im Einvernehmen mit den Vollzugsorganen der Subjekte der Rußländischen Föderation diesen die Ausübung eines Teils ihrer Befugnisse übertragen, sofern dies nicht der Verfassung der Rußländischen Föderation und den Bundesgesetzen widerspricht. 3. Die Vollzugsorgane der Subjekte der Rußländischen Föderation können in Übereinkunft mit den Bundesvollzugsorganen diesen die Ausübung eines Teils ihrer Befugnisse übertragen. 4. Der Präsident der Rußländischen Föderation und die Regierung der Rußländischen Föderation gewährleisten in Übereinstimmung mit der Verfassung der Rußländischen Föderation

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die Ausübung der Befugnisse der Bundesstaatsgewalt auf dem gesamten Territorium der Rußländischen Föderation. Artikel 79 Die Rußländische Föderation kann sich in Übereinstimmung mit völkerrechtlichen Verträgen an zwischenstaatlichen Vereinigungen beteiligen und diesen einen Teil ihrer Befugnisse übertragen, sofern dies nicht eine Beschränkung der Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers zur Folge hat und nicht den Grundlagen der Verfassungsordnung der Rußländischen Föderation widerspricht. Kapitel 4. Der Präsident der Rußländischen Föderation Artikel 80 1. Der Präsident der Rußländischen Föderation ist das Staatsoberhaupt. 2. Der Präsident der Rußländischen Föderation ist Garant der Verfassung der Rußländischen Föderation sowie der Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers. Gemäß dem durch die Verfassung der Rußländischen Föderation festgelegten Verfahren ergreift er Maßnahmen zum Schutz der Souveränität der Rußländischen Föderation, ihrer Unabhängigkeit und staatlichen Integrität und gewährleistet das aufeinander abgestimmte Funktionieren und Zusammenwirken der Organe der Staatsgewalt. 3. Der Präsident der Rußländischen Föderation bestimmt in Übereinstimmung mit der Verfassung der Rußländischen Föderation und den Bundesgesetzen die Richtlinien der Innenund Außenpolitik des Staates. 4. Der Präsident der Rußländischen Föderation vertritt als Staatsoberhaupt die Rußländische Föderation innerhalb des Landes und in den internationalen Beziehungen. Artikel 81 1. Der Präsident der Rußländischen Föderation wird von den Bürgern der Rußländischen Föderation auf der Grundlage des allgemeinen, gleichen und unmittelbaren Wahlrechts in geheimer Abstimmung auf vier Jahre gewählt. 2. Zum Präsidenten der Rußländischen Föderation kann ein Bürger der Rußländischen Föderation gewählt werden, der nicht jünger als 35 Jahre ist und seit mindestens 10 Jahren ständig in der Rußländischen Föderation lebt. 3. Ein und dieselbe Person kann das Präsidentenamt nicht länger als zwei Amtsperioden in Folge innehaben. 4. Das Verfahren der Wahl des Präsidenten der Rußländischen Föderation wird durch Bundesgesetz bestimmt. Artikel 82 1. Bei Amtsantritt leistet der Präsident der Rußländischen Föderation dem Volk folgenden Eid: „Ich schwöre, bei der Ausübung der Befugnisse des Präsidenten der Rußländischen Föderation die Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers zu achten und zu schützen, die Verfassung der Rußländischen Föderation einzuhalten und zu verteidigen, die Souve-

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ränität, Unabhängigkeit, Sicherheit und Integrität des Staates zu verteidigen und dem Volke treu zu dienen“. 2. Der Eid wird in feierlichem Rahmen in Anwesenheit der Mitglieder des Bundesrates, der Abgeordneten der Staatsduma und der Richter des Verfassungsgerichts der Rußländischen Föderation geleistet. Artikel 83 Der Präsident der Rußländischen Föderation: a) ernennt mit Zustimmung der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung der Rußländischen Föderation; b) hat das Recht, bei Sitzungen der Regierung der Rußländischen Föderation den Vorsitz zu führen; c) entscheidet über die Frage des Rücktritts der Regierung der Rußländischen Föderation; d) präsentiert der Staatsduma die Kandidatur für das Amt des Vorsitzenden der Zentralbank der Rußländischen Föderation; legt der Staatsduma die Frage der Entlassung des Vorsitzenden der Zentralbank der Rußländschen Föderation vor; e) ernennt und entläßt auf Vorschlag des Vorsitzenden der Regierung der Rußländischen Föderation die Stellvertreter des Vorsitzenden der Regierung der Rußländischen Föderation und die Bundesminister; f) präsentiert dem Bundesrat die Kandidaturen für die Ernennung zu Richtern des Verfassungsgerichts der Rußländischen Föderation, des Obersten Gerichts der Rußländischen Föderation, des Obersten Arbitragegerichts der Rußländischen Föderation, sowie die Kandidatur für das Amt des Generalstaatsanwalts der Rußländischen Föderation; bringt den Vorschlag für die Entlassung des Generalstaatsanwalts der Rußländischen Föderation in den Bundesrat ein; ernennt die Richter der anderen Bundesgerichte; g) bildet und leitet den Sicherheitsrat der Rußländischen Föderation, dessen Status durch Bundesgesetz bestimmt wird; h) bestätigt die Militärdoktrin der Rußländischen Föderation; i) bildet die Verwaltung des Präsidenten der Rußländischen Föderation; j) ernennt und entläßt die bevollmächtigten Vertreter des Präsidenten der Rußländischen Föderation; k) ernennt und entläßt das Oberkommando der Streitkräfte der Rußländischen Föderation; l) ernennt und beruft ab nach Konsultierung der entsprechenden Komitees oder Kommissionen der Kammern der Bundesversammlung die diplomatischen Vertreter der Rußländischen Föderation in ausländischen Staaten und bei internationalen Organisationen. Artikel 84 Der Präsident der Rußländischen Föderation: a) beraumt im Übereinstimmung mit der Verfassung der Rußländischen Föderation und dem Bundesgesetz die Wahlen zur Staatsduma an;

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b) löst die Staatsduma in den Fällen und nach dem Verfahren auf, die in der Verfassung der Rußländischen Föderation vorgesehen sind; c) beraumt ein Referendum an in dem Verfahren, das durch Bundesverfassungsgesetz festgelegt ist; d) bringt Gesetzentwürfe in die Staatsduma ein; e) unterzeichnet und verkündet die Bundesgesetze; f) wendet sich an die Bundesversammlung mit alljährlichen Botschaften über die Lage im Lande und über die Grundrichtungen der Innen- und Außenpolitik des Staates. Artikel 85 1. Der Präsident der Rußländischen Föderation kann Schlichtungsverfahren anwenden zur Klärung von Meinungsverschiedenheiten zwischen Organer Staatsgewalt der Rußländischen Föderation und Organen der Staatsgewalt von Subjekten der Rußländischen Föderation, ebenso wie zwischen Organen der Staatsgewalt von Subjekten der Rußländischen Föderation. Wird keine einvernehmliche Lösung erreicht, so kann er die Entscheidung des Streits dem entsprechenden Gericht zur Prüfung vorlegen. 2. Der Präsident der Rußländischen Föderation ist berechtigt, den Vollzug von Akten der Vollzugsorgane der Subjekte der Rußländischen Föderation, die der Verfassung der Rußländischen Föderation, Bundesgesetzen oder völkerrechtlichen Verpflichtungen der Rußländischen Föderation widersprechen oder die Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers verletzen, bis zur Klärung dieser Frage durch das entsprechende Gericht auszusetzen. Artikel 86 Der Präsident der Rußländischen Föderation: a) hat die Leitung der Außenpolitik der Rußländischen Föderation inne; b) führt Verhandlungen und unterzeichnet die völkerrechtlichen Verträge der Rußländischen Föderation; c) unterzeichnet die Ratifikationsurkunden; d) nimmt die Beglaubigungs- und Abberufungsurkunden der bei ihm akkreditierten diplomatischen Vertreter entgegen. Artikel 87 1. Der Präsident der Rußländischen Föderation ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte der Rußländischen Föderation. 2. Im Falle eines Angriffs gegen die Rußländische Föderation oder eines unmittelbar drohenden Angriffs verhängt der Präsident der Rußländischen Föderation unter unverzüglicher Benachrichtigung des Bundesrates und der Staatsduma den Kriegszustand über das Territorium der Rußländischen Föderation oder einzelne ihrer Gegenden. 3. Das Regime des Kriegszustands wird durch Bundesverfassungsgesetz bestimmt.

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Artikel 88 Der Präsident der Rußländischen Föderation verhängt unter sofortiger Benachrichtigung des Bundesrates und der Staatsduma unter den Umständen und in dem Verfahren, die durch Bundesverfassungsgesetz vorgesehen sind, über das Territorium der Rußländischen Föderation oder einzelne ihrer Gegenden den Ausnahmezustand. Artikel 89 Der Präsident der Rußländischen Föderation: a) entscheidet Fragen der Staatsangehörigkeit der Rußländischen Föderation und der Gewährung politischen Asyls; b) verleiht die staatlichen Auszeichnungen der Rußländischen Föderation, die Ehrentitel der Rußländischen Föderation sowie die höchsten militärischen Ränge und die höchsten Dienstränge; c) übt das Begnadigungsrecht aus. Artikel 90 1. Der Präsident der Rußländischen Föderation erläßt Ukaze und Verfügungen. 2. Ukaze und Verfügungen des Präsidenten der Rußländischen Föderation müssen auf dem gesamten Territorium der Rußländischen Föderation ausgeführt werden. 3. Ukaze und Verfügungen des Präsidenten der Rußländischen Föderation dürfen der Verfassung der Rußländische Föderation und den Bundesgesetzen nicht widersprechen. Artikel 91 Der Präsident der Rußländischen Föderation genießt Immunität. Artikel 92 1. Der Präsident der Rußländischen Föderation beginnt die Ausübung seiner Amtsbefugnisse mit seiner Eidesleistung und beendet sie nach dem Ablauf seiner Amtsperiode mit der Eidesleistung des neu gewählten Präsidenten der Rußländischen Föderation. 2. Der Präsident der Rußländischen Föderation beendet die Ausübung seiner Amtsbefugnisse vorzeitig im Fall seines Rücktritts, im Fall, daß er die ihm zukommenden Befugnisse aus Gesundheitsgründen nicht wahrnehmen kann, oder durch Amtsenthebung. In diesen Fällen müssen Wahlen zum Präsidenten der Rußländischen Föderation spätestens drei Monate ab vorzeitiger Amtsbeendigung stattfinden. 3. In allen Fällen, in denen der Präsident der Rußländischen Föderation nicht in der Lage ist, seine Pflichten wahrzunehmen, erfüllt sie vorübergehend der Vorsitzende der Regierung der Rußländischen Föderation. Der geschäftsführende Präsident der Rußländischen Föderation hat nicht das Recht, die Staatsduma aufzulösen, ein Referendum anzusetzen und Vorlagen über Änderungen oder eine Überarbeitung von Bestimmungen der Verfassung der Rußländischen Föderation einzubringen.

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Artikel 93 1. Der Präsident der Rußländischen Föderation kann durch den Bundesrat nur dann seines Amtes enthoben werden, wenn die Staatsduma die Anklage des Staatsverrats oder der Begehung einer anderen schweren Straftat erhoben hat, die durch ein Gutachten des Obersten Gerichts der Rußländischen Föderation über das Vorliegen von Straftatmerkmalen in Handlungen des Präsidenten der Rußländischen Föderation und durch ein Gutachten des Verfassungsgerichts der Rußländischen Föderation darüber, daß die Anklageerhebung dem vorgeschriebenen Verfahren entspricht, bestätigt worden ist. 2. Die Entscheidung der Staatsduma über eine Anklageerhebung und die Entscheidung des Bundesrates über die Amtsenthebung des Präsidenten muß mit zwei Dritteln der Gesamtstimmzahl in jeder der Kammern auf Initiative von mindestens einem Drittel der Abgeordneten der Staatsduma und unter Vorliegen eines Gutachtens einer von der Staatsduma gebildeten Sonderkommission angenommen werden. 3. Die Entscheidung des Bundesrates der Rußländischen Föderation über die Amtsenthebung des Präsidenten der Rußländischen Föderation muß spätestens drei Monate nach Anklageerhebung der Staatsduma gegen den Präsidenten erfolgen. Wenn in dieser Frist keine Entscheidung des Bundesrates angenommen wird, gilt die Anklage gegen den Präsidenten als abgewiesen. Kapitel 5. Föderationsversammlung Artikel 94 Die Bundesversammlung – das Parlament der Rußländischen Föderation – ist das Vertretungs- und Gesetzgebungsorgan der Rußländischen Föderation. Artikel 95 1. Die Bundesversammlung besteht aus zwei Kammern: dem Bundesrat und der Staatsduma. 2. Dem Bundesrat gehören jeweils zwei Vertreter von jedem Subjekt der Rußländischen Föderation an: je einer von dem Vertretungs- und von dem Vollzugsorgan der Staatsgewalt. 3. Die Staatsduma besteht aus 450 Abgeordneten. Artikel 96 1. Die Staatsduma wird auf vier Jahre gewählt. 2. Das Verfahren der Bildung des Bundesrates und der Wahl der Abgeordneten der Staatsduma werden durch Bundesgesetze festgelegt. Artikel 97 1. Zum Abgeordneten der Staatsduma kann jeder Bürger der Rußländischen Föderation gewählt werden, der das 21. Lebensjahr vollendet hat und das aktive Wahlrecht besitzt. 2. Ein und dieselbe Person kann nicht gleichzeitig Mitglied des Bundesrates und Abgeordneter der Staatsduma sein. Ein Abgeordneter der Staatsduma kann nicht Abgeordneter anderer Vertretungsorgane der Staatsgewalt oder örtlicher Selbstverwaltungsorgane sein.

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3. Die Abgeordneten der Staatsduma arbeiten hauptberuflich. Die Abgeordneten der Staatsduma dürfen weder im Staatsdienst stehen noch eine andere bezahlte Tätigkeit ausüben, ausgenommen eine lehrende, wissenschaftliche oder sonstige schöpferische Tätigkeit. Artikel 98 1. Mitglieder des Bundesrates und Abgeordnete der Staatsduma genießen während der gesamten Dauer ihres Mandates Immunität. Sie dürfen nicht festgenommen, verhaftet oder durchsucht werden, außer bei Festnahme am Tatort, und keiner Leibesvisitation unterzogen werden, es sei denn, daß dies in einem Bundesgesetz zur Gewährleistung der Sicherheit anderer Menschen vorgesehen ist. 2. Über die Aufhebung der Immunität entscheidet auf Vorlage des Generalstaatsanwalts der Rußländischen Föderation die entsprechende Kammer der Bundesversammlung. Artikel 99 1. Die Bundesversammlung ist ein ständig tätiges Organ. 2. 1 Die Staatsduma tritt am 30. Tag nach der Wahl zur ersten Sitzung zusammen. 2 Der Präsident der Rußländischen Föderation ist berechtigt, vor diesem Zeitpunkt eine Sitzung der Staatsduma einzuberufen. 3. Die erste Sitzung der Staatsduma eröffnet der nach Lebensalter älteste Abgeordnete. 4. Mit dem Beginn der Arbeit der Staatsduma der neuen Legislaturperiode erlöschen die Befugnisse der Staatsduma der vorherigen Legislaturperiode. Artikel 100 1. Bundesrat und Staatsduma tagen getrennt. 2. 1 Die Sitzungen des Bundesrates und der Staatsduma sind öffentlich. 2 In von der Geschäftsordnung einer Kammer vorgesehenen Fällen ist diese berechtigt, geschlossene Sitzungen abhalten. 3. Zur Anhörung von Botschaften des Präsidenten der Rußländischen Föderation, von Botschaften des Verfassungsgerichts der Rußländischen Föderation oder Reden ausländischer Staatsführer dürfen die Kammern gemeinsam zusammentreten. Artikel 101 1. Der Bundesrat wählt aus seiner Mitte den Vorsitzenden des Bundesrates und dessen Stellvertreter. Die Staatsduma wählt aus ihrer Mitte den Vorsitzenden der Staatsduma und dessen Stellvertreter. 2. Der Vorsitzende des Bundesrates und dessen Stellvertreter sowie der Vorsitzende der Staatsduma und dessen Stellvertreter leiten die Sitzungen und sind für den internen Arbeitsablauf der Kammer zuständig. 3. Bundesrat und Staatsduma bilden Komitees und Kommissionen und führen zu Fragen, die in ihre Zuständigkeit fallen, parlamentarische Anhörungen durch.

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4. Jede der Kammern verabschiedet ihre Geschäftsordnung und entscheidet Fragen ihres internen Arbeitsablaufs. 5. Zur Ausübung der Kontrolle über den Vollzug des Bundeshaushaltes bilden Bundesrat und Staatsduma einen Rechnungshof, dessen Zusammensetzung und Verfahrensordnung durch Bundesgesetz bestimmt werden. Artikel 102 1. Zur Zuständigkeit des Bundesrates gehören: a) die Bestätigung der Änderung von Grenzen zwischen Subjekten der Rußländischen Föderation; b) die Bestätigung eines Ukaz des Präsidenten der Rußländischen Föderation über die Verhängung des Kriegszustandes; c) die Bestätigung eines Ukaz des Präsidenten der Rußländischen Föderation über die Verhängung des Ausnahmezustandes; d) die Entscheidung über die Möglichkeit eines Einsatzes der Streitkräfte der Rußländischen Föderation außerhalb des Territoriums der Rußländischen Föderation; e) die Ausschreibung der Wahlen zum Präsidenten der Rußländischen Föderation; f) die Amtsenthebung des Präsidenten der Rußländischen Föderation; g) die Ernennung von Richtern des Verfassungsgerichts der Rußländischen Föderation, des Obersten Gerichts der Rußländischen Föderation und des Obersten Arbitragegerichts der Rußländischen Föderation; h) die Ernennung und Entlassung des Generalstaatsanwalts der Rußländischen Föderation; i) die Ernennung und Entlassung des Stellvertreters des Vorsitzenden des Rechnungshofes und der Hälfte seiner Prüfer. 2. Der Bundesrat faßt Beschlüsse zu Fragen, für die er nach der Verfassung der Rußländischen Föderation zuständig ist. 3. Beschlüsse des Bundesrates werden mit der Stimmehrheit der Gesamtmitgliederzahl des Bundesrates gefaßt, sofern die Verfassung der Rußländischen Föderation kein anderes Beschlußverfahren vorsieht. Artikel 103 1. Zur Zuständigkeit der Staatsduma gehören: a) die Erteilung der Zustimmung an den Präsidenten der Rußländischen Föderation zur Ernennung des Vorsitzenden der Regierung der Rußländischen Föderation; b) die Entscheidung der Vertrauensfrage der Regierung der Rußländischen Föderation; c) die Ernennung und Entlassung des Vorsitzenden der Zentralbank der Rußländischen Föderation; d) die Ernennung und Entlassung des Vorsitzenden des Rechnungshofes und der Hälfte seiner Prüfer;

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e) die Ernennung und Entlassung des Menschenrechtsbeauftragten, der gemäß einem Bundesverfassungsgesetz tätig ist; f) die Verkündung einer Amnestie; g) die Anklageerhebung gegen den Präsidenten der Rußländischen Föderation zur Amtsenthebung. 2. Die Staatsduma faßt Beschlüsse zu Fragen, für die die nach Verfassung der Rußländischen Föderation zuständig ist. 3. Beschlüsse der Staatsduma werden mit der Stimmehrheit der Gesamtabgeordnetenzahl der Staatsduma gefaßt, sofern die Verfassung der Rußländischen Föderation kein anderes Beschlußverfahren vorsieht. Artikel 104 1. Das Recht der Gesetzesinitiative steht dem Präsidenten der Rußländischen Föderation, dem Bundesrat, Mitgliedern des Bundesrates, Abgeordneten der Staatsduma, der Regierung der Rußländischen Föderation und gesetzgebenden (Vertretungs-)Organen der Subjekte der Rußländischen Föderation zu. Das Recht zur Gesetzesinitiative steht ferner dem Verfassungsgericht der Rußländischen Föderation, dem Obersten Gericht der Rußländischen Föderation und dem Obersten Arbitragegericht der Rußländischen Föderation in Fragen ihrer Zuständigkeit zu. 2. Gesetzentwürfe werden in der Staatsduma eingebracht. 3. Gesetzentwürfe über die Einführung oder Abschaffung von Steuern, die Steuerbefreiungen, die Auflage von Staatsanleihen, die Änderung finanzieller Verpflichtungen des Staates und andere Gesetzesentwürfe, die Ausgaben zu Lasten des Bundeshaushaltes vorsehen, können nur bei Vorliegen eines Gutachtens der Regierung der Rußländischen Föderation eingebracht werden. Artikel 105 1. Bundesgesetze beschließt die Staatsduma. 2. Bundesgesetze werden mit Stimmehrheit der Gesamtabgeordnetenzahl der Staatsduma beschlossen, sofern die Verfassung der Rußländischen Föderation nichts anderes vorsieht. 3. Von der Staatsduma beschlossene Bundesgesetze werden innerhalb von fünf Tagen dem Bundesrat zur Behandlung zugeleitet. 4. Ein Bundesgesetz gilt als vom Bundesrat gebilligt, wenn mehr als die Hälfte der Gesamtzahl der Mitglieder dieser Kammer dafür gestimmt hat oder wenn es binnen vierzehn Tagen vom Bundesrat nicht verhandelt worden ist. Wird das Bundesgesetz vom Bundesrat abgelehnt, so können die Kammern einen Vermittlungsausschuß zur Überwindung der entstandenen Meinungsverschiedenheiten bilden, wonach das Bundesgesetz erneuter Verhandlung durch die Staatsduma unterliegt. 5. Ist die Staatsduma mit der Entscheidung des Bundesrates nicht einverstanden, so ist das Bundesgesetz beschlossen, wenn bei der erneuten Abstimmung nicht mindestens zwei Drittel der Gesamtabgeordnetenzahl der Staatsduma dafür stimmen.

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Artikel 106 Der notwendigen Verhandlung im Bundesrat unterliegen durch die Staatsduma beschlossene Gesetze über Fragen: a) des Bundeshaushalts; b) der Bundessteuern und -abgaben; c) der Regelung von Finanz-, Währungs-, Kredit- und Zollangelegenheiten sowie der Geldemission; d) der Ratifizierung und Kündigung völkerrechtlicher Verträge der Rußländischen Föderation; e) des Status und Schutzes der Staatsgrenze der Rußländischen Föderation; f) von Krieg und Frieden. Artikel 107 1. Das beschlossene Bundesgesetz ist innerhalb von fünf Tagen dem Präsidenten der Rußländischen Föderation zur Unterzeichnung und Verkündung zuzuleiten. 2. Der Präsident der Rußländischen Föderation unterzeichnet und verkündet das Bundesgesetz innerhalb von vierzehn Tagen. 3. Lehnt der Präsident der Rußländischen Föderation das Bundesgesetz innerhalb von vierzehn Tagen ab Eingang ab, so behandeln Staatsduma und Bundesrat das vorliegende Gesetz erneut in dem von der Verfassung der Rußländischen Föderation vorgesehenen Verfahren. Wird das Bundesgesetz bei erneuter Verhandlung in der vorher beschlossenen Fassung mit einer Mehrheit von mindestens zwei Dritteln der Stimmen der Gesamtmitgliederzahl des Bundesrates und der Gesamtabgeordnetenzahl der Staatsduma gebilligt, so ist es innerhalb von sieben Tagen vom Präsidenten der Rußländischen Föderation zu unterzeichnen und verkünden. Artikel 108 1. Bundesverfassungsgesetze werden zu den von der Verfassung der Rußländischen Föderation vorgesehenen Fragen verabschiedet. 2. Ein Bundesverfassungsgesetz ist beschlossen, wenn es mit einer Mehrheit von mindestens drei Viertel der Stimmen der Gesamtmitgliederzahl des Bundesrates und mindestens zwei Drittel der Stimmen der Gesamtabgeordnetenzahl der Staatsduma gebilligt worden ist. Das beschlossene Bundesverfassungsgesetz ist innerhalb von vierzehn Tagen vom Präsidenten der Rußländischen Föderation zu unterzeichnen und zu verkünden. Artikel 109 1. Die Staatsduma kann in den Fällen, die in den Artikeln 111 und 117 der Verfassung der Rußländischen Föderation vorgesehen sind, vom Präsidenten der Rußländischen Föderation aufgelöst werden. 2. Im Fall der Auflösung der Staatsduma bestimmt der Präsident der Rußländischen Föderation das Datum für Neuwahlen so, daß die neu gewählte Staatsduma spätestens vier Monate nach der Auflösung zusammentritt.

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3. Die Staatsduma kann innerhalb des ersten Jahres nach ihrer Wahl nicht aus den in Artikel 117 der Verfassung der Rußländischen Föderation vorgesehenen Gründen aufgelöst werden. 4. Die Staatsduma kann vom Zeitpunkt, in dem sie Anklage gegen den Präsidenten der Rußländischen Föderation erhoben hat, bis zur Verabschiedung einer entsprechenden Entscheidung durch den Bundesrat nicht aufgelöst werden. 5. Während des Kriegs- oder Ausnahmezustandes auf dem gesamten Territorium der Rußländischen Föderation sowie während der letzten sechs Monate vor Ablauf der Amtsperiode des Präsidenten der Rußländischen Föderation kann die Staatsduma nicht aufgelöst werden. Kapitel 6. Regierung der Rußländischen Föderation Artikel 110 1. Die vollziehende Gewalt der Rußländischen Föderation übt die Regierung der Rußländischen Föderation aus. 2. Die Regierung der Rußländischen Föderation besteht aus dem Vorsitzenden der Regierung der Rußländischen Föderation, den Stellvertretern des Vorsitzenden der Regierung der Rußländischen Föderation und den Bundesministern. Artikel 111 1. Den Vorsitzenden der Regierung der Rußländischen Föderation ernennt der Präsident der Rußländischen Föderation mit Zustimmung der Staatsduma. 2. Der Kandidatenvorschlag für das Amt des Vorsitzenden der Regierung der Rußländischen Föderation wird spätestens zwei Wochen nach Amtsantritt des neu gewählten Präsidenten der Rußländischen Föderation oder nach Rücktritt der Regierung der Rußländischen Föderation oder binnen einer Woche ab dem Tage der Ablehnung einer Kandidatur durch die Staatsduma eingebracht. 3. Die Staatsduma erörtert die vom Präsidenten der Rußländischen Föderation vorgeschlagene Kandidatur für das Amt des Vorsitzenden der Regierung der Rußländischen Föderation binnen einer Woche nach Einbringung des Kandidatenvorschlags. 4. Nach dreimaliger Ablehnung der vorgeschlagenen Kandidaturen für das Amt des Vorsitzenden der Regierung der Rußländischen Föderation durch die Staatsduma ernennt der Präsident der Rußländischen Föderation den Vorsitzenden der Regierung der Rußländischen Föderation, löst die Staatsduma auf und setzt Neuwahlen an. Artikel 112 1. Der Vorsitzende der Regierung der Rußländischen Föderation macht dem Präsidenten der Rußländischen Föderation spätestens eine Woche nach seiner Ernennung Vorschläge über die Struktur der Bundesorgane der vollziehende Gewalt. 2. Der Vorsitzende der Regierung der Rußländischen Föderation schlägt dem Präsidenten der Rußländischen Föderation Kandidaten für die Ämter der Stellvertreter des Vorsitzenden der Regierung der Rußländischen Föderation und der Bundesminister vor.

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Artikel 113 Der Vorsitzende der Regierung der Rußländischen Föderation bestimmt in Übereinstimmung mit der Verfassung der Rußländischen Föderation, den Bundesgesetzen und den Ukazen des Präsidenten der Rußländischen Föderation die Grundrichtungen der Tätigkeit der Regierung der Rußländischen Föderation und organisiert deren Arbeit. Artikel 114 1. Die Regierung der Rußländischen Föderation: a) arbeitet den Bundeshaushalt aus, legt ihn der Staatsduma vor und gewährleistet seinen Vollzug; legt der Staatsduma einen Rechenschaftsbericht über den Vollzug des Bundeshaushalts vor; b) gewährleistet die Durchführung einer einheitlichen Finanz-, Kredit- und Geldpolitik in der Rußländischen Föderation; c) gewährleistet die Durchführung einer einheitlichen staatlichen Politik auf dem Gebiet der Kultur, Wissenschaft und Bildung, des Gesundheitsschutzes, der sozialen Sicherung und des Umweltschutzes in der Rußländischen Föderation; d) verwaltet das Bundeseigentum; e) trifft Maßnahmen, um die Landesverteidigung und die Staatssicherheit zu gewährleisten und die Außenpolitik der Rußländischen Föderation zu verwirklichen; f) trifft Maßnahmen, um die Gesetzlichkeit und die Rechte und Freiheiten der Bürger zu gewährleisten, das Eigentum zu schützen, die öffentliche Ordnung zu wahren und die Kriminalität zu bekämpfen; g) übt weitere Befugnisse aus, die ihr von der Verfassung der Rußländischen Föderation, den Bundesgesetzen und Ukazen des Präsidenten der Rußländischen Föderation übertragen worden sind. 2. Ein Verfassungsgesetz des Bundes bestimmt das Verfahren, in dem die Regierung der Russischen Föderation tätig wird. Artikel 115 1. Die Regierung erläßt auf der Grundlage und in Ausführung der Verfassung der Rußländischen Föderation, der Bundesgesetze und der normativen Ukaze des Präsidenten der Rußländischen Föderation Verordnungen und Verfügungen und gewährleistet deren Vollzug. 2. Verordnungen und Verfügungen der Regierung der Rußländischen Föderation unterliegen in der Rußländischen Föderation der verbindlichen Ausführung. 3. Verordnungen und Verfügungen der Regierung der Rußländischen Föderation können, falls sie der Verfassung der Rußländischen Föderation, Bundesgesetzen oder Ukazen des Präsidenten der Rußländischen Föderation widersprechen, vom Präsidenten der Rußländischen Föderation aufgehoben werden.

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Artikel 116 Vor einem neu gewählten Präsidenten der Rußländischen Föderation legt die Regierung ihre Ämter nieder. Artikel 117 1. Die Regierung der Rußländischen Föderation kann ihren Rücktritt einreichen, der vom Präsidenten der Rußländischen Föderation angenommen oder abgelehnt wird. 2. Der Präsident der Rußländischen Föderation kann eine Entscheidung über die Entlassung der Regierung der Rußländischen Föderation treffen. 3. Die Staatsduma kann der Regierung der Rußländischen Föderation das Mißtrauen aussprechen. Ein Mißtrauensvotum gegenüber der Regierung der Rußländischen Föderation wird mit der Stimmenmehrheit der Gesamtabgeordnetenzahl der Staatsduma angenommen. Hat die Staatsduma der Regierung der Rußländischen Föderation das Mißtrauen ausgesprochen, so ist der Präsident der Rußländischen Föderation berechtigt, die Entlassung der Regierung der Rußländischen Föderation zu erklären oder der Entscheidung der Staatsduma die Zustimmung zu verweigern. Spricht die Staatsduma der Regierung der Rußländischen Föderation binnen drei Monaten erneut das Mißtrauen aus, so erklärt der Präsident der Rußländischen Föderation entweder die Entlassung der Regierung oder die Auflösung der Staatsduma. 4. Der Vorsitzende der Regierung der Rußländischen Föderation kann vor der Staatsduma die Vertrauensfrage gegenüber der Regierung der Rußländischen Föderation stellen. Verweigert die Staatsduma das Vertrauen, so trifft der Präsident binnen sieben Tagen eine Entscheidung über die Entlassung der Regierung der Rußländischen Föderation oder die Auflösung der Staatsduma und die Anberaumung von Neuwahlen. 5. Im Falle des Rücktritts, der Entlassung oder der Niederlegung der Vollmachten führt die Regierung der Rußländischen Föderation im Auftrag des Präsidenten der Rußländischen Föderation bis zur Bildung einer neuen Regierung der Rußländischen Föderation ihre Amtsgeschäfte fort. Kapitel 7. Die rechtsprechende Gewalt Artikel 118 1. Die Rechtsprechung wird in der Rußländischen Föderation nur durch das Gericht ausgeübt. 2. Die rechtsprechende Gewalt wird im Wege des Verfassungs-, Zivil-, Verwaltungs- und Strafgerichtsverfahrens ausgeübt. 3. Das Gerichtssystem der Rußländischen Föderation wird durch die Verfassung der Rußländischen Föderation und ein Bundesverfassungsgesetz festgelegt. Die Errichtung von Ausnahmegerichten ist unzulässig. Artikel 119 Richter können Bürger der Rußländischen Föderation sein, die das 25. Lebensjahr vollendet haben sowie über eine juristische Hochschulausbildung und eine juristische Berufspraxis von mindestens fünf Jahren verfügen. Durch ein Bundesgesetz können zusätzliche Anforderungen an Richter an Gerichten der Rußländischen Föderation gestellt werden.

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Artikel 120 1. Die Richter sind unabhängig und nur der Verfassung der Rußländischen Föderation und dem Bundesgesetz unterworfen. 2. Hat ein Gericht bei der Verhandlung einer Sache festgestellt, daß ein Akt eines staatlichen oder anderen Organs nicht mit dem Gesetz übereinstimmt, so entscheidet es gemäß dem Gesetz. Artikel 121 1. Die Richter sind nicht absetzbar. 2. Die Amtsbefugnisse eines Richters können nur aus den Gründen und in dem Verfahren aufgehoben oder suspendiert werden, die bundesgesetzlich festgelegt sind. Artikel 122 1. Richter genießen Immunität. 2. Ein Richter darf nur in dem durch ein Bundesgesetz bestimmten Verfahren strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Artikel 123 1. Die Verhandlung ist in allen Gerichten öffentlich. Verhandlungen unter Ausschluß der Öffentlichkeit sind in den durch ein Bundesgesetz vorgesehenen Fällen zulässig. 2. Eine gerichtliche Verhandlung von Strafsachen in Abwesenheit des Angeklagten ist außer in den durch ein Bundesgesetz vorgesehenen Fällen unzulässig. 3. Das Gerichtsverfahren wird auf der Grundlage des kontradiktorischen Prinzips und der Gleichberechtigung der Parteien durchgeführt. 4. In den durch ein Bundesgesetz vorgesehenen Fällen findet das Gerichtsverfahren unter Mitwirkung von Geschworenen statt. Artikel 124 Die Finanzierung der Gerichte erfolgt ausschließlich aus dem Bundeshaushalt und soll die Möglichkeit einer vollständigen und unabhängigen Ausübung der Rechtsprechung in Übereinstimmung mit dem Bundesgesetz gewährleisten. Artikel 125 1. Das Verfassungsgericht der Rußländischen Föderation besteht aus 19 Richtern. 2. Das Verfassungsgericht der Rußländischen Föderation entscheidet auf Ersuchen des Präsidenten der Rußländischen Föderation, des Bundessrates, der Staatsduma, eines Fünftels der Mitglieder des Bundesrates oder der Abgeordneten der Staatsduma, der Regierung der Rußländischen Föderation, des Obersten Gerichts der Rußländischen Föderation, des Obersten Arbitragegerichts der Rußländischen Föderation und den Organen der gesetzgebenden und vollziehenden Gewalt der Subjekte der Rußländischen Föderation über die Vereinbarkeit mit der Verfassung der Rußländischen Föderation von

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a) Bundesgesetzen und Normativakten des Präsidenten der Rußländischen Föderation, des Bundesrates, der Staatsduma und der Regierung der Rußländischen Föderation; b) Verfassungen der Republiken, Statuten sowie Gesetzen und anderen Normativakten der Subjekte der Rußländischen Föderation, die zu Fragen erlassen wurden, die in die Zuständigkeit der Organe der Staatsgewalt der Rußländischen Föderation und in die gemeinsame Zuständigkeit der Organe der Staatsgewalt der Rußländischen Föderation und der Organe der Staatsgewalt der Subjekte der Rußländischen Föderation fallen; c) Verträgen zwischen den Organen der Staatsgewalt der Rußländischen Föderation und den Organen der Staatsgewalt der Subjekte der Rußländischen Föderation sowie Verträgen zwischen den Organen der Staatsgewalt der Subjekte der Rußländischen Föderation; d) nicht in Kraft getretenen völkerrechtlichen Verträgen der Rußländischen Föderation. 3. Das Verfassungsgericht entscheidet Kompetenzstreitigkeiten a) zwischen Organen der Staatsgewalt des Bundes; b) zwischen Organen der Staatsgewalt der Rußländischen Föderation und Organen der Staatsgewalt der Subjekte der Rußländischen Föderation; c) zwischen den höchsten Staatsorganen der Subjekte der Rußländischen Föderation. 4. Das Verfassungsgericht überprüft in dem durch ein Bundesgesetz festgelegten Verfahren auf Beschwerden gegen die Verletzung verfassungsmäßiger Rechte und Freiheiten der Bürger oder auf Ersuchen von Gerichten die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes, das in einem konkreten Fall angewendet worden ist oder angewendet werden soll. 5. Das Verfassungsgericht der Rußländischen Föderation legt auf Ersuchen des Präsidenten der Rußländischen Föderation, des Bundesrates, der Staatsduma, der Regierung der Rußländischen Föderation und der Gesetzgebungsorgane der Subjekte der Rußländischen Föderation die Verfassung der Rußländischen Föderation aus. 6. Akte oder einzelne ihrer Bestimmungen, die für verfassungswidrig erklärt werden, treten außer Kraft; völkerrechtliche Verträge der Rußländischen Föderation, die der Verfassung der Rußländischen Föderation widersprechen, dürfen nicht in Kraft gesetzt und angewendet werden. 7. Das Verfassungsgericht der Rußländischen Föderation erstattet auf Ersuchen des Bundesrates ein Gutachten darüber, ob bei der Erhebung einer Anklage gegen den Präsidenten der Rußländischen Föderation wegen Staatsverrats oder wegen der Begehung einer anderen schweren Straftat das dafür festgelegte Verfahren eingehalten worden ist. Artikel 126 Das Oberste Gericht der Rußländischen Föderation ist das höchste Gerichtsorgan für Zivil-, Straf-, Verwaltungs- und andere Sachen, für die die Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit zuständig sind, führt die Aufsicht über deren Tätigkeit in den durch ein Bundesgesetz vorgesehenen prozessualen Formen und gibt Erläuterungen zu Fragen der Rechtsprechung. Artikel 127 Das Oberste Arbitragegericht der Rußländischen Föderation ist das höchste Gerichtsorgan zur Entscheidung von Wirtschaftsstreitigkeiten und anderer Sachen, die von den Arbitrage-

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gerichten verhandelt werden, führt die Aufsicht über deren Tätigkeit in den durch ein Bundesgesetz vorgesehenen prozessualen Formen und gibt Erläuterungen zu Fragen der Gerichtspraxis. Artikel 128 1. Die Richter des Verfassungsgerichts der Rußländischen Föderation, des Obersten Gerichts der Rußländischen Föderation und des Obersten Arbitragegerichts werden vom Bundesrat auf Vorschlag des Präsidenten der Rußländischen Föderation ernannt. 2. Die Richter der anderen Bundesgerichte werden durch den Präsidenten der Rußländischen Föderation in dem durch ein Bundesgesetz festgelegten Verfahren ernannt. 3. Die Zuständigkeiten sowie das Verfahren der Bildung und der Tätigkeit des Verfassungsgerichts der Rußländischen Föderation, des Obersten Gerichts der Rußländischen Föderation, des Obersten Arbitragegerichts der Rußländischen Föderation und der anderen Bundesgerichte werden durch ein Bundesverfassungsgesetz festgelegt. Artikel 129 1. Die Staatsanwaltschaft der Rußländischen Föderation stellt ein einheitliches zentralisiertes System dar, in dem die untergeordneten Staatsanwälte den übergeordneten Staatsanwälten und dem Generalstaatsanwalt unterstellt sind. 2. Der Generalstaatsanwalt der Rußländischen Föderation wird vom Bundesrat auf Vorschlag des Präsidenten der Rußländischen Föderation in sein Amt eingesetzt und aus seinem Amt entlassen. 3. Die Staatsanwälte der Subjekte der Rußländischen Föderation werden vom Generalstaatsanwalt der Rußländischen Föderation mit Zustimmung ihrer Subjekte ernannt. 4. Die anderen Staatsanwälte werden vom Generalstaatsanwalt der Rußländischen Föderation ernannt. 5. Zuständigkeiten, Organisation sowie die Art und Weise der Tätigkeit der Staatsanwaltschaft der Rußländischen Föderation werden durch ein Bundesgesetz bestimmt. Kapitel 8. Die örtliche Selbstverwaltung Artikel 130 1. Die örtliche Selbstverwaltung in der Rußländischen Föderation gewährleistet, daß die Bevölkerung Fragen von örtlicher Bedeutung selbständig entscheidet und das kommunale Eigentum besitzt, nutzt und darüber verfügt. 2. Die örtliche Selbstverwaltung wird von den Bürgern durch Referendum, Wahlen und andere Formen der unmittelbaren Willensäußerung sowie durch gewählte und andere Organe der örtlichen Selbstverwaltung ausgeübt. Artikel 131 1. Die örtliche Selbstverwaltung wird in städtischen und ländlichen Siedlungen und in sonstigen Territorien unter Berücksichtigung der historischen und sonstigen örtlichen

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Traditionen ausgeübt. Die Struktur der Organe der örtlichen Selbstverwaltung wird von der Bevölkerung selbständig bestimmt. 2. Eine Änderung der Grenzen von Gebieten, in denen die örtliche Selbstverwaltung ausgeübt wird, ist unter Berücksichtigung der Meinung der Bevölkerung der betreffenden Gebiete zulässig. Artikel 132 1. Die Organe der örtlichen Selbstverwaltung verwalten selbständig das kommunale Eigentum, stellen den örtlichen Haushalt auf, bestätigen und vollziehen ihn, legen örtliche Steuern und sonstige Abgaben fest, sorgen für den Schutz der öffentlichen Ordnung und entscheiden sonstige Fragen von örtlicher Bedeutung. 2. Den Organen der örtlichen Selbstverwaltung können durch ein Gesetz einzelne staatliche Zuständigkeiten übertragen werden, wobei sie mit den zu deren Wahrnehmung erforderlichen sachlichen und finanziellen Mitteln auszustatten sind. Die Ausübung der übertragenen Zuständigkeiten unterliegt der Kontrolle des Staates. Artikel 133 Die örtliche Selbstverwaltung wird in der Rußländischen Föderation garantiert durch das Recht auf gerichtlichen Schutz und auf die Erstattung zusätzlicher Ausgaben, die durch Entscheidungen von Organen der Staatsgewalt entstanden sind, sowie durch das Verbot einer Einschränkung der durch die Verfassung der Rußländischen Föderation und durch Bundesgesetze festgelegten Rechte der örtlichen Selbstverwaltung. Kapitel 9. Verfassungsänderungen und Überarbeitung der Verfassung Artikel 134 Vorlagen über Änderungen oder eine Überarbeitung von Bestimmungen der Verfassung der Rußländischen Föderation können der Präsident der Rußländischen Föderation, der Bundesrat, die Staatsduma, die Regierung der Rußländischen Föderation, Gesetzgebungs-(Vertretungs-) organe der Subjekte der Rußländischen Föderation sowie eine Gruppe von mindestens einem Fünftel der Mitglieder des Bundesrates oder der Abgeordneten der Staatsduma einbringen. Artikel 135 1. Die Bestimmungen der Kapitel 1, 2 und 9 der Verfassung der Rußländischen Föderation können von der Bundesversammlung nicht revidiert werden. 2. Wird eine Vorlage zur Überarbeitung von Bestimmungen der Kapitel 1, 2 und 9 der Verfassung der Rußländischen Föderation mit drei Fünfteln der Stimmen der Gesamtzahl der Mitglieder des Bundesrates und der Abgeordneten der Staatsduma unterstützt, so wird in Übereinstimmung mit einem Verfassungsgesetz des Bundes eine Verfassungsversammlung einberufen. 3. Die Verfassungsversammlung bestätigt entweder die Unverändertheit der Verfassung der Rußländischen Föderation oder arbeitet den Entwurf einer neuen Verfassung der Rußländischen Föderation aus, der von der Verfassungsversammlung mit zwei Dritteln der Stimmen aller ihrer Mitglieder angenommen oder in einer Volksabstimmung zur Entscheidung gestellt wird. Bei Durchführung einer Volksabstimmung gilt die Verfassung der

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Rußländischen Föderation als angenommen, wenn sich mehr als die Hälfte der Wähler, die an der Abstimmung teilgenommen haben, für sie ausgesprochen haben – vorausgesetzt, an der Abstimmung hat mehr als die Hälfte der Wähler teilgenommen. Artikel 136 Änderungen an den Kapiteln 3 – 8 der Verfassung der Rußländischen Föderation werden nach dem Verfahren verabschiedet, das für die Verabschiedung eines Bundesverfassungsgesetzes vorgesehen ist, und treten nach Billigung durch die Gesetzgebungsorgane von mindestens zwei Dritteln der Subjekte der Rußländischen Föderation in Kraft. Artikel 137 1. Änderungen des Artikel 65 der Verfassung der Rußländischen Föderation, der die Zusammensetzung der Rußländischen Föderation bestimmt, erfolgen auf der Grundlage eines Bundesverfassungsgesetzes über die Aufnahme in die Rußländische Föderation und die Bildung eines neuen Subjekts der Rußländischen Föderation innerhalb derselben beziehungsweise über die Änderung des verfassungsrechtlichen Status eines Subjekts der Rußländischen Föderation. 2. Ändert eine Republik, eine Region, ein Gebiet, eine bundesunmittelbare Stadt, ein autonomes Gebiet oder ein autonomer Bezirk ihren/ seinen Namen, so ist der neue Name dieses Subjekts der Rußländischen Föderation in Artikel 65 der Verfassung der Rußländischen Föderation aufzunehmen. Zweiter Abschnitt. Schluss- und Übergangsbestimmungen 1. Die Verfassung der Rußländischen Föderation tritt mit dem Tage in Kraft, an dem sie entsprechend den Ergebnissen der Volksabstimmung offiziell veröffentlicht wird. Der Tag der Volksabstimmung, der 12. Dezember 1993, gilt als der Tag der Annahme der Verfassung der Rußländischen Föderation. Gleichzeitig verliert die am 12. April 1978 verabschiedete Verfassung (das Grundgesetz) der Rußländischen Föderation – Rußlands – mitsamt den nachfolgend vorgenommenen Änderungen und Ergänzungen ihre Gültigkeit. Falls die Bestimmungen des Föderationsvertrages – des Vertrages über die Abgrenzung der Zuständigkeiten und Befugnisse zwischen den Bundesorganen der Staatsgewalt der Rußländischen Föderation und den Organen der Staatsgewalt der souveränen Republiken innerhalb der Rußländischen Föderation, des Vertrages über die Abgrenzung der Zuständigkeiten und Befugnisse zwischen den Bundesorganen der Staatsgewalt der Rußländischen Föderation und den Organen der Staatsgewalt der Regionen, der Gebiete sowie der Städte Moskau und St. Petersburg der Rußländischen Föderation, des Vertrages über die Abgrenzung der Zuständigkeiten und Befugnisse zwischen den Bundesorganen der Staatsgewalt der Rußländischen Föderation und den Organen der Staatsgewalt des autonomen Gebietes und der autonomen Bezirke innerhalb der Rußländischen Föderation sowie sonstiger Verträge zwischen den Bundesorganen der Staatsgewalt der Rußländischen Föderation und Organen der Staatsgewalt der Subjekte der Rußländischen Föderation und der Verträge zwischen den Organen der Staatsgewalt der Subjekte der Rußländischen Föde-

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ration – nicht in Einklang mit Bestimmungen der Verfassung der Rußländischen Föderation stehen, gelten die Bestimmungen der Verfassung der Rußländischen Föderation. 2. Die Gesetze und sonstigen Rechtsakte, die bis zum Inkrafttreten dieser Verfassung auf dem Territorium der Rußländischen Föderation gegolten haben, werden angewandt, soweit sie der Verfassung der Rußländischen Föderation nicht widersprechen. 3. Der Präsident der Rußländischen Föderation, der in Übereinstimmung mit der Verfassung (dem Grundgesetz) der Rußländischen Föderation – Rußlands – gewählt worden ist, übt ab dem Tag des Inkrafttretens dieser Verfassung die darin festgelegten Befugnisse bis zum Ablauf des Zeitraums aus, für den er gewählt wurde. 4. Der Ministerrat – die Regierung der Rußländischen Föderation – übernimmt mit dem Tag des Inkrafttretens dieser Verfassung die Rechte, die Pflichten und die Verantwortung der Regierung der Rußländischen Föderation, wie sie in der Verfassung der Rußländischen Föderation festgelegt sind, und wird fortan als Regierung der Rußländischen Föderation bezeichnet. 5. Die Gerichte in der Rußländischen Föderation üben die Rechtsprechung im Rahmen ihrer in dieser Verfassung festgelegten Kompetenzen aus. Nach Inkrafttreten der Verfassung behalten die Richter aller Gerichte der Rußländischen Föderation ihre Kompetenzen bis zum Ablauf des Zeitraums, für den sie gewählt worden sind. 3 Freie Stellen werden in dem durch diese Verfassung festgelegten Verfahren besetzt. 6. Bis zur Inkraftsetzung des Bundesgesetzes, das das Verfahren für die Verhandlung von Sachen durch ein Gericht unter Mitwirkung von Geschworenen festlegt, wird das frühere Verfahren der gerichtlichen Verhandlung entsprechender Fälle beibehalten. Bis die Strafprozeßgesetzgebung der Rußländischen Föderation mit den Bestimmungen dieser Verfassung in Einklang gebracht worden ist, bleibt das frühere Verfahren des Arrestes, der Untersuchungshaft und der Festnahme von Personen, die einer Straftat verdächtig sind, erhalten. 7. Der erste Bundesrat und die erste Staatsduma werden auf zwei Jahre gewählt. 8. Der Bundesrat tritt am 30. Tage nach seiner Wahl zu seiner ersten Sitzung zusammen. Die erste Sitzung des Bundesrates eröffnet der Präsident der Rußländischen Föderation. 9. Ein Abgeordneter der ersten Staatsduma kann gleichzeitig Mitglied der Regierung der Rußländischen Föderation sein. Die Bestimmungen der vorliegenden Verfassung über die parlamentarische Immunität erstrecken sich nicht auf die Abgeordneten der Staatsduma, die zugleich Mitglieder der Regierung der Rußländischen Föderation sind, sofern es sich um die Haftung für Handlungen (oder Unterlassungen) bei der Erfüllung ihrer Dienstpflichten handelt. Die Abgeordneten des ersten Bundesrates üben ihre Mandate auf nichtständiger Grundlage aus. Deutsche Übersetzung vom Lehrstuhl Prof. Dr. Martin Fincke, Passau http://www.jura.unipassau.de/fakultaet/lehrstuehle/Fincke/osttitle.htm

Literaturverzeichnis I. Deutsche und internationale Literatur Achilles, Alexander/Gebhard, F. Albert/Spahn, Peter, (Bearbeiter), Protokolle der Kommission für die zweite Lesung des Entwurfs des Bürgerlichen Gesetzbuchs im Auftrage des Reichsjustizamtes. Band II. Recht der Schuldverhältnisse Abschn. II, Lit. 2 – 20, Abschn. III, IV, Berlin 1898. Alexy, Robert, Theorie der Grundrechte, 2. Aufl. Frankfurt am Main 1994. – Theorie der juristischen Argumentation. Die Theorie des rationalen Diskurses als Theorie der juristischen Begründung, Frankfurt am Main 1983. Bar, Christian von, Gemeineuropäisches Deliktsrecht. Seine Angleichung in Europa und seine Einbettung in die Gesamtrechtsordnungen, Bd. 1, München 1996. Baumann, Jürgen, Einführung in die Rechtswissenschaft – Rechtssystem und Rechtstechnik, 8. Aufl. München 1989. Bethge, Herbert, Der Grundrechtseingriff, VVDStRL 57 (1998), S. 7. – Die verfassungsrechtliche Problematik der Grundpflichten, JA 1985, 249. Zitiert als: Bethge, JA 1985, 249. – Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, München 1977. Bleckmann, Albert, Neue Aspekte der Drittwirkung der Grundrechte, DVBl 1988, 938. – Staatsrecht 2, Grundrechte, 3. Aufl. München 1989. Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Staat, Verfassung, Demokratie, 2. Aufl. Frankfurt am Main 1992. – Grundrechte als Grundsatznormen. Zur gegenwärtigen Lage der Grundrechtsdogmatik, in: Der Staat 29 (1990), S. 1. Brüggemeier, Gert, Deliktsrecht: ein Hand- und Lehrbuch, 1. Aufl. Baden-Baden 1986. Burgenthal, Thomas/Thürer, Daniel, Menschenrechte: Ideale, Instrumente, Institutionen, Zürich/St.Gallen 2010. Busche, Jan, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, Tübingen 1999. Calliess, Christian, Schutzpflichten, in: Merten, Detlef/Papier, Hans-Jürgen, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa. Band II. Grundrechte in Deutschland: Allgemeine Lehren I, Speyer/München/Karlsruhe 2006, § 44. Canaris, Claus-Wilhelm, Grundrechte und Privatrecht, eine Zwischenbilanz. Stark erweiterte Fassung des Vortrags gehalten vor der juristischen Gesellschaft zu Berlin am 10. Juni 1998, Berlin/New York 1999.

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1 Manche Quellen geben nur die Initialen an. In den Fällen, wo keine vollen Namen ermittelt werden konnten, werden sie nur mit Initialen angegeben.

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269

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Stichwortverzeichnis Abwehrrechte 101, 211

26, 31, 34, 36, 56, 64 f., 76,

bürgerliche Rechte 132, 141 Bürgschaftsentscheidung 165 Drittwirkung – mittelbare 107 f. – unmittelbare 100, 108, 117, 197 Eigentum 23, 57, 86, 104, 119, 138 – 141, 178, 182, 191, 193, 201, 211 Erbrecht 42 Familienrecht 42, 99 Flucht ins Private 125 f., 196, 216 Generalklausel 34, 71, 73, 85, 93 Gesetzesvorbehalt 89, 164 Gesetzgebungskompetenz 88 Gleichheitsprinzip 159 grundlegende Prinzipien 23, 119, 147 Grundrechte – Adressat 70, 82, 107, 212 – als Objekte des Privatrechts 130 – Anerkennung 85 – Gewährleistung 103 – mittelbare Wirkung 30 – objektive Wirkung 123, 136, 202, 214 – Schmälerung 85 f. – subjektive Wirkung 69, 77, 80 f. – unmittelbare Wirkung 30, 76, 80, 84, 107, 212, 217 guter Ruf 178 Gutgläubigkeit 138, 174 – 176 juristische Person

189 f.

Kontrahierungszwang 23 f., 119 – 121, 143, 145, 155 – 159, 162 f., 167, 194, 209, 215

Landesverteidigung 91 f., 132 Leistungsrecht 63, 99 liberale Tradition 26 liberales Grundrechtsverständnis Liberalisierung 209 Liberalismus 51, 100, 198 f. Lüth-Urteil 36 f., 43, 200

48

Marktwirtschaft 52, 122, 139, 149, 156, 159, 171, 176 Meinungsfreiheit 41, 43, 113, 138, 188 f. Menschenrechte 20, 50 f., 59, 65, 71 f., 80, 88, 115 – 117, 129 f., 201 f. Naturrecht 50, 80 Nichtvermögensrecht

180

Parlamentsvorbehalt 89 Perestroika 51, 139 Persönlichkeitsrecht 24, 41, 113, 184 f. Planwirtschaft 149 praktische Konkordanz 82, 165 Pressefreiheit 41, 188, 192 Prinzipiennorm 134, 176 Privatautonomie 23, 28, 32 f., 41 – 43, 114, 119, 143 – 146, 148, 156, 159, 163 – 165, 176, 194, 198, 215, 218 Recht am eigenen Bild 41, 185, 187 Recht am eigenen Namen 178, 185, 187, 191 Rechtsgüter 20, 104, 113, 129 f., 158, 162 f., 166, 178 f., 182 – 184, 193, 202 f., 211, 214 f. – immateriell 178 – 182 – materiell 193 – und Rechte 180 Rechtsmissbrauch 167 – 173, 175 f. Rechtsstaatsprinzip 81 Religionsfreiheit 113 Revolution 21, 25, 47, 120 – 122

Stichwortverzeichnis

271

Schikaneverbot 170, 172, 176 f. Schmerzensgeld 41, 181, 189 Schutzpflicht 35, 41 f., 44 f., 60 – 65, 85, 99 f., 103 f., 112, 142, 148 f., 151, 162, 193, 200, 203, 208, 210, 214 schwächere Seite 150 f., 154, 160 Sozialstaatsprinzip 31, 61, 194, 199, 215, 217 Staatssicherheit 91 – 93, 132 Strafrecht 110 – 112, 115, 200 strukturelle Ungleichheit 165 Superrevisionsinstanz 29, 38 – 40, 108, 110

Verfassung – als Quelle des Privatrechts 119, 122, 194 – als universelle Rechtsnorm 73, 106 – direkte Wirkung 65 – 67, 73, 74, 79, 118 verfassungsrechtliche Pflichten 82, 94, 95 Verhältnismäßigkeitsprinzip 90, 93, 166 Vertragsfreiheit 23, 41, 84, 119, 121 f., 131, 136, 143 – 150, 153 – 156, 158 – 162, 164 f., 167 f., 173 f., 194, 198, 215

Treu und Glauben

Wirtschaftssystem

176 f.

51