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German Pages 222 Year 2022
Schriften zum Strafrecht Band 393
Die Bestimmtheit der Straf- und Bußgeldvorschriften im Arzneimittelgesetz Untersuchung des Arzneimittelbegriffs und der Blankettverweisungen am Maßstab des Art. 103 Abs. 2 GG
Von
Christian Markwardt
Duncker & Humblot · Berlin
CHRISTIAN MARKWARDT
Die Bestimmtheit der Straf- und Bußgeldvorschriften im Arzneimittelgesetz
Schriften zum Strafrecht Band 393
Die Bestimmtheit der Straf- und Bußgeldvorschriften im Arzneimittelgesetz Untersuchung des Arzneimittelbegriffs und der Blankettverweisungen am Maßstab des Art. 103 Abs. 2 GG
Von
Christian Markwardt
Duncker & Humblot · Berlin
Der Fachbereich Rechtswissenschaften der Universität Osnabrück hat diese Arbeit im Jahre 2021 als Dissertation angenommen.
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Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2021 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Osnabrück als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Literatur wurden bis zum Zeitpunkt der Einreichung der Arbeit im Oktober 2020 berücksichtigt. Gesetzesänderungen konnten noch bis Oktober 2021 eingearbeitet werden. Nicht mehr berücksichtigt werden konnten allerdings die zum 28. 01. 2022 in Kraft getretenen Änderungen des AMG durch das Gesetz zum Erlass eines Tierarzneimittelgesetzes und zur Anpassung arzneilicher und anderer Vorschriften. Die im Rahmen dessen erfolgten Änderungen des AMG sind für diese Arbeit jedoch auch von untergeordneter Bedeutung. Ganz herzlicher Dank gebührt meinem Doktorvater Professor Dr. Roland Schmitz für die Betreuung meiner Arbeit. Er stand mir bei allen Fragen mit vielen guten Hinweisen und Ratschlägen zur Seite und gewährte mir gleichzeitig den notwendigen wissenschaftlichen Freiraum. Für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens danke ich Professor Dr. Arndt Sinn. Ebenso danke ich meiner Familie für die durchgängige Unterstützung, insbesondere meinen Eltern, Gabriele Markwardt und Dr. Norbert Markwardt, für ihre unbedingte, durchgängige und überhaupt großartige Unterstützung in allen Dingen. Meine Frau Lydia Markwardt – und mit ihr unsere Kinder Hannah, Jonas und Levi – haben mich hervorragend unterstützt und mussten – vor allem in der Endphase der Erstellung der Dissertation – oftmals auf meine Anwesenheit verzichten. Ohne diese mir von ihnen eingeräumten Freiräume hätte ich die Arbeit nicht abschließen können. Hierfür bin ich ihnen sehr dankbar. Darüber hinaus gilt mein Dank meinem Bruder Dr. Thomas Markwardt und Stefanie Schliep für das Korrekturlesen. Berlin, im Januar 2022
Christian Markwardt
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 I. II.
Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
Kapitel 1 Der Arzneimittelbegriff
21
A. Entwicklung und status quo des Arzneimittelbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 I.
Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
II.
Historische Entwicklung des Arzneimittelbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1. Entwicklung des deutschen Arzneimittelbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
III. IV.
Verhältnis des deutschen zum europäischen Arzneimittelbegriff . . . . . . . . . . . . . 27 Völkerrechtliche Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
V.
Unterscheidung in Präsentations- und Funktionsarzneimittel . . . . . . . . . . . . . . . 28
2. Entwicklung des europäischen Arzneimittelbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
1. Präsentationsarzneimittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 a) Stoffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 b) Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2. Funktionsarzneimittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 a) Therapeutika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 aa) Physiologische Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 bb) Pharmakologische Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 cc) Immunologische Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 dd) Metabolische Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 ee) Wiederherstellen, korrigieren oder beeinflussen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 b) Diagnostika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 VI. Einstufungsmethodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 1. Kriterien für die Bestimmung der Verkehrsauffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2. Kritik an der Methodik der objektiven Zweckbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . 38 VII. Fiktive Arzneimittel (§ 2 Abs. 2 AMG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 VIII. Negativdefinitionen (§ 2 Abs. 3 AMG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 1. Abgrenzung zu Lebensmitteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2. Abgrenzung zu kosmetischen Mitteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
8
Inhaltsverzeichnis 3. Abgrenzung zu Tabakerzeugnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 4. Abgrenzung zu Tierkosmetika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 5. Abgrenzung zu Biozid-Produkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 6. Abgrenzung zu Tierfuttermitteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 7. Abgrenzung zu Medizinprodukten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 8. Abgrenzung zu Organtransplantaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 IX. Zweifels- bzw. Grenzfallregelung (§ 2 Abs. 3a AMG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 X.
Vermutungsregel (§ 2 Abs. 4 AMG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
B. Ausgewählte Probleme bei der Anwendung der Kriterien des § 2 AMG . . . . . . . . . . . 49 I. II.
Untauglichkeit der Zweifels- bzw. Grenzfallregelung des § 2 Abs. 3a AMG . . . 49 Bedeutung der pharmakologischen Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 1. Auslegung und Reichweite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 a) MEDDEV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 b) Erheblichkeitsschwelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 2. Erfordernis der pharmakologischen Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
III.
Das Erfordernis des Merkmals der Gesundheitszuträglichkeit im Rahmen des Funktionsarzneimittelbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 1. Das Urteil des EuGH vom 10. 07. 2014 – C-358/13; C-181/14 . . . . . . . . . . . . 57 2. Meinungsstand vor dem Urteil des EuGH vom 10. 07. 2014 . . . . . . . . . . . . . . 58 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 4. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 a) Argumentation des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 b) Reichweite der Kriterien des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 c) Exkurs: Der sozialversicherungsrechtliche Arzneimittelbegriff . . . . . . . . . 65 5. Umgang mit den Kriterien des EuGH in der Literatur und Rechtsprechung
66
a) Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 aa) BVerwG, Urteil vom 20. 11. 2014 – 3 C 25/13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 bb) BGH, Urteil vom 23. 12. 2015 – 2 StR 525/13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 cc) OVG Münster, Beschluss vom 27. 01. 2015 – 13 A 1872/14 . . . . . . . . . 67 dd) OVG Niedersachsen, Urteil vom 02. 11. 2017 – 13 LB 31/14 . . . . . . . . 67 ee) VG Köln, Urteil vom 22. 05. 2018 – 7 K 6802/16 . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 ff) OLG Köln, Beschluss vom 01. 09. 2015 – 1 RVs 131 und 136/15 . . . . 68 gg) Landgericht Hildesheim, Urteil vom 27. 10. 2017 – 14 Js 10671/14 . . . 69 hh) BGH, Urteil vom 27. 11. 2019 – 3 StR 233/19 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 ii) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 b) Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 aa) Ansichten in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 bb) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
Inhaltsverzeichnis
9
6. Alternativer Lösungsansatz: Einschränkung des Funktionsarzneimittelbegriffs durch den Präsentationsarzneimittelbegriff? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 IV.
Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78
C. Die Bestimmtheit des Arzneimittelbegriffs am Maßstab des Art. 103 Abs. 2 GG . . . . 79 I.
Rechtlicher Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 1. Kein Vorrang des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 2. Der Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
II.
3. Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Möglichkeiten der Ausgestaltung einer Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . 86
III.
Aussagen der Rechtsprechung zur Bestimmtheit des Arzneimittelbegriffs . . . . . 88 1. BGH, Urteil vom 03. 12. 1997 – 2 StR 270/97 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 a) Argumentation des BGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 b) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 2. BVerfG, Beschluss vom 16. 03. 2006 – 2 BvR 954/02 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 a) Argumentation des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 b) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 3. EGMR, Urteil vom 15. 11. 1996 – 17862/91 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 a) Argumentation des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 b) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
IV. V.
4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Aussagen in der Literatur zur Bestimmtheit des Arzneimittelbegriffs . . . . . . . . . 94 Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 1. Vorhersehbarkeit der Einstufung eines Produkts als Arzneimittel anhand des § 2 AMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 2. Uneinheitliche Auslegung des Arzneimittelbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 a) Das Merkmal der Gesundheitszuträglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 b) Das Merkmal der pharmakologischen Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 aa) Abhängigkeit der Definition der pharmakologischen Wirkung vom abzugrenzenden Produkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 bb) Erheblichkeitsschwelle als untaugliches Abgrenzungskriterium . . . . . 100 cc) Definition der MEDDEV als untaugliches Abgrenzungskriterium . . . . 101 dd) Erfordernis einer pharmakologischen Wirkung im Rahmen des Funktionsarzneimittelbegriffs nicht klar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 ee) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 3. Strukturell bedingte Ursachen der uneinheitlichen Auslegung des Arzneimittelbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 a) Tautologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 b) Verhältnis zu benachbarten Produktkategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 c) Verhältnis von Jurisprudenz zu Naturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 d) Umgehung des Begriffs „pharmakologische Wirkung“ . . . . . . . . . . . . . . . 104
10
Inhaltsverzeichnis e) Grenzfallregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 f) Koexistenz von deutschem und europäischem Arzneimittelbegriff . . . . . . 106 aa) Anwendung des deutschen oder des europäischen Arzneimittelbegriffs 106 bb) Zuständiges Gericht für die Auslegung des Arzneimittelbegriffs . . . . 108 g) Festhalten des EuGH an seiner überholten Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . 109 h) Fehlende Einheit der Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 VI. Ergebnis und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
Kapitel 2 Die Blankettgesetzgebungstechnik des AMG
115
A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 B. Blankettbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 C. Blankettkategorien im AMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 I.
Differenzierung nach der Ausfüllungsnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
II.
Differenzierung nach der Verweisungstechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 1. Außen- und Binnenverweisungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 2. Statische und dynamische Verweisungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
III.
3. Einfache und rückverweisende Blankettnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Differenzierung nach der Offenkundigkeit der Verweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
IV.
Differenzierung nach der sprachlichen Fassung der Verweisung . . . . . . . . . . . . . 123 1. Die Bezugnahme auf Vorschriften des AMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 2. Die Bezugnahme auf Rechtsverordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 3. Die Bezugnahme auf vollziehbare Anordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 a) Anordnungen aufgrund förmlicher Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 b) Anordnungen aufgrund von Rechtsverordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 c) Anordnung aufgrund von EU-Verordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 4. Die Bezugnahme auf das Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 5. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
D. Die Rechtsprechung zur Bestimmtheit von Blankettnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 E. Überprüfung der Straf- und Bußgeldvorschriften des AMG aus Sicht der kompetenzwahrenden Funktion des Art. 103 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 I.
Die Bezugnahme auf Rechtsverordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 1. Einfache Verweisungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 a) Zulässigkeitsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 b) Dogmatische Herleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
Inhaltsverzeichnis
11
c) Anwendung der Zulässigkeitsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 aa) Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 bb) Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 cc) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 2. Qualifizierte Verweisungen (Rückverweisungsklauseln) . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 II.
3. Die Neuregelung der §§ 95 Abs. 1 Nr. 2 und 96 Nr. 2 AMG . . . . . . . . . . . . . 147 Europarechtsakzessorische Blankettnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 1. Die Bezugnahme auf EU-Verordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
III.
2. Die Bezugnahme auf EU-Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Die Bezugnahme auf vollziehbare Anordnungen (Verwaltungsakte) . . . . . . . . . 159
IV.
Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
F. Überprüfung der Straf- und Bußgeldvorschriften des AMG aus Sicht der verhaltensleitenden Funktion des Art. 103 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 I. II.
Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Einflussfaktoren für die Frage der Voraussehbarkeit des sanktionierten Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 1. Verweisungsbestimmtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 a) Zugänglichkeit der Ausfüllungsnorm(en) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 b) Auffindbarkeit der Ausfüllungsnorm(en) aufgrund der Bezeichnung . . . . . 166 aa) Redaktionelle Fehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 bb) Die Bezugnahme auf Rechtsverordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 cc) Die Bezugnahme auf das EU-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 c) Auffindbarkeit der Ausfüllungsnorm aufgrund der Verweisungsstruktur 174 aa) Weiterverweisungstechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 bb) Dynamische Außenverweisungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 2. Tatbestandsbestimmtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 a) Tatbestandsbeschreibung in der Blankettnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 b) Anforderungen an die Ergänzung durch Rechtsverordnungen und Verwaltungsakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 c) Bestimmtheit des Gesamtgefüges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 aa) Das Zusammenspiel zwischen Blankettnorm und Ausfüllungsnorm
182
bb) Begriffliche Komplexität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 3. Rechtssystematische Entfernung der Ausfüllungsnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 G. Entwicklungen in der neueren Rechtsprechung und deren Auswirkungen auf die Straftatbestände des AMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 I.
BVerfG, Beschluss vom 21. 09. 2016 – 2 BvL 1/15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188
II.
Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 1. Vergleichbare Verweisungskonstruktionen im AMG? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 2. Unzulässigkeit von Rückverweisungsklauseln? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 3. Unzulässigkeit von einfachen Verweisungen auf Rechtsverordnungen? . . . . . 193
12
Inhaltsverzeichnis III.
BVerfG, Beschluss vom 11. 03. 2020 – 2 BvL 5/17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 1. Vorlagebeschluss des LG Stade, Beschluss vom 15. 03. 2017 – 600 KLs 1100 Js 7647/10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 2. Entscheidungsgründe des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
IV.
Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
H. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220
Abkürzungsverzeichnis a. A. a. a. O. Abs. AEUV a. F. Alt. AMG ÄndG Anm. AöR A&R Art. Aufl. Az. Bay. Bd. Beschl. BGBl. BGH BGHSt BMJ BSG bspw. BT-Drucks. BtMG BVerfG BVerwG bzgl. bzw. ders. d. h. dies. DVBl. EG EMRK etc. EU
andere Ansicht am angegeben Ort Absatz Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union alte Fassung Alternative Arzneimittelgesetz Änderungsgesetz Anmerkung Archiv des öffentlichen Rechts Arzneimittel und Recht Artikel (Einzahl und Mehrzahl) Auflage Aktenzeichen Bayerisch(er) Band Beschluss Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen in der offiziellen Sammlung Bundesministerium der Justiz Bundessozialgericht beispielsweise Bundestags-Drucksache Betäubungsmittelgesetz Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in Strafsachen in der offiziellen Sammlung Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts in Strafsachen in der offiziellen Sammlung bezüglich beziehungsweise derselbe das heißt dieselbe Deutsches Verwaltungsblatt Europäische Gemeinschaft Europäische Menschenrechtskonvention et cetera Europäische Union
14 EuGH EuZW f./ff. Fn. FS GA GG GRUR HRRS i. d. F. i. d. R. i. S. d. i. Ü. i. V. m. i. w. S. JR JZ Kap. KG krit. LFGB LG LMuR MedR MPG MPR m. w. N. m. W. v. Nieders. NJW Nr. NStZ NStZ-RR NVwZ NZWiSt OLG OVG OWiG PharmR RG RGBl. RGSt RiFlEtikettG RIW/AWD S. s. a. sog.
Abkürzungsverzeichnis Europäischer Gerichtshof Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht folgend/folgende Fußnote Festschrift Goldtammer’s Archiv Grundgesetz Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht (Zeitschrift) Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht in der Fassung in der Regel im Sinne des im Übrigen in Verbindung mit im weiteren Sinne Juristische Rundschau Juristenzeitung Kapitel Kammergericht (Berlin) kritisch Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuch Landgericht Lebensmittel & Recht Medizinrecht Gesetz über Medizinprodukte Medizin Produkte Recht, Zeitschrift für das gesamte Medizinprodukterecht mit weiteren Nachweisen mit Wirkung vom Niedersächsisch(es) Neue Juristische Wochenschrift Nummer Neue Zeitschrift für Strafrecht Rechtsprechungs-Report Strafrecht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Wirtschafts-, Steuer- und Unternehmensstrafrecht Oberlandesgericht Oberverwaltungsgericht Gesetz über Ordnungswidrigkeiten Pharma-Recht, Fachzeitschrift für das gesamte Arzneimittelrecht Reichgericht Reichsgesetzblatt Entscheidungssammlung der Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen Rindfleischetikettierungsgesetz Rechts der Internationalen Wirtschaft, Außenwirtschaftsdienst des Betriebsberaters Seite siehe auch so genannte(r)
Abkürzungsverzeichnis StGB s. u. StoffR StraFo StV u. a. UAbs. Urt. usw. VerwArch VGH VO Vorbem. wistra WRP z. B. ZIS ZJS ZLR ZRP ZStW
15
Strafgesetzbuch siehe unten Zeitschrift für Stoffrecht Strafverteidiger Forum Strafverteidiger unter anderem Unterabsatz Urteil und so weiter Verwaltungs-Archiv, Zeitschrift für Verwaltungslehre, Verwaltungsrecht und Verwaltungspolitik Verwaltungsgerichtshof Verordnung Vorbemerkung Zeitschrift für Wirtschafts- und Steuerstrafrecht Wettbewerb in Recht und Praxis zum Beispiel Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik Zeitschrift für das juristische Sachenrecht Zeitschrift für das gesamte Lebensmittelrecht Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft
Einleitung I. Hinführung Nach Art. 103 Abs. 2 GG kann eine Tat nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. In dieser Norm ist das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot verankert, das der Gesetzgeber zusätzlich in § 1 StGB und für Ordnungswidrigkeiten in § 3 OWiG normiert hat. An diesem Bestimmtheitsgrundsatz sind damit die Straf- und Bußgeldvorschriften des AMG zu messen. Die Strafvorschriften des AMG sind in § 95 und § 96 und die Bußgeldvorschriften in § 97 normiert. Betrachtet man diese Normen, wird einem sofort deutlich, dass sich das strafbare Verhalten nicht ohne Weiteres erkennen lässt. Das AMG enthält in § 95 und § 96 insgesamt über vierzig Strafvorschriften und in § 97 über achtzig Bußgeldtatbestände. Hinzu kommen zahlreiche Tatbestandsalternativen, sodass sich die sanktionierten Verhaltensweisen nochmals vervielfachen. Die Unübersichtlichkeit der Straf- und Bußgeldvorschriften des AMG ist jedoch nicht (nur) Folge der Masse an Vorschriften, sondern in erster Linie die Konsequenz der gewählten Gesetzgebungstechnik. Die Normen verweisen, wie es sich im Nebenstrafrecht etabliert hat, auf andere Paragraphen. Sie sind also für sich betrachtet unvollständig. Solche sog. Blankettnormen bzw. Blankettstrafgesetze sollen zu einer Flexibilisierung des Systems der Sanktionsnormen führen, um damit auf Änderungen in der Gesellschaft effizient reagieren zu können.1 Dass diese Art der Gesetzgebungstechnik mit dem sich aus Art. 103 Abs. 2 GG ergebenden Bestimmtheitsgrundsatz, nach dem der Gesetzgeber verpflichtet ist, Straftatbestände in einer Weise zu fassen, die es den Gesetzesunterworfenen ermöglicht, das sanktionierte Verhalten eindeutig zu erkennen, im Konflikt steht, liegt auf der Hand. Besonders problematisch wird es, wenn die Straf- oder Bußgeldnorm nicht etwa nur auf eine Norm aus dem AMG selbst, sondern – wie im AMG häufig der Fall – auf Rechtsverordnungen, EU-Verordnungen oder EU-Richtlinien verweist und damit Regelungen in Bezug nimmt, die oftmals aus unterschiedlichen Gründen schwer auffindbar sind, ihrem Inhalt nach sehr weit gefasst sind und von einem anderen Normgeber stammen. Neben dem Problem der Vereinbarkeit der Blankettgesetzgebungstechnik mit dem strafrechtlichen Bestimmtheitsgebot tritt erschwerend hinzu, dass die überwiegende Anzahl der Straf- und Bußgeldvorschriften des AMG von einem Tatbestandsmerkmal, nämlich dem Vorliegen eines Arzneimittels, abhängig sind. Dieser 1
MK-Nebenstrafrecht/Freund, AMG Vorb. § 95 Rn. 51.
18
Einleitung
Begriff ist zwar in § 2 AMG definiert, die Definition ist ihrerseits jedoch sehr unübersichtlich und enthält zahlreiche unbestimmte Rechtsbegriffe, wie zum Beispiel den Begriff der pharmakologischen Wirkung. Infolgedessen verwundert es nicht, dass zu der Frage der Auslegung des Arzneimittelbegriffs und insbesondere zur Abgrenzung von Arzneimitteln zu Lebensmitteln und Medizinprodukten zahlreiche, in ihrer Summe kaum noch überschaubare, Stellungnahmen und Gerichtsentscheidungen ergangen sind. Kontrovers diskutiert wird der Arzneimittelbegriff in erster Linie deshalb, weil die Frage der verwaltungsrechtlichen Einstufung eines Produkts als Arzneimittel in der Praxis von erheblicher, insbesondere wirtschaftlicher, Bedeutung ist. Denn nach § 21 Abs. 1 AMG gilt für das Inverkehrbringen von Arzneimitteln ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt, sodass ein zeit- und kostenintensives Zulassungsverfahren erforderlich ist. Zahlreiche vom Arzneimittel abzugrenzende Produktkategorien sind hingegen frei verkehrsfähig.2 Die Frage der Bestimmtheit des Arzneimittelbegriffs wird hierbei nur sehr vereinzelt aufgeworfen. Sämtliche in diesem Bereich bestehende Unklarheiten sind jedoch aufgrund der Tatsache, dass es sich um ein Tatbestandsmerkmal zahlreicher Straf- und Bußgeldvorschriften handelt, auch aus strafrechtlicher Sicht von Bedeutung. Insbesondere bei sog. „dual use“ Produkten, also bei solchen, die mehrere Verwendungsmöglichkeiten haben, stellt sich die Frage, welche Kriterien den Arzneimittelbegriff ausmachen, wie diese zu gewichten sind und wie sich letztlich derartige Produkte im Grenzbereich zu anderen Produktkategorien anhand der Definition des § 2 AMG verallgemeinerungsfähig – losgelöst vom Einzelfall – dem Arzneimittelbegriff zuordnen lassen, sodass das strafbare Verhalten dem Bestimmtheitsgrundsatz entsprechend vorhersehbar ist.
II. Gang der Untersuchung Die folgenden Ausführungen basieren auf den Darstellungen des Kapitels 6.1 der Veröffentlichung „Auswirkungen der Liberalisierung des Internethandels in Europa auf die Arzneimittelkriminalität“.3 Die Problematik der Reichweite des Arzneimittelbegriffs sowie die Frage der Bestimmtheit der Straf- und Bußgeldnormen im AMG wurden dort vom Autor bereits angerissen. Die hiesige Arbeit versteht sich insoweit als Fortsetzung, Vertiefung und Weiterentwicklung.4 Gegenstand der Untersuchung ist die Vereinbarkeit des in § 2 AMG legaldefinierten Arzneimittelbegriffs sowie die in den Straf- und Bußgeldvorschriften des AMG verwendeten Verweisungskonstruktionen mit dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG. Klarzustellen ist insoweit, dass hier nicht sämtliche im AMG 2
Lücker, PharmR 2018, 109 ff. Markwardt, Arzneimittelstrafrecht, S. 279 ff. Diese Veröffentlichung entstand auf Grundlage der Ergebnisse, die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung ermittelt wurden. 4 Soweit hier unter Kaptitel 1 A. die historische Entwicklung und die gesetzlichen Kriterien des Arzneimittelbegriffs dargestellt werden, lag der Fokus neben der Aktualisierung auf der inhaltlichen Modifizierung der bereits veröffentlichten Ausführungen. 3
Einleitung
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verwendeten, von den Straf- und Bußgeldnormen in Bezug genommenen, unbestimmten Rechtsbegriffe analysiert werden. Die Frage der Bestimmtheit der Strafund Bußgeldvorschriften des AMG wird damit nicht vollumfänglich erörtert. Zudem ist es nicht der Anspruch dieser Arbeit, sämtliche verwaltungsrechtlichen Stellungnahmen und Gerichtsentscheidungen zur Frage der Einstufung von Produkten als Arzneimittel darzustellen und abschließend zu klären, welche Produkte unter den Arzneimittelbegriff fallen. Zum einen würde dies den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Zum anderen erscheint es unter Berücksichtigung des Ziels dieser Arbeit – die Klärung der Frage der strafrechtlichen Bestimmtheit des Arzneimittelbegriffs – sinnvoller, ausgehend von der gesetzlichen Regelung des § 2 AMG die aus Sicht des Art. 103 Abs. 2 GG besonders problematischen und markanten Fälle und Entwicklungen in der Rechtsprechung und Literatur zu analysieren. Die Arbeit grenzt sich damit bewusst von bereits existierenden verwaltungsrechtlichen Darstellungen ab, die das Ziel verfolgen, den Arzneimittelbegriff – meist in Abgrenzung zu einer ausgewählten benachbarten Produktkategorie, wie z. B. Lebensmittel oder Medizinprodukte5 – umfassend darzustellen. Aus Sicht des Bestimmtheitsgrundsatzes ist es gerade erforderlich, bei der Frage der Bewertung des Arzneimittelbegriffs nicht nur eine, sondern sämtliche benachbarte Produktkategorien im Blick zu haben und damit den Gesamtblick zu behalten. Denn nur so erscheint es möglich, generell, losgelöst vom Einzelfall, bewerten zu können, ob es sich bei den für die Einstufung eines Produkts als Arzneimittel maßgebenden Kriterien um solche handelt, die es dem Normadressaten ermöglichen, die Einstufung als Arzneimittel und damit das strafbare Verhalten vorherzusehen oder aber, ob es sich um eine dem Normadressaten unvorhersehbare ergebnisorientierte Einzelfallentscheidung handelt. In Kapitel 1 wird die Frage der Bestimmtheit des Arzneimittelbegriffs analysiert. Es soll insoweit geklärt werden, ob die gesetzliche Regelung des § 2 AMG für die sehr praxisrelevante Frage der Einstufung eines Produkts als Arzneimittel Grundlage einer für den Normadressaten vorhersehbaren Einstufung sein kann. Hierfür wird zunächst die historische Entwicklung des deutschen und europäischen Arzneimittelbegriffs dargestellt, um daraus Schlüsse für den aktuellen Arzneimittelbegriff ziehen zu können. Anschließend werden ausgehend von der Struktur des § 2 AMG die gesetzlichen Voraussetzungen des Arzneimittelbegriffs umrissen, um dann anhand der bis dahin erlangten Erkenntnisse Unklarheiten und Probleme bei der Anwendung dieser Kriterien herauszuarbeiten und unter Berücksichtigung der Aussagen in der Rechtsprechung und Literatur zu bewerten. Um die Frage der strafrechtlichen Bestimmtheit des Arzneimittelbegriffs abschließend klären zu können, werden die bis dahin erzielten Ergebnisse anhand eines zuvor festgelegten Prüfungsmaßstabes bewertet. Abschließend wird ein Weg für die Schaffung einer mit Art. 103 Abs. 2 GG zu vereinbarenden Definition des Arzneimittelbegriffs skizziert. Kapitel 2 befasst sich mit der Frage der strafrechtlichen Bestimmtheit der im AMG verwendeten Blankettnormen. Es handelt sich hierbei also nicht um eine 5
Siehe z. B. Kaulen, Abgrenzung, S. 1 ff.; Winters, Rechtliche Abgrenzung, S. 1 ff.
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Einleitung
Darstellung der Problematik der Blankettgesetzgebungstechnik im Allgemeinen, es sollen vielmehr konkret am Beispiel des AMG die dort verwendeten Blankettnormen überprüft werden, sodass auf einige im Nebenstrafrecht verwendeten Verweisungskonstruktionen, die im AMG nicht auftauchen, allenfalls am Rande einzugehen sein wird. Die im AMG existierenden verschiedenen Verweisungskonstruktionen werden zunächst herausgearbeitet und kategorisiert. Anschließend wird dargestellt, welche Probleme bei den verschiedenen Verweisungskonstruktionen auftreten und unter Berücksichtigung der Ausführungen in der Literatur und Rechtsprechung bewertet, ob die einzelnen Verweisungskonstruktionen dem Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG standhalten. Hierbei wird strikt zwischen den beiden Funktionen des Bestimmtheitsgrundsatzes, der verhaltensleitenden und der kompetenzwahrenden Funktion, unterschieden, da sich jeweils unterschiedliche Probleme ergeben.
Kapitel 1
Der Arzneimittelbegriff A. Entwicklung und status quo des Arzneimittelbegriffs1 I. Überblick Der Begriff des Arzneimittels ist in § 2 AMG definiert. § 2 Absatz 1 AMG enthält eine Legaldefinition für Arzneimittel. In Absatz 2 wird für gewisse Produkte die Arzneimitteleigenschaft fingiert. Diese fallen nicht unter die Legaldefinition des Absatz 1, sie gelten aufgrund ihres Gefährdungspotenzials jedoch als Arzneimittel. In Absatz 3 werden über Negativdefinitionen beschrieben, welche Produkte keine Arzneimittel sind. Damit werden Produkte aus benachbarten Rechtsbereichen vom Arzneimittelbegriff abgegrenzt. § 2 Abs. 3a AMG enthält eine sog. Zweifels- bzw. Grenzfallregelung für Produkte, die nach der Legaldefinition ein Arzneimittel sind, zugleich jedoch unter die Begriffsbestimmung eines benachbarten Produkts fallen. Absatz 4 enthält sodann eine Vermutungsregelung, nach der bei zugelassenen oder registrierten Arzneimitteln die Arzneimitteleigenschaft vermutet wird. § 2 AMG lautet wie folgt: (1) Arzneimittel sind Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen, 1. die zur Anwendung im oder am menschlichen oder tierischen Körper bestimmt sind und als Mittel mit Eigenschaften zur Heilung oder Linderung oder zur Verhütung menschlicher oder tierischer Krankheiten oder krankhafter Beschwerden bestimmt sind oder 2. die im oder am menschlichen oder tierischen Körper angewendet oder einem Menschen oder einem Tier verabreicht werden können, um entweder a) die physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen oder b) eine medizinische Diagnose zu erstellen. (2) Als Arzneimittel gelten 1. Gegenstände, die ein Arzneimittel nach Absatz 1 enthalten oder auf die ein Arzneimittel nach Absatz 1 aufgebracht ist und die dazu bestimmt sind, dauernd oder vorübergehend mit dem menschlichen oder tierischen Körper in Berührung gebracht zu werden, 1
Siehe hierzu bereits Markwardt, Arzneimittelstrafrecht, S. 279 – 310.
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Kap. 1: Der Arzneimittelbegriff 1a. tierärztliche Instrumente, soweit sie zur einmaligen Anwendung bestimmt sind und aus der Kennzeichnung hervorgeht, dass sie einem Verfahren zur Verminderung der Keimzahl unterzogen worden sind, 2. Gegenstände, die, ohne Gegenstände nach Nummer 1 oder 1a zu sein, dazu bestimmt sind, zu den in Absatz 1 bezeichneten Zwecken in den tierischen Körper dauernd oder vorübergehend eingebracht zu werden, ausgenommen tierärztliche Instrumente, 3. Verbandstoffe und chirurgische Nahtmaterialien, soweit sie zur Anwendung am oder im tierischen Körper bestimmt und nicht Gegenstände der Nummer 1, 1a oder 2 sind, 4. Stoffe und Zubereitungen aus Stoffen, die, auch im Zusammenwirken mit anderen Stoffen oder Zubereitungen aus Stoffen, dazu bestimmt sind, ohne am oder im tierischen Körper angewendet zu werden, die Beschaffenheit, den Zustand oder die Funktion des tierischen Körpers erkennen zu lassen oder der Erkennung von Krankheitserregern bei Tieren zu dienen. (3) Arzneimittel sind nicht 1. Lebensmittel im Sinne des Artikels 2 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit (ABl. L 31 vom 1. 2. 2002, S. 1), die zuletzt durch die Verordnung (EU) 2019/ 1381 (ABl. L 231 vom 6. 9. 2019, S. 1) geändert worden ist, 2. kosmetische Mittel im Sinne des Artikels 2 Absatz 1 Buchstabe a auch in Verbindung mit Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 1223/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. November 2009 über kosmetische Mittel (ABl. L 342 vom 22. 12. 2009, S. 59; L 318 vom 15. 11. 2012, S. 74; L 72 vom 15. 3. 2013, S. 16; L 142 vom 29. 5. 2013, S. 10; L 254 vom 28. 8. 2014, S. 39; L 17 vom 21. 1. 2017, S. 52; L 326 vom 9. 12. 2017, S. 55; L 183 vom 19. 7. 2018, S. 27; L 324 vom 13. 12. 2019, S. 80; L 76 vom 12. 3. 2020, S. 36), die zuletzt durch die Verordnung (EU) 2019/1966 (ABl. L 307 vom 28. 11. 2019, S. 15) geändert worden ist, 3. Erzeugnisse im Sinne des § 2 Nummer 1 des Tabakerzeugnisgesetzes, 4. Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen, die ausschließlich dazu bestimmt sind, äußerlich am Tier zur Reinigung oder Pflege oder zur Beeinflussung des Aussehens oder des Körpergeruchs angewendet zu werden, soweit ihnen keine Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen zugesetzt sind, die vom Verkehr außerhalb der Apotheke ausgeschlossen sind, 5. Biozid-Produkte nach Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe a der Verordnung (EU) Nr. 528/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über die Bereitstellung auf dem Markt und die Verwendung von Biozidprodukten (ABl. L 167 vom 27. 6. 2012, S. 1), 6. Futtermittel im Sinne des Artikels 3 Nummer 4 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002, 7. Medizinprodukte und Zubehör für Medizinprodukte im Sinne von Artikel 2 Nummer 1 und 2 der Verordnung (EU) 2017/745 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2017 über Medizinprodukte, zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EG, der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 und der Verordnung (EG) Nr. 1223/2009 und zur Aufhebung der Richtlinien 90/385/EWG und 93/42/EWG des Rates (ABl. L 117 vom 5. 5. 2017, S. 1; L 117 vom 3. 5. 2019, S. 9; L 334 vom 27. 12. 2019, S. 165), die durch die Verordnung (EU) 2020/561 (ABl. L 130 vom 24. 4. 2020, S. 18) geändert worden ist, in der jeweils geltenden
A. Entwicklung und status quo des Arzneimittelbegriffs
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Fassung und im Sinne des § 3 Nummer 4 und 9 des Medizinproduktegesetzes in der bis einschließlich 25. Mai 2021 geltenden Fassung, es sei denn, es handelt sich um Arzneimittel im Sinne des Absatzes 1 Nummer 2 Buchstabe b, 8. Organe im Sinne des § 1a Nr. 1 des Transplantationsgesetzes, wenn sie zur Übertragung auf menschliche Empfänger bestimmt sind. (3a) Arzneimittel sind auch Erzeugnisse, die Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen sind oder enthalten, die unter Berücksichtigung aller Eigenschaften des Erzeugnisses unter eine Begriffsbestimmung des Absatzes 1 fallen und zugleich unter die Begriffsbestimmung eines Erzeugnisses nach Absatz 3 fallen können. (4) Solange ein Mittel nach diesem Gesetz als Arzneimittel zugelassen oder registriert oder durch Rechtsverordnung von der Zulassung oder Registrierung freigestellt ist, gilt es als Arzneimittel. Hat die zuständige Bundesoberbehörde die Zulassung oder Registrierung eines Mittels mit der Begründung abgelehnt, dass es sich um kein Arzneimittel handelt, so gilt es nicht als Arzneimittel.
II. Historische Entwicklung des Arzneimittelbegriffs Im Folgenden soll zunächst die Entwicklung des Arzneimittelbegriffs dargestellt werden. Aus dem historischen Kontext und den Veränderungen des Arzneimittelbegriffs können Rückschlüsse gezogen werden, die für das heutige Verständnis des Arzneimittelbegriffs von Bedeutung sind. 1. Entwicklung des deutschen Arzneimittelbegriffs In der Constitutio Criminalis Carolina aus dem Jahr 1532 waren erstmals Strafvorschriften enthalten, die den Begriff des Arzneimittels enthielten. Sanktioniert wurde das Töten eines Menschen mit Arzneimitteln durch einen Arzt sowie u. a. das Fälschen von Maß, Gewicht und Waren.2 Die Constitutio Criminalis Carolina enthielt jedoch keine Definition des Arzneimittelbegriffs. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts existierte eine solche auch in den jeweiligen territorialen Apothekenordnungen nicht. Vergleichbar mit der heutigen Definitionstechnik für den Betäubungsmittelbegriff im Betäubungsmittelgesetz wurde bis dahin der jeweilige Verordnungsgeber ermächtigt, bestimmte Substanzen aufzuzählen, die dann als Arzneimittel einzustufen waren.3 Die erste Definition des Arzneimittels befand sich in der Kaiserlichen Verordnung betreffend den Verkehr mit Arzneimitteln vom 22. 10. 1901.4 Bei dieser bis in das Jahr 1969 geltenden Verordnung handelte es sich um die erste einheitliche 2
Wagner, Arzneimittel-Delinquenz, S. 47. Siehe § 6 Abs. 2 der Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes vom 21. 06. 1869 (RGBl. 1872, S. 85). 4 RGBl. 1901, S. 380. 3
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Kap. 1: Der Arzneimittelbegriff
Regelung für das gesamte Deutsche Reich, die den Umgang mit Arzneimitteln reglementierte. Danach waren gemäß § 1 S. 1 Heilmittel „Mittel zur Beseitigung oder Linderung von Krankheiten bei Menschen oder Tieren“. Die nächste Definition folgte in der Bundesratsverordnung vom 22. 03. 1917,5 wonach Arzneimittel als „solche chemischen Stoffe, Drogen und Zubereitungen, die zur Beseitigung, Linderung oder Verhütung von Krankheiten (…) bestimmt sind“, definiert wurden. Anders als in der Definition der Kaiserlichen Verordnung betreffend den Verkehr mit Arzneimitteln vom 22. 10. 1901 wurde – vergleichbar mit der heutigen Regelung – auf die Bestimmung des Produkts abgestellt. Mitte des 20. Jahrhunderts folgte die Definition in der Polizeiverordnung für die Werbung auf dem Gebiet des Heilwesens vom 29. 09. 1941,6 wonach Arzneimittel als „Mittel, die dazu bestimmt sind, Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder Beschwerden bei Mensch oder Tier zu verhüten, zu lindern oder zu beseitigen“, definiert wurden. Damit wurde weiterhin auf die Zweckbestimmung, zugleich aber auch auf den Krankheitsbegriff abgestellt. Die Verordnung über die Herstellung von Arzneimittelfertigwaren vom 11. 02. 1943 ersetze den Begriff Krankheit erstmals durch die Worte „Leiden, Körperschäden oder Beschwerden“.7 Neu war zudem, dass neben der Beseitigung und Linderung auch auf die Verhütung von Krankheiten abgestellt wurde. Im Jahr 1961 folgte das erste umfassende Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln („AMG 1961“).8 Ziel dieses Gesetzes war es ausdrücklich, den Arzneimittelbegriff zu erneuern, zu systematisieren und zu vereinheitlichen. Es sollte eine Definition geschaffen werden, die ohne eine Verwendung der unbestimmten Rechtsbegriffe „Beseitigung oder Linderung von Krankheiten, Leiden oder Körperbeschwerden“ auskommen sollte, da diese Begriffe nach Auffassung des Gesetzgebers juristisch schwer zu erfassen waren.9 Diagnostische und anästhetische Mittel sowie Schwangerschaftsverhütungsmittel und Mittel zur geschlechtlichen Anregung sollten dabei ausdrücklich unter den Arzneimittelbegriff fallen.10 § 1 Abs. 1 lautete wie folgt: „Arzneimittel im Sinne dieses Gesetzes sind Stoffe und Zubereitungen aus Stoffen, die vom Hersteller oder demjenigen, der sie sonst in den Verkehr bringt, dazu bestimmt sind, durch Anwendungen am menschlichen oder tierischen Körper 1. die Beschaffenheit, den Zustand oder die Funktionen des Körpers oder seelische Zustände erkennen zu lassen oder zu beeinflussen, 2. vom menschlichen oder tierischen Körper erzeugte Wirkstoffe oder Körperflüssigkeiten zu ersetzen oder
5
RGBl. 1917, S. 327; abgedruckt in Kriegsgesetzgebung für Apotheker, S. 45 ff. RGBl. 1941, S. 587. 7 RGBl. 1943, S. 99; „Stoffe und Zubereitungen, die zur Verhütung, Linderung oder Beseitigung von Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder Beschwerden bei Mensch oder Tier bestimmt sind.“ 8 BGBl. I 1961, S. 533. 9 BT-Drucks. 3/654, S. 17. 10 BT-Drucks. 3/654, S. 16. 6
A. Entwicklung und status quo des Arzneimittelbegriffs
25
3. Krankheitserreger, Parasiten oder körperfremde Stoffe zu beseitigen oder unschädlich zu machen.“
Als Reaktion auf die Contergan-Katastrophe und die damit einhergehende Erkenntnis, dass das „AMG 1961“ keinen ausreichenden Schutz vor den Gefahren neuer Arzneimittel gewährleistete,11 wurde mit dem Ziel der Umsetzung der Richtlinie 65/65/EWG das „AMG 1976“ verabschiedet.12 Arzneimittel wurden in § 1 Abs. 1 wie folgt definiert: „Arzneimittel sind Stoffe und Zubereitungen aus Stoffen, die dazu bestimmt sind, durch Anwendung am oder im menschlichen oder tierischen Ko¨ rper 1. Krankheiten, Leiden, Ko¨ rperscha¨ den oder krankhafte Beschwerden zu heilen, zu lindern, zu verhu¨ ten oder zu erkennen, 2. die Beschaffenheit, den Zustand oder die Funktionen des Ko¨ rpers oder seelische Zusta¨ nde erkennen zu lassen, 3. vom menschlichen oder tierischen Ko¨ rper erzeugte Wirkstoffe oder Ko¨ rperflu¨ ssigkeiten zu ersetzen, 4. Krankheitserreger, Parasiten oder ko¨ rperfremde Stoffe abzuwehren, zu beseitigen oder unscha¨ dlich zu machen oder 5. die Beschaffenheit, den Zustand oder die Funktionen des Ko¨ rpers oder seelische Zusta¨ nde zu beeinflussen.“
Die wesentlichen Unterschiede zum „AMG 1961“ bestehen darin, dass dem Wortlaut nach nunmehr die objektive Zweckbestimmung und nicht die Zweckbestimmung des Herstellers oder pharmazeutischen Unternehmers entscheidend war, der Begriff der Krankheit wieder aufgenommen wurde und zudem die Fiktionsregelung in Absatz 2 und die Vermutungsregelung in Absatz 4 eingefügt sowie die Ausschlussregelung in Absatz 3 erweitert wurde. Die letzte Änderung des Arzneimittelbegriffs erfolgte durch das „AMG 2009“.13 Hiermit wurden die Vorgaben der Richtlinie 2001/83/EG umgesetzt. Die wesentlichen Unterschiede zur Vorgängerversion bestehen darin, dass nunmehr ausdrücklich zwischen Präsentationsarzneimittel (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG) und Funktionsarzneimittel (§ 2 Abs. 1 Nr. 2 AMG) unterschieden wird. Die Art der Wirkung, die das Funktionsarzneimittel auf den Körper haben muss, die zuvor in § 1 Abs. 1 Nr. 5 „AMG 1976“ geregelt war, wurde verändert. Entscheidend wurde nunmehr erstmals auf die pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung abgestellt. Darüber hinaus wurde die Zweifelsfallregelung in Absatz 3a eingefügt.
11
Vgl. BT-Drucks. 7/3060, S. 43 f.; Dieners/Reese/Dieners/Heil, § 1 Rn. 20. Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelrechts vom 24. 08. 1976, BGBl. I S. 2445 („AMG 1976“). 13 Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften vom 17. 07. 2009, BGBl. I S. 1990 ff. 12
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Kap. 1: Der Arzneimittelbegriff
2. Entwicklung des europäischen Arzneimittelbegriffs Seit dem Jahr 1965 ist der Arzneimittelbegriff auf europäischer Ebene durch die Richtlinie 65/65/EWG des Rates vom 26. Januar 1965 zur Angleichung der Rechtsund Verwaltungsvorschriften über Arzneispezialitäten definiert. Art. 1 Nr. 2 lautet wie folgt: „Arzneimittel: Alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die als Mittel zur Heilung oder zur Verhütung menschlicher oder tierischer Krankheiten bezeichnet werden; alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die dazu bestimmt sind, im oder am menschlichen oder tierischen Körper zur Erstellung einer ärztlichen Diagnose oder zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der menschlichen oder tierischen Körperfunktionen angewandt zu werden.“
Durch die Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rats vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel und die Richtlinie 2001/82/EG für Tierarzneimittel wurde der Arzneimittelbegriff geringfügig verändert. In Art. 1 Nr. 2 der Richtlinie 2001/83/EG heißt es: „Arzneimittel: Alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die als Mittel zur Heilung oder zur Verhütung menschlicher Krankheiten bezeichnet werden; Alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die dazu bestimmt sind, im oder am menschlichen Körper zur Erstellung einer ärztlichen Diagnose oder zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der menschlichen physiologischen Funktionen angewandt zu werden, gelten ebenfalls als Arzneimittel.“
Der Begriff „der menschlichen (…) Körperfunktionen“ wurde ersetzt durch die Worte „der menschlichen physiologischen Funktionen“. Ziel der Richtlinie 2001/83/ EG war es, lediglich – aus Gründen der Übersichtlichkeit und Klarheit – den Inhalt zahlreicher unterschiedlicher Richtlinien in einer einzigen Richtlinie zusammenzufassen.14 Die Richtlinie 2001/83/EG wurde wiederum durch die Richtlinie 2004/ 27/EG vom 31. 03. 2004 geändert und der Arzneimittelbegriff in Art. 1 Nr. 2 neu definiert: „Arzneimittel: a) Alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die als Mittel mit Eigenschaften zur Heilung oder zur Verhütung menschlicher Krankheiten bestimmt sind, oder b) alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die im oder am menschlichen Körper verwendet oder einem Menschen verabreicht werden können, um entweder die menschlichen physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen oder eine medizinische Diagnose zu erstellen.“ 14
Siehe erste Begründungserwägung der Richtlinie 2001/83/EG.
A. Entwicklung und status quo des Arzneimittelbegriffs
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Ziel dieser Änderung war es, die Art der Wirkung, die das Arzneimittel auf die physiologischen Funktionen haben kann, zu spezifizieren und damit Klarheit bei der Einordnung von Grenzprodukten zu schaffen.15 Hierfür wurde erstmals ausdrücklich auf den Begriff der pharmakologischen Wirkung abgestellt, der bis dahin lediglich von der Rechtsprechung verwendet wurde. Der Zusatz „pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung“ wurde der Definition der Medizinprodukte in Art. 1 Abs. 2 lit. a der Richtlinie 93/42/EWG vom 14. 06. 1993 entnommen. In Art. 2 Abs. 2 wurde zudem eine Zweifelsfallregelung eingefügt. Die Änderung des Wortes „bezeichnet“ in das Wort „bestimmt“ stellt keine Änderung des bisherigen Verständnisses dar, sie ist vielmehr lediglich auf die Übersetzung in die deutsche Sprache zurückzuführen.16
III. Verhältnis des deutschen zum europäischen Arzneimittelbegriff In der Rechtsprechung und Literatur wird die Frage des Verhältnisses des deutschen zum europäischen Arzneimittelbegriff unterschiedlich beantwortet. Zum Teil wird auf den nationalen Arzneimittelbegriff, der dann europarechtskonform ausgelegt wird, abgestellt (sog. Koexistenzlösung).17 An anderer Stelle wird – bei der Abgrenzung von Arzneimitteln zu Lebensmitteln – der europäische Arzneimittelbegriff aufgrund der Verweisungskonstruktion im Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuch (LFGB) unmittelbar angewendet (sog. Integrationslösung)18 oder aber diese Frage aufgrund der geringfügigen Unterschiede gänzlich offen gelassen (sog. Kumulationslösung).19 Ohne schon an dieser Stelle auf die einzelnen Meinungen und Argumente einzugehen, kann hier festgestellt werden, dass die gesamte Problematik mit der Änderung des Arzneimittelbegriffs im Jahre 2009 und der damit erfolgten Anpassung des deutschen an den europäischen Arzneimittelbegriff an Bedeutung verloren hat.20 Dennoch ergeben sich – wie noch aufgezeigt wird – aus der Tatsache, dass der Arzneimittelbegriff sowohl auf euro-
15
Siehe 7. Begründungserwägung der Richtlinie 2004/28/EG. Doepner/Hüttebräuker, ZLR 2004, 429 (445 f.); Meyer/Streinz, LFBG, BasisVO Art. 2 Rn. 46; Kloesel/Cyran, § 2 Anm. 8. 17 BGH PharmR 2006, 329 (335 f.); PharmR 2010, 522 (523); Doepner/Hüttebräuker, ZLR 2008, 1 (7 ff.); Müller, LMuR 2009, 129 (131); ders., in: FS Doepner (2008), 267 (268 ff.); Harting, ZLR 2008, 245 (246). 18 BVerwG PharmR 2007, 211 ff.; PharmR 2009, 397 ff.; abweichend dann jedoch: BVerwG PharmR 2011, 168 ff.); kritisch hierzu: Kügel/Müller/Hofmann, § 2 Rn. 45 ff. 19 OVG Lüneburg PharmR 2011, 86 (87); OLG Stuttgart PharmR 2008, 386 (388 f.). 20 Kügel/Müller/Hofmann, § 2 Rn. 53, der jedoch darauf verweist, dass § 2 AMG in seinem Gesamtgefüge mit seinen Regelungen zu den fiktiven Arzneimitteln (§ 2 Abs. 2), den Abgrenzungsfragen (§ 2 Abs. 3) sowie den gesetzlichen Vermutungen (§ 2 Abs. 4) enger gefasst sei, als der europäische Arzneimittelbegriff, der vergleichbare Regelungen nicht enthalte. 16
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Kap. 1: Der Arzneimittelbegriff
päischer als auch auf nationaler Ebene definiert wird, Auslegungsprobleme, die für die Frage der Bestimmtheit von Bedeutung sind.21
IV. Völkerrechtliche Vorgaben Die Bundesrepublik Deutschland hat das Übereinkommen des Europarats über die Fälschung von Arzneimitteln und Medizinprodukten und über ähnliche die öffentliche Gesundheit gefährdende Straftaten (Medicrime-Convention) am 28. 10. 2011 unterzeichnet. Ratifiziert wurde dieser völkerrechtliche Vertrag von der Bundesrepublik Deutschland bislang jedoch nicht. Unabhängig davon ergeben sich aus diesem Vertrag im Hinblick auf die Auslegung des deutschen Arzneimittelbegriffs keine neuen Erkenntnisse, da der Arzneimittelbegriff in der MedicrimeConvention mit dem der Richtlinie 2001/83/EG übereinstimmt.22
V. Unterscheidung in Präsentations- und Funktionsarzneimittel Die Definition des Arzneimittelbegriffs unterteilt sich sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene in Präsentations- und Funktionsarzneimittel. 1. Präsentationsarzneimittel Nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG sind Arzneimittel „Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen, die zur Anwendung im oder am menschlichen oder tierischen Körper bestimmt sind und als Mittel mit Eigenschaften zur Heilung oder Linderung oder zur Verhütung menschlicher oder tierischer Krankheiten oder krankhafter Beschwerden bestimmt sind“. Dieser Präsentationsarzneimittelbegriff stellt auf die Bestimmung des Produkts ab. Ziel dieser Regelung ist es, den Verbraucher gerade auch vor unwirksamen Produkten zu schützen, da die Einnahme solcher unwirksamer Produkte anstelle von wirksamen Produkten den Krankheitsverlauf verschlechtern bzw. den Heilungsprozess verhindern kann.23 Damit sind vom Präsentationsarzneimittelbegriff auch „unechte“ Arzneimittel bzw. Anscheinsarzneimittel erfasst, d. h. solche Produkte, die nur als Mittel zur Heilung von Krankheiten präsentiert werden, eine solche Wirkung jedoch nicht haben.24 Ebenfalls unter den Präsentationsarzneimittelbegriff fallen die „echten“ Arzneimittel, d. h. solche, die pharmakologisch wirken und objektiv the21
Siehe Kapitel 1 C. V. 3. f). Ausführlich zu dem Einfluss der Medicrime-Convention auf das deutsche Arzneimittelstrafrecht siehe Koring, Medicrime-Convention, S. 1 ff. 23 BT-Drucks. 16/12256, S. 41. 24 Fuhrmann/Klein/Fleischfresser/Stephan, § 2 Rn. 82; Kloesel/Cyran, § 2 Anm. 35. 22
A. Entwicklung und status quo des Arzneimittelbegriffs
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rapeutischen oder prophylaktischen Zwecken dienen. Derartige Produkte fallen dann sowohl unter die Definition des Präsentations- als auch unter die des Funktionsarzneimittelbegriffs. Die Bestimmung des Produkts richtet sich dem Wortlaut nach nicht mehr – wie noch im „AMG 1961“ – nach der Zweckbestimmung des Herstellers oder pharmazeutischen Unternehmers, sondern nach der objektiven Verkehrsauffassung.25 Ein Präsentationsarzneimittel liegt demnach vor, wenn bei einem durchschnittlich informierten Verbraucher auch nur schlüssig, aber mit Gewissheit der Eindruck entsteht, dass das Erzeugnis als Mittel zur Heilung oder Verhütung menschlicher oder tierischer Krankheiten dienen kann.26 a) Stoffe Das AMG unterscheidet zwischen Stoffen und Gegenständen. Ein Arzneimittel besteht nach § 2 Abs. 1 AMG aus Stoffen oder Zubereitungen aus Stoffen. Der Stoffbegriff ist in § 3 AMG definiert und unterteilt sich in vier verschiedene Stoffgruppen.27 Fraglich ist jedoch, ab wann solche Produkte, die zwar Stoffe sind, aber noch keine fertigen Arzneimittel, sondern Produktionsvorstufen, als Arzneimittel zu bewerten sind. Handelt es sich um einen Wirkstoff, ist diese Abgrenzung nicht notwendig, da das AMG den Umgang mit diesen ausdrücklich reglementiert.28 Lediglich erwähnt werden hingegen im Zusammenhang mit Fertigarzneimitteln die sog. Zwischenprodukte,29 die jedenfalls keine Fertigarzneimittel sind (§ 4 Abs. 1 S. 2 AMG) sowie Ausgangsstoffe (§ 52 Abs. 2 Nr. 8 AMG). Damit ist die Abgrenzung von Produktionsvorstufen und Arzneimitteln insbesondere bei Ausgangs-, Grundund Rohstoffen von Bedeutung, da diese den Regelungen des AMG nur dann unterliegen, wenn sie als Arzneimittel eingeordnet werden. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof stellte darauf ab, dass das Produkt „unmittelbar anwendbar“ sein 25 Dennoch wird oftmals von der Rechtsprechung noch auf die Zweckbestimmung des Herstellers abgestellt, siehe hierzu Kapitel 1 C. III. 2. sowie Kapitel 1 B. III. 5. b) bb). 26 EuGH PharmR 2008, 59 (63); BVerwG PharmR 2011, 168 (168); NVwZ 2015, 749; OVG Münster BeckRS 2018, 24631 (Rn. 5); Meyer/Streinz, LFBG, BasisVO Art. 2 Rn. 49. 27 Nr. 1: Chemische Elemente/Verbindungen, Nr. 2: Pflanzen, Pflanzenteile, Pflanzenbestandteile, Algen, Pilze und Flechten, Nr. 3 Tierkörper(-bestandteile) und Stoffwechselprodukte von Menschen und Tieren, Nr. 4 Mikroorganismen. 28 Wirkstoffe sind nach § 4 Abs. 19 AMG Stoffe, die dazu bestimmt sind, bei der Herstellung von Arzneimitteln als arzneilich wirksame Bestandteile verwendet zu werden oder bei ihrer Verwendung in der Arzneimittelherstellung zu arzneilich wirksamen Bestandteilen der Arzneimittel zu werden. 29 Fertigarzneimittel sind nach § 4 Abs. 1 AMG Arzneimittel, die im Voraus hergestellt und in einer zur Abgabe an den Verbraucher bestimmten Packung in den Verkehr gebracht werden oder andere zur Abgabe an Verbraucher bestimmte Arzneimittel, bei deren Zubereitung in sonstiger Weise ein industrielles Verfahren zur Anwendung kommt oder die, ausgenommen in Apotheken, gewerblich hergestellt werden. Fertigarzneimittel sind nicht Zwischenprodukte, die für eine weitere Verarbeitung durch einen Hersteller bestimmt sind.
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Kap. 1: Der Arzneimittelbegriff
müsse und eine „unmittelbare Bestimmung zu therapeutischen Zwecken ausschlaggebend sei“.30 In diese Richtung argumentiert auch Doepner, der die Arzneimitteleigenschaft als nicht erfüllt betrachtet, wenn aus der Sicht des Endverbrauchers das Produkt noch nicht in einer für den Endverbraucher unmittelbar anwendungsfähigen Dosierung und Darreichungsform vorliegt.31 Dieses Abgrenzungskriterium wurde vom BVerwG als zu eng eingestuft.32 Entscheidend sei vielmehr die arzneiliche Zweckbestimmung, sodass auch Vorstufen eines abgabefertigen Arzneimittels selbst Arzneimittel sein können, wenn diese Bestimmung erkennbar sei.33 Diese Ansicht ist mit Blick auf die Systematik des AMG und dessen Schutzzweck überzeugend. Denn wie das BVerwG darstellt, sprechen hierfür gleich zwei Argumente. Zum einen wird dies aus der Weite des Herstellungsbegriffs (§ 4 Abs. 14 AMG) deutlich. Dieser umfasst u. a. das Anfertigen und Zubereiten von Arzneimitteln. Die Regelung wäre sinnlos, wenn es sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht um Arzneimittel handeln würde. Zudem widerspricht es dem Schutzzweck des AMG, der Arzneimittelsicherheit zum Schutz der öffentlichen Gesundheit, wenn erst der letzte Produktionsschritt erfasst wäre. Um einer grenzenlosen Ausdehnung der Arzneimitteleigenschaft entgegenzuwirken, wird bei mehrstufigen Herstellungsprozessen allerdings gefordert, dass keine wesentlichen Bearbeitungsschritte bis zum abgabefertigen Endprodukt mehr erforderlich sein dürfen.34 b) Krankheit Der Begriff „Krankheit“ ist im AMG nicht definiert. Der BGH legt den Begriff in seiner Rechtsprechung weit aus und definiert diesen als „jede Störung der normalen Beschaffenheit oder der normalen Tätigkeit des Körpers (…), die geheilt, d. h. beseitigt oder gelindert werden kann“.35 Dieser Krankheitsbegriff wurde von der Literatur mit der Ausweitung übernommen, dass auch unheilbare Leiden erfasst sein müssen.36 Die Definition der Rechtsprechung stellt zwar vordergründig auf den Aspekt der Heilung ab, aus dem Wortlaut des § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG („Verhütung“) und dem Schutzzweck des AMG – dem Schutz der öffentlichen Gesundheit – muss jedoch folgen, dass auch unheilbare Leiden erfasst sind. Eine besondere Intensität der Erscheinungen wird nicht gefordert. Das BVerwG führt insoweit jedoch aus, dass der Krankheitsbegriff nicht solche Erscheinungen oder Schwankungen der Funktionen erfasse, denen jeder Körper ausgesetzt sei, wie etwa die Menstruation, die 30 BayVGH Beschl. v. 23. 08. 1982 – 11 CS 82 A. 1343, abgedruckt in Sander, AMG, § 2 Entscheidungssammlung Nr. 7. 31 Dettling, PharmR 2003, 79 ff. 32 BVerwG PharmR 2011, 168 (170). 33 So auch BGH NJW 1998, 836 (838); BGH NStZ 2011, 583 (584). 34 BVerwG PharmR 2011, 168 (170). 35 BGH NJW 1958, 916; NJW 1966, 393, GRUR 1998, 961 (962). 36 Kloesel/Cyran, § 2 Anm. 41.
A. Entwicklung und status quo des Arzneimittelbegriffs
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Schwangerschaft, das Greisenalter und Ermüdungserscheinungen.37 Erfasst sind hingegen auch psychische und somatische Leiden.38 Anders als der BGH hat der EuGH in seiner Rechtsprechung den Krankheitsbegriff bislang nicht definiert.39 2. Funktionsarzneimittel Nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 lit. a AMG sind Arzneimittel Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen, die im oder am menschlichen oder tierischen Körper angewendet oder einem Menschen oder einem Tier verabreicht werden können, um entweder die physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen oder eine medizinische Diagnose zu erstellen. Anders als der Präsentationsarzneimittelbegriff erfasst der Funktionsarzneimittelbegriff nur echte Arzneimittel und keine Anscheinsarzneimittel. Der BGH und der EuGH betonen regelmäßig, dass für die Einstufung als Funktionsarzneimittel alle Merkmale des Erzeugnisses zu berücksichtigen sind, insbesondere seine Zusammensetzung, seine pharmakologischen oder metabolischen Eigenschaften, der Umfang seiner Verbreitung, seine Bekanntheit bei den Verbrauchern und die Risiken, die seine Verwendung mit sich bringen kann.40 Diese Einstufungsmethodik wird in der Literatur als Multifaktortheorie bezeichnet.41 Beim Präsentationsarzneimittel wird damit vordergründig auf die Bestimmung des Produkts abgestellt, während beim Funktionsarzneimittel die Eignung des Stoffes relevant ist. Beides, sowohl die Bestimmung als auch die Eignung, soll sich jedoch nach objektiven Kriterien, der Verkehrsauffassung, richten. Als Funktionsarzneimittel sind auch Erzeugnisse einzuordnen, die die Körperfunktionen verändern, ohne dass eine Krankheit vorliegt.42 a) Therapeutika § 2 Abs. 1 Nr. 2 lit. a AMG erfasst die Therapeutika und grenzt sich damit von den in § 2 Abs. 1 Nr. 2 lit. b AMG genannten Diagnostika ab. Therapeutika zeichnen sich nach dem Wortlaut des Gesetzes dadurch aus, dass sie die physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherstellen, korrigieren oder beeinflussen. Sämtliche hier verwendeten Begriffe bedürfen der genaueren Erklärung.
37 38 39 40 41 42
BVerwGE 37, 209 (215). Kügel/Müller/Hofmann, § 2 Rn. 76. Kloesel/Cyran, § 2 Anm. 41. EuGH PharmR 2009, 122 (125); PharmR 2014, 347 (350); BGH PharmR 2016, 82 (83). Dieners/Reese/Doepner/Hüttebräuker, § 3 Rn. 56. EuGH BeckEuRS 1991, 176634 (Rn. 19); PharmR 2014, 347 (350).
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Kap. 1: Der Arzneimittelbegriff
aa) Physiologische Funktionen Physiologische Funktionen sind alle im Körper ablaufenden natürlichen Lebensvorgänge, einschließlich pathologischer Zustände.43 Dass auch pathologische Vorgänge erfasst sind, folgt schon daraus, dass Funktionsarzneimittel dazu bestimmt sind physiologische Funktionen „wiederherzustellen“, was notwendigerweise dazu führt, dass auch vom Normalzustand abweichende Vorgänge inbegriffen sein müssen. Der BGH und der EuGH nehmen jedoch eine teleologische Reduktion vor und fordern das Überschreiten einer Erheblichkeitsschwelle. Erfasst sei danach nicht jede physiologische Auswirkung, es müsse vielmehr eine nennenswerte physiologische Auswirkung vorliegen.44 Konkret bedeutet dies, dass eine über die Zuführung von Nährstoffen hinausgehende Einwirkung erforderlich ist, wodurch beispielsweise Nahrungsergänzungsmittel wie Vitamin- und Mineralstoffpräparate, die die menschlichen physiologischen Funktionen nicht nennenswert beeinflussen, nicht unter den Arzneimittelbegriff fallen. Abzustellen ist hierbei auf die übliche bzw. vorgegebene Dosierung. Ob das Produkt bei einer höheren als der vorgesehenen Dosierung eine nennenswerte physiologische Wirkung hat, ist daher unerheblich.45 Als Beispiel können hier wieder die Nahrungsergänzungsmittel genannt werden. Diese haben häufig dann eine nennenswerte physiologische Auswirkung, wenn sie in einer höheren als der vorgesehenen Dosis zu sich genommen werden, was sie aber nicht zum Arzneimittel macht. Dies kann jedoch anders beurteilt werden, wenn die Dosierung des Stoffes in der Gebrauchsanweisung nicht hinreichend präzise definiert ist. In dem Fall ist auf die normalen Gebrauchsgewohnheiten abzustellen.46 bb) Pharmakologische Wirkung Nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 lit. a AMG liegt ein Funktionsarzneimittel vor, wenn der Stoff verabreicht werden kann, um die physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen. Der Begriff „pharmakologische Wirkung“ wurde auf europäischer Ebene durch die Richtlinie 2004/27/EG vom 31. 03. 2004 und auf nationaler Ebene durch das „AMG 2009“47 eingeführt. Die pharmakologische Wirkung war nach der Rechtsprechung jedoch schon vor der gesetzlichen Verankerung ein entscheidendes Kriterium für die Einstufung eines Erzeugnisses als Arzneimittel. Während der EuGH bereits seit den 43 Kügel/Müller/Hofmann, § 2 Rn. 88; Kloesel/Cyran, § 2 Anm. 63; BVerwG PharmR 2008, 78 (81); OVG Niedersachsen PharmR 2018, 24 (30). 44 EuGH PharmR 2009, 122 (126); BGH PharmR 2016, 79 (81). 45 EuGH PharmR 2009, 334 (335); Kügel/Müller/Hofmann, § 2 Rn. 25; vgl. auch BGH PharmR 2010, 522 ff. m. Anm. Dettling, PharmR 2010, 525. 46 EuGH PharmR 2009, 334 (335). 47 Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften vom 17. 07. 2009, BGBl. I S. 1990 ff.
A. Entwicklung und status quo des Arzneimittelbegriffs
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1980er Jahren auf diesen Begriff abstellte,48 geschah dies auf nationaler Ebene erstmals im Jahr 2000.49 Der Begriff pharmakologische Wirkung dient in erster Linie der Abgrenzung von Arzneimitteln zu Medizinprodukten. Denn auch diese dienen der Heilung von Krankheiten. Die Abgrenzung ist damit insbesondere dann problematisch, wenn es sich bei den Medizinprodukten um Stoffe und nicht etwa Apparate oder Instrumente, wie z. B. den Herzschrittmacher, handelt. Gemäß Art. 2 Nr. 1 VO (EU) Nr. 2017/745 wird bei Medizinprodukten die bestimmungsgemäße Hauptwirkung im oder am menschlichen Körper „weder durch pharmakologisch oder immunologisch wirkende Mittel noch durch Metabolismus“ erreicht. Nun stellt sich die Frage, was unter dem Begriff der pharmakologischen Wirkung zu verstehen ist. Pharmakologie bedeutet im Allgemeinen die Lehre von der Wechselwirkung zwischen (Arznei-) Stoffen und dem Organismus.50 Durch die Rechtsprechung des EuGH erfolgte allerdings zunächst keine Konkretisierung dieses Begriffs. Das OVG Münster richtete in einem Vorabentscheidungsverfahren die konkrete Frage an den EuGH, was unter dem Begriff „pharmakologisch“ zu verstehen sei.51 Der EuGH antwortete darauf, dass die pharmakologische Eigenschaft eines Erzeugnisses der Faktor sei, „aufgrund dessen die mitgliedstaatlichen Behörden ausgehend von den Wirkungsmöglichkeiten dieses Erzeugnisses zu beurteilen haben, ob es (…) dazu bestimmt ist, im oder am menschlichen Körper zur Erstellung einer ärztlichen Diagnose oder zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der menschlichen physiologischen Funktionen angewandt zu werden“.52 Der BGH hingegen stellte in seiner Entscheidung vom 10. 02. 2000 lediglich darauf ab, dass bezogen auf das konkrete Produkt ein „verständiger Durchschnittsverbraucher (…) im allgemeinen nicht annehmen (wird), dass ein als Nahrungsergänzungsmittel angebotenes Präparat tatsächlich Arzneimittel ist, wenn es in der empfohlenen Dosierung keine pharmakologische Wirkung hat“.53 Was unter dem Begriff „pharmakologische Wirkung“ zu verstehen ist, ist damit weder den Ausführungen des BGH noch denen des EuGH zu entnehmen. In einer weiteren Entscheidung des BGH aus dem Jahre 2004 geht dieser – im Rahmen der Abgrenzung von Arzneimitteln zu Lebensmitteln – von einer pharmakologischen Wirkung aus, wenn die Wirkungen über dasjenige hinausgehen, was physiologisch eine Nahrungsaufnahme im menschlichen Körper auslösen würde. Erforderlich sei also eine über die Zuführung von Nährstoffen hinausgehende Manipulation des Stoffwechsels.54 Auch der EuGH äußerte sich in einer Entscheidung aus dem Jahre 2007 in diese Richtung und forderte eine wirkliche Veränderung der 48 49 50 51 52 53 54
EuGH BeckRS 2004, 72425 Rn. 29; BeckRS 2004, 74146 (Rn. 24). BGH NJW-RR 2000, 1284 (1285 f.). Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, Stichwort „Pharmakologie“. OVG Münster BeckRS 2004, 25840. EuGH LMRR 2005, 2 (Rn. 54); PharmR 2013, 485 (490). BGH PharmR 2000, 184 (186); VGH Mannheim BeckRS 2019, 5754 (Rn. 22). BGH GRUR 2004, 793 (794); siehe auch BGH NVwZ 2008, 1266 (1269).
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Kap. 1: Der Arzneimittelbegriff
Funktionsbedingungen des menschlichen Körpers und eine nennenswerte Auswirkung auf den Stoffwechsel. Es fehle demnach an einer pharmakologischen Wirkung, wenn die Auswirkung auf die physiologischen Funktionen nicht über dasjenige hinausgehe, was auch ein in angemessener Menge verzehrtes Lebensmittel bewirken könne.55 Diese bereits im Rahmen des Merkmals „physiologische Funktionen“ dargestellte Erheblichkeitsschwelle soll damit als Konkretisierung des Begriffs der pharmakologischen Wirkung dienen. Neben dem Erfordernis der Überschreitung einer Erheblichkeitsschwelle schrieb die Rechtsprechung einigen Merkmalen des Produkts eine Indizfunktion im Hinblick auf die pharmakologische Wirkung zu. So wurden die therapeutische Wirksamkeit oder die therapeutische Zweckbestimmung als ein solches Indiz bewertet.56 Gleiches gilt für das Merkmal der Gesundheitsgefahr und der nachgewiesenen Nebenwirkungen.57 Seit einiger Zeit beziehen sich der EuGH58 und BGH59 bei der Auslegung des Begriffs regelmäßig auf den – rechtlich unverbindlichen – unter der Federführung der Europäischen Kommission entwickelten Leitfaden zur Anwendung der Richtlinie 90/385/EWG und 93/42/EWG „Medical Devices: Guidance document“ MEDDEV 2.1/3.60 Pharmakologisch wirkende Mittel verursachen nach der dort vorliegenden Definition eine „Wechselwirkung zwischen Molekülen des betreffenden Stoffes und einem Zellbestandteil, gewöhnlich als Rezeptor bezeichnet, die entweder in einer direkten Reaktion oder in der Blockierung einer Reaktion auf ein anderes Agens besteht“.61 Mit der 18. Revision dieser Leitlinie wurde im Dezember 2017 zudem ein Borderline Manual veröffentlicht, in dem 89 Produkte beispielhaft klassifiziert und kategorisiert werden.62
55
EuGH GRUR 2008, 271 (273). EuGH BeckRS 2004, 72425 (Rn. 27); BVerwG PharmR 2008, 73 (76), die Vorinstanz hatte sich unter Hinweis auf die Untauglichkeit des Begriffs der „pharmakologischen Wirkung“ für die Abgrenzung von Arzneimittel zu Lebensmitteln ausschließlich auf das Merkmal des therapeutischen Zwecks konzentriert. 57 BGH PharmR 2008, 425 (429), OVG Lüneburg ZLR 2006, 721 (736); siehe auch Schlussantrag der Generalanwältin Trstenjak PharmR 2007, 338 (346). 58 EuGH PharmR 2012, 442 (443), im konkreten Fall jedoch unter Verweis auf die in diesem Punkt identische Leitlinie zur Abgrenzung der Kosmetikmittelrichtlinie von der Arzneimittelrichtlinie; Vorlagebeschluss durch OLG Frankfurt GRUR 2011, 383. 59 BGH PharmR 2010, 638 (640); siehe auch zuvor bereits OVG NRW PharmR 2008, 83 ff. unter Verweis auf OVG NRW BeckRS 2006, 22952. 60 Leitfaden der Europäischen Kommission zur Anwendung der Richtlinie 90/385/EWG und 93/42/EWG, MEDDEV 2.1/3 rev 3 (2009): veröffentlicht im Internet unter: http://www.ec. europa.eu; vgl. Kügel/Müller/Hofmann, § 2 Rn. 92 und 220. 61 Siehe unter www.ec.europa.eu; Originalwortlaut: „,Pharmacological means‘ is understood as an interaction between the molecules of the substance in question and a cellular constituent, usually referred to as a receptor, which either results in a direct response, or which blocks the response to another agent.“ 62 Manual On Borderline And Classification In The Community Regulatory Framework For Medical Devices, veröffentlicht im Internet unter: http://www.ec.europa.eu. 56
A. Entwicklung und status quo des Arzneimittelbegriffs
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cc) Immunologische Wirkung Eine immunologische Wirkung bedeutet die Beeinflussung der physiologischen Funktionen durch von außen zugeführten Stoffen, die das Immunsystem hinsichtlich der Bildung von Antikörpern stärken oder aktivieren, oder die eine Immunreaktion auf Antigene im oder am Körper intensivieren.63 dd) Metabolische Wirkung Eine metabolische Wirkung wird definiert als eine Beeinflussung der physiologischen Funktionen durch von außen zugeführte Stoffe, die die (bio)chemischen Aufbau- und Abbaureaktionen im oder am Körper betreffen.64 Sowohl die immunologische als auch die metabolische Wirkung ist vielen Lebensmitteln immanent, weshalb diesen Begriffen – im Gegensatz zur pharmakologischen Wirkung – für die Arzneimitteldefinition keine entscheidende Rolle beigemessen wird.65 ee) Wiederherstellen, korrigieren oder beeinflussen Durch die pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung müssen nach dem Wortlaut des § 2 Abs. 1 Nr. 2 lit. a AMG die physiologischen Funktionen wiederhergestellt, korrigiert oder beeinflusst werden. Während die Begriffe „wiederherstellen“ und „korrigieren“ eine – wie auch immer geartete – Gesundheitsförderung implizieren, stellt sich an dieser Stelle die Frage, ob aufgrund der neutralen und nicht auf die Heilung einer Krankheit abzielenden Bedeutung des Wortes „beeinflussen“ ein Produkt auch dann als Arzneimittel eingestuft werden kann, wenn es der Gesundheit nicht zuträglich ist, darauf auch nicht abzielt und vom Konsumenten auch nicht zu diesem Zweck konsumiert wird. Der EuGH hat dies verneint und aufgrund einer Vorlage des BGH entschieden, dass unter den Arzneimittelbegriff nur Stoffe fallen, die geeignet sind, dem Funktionieren des menschlichen Organismus und folglich der menschlichen Gesundheit zuträglich zu sein.66 b) Diagnostika Diagnostika im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 2 lit. b AMG können sowohl unter den Arzneimittelbegriff als auch unter den Medizinproduktebegriff fallen. Diese Überschneidung des Arzneimittel- und Medizinproduktebegriffs wird in § 2 Abs. 3 Nr. 7 AMG klargestellt.
63 64 65 66
Kügel/Müller/Hofmann, § 2 Rn. 96. Kügel/Müller/Hofmann, § 2 Rn. 97. Meyer/Streinz, LFGB, BasisVO Art. 2 Rn. 75. EuGH PharmR 2014, 347; näher dazu Kapitel 1 B. III. 1.
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Kap. 1: Der Arzneimittelbegriff
VI. Einstufungsmethodik Entscheidend für die Einstufung eines Erzeugnisses als Arzneimittel ist nach der herrschenden Meinung in Literatur und Rechtsprechung die Zweckbestimmung des Produkts,67 was aus dem Wortlaut des § 2 Abs. 1 Nr. 1: „zur (…) bestimmt“ und des § 2 Abs. 1 Nr. 2: „um (…) zu“ hergeleitet wird. Hierbei gilt ein objektiv-genereller und kein subjektiv-individueller Maßstab. Entscheidend sei die Perspektive des Verbrauchers, die allgemeine Verkehrsauffassung. Diese müsse aufgrund einer einzelfallbezogenen, wertenden Gesamtbetrachtung ermittelt werden. Dieser Maßstab gilt nach der Rechtsprechung des BGH und EuGH auch für die Einstufung als Funktionsarzneimittel. Insoweit seien alle Merkmale des Erzeugnisses zu berücksichtigen, insbesondere seine Zusammensetzung, seine pharmakologischen oder metabolischen Eigenschaften, der Umfang seiner Verbreitung, seine Bekanntheit bei den Verbrauchern und die Risiken, die seine Verwendung mit sich bringen kann (sog. Multifaktortheorie68).69 Wie bereits aufgezeigt wurde, stellt das Gesetz damit gerade nicht mehr – wie noch im „AMG 1961“ – auf die Zweckbestimmung des Herstellers oder des pharmazeutischen Unternehmers ab. Dennoch hat diese Perspektive noch nicht ganz an Bedeutung verloren. Denn die Rechtsprechung zieht diese Perspektive in zwei Fallkonstellationen heran. Zum einen bei sog. „dual use“ Produkten, also bei Stoffen, die sowohl als Arzneimittel als auch zu anderen Zwecken verwendet werden können,70 zum anderen bei neuartigen Produkten, wenn eine Verkehrsauffassung gänzlich fehlt.71 Soweit eine solche Ausnahme nicht vorliegt, stellen sowohl der EuGH als auch die nationalen Gerichte für die Bestimmung der Verkehrsauffassung auf den „durchschnittlich informierten Verbraucher“ ab.72 Maßgeblich ist damit das unionsrechtliche Verbraucherleitbild, das vom normal informierten, angemessen aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbraucher ausgeht.73 Das Leitbild des flüchtigen oder unkritischen Verbrauchers ist überholt und darf nicht mehr angelegt werden.74
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EuGH PharmR 2008, 59; PharmR 2009, 122; Kügel/Müller/Hofmann, § 2 Rn. 111 ff.; Fuhrmann/Klein/Fleischfresser, § 2 Rn. 128. 68 Dieners/Reese/Doepner/Hüttebräuker, § 3 Rn. 56. 69 EuGH PharmR 2009, 122 (125); PharmR 2014, 347 (350); BGH BeckRS 2013, 03414 (Rn. 7); PharmR 2016, 82 (83). 70 BGH NJW 2010, 2528 (2529). 71 BGH NJW 1998, 836 (837); BGH NStZ 2008, 530 (530). 72 EuGH PharmR 2008, 59 (63); BVerwG PharmR 2009, 397 (400); PharmR 2011, 168 (168); Meyer/Streinz, LFBG, BasisVO Art. 2 Rn. 49. 73 EuGH GRUR 2011, 930. 74 Brixius/Schweim, A&R 2018, 99 (104).
A. Entwicklung und status quo des Arzneimittelbegriffs
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1. Kriterien für die Bestimmung der Verkehrsauffassung In der Literatur und Rechtsprechung sind verschiedene Kriterien herausgearbeitet worden, anhand derer die Verkehrsauffassung zu bestimmen ist. Die Verkehrsauffassung wird durch die Darreichungsform des Produkts beeinflusst, so dass zum Beispiel die Tablettenform ein Indiz für die Einstufung als Arzneimittel darstellt.75 Nach der Rechtsprechung des EuGH, der sich auch der BGH angeschlossen hat,76 kann dies jedoch nicht das allein ausschlaggebende Kriterium sein. Andernfalls wären auch bestimmte Lebensmittel vom Arzneimittelbegriff erfasst, die herkömmlicherweise in ähnlicher Form wie pharmazeutische Produkte aufgemacht sind.77 Auch die stoffliche Zusammensetzung78 sowie die Beschreibung des Produkts und seiner Wirkweise auf der Verpackung oder durch mündliche Anpreisung79 stellen ein Indiz dar, genau wie Gebrauchsanweisungen und Indikationshinweise.80 Gleiches gilt für Nebenwirkungen,81 die Preisgestaltung82 und die bereits bestehende Verkehrsauffassung zu vergleichbaren Produkten auf dem Markt.83 Ein weiteres Kriterium stellt die wissenschaftliche Bewertung der Produkte dar. Auch sie ist entscheidend für die Beurteilung der Verkehrsauffassung,84 da durch wissenschaftliche Gutachten, Stellungnahmen, Monographien oder Fachpublikationen die Erwartung der Verbraucher beeinflusst wird.85 Dies gilt nicht nur, soweit einem Produkt eine therapeutische Wirkung zugeschrieben wird, sondern auch dann, wenn die Verursachung von gesundheitlichen Risiken im Raum steht. Das Bestehen einer Gesundheitsgefahr wird zum Teil als Indiz für das Vorliegen einer pharmakologischen Wirkung,86 teilweise hingegen als eigenständiges Merkmal eines Arzneimittels gesehen.87 Wird ein Arzneimittel ausschließlich über Apotheken vertrieben, kann dies als Indiz für die Arzneimitteleigenschaft herangezogen werden.88 Auf der anderen Seite spricht der ausschließliche Vertrieb über Drogerien oder Reformhäusern 75
BGH GRUR 1995, 419 (421); NJOZ 2002, 2563 (2564); OVG Niedersachsen PharmR 2018, 24 (36). 76 EuGH NJW 1985, 541; BGH NStZ 2001, 488 (490); LMuR 2009, 25 (28). 77 EuGH PharmR 2008, 59 (64). 78 BVerwG NJW 1998, 3433 (3434). 79 BGH NJW 1976, 380 (380); BVerwG NJW 1998, 3433 (3435); Kloesel/Cyran, § 2 Anm. 50 (m. w. N.). 80 BGH NJW 1998, 836 (837); PharmR 2000, 184 (185); NJW 2001, 2812 (2813); OLG Celle PharmR 2017, 251 (254); VGH Mannheim BeckRS 2019, 5754 (Rn. 16). 81 VGH Mannheim PharmR 2011, 92 (96); OVG Lüneburg PharmR 2007, 71 (76). 82 VGH München NJW 1998, 845 (846). 83 BGH NJW-RR 2001, 1329 (1330); VGH Mannheim BeckRS 2019, 5754 (Rn. 25). 84 BGH NJW 2006, 2630 (2633). 85 Kloesel/Cyran, § 2 Anm. 49 f.; Kügel/Müller/Hofmann, § 2 Rn. 117 (m. w. N.). 86 Kloesel/Cyran, § 2 Anm. 68c. 87 Fuhrmann/Klein/Fleischfresser/Stephan, § 2 Rn. 58 ff.; vgl. auch BVerwG NVwZ 2015, 749 (751); EuGH PharmR 2009, 334 (335). 88 BVerwG PharmR 2011, 168 (169).
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Kap. 1: Der Arzneimittelbegriff
eher gegen die Einstufung als Arzneimittel. Auch hierbei ist jedoch zu beachten, dass es sich lediglich um ein Indiz handelt. So werden Nahrungsergänzungsmittel regelmäßig über Apotheken vertrieben, ohne dass daraus die Arzneimitteleigenschaft abgeleitet werden kann.89 Von großer Bedeutung sind zudem die Werbung und Aussagen des Herstellers in der Öffentlichkeit. So wurde in der Rechtsprechung die Verwendung der Begriffe „patentgeschützt“ und „klinisch getestet“ als Indiz für die Arzneimitteleigenschaft herangezogen.90 Allerdings ist auch hier zu relativieren, dass der durchschnittlich informierte, verständige Verbraucher aufgrund des gestiegenen Gesundheits- und Ernährungsbewusstseins in der Bevölkerung selbst bei einer arzneimittelähnlichen Vermarktung funktionelle Lebensmittel nicht mit Arzneimitteln verwechselt und daher krankheitsbezogene Werbeangaben nicht automatisch für eine Arzneimitteleigenschaft sprechen müssen.91 2. Kritik an der Methodik der objektiven Zweckbestimmung Dass sowohl beim Präsentations- als auch beim Funktionsarzneimittelbegriff eine wertende Gesamtbetrachtung vorgenommen wird und für die Einordnung eines Produkts als Arzneimittel die sich an der Verkehrsauffassung orientierte Zweckbestimmung des Produkts entscheidend sein soll, ist nicht unumstritten.92 Dagegen wird vorgebracht, dass die Kriterien der objektiven Zweckbestimmung für die Einordnung eines Produkts als Arzneimittel nicht praktikabel seien.93 Die Vertreter dieser Ansicht fordern, beim Funktionsarzneimittelbegriff auf eine solche Gesamtschau (Multifaktortheorie) zugunsten einer rein objektiv wissenschaftlichen Bewertung, die allein auf die pharmakologische Wirkung abstellt, zu verzichten.94 Dies ergebe sich auch aus dem Gesetzeswortlaut und der historischen Entwicklung des Arzneimittelbegriffs. Die Einfügung der Worte „pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung“ habe zu einer Objektivierung des Funktionsarzneimittelbegriffs geführt.95 Das Abstellen auf die Verkehrsauffassung sei überflüssig, weil nunmehr wissenschaftlich nachweisbare Kriterien geschaffen worden seien. Ob ein
89 BGH PharmR 2000, 184 (187); VGH Mannheim PharmR 2011, 92 (94); OVG Lüneburg PharmR 2011, 86 (89); Kloesel/Cyran, § 2 Anm. 50. 90 OLG München GRUR 2000, 1103 (1104). 91 Meyer/Streinz, LFBG, BasisVO Art. 2 Rn. 59 (m. w. N.). 92 Rennert, NVwZ 2008, 1179 ff.; Groß, EuZW 2006, 172 ff.; Doepner, ZLR 2009, 201 ff.; Dieners/Reese/Doepner/Hüttebräuker, § 3 Rn. 56 ff.; Fuhrmann/Klein/Fleischfresser/Stephan, § 2 Rn. 57; Kügel/Müller/Hofmann, § 2 Rn. 121 ff. 93 Kügel/Hahn/Delewski, NemV § 1 Rn. 258 f.; MK-Nebenstrafrecht/Freund, AMG § 2 Rn. 35. 94 Rennert, NVwZ 2008, 1179 (1182); Groß, EuZW 2006, 172 ff.; Doepner, ZLR 2009, 201 ff.; Dieners/Reese/Doepner/Hüttebräuker, § 3 Rn. 56; in diese Richtung auch Fuhmann/ Klein/Fleischfresser/Stephan, § 2 Rn. 57. 95 Meyer/Streinz, LFGB, BasisVO Art. 2 Rn. 67.
A. Entwicklung und status quo des Arzneimittelbegriffs
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Funktionsarzneimittel vorliege, entscheide damit – anders als beim Präsentationsarzneimittel – nicht der Verbraucher, sondern der Wissenschaftler.96 Die Gegenansicht, die, wie bereits dargestellt, bei der Einstufung eines Produkts auf die Gesamtumstände abstellt, versteht den Arzneimittelbegriff einheitlich. Es könne insoweit zu Überschneidungen zwischen Präsentations- und Funktionsarzneimitteln kommen. Teilweise wird der Funktionsarzneimittelbegriff als Unterfall des Präsentationsarzneimittels mit Auffangcharakter bewertet,97 teilweise wird ein Verhältnis der Subsidiarität gesehen.98 Die beiden Begriffe könnten nicht trennscharf voneinander abgegrenzt werden, sie wirkten definitorisch zusammen und seien einheitlich zu verstehen.99 Als Beispiel für diese Überschneidung werden klassische Arzneimittel, wie beispielsweise Schmerztabletten, genannt.100 Diese hätten die eindeutige Zweckbestimmung, Krankheiten zu heilen und sind damit Präsentationsarzneimittel. Gleichzeitig erfüllten sie die Voraussetzungen des Funktionsarzneimittels. Der Gegenansicht wird erwidert, es sei nicht möglich, bei Präsentationsarzneimitteln auf die Verbrauchersicht und bei Funktionsarzneimitteln auf die Wissenschaft abzustellen. Bei der Prüfung, ob ein Erzeugnis nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG aus Verbrauchersicht zur Heilung krankhafter Beschwerden bestimmt sei, müssten wissenschaftliche Erkenntnisse mit berücksichtigt werden und die Frage, ob ein Erzeugnis nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 AMG durch pharmakologische Wirkung die physiologischen Funktionen wiederherstellt, korrigiert oder beeinflusst, könne nicht ausschließlich aufgrund des wissenschaftlichen Nachweises einer pharmakologischen Wirkung beantwortet werden. Andernfalls, so wird argumentiert, müssten viele Medizinprodukte wegen ihrer Präsentation als Arzneimittel eingestuft werden. Bei Vitaminpräparaten sei es erforderlich, neben der wissenschaftlich festgestellten Wirkung, zu ermitteln, ob sie zum Zwecke der Nahrungsergänzung oder der Heilung von Krankheiten eingesetzt werden.101 Der BGH und EuGH äußern sich zu dieser Frage nicht eindeutig. Sie betonen regelmäßig, dass für die Einstufung als Funktionsarzneimittel alle Merkmale des Erzeugnisses zu berücksichtigen seien, insbesondere seine Zusammensetzung, seine pharmakologischen oder metabolischen Eigenschaftenn, der Umfang seiner Verbreitung, seine Bekanntheit bei den Verbrauchern und die Risiken, die seine Verwendung mit sich bringen kann.102 Gleichzeitig wird hervorgehoben, dass dem
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Rennert, NVwZ 2008, 1179 (1182). Kügel/Müller/Hofmann, § 2 Rn. 105. 98 Deutsch/Lippert/Koyuncu, § 2 Rn. 39 f. 99 Kügel/Müller/Hofmann, § 2 Rn. 104. 100 Kügel/Müller/Hofmann, § 2 Rn. 108. 101 Vgl. Kügel/Müller/Hofmann, § 2 Rn. 107. 102 EuGH PharmR 2009, 122 (125); PharmR 2014, 347 (350); BGH PharmR 2016, 82 (83). 97
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Kap. 1: Der Arzneimittelbegriff
wissenschaftlichen Nachweis der pharmakologischen Wirkung eine entscheidende Rolle zukomme. Dies wird vom BGH deutlicher betont als vom EuGH.103 Ausdrücklich zu dieser Problematik geäußert hat sich das BVerwG. In einer Entscheidung aus dem Jahr 2009 führte das Gericht aus, dass der fehlende Nachweis einer pharmakologischen Wirkung durch andere Kriterien zur Bestimmung eines Funktionsarzneimittels nicht ersetzt werden könne.104 Vielmehr sei die oben genannte Rechtsprechung des EuGH dahingehend zu verstehen, dass die vom EuGH genannten Kriterien „ergänzend – gleichsam als Korrektiv – heranzuziehen seien, wenn eine pharmakologische Wirkung positiv festgestellt worden ist“.105 Das BVerwG ist damit der Ansicht, die Hilfskriterien des EuGH hätten keine konstitutive Bedeutung. Den nationalen Gerichten wird insoweit unterstellt, sie ließen das Konzept der überwiegenden Zweckbestimmung tendenziell in den Hintergrund treten und verstießen damit gegen das Auslegungsmonopol des EuGH,106 wenn sie in ihren Entscheidungen feststellen, dass der Begriff des Funktionsarzneimittels allein diejenigen Erzeugnisse erfasse, „deren pharmakologische Eigenschaften wissenschaftlich festgestellt und die tatsächlich dazu bestimmt sind, eine ärztliche Diagnose zu erstellen oder physiologische Funktionen wiederherzustellen, zu bessern oder zu beeinflussen“.107 In der Literatur wird dies teilweise anders bewertet. Die Hilfskriterien in der EuGH-Rechtsprechung seien kein Minus gegenüber der Wirkweise des Produkts, weshalb die Gesamtschau dieser Merkmale die Annahme eines Funktionsarzneimittels begründen könne.108 Überzeugend begründet wird dies jedoch nicht. Koyuncu untermauert seine Ansicht, indem er auf eine Entscheidung des EuGH verweist.109 Dieser Entscheidung ist eine solche Aussage jedoch nicht zu entnehmen. Wudy beruft sich an dieser Stelle auf zwei Entscheidungen des EuGH, die belegen sollen, dass ein Funktionsarzneimittel auch dann vorliegen könne, wenn eine pharmakologische Wirkung nicht nachgewiesen sei.110 In der von Wudy zitierten Weihrauch-Entscheidungen des EuGH stellt dieser fest, dass das Merkmal der Gesundheitsgefahr neben der pharmakologischen Wirkung ein eigenständiges Kriterium darstellt.111 Der EuGH hat dies jedoch nur abstrakt festgestellt. Auch dieser Entscheidung kann 103
BGH GRUR 2010, 169 (170): „Entgegen der Auffassung der Anschlussrevision ist diese Wirkweise nicht aus Sicht der angesprochenen Verkehrskreise, sondern objektiv und daher aus Sicht der Fachkreise zu beurteilen“; siehe auch BGH GRUR 2016, 302 (303). 104 BVerwG PharmR 2009, 397 (399); so auch BVerwG PharmR 2020, 202. 105 BVerwG PharmR 2009, 397 (399); in diesem Sinne auch BVerwG NVwZ 2015, 749 (750), PharmR 2020, 202. 106 Kügel/Müller/Hofmann, § 2 Rn. 33. 107 BGH PharmR 2010, 117 (118); 522 (524); GRUR 2016, 302 (303). 108 Deutsch/Lippert/Koyuncu, § 2 Rn. 37. 109 Deutsch/Lippert/Koyuncu, § 2 Rn. 37, unter Verweis auf EuGH PharmR 2009, 22. 110 Wudy, PharmR 2011, 156 (159 f.). 111 EuGH PharmR 2009, 334 (335); ebenso EuGH PharmR 2008, 59 (65).
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demnach nicht eindeutig entnommen werden, ob die Hilfskriterien konstitutive Wirkung haben.
VII. Fiktive Arzneimittel (§ 2 Abs. 2 AMG) Durch § 2 Abs. 2 AMG werden bestimmte Produkte losgelöst von der Definition des Arzneimittels in § 2 Abs. 1 AMG aufgrund ihres Gefährdungspotenzials als Arzneimittel eingestuft. Die Arzneimitteleigenschaft wird also fingiert. Hierbei handelt es sich um Berührungsgegenstände bzw. körperberührende Gegenstände, d. h. solche Produkte, die ein Arzneimittel enthalten oder auf die ein Arzneimittel aufgebracht wird und die dazu bestimmt sind, dauernd oder vorübergehend mit dem menschlichen oder tierischen Körper in Verbindung gebracht zu werden, wie zum Beispiel Rheumapflaster (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 AMG). Durch § 2 Abs. 2 Nr. 1a–4 AMG werden tierärztliche Produkte dem Arzneimittelbegriff zugeordnet. Erfasst sind tierärztliche Einweginstrumente (Nr. 1a), in den tierischen Körper eingebrachte Gegenstände (Nr. 2), Verbandsstoffe oder chirurgische Nahtmaterialien (Nr. 3) und bestimmte Diagnostika (Nr. 4).
VIII. Negativdefinitionen (§ 2 Abs. 3 AMG) 1. Abgrenzung zu Lebensmitteln Nach § 2 Abs. 3 Nr. 1 AMG fallen Lebensmittel im Sinne des Art. 2 VO (EG) Nr. 178/2002 nicht unter den Arzneimittelbegriff. Danach werden Lebensmittel definiert als „alle Stoffe oder Erzeugnisse, die dazu bestimmt sind oder von denen nach vernünftigem Ermessen erwartet werden kann, dass sie in verarbeitetem, teilweise verarbeitetem oder unverarbeitetem Zustand von Menschen aufgenommen werden“. Vergleichbar mit § 2 Abs. 3 Nr. 1 AMG enthält auch Art. 2 Abs. 3 lit. d VO (EG) Nr. 178/2002 eine Regelung, die besagt, dass Arzneimittel keine Lebensmittel sein können. Nach dieser Norm gehören „Arzneimittel im Sinne der Richtlinien 65/ 65/EWG und 92/73/EWG“ nicht zu den Lebensmitteln.112 Die Frage der Abgrenzung von Arzneimitteln zu Lebensmitteln stellt sich als besonders problematisch dar.113
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Diese Konstruktion führt gleich zu mehreren Problemen. Zum einen dient sie einigen als Argument dafür, nur auf den europäischen – und nicht auf den nationalen – Arzneimittelbegriff abzustellen. Zum anderen stellt sich die Frage, wie ein Verweis auf nicht mehr existierende Richtlinien zu bewerten ist. Sowohl die Richtlinie 65/65/EWG als auch die Richtlinie 92/73/ EWG wurden bereits aufgehoben und durch neue Richtlinien ersetzt, siehe hierzu Kapitel 1 C. V. 3. f) aa). 113 Siehe bereits den Leitsatz des Urteils des Reichsgerichts vom 13. 07. 1881 (RGSt 4, 393 ff.): „Schließt die Eigenschaft bzw. die Anpreisung eines Präparates als eines Arzneimittels dessen gleichzeitige Auffassung als Genußmittel aus?“; vgl. zudem BVerwG PharmR 2007,
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Die bereits dargestellten Einstufungskriterien wurden zum großen Teil im Rahmen der Abgrenzung von Arzneimittel und Lebensmittel entwickelt. Von besonderer Bedeutung ist insoweit das Kriterium der „nennenswerten physiologischen Auswirkung“, also das Erfordernis des Überschreitens einer Erheblichkeitsschwelle, das insbesondere im Rahmen der Abgrenzung von Arzneimitteln zu Nahrungsergänzungsmitteln (z. B. Vitaminpräparate,114 Ginkgo-115 und L-Carnitin-Produkte116) und diätetischen Lebensmitteln relevant wird. Diese Produkte zeichnen sich dadurch aus, dass – anders als bei klassischen Lebensmitteln – nicht die bloße Ernährung, sondern die Prävention von Krankheiten im Vordergrund steht, weshalb eine besondere Nähe zum Arzneimittelbegriff besteht. Nach § 1 Abs. 1 der Nahrungsergänzungsmittel verordnung, welche die Richtlinie 2002/46/EG in nationales Recht umsetzt, ist ein Nahrungsergänzungsmittel ein Lebensmittel, das „1. dazu bestimmt ist, die allgemeine Ernährung zu ergänzen, 2. ein Konzentrat von Nährstoffen oder sonstigen Stoffen mit ernährungsspezifischer oder physiologischer Wirkung allein oder in Zusammensetzung darstellt und 3. in dosierter Form, insbesondere in Form von Kapseln, Pastillen, Tabletten, Pillen und anderen ähnlichen Darreichungsformen, Pulverbeuteln, Flüssigampullen, Flaschen mit Tropfeinsätzen und ähnlichen Darreichungsformen von Flüssigkeiten und Pulvern zur Aufnahme in abgemessenen kleinen Mengen, in den Verkehr gebracht wird.“
Für die Abgrenzung zum Arzneimittel ist damit entscheidend, dass das Produkt die allgemeine Ernährung ergänzt (Nr. 1) und ernährungsspezifisch oder ernährungsphysiologisch wirkt (Nr. 2). Da die dosierte Form (Nr. 3) gerade auch ein Indiz für die Arzneimitteleigenschaft darstellt, hilft dieses Merkmal insoweit nicht entscheidend weiter. Unter dem Begriff der ernährungsphysiologischen Wirkung wird die Beeinflussung der physiologischen Funktionen durch von außen zugeführte Stoffe, die auf die Deckung der energetischen und stofflichen Bedürfnisse des Körpers einschließlich der Prävention von Erkrankungen gerichtet ist, verstanden.117 Die Abgrenzung von Arzneimitteln zu Nahrungsergänzungsmitteln ist gerade auch deshalb besonders problematisch, da Nahrungsergänzungsmittel ab einer gewissen Dosis eine pharmakologische Wirkung haben und es damit nicht nur zu Überschneidungen mit dem Präsentations-, sondern auch mit dem Funktionsarzneimittel kommt. Da auch insoweit die objektive Zweckbestimmung, die Verkehrsauffassung, entscheidend ist, kommt den Verzehrempfehlungen des Herstellers eine erhebliche Bedeutung zu.118 Der BGH stellt jedoch klar, dass allein aus einer Verzehrempfehlung, die die empfohlene Tagesdosis um das dreifache überschreitet, nicht auto211 ff.; OVG Niedersachsen PharmR 2018, 24 ff.; Kaulen, Abgrenzung; Winters, Rechtliche Abgrenzung. 114 EuGH LMuR 2004, 65 ff.; BGH NStZ 2001, 488 ff.; siehe auch Jacobs, LMuR 2017, 1 ff. 115 BGH PharmR 2010, 522 ff.; OLG Hamm 2017, 299 ff. 116 BGH PharmR 2000, 184 ff.; 2008, 425 ff. 117 Kügel/Müller/Hofmann, § 2 Rn. 153. 118 BGH NJW 2001, 2812 (2813).
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matisch auf die Funktionsarzneimitteleigenschaft geschlossen werden kann.119 Die pharmakologische Wirkung müsse vielmehr eigens festgestellt werden. Kann dies bei Einnahme einer gewissen Menge festgestellt werden, liegt nach Ansicht des BGH ein Funktionsarzneimittel vor, wenn davon auszugehen ist, dass diese Menge bei Einhaltung der normalen Verzehrgewohnheiten aufgenommen wird.120 Der BGH stufte ein Ginkgo-Getränk als Arzneimittel ein, welches unter der Angabe „empfohlen werden täglich ein bis zwei Gläser“ verkauft wurde. Eine pharmakologische Wirkung wurde bei Überschreiten dieser empfohlenen Dosis festgestellt. Die Vorinstanz stellte noch darauf abstellte, dass bei Überschreiten der Verzehrempfehlung ein Genuss im Übermaß vorliege, welcher für die Einstufung eines Produkts als Arzneimittel irrelevant sei. Der BGH begründete seine Ansicht mit der unpräzisen Mengenangabe und der Tatsache, dass der Verbraucher nach der Lebenserfahrung die bloße Empfehlung einer umschriebenen Trinkmenge nicht dahingehend verstehe, er dürfe eine darüberhinausgehende Menge nicht zu sich nehmen.121 Diätetische Lebensmittel sind nach der Definition des § 1 Abs. 1 und 2 der Verordnung über diätetische Lebensmittel (DiätV) solche Lebensmittel, die für eine besondere Ernährung bestimmt sind, d. h. den besonderen Ernährungserfordernissen bestimmter Verbrauchergruppen entsprechen, sich für den angegebenen Ernährungszweck eignen, mit einem entsprechenden Hinweis in den Verkehr gebracht werden und sich auf Grund ihrer besonderen Zusammensetzung oder des besonderen Verfahrens ihrer Herstellung deutlich von den Lebensmitteln des allgemeinen Verzehrs unterscheiden.122 Säuglingsanfangs- und Folgenahrung oder Trinknahrung für Patienten mit Kau- und Schluckstörungen sind als klassische diätetische Lebensmittel einzustufen. Die Abgrenzungsfrage zu den Arzneimitteln stellte sich beispielsweise bei Haarwuchsmitteln und Zimtpräparaten, die zum Zwecke der Senkung der Blutzuckerwerte an Diabetes-Patienten verkauft werden.123 Haarwuchsmittel wurden von der Rechtsprechung mit der Begründung als Arzneimittel eingeordnet, dass es verschiedene Patientengruppen mit verschiedenen Gründen für Haarausfall gebe.124 2. Abgrenzung zu kosmetischen Mitteln Nach § 2 Abs. 3 Nr. 2 AMG fallen kosmetische Mittel im Sinne des Art. 2 Abs. 1 Buchstabe a der VO (EG) Nr. 1223/2009 nicht unter den Arzneimittelbegriff. Danach 119
BGH NJW 2001, 2812 (2813). BGH PharmR 2010, 522 (524). 121 BGH PharmR 2010, 522 (524); vgl. auch OLG Hamm PharmR 2017, 299; OVG Niedersachsen PharmR 2018, 24. 122 Zur Problematik der Abgrenzung von diätetischen Lebensmitteln zu Arzneimitteln siehe Brixius/Schweim, A&R 2018, 99 ff. 123 LG Frankfurt/Main LMuR 2003, 140 ff.; BGH PharmR 2010, 181 ff. 124 LG Frankfurt/Main LMuR 2003, 140 (144). 120
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sind kosmetische Mittel „Stoffe oder Gemische, die dazu bestimmt sind, äußerlich mit den Teilen des menschlichen Körpers (Haut, Behaarungssystem, Nägel, Lippen und äußere intime Regionen) oder mit den Zähnen und den Schleimhäuten der Mundhöhle in Berührung zu kommen, und zwar zu dem ausschließlichen oder überwiegenden Zweck, diese zu reinigen, zu parfümieren, ihr Aussehen zu verändern, sie zu schützen, sie in gutem Zustand zu halten oder den Körpergeruch zu beeinflussen“. Entscheidend für die Abgrenzung zu Arzneimitteln ist demnach die äußere Anwendung sowie der kosmetische Anwendungszweck (Reinigung, Schutz und Erhaltung). 3. Abgrenzung zu Tabakerzeugnissen Nach § 2 Abs. 3 Nr. 3 AMG fallen Erzeugnisse im Sinne des § 2 Nr. 1 Tabakerzeugnisgesetz (TabakerzG) nicht unter den Arzneimittelbegriff. Erzeugnisse sind nach § 2 Nr. 1 TabakerzG Tabakerzeugnisse und verwandte Erzeugnisse. Nach Art. 2 Nr. 4 der Richtlinie 2014/40/EU, auf den § 1 TabakerzG verweist, ist ein Tabakerzeugnis ein Erzeugnis, das konsumiert werden kann und das, auch teilweise, aus genetisch verändertem oder genetisch nicht verändertem Tabak besteht. Verwandte Erzeugnisse sind nach § 2 Nr. 2 TabakerzG elektronische Zigaretten im Sinne von Art. 2 Nr. 16 Richtlinie 2014/40/EU, Nachfüllbehälter im Sinne von Art. 2 Nr. 17 Richtlinie 2014/40/EU und pflanzliche Raucherzeugnisse im Sinne von Art. 2 Nr. 15 Richtlinie 2014/40/EU. Abgrenzungsprobleme zwischen Tabakerzeugnissen und Arzneimitteln tauchen bei Raucher- und Nikotinentwöhnungsprodukten, Erzeugnissen zur Linderung von Asthmabeschwerden, nikotinfreien Zigaretten und insbesondere – bis zur gesetzlichen Klarstellung im Jahr 2016125 – bei E-Zigaretten auf.126 Raucher- und Nikotinentwöhnungsprodukte sowie Asthmazigaretten werden regelmäßig als Arzneimittel eingestuft.127 4. Abgrenzung zu Tierkosmetika Nach § 2 Abs. 3 Nr. 4 AMG sind Tierkosmetika ebenfalls keine Arzneimittel, wenn sie vorwiegend zur Reinigung und Pflege eingesetzt werden. Enthalten sie allerdings Stoffe zur Parasitenbekämpfung, sind sie als Arzneimittel einzustufen. 5. Abgrenzung zu Biozid-Produkten Nach § 2 Abs. 3 Nr. 5 AMG sind Biozid-Produkte nach Art. 3 Abs. 1 lit. a VO (EU) Nr. 528/2012 keine Arzneimittel. Biozid-Produkte sind Stoffe, die dazu be125 Mit Wirkung vom 20. 05. 2016 verweist § 2 Abs. 2 Nr. 3 AMG auf das mit Wirkung vom gleichen Tag in Kraft getretene TabakerzG. 126 Siehe hierzu BVerwG NVwZ 2015, 749 ff. 127 Vgl. Kügel/Müller/Hofmann, § 2 Rn. 193 f.
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stimmt sind, auf andere Art als durch bloße physikalische oder mechanische Einwirkung Schadorganismen zu zerstören, abzuschrecken, unschädlich zu machen, ihre Wirkung zu verhindern oder sie in anderer Weise zu bekämpfen.128 Klassische Biozid-Produkte sind demnach Flächendesinfektionsmittel zur Desinfizierung von Luft und Oberflächen. Problematisch ist die Abgrenzung zu Arzneimitteln, wenn ein Mittel dazu bestimmt ist, Schadorganismen zu zerstören, um dadurch Krankheiten zu lindern, zu heilen oder zu verhindern. Solche Desinfektionsmittel zur medizinischen Verwendung (z. B. Händedesinfektionsmittel) werden teilweise als Funktionsarzneimittel eingestuft.129 Demgegenüber stufte das VG Köln ein vergleichbares Produkt als Biozid-Produkt ein, da die Desinfektion nicht auf die Beeinflussung der physiologischen Funktionen des menschlichen Körpers gerichtet sei und es auch an einer pharmakologischen, immunologischen oder metabolischen Wirkung fehle.130 Wenn das Produkt sprachlich und bildlich speziell für die Anwendung in Kliniken oder ärztlichen Praxen und nur für den professionellen Bereich angeboten wird und zugleich sein Wirkspektrum durch die Benennung einer Vielzahl von Viren und Bakterien konkretisiert wird, deren Bekämpfung der Verhütung einer Vielzahl menschlicher Erkrankungen dient, liegt – so das LG Köln – ein Präsentationsarzneimittel vor.131 6. Abgrenzung zu Tierfuttermitteln Nach § 2 Abs. 3 Nr. 6 AMG fallen Tierfuttermittel im Sinne des Art. 3 Nr. 4 VO (EG) Nr. 178/2002 ebenfalls nicht unter den Arzneimittelbegriff. Für die Abgrenzung zu Arzneimitteln gelten hier die Ausführungen zur Abgrenzung gegenüber den Lebensmitteln entsprechend. 7. Abgrenzung zu Medizinprodukten Die Abgrenzung von Arzneimitteln zu Medizinprodukten bereitet – ähnlich wie die von Arzneimitteln zu Lebensmitteln – erhebliche Schwierigkeiten. Das hat auch 128
Nach Art. 3 Abs. 1 lit. a VO (EU) Nr. 528/2012 sind Biozidprodukte „– jeglichen Stoff oder jegliches Gemisch in der Form, in der er/es zum Verwender gelangt, und der/das aus einem oder mehreren Wirkstoffen besteht, diese enthält oder erzeugt, der/das dazu bestimmt ist, auf andere Art als durch bloße physikalische oder mechanische Einwirkung Schadorganismen zu zerstören, abzuschrecken, unschädlich zu machen, ihre Wirkung zu verhindern oder sie in anderer Weise zu bekämpfen; – jeglichen Stoff oder jegliches Gemisch, der/das aus Stoffen oder Gemischen erzeugt wird, die selbst nicht unter den ersten Gedankenstrich fallen und der/das dazu bestimmt ist, auf andere Art als durch bloße physikalische oder mechanische Einwirkung Schadorganismen zu zerstören, abzuschrecken, unschädlich zu machen, ihre Wirkung zu verhindern oder sie in anderer Weise zu bekämpfen.“ 129 Jäkel, PharmR 2010, 397 ff.; Deutsch/Lippert/Koyuncu, § 2 Rn. 86. 130 VG Köln PharmR 2012, 127; a. A. Jäkel, PharmR 2010, 397 ff. 131 LG Köln PharmR 2011, 108.
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Kap. 1: Der Arzneimittelbegriff
der Gesetzgeber erkannt und versucht, durch die Änderung des § 13 Abs. 2 MPG a. F. ein geeignetes Verfahren zur einheitlichen Einordnung von Produkten zu schaffen.132 Die Einführung dieser Norm wurde ausdrücklich damit begründet, dass bei der Abgrenzung große Unsicherheiten bestünden und es immer wieder vorkomme, dass Behörden in den Bundesländern dasselbe Produkt unterschiedlich einordnen.133 Nach § 2 Abs. 3 Nr. 7 AMG sind Medizinprodukte im Sinne des Art. 2 Nr. 1 und 2 VO (EU) Nr. 2017/745 keine Arzneimittel, es sei denn, es handelt sich um Arzneimittel im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 2 lit. b AMG, also um Diagnostika. Diese können sowohl Arzneimittel als auch Medizinprodukt sein. Die hierzu korrespondierende Norm in der VO (EU) Nr. 2017/745 (Art. 1 Abs. 6 lit. b) sieht vor, dass die Verordnung nicht für Arzneimittel gilt. Zwischen Medizinprodukten und Arzneimitteln – die Diagnostika ausgenommen – besteht somit ein Ausschlussverhältnis. Art. 2 Nr. 1 VO (EU) Nr. 2017/745 definiert Medizinprodukte als „ein Instrument, einen Apparat, ein Gerät, eine Software, ein Implantat, ein Reagenz, ein Material oder einen anderen Gegenstand, das dem Hersteller zufolge für Menschen bestimmt ist und allein oder in Kombination einen oder mehrere der folgenden spezifischen medizinischen Zwecke erfüllen soll: – Diagnose, Verhütung, Überwachung, Vorhersage, Prognose, Behandlung oder Linderung von Krankheiten, – Diagnose, Überwachung, Behandlung, Linderung von oder Kompensierung von Verletzungen oder Behinderungen, – Untersuchung, Ersatz oder Veränderung der Anatomie oder eines physiologischen oder pathologischen Vorgangs oder Zustands, – Gewinnung von Informationen durch die In-vitro-Untersuchung von aus dem menschlichen Körper – auch aus Organ-, Blut- und Gewebespenden – stammenden Proben und dessen bestimmungsgemäße Hauptwirkung im oder am menschlichen Körper weder durch pharmakologische oder immunologische Mittel noch metabolisch erreicht wird, dessen Wirkungsweise aber durch solche Mittel unterstützt werden kann. Die folgenden Produkte gelten ebenfalls als Medizinprodukte: – Produkte zur Empfängnisverhütung oder -förderung, – Produkte, die speziell für die Reinigung, Desinfektion oder Sterilisation der in Artikel 1 Absatz 4 genannten Produkte und der in Absatz 1 dieses Spiegelstrichs genannten Produkte bestimmt sind.“
Medizinprodukte sind demnach z. B. Zahnwerkstoffe, Implantate, ärztliche Instrumente, Beatmungsgeräte, Hör- und Sehhilfen, Verbandsmittel, chirurgisches Nahtmaterial, Prothesen, Labordiagnostika, Desinfektionsmittel, Reinigungs- und Pflegemittel, nicht jedoch Körperdesinfektionsmittel.134 Das Problem bei der Ab132 Bei Meinungsverschiedenheiten muss die Entscheidung der zuständigen Bundesoberbehörde vorgelegt werden. 133 BT-Drucks. 16/12258, S. 21 und 28. 134 Rehmann/Wagner, MPG § 3 Rn. 4.
A. Entwicklung und status quo des Arzneimittelbegriffs
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grenzung von Arzneimitteln zu Medizinprodukten besteht darin, dass beiden Produkten eine therapeutische Zweckbestimmung immanent ist. Handelt es sich um Stoffe und nicht etwa um Instrumente, Apparate, Vorrichtungen oder Software im Sinne des Art. 2 Nr. 1 VO (EU) Nr. 2017/745, ist eine Abgrenzung von Präsentationsarzneimitteln zu Medizinprodukten nicht möglich, da die Kriterien beider Definitionen erfüllt sind. Denn sowohl Arzneimittel als auch Medizinprodukte sind zur Anwendung im oder am menschlichen Körper und zur Heilung bzw. Behandlung, Linderung oder Verhütung menschlicher Krankheiten bestimmt. Abzustellen ist gemäß Art. 2 Nr. 1 VO (EU) Nr. 2017/745 damit auf die bestimmungsgemäße Hauptwirkung. Während ein Arzneimittel pharmakologisch, immunologisch oder metabolisch wirkt, steht bei einem Medizinprodukt die physikalische oder chemische Wirkweise im Vordergrund.135 Entscheidend ist nach der herrschenden Meinung demnach, ob das Produkt überwiegend pharmakologisch oder überwiegend physikalisch wirkt.136 Wegen der dargestellten Überschneidung des Präsentationsarzneimittel- und des Medizinproduktebegriffs wird von Teilen der Literatur vertreten, im Rahmen der Abgrenzung von Arzneimitteln zu Medizinprodukten nicht auf die Kriterien des § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG (Präsentationsarzneimittel) abzustellen, diese also auszuklammern.137 Wenn Medizinprodukte nach Art. 2 Nr. 1 VO (EU) Nr. 2017/ 745 gerade auf eine heilende Wirkung abzielen, so könne der Hinweis auf eine solche Wirkung das Produkt nicht zu einem Arzneimittel machen. Ein Abstellen auf die Kriterien des Präsentationsarzneimittels führe zu einer erheblichen Ausweitung des Arzneimittelbegriffs, bei gleichzeitiger Einengung des Medizinproduktebegriffs.138 Diese Vorgehensweise ist jedoch nicht mit dem Wortlaut der Grenzfallregelung des § 2 Abs. 3a AMG vereinbar.139 Zudem führt sie – unter Berücksichtigung der Tatsache, dass eine solche Einschränkung des Arzneimittelbegriffs nicht generell, sondern nur bei der Abgrenzung zu Medizinprodukten stattfinden soll – auch unter Bestimmtheitsgesichtspunkten zu Problemen.140 8. Abgrenzung zu Organtransplantaten § 2 Abs. 3 Nr. 8 AMG sieht vor, dass Organe im Sinne des § 1a Nr. 1 Transplantationsgesetz (TPG) nicht unter den Arzneimittelbegriff fallen, wenn sie zur Übertragung auf einen menschlichen Empfänger bestimmt sind. Organe nach § 1a Nr. 1 TPG sind „mit Ausnahme der Haut, alle aus verschiedenen Geweben bestehenden Teile des menschlichen Körpers, die in Bezug auf Struktur, Blutgefäßver135
Kügel/Müller/Hofmann, § 2 Rn. 220 f. (m. w. N.). Kügel/Müller/Hofmann, § 2 Rn. 220 (m. w. N.) 137 Dettling, PharmR 2010, 39 (39); Zumdick, PharmR 2012, 184 (196); Wudy, PharmR 2011, 156 (157 f.); Czettritz, PharmR 2010, 475 (475 f.); 344 (344 f.); Czettritz/Strelow, MPR 2010, 1 (2 ff.); Fulda, MPJ 2010, 94 (98 f.); Hüttebräuker/Thiele, MPR 2010, 109 (112). 138 Voit, PharmR 2010, 501 (506). 139 Siehe Kapitel 1 A. X. 140 Siehe Kapitel 1 B. III. 6. und Kapitel 1 C. V. 3. b). 136
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Kap. 1: Der Arzneimittelbegriff
sorgung und Fähigkeit zum Vollzug physiologischer Funktionen eine funktionale Einheit bilden, einschließlich der Organteile und einzelnen Gewebe eines Organs, die zum gleichen Zweck wie das ganze Organ im menschlichen Körper verwendet werden können.“ Für Gewebe und Gewebezubereitungen sind die Spezialvorschriften des § 4 Abs. 9 und Abs. 30 AMG zu berücksichtigen.
IX. Zweifels- bzw. Grenzfallregelung (§ 2 Abs. 3a AMG) Nach § 2 Abs. 3a AMG sind „Arzneimittel auch solche Erzeugnisse, die Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen sind oder enthalten, die unter Berücksichtigung aller Eigenschaften des Erzeugnisses unter eine Begriffsbestimmung des Absatzes 1 fallen und zugleich unter die Begriffsbestimmung eines Erzeugnisses nach Absatz 3 fallen können“. § 2 Abs. 3a AMG dient der Umsetzung des Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83/EG. Die Norm soll Unsicherheiten bei der Einstufung und Abgrenzung zu benachbarten Produkten beheben, indem sie Produkte, die als Erzeugnis im Sinne des § 2 Abs. 3 AMG einzustufen sind, gleichzeitig aber auch die Kriterien eines Arzneimittels nach § 2 Abs. 1 AMG erfüllen, dem Arzneimittelbegriff zuordnet. Aus Gründen der öffentlichen Gesundheit soll dem im Vergleich zu benachbarten Rechtsgebieten strengerem Arzneimittelrecht in Grenzfällen der Vorrang eingeräumt werden.
X. Vermutungsregel (§ 2 Abs. 4 AMG) § 2 Abs. 4 AMG enthält eine Vermutungsregelung für bzw. gegen die Arzneimitteleigenschaft. Der im Rahmen der Zulassungs- oder Registrierungsentscheidung erfolgten behördlichen Einstufung des Produkts kommt eine Bindungswirkung zu. Wenn die zuständige Bundesoberbehörde entschieden hat, kann das Produkt von einer anderen Verwaltungsbehörde nicht mehr abweichend eingestuft werden. Die Entscheidung bleibt jedoch gerichtlich voll überprüfbar. Die Bindungswirkung endet bei einem zugelassenen Arzneimittel mit dem Widerruf bzw. der Rücknahme der Zulassung nach § 30 AMG, dem Erlöschen der Zulassung nach § 31 AMG oder der Erledigung nach § 34 Abs. 2 VwVfG.141 Die negative Bindungswirkung erlischt erst bei einer abweichenden Entscheidung der Bundesoberbehörde.
141
Kügel/Müller/Hofmann, § 2 Rn. 241.
B. Ausgewählte Probleme bei der Anwendung der Kriterien des § 2 AMG
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B. Ausgewählte Probleme bei der Anwendung der Kriterien des § 2 AMG Im Folgenden sollen die im Rahmen der Darstellung des Arzneimittelbegriffs zum Teil bereits skizzierten Probleme bei der Auslegung des Arzneimittelbegriffs ausführlich erörtert und bewertet werden, um anschließend die Frage der Bestimmtheit des Arzneimittelbegriffs beantworten zu können.
I. Untauglichkeit der Zweifels- bzw. Grenzfallregelung des § 2 Abs. 3a AMG Zunächst kann festgestellt werden, dass die Regelung des § 2 Abs. 3a AMG nicht geeignet ist, bei der Abgrenzung zwischen Arzneimitteln und Produkten nach § 2 Abs. 3 AMG weiterzuhelfen. Denn zum einen ist für die Anwendung der Grenzfallregelung erforderlich, dass die Arzneimitteleigenschaft vorliegt.142 Es muss also zunächst nach den oben genannten Grundsätzen die Arzneimitteleigenschaft festgestellt werden. Dies folgt schon aus der Formulierung des Abs. 3a „(…) unter die Begriffsbestimmung des Absatzes 1 fallen“. Zwar weicht die Richtlinie 2001/83/EG insoweit ab, als dass dort der Wortlaut „(…) unter die Definition ,Arzneimittel‘ (…) fallen kann“ verwendet wird. Einer richtlinienkonformen Auslegung steht hier jedoch der Wortlaut als Auslegungsgrenze und auch das Auslegungsmonopol des EuGH entgegen, der bei der Anwendung des Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83/EG ebenfalls die positive Feststellung der Arzneimitteleigenschaft verlangt.143 Richtigerweise handelt es sich somit bei § 2 Abs. 3a AMG auch nicht um eine Zweifelsfall-, sondern um eine Grenzfallregelung.144 Ein anderes Verständnis würde aus strafrechtlicher Sicht zudem zu erheblichen Problemen mit dem „in dubio pro reo“Grundsatz führen.145 Da gerade die Feststellung des Arzneimittelbegriffs die größten Probleme bereitet, stellt sich schon an dieser Stelle die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Grenzfallregelung. Darüber hinaus ist zweifelhaft, ob die Grenzfallregelung überhaupt einen eigenständigen Anwendungsbereich hat. Denn stellt man zunächst die Arzneimitteleigenschaft fest, ist nach dem Wortlaut des § 2 Abs. 3 AMG eine anderweitige Einordnung schon nicht mehr möglich, da danach mit den dort genannten Produkten ein Ausschlussverhältnis besteht. Dies gilt umgekehrt genauso, wenn die Eigenschaft eines der in § 2 Abs. 3 AMG genannten Produkte festgestellt wird. Diese fehlerhafte Konstruktion kann nur umgangen werden, wenn man § 2 Abs. 3a AMG rechtssystematisch als lex specialis zu Absatz 3 versteht und deshalb 142 EuGH PharmR 2009, 122 (125); BGH PharmR 2011, 299 (300); OVG Münster PharmR 2010, 471 (474); vgl. auch BT-Drucks. 16/12256, S. 41. 143 EuGH PharmR 2009, 122 (125). 144 So auch Kügel/Müller/Hofmann, § 2 Rn. 228. 145 Vergho, PharmR 2009, 221 (226).
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Kap. 1: Der Arzneimittelbegriff
vor Absatz 3 prüft.146 Eine weitere Schwäche zeigt die Grenzfallregelung bei der Abgrenzung von Arzneimitteln zu Medizinprodukten. Führt man sich vor Augen, dass viele Medizinprodukte als Stoffe zur Heilung von Krankheiten präsentiert werden und damit dem Präsentationsarzneimittelbegriff unterfallen, müsste die Grenzfallregelung dazu führen, dass eine Vielzahl klassischer Medizinprodukte aufgrund der Grenzfallregelung dem Arzneimittelrecht zuzuordnen wären. Diese Problematik kann wiederum nur umgangen werden, indem man die Grenzfallregelung ausschließlich auf Funktionsarzneimittel anwendet, Präsentationsarzneimittel also ausklammert.147 Für eine solche Ausklammerung wird argumentiert, dass die Arzneimitteleigenschaft bei Präsentationsarzneimitteln nicht – wie von der herrschenden Meinung gefordert – positiv festgestellt werden könne, da es sich um eine Vermutungs- und Anscheinsregelung handle.148 Dagegen spricht jedoch der eindeutige Wortlaut der Grenzfallregelung, der auf den gesamten Absatz 1 verweist. Zudem spricht er von der „Berücksichtigung aller Eigenschaften“. Der Begriff „Eigenschaften“ prägt aber gerade den Präsentationsarzneimittelbegriff.149
II. Bedeutung der pharmakologischen Wirkung 1. Auslegung und Reichweite Der für den Funktionsarzneimittelbegriff zentrale Begriff ist die „pharmakologische Wirkung“. Definiert wurde dieser Begriff weder vom europäischen noch vom deutschen Gesetzgeber. Wie bereits aufgezeigt wurde, wird der Begriff auch in der Rechtsprechung nicht einheitlich verstanden. Nachdem zunächst sowohl der EuGH als auch der BGH den Versuch unternahmen, gänzlich auf eine Definition zu verzichten, wird in der jüngeren Rechtsprechung einzelfall- und produktorientiert auf unterschiedliche Kriterien abgestellt. Geht es um die Abgrenzung von Lebensmitteln zu Arzneimitteln wird das Erfordernis der nennenswerten Beeinflussung physiologischer Funktionen betont. Es fehle an einer pharmakologischen Wirkung, wenn die Auswirkung auf die physiologischen Funktionen nicht über dasjenige hinausgehe, was auch ein in angemessener Menge verzehrtes Lebensmittel bewirken könne. Geht es hingegen um die Abgrenzung von Medizinprodukten zu Arzneimitteln, wird auf die Definition der MEDDEV abgestellt.150 146
So Kloesel/Cyran, § 2 Anm. 165. So OVG Münster PharmR 2010, 342 (343); Dieners/Reese/Doepner/Hüttebräuker, § 2 Rn. 23, 69; Körner/Patzak/Volkmer, Vorbem. AMG Rn. 97; Wudy, PharmR 2012, 156 (157 f.); Gröning, WRP 2005, 709 (713). 148 Czettritz, PharmR 2010, 344 (344). 149 Kügel/Müller/Hofmann, § 2 Rn. 230. 150 Pharmakologisch wirkende Mittel verursachen nach der dort vorliegenden Definition eine „Wechselwirkung zwischen Molekülen des betreffenden Stoffes und einem Zellbestandteil, gewöhnlich als Rezeptor bezeichnet, die entweder in einer direkten Reaktion oder in der Blockierung einer Reaktion auf ein anderes Agens besteht“. 147
B. Ausgewählte Probleme bei der Anwendung der Kriterien des § 2 AMG
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a) MEDDEV Im Rahmen der Abgrenzung von Arzneimitteln zu Medizinprodukten wird der Leitfaden zur Anwendung der Richtlinie 90/385/EWG und 93/42/EWG „Medical Devices: Guidance document“ MEDDEV 2.1/3 herangezogen. Zunächst ist festzustellen, dass dieser Leitfaden der EU Kommission gemäß Art. 288 Abs. 5 AEUV nicht verbindlich ist. Zudem geht schon der Leitfaden selbst davon aus, dass die dort vorgeschlagene Definition kein „komplett zuverlässiges Kriterium“ ist.151 Dies zeigt sich auch dadurch, dass die in der MEDDEV beschriebene Definition von der Rechtsprechung – wiederum einzelfallorientiert – erheblich ausgeweitet wird. Während der Wortlaut der MEDDEVauf eine direkte Reaktion des Stoffes mit einem Zellbestandteil abstellt, legt der EuGH den Begriff „pharmakologische Wirkung“ dahingehend aus, dass diese nicht nur vorliegt, wenn es zu einer Wechselwirkung zwischen der Substanz und einem zellulären Bestandteil des Körpers des Anwenders kommt, sondern auch dann, wenn die Wechselwirkung zwischen der Substanz und einem beliebigen im Körper des Anwenders vorhandenen Bestandteil vorliegt.152 Dieser Entscheidung lag die Frage zugrunde, ob Mundspüllösungen, welche eine Chlorhexidin-Lösung enthalten, die zu einer Reduktion von Speichelbakterien führt, aufgrund einer pharmakologischen Wirkung als Arzneimittel einzustufen sind. Nach der Rechtsprechung des EuGH genügt es, wenn das Produkt eine Wechselwirkung mit anderen im Organismus des Anwenders vorhandenen zellulären Bestandteilen wie Bakterien, Viren oder Parasiten bewirken kann.153 Zuvor hatte bereits der BGH in dieser Sache unter Berufung auf die MEDDEV entschieden, dass eine Wechselwirkung zwischen den Molekülen des Stoffes und den Körperzellen auch dann vorliegt, wenn die Moleküle eine ohne sie gegebene Einwirkung anderer Stoffe auf den Körper verhindern.154 Zudem sei es nicht erforderlich, dass ein Molekül der aufgenommenen Substanz die Reaktion eines Zellbestandteiles unmittelbar hervorrufe. Dies begründet der BGH mit der Formulierung der MEDDEV-BorderlineLeitlinie.155 Wenn auch das Abblocken einer Reaktion für eine pharmakologische Wirkung ausreiche, folge daraus, dass eine unmittelbare Wechselwirkung der Moleküle der Substanz mit den zellulären Bestandteilen des Anwenders nicht erforderlich sei.
151 Siehe unter www.ec.europa.eu: Originalwortlaut: „Although not a completely reliable criterion, the presence of a dose-response correlation is indicative of a pharmacological effect“; kritisch auch Winters, Rechtliche Abgrenzung, S. 103; Lücker, PharmR 2018, 109 (113 ff.). 152 EuGH PharmR 2012, 442 (445); dem folgend: BGH PharmR 2015, 404 (404 f.). 153 EuGH PharmR 2012, 442 (445); dem folgend hat das OLG Frankfurt anschließend die Arzneimitteleigenschaft bejaht (BeckRS 2013, 12551); siehe anschließend BGH PharmR 2015, 403 (Mundspüllösung 2) und OLG Frankfurt BeckRS 2016, 124341; vgl. zudem BGH PharmR 2016, 79 (Mundspüllösung 3); PharmR 2016, 82 (Mundspüllösung 4); zudem OLG Hamm PharmR 2014, 202 (205); PharmR 2017, 299 (301). 154 BGH PharmR 2010, 641 (Mundspüllösung 1). 155 BGH PharmR 2010, 638 (640).
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Kap. 1: Der Arzneimittelbegriff
Die uneinheitliche Rechtsprechung bei der Frage der Abgrenzung von Arzneimitteln zu Medizinprodukten zeigt sich besonders deutlich bei der Einordnung von Darmreinigungspräparaten. Nach § 3 Nr. 1 MPG a. F. bzw. Art. 2 Nr. 1 VO (EU) Nr. 2017/745 ist das entscheidungserhebliche Kriterium die bestimmungsgemäße Hauptwirkung. Die Frage, was bei solchen Mitteln als bestimmungsgemäße Hauptwirkung einzustufen ist, wurde vom BGH jedoch unterschiedlich beantwortet. In einer Entscheidung aus dem Jahre 2009156 stufte der BGH das Darmreinigungspräparat Macrogol mit der Begründung als Medizinprodukt ein, dass die Substanz das Volumen des Darminhaltes vergrößere und dadurch einen physikalischen Reiz an der Darmwand auslöse. Unerheblich sei es, dass dem Produkt pharmakologisch wirkende Stoffe zum Zwecke der Vorbeugung der abführbedingten Mangelversorgung beigesetzt seien. Dem BGH zufolge ist es also unschädlich, wenn die Wirkweise eines Medizinprodukts durch pharmakologische Mittel unterstützt werden.157 In einer späteren Entscheidung des BGH stellte dieser jedoch in erster Linie auf die durch den physikalischen Reiz ausgelöste komplexe körpereigene Reaktion ab und stufte diese als pharmakologisch ein, sodass ein Darmreinigungspräparat, das ebenfalls den Wirkstoff Macrogol enthielt, nicht als Medizinprodukt, sondern als Arzneimittel eingestuft wurde.158 Der BGH betont insoweit, dass als bestimmungsgemäße Hauptwirkung neben der primären, unmittelbaren Wirkung auch Neben- und Folgewirkungen in Betracht kommen. „Ein Produkt ist daher auch dann ein Arzneimittel, wenn es durch seine auf physikalischem Gebiet liegende primäre Wirkung eine auf pharmakologischem Gebiet liegende Wirkung auslöst und diese weitere Wirkung die bestimmungsgemäße Hauptwirkung darstellt.“159 Er begründet dies mit dem Wortlaut der Grenzfallregelung in Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83/ EG, der im Hinblick auf die Einstufung eines Produkts als Arzneimittel die Berücksichtigung aller Produkteigenschaften vorschreibe. Als weiteres Argument nennt der BGH den Wortlaut der MEDDEV und das daraus folgende weite Begriffsverständnis der pharmakologischen Wirkung. Hieraus ergebe sich sodann, dass es für die Bejahung der Arzneimitteleigenschaft nicht auf die unmittelbare Wirkung des Produkts ankomme. Die unterschiedliche Einstufung der Darmreinigungspräparate rechtfertigt der BGH damit, dass der Sachverhalt bei der ersten Entscheidung insoweit abweiche, als dass dort weder eine die Gesundheit gefährdende Wirkung des Mittels noch ein durch dieses verursachter pathologischer Zustand in Rede gestanden habe.160 Aus dieser Argumentation wird ersichtlich, dass der BGH dem Merkmal „Gesundheitsgefahr“ eine entscheidende Rolle beimisst. Unklar bleibt jedoch, ob der BGH dieses Merkmal als Indiz für eine pharmakologische Wirkung oder als eigenständiges Indiz für das Vorliegen der Arzneimitteleigenschaft ansieht. Während den Aussagen des EuGH eine derartige Bedeutung des Kriteriums der Gesund156 157 158 159 160
BGH PharmR 2010, 338. BGH PharmR 2010, 338 (339). BGH PharmR 2011, 299 (301). BGH PharmR 2011, 299 (300) (m. w. N.). BGH PharmR 2011, 299 (301).
B. Ausgewählte Probleme bei der Anwendung der Kriterien des § 2 AMG
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heitsgefahr nicht entnommen werden kann,161 wird dem Merkmal vom BGH hier eine entscheidende Rolle beigemessen. b) Erheblichkeitsschwelle Unstreitig ist die Definition der pharmakologischen Mittel der MEDDEV nicht geeignet, im Rahmen der Abgrenzung von Arzneimitteln zu Lebensmitteln die entscheidenden Abgrenzungskriterien zu liefern, da sich die Wirkungsprinzipien von Lebensmitteln und Medizinprodukten unterscheiden.162 Das OVG Münster führt insoweit zutreffend aus: „Das Auslösen von wie auch immer bezeichneten Zellreaktionen durch Moleküle eines Stoffs ist jedoch im Rahmen der Richtlinie 2001/83/ EG kein taugliches Kriterium zur Abgrenzung eines Arzneimittels von einem Lebensmittel, weil letztere in aller Regel anders als Medizinprodukte keine rein physikalischen Wirkungen haben, sondern – ebenso wie Arzneimittel – die zuvor beschriebenen Reaktionen auslösen (können), indem sie nach der Aufnahme vom Körper im Wege des Stoffwechsels umgesetzt werden.“163 Infolge dieser Erkenntnis wird im Rahmen der Abgrenzung von Arzneimitteln zu Lebensmitteln auf eine Erheblichkeitsschwelle abgestellt. Diese Definition der pharmakologischen Wirkung als eine „nennenswerte Beeinflussung der physiologischen Funktionen“ kann jedoch nicht überzeugen. Letztlich wird dadurch der Fachbegriff „pharmakologische Wirkung“ durch einen anderen, ebenso unbestimmten („physiologisch“) ersetzt. Unter Zugrundelegung eines solchen Verständnisses würden die kumulativ zu prüfenden Tatbestandsmerkmale „Beeinflussung der physiologischen Funktionen“ „durch pharmakologische Wirkung“ zu einem Tatbestandsmerkmal verschmelzen. Dies ist nicht mit dem Erwägungsgrund 7 der Änderungsrichtlinie 2004/27/EG in Einklang zu bringen, der besagt, dass die Einfügung des Begriffs „pharmakologische Wirkung“ die „Art der Wirkung, die das Arzneimittel auf die physiologischen Funktionen haben kann, spezifizieren“ soll. Dem Merkmal der pharmakologischen Wirkung muss demnach also eine eigenständige Bedeutung zukommen.164 Das Abstellen auf eine Erheblichkeitsschwelle bei der Abgrenzung zu Lebensmitteln offenbart das eigentliche Problem. Eine pharmakologische Wirkung in dem Sinne, wie es der EuGH versteht, liegt auch bei einem Großteil der Lebensmittel, insbesondere den Nahrungsergänzungsmitteln vor.165 Dieser Makel des Begriffs der pharmakologischen Wirkung wird dann mit einer nur schwer zu präzisierenden Erheblichkeitsschwelle umgangen. Es wird ein Vergleich zu der Wirkung eines Lebensmittels aufgestellt, indem man darauf abstellt, 161
Vgl. EuGH PharmR 2009, 334 (335). Pfortner, PharmR 2004, 388 (392); Winters, Rechtliche Abgrenzung, S. 103; Winters/ Hahn, LMuR 2009, 173 ff.; Kügel/Hahn/Delewski, NemV § 1 Rn. 269 ff. 163 OVG Münster LMRR 2006, 13 ff. 164 Kahl/Hilbert, PharmR 2012, 177 (183). 165 Dieners/Reese/Doepner/Hüttebräuker, § 2 Rn. 33; vgl. Zipfel/Rathke, BasisVO Art. 2 Rn. 124 ff. 162
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Kap. 1: Der Arzneimittelbegriff
dass die Wirkung stärker sein muss als ein in angemessener Menge verzehrtes Lebensmittel. Inhaltlich besagt das Abgrenzungskriterium nicht mehr, als dass ein Arzneimittel stärkere Auswirkungen auf die physiologischen Funktionen hat, als ein Lebensmittel. 2. Erfordernis der pharmakologischen Wirkung Es stellt sich nicht nur die Frage nach der Bedeutung des Begriffs der pharmakologischen Wirkung, sondern darüber hinaus auch die Frage, ob ein Funktionsarzneimittel auch dann vorliegen kann, wenn eine pharmakologische Wirkung nicht vorliegt oder nicht festgestellt werden konnte. Insoweit wurde bereits dargestellt, dass nach der Rechtsprechung des EuGH für die Einstufung als Funktionsarzneimittel alle Merkmale des Erzeugnisses zu berücksichtigen seien, insbesondere seine Zusammensetzung, seine pharmakologischen oder metabolischen Eigenschaften, die Modalitäten des Gebrauchs, der Umfang seiner Verbreitung, seine Bekanntheit bei den Verbrauchern und die Risiken, die seine Verwendung mit sich bringen kann (sog. Multifaktortheorie).166 Nach der Ansicht des EuGH soll auch beim Funktionsarzneimittelbegriff die Verkehrsauffassung über die Produkteinordnung bestimmen. Gleichzeitig wird jedoch regelmäßig die Bedeutung der wissenschaftlich nachgewiesenen pharmakologischen Wirkung betont. Die Merkmale „Zusammensetzung“, „pharmakologische Eigenschaft“, „Modalitäten des Gebrauchs“, „Umfang der Verbreitung“, „Bekanntheit bei den Verbrauchern“ und „Risiken der Verwendung“ hat der EuGH bislang inhaltlich nicht konkretisiert und auch nicht klargestellt, wie diese Merkmale – insbesondere mit Blick auf das Merkmal der wissenschaftlich nachgewiesenen pharmakologischen Wirkung – zu gewichten sind.167 Dem Anschein nach kann ein Produkt also auch dann ein Funktionsarzneimittel sein, wenn es keine pharmakologische Wirkung hat. Dies scheint zunächst die logische Konsequenz zu sein. Denn ist man der Ansicht, dass die Verkehrsauffassung den Funktionsarzneimittelbegriff begründen kann, ist wohl auch klar, dass die Existenz einer pharmakologischen Wirkung nicht allein ausschlaggebend sein kann, weil sich über diesen rechtlich und naturwissenschaftlich umstrittenen und komplexen Begriff keine allgemeine Verkehrsauffassung bilden kann.168 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass diese Einstufungsmethodik des EuGH in der Literatur stark kritisiert und gefordert wird, die Unterscheidung zwischen Funktions- und Präsentationsarzneimittel derart zu verstehen, dass beim Funktionsarzneimittel im Gegensatz zum
166
Siehe oben Kapitel 1 A. VI.; EuGH PharmR 2009, 122 (125); PharmR 2014, 347 (350); BGH PharmR 2016, 82 (83). 167 Vgl. Kröll, Arzneimittelrecht, S. 37; Winters, Rechtliche Abgrenzung, S. 82 f.; kritisch hierzu auch Schlussantrag der Generalanwältin Trstenjak, PharmR 2007, 338 (346). 168 So ausdrücklich auch VG Köln BeckRS 2017, 135481 (Rn. 51).
B. Ausgewählte Probleme bei der Anwendung der Kriterien des § 2 AMG
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Präsentationsarzneimittel nicht der Verbraucher, sondern der Wissenschaftler entscheide.169 Diese unterschiedliche Interpretierung der Vorgaben des EuGH ist Folge der nicht eindeutigen Äußerungen seinerseits. Zwar stellt der EuGH für die Einordnung eines Produkts als Funktionsarzneimittel neben der pharmakologischen Wirkung regelmäßig auf die Bedeutung der verbraucherbezogenen „Hilfskriterien“ ab.170 Gleichzeitig betont er aber die Bedeutung der pharmakologischen Wirkung171 und hat bislang die „Hilfskriterien“, ähnlich wie das BVerwG, nur als Korrektiv bei festgestellter pharmakologischer Wirkung zur Verneinung der Funktionsarzneimitteleigenschaft herangezogen. Der EuGH hat hingegen soweit ersichtlich kein Produkt als Funktionsarzneimittel eingestuft, wenn die pharmakologische Wirkung nach Ansicht des Gerichtes nicht vorlag. Das floskelartige Abstellen auf die Hilfskriterien unter gleichzeitiger Betonung der Bedeutung der nachgewiesenen pharmakologischen Wirkung verbunden mit der Tatsache, dass bislang kein Produkt als Funktionsarzneimittel eingestuft wurde, wenn die pharmakologische Wirkung verneint wurde, führt zu erheblicher Unsicherheit über die Frage der Reichweite des Funktionsarzneimittelbegriffs. Analysiert man die Rechtsprechung des EuGH zum Arzneimittelbegriff, wird deutlich, warum der EuGH den „Hilfskriterien“ bislang in keiner Entscheidung eine konstitutive Wirkung beigemessen hat. Denn in solchen Konstellationen, d. h. eine pharmakologische Wirkung liegt nicht vor, die „Hilfskriterien“ sind jedoch erfüllt, wird wohl regelmäßig die Präsentationsarzneimitteleigenschaft zu bejahen sein, weshalb man sich mit der Frage der Einordnung als Funktionsarzneimittel nicht mehr beschäftigen müsste. Dies hat auch das BVerwG in seiner stark kritisierten Entscheidung vom 16. 05. 2009 am Rande bemerkt.172 Richtigerweise müssen die vom EuGH entwickelten Kriterien dem Präsentationsarzneimittelbegriff zugeordnet werden.173 Dass bei der Anwendung des vom EuGH entwickelten Maßstabes (Multifaktortheorie) die Gefahr besteht, Kriterien des Präsentationsarzneimittelbegriffs im Rahmen der Prüfung des Funktionsarzneimittelbegriffs heranzuziehen, ist eine Erkenntnis, die sich zunehmend auch – ohne dies jedoch als generelles Problem der Multifaktortheorie offenzulegen – in der nationalen Rechtsprechung bemerkbar macht. Neben dem soeben erwähnten Urteil des 169 Rennert, NVwZ 2008, 1179 (1182); Schlussantrag der Generalanwältin Trstenjak, PharmR 2008, 435 (443); Groß, EuZW 2006, 172 ff.; Doepner, ZLR 2009, 201 ff.; Dieners/ Reese/Doepner/Hüttebräuker, § 3 Rn. 56; vgl. Fuhrmann/Klein/Fleischfresser/Stephan, § 2 Rn. 57. 170 EuGH PharmR 2009, 122 (125 f.). 171 EuGH PharmR 2009, 122 (125 f.). 172 BVerwG PharmR 2009, 397 (399); siehe auch BGH PharmR 2016, 79 (81), der die von der Vorinstanz für relevant erachteten Merkmale entgegen der Entscheidung des Landgerichts nicht als Merkmale des Funktionsarzneimittelbegriffs, sondern als solche des Präsentationsarzneimittelbegriffs eingestuft hat. Siehe auch OVG Münster PharmR 2015, 142 (144), das das Vorliegen eines Präsentationsarzneimittels ausdrücklich offen lässt. 173 In diese Richtung auch Dieners/Reese/Doepner/Hüttebräuker, § 2 Rn. 66; Kaulen, Abgrenzung, S. 154; Doepner, PharmR 2018, 116 (119 f.).
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Kap. 1: Der Arzneimittelbegriff
BVerwG stellt dies auch der BGH in einer neueren Entscheidung am Rande fest. Im Rahmen der Einstufung einer Mundspüllösung wirft er den Vorinstanzen vor, „Erwägungen, die allenfalls für die Einordnung des beanstandeten Produkts als Präsentationsarzneimittel (…) hätten sprechen können, für die Begründung seiner davon unabhängigen Einordnung als Funktionsarzneimittel mit herangezogen (zu) haben“.174 Genau hier liegt – wenn auch vom BGH nur am Rande bemerkt, ohne sich offensichtlich der Bedeutung dieser Problematik bewusst zu sein – das Problem. Bei den vom EuGH entwickelten „Hilfskriterien“ handelt es sich tatsächlich um solche des Präsentationsarzneimittelbegriffs. Hierfür spricht auch ein Blick auf die Entwicklung des für den EuGH maßgeblichen europäischen Arzneimittelbegriffs. Denn der EuGH hat diese Kriterien zu einem Zeitpunkt entwickelt, als noch nicht der aktuelle Arzneimittelbegriff der Richtlinie 2001/83/EG, sondern derjenige der Richtlinie 65/65/EWG galt. Der Unterschied zwischen diesen Regelungen besteht darin, dass die Richtlinie 65/65/EWG den Arzneimittelbegriff einheitlich verstanden hat, eine Trennung zwischen Präsentations- und Funktionsarzneimittel also nicht bestand.175 Grundlage eines solchen Verständnisses war die damalige Formulierung der Definitionsnorm. Anders als heute wurde der Präsentationsarzneimittelbegriff damals nicht durch das Wort „oder“ vom Funktionsarzneimittelbegriff getrennt. Erst durch die Richtlinie 2004/27/EG zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EG wurde der Wortlaut geändert und das „oder“ eingefügt. Zum Zeitpunkt der Entwicklung der Hilfskriterien existierte also keine scharfe Trennung zwischen den beiden Begriffen.176 Der europäische Arzneimittelbegriff war wenig entwickelt. Die Kriterien dienten daher eher der Anleitung der nationalen Behörden, die einen vergleichsweise weiten Beurteilungsspielraum hatten.177 Zudem ist zu beachten, dass zum Zeitpunkt der Entwicklung dieser „Hilfskriterien“ durch den EuGH der Begriff der pharmakologischen Wirkung noch nicht zum gesetzlichen Tatbestand des Funktionsarzneimittelbegriffs gehörte. Der zeitgleichen Einführung des Begriffs „pharmakologische Wirkung“ zusammen mit der Einführung des Wortes „oder“ zwischen den beiden Arzneimitteldefinitionen ist zu entnehmen, dass der Funktionsarzneimittelbegriff verobjektiviert und damit auch von verbraucherbezogenen Kriterien befreit werden sollte. Der Grund, warum dennoch regelmäßig bei der Einstufung eines Produkts als Funktionsarzneimittel floskelartig auf die verbraucherbezogenen Hilfskriterien abgestellt wird, kann nur darin gesehen werden, die Bedeutung des Begriffs „pharmakologische Wirkung“ (scheinbar) zu schmälern, um die Problematik um das Verständnis dieses Begriffs zu kaschieren und einer Einzelfallprüfung Tür und Tor zu öffnen.178 174
BGH PharmR 2016, 79 (81). EuGH BeckRS 2004, 74146. 176 Siehe hierzu auch Winters, Rechtliche Abgrenzung, S. 76. 177 Vgl. Rennert, NVwZ 2008, 1179 (1182 f.) 178 Ausdrücklich tut dies Koyuncu, der die Bedeutung der Hilfskriterien gerade in solchen Konstellationen betont, in denen keine klare Aussage über die pharmakologische Wirkung getroffen werden kann (Deutsch/Lippert/Koyuncu, § 2 Rn. 37). 175
B. Ausgewählte Probleme bei der Anwendung der Kriterien des § 2 AMG
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III. Das Erfordernis des Merkmals der Gesundheitszuträglichkeit im Rahmen des Funktionsarzneimittelbegriffs Nach dem Wortlaut des § 2 Abs. 1 Nr. 2 lit. a AMG ist es für die Annahme der Funktionsarzneimitteleigenschaft erforderlich, dass die physiologischen Funktionen durch pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederhergestellt, korrigiert oder beeinflusst werden. Neben den bereits beschriebenen Problemen bei der Auslegung des Begriffs und der Frage, ob eine pharmakologische Wirkung für den Funktionsarzneimittelbegriff überhaupt erforderlich ist, ist fraglich, ob – wie der Wortlaut nahelegt – für die Annahme der Funktionsarzneimitteleigenschaft die schlichte Beeinflussung der physiologischen Funktionen ausreicht. Denn der Wortlaut des § 2 Abs. 1 Nr. 2 lit. a AMG stellt alternativ auf die Begriffe Wiederherstellen, Korrigieren und Beeinflussen ab. Während die ersten beiden Begriffe eine Veränderung zum Positiven intendieren, ist der Begriff „beeinflussen“ neutral gehalten. Nach der neueren Rechtsprechung des EuGH können jedoch nur solche Stoffe als Funktionsarzneimittel eingestuft werden, die geeignet sind, dem Funktionieren des menschlichen Organismus und folglich der menschlichen Gesundheit zuträglich zu sein. Keine Arzneimittel sind demnach Stoffe, deren Wirkung sich auf die schlichte Beeinflussung der physiologischen Funktionen des menschlichen Körpers beschränken, ohne dass sie geeignet wären, der Gesundheit unmittelbar oder mittelbar zuträglich zu sein. Erzeugnisse, die ausschließlich zu Entspannungs- und Rauschzwecken konsumiert werden und zum Teil auch gesundheitsschädlich wirken, werden nicht (mehr) als Funktionsarzneimittel eingestuft. 1. Das Urteil des EuGH vom 10. 07. 2014 – C-358/13; C-181/14179 Der EuGH hatte darüber zu entscheiden, ob Kräutermischungen, die synthetische Cannabinoide enthalten und zum Zwecke des Hervorrufens eines Rauschzustandes konsumiert wurden, als Arzneimittel einzustufen sind und damit der Verkauf in Deutschland dem Straftatbestand des § 95 Abs. 1 Nr. 1 AMG unterfällt. Dem Verfahren des EuGH lag ein Vorlagebeschluss des 3. Strafsenats des BGH vom 28. 05. 2013180 und ein inhaltlich identischer Vorlagebeschluss des 5. Strafsenats des BGH vom 08. 04. 2014181 zugrunde. Eine Strafbarkeit nach den Strafvorschriften des BtMG bzw. NpSG lag nicht vor, da es sich um neuartige Produkte handelte, die (noch) nicht von der Positivliste der Anlagen I bis III des BtMG erfasst waren und das inzwischen seit dem 26. 11. 2016 geltende Neue-psychoaktive-Stoffe-Gesetz (NpSG) zum damaligen Zeitpunkt noch nicht existierte. Der EuGH verneinte im Ergebnis die Arzneimitteleigenschaft solcher Produkte. Er argumentierte, dass sowohl der Wortlaut des Art. 1 Nr. 2 UAbs. 1 der Richtlinie 179 180 181
EuGH PharmR 2014, 347. BGH PharmR 2013, 379. BGH PharmR 2014, 296.
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Kap. 1: Der Arzneimittelbegriff
2001/83/EG („Eigenschaften zur Heilung oder Verhütung menschlicher Krankheiten“) als auch die Bezugnahme in Art. 1 Nr. 2 UAbs. 2 der Richtlinie 2001/83/EG auf das Merkmal „medizinische Diagnose“ eine gesundheitsfördernde Wirkung implizieren. Auch die Begriffe „wiederherstellen“ und „korrigieren“ drückten den Willen des Gesetzgebers aus, die positive Wirkung herauszustellen. Daran ändere auch das Wort „oder“ nichts, da die Begrifflichkeiten „wiederherstellen“, „korrigieren“ und „beeinflussen“ zueinander in einer Beziehung stünden und einheitlich zu lesen seien. Der Präsentationsarzneimittel- und der Funktionsarzneimittelbegriff seien in Verbindung miteinander zu lesen, es bestehe eine Kohärenz. Die verschiedenen Kriterien könnten also nicht so verstanden werden, dass sie im Gegensatz zueinander stehen.182 2. Meinungsstand vor dem Urteil des EuGH vom 10. 07. 2014 Bis zum Urteil des EuGH vom 14. 07. 2014 wurde in der Rechtsprechung die Frage nach dem Erfordernis einer gesundheitsfördernden Wirkung im Rahmen des Funktionsarzneimittelbegriffs im Zusammenhang mit sog. „legal high“ Produkten nicht aufgeworfen. Im Jahr 2009 hat der BGH das Produkt Gamma-Butyrolacton (GBL), bei dem es sich um einen Stoff handelt, der hauptsächlich als Reinigungs- und Lösungsmittel eingesetzt wird, jedoch aufgrund seiner berauschenden Wirkung auch als Droge verwendet werden kann, noch als Arzneimittel eingestuft.183 Dass das Produkt keinerlei gesundheitsfördernde Wirkung hatte, spielte bei der Einstufung keine Rolle. Unter Berufung auf die in dieser Entscheidung vom BGH ausgeführten Erwägungen, ordnete später auch das OLG Nürnberg die als Kräutermischungen verkauften synthetischen Cannabinoide JWH-081 und JWH-210 dem Arzneimittelbegriff zu.184 In einer früheren Entscheidung hat der BGH auch den als sog. Designer-Droge verkauften Stoff Methyl-Metaqualon als Arzneimittel eingestuft.185 Bemerkenswert ist hierbei, dass das Landgericht Gießen als Vorinstanz die Arzneimitteleigenschaft noch mit der Begründung verneint hatte, dass das Produkt nie als solches in der Medizin eingesetzt worden sei, vom Angeklagten eindeutig als Droge hergestellt worden und kein Konsument davon ausgegangen sei, ein Arzneimittel zu konsumieren.186 Dieser Argumentation widersprach der BGH und begründete die Arzneimitteleigenschaft, indem er zunächst feststellte, dass sich der im AMG definierte Arzneimittelbegriff von dem des allgemeinen Sprachgebrauchs, der Arzneimittel im Wesentlichen als Wirkstoff definiere, die zur Erkennung, Verhütung oder Behandlung von Krankheiten dienen, gelöst habe und das Vorliegen einer therapeutische Wirkung keine Frage des Arzneimittelbegriffs, sondern eine Voraussetzung für seine 182 183 184 185 186
EuGH PharmR 2014, 347 (Rn. 29, 37, 47). BGH NJW 2010, 2528; kritisch hierzu Meinecke/Harten, StraFo 2014, 9 (13 ff.). OLG Nürnberg PharmR 2013, 94. BGH NJW 1998, 836. LG Gießen, Urt. v. 04. 02. 1997 – 7 KLs 9 Js 262292/93.
B. Ausgewählte Probleme bei der Anwendung der Kriterien des § 2 AMG
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Zulassung sei. Anschließend ging der BGH sehr knapp auf die Arzneimitteleigenschaft von – seiner Meinung nach mit Designer-Drogen vergleichbaren – Psychopharmaka ein und führte zudem aus, dass der Umgang mit Drogen die Zwecke des Arzneimittelgesetzes in ihrem Kern treffen würden.187 Anders als bei der strafrechtlichen Einstufung von Drogen oder drogenähnlichen (berauschenden) Substanzen wurde das Problem des Erfordernisses einer gesundheitsfördernden Wirkung im Rahmen des Funktionsarzneimittelbegriffs im Zusammenhang mit der verwaltungsrechtlichen Einordnung von E-Zigaretten von der Rechtsprechung bereits vor der Entscheidung des EuGH vom 10. 07. 2014 diskutiert.188 Die E-Zigarette ist ein Produkt, bei dem eine verdampfte Flüssigkeit (Liquid) inhaliert wird. Ein Verbrennungsvorgang findet nicht statt. Das Liquid besteht aus Propylenglykol, Glycerin, künstlichen Lebensmittelaromen und aus Wasser; zum Teil enthalten die Liquids auch Nikotin. Diese Produkte wurden zum damaligen Zeitpunkt nicht als Tabakprodukte eingestuft, sodass der Ausschlusstatbestand des § 2 Abs. 3 Nr. 3 AMG nicht griff.189 In der Literatur wurden E-Zigaretten teilweise als Präsentationsarzneimittel eingestuft.190 Das schied jedoch zumindest dann aus, wenn – wie häufig der Fall – solche Produkte als reine Genussmittel und nicht als Mittel zur Entwöhnung vermarktet wurden. Nach der Rechtsprechung handelte es sich auch nicht um Funktionsarzneimittel.191 Inhaltlich begründete dies das OVG NRW damit, dass ein Produkt, das ausschließlich nachteilig wirke, nicht allein aufgrund seiner pharmakologischen Wirkung als Arzneimittel einzustufen sei.192 Voraussetzung eines Funktionsarzneimittels sei demnach eine therapeutische oder prophylaktische Zweckbestimmung. Dies sei bei nikotinhaltigen Liquids nicht der Fall, da nicht die Entwöhnung vom Nikotinkonsum oder die Linderung einer Nikotinabhängigkeit im Vordergrund stehe. Erstinstanzlich hatte das VG Düsseldorf die E-Zigarette noch als Arzneimittel eingestuft.193 Das VG Düsseldorf verwies darauf, dass die in E-Zigaretten enthaltenen Liquids zur Minderung von Entzugssymptomen bei Nikotinsucht angewendet werden können und es nur auf die objektive Eignung des Produkts zu Therapiezwecken, nicht jedoch auf die konkrete Zweckbestimmung des Produkts ankomme. Im Rahmen der Abgrenzung von Arzneimitteln zu Lebensmitteln (Nahrungsergänzungsmitteln) wurde ebenfalls schon früher vereinzelnd auf ein mit dem nunmehr vom EuGH entwickelten Kriterium vergleichbares Merkmal abgestellt. Die thera187
BGH NJW 1998, 836 (837). Voit, PharmR 2012, 241; Rennert, NVwZ 2008, 1179; Müller, PharmR 2012, 137; Nobis, NStZ 2012, 422. 189 Siehe Volkmer, PharmR 2012, 11 (15); siehe nunmehr aber die Zuordnung durch § 2 Nr. 2 TabakerzG i. V. m. § 1 TabakerzG und Art. 2 Nr. 16 der Richtlinie 2014/40/EU. 190 Volkmer, PharmR 2012, 11 ff. 191 BGH PharmR 2016, 86; BVerwG NVwZ 2015, 749; OVG Magdeburg PharmR 2012, 298; OVG NRW PharmR 2012, 255; PharmR 2013, 493. 192 OVG NRW PharmR 2012, 255 (257). 193 VG Düsseldorf PharmR 2012, 521. 188
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Kap. 1: Der Arzneimittelbegriff
peutische Zweckbestimmung des Produkts wurde als Merkmal des Funktionsarzneimittelbegriffs gewertet.194 Anders als im Falle der E-Zigaretten wurde dies jedoch nicht als konstitutives Kriterium, sondern als Indiz für die Arzneimitteleigenschaft eingestuft. Das BVerwG führte insoweit aus: „Richtig ist (…), dass ein Erzeugnis, das geeignet ist, therapeutische Zwecke zu erfüllen, in jedem Fall ein Arzneimittel ist.“195 Dass ein Produkt, dass diese Zwecke nicht erfüllt, kein Arzneimittel ist, wurde von der Vorinstanz vertreten, die das Merkmal der pharmakologischen Wirkung als unergiebig bewertet und durch das Merkmal der therapeutischen Zweckbestimmung ersetzte.196 3. Zwischenergebnis Die Diskussion um das Merkmal einer therapeutischen/gesundheitsfördernden Wirkung/Eignung/Zweckbestimmung wurde bereits vor dem Urteil des EuGH geführt. Bis dahin wurde dieses Merkmal jedoch eher dahingehend bewertet, dass jedes Erzeugnis, das dieses Merkmal erfüllt, als Arzneimittel einzustufen sei.197 Diese Ansicht wurde unter dem Hinweis, dass die therapeutische Zweckbestimmung auch bei Produkten, die keine Arzneimittel seien, vorliegen könne. Verwiesen wurde insoweit auf Nahrungsergänzungsmitteln und bilanzierte Diäten.198 Die Neuigkeit des EuGH-Urteils besteht darin, dass das Merkmal der Gesundheitszuträglichkeit nunmehr als notwendiges Kriterium in der Form eingestuft wird, dass bei Nichtvorliegen dieses Merkmales die Arzneimitteleigenschaft auszuschließen ist. Während der BGH in drei Entscheidungen aus dem Jahren 1998, 2007 und 2009 diesem Kriterium keine Relevanz beigemessen hatte und Produkte, die ausschließlich zu Rauschzwecken konsumiert wurden, als Arzneimittel einstufte,199 wurde die Ansicht des EuGH sowohl von der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung als auch im Schrifttum bereits vor dem Urteil des EuGH im Zusammenhang mit der Einstufung von E-Zigaretten vertreten. Schon damals wurde eine solche Einschränkung des Funktionsarzneimittelbegriffs kritisiert, da es auch Arzneimittel gebe, die keine therapeutische Zweckbestimmung hätten.200
194
BVerwG PharmR 2018, 73 (76); EuGH Slg. I 2004, 3891 (Rn. 63). BVerwG PharmR 2018, 73 (76). 196 OVG NRW LMuR 2007, 40 (41 ff.). 197 Auch das jedoch nicht einheitlich. Der EuGH hat in seiner Knoblauchkapsel-Entscheidung die Arzneimitteleigenschaft trotz therapeutischer Wirkungsmöglichkeit abgelehnt: EuGH PharmR 2008, 59 (65). 198 Dieners/Reese/Doepner/Hüttebräuker, § 3 Rn. 72. 199 BGH NJW 1998, 836; BGH NStZ 2008, 530; BGH NJW 2010, 2528. 200 Winters, Rechtliche Abgrenzung, S. 102; Dieners/Reese/Doepner/Hüttebräuker, § 3 Rn. 72; Kraft, ZLR 2006, 741 (743 ff.). 195
B. Ausgewählte Probleme bei der Anwendung der Kriterien des § 2 AMG
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4. Bewertung Um die Auswirkung des Urteils des EuGH vom 10. 07. 2014 auf die Auslegung des Arzneimittelbegriffs insbesondere auch im Hinblick auf andere Produktkategorien bewerten zu können, sollen die Ausführungen des EuGH im Folgenden umfassend dargestellt und analysiert werden. a) Argumentation des EuGH Zunächst ist festzustellen, dass gewichtige Argumente dafür sprechen, dass sowohl der nationale als auch der europäische Gesetzgeber beabsichtigten, bei der Schaffung der entsprechenden Regelungen – entgegen der nunmehr vom EuGH geäußerten Ansicht – eine gesundheitsfördernde Wirkung für die Arzneimitteleigenschaft nicht als konstitutives Merkmal vorzugeben. Der Gesetzesbegründung ist zu entnehmen, dass der nationale Gesetzgeber bei der Umsetzung der unionsrechtlichen Vorgaben im Jahr 2009 davon ausgegangen ist, dass Designerdrogen („legal highs“) unter den Arzneimittelbegriff fallen können. In der Gesetzesbegründung heißt es: „Es wird deshalb nicht ausgeschlossen, dass sogenannte Designerdrogen bei einer Beurteilung nach ihrer Funktion im Einzelfall Arzneimittel im Sinne von § 2 sein können. In Betracht kommen hier etwa Produkte mit deklarierten oder nicht deklarierten Beimischungen synthetischer Stoffe mit cannabinoider oder ähnlicher Wirkung.“201 Auch der Wortlaut der Richtlinie 2001/83/EG selbst deutet in diese Richtung. Denn in Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/83/EG werden empfängnisverhütende oder schwangerschaftsunterbrechende Erzeugnisse als Arzneimittel bezeichnet.202 Bei diesen Produkten ist die gesundheitsfördernde Wirkung ebenfalls problematisch, da solchen Mitteln zumindest nicht unter gleichen Maßstäben wie den typischen Arzneimitteln eine gesundheitsfördernde Wirkung zugesprochen werden kann. Der EuGH versucht diesen Widerspruch mit der wenig überzeugenden Argumentation zu lösen, dass es sich bei Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/83/EG um eine Sonderregelung handele, da sie nicht bestimmte Erzeugnisse, sondern eine ganze Kategorie als Arzneimittel bezeichne.203 Diese Argumentation des EuGH zeigt, dass er bei empfängnisverhütenden Mittel nicht von einer gesundheitsfördernden Wirkung ausgeht, denn ansonsten wäre ein solcher Umweg nicht notwendig gewesen. Der EuGH geht also für solche Produkte von einer gesetzlichen Fiktion der Arzneimitteleigenschaft aus. Dem Wortlaut des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/83/EG kann jedoch eine Fiktion der Arzneimitteleigenschaft nicht entnommen werden. Vielmehr dient die Norm der Klärung des Verhältnisses 201
BT-Drucks. 16/12256, S. 41. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/83/EG lautet: „Diese Richtlinie lässt die Anwendung nationaler Rechtsvorschriften unberührt, die den Verkauf, die Lieferung und den Gebrauch von empfängnisverhütenden oder schwangerschaftsunterbrechenden Arzneimitteln verbieten oder einschränken. Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission die betreffenden nationalen Rechtsvorschriften mit.“ 203 EuGH PharmR 2014, 347 (350). 202
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Kap. 1: Der Arzneimittelbegriff
zwischen nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht. Zudem würde es auch an einer für die Strafbarkeit notwendigen Umsetzung einer solchen Fiktionsregelung in das nationale Recht fehlen. Denn das AMG sieht in § 2 Abs. 2 eine solche Fiktionsregelung ausdrücklich vor. Empfängnisverhütende- und schwangerschaftsunterbrechende Mittel sind dort allerdings nicht aufgelistet. Bemerkenswert ist zudem, dass der EuGH mit keinem Wort darauf eingeht, dass er selbst in einer früheren Entscheidung Verhütungsmittel unabhängig von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/83/ EG bzw. einer sonstigen Fiktionsregelung als Arzneimittel im Sinne der Legaldefinition eingestuft hat.204 Auch aus dem historischen Kontext des Arzneimittelbegriffs kann – zumindest aus Perspektive des nationalen Gesetzgebers – auf ein anderweitiges Verständnis geschlossen werden. Denn der hier im Zentrum stehende Begriff „Beeinflussen“ wurde erstmals im „AMG 1961“ – und damit noch vor der ersten Kodifizierung des Arzneimittelbegriffs auf europäischer Ebene, vor der Entstehung der Richtlinie 65/65/EWG – verwendet. Der Grund für die Einführung dieses Begriffs lag gerade darin, die Arzneimitteleigenschaft auch auf solche Produkte auszudehnen, die von denen zuvor im Mittelpunkt stehenden Kriterien der Verhütung, Linderung und Beseitigung von Krankheiten nicht erfasst waren.205 Die Gesetzesbegründung nennt insoweit ausdrücklich die diagnostische und anästhetische Mittel, Schwangerschaftsmittel sowie Mittel gegen das Altern, zur geschlechtlichen Anregung und zur Beeinflussung der Leistung. Um diese Mittel zu erfassen, löst sich der Wortlaut des „AMG 1961“ von der alten Definition und stellt auf den weiten Begriff des Beeinflussens ab. Legt man die Interpretation dieses Begriffes durch den EuGH zugrunde, ist dies mit den Gründen für die Einführung des Begriffs „Beeinflussen“ in das deutsche AMG nicht in Einklang zu bringen. Denn gerade für die in der Gesetzesbegründung aufgezählten Produkte ist damit durch den EuGH die Arzneimitteleigenschaft in Frage gestellt. b) Reichweite der Kriterien des EuGH Neben der soeben aufgezeigten Schwäche der Lösung des EuGH ist zu kritisieren, dass das Merkmal der gesundheitsfördernden Wirkung vom EuGH sehr unbestimmt beschrieben wurde. Es gilt daher zu prüfen, inwieweit dem Urteil des EuGH Aussagen hinsichtlich der Reichweite des Merkmals der Gesundheitszuträglichkeit entnommen werden können. Für eine weite Auslegung spricht, dass der EuGH auch die mittelbare Gesundheitszuträglichkeit mit einbezieht und weiterhin an der These festhält, dass für den Funktionsarzneimittelbegriff das Vorliegen einer Krankheit nicht erforderlich sei.206 Zudem vermeidet er, bei der Formulierung der relevanten
204
EuGH BeckRS 2004, 74146 (Rn. 19). In dieser vielzitierten Upjohn-Entscheidung des EuGH legte der EuGH am Beispiel der Verhütungsmittel dar, dass für den Funktionsarzneimittelbegriff das Vorliegen einer Krankheit nicht erforderlich sei. 205 Siehe BT-Drucks. 3/654, S. 16. 206 EuGH PharmR 2014, 347 (Rn. 36).
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Kriterien auf den Begriff der Therapie abzustellen,207 obwohl sich eine solche Formulierung gleich aus zwei Gründen angeboten hätte. Zum einen wurde in der Vorlagefrage ausdrücklich nach der Notwendigkeit eines „therapeutischen Nutzens“ gefragt. Zum anderen wurde dieser Begriff von der deutschen Rechtsprechung bereits im Zusammenhang mit der Abgrenzung von E-Zigaretten und Nahrungsergänzungsmitteln verwendet. Warum der EuGH diesen Begriff versucht zu vermeiden, liegt auf der Hand. Der Begriff „Therapie“ steht in engem Zusammenhang mit dem Krankheitsbegriff.208 Die Verwendung des Begriffs birgt damit die Gefahr, dass die Feststellung des EuGH, für den Funktionsarzneimittelbegriff sei gerade keine Krankheit erforderlich, nicht mehr aufrechterhalten werden könnte. Damit käme der EuGH dann nicht mehr um eine Definition des Krankheitsbegriffs herum.209 Dem Urteil des EuGH können auf der anderen Seite jedoch auch Aussagen entnommen werden, die für eine restriktive Auslegung des Merkmals der Gesundheitszuträglichkeit sprechen. Denn wenn der EuGH dieses Merkmal tatsächlich derart weit verstehen würde, wie es infolge der Entscheidung Teile der Rechtsprechung und Literatur – dazu sogleich – tun, stellt sich die Frage, warum der EuGH die Arzneimitteleigenschaft von schwangerschaftsunterbrechenden und empfängnisverhütenden Mitteln nicht begründet, indem er auf die extensive Auslegung des Merkmals „Gesundheitszuträglichkeit“ hinweist, zumal ihm dieser Weg vom vorlegenden Gericht bereits geebnet wurde.210 Bei Zugrundelegung eines derart weiten Maßstabes – etwa in der Form, dass darunter die Beseitigung jeglicher subjektiv unerwünschter Zustände fiele – ließen sich durchaus auch derartige Produkte unter den Arzneimittelbegriff subsumieren. Der fragwürdigen und im Ergebnis nicht überzeugenden Begründung mithilfe der Fiktion der Arzneimitteleigenschaft solcher Produkte über Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/83/EG hätte es dann nicht bedurft und der EuGH wäre „auf Linie“ mit seiner früheren Rechtsprechung geblieben.211 Da der EuGH aber dennoch diesen Weg gewählt hat, kann dem entnommen werden, dass er bei empfängnisverhütenden und schwangerschaftsunterbrechenden Mitteln nicht von einer Gesundheitszuträglichkeit ausgeht und damit das Merkmal der Gesundheitszuträglichkeit nicht derart weit verstanden haben will. Dies ist umso erstaunlicher, wenn man berücksichtigt, dass der EuGH in der früheren Rechtsprechung Verhütungsmittel unter Verweis darauf, dass ein Krankheitsbezug nicht erforderlich sei, als Arzneimittel eingeordnet hat, an dieser Aussage in dem Urteil vom 10. 07. 2014 festhält, dennoch aber anschließend den „Umweg“ über Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/83/EG nimmt, um die Arzneimitteleigenschaft von empfängnisverhütenden Mitteln zu begründen. Hinter dieser umständlichen Begründung steht wohl die Erkenntnis, dass es im Falle der Berücksichtigung der subjektiv empfun207 Lediglich in Rn. 47 (a. a. O.) der Entscheidung des EuGH wird dieser Begriff beiläufig verwendet. 208 Siehe hierzu Dieners/Reese/Doepner/Hüttebräuker, § 3 Rn. 71. 209 Der EuGH hat diesen Begriff bislang nicht definiert, siehe Kapitel 1 A. V. 1. b). 210 BGH PharmR 2013, 379 (382), siehe hierzu Kapitel 1 B. III. 5. b) aa). 211 EuGH BeckRS 2004, 74146 (Rn. 19).
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Kap. 1: Der Arzneimittelbegriff
denen Gesundheitszuträglichkeit völlig unklar wäre, wie weit dieses Merkmal reichen würde.212 Denn die Folge einer solchen extensiven Auslegung wäre, dass dann konsequenterweise auch jedes Rauschmittel, das zu Entspannungszwecken genommen wird, als Arzneimittel eingestuft werden müsste.213 Letztlich könnten und müssten unter diesen Umständen auch E-Zigaretten als Funktionsarzneimittel eingestuft werden. Die gebotene und vom EuGH vorgenommene restriktive Auslegung des Funktionsarzneimittelbegriffs wäre hinfällig. Für eine enge Auslegung des Merkmals der Gesundheitszuträglichkeit spricht zudem Folgendes. Ein zentrales Argument, das der EuGH für die Begründung der Notwendigkeit einer Beeinflussung zum Positiven heranzieht, liegt darin, auf die Kohärenz des Arzneimittelbegriffs, also die Beziehung zwischen Präsentations- und Funktionsarzneimittel, hinzuweisen. So führt er aus, dass trotz der Trennung der beiden Bestimmungen der Richtlinie 2001/83/EG – dem Präsentations- und Funktionsarzneimittelbegriff – durch das Wort „oder“ nicht davon ausgegangen werden könne, dass sie in keiner Beziehung zueinander stünden. Sie müssten daher in Verbindung miteinander gelesen werden.214 Wenn man aber die Einschränkung des Funktionsarzneimittelbegriffs mithilfe der Einheitlichkeit des Arzneimittelbegriffs herleitet, was – wie bereits aufgezeigt wurde – aufgrund des eindeutigen Wortlautes und der Entstehungsgeschichte kritisch zu bewerten ist, wäre es nur konsequent, sich bei der Bestimmung des einschränkenden Merkmals an den Vorgaben des Präsentationsarzneimittelbegriffs zu orientieren, der eine (enge) therapeutische Zweckbestimmung fordert. Es kann damit festgestellt werden, dass dem Urteil des EuGH klare Aussagen zur Reichweite des den Arzneimittelbegriff einschränkenden Merkmals „gesundheitsfördernde Wirkung“ bzw. „Gesundheitszuträglichkeit“ nicht entnommen werden können. Aus den unklaren Aussagen des EuGH wird deutlich, dass sich dieser in einem Zwiespalt befindet. Auf der einen Seite will er an der Unbeachtlichkeit des Krankheitsbegriffs im Rahmen des Funktionsarzneimittelbegriffs festhalten, damit also weiterhin gewährleisten, dass auch solche Produkte als Funktionsarzneimittel eingestuft werden können, die keinen Krankheitsbezug aufweisen. Auf der anderen Seite will er aber auch einer Ausuferung des Funktionsarzneimittelbegriffs entgegenwirken und die sog. „legal high“ Produkte ergebnisorientiert, dem allgemeinen Sprachgebrauch folgend, dem Arzneimittelbegriff entziehen. Dieser Zwiespalt wird gerade unter Berücksichtigung der historischen Entwicklung des Arzneimittelbegriffs besonders deutlich. Das „AMG 1961“ löste sich vom Krankheitsbegriff.215 Hiermit sollten gleich zwei Ziele erreicht werden. Zum einen die Umgehung einer Definition des Krankheitsbegriffs und zum anderen die Erfassung von diagnostischen und anästhetischen Mittel, Schwangerschaftsmittel sowie Mittel gegen das 212
So auch bereits Rennert, NVwZ 2008, 1179 (1181). Vgl. Dettling/Böhnke, PharmR 2014, 342 (345). 214 EuGH PharmR 2014, 347 (Rn. 29, 37). 215 Zwar wurde dieser durch das „AMG 1976“ wieder aufgenommen, dies erfolgte aber nur im Rahmen des Präsentationsarzneimittelbegriffs und nicht im Rahmen des Funktionsarzneimittelbegriffs. 213
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Altern, zur geschlechtlichen Anregung und zur Beeinflussung der Leistung unter den Arzneimittelbegriff. Dies hatte jedoch auch zur Folge, dass – wie vom nationalen Gesetzgeber zumindest im Rahmen der Neufassung des „AMG 2009“ erkannt und gebilligt wurde – Rauschmittel unter den Arzneimittelbegriff fallen. Ergebnisorientiert versucht der EuGH diese Begleiterscheinung nunmehr rückgängig zu machen, ohne jedoch den Schritt komplett zurück zur Notwendigkeit des Vorliegens einer Krankheit zu gehen. c) Exkurs: Der sozialversicherungsrechtliche Arzneimittelbegriff Dass der Arzneimittelbegriff teilweise auch nicht losgelöst vom Krankheitsbegriff verstanden wird, verdeutlicht ein Blick auf den sozialversicherungsrechtlichen Arzneimittelbegriff im Sinne des § 31 SGB V. Dieser ist nicht deckungsgleich mit dem des AMG.216 Interessanterweise werden Kontrazeptiva dort, soweit sie nicht bei einer medizinischen Indikation eingesetzt werden, nicht als Arzneimittel eingestuft.217 Das BSG führte insoweit aus, dass die Arzneimitteleigenschaft zumindest dann ausscheide, wenn das Mittel bestimmungsgemäß zur Verhinderung einer unerwünschten Schwangerschaft eingenommen werde, was in 95 % aller Fälle zutreffe. Lediglich in den übrigen 5 % aller Fälle, in denen das Mittel zu therapeutischen Zwecken eingesetzt werde, die Empfängnisverhütung also notwendig ist, um zum Beispiel einer Krankheit oder sonstigen körperlichen oder seelischen Schädigungen vorzubeugen bzw. diese zu bekämpfen, könnten orale Kontrazeptiva als Arzneimittel angesehen werden.218 Führt man sich die Gründe vor Augen, die für die unterschiedliche Auslegung des arzneimittelrechtlichen Arzneimittelbegriffs auf der einen Seite und des sozialversicherungsrechtlichen Arzneimittelbegriffs auf der andern Seite herangezogen werden, so lassen sich daraus weitere interessante Schlüsse im Hinblick auf das Urteil des EuGH herleiten. Denn der Unterschied des sozialversicherungsrechtlichen Arzneimittelbegriffs zum Funktionsarzneimittelbegriff des AMG wird mit der durch das AMG – und insoweit abweichend vom SGB V – intendierten Gesundheitsgefahrenabwehr und dem Abstellen auf eine pharmakologische Wirkung ohne konkreten Krankheitsbezug begründet.219 Anders als der Begriff des AMG wird beim sozialversicherungsrechtlichen Arzneimittelbegriff also ein Krankheitsbezug für erforderlich gehalten. Durch die neue Rechtsprechung des EuGH ist nun aber fraglich, inwieweit der Funktionsarzneimittelbegriff ohne Krankheitsbezug aufrechterhalten bleiben kann. Durch die einschränkende Auslegung des Begriffs „Beeinflussen“ wurde zumindest die Anzahl derjenigen Produkte, die keinen Krankheitsbezug aufweisen, aber dennoch als Arzneimittel einzustufen sind, verkleinert. Es wurde das als Ausdruck der Ge216 Dieners/Reese/Doepner/Hüttebräuker, § 2 Rn. 30; Rn. 245; BSG NZS 1999, 449. 217 BSG NJW 2002, 318. 218 BSG NJW 2002, 318. 219 Dieners/Reese/Doepner/Hüttebräuker, § 2 Rn. 31.
Kügel/Müller/Hofmann,
§2
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sundheitsgefahrenabwehrintension dienende Merkmal der Gesundheitsgefahr, das bei Rauschmitteln unstreitig vorliegt, aber nach dem EuGH jetzt gerade ein Grund für Verneinung der Arzneimitteleigenschaft war, relativiert. Dies führt dazu, dass das Urteil des EuGH faktisch zu einer Annäherung des arzneimittelrechtlichen Arzneimittelbegriffs an den Arzneimittelbegriff des SGB V geführt hat. 5. Umgang mit den Kriterien des EuGH in der Literatur und Rechtsprechung a) Rechtsprechung aa) BVerwG, Urteil vom 20. 11. 2014 – 3 C 25/13 Das BVerwG entschied unter Berufung auf die EuGH-Entscheidung, dass ein Erzeugnis nur dann als Funktionsarzneimittel einzustufen sei, wenn es „objektiv geeignet ist, zu therapeutischen Zwecken eingesetzt zu werden“.220 Inhaltlich ging es um die Frage, ob nikotinhaltige Liquids als Arzneimittel einzustufen sind, was das BVerwG verneinte. Das BVerwG stellt damit nicht auf die Perspektive des Verbrauchers ab, sondern betonte das Erfordernis des wissenschaftlichen Nachweises eines therapeutischen Nutzens.221 Gleichzeitig schränkte es das Erfordernis der therapeutischen Nützlichkeit auch inhaltlich ein. Nach Ansicht des Gerichts genügt es nicht, dass ein Erzeugnis Eigenschaften besitzt, die der Gesundheit im Allgemeinen förderlich sind oder dass es einen Stoff enthält, der für therapeutische Zwecke verwendet werden kann.222 Vielmehr müsse dem Erzeugnis tatsächlich die Funktion der Heilung, Linderung oder Verhütung von Krankheiten oder krankhaften Beschwerden zukommen. Die Möglichkeit, Entzugssymptome zu lindern, rechtfertige nicht die Annahme einer arzneilichen Zweckbestimmung, weil die Aufnahme und Anreicherung von Nikotin der Gesundheit schade.223 bb) BGH, Urteil vom 23. 12. 2015 – 2 StR 525/13 Unter Berufung auf das Urteil des EuGH sprach auch der BGH nikotinhaltigen Verbrauchsstoffen für elektronische Zigaretten die Arzneimitteleigenschaft ab, da es sich lediglich um Genussmittel handele, bei dem physiologisch keine Besserung des Gesundheitszustands, sondern eine der Gesundheit abträgliche Aufnahme von Nikotin erfolge. Funktionsarzneimittel seien in Anlehnung an die dargestellte Entscheidung des EuGH nur solche Stoffe, die „sich unmittelbar oder wenigstens
220 BVerwG PharmR 2015, 249 (amtl. Leitsatz). Siehe ebenso: OVG Berlin-Brandenburg PharmR 2015, 405 (408 ff.); BGH PharmR 2016, 86 (87 f.); Weber, § 2 AMG Rn. 52. 221 BVerwG PharmR 2015, 249 (252). 222 BVerwG PharmR 2015, 249. 223 BVerwG PharmR 2015, 249 (252).
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mittelbar positiv (…) und nicht ausschließlich nachteilig auf die Gesundheit auswirken“. cc) OVG Münster, Beschluss vom 27. 01. 2015 – 13 A 1872/14 Das OVG Münster betont, dass der Nachweis der therapeutischen Wirksamkeit keine Voraussetzung der Kategorisierung als Funktionsarzneimittel sei. Es ist der Ansicht, dass der EuGH-Rechtsprechung nicht entnommen werden kann, dass die therapeutische Wirksamkeit nachgewiesen sein muss.224 Vielmehr sollen aus dem Arzneimittelbegriff Erzeugnisse ausgeschlossen werden, deren Einfluss auf die körperlichen Funktionen für den menschlichen Organismus nachteilig sind. „Fehlt die Eignung, therapeutische Zwecke zu erfüllen, so ist nicht ausgeschlossen, dass es sich dennoch um ein Funktionsarzneimittel handelt.“225 dd) OVG Niedersachsen, Urteil vom 02. 11. 2017 – 13 LB 31/14 Der Ansicht des OVG Münster schloss sich das OVG Niedersachsen im Rahmen der Einordnung von Ginkgo-Kapseln an. Fehle die therapeutische Wirksamkeit, so sei nicht von vornherein ausgeschlossen, dass es sich dennoch um ein Funktionsarzneimittel handele. Gegenteiliges, so betont das OVG Niedersachsen, vermöge der Senat entgegen der Auffassung der Klägerin der Rechtsprechung des EuGH nicht zu entnehmen.226 ee) VG Köln, Urteil vom 22. 05. 2018 – 7 K 6802/16 Dem folgend betont das VG Köln,227 dass die Wirkung bei Kranken, also ein Nachweis der therapeutischen Wirksamkeit, keine Voraussetzung für die Einstufung als Funktionsarzneimittel sei. Die nachgewiesene therapeutische Wirksamkeit berechtige zwar im Wege eines Erst-Recht-Schlusses zur Annahme einer pharmakologischen Wirkung; sie sei aber kein notwendiges Element pharmakologischer Wirkung. Auch wenn die Eignung, therapeutische Zwecke zu erfüllen, fehle, sei nicht ausgeschlossen, dass es sich dennoch um ein Funktionsarzneimittel handele. Mithin sei nicht jedes therapeutisch unterdosierte Arzneimittel ein Lebensmittel. Unter Bezugnahme auf das Urteil des EuGH vom 10. 07. 2014 stellt das Gericht fest, dass das Vorliegen einer Krankheit weiterhin nicht erforderlich sei. Aus dem Arzneimittelbegriff ausgeschlossen werden müssten – nach dem Urteil des EuGH – nur
224 225 226 227
OVG Münster PharmR 2015, 142 (144). OVG Münster PharmR 2015, 142 (144). OVG Niedersachsen PharmR 2018, 24 (30). VG Köln, PharmR 2018, 418 ff.
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gesundheitsschädliche Stoffe, wie etwa Drogen, die konsumiert werden, um einen Rauschzustand hervorzurufen.228 ff) OLG Köln, Beschluss vom 01. 09. 2015 – 1 RVs 131 und 136/15 Nicht eindeutig äußert sich das OLG Köln.229 Es beruft sich ausdrücklich auf die Entscheidung des EuGH und sieht in dieser Entscheidung eine Entsprechung mit den im Rahmen der Abgrenzung von Arzneimitteln und Lebensmitteln definierten Kriterien des BVerwG.230 Die gesundheitsfördernde Wirkung wird insoweit als Merkmal der pharmakologischen Wirkung eingestuft. Hinsichtlich des Erfordernisses des wissenschaftlichen Nachweises beruft es sich auf die vom BVerwG zur pharmakologischen Wirkung getroffenen Aussagen. Es sei zwar kein positiver Wirksamkeitsnachweis erforderlich, wie er Voraussetzung einer Arzneimittelzulassung ist; es müsse aber zumindest ein halbwegs gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisstand vorliegen, der einen tragfähigen Rückschluss auf die Wirkungen des Produkts erlaube. Das OLG Köln hatte zu entscheiden, ob der Stoff Mitragynin, der als „Badezusatz für Fußbäder“ deklariert und verkauft wurde, als Arzneimittel einzustufen ist. Es handelt sich bei diesem Stoff um Extrakte der psychoaktiv wirksamen Pflanze Kratom, die als Droge verwendet werden kann. Die Besonderheit dieses Falles besteht darin, dass der Stoff in den Herkunftsländern (Malaysia und Thailand) hauptsächlich gegen Schmerzen, Durchfall und Husten angewendet wird. Einem Sachverständigengutachten zufolge besitzt das Produkt eine Eignung zum Berauschen und eine Eignung zum Therapeutikum. Die Vorinstanz hatte deshalb entschieden, dass das Produkt im Einklang mit dem Urteil des EuGH vom 10. 07. 2014 als Arzneimittel einzustufen sei, da es objektiv (in den Herkunftsländern) zu therapeutischen Zwecken eingesetzt werde. Solange Mytragynin objektiv bei bestimmten Erkrankungen auch therapeutische Wirkung habe, müsse es unabhängig davon, ob es als Therapiemittel in unserem Kulturkreis Anwendung finde, als Arzneimittel eingestuft werden.231 Dem widersprach das OLG Köln. Es berief sich ebenfalls auf das Urteil des EuGH und führte aus, dass der streitgegenständliche Stoff in unserem Kulturkreis nicht medizinisch, sondern als Psychostimulans verwendet werde. Der Umstand, dass die Substanz in Ländern mit unterentwickelter medizinischer Versorgung gegen Erkrankungen tatsächlich eingesetzt werde, sei nicht geeignet, die Arzneimitteleigenschaft zu begründen.232 Anschließend betonte das Gericht, dass das Produkt auch nicht mit der Absicht einer therapeutischen Verwendung durch den Angeklagten in den Verkehr gebracht und vom Abnehmer auch nicht deshalb erworben wurde. Es sei nicht darauf abzustellen, ob ein Stoff zu bestimmten Zwecken eingesetzt werde, sondern nur darauf, ob dies auch mit thera228 229 230 231 232
VG Köln, PharmR 2018, 418 (421). OLG Köln PharmR 2016, 46 (47 f.). BVerwG PharmR 2008, 254. OLG Köln PharmR 2016, 46 (47). OLG Köln PharmR 2016, 46 (48).
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peutischem Erfolg geschehe. Das OLG Köln stellt also nicht auf die Eignung des Stoffes zu therapeutischen Zwecken, sondern auf die im konkreten Einzelfall vorliegende Zweckbestimmung des Herstellers, des Konsumenten und den therapeutischen Erfolg ab. gg) Landgericht Hildesheim, Urteil vom 27. 10. 2017 – 14 Js 10671/14 Das Landgericht Hildesheim hat einen Angeklagten u. a. wegen fahrlässigem Inverkehrbringen von bedenklichen Arzneimitteln wegen des Verkaufs von zur oralen Einnahme vertriebenen Präparaten auf Basis von Natriumchlorit oder Calciumhydrochlorit, das eigentlich der Desinfektion von Trinkwasser dient, das von dem Angeklagten jedoch als „Medikament“, „zur Behandlung“ von Infektionskrankheiten verkauft wurde, verurteilt.233 Das Landgericht verneinte die Funktionsarzneimitteleigenschaft, da die Präparate nicht geeignet seien, der menschlichen Gesundheit unmittelbar oder auch nur mittelbar zuträglich zu sein. Es läge jedoch – so das Landgericht – ein Präsentationsarzneimittel vor. Hierfür spreche u. a. die Darreichungsform und die Bezeichnung als „Medikament“. Das Gericht hat demnach die Funktionsarzneimitteleigenschaft mangels wissenschaftlichen Nachweises einer gesundheitsfördernden Wirkung abgelehnt und diese auch nicht unter Bezugnahme auf die Zweckbestimmung des Herstellers/Verkäufers, die auf die Heilung von Krankheiten gerichtet war, angenommen. Vielmehr wurde diese Zweckbestimmung als entscheidendes Kriterium für die Einordnung als Präsentationsarzneimittel genutzt. hh) BGH, Urteil vom 27. 11. 2019 – 3 StR 233/19 Der BGH hat in einer Entscheidung vom 27. 11. 2019 Anabolika als Arzneimittel im Sinne § 2 AMG eingestuft.234 Die Anabolika dienten, so der BGH, dazu, im Zusammenhang mit Kraftsport einen Zugewinn an Muskelmasse zu fördern, mithin die physiologischen Funktionen zu beeinflussen. Hierzu führt der BGH aus: „Diese Beeinflussung wurde jedenfalls von den Verbrauchern, aber grundsätzlich – von den damit einhergehenden Nebenwirkungen abgesehen – auch darüber hinaus als positiv bewertet. Die Stoffe sind danach geeignet, der menschlichen Gesundheit zuträglich zu sein. Dass mit vorteilhaften Auswirkungen Nebenwirkungen einhergehen, die im Ergebnis einen positiven Gesamtnutzen in Frage stellen können, ist für Arzneimittel typisch und kein Grund, die Arzneimitteleigenschaft zu verneinen.“
233 234
LG Hildesheim PharmR 2018, 208. BGH PharmR 2020, 152.
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ii) Bewertung Die nach der Entscheidung des EuGH ergangenen Urteile verdeutlichen Folgendes. Neben der Frage der Reichweite des vom EuGH aufgestellten Kriteriums – der Rechtsprechung sind hier keine übereinstimmenden Aussagen zu entnehmen – ist nicht klar, ob für das Merkmal der Gesundheitszuträglichkeit die (wissenschaftlich nachgewiesene) Wirkung, die Eignung oder aber die Zweckbestimmung (des Hersteller oder aber des Verbrauchers) entscheidend ist. Wie bereits im Rahmen der Darstellung des Begriffs der pharmakologischen Wirkung ausgeführt, setzt sich hier eine dem Arzneimittelbegriff generell anhaftende Problematik, nämlich die Frage der relevanten Perspektive, fort. Der EuGH hat diese bereits dargestellte Unsicherheit durch das Urteil vom 10. 07. 2014 nicht nur nicht beseitigt, sondern verschärft, indem er in dem Urteil sowohl auf die Wirkung als auch auf die Eignung und die Zweckbestimmung abstellt. Denn nach dem EuGH sind Stoffe nicht erfasst, deren Wirkung sich auf eine schlichte Beeinflussung der physiologischen Funktionen beschränke, ohne dass sie geeignet sind, der menschlichen Gesundheit unmittelbar oder mittelbar zuträglich zu sein, die nur konsumiert werden, um einen Rauschzustand hervorzurufen, und dabei gesundheitsschädlich sind. Da die Begriffe Wirkung und Eignung auf eine objektive Betrachtungsweise hindeuten und der Begriff „Eignung“ – anders als der der Wirkung – auch eine gewisse Abstraktheit, also eine Beurteilung losgelöst von dem Verwendungszweck im Einzelfall und des konkreten wissenschaftlichen Nachweises, erkennen lässt, ist es verwunderlich und trägt nicht zur Eindeutigkeit der Aussagen des EuGH bei, dass er später auf die Zweckbestimmung der Konsumenten abstellt. Diese nicht eindeutige Formulierung führt wenig verwunderlich zu erheblich unterschiedlichen Interpretationen des Urteils. Insbesondere die Entscheidung des BGH vom 27. 11. 2019 bzgl. der Einordnung von Anabolika verdeutlicht, wie man – ergebnisorientiert – bei der Frage der gesundheitsfördernden Wirkung unter Ausklammerung der bestehenden Nebenwirkungen auf die subjektiv durch die Konsumenten angestrebte Wirkung abstellt. Mit dieser Argumentation ließen sich auch Rauschmittel dem Arzneimittelbegriff zuordnen. Stellt man, wie es das BVerwG tut, auf eine nach objektiv-wissenschaftlichen Kriterien vorliegende gesundheitsfördernde Eignung ab,235 führt dies dazu, dass man sich – insbesondere wenn man das nach dem EuGH in seiner früheren Rechtsprechung ebenfalls für wichtig befundene Kriterium der Gesundheitsgefahr, dem von den nationalen Gerichten teilweise eine entscheidende Bedeutung beigemessen wird, berücksichtigt – in einen Prozess der Abwägung des Risiko-Nutzen-Verhältnisses begibt. Es stellt sich die Frage, ob ein Produkt bereits dadurch, dass die Risiken gegenüber den Nutzen überwiegen, die Arzneimitteleigenschaft verlieren kann. Es kann damit die Frage aufgeworfen werden, ob bedenkliche Arzneimittel im Sinne des § 5 AMG dann überhaupt noch Arzneimittel sind. Denn bedenklich ist nach § 5 Abs. 2 AMG ein Arzneimittel, bei dem nach dem jeweiligen Stand der wissen235 Was nach der hier vertretenen Ansicht im Rahmen des Funktionsarzneimittelbegriffs die richtige Vorgehensweise ist.
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schaftlichen Erkenntnisse der begründete Verdacht besteht, dass es bei bestimmungsgemäßem Gebrauch schädliche Wirkungen hat, die über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgehen. Es ist zumindest fraglich, ob ein solches Produkt dem Funktionieren des menschlichen Körpers zuträglich sein kann, so wie es der EuGH fordert.236 In diesem Zusammenhang sei auch nochmals darauf hingewiesen, dass die Gesundheitsgefahr bislang vom EuGH als wichtiges Indiz für die Arzneimitteleigenschaft gewertet wurde. Ihm folgend haben die nationalen Gerichte diesem Merkmal zum Teil sogar eine über die vom EuGH vorgegebene entscheidende Bedeutung beimessen.237 Die insoweit notwendig erscheinende Abwägung zwischen den Risiken und den Nutzen ist jedoch nach § 25 Abs. 2 Nr. 5 AMG entscheidend für die Frage der Zulassung von Arzneimitteln, nicht aber für die Einstufung als Arzneimittel. Nach § 25 Abs. 2 Nr. 4 AMG ist einem Arzneimittel die Zulassung zu versagen, wenn die vom Antragsteller angegebene therapeutische Wirksamkeit fehlt. Nach der Rechtsprechung des EuGH würde es sich bei solchen Produkten – zumindest wenn man nicht die Perspektive hin zur Zweckbestimmung wechselt – schon nicht um ein Arzneimittel handeln.238 b) Literatur aa) Ansichten in der Literatur Die Entscheidung des EuGH vom 10. 07. 2014 wird in der Literatur hauptsächlich im Hinblick auf die Problematik diskutiert, dass klassisch als Arzneimittel eingestuften Produkte, wie Dopingmittel, empfängnisverhütende und schwangerschaftsunterbrechende Mittel, Produkte zum Abstillen, zur Beruhigung, zur Konzentrationssteigerung, gegen die natürlichen Folgen des Alterns und Anästhetika, aber auch Psychopharmaka – soweit sie nicht zur Beseitigung oder Linderung krankhafter psychischer Störungen eingesetzt werden, also insbesondere Neuroleptika, Psychotonika und Psychotomemetika –239 nicht mehr ohne weiteres als Arzneimittel eingestuft werden können.240 Es werden verschiedene Ansätze vertreten, wie man unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH die soeben genannten Produkte dennoch dem Arzneimittelbegriff unterwerfen kann. Die Argumente in der 236
Vgl. Patzak/Volkmer/Ewald, NStZ 2014, 463 (464). BGH PharmR 2011, 299 (301); BVerwG PharmR 2020, 202 (206). 238 Mit vergleichbarer Begründung hat auch das OVG Münster die Forderung nach einer objektiv zu bestimmenden therapeutischen Wirksamkeit abgelehnt: PharmR 2015, 142 (144); siehe auch VG Köln PharmR 2018, 418 (421); kritisch insoweit auch Pabel, A&R 2014, 182 (184). 239 Doepner, PharmR 2018, 116 (122), der darauf hinweist, dass aus Art. 88 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83/EG der Schluss gezogen werden kann, dass der europäische Gesetzgeber Psychopharmaka unabhängig von der Eignung der Heilung oder Linderung psychischer Krankheiten als Arzneimittel einstufen wollte. 240 Patzak/Volkmer/Ewald, NStZ 2014, 463 (464); Dettling/Böhnke, PharmR 2014, 342; Doepner, PharmR 2018, 116. 237
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Literatur ähneln insoweit denen des BGH in seinem Vorlagebeschluss an den EuGH. Dieser führt dort aus, dass orale Kontrazeptiva ungeachtet der dem EuGH vorgelegten Frage als Arzneimittel einzuordnen seien, da diese sich mit Blick auf das ihnen zugrundeliegende Konzept nur geringfügig von therapeutisch wirksamen Arzneimitteln unterscheiden und anerkanntermaßen einen von der Frau unerwünschten körperlichen Zustand – die Schwangerschaft – verhindern sollen.241 Vergleichbar argumentiert auch Rennert, der auf die Beseitigung körperlich unerwünschter Zustände abstellt, dabei aber sogleich einräumt, dass es unklar sei, wie weit das reiche.242 Müller räumt ein, dass es einige wenige Gruppen von Arzneimitteln gebe, die gerade nicht durch eine unmittelbar therapeutische oder prophylaktische Zweckbestimmung gekennzeichnet seien, wie bspw. orale Kontrazeptiva oder Anästhetika. Deren Einbeziehung in den Regulierungsbereich des AMG aufgrund ihrer vom Normalfall eines Arzneimittels nur geringfügig abweichenden Konzeption und Zwecksetzung sei jedoch sachlich gerechtfertigt.243 Voit geht bei Ovulationshemmern ohne nähere Begründung von einem therapeutischen Nutzen aus, „auch wenn aus Sicht des nicht erzeugten Kindes die Wirkung des Arzneimittels ausschließlich negativ ist“.244 Der Begriff der therapeutischen Zielsetzung sei weit zu fassen. In diese Richtung argumentieren auch Dettling und Böhnke, die im Hinblick auf die vom EuGH geforderte positive Wirkung auf eine objektiv oder subjektiv erwünschte Veränderung der Körperfunktionen abstellen.245 Duttge und Waschkewitz sprechen in diesem Zusammenhang von dem Merkmal des Erfordernisses einer objektiven, d. h. von der professionellen wie gesamtgesellschaftlichen Akzeptanz getragenen, „(Mindest-)Vernünftigkeit“.246 Um die Arzneimitteleigenschaft zu begründen wird in der Literatur also – ergebnisorientiert – entweder auf das mit therapeutisch wirksamen Arzneimittel vergleichbare Konzept verwiesen oder aber gefordert, das Merkmal der gesundheitsfördernde Wirkung auch nach subjektiven Maßstäben – einzelfallorientiert – weit auszulegen. Einen anderen Lösungsansatz vertritt Og˘ lakcıog˘ lu.247 Er ist der Ansicht, der Leitsatz der Entscheidung des EuGH vom 10. 07. 2014 sei mit Vorsicht zu genießen und bedürfe der Konkretisierung. Insoweit schlägt er vor, entscheidend auf die subjektive Zweckwidmung durch den Konsumenten abzustellen. Erst diese könne den Weg zum Funktionsarzneimittelbegriff eröffnen. Gleichzeitig will er das Augenmerk nicht auf das positive Abgrenzungskriterium der „gesundheitsfördernden Wirkung“ legen. Vielmehr sei es entscheidend, im Sinne eines negativen Abgrenzungskriteriums danach zu fragen, ob der Verbraucher das Produkt nur zu 241 242 243 244 245 246 247
BGH PharmR 2013, 379 (382); so ähnlich auch OVG Münster PharmR 2013, 493 (499). Rennert, NVwZ 2008, 1179 (1181), der dies jedoch auch kritisch hinterfragt. Müller, PharmR 2012, 137 (139). Voit, PharmR 2012, 241 (244). Dettling/Böhnke, PharmR 2014, 342. Duttge/Waschkewitz, in: FS Rösser (2015), S. 737 und 742. Og˘ lakcıog˘ lu, StV 2015, 166 ff.
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Rauschzwecken konsumiere. Als einschränkendes Kriterium für den Arzneimittel begriff sei die Absicht des Konsumenten zu fordern, das Mittel aufgrund einer bestimmten Funktion konsumieren zu wollen, deren Funktionieren durch die Vorschriften des Arzneimittelrechts gewährleistet werde. bb) Bewertung Bei den in der Literatur vertretenen Ansichten stellt sich die Frage, wie die Kriterien „vergleichbares/geringfügig abweichendes Konzept“ und „subjektiv unerwünschte Zustände“ verallgemeinerungsfähig zu bestimmen sind. Zudem müsste man zumindest unter Berücksichtigung des zweiten Kriteriums zu dem Ergebnis gelangen, dass „legal high“ Produkte, wenn sie – wie oftmals der Fall – zu Entspannungszwecken konsumiert werden, ebenfalls als Arzneimittel einzustufen wären. Eine solche Ausdehnung des Merkmals der Gesundheitszuträglichkeit auf subjektive Empfindungen scheint zudem – wie bereits dargestellt – vom EuGH nicht gewollt. Gegen die von Og˘ lakcıog˘ lu vorgeschlagene Lösung, den Arzneimittelbegriff durch die subjektive Zweckbestimmung des Konsumenten einzuschränken, spricht Folgendes. Nicht ohne Grund wurde bislang, soweit unter den engen Voraussetzungen überhaupt zulässig,248 nur auf die subjektive Zweckbestimmung des Herstellers und nicht auf die des Konsumenten abgestellt. Ein Abstellen auf die subjektive Zweckwidmung des Verbrauchers bzw. Konsumenten hätte zur Folge, dass ein und dasselbe Produkt in einem Fall als Arzneimittel und in einem anderen nicht als ein solches zu bewerten wäre bzw. seine einmal vorhandene Arzneimitteleigenschaft wieder verlieren könnte. So würden beispielsweise Schmerztabletten ihre Funktionsarzneimitteleigenschaft dadurch verlieren, dass der Konsument sie nicht als Mittel gegen Kopfschmerzen, sondern aus Suchtgründen zu sich nimmt. Gerade unter Berücksichtigung der Tatsache, dass zum Beispiel das Herstellen von Arzneimitteln entgegen gewissen verwaltungsrechtlichen Normen strafbar ist, ist es nicht möglich, die Einordnung als Arzneimittel von der Zweckwidmung des Verbrauchers abhängig zu machen. Soweit Og˘ lakcıog˘ lu darauf hinweist, dass die subjektive Vorstellung („das wird mir gut tun“) leichter nachweisbar sei als die objektive Tatsache, dass die Substanz auch „gut tut/funktioniert“,249 wird zunächst deutlich, dass seine Lösung der Behebung von Beweisfragen, nicht jedoch der Bestimmtheit der Norm dienen soll. Unabhängig davon stellt sich die Frage, wie ein solcher Nachweis im Rahmen der Strafbarkeit der Herstellung von Arzneimitteln geführt werden soll. Kommt man zu dem logischen Ergebnis, dass dies nicht möglich ist, so hätte dies zur Folge, dass für den Hersteller ein weiterer – nur nach abstrakt-objektiven Kriterien zu bestimmender – Arzneimittelbegriff gelten würde, als für den 248 Voraussetzung ist das Fehlen einer Verkehrsauffassung bei neuartigen bzw. ambivalent verwendbaren Produkten (sog. „dual use“). In diesen Fällen darf nach der Rechtsprechung die subjektive Zweckbestimmung des Herstellers ausschließlich als einschränkendes Kriterium herangezogen werden. 249 Og˘ lakcıog˘ lu, StV 2015, 166 (167).
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Konsumenten bzw. den Verkäufer. Für diesen könnte unter Umständen das Ausschlusskriterium greifen, während es für den Hersteller nicht gilt. Auch das Abstellen auf eine abstrakt zu beurteilende Zweckwidmung des Konsumenten hilft hier nicht weiter, da oftmals zum Zeitpunkt der Herstellung – gerade bei den hier in Frage stehenden Produkten mit ambivalenten Einsetzungsmöglichkeiten (sog. „dual use“ Produkte) – nicht feststeht, mit welcher Zweckwidmung das Produkt von dem Konsumenten tatsächlich eingesetzt wird. c) Zwischenergebnis Das Urteil des EuGH vom 10. 07. 2014 schränkt den Funktionsarzneimittelbegriff zwar ein. Die Analyse hat jedoch gezeigt, dass die einschränkenden Kriterien vom EuGH sehr ungenau beschrieben wurden, sodass sich verallgemeinerungsfähige Aussagen nicht herleiten lassen, ohne zahlreichen klassischen Arzneimitteln die Arzneimitteleigenschaft abzusprechen. Sowohl in der Rechtsprechung als auch in der Literatur wird im Anschluss an die Entscheidung der Versuch unternommen, das EuGH-Urteil dahingehend auszulegen, dass einzelfallorientiert ein vertretbares Ergebnis erlangt wird. Dies geschieht entweder durch einen Perspektivwechsel oder durch eine extreme Ausweitung des Merkmals „gesundheitsfördernd“. 6. Alternativer Lösungsansatz: Einschränkung des Funktionsarzneimittelbegriffs durch den Präsentationsarzneimittelbegriff? Eine bislang weder in der Rechtsprechung noch in der Literatur vorgeschlagener Ansatz, Rauschmittel dem Arzneimittelbegriff zu entziehen, ohne den Begriff „Beeinflussen“ mit fragwürdiger Argumentation einzuschränken, könnte darin liegen den Funktionsarzneimittelbegriff in gewissen Konstellationen durch die Kriterien des Präsentationsarzneimittels zu begrenzen oder anders ausgedrückt, in gewissen Abgrenzungskonstellationen nur auf den Präsentationsarzneimittelbegriff abzustellen. Würde man so vorgehen, ließe sich die Frage nach der Reichweite des Merkmals der Gesundheitszuträglichkeit genauso beantworten wie die nach der relevanten Perspektive. Bei gewissen Produkten läge die Arzneimitteleigenschaft dann nicht vor, wenn nicht neben den Voraussetzungen des Funktionsarzneimittelbegriffs auch gleichzeitig die Voraussetzungen des Präsentationsarzneimittels erfüllt wären, das Produkt also nach der Verkehrsauffassung zur Heilung, Linderung oder Verhütung von Krankheiten oder krankhaften Beschwerden bestimmt ist. Bei der Frage der relevanten Perspektive und der Reichweite könnte man sich damit an den zum Präsentationsarzneimittelbegriff entwickelten Kriterien orientieren. Dass diese Möglichkeit bislang weder in der Rechtsprechung noch in der Literatur ausdrücklich diskutiert wurde, verwundert gleich aus zwei Gründen. Zum einen kann das Urteil des EuGH vom 10. 07. 2014 in diese Richtung interpretiert werden, da der EuGH die gesundheitsfördernde Wirkung auch mit der Einheitlichkeit des Arzneimittelbegriffs
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begründet.250 Des Weiteren entspricht eine solche Vorgehensweise – die Einschränkung des einen Arzneimittelbegriffs durch den jeweils anderen – einer bereits jetzt praktizierten Abgrenzungsmethodik im Rahmen der Abgrenzung von Arzneimitteln zu Medizinprodukten. Denn Medizinprodukte und Arzneimittel unterscheiden sich lediglich in ihrer Funktionsweise, nicht aber in ihrer Zweckbestimmung. Auch Medizinprodukte haben den Zweck Krankheiten oder krankhafte Beschwerden zu heilen, zu lindern oder zu verhüten. Um dennoch nicht jedes Medizinprodukt über den Präsentationsarzneimittelbegriff als Arzneimittel einordnen zu müssen, wird die Ansicht vertreten, einen Stoff nur dann als Medizinprodukt einzuordnen, wenn neben den Voraussetzungen des Präsentationsarzneimittelbegriffs die Voraussetzungen des Funktionsarzneimittelbegriffs vorliegen.251 Auch dies wird als Folge des einheitlich zu verstehenden Arzneimittelbegriffs dargestellt.252 Wenn aber bei Produkten, die sich in ihrer Zweckbestimmung nicht von anderen Mitteln unterscheiden (Medizinprodukten von Arzneimitteln), ausschließlich auf die Funktion des Produkts abzustellen sein soll, kann umgekehrt auch gefordert werden, bei Produkten, die sich in ihrer Funktion/Wirkung nicht von anderen Mitteln unterscheiden (Rauschmittel von Arzneimitteln haben jeweils eine pharmakologische Wirkung), ausschließlich auf die Zweckbestimmung des Produkts abzustellen.253 Darüber hinaus entspräche eine solche Vorgehensweise der vom EuGH entwickelten und praktizierten sog. Multifaktortheorie. Denn wie bereits dargestellt wurde, sind die im Rahmen der Multifaktortheorie entwickelten Kriterien nach der hier vertretenen Ansicht solche des Präsentationsarzneimittelbegriffs, die in dieser Konstellation dann – so wie es das BVerwG beschreibt „ergänzend – gleichsam als Korrektiv (d. h. nur einschränkend, nicht jedoch zur Begründung der Arzneimitteleigenschaft) – heranzuziehen“ wären.254 Sowohl die Multifaktortheorie als auch die Entscheidung des EuGH vom 10. 07. 2014 werden über die Einheitlichkeit des Arzneimittelbegriffs hergeleitet. Die Vorteile dieser Lösung bestünden darin, dass man sich nicht in einen Abwägungsprozess zwischen Wirksamkeit und Schädlichkeit und damit in den für die Zulassung von Arzneimitteln relevanten Bereich begeben würde. Zudem handelt es sich bei der Verkehrsauffassung um ein abstrakt von der Zweckbestimmung des Konsumenten im Einzelfall zu bestimmendes Merkmal. Voraussetzung einer solchen Lösung wäre jedoch, dass zwischen dem Präsentations250
Siehe Kapitel 1 B. III. 4. b). Der EuGH führt aus, dass trotz der Trennung der beiden Bestimmungen der Richtlinie 2001/83/EG (Präsentations- und Funktionsarzneimittelbegriff) durch das Wort „oder“ nicht davon ausgegangen werden könne, dass sie in keiner Beziehung zueinanderstehen. Sie müssen daher in Verbindung miteinander gelesen werden. 251 Kloesel/Cyran, § 2 Anm. 158a; Voit, PharmR 2010, 501 (502 ff.); Natz, PharmR 2010, 40 (42); OVG NRW PharmR 2010, 342 mit zust. Anm. Czettritz. 252 Vgl. Zumdick, PharmR 2012, 184 (196 f.); Wudy, PharmR 2011, 156 (157 f.) Czettritz, PharmR 2010, 344 f., 475 f.; Czettritz/Strelow, MPR 2010, 1 (2 ff.); Fulda, MPJ 2010, 94 (98 f.); Hüttebräuker/Thiele, MPR 2010, 109 (112); in diese Richtung auch Schneider, PharmR 2010, 291 (292 f.) und Bruggmann, PharmR 2010, 97 (100). 253 In diese Richtung bei Vitaminpräparaten siehe Kügel/Müller/Hofmann, § 2 Rn. 107. 254 BVerwG PharmR 2009, 397 (399), siehe Kapitel 1 A. IV. 2.
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Kap. 1: Der Arzneimittelbegriff
und Funktionsarzneimittel tatsächlich eine Kohärenz besteht. Es gilt also zu prüfen, ob dies der Fall ist, ob die Möglichkeit der Einschränkung des Funktionsarzneimittelbegriffs durch den Präsentationsarzneimittelbegriff also aus der historischen Entwicklung des Arzneimittelbegriffs hergeleitet werden kann und dem Willen des Gesetzgebers entspricht. Oder aber, ob die Notwendigkeit bei bestimmten Produkten nur auf einen der beiden Arzneimittelbegriffe abzustellen – bzw. den einen durch den anderen einzuschränken – nicht vielmehr Ausdruck einer fehlenden Systematik und Konkretisierung der Arzneimitteldefinition ist und letztlich erneut die Möglichkeit einer rein ergebnisorientierten, einzelfallbezogenen Einstufung eröffnen soll. Soweit gegen eine Kohärenz des Arzneimittelbegriffs in der Literatur teilweise angeführt wird, dass sie keine Einbahnstraße sein könne und vice versa auch die Kriterien des Funktionsarzneimittelbegriffs denen des Präsentationsarzneimittelbegriffs hinzugedacht werden müssen,255 konnte bereits aufgezeigt werden, dass dies bei der Abgrenzung von Arzneimitteln und Medizinprodukten geschieht. Dennoch ist ein solches Verständnis nicht überzeugend. Zunächst kann – wie bereits ausgeführt wurde – auf den Wortlaut abgestellt werden. Die Begriffe des Präsentations- und Funktionsarzneimittels sind durch die Worte „oder“ voneinander getrennt, was auf eine klare Trennung der Begriffe hindeutet. Soweit der EuGH zur Begründung der Einheitlichkeit der Begriffe in der Entscheidung vom 10. 07. 2014 auf seine frühere Rechtsprechung verweist,256 ist zu beachten, dass zu diesem Zeitpunkt die beiden Begriffe nicht durch das Wort „oder“ getrennt waren. Denn erst durch die Änderungsrichtlinie 2004/27/EG wurde das Wort „oder“ eingefügt. Der EuGH bezieht sich auf das „Upjohn-Urteil“257, das wiederum auf das „van Bennekom-Urteil“258 verweist. Rechtsgrundlage war damals die Richtlinie 65/65/EWG, die eine mit der heutigen Rechtslage vergleichbare Unterscheidung zwischen Präsentationsarzneimittel und Funktionsarzneimittel nicht vorsah. Hinzu tritt, dass der Verweis des EuGH auf seine früherer Rechtsprechung als Begründung für eine derartige Kohärenz nicht überzeugt, da sich den vom EuGH zitierten früheren Entscheidungen des EuGH eine derartige Aussage gerade nicht entnehmen lässt. Das „Upjohn-Urteil“ stellt nur fest, dass ein Stoff, der zwar im Sinne der ersten Gemeinschaftsdefinition (Art. 1 Nr. 2 Alt. 1 der Richtlinie 65/65/EWG) ein Mittel zur Heilung oder zur Verhütung menschlicher oder tierischer Krankheiten ist, jedoch nicht als solches präsentiert wird, grundsätzlich in den Anwendungsbereich der zweiten Gemeinschaftsdefinition fällt,259 also dazu bestimmt sein kann, am menschlichen Körper zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der menschlichen Körperfunktionen angewendet zu werden. In dem Urteil heißt es: „Diese beiden Definitionen
255
Pabel, A&R 2014, 178 (182). Siehe Kapitel 1 B. III. 4. b); EuGH ParmR 2014, 347 (Rn. 29). 257 EuGH BeckRS 2004, 74146. 258 EuGH BeckRS 2004, 74146 (Rn. 18) mit Verweis auf Rn. 22 des „van Bennekom“ Urteils (EuGH BeckRS 2004, 72425). 259 EuGH BeckRS 2004, 74146 (Rn. 27). 256
B. Ausgewählte Probleme bei der Anwendung der Kriterien des § 2 AMG
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können jedoch nicht als streng voneinander getrennt gesehen werden.“260 Wie in dem genannten Urteil vom 30. November 1983 festgestellt wurde, fällt ein Stoff, der zwar im Sinne der ersten Gemeinschaftsdefinition ein „Mittel zur Heilung oder zur Verhütung menschlicher oder tierischer Krankheiten“ ist, jedoch nicht als solches bezeichnet wird, in den Geltungsbereich der zweiten Gemeinschaftsdefinition des Arzneimittels. In den Anwendungsbereich dieser Definition fallen aber auch die Erzeugnisse, die die Körperfunktionen verändern, ohne dass eine Krankheit vorliegt, wie zum Beispiel Verhütungsmittel.261 Diesen Schilderungen des EuGH sind zwei Aussagen zu entnehmen. Zum einen die banale Aussage, dass jedes Mittel zur Heilung oder Verhütung von Krankheiten, das aber nicht als solches bezeichnet wird, eine – wohl auch pharmakologische (das war damals gesetzlich noch nicht geregelt) – Beeinflussung der Körperfunktionen bewirken kann. Die Aussage besagt also nur, dass ein therapeutisch wirksames Mittel, das nicht als solches präsentiert wird, ein Funktionsarzneimittel sein kann. Damit wird jedoch nur klargestellt, dass die therapeutische Wirksamkeit im Rahmen des Funktionsarzneimittelbegriffs – selbstverständlich – kein Ausschlusskriterium ist. Die zweite Aussage dreht den Spieß sozusagen um und besagt, dass nicht jedes Mittel, das die Körperfunktionen beeinflusst, ein Mittel zur Heilung oder Verhütung von Krankheiten sein muss. Diese Aussage ist nun aber durch das Urteil des EuGH vom 10. 07. 2014 in Frage gestellt. Auch dem „van Bennekom-Urteil“ ist im Hinblick auf das Verhältnis der Arzneimitteldefinitionen lediglich eine Aussage in diesem Sinne zu entnehmen.262 Damit kann den beiden Urteilen nicht mehr entnommen werden, als dass ein Erzeugnis, das nicht die Kriterien des Präsentationsarzneimittels erfüllt unter den Funktionsarzneimittelbegriff fallen kann263 und die Kriterien damit nicht im Gegensatz zueinander stehen.264 Dass jedoch die Kriterien des einen im Rahmen des anderen zu berücksichtigen sind oder diese gar einschränken, kann der Rechtsprechung des EuGH hingegen nicht entnommen werden. Der EuGH begründet also das Erfordernis einer gesundheitsfördernden Wirkung über die Einheitlichkeit des Arzneimittelbegriffs, die so nicht existiert. Er beruft sich auf zwei frühere Entscheidungen, denen nicht mehr entnommen werden kann, als dass die Kriterien des Funktionsarzneimittelbegriffs und des Präsentationsarzneimittelbegriffs nicht im Gegensatz zueinander stehen. Eine Einschränkung des Funktionsarzneimittelbegriffs durch die Kriterien des Präsentationsarzneimittelbegriffs kann nicht überzeugend begründet werden, ohne sich in Widerspruch mit der historischen Entwicklung des Arzneimittelbegriffs, dem Willen des Gesetzgebers und dem Wortlaut der Richtlinie 2001/83/EG zu setzen. Auch der Verweis auf die frühere Rechtsprechung des EuGH überzeugt nicht. 260 261 262 263 264
EuGH BeckRS 2004, 74146 (Rn. 18). EuGH BeckRS 2004, 74146 (Rn. 18 f.). EuGH BeckRS 2004, 72425 (Rn. 22). Vgl. Pabel, A&R 2014, 178 (182). So auch EuGH PharmR 2014, 347 (Rn. 29).
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Kap. 1: Der Arzneimittelbegriff
Vielmehr widerspricht ein solches Verständnis der ständigen Rechtsprechung des EuGH, nach der ein Erzeugnis ein Arzneimittel ist, wenn es unter die eine oder die andere der beiden Definitionen fällt.265 Unabhängig davon, dass sich eine Kohärenz – wie soeben festgestellt – nicht begründen lässt, bestünde ein weiteres Problem dieses alternativen Lösungsansatzes darin, dass die Kriterien des Präsentationsarzneimittels nicht in jedem Fall die des Funktionsarzneimittels einschränken würden, sondern diese Vorgehensweise nur zur Anwendung käme, wenn sich das betreffende Produkt zwischen zwei Produktkategorien bewegt, die jeweils die gleiche Wirkweise haben. In den relevanten Abgrenzungsfällen hinge also die Frage der Anwendung dieser einschränkenden Auslegung des Funktionsarzneimittelbegriffs von der Feststellung ab, dass beide Produktkategorien eine pharmakologische Wirkung haben. Dass eine solche Wirkung vorliegt, ist jedoch wegen der unterschiedlichen Interpretation des Begriffs nur schwer feststellbar, so dass es nicht sinnvoll erscheint, auch noch die Auswahl der Einstufungskriterien von diesem Begriff abhängig zu machen.
IV. Zwischenergebnis Die dargestellten Probleme bei der Einstufung von Produkten als Arzneimittel bzw. bei der Abgrenzung zu benachbarten Produktkategorien zeigen deutlich, wie uneinheitlich gewisse Einstufungskriterien nicht nur durch die Literatur, sondern insbesondere auch durch die Gerichte ausgelegt und angewendet werden. Betrachtet man die Ausführungen der Rechtsprechung und der Literatur, ist zu beobachten, dass sich die – zumeist verwaltungsrechtlich geprägten – Darstellungen zum Arzneimittelbegriff in erster Linie damit befassen, vom Ergebnis ausgehend, gewisse Produkte, die entweder historisch dem Arzneimittelbegriff zugeordnet wurden oder aber aus Sicht des jeweiligen Verfassers – oftmals aus Gründen des Gesundheitsschutzes – dem Arzneimittelbegriff zugeordnet werden sollen, unter die Definition subsumiert und hierfür die Kriterien des Begriffs so ausgelegt werden, dass das ihrer Meinung nach sachgerechte Ergebnis erzielt wird. Es wird jedoch regelmäßig nicht bedacht oder kommt erheblich zu kurz, dass der Arzneimittelbegriff ein Tatbestandsmerkmal für zahlreiche Strafvorschriften ist und damit am Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG zu messen ist. Im Folgenden sollen daher die Auslegungsprobleme aus Sicht des für das Strafrecht geltenden Bestimmtheitsgrundsatzes analysiert und bewertet werden. Hierfür werden zunächst der rechtliche Rahmen und insbesondere die – wenigen – Aussagen der Rechtsprechung und Literatur zur Bestimmtheit des Arzneimittelbegriffs dargestellt, um anschließend die bereits erörterten Auslegungsprobleme innerhalb dieses Rahmens bewerten zu können. Danach werden sowohl die Ursachen für die uneinheitliche Auslegung des
265 EuGH LMRR 1992, 54; Pabel, A&R 2014, 182 (184); vgl. auch Doepner, PharmR 2018, 116 (118 ff.), der ausdrücklich klarstellt, dass der Präsentations- und der Funktionsarzneimittelbegriff im Alternativverhältnis stehen.
C. Die Bestimmtheit des Arzneimittelbegriffs am Maßstab des Art. 103 Abs. 2 GG
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Arzneimittelbegriffs als auch die Auswirkungen des erzielten Ergebnisses beleuchtet sowie eine mögliche Regelungsalternative skizziert.
C. Die Bestimmtheit des Arzneimittelbegriffs am Maßstab des Art. 103 Abs. 2 GG I. Rechtlicher Rahmen 1. Kein Vorrang des Unionsrechts Der Begriff des Arzneimittels als Tatbestandsmerkmal der Strafvorschriften des AMG ist am Maßstab des Art. 103 Abs. 2 GG zu überprüfen. Selbst wenn man mit dem BVerfG anerkennt, dass an nationale Rechtsvorschriften nicht der Maßstab des Grundgesetzes, sondern – um die Wirksamkeit der Durchführung des Unionsrechts nicht zu beeinträchtigen – derjenige des Unionsrechts anzulegen ist, sobald es – wie hier der Fall – um die Umsetzung einer Richtlinie oder Verordnung in deutsches Recht geht,266 gilt vorliegend nichts anderes. Denn der Vorrang des Unionsrechts gilt nur dann, wenn die Richtlinie oder die Verordnung den Mitgliedstaaten keinen Umsetzungsspielraum lässt, also zwingende Vorgaben macht. Ein Umsetzungsspielraum liegt hier jedoch vor. Der EuGH selbst geht davon aus, dass der durch die Richtlinie 2001/83/EG definierte Arzneimittelbegriff – unabhängig von seiner strafrechtlichen Einbettung – den Mitgliedstaaten einen derartigen Umsetzungsspielraum lässt.267 Und selbst wenn man dies anders bewertet, bestünde ein Umsetzungsspielraum zumindest im Bereich der strafrechtlichen Sanktionsnormen, weil der Europäischen Union für diese Regelungsmaterie keine Rechtssetzungskompetenz zukommt.268 Zudem ordnen die arzneimittelrechtlichen Richtlinien selbst nicht an, dass strafrechtliche Sanktionen geschaffen werden müssen. Die in den Richtlinien genannten wenigen Sanktionsnormen sind offen formuliert und fordern lediglich allgemein „Sanktionen“. Solche können strafrechtlicher, aber auch verwaltungsrechtlicher oder zivilrechtlicher Natur sein. Deshalb ist es auch folgerichtig, dass das BVerfG den Arzneimittelbegriff am Maßstab des Art. 103 Abs. 2 GG überprüft hat.269
266 267
(125). 268 269
Vgl. zuletzt BVerfG NJW 2016, 3648 (3649); kritisch Risse, HRRS 2014, 93 ff. EuGH LMRR 1992, 54 (Rn. 43); EuGH PharmR 2008, 59 (62); PharmR 2009, 122 Vgl. hierzu Cornelius, NStZ 2017, 682 (683). BVerfG NJW 2006, 2684.
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Kap. 1: Der Arzneimittelbegriff
2. Der Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG Nach Art. 103 Abs. 2 GG kann eine Tat nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Der Wortlaut des § 1 StGB ist identisch. Nach § 3 OWiG gilt dieser Maßstab auch für Ordnungswidrigkeit. Das sich aus diesen Normen ergebende Gesetzlichkeitsprinzip („nulla poena sine lege“) enthält vier zentrale Verbürgungen. Das Verbot von Gewohnheitsrecht („nulla poena sine lege scripta“), das Analogieverbot („nulla poena sine lege stricta“), das Rückwirkungsverbot („nulla poena sine lege praevia“) sowie das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot („nulla poena sine lege certa“).270 Das Bestimmtheitsgebot als Ausprägung des Gesetzlichkeitsprinzips stellt einen das gesamte Strafrecht beherrschenden Grundsatz dar und wird insoweit als „herausragendes Rechtsprinzip“ bezeichnet.271 Es handelt sich um eine spezielle strafrechtliche Ausprägung des allgemeinen öffentlich-rechtlichen Bestimmtheitsgrundsatzes und ist damit Teil des sich aus Art. 20 Abs. 3 GG ergebenen Rechtsstaatsprinzips,272 als Ausfluss des Gebots der Rechtssicherheit, des Schutzes der persönlichen Freiheit und des Schutzes vor richterlicher Willkür.273 Es wird teilweise als grundrechtsgleiches bzw. -ähnliches Recht,274 teilweise als Prozessgrundrecht275 oder als echtes Grundrecht bezeichnet.276 Das Bestimmtheitsgebot besagt, dass es nicht ausreicht, dass zur Tatzeit überhaupt eine gesetzliche Strafbestimmung für die Tat vorhanden war. Vielmehr müssen auch die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret umschrieben sein, dass der einzelne die Möglichkeit hat, das durch die Strafnorm ausgesprochene Verbot eines bestimmten Verhaltens zu erkennen und die staatlichen Sanktionen im Fall der Übertretung vorherzusehen.277 Sowohl die Voraussetzungen des verbotenen Verhaltens als auch die Strafandrohung müssen demnach den Bestimmtheitsanforderungen genügen.278 Das Grundgesetz will auf diese Weise sicherstellen, dass jedermann sein Verhalten auf die Strafrechtslage eigenverantwortlich einrichten kann und keine unvorhersehbaren, willkürlichen staatlichen Reaktionen befürchten muss. Es kann jedoch auch nicht von der Hand gewiesen werden, dass eine Bestimmtheit nicht in der Form gefordert werden kann, dass nur eindeutige Begriffe verwendet werden. Zum einen ist dies in Anbetracht der Tatsache, dass selbst deskriptive 270
Die Formulierung ist zurückzuführen auf Feuerbach, Lehrbuch, S. 20. MK-StGB/Schmitz, § 1 Rn. 11. 272 Moll, Europäisches Strafrecht, S. 121. 273 MK-StGB/Schmitz, § 1 Rn. 9; LK-StGB/Dannecker/Schuhr, § 1 Rn. 52 ff.; Tiedemann, Tatbestandsfunktion, S. 194; Maunz/Dürig/Remmert, GG Art. 103 Abs. 2 Rn. 3; Papier/Möller, AöR 122, 177 (178 f.); Moll, Europäisches Strafrecht, S. 121 f.; Raabe, Bestimmtheitsgrundsatz, S. 13. 274 BVerfG NJW 1992, 890 (890); 2010, 754 (754); Maunz/Dürig/Remmert, GG Art. 103 Abs. 2 Rn. 1. 275 Maunz/Dürig/Schmidt-Aßmann, GG (Vorvorauflage) Art. 103 Abs. 2 Rn. 191. 276 Mangoldt/Klein/Starck/Nolte/Aust, GG Art. 103 Abs. 2 Rn. 10. 277 BVerfG NJW 1992, 890 (890). 278 BVerfG NJW 1972, 860 (862); 1992, 2947 (2948); 2016, 3648 (3649 f.). 271
C. Die Bestimmtheit des Arzneimittelbegriffs am Maßstab des Art. 103 Abs. 2 GG
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Merkmale nicht wertungsunabhängig sind, schon sprachlich nicht möglich. Zum anderen würden die Strafnormen – wie es das BVerfG regelmäßig betont – andernfalls zu starr und kasuistisch werden und könnten damit dem Wandel der Verhältnisse oder den Besonderheiten des Einzelfalls nicht mehr gerecht werden.279 Auf die Verwendung von Begriffen, die der Wertung des Richters bedürfen, kann also nicht verzichtet werden, da der Vielgestaltigkeit des Lebens Rechnung getragen werden muss.280 Strafvorschriften müssen einen abstrakt-generellen Charakter haben, da sie notwendigerweise eine Vielzahl von Sachverhalten erfassen müssen. Neben der soeben beschriebenen sogenannten verhaltensleitenden bzw. freiheitsgewährleistenden Funktion, bei der es um die Voraussehbarkeit des strafrechtlich relevanten Verhaltens geht, soll durch Art. 103 Abs. 2 GG zum anderen sichergestellt werden, dass der Gesetzgeber als unmittelbar vom Volk legitimiertes Verfassungsorgan selbst über die Strafbarkeit entscheidet.281 Aus dieser kompetenzwahrenden Funktion ergibt sich damit ein strenger Gesetzesvorbehalt, der es der Exekutive und Judikative grundsätzlich verwehrt, die Voraussetzungen der Strafbarkeit zu bestimmen.282 Der Bestimmtheitsgrundsatz wird insoweit als spezielle Ausprägung des allgemeinen rechtsstaatlichen Gesetzesvorbehaltes angesehen.283 Damit dient der Bestimmtheitsgrundsatz einem doppeltem Zweck.284 Sowohl über die Unmöglichkeit der absoluten Bestimmtheit als auch über die dem Bestimmtheitsgrundsatz zugeschriebenen Funktionen besteht weitestgehend Einigkeit. Welche Anforderungen jedoch an die Bestimmtheit zu stellen sind, um der verhaltensleitenden bzw. der kompetenzwahrenden Funktion des Bestimmtheitsgebots ausreichend Rechnung zu tragen, ist sehr umstritten. Die Rechtsprechung hat unter Berufung auf die oben dargestellt praktische Unmöglichkeit der absoluten Bestimmtheit und die akzeptierte Intension des Gesetzgebers, zukünftige Verhaltensweisen vom Anwendungsbereich eines Strafgesetzes zu erfassen, die zum Zeitpunkt des Erlasses nicht ersichtlich waren, zahlreiche Relativierungen im Hinblick auf die Bestimmtheitsanforderungen vorgenommen. So betont sie regelmäßig, dass die Anforderungen an den Bestimmtheitsgrundsatz nicht übersteigert werden dürfen.285 Die Rechtsvorschrift sei so genau zu fassen, wie dies nach der Eigenart der zu ordnenden Lebenssachverhalte mit Rücksicht auf den Normzweck möglich sei.286 Der Normadressat müsse grundsätzlich aus dem Wortlaut erkennen können, welches 279
BVerfG NJW 2010, 3209 (3210); NVwZ 2012, 504 (505); NJW 2016, 1251 (1256); 3648 (3650); 2018, 480 (483). 280 Schönke/Schröder/Hecker, § 1 Rn. 19 (m. w. N.). 281 BVerfG NJW 1987, 3175 (3175); wistra 2010, 396 (400). 282 BVerfG NJW 1987, 3175 (3175); 1989, 1663 (1663). 283 BVerfG NJW 1986, 1671 (1671); 1987, 3175 (3175); 1989, 1663 (1663); 1995, 1141 (1141); Jarass/Kment, GG Art. 103 Rn. 63; Kuhlen, in: FS Otto (2007), S. 89 (91). 284 BVerfG NJW 2010, 754 (755). 285 BVerfG NJW 1962, 1563 (1564); BVerfGE 41, 314 (320), NJW 1987, 2175 (3175); NJW 1993, 1909 (1910). 286 BVerfG NJW 2010, 3209 (3210).
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Kap. 1: Der Arzneimittelbegriff
Verhalten nach dem Gesetz verboten sei.287 Ohne im Einzelfall genauer zu untersuchen, wer (potentieller) Adressat der Norm ist, wird dieser Satz jedoch, wie schon aus der Formulierung „grundsätzlich“ zu erwarten, in mehrfacher Hinsicht eingeschränkt. Zunächst sei das besondere Fachwissen der Adressaten einer Norm zu berücksichtigen.288 Zudem müssten sich die Strafbarkeitsvoraussetzungen nicht direkt aus dem Gesetz ergeben, wenn sich mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden, insbesondere durch Heranziehung anderer Vorschriften desselben Gesetzes, durch Berücksichtigung des Normzusammenhanges oder aufgrund einer gefestigten Rechtsprechung eine zuverlässige Grundlage für die Auslegung und Anwendung der Norm gewinnen lasse.289 Bei der Auslegung sei jedoch der mögliche, aus der Sicht des Normadressaten zu bestimmende Wortsinn des Gesetzes die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation.290 Darüber hinaus betont das BVerfG regelmäßig, dass es aufgrund der Allgemeinheit und Abstraktheit von Strafnormen unvermeidlich ist, dass in Grenzfällen zweifelhaft sein kann, ob ein konkretes Verhalten noch unter den gesetzlichen Tatbestand fällt oder nicht.291 Es genüge deshalb, dass für den Adressaten das Risiko der Bestrafung erkennbar sei.292 Des Weiteren wird klargestellt, dass die Anforderungen an die Bestimmtheit des Gesetzes sich nach der Höhe der angedrohten Strafe richten. Je höher die angedrohte Strafe, desto höher sollen die Anforderungen an den Bestimmtheitsgrundsatz sein.293 Gerade unter Berücksichtigung der – unabhängig von der Strafhöhe getroffenen – Aussage des BVerfG, dass die Anforderungen generell nicht zu übersteigern seien, wirkt auch diese Aussage eher wie einer Relativierung und nicht wie eine Konturierung. Eine klare Antwort auf die Frage, welche konkreten Anforderungen an den Bestimmtheitsgrundsatz zu stellen sind, kann der Rechtsprechung damit nicht entnommen werden. Insbesondere die Tatsache, dass das BVerfG regelmäßig betont, wann ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG nicht vorliegt, es hingegen aber an einer Ausgestaltung positiver Kriterien fehlt, wird in der Literatur kritisiert.294 Immerhin hat das BVerfG in einer neueren Entscheidung betont, dass im Wege einer wertenden Gesamtbetrachtung unter Berücksichtigung möglicher Regelungsalternativen zu entscheiden ist, ob der Gesetzgeber seinen Verpflichtungen aus Art. 103 Abs. 2 GG
287
BVerfG NJW 1987, 3175 (3175). BVerfG NJW 1978, 1423 (1423); NStZ-RR 2002, 22 (22); wistra 2010, 396 (402); offen gelassen aber in BVerfG NJW 2016, 3648 (3652). 289 BVerfG NJW 1992, 2947 (2948), wistra 2010, 396 (402), NJW 2010, 3209 (3211 f.); BVerfG NJW 2016, 3648 (3650). 290 BVerfG NJW 2010, 3209 (3211). 291 BVerfG NJW 1986, 1671 (1672); 1990, 1714 (1714); 1995, 1141 (1141); 2010, 754 (755); NVwZ 2012, 504 (505). 292 BVerfG NJW 1986, 1671 (1672); 1990, 1714 (1714); 1995, 1141 (1141); 2010, 754 (755); NVwZ 2012, 504 (505). 293 BVerfG NJW 2002, 1179 (1780); 2004, 2990 (2992). 294 Moll, Europäisches Strafrecht, S. 121; Raabe, Bestimmtheitsgrundsatz, S. 27. 288
C. Die Bestimmtheit des Arzneimittelbegriffs am Maßstab des Art. 103 Abs. 2 GG
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im Einzelfall nachgekommen ist.295 Die Berücksichtigung von Regelungsalternativen kann sehr wohl als positives Kriterium betrachtet werden. Allerdings wird auch diese Aussage des BVerfG gleich wieder relativiert, indem es ausführt, dass die Rechtsvorschrift (lediglich) so genau gefasst sein müsse, wie dies nach der Eigenart der zu ordnenden Lebenssachverhalte mit Rücksicht auf den Normzweck möglich sei.296 Kritisiert wird in der Literatur insbesondere die Möglichkeit der Präzisierung unbestimmter Rechtsbegriffe durch die Rechtsprechung, da dem Gesetzgeber damit eine nachträgliche „Heilungsmöglichkeit“ eingeräumt werde und bei präzisierungsbedürftigen Normen, insbesondere bei neu eingeführten Tatbeständen, potentielle Straftäter dafür herhalten müssten, eine unbestimmte Norm ausreichend bestimmt zu machen.297 Die Frage der Bestimmtheit einer Norm hinge zudem davon ab, wie zeitnah sich das BVerfG nach dem Inkrafttreten mit der Frage der Vereinbarkeit der Norm mit Art. 103 Abs. 2 GG befassen würde, ob also die Gerichte ausreichend Zeit hatten, die Norm zu präzisieren.298 Im Zusammenhang mit der Problematik der Zulässigkeit der Präzisierung unbestimmter Normen durch die Rechtsprechung stellt sich auch die Frage, wer Adressat des Bestimmtheitsgebots ist. In erster Linie ist dies der Gesetzgeber. Er hat bei der Fassung von Gesetzen die soeben beschriebenen Kriterien zu erfüllen; es handelt sich damit um eine an den Gesetzgeber gerichtete Handlungsanweisung. Darüber hinaus wird jedoch zunehmend auch die Bindung des Richters an den Bestimmtheitsgrundsatz dargestellt.299 Relativ unproblematisch kann eine solche Bindung in der Form gesehen werden, dass es dem Richter verboten ist, unbestimmte Strafnormen anzuwenden.300 Dies stellt eine Handlungsbegrenzung dar. Hierfür spricht schon der Wortlaut des Art. 103 Abs. 2 GG, der von der Bestrafung einer Tat spricht.301 Problematischer wird es jedoch, wenn man neben dieser Handlungsbegrenzung eine Handlungsanweisung für den Richter statuiert. Während teilweise der Bestimmtheitsgrundsatz ausdrücklich als Handlungsanweisung an den Gesetzgeber und Handlungsbegrenzung an den Strafrichter gewertet wird,302 ist zunehmend zu beobachten, wie die Rechtsprechung303 und Teile der Literatur304 auch die Auslegung bestimmter Normen seitens des Gerichts dem Bestimmtheitsgrundsatz unterwerfen 295
BVerfG NJW 2010, 3209 (3211). BVerfG NJW 2010, 3209 (3210). 297 MK-StGB/Schmitz, § 1 Rn. 58; Schröder, Begriff der Gesetzesumgehung, S. 374; BK/ Pohlreich, GG Art. 103 Abs. 2 Rn. 79 f. 298 BK/Pohlreich, GG Art. 103 Abs. 2 Rn. 80. 299 Siehe hierzu ausführlich Kuhlen, in: FS Otto (2007), S. 89 (100 ff.). 300 MK-StGB/Schmitz, § 1 Rn. 7. 301 Kuhlen, in: FS Otto (2007), S. 89 (91). 302 BVerfG NJW 2002, 1779 (1780). 303 BVerfG NJW 2010, 754 (756 ff.); 3209 (Rn. 81 und 136). 304 Kuhlen, in: FS Otto (2007), S. 89 (103); MK-StGB/Dierlamm, Bd. 5 § 266 Rn. 4. 296
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Kap. 1: Der Arzneimittelbegriff
und damit eine Handlungsanweisung für den Richter festlegen. Ob man dem Art. 103 Abs. 2 GG eine solche „Auslegungsbestimmtheit“ entnimmt, hängt letztlich mit der Frage zusammen, ob man es, wie von der Rechtsprechung getan, als ausreichend betrachtet, dass sich die Bestimmtheit der Norm aus einer gefestigten Rechtsprechung ergibt. Geht man hiervon aus und weicht damit zum einen von der relevanten Perspektive – nämlich der des Normadressaten – und zum anderen vom eigentlich relevanten Bezugsobjekt – nämlich dem Gesetz selbst – ab, so ist es nur konsequent, der konkretisierenden Auslegung der Rechtsprechung gewisse Grenzen zu setzen. Sieht man hingegen in der Eröffnung der Möglichkeit der Präzisierung durch die Rechtsprechung eine unzulässige Möglichkeit der nachträglichen Heilung ursprünglich unbestimmter Normen,305 so wird logischerweise der Bestimmtheitsgrundsatz auch nicht als eine „Handlungsanweisung“ an den Richter gewertet werden können. Im Ergebnis ist festzuhalten, dass die Rechtsprechung das geltende Strafrecht fast ausnahmslos als hinreichend bestimmt betrachtet. Kuhlen306 stellt zutreffend fest, dass die Rechtsprechung aus dem Bestimmtheitsgebot zwar ein Präzisionsgebot herleitet, faktisch aber von einem Optimierungsgebot ausgeht, welches eine Bestimmtheit in dem Maße erfordert, wie diese mit ebenfalls legitimen kollidierenden Zielen verträglich sei. Solche Ziele sind u. a. die Einzelfallgerechtigkeit, die Berücksichtigung des raschen Wandels der Wertvorstellungen und die an die Technik angepasste Gesetzgebungstechnik. Anders als Teile der Literatur stellt die Rechtsprechung damit gerade nicht auf eine „bestmögliche“ Präzisierung ab, sondern geht nur dann von einem Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz aus, wenn eine präzisiere gesetzliche Regelung „ohne Schwierigkeiten“ und nennenswerte Beeinträchtigung kollidierender Prinzipien möglich ist. 3. Prüfungsmaßstab Bei dem Arzneimittelbegriff handelt es sich um ein Tatbestandsmerkmal, das in § 2 AMG definiert wird. Auch die Definition des § 2 AMG unterliegt damit dem strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz. Zwar kann der Gesetzgeber nach den Vorgaben des BVerfG Tatbestände so ausgestalten, dass zu dessen Auslegung auf außerstrafrechtliche Vorschriften zurückgegriffen werden kann, ohne dass diese an dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG zu messen sind.307 Anders ist dies jedoch zu beurteilen, wenn es sich – wie hier der Fall308 – um eine Norm zur Aus305
MK-StGB/Schmitz, § 1 Rn. 58; Schröder, Begriff der Gesetzesumgehung, S. 374. Kuhlen, in: FS Otto (2007), S. 89 (95 f.). 307 BVerfG NJW 2010, 3209 (3210). 308 Siehe Kapitel 2 C. III. Betrachtet man die Verwendung des Begriffs Arzneimittel nicht als implizite Verweisung auf § 2 AMG und damit nicht als Blankettverweisung, unterläge die Definition in § 2 AMG nicht dem Bestimmtheitsgrundsatz. Die Problematik der (uneinheitlichen) Auslegung des Arzneimittelbegriffs durch die Rechtsprechung wären dann – mit demselben Ergebnis, einem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG – nicht unter dem Aspekt des Be306
C. Die Bestimmtheit des Arzneimittelbegriffs am Maßstab des Art. 103 Abs. 2 GG
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füllung eines strafrechtlichen Blanketts handelt.309 Da sich in § 2 AMG zahlreiche normative Tatbestandsmerkmale – wie insbesondere die Begriffe „Krankheit“ und „pharmakologische Wirkung“ – befinden, die Definition also nicht aus sich heraus verständlich ist, kommt – unter Berücksichtigung der vorangegangen Ausführungen zum Bestimmtheitsgrundsatz – zwei Fragen eine entscheidende Bedeutung zu. Entscheidend ist zum einen, ob der Arzneimittelbegriff durch die Rechtsprechung ausreichend präzisiert wurde und zum anderen, ob sich im jeweiligen konkreten Einzelfall die Auslegung durch das Gericht innerhalb der Grenzen, die durch die gefestigte Rechtsprechung gezogen wurden, bewegt. Wie bereits angedeutet, sieht es das BVerfG im Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz als ausreichend an, wenn ein unbestimmtes Tatbestandsmerkmal durch eine gleichbleibende Anwendung in der Rechtsprechung bestimmt geworden ist.310 Insoweit führt das BVerfG aus: „Verfassungsrechtliche Bedenken, die die Weite eines Tatbestands(-merkmals) bei isolierter Betrachtung auslösen müsste, können zudem durch weitgehende Einigkeit über einen engen Bedeutungsinhalt, insbesondere durch eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung, entkräftet werden.“311 „Gerade in Fallkonstellationen, in denen der Normadressat nach dem gesetzlichen Tatbestand nur noch die Möglichkeit einer Bestrafung erkennen kann und in denen sich erst auf Grund einer gefestigten Rechtsprechung eine zuverlässige Grundlage für eine Auslegung und Anwendung der Norm gewinnen lässt, triff die Rechtsprechung eine besondere Verpflichtung, an der Erkennbarkeit der Voraussetzungen der Strafbarkeit mitzuwirken.“312 Das BVerfG stellt insoweit aber auch Grenzen auf: „Die Gerichte dürfen nicht durch eine fernliegende Interpretation oder ein Normverständnis, das keine klaren Konturen mehr erkennen lässt, dazu beitragen, bestehende Unsicherheiten über den Anwendungsbereich einer Norm zu erhöhen, und sich damit noch weiter vom Ziel des Art. 103 Abs. 2 GG entfernen.“313 Ob eine solche gefestigte Rechtsprechung, die eine zuverlässige Grundlage für die Auslegung und Anwendung der Norm darstellt, vorliegt und im konkreten Fall angewendet wurde, wird durch das BVerfG überprüft: „Stützen die Gerichte insbesondere ihre Auslegung und Anwendung der Strafnorm auf ein gefestigtes Verständnis eines Tatbestandsmerkmals oder der Norm insgesamt, prüft das BVerfG das Bestehen eines solchen gefestigten Verständnisses in vollem Umfang nach.“314
stimmtheitsgrundsatz (fehlende Konkretisierung), sondern unter dem Aspekt des ebenfalls in Art. 103 Abs. 2 GG verankerten Analogieverbots (uferlose Auslegung durch die Rechtsprechung) zu diskutieren. 309 BVerfG NJW 2010, 3209 (3210). 310 BVerfG NJW 1974, 1860 (1862); 1987, 43 (44); NJW 2010, 3209 (3215 ff.); NVwZ 2012, 504 (505). 311 BVerfG NJW 2010, 3209 (3211). 312 BVerfG a. a. O. 313 BVerfG a. a. O. 314 BVerfG a. a. O.
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Im Folgenden wird überprüft, ob der Arzneimittelbegriff unter Anwendung dieses von der Rechtsprechung angewandten weiten Maßstabes mit dem Bestimmtheitsgrundsatz vereinbar ist. Die an dieser Stelle in Teilen der Literatur315 überzeugend dargestellten Bedenken im Hinblick auf den weiten Maßstab des BVerfG bedürfen zumindest dann keiner näheren Betrachtung, wenn die Analyse der zahlreichen Entscheidungen der Rechtsprechung zum Arzneimittelbegriff zu dem Ergebnis gelangt, dass eine Präzisierung durch die Rechtsprechung, die geeignet ist, als „zuverlässige Grundlage für eine Auslegung und Anwendung der Norm“ zu dienen, nicht erfolgt ist.316
II. Möglichkeiten der Ausgestaltung einer Begriffsbestimmung Der Gesetzgeber hat unterschiedliche Möglichkeiten, Begriffe zu definieren. Um Stoffe einer Kategorie zuzuordnen, kann er zwischen verschiedene Typen von Legaldefinitionen wählen. Zu unterscheiden sind hier die intensionalen und die extensionalen Definitionen.317 Mit der intensionalen Begriffsbestimmung wird der Sinn eines Begriffs beschrieben. Diese Definitionstechnik hat der Gesetzgeber für die Bestimmung des Arzneimittelbegriffs in § 2 AMG gewählt. Im Gegensatz dazu zeichnet sich die extensionale Begriffsbestimmung dadurch aus, dass sie abschließend einen Anwendungsbereich bestimmt. Diese Form hat der Gesetzgeber beispielsweise im BtMG verwendet. § 1 Abs. 1 BtMG definiert das Betäubungsmittel, indem auf eine abschließende Liste aus Stoffen in den Anlagen I–III verwiesen wird. Vergleichbar mit einer solchen extensionalen Definition ist die Regelung des § 2 Abs. 1 AntiDopG. Dort wird ebenso – jedoch nicht zum Zwecke der Begriffsbestimmung, sondern zur Bestimmung der strafbaren Handlungen – auf eine Stoffliste verwiesen. § 2 Abs. 1 AntiDopG verweist auf Dopingmittel im Sinne der Anlage I des Internationalen Übereinkommens vom 19. Oktober 2005 gegen Doping im Sport in der vom Bundesministerium des Innern jeweils im Bundesgesetzblatt Teil II bekannt gemachten Fassung.318 Die Vor- und Nachteile der jeweiligen Definitionstechnik liegen auf der Hand. Während die intensionale Begriffsbestimmung auf Kosten der Bestimmtheit Flexibilität schafft und damit (Strafbarkeits-)Lücken vermeidet, weist die extensionale Definitionstechnik durch ihre konstitutive und abschließende Bestimmung einen hohen Grad an Bestimmtheit auf, der jedoch zulasten seiner Flexibilität geht und damit potentiell zu (Strafbarkeits-)Lücken führt. Denn 315
MK-StGB/Schmitz, § 1 Rn. 57 ff.; Jarass/Pieroth, GG (Vorauflage) Art. 103 GG Rn. 73 (m. w. N.); vgl. Kuhlen, in: FS Otto (2007), S. 89 (95 f.) 316 Siehe dazu aber Kapitel 2. 317 Puppe, GA 1990, 145 (160 ff.); Dietmeier, Blankettstrafrecht, S. 54; Enderle, Blankettstrafgesetze, S. 22. 318 Ziel der Verweisung auf die durch das BMI bekanntgegebene Fassung ist es, dass es der innerstaatlichen deutschen Entscheidung vorbehalten bleiben soll, inwieweit auch künftige Änderungen der Anlage I nach deutschem Recht strafrechtliche Relevanz haben, vgl. BTDrucks. 18/4898, S. 24.
C. Die Bestimmtheit des Arzneimittelbegriffs am Maßstab des Art. 103 Abs. 2 GG
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um eine an den Zeitwandel angepasste „Nachjustierung“ vorzunehmen, die im Rahmen der intensionalen Begriffsbestimmung durch die offene Formulierung und die dadurch bedingte Möglichkeit der Auslegung erzielt werden kann, bedarf die Anpassung des Begriffs bei der extensionalen Definitionstechnik eines zeitintensiven Gesetzgebungsverfahrens, um die abschließende Liste, auf die verwiesen wird, zu verändern oder zu erweitern. Um auch hier eine gewisse Flexibilität zu erreichen, wird der Exekutive vom Gesetzgeber oftmals die Möglichkeit eingeräumt, durch Rechtsverordnungen die Stofflisten zu aktualisieren bzw. zu verändern319 und zudem dieses Verordnungsverfahren in Eilfällen noch abzukürzen.320 Dieses Plus an Flexibilität im Rahmen der extensionalen Definition führt dann wiederum wegen der mit ihr verbundenen Kompetenzverschiebung zu Problemen mit dem Gewaltenteilungsprinzip bzw. der kompetenzwahrenden Funktion des Art. 103 Abs. 2 GG.321 Eine weitere Möglichkeit, eine extensionale Definition zu flexibilisieren, ohne eine Kompetenzverschiebung hin zur Exekutive vorzunehmen, besteht darin, einen Begriff durch den Verweis auf eine Liste zu definieren, die nicht abschließend einzelne Stoffe, sondern ganze Stoffgruppen benennt. Der Gesetzgeber hat sich dieser Definitionstechnik in dem seit dem 26. 11. 2016 geltenden Neue-psychoaktive-Stoffe-Gesetz (NpSG) bedient.322 § 2 Nr. 1 NpSG verweist auf eine Anlage, die unter Bezeichnung der chemischen Zusammensetzung Stoffgruppen auflistet. Die dadurch gewährleistete Flexibilisierung war erforderlich, da die neuen psychoaktiven Substanzen zunehmend auf den Markt gelangten, im hohen Maße gesundheitsschädlich sind und daher deren Inverkehrbringen sanktioniert werden sollte.323 Diese Stoffe zeichnen sich aber dadurch aus, dass die Hersteller unter Aufrechterhaltung der psychoaktiven Wirkung die chemische Struktur eines der in den Anhängen des BtMG aufgelisteten Stoffes verändern, mit der Folge, dass der dadurch entstehende Stoff – solange er nicht in die Anlagen des BtMG aufgenommen wurde – nicht den Strafvorschriften des BtMG unterfällt, mithin also ein „Hase-und-IgelWettlauf“324 zwischen dem Verordnungsgeber und den Herstellern entsteht. Diese neue Definitionstechnik stellt einen Mittelweg zwischen der extensionalen und der intensionalen Begriffsbestimmung dar. Es werden – im Vergleich zum Verweis auf eine abschließende Stoffliste – zugunsten der Flexibilität Abstriche bei der Be319
Siehe § 1 Abs. 2 BtMG. Siehe § 1 Abs. 3 BtMG, der das Bundesgesundheitsministerium ermächtigt, durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bunderates, Stoffe in die Anlagen aufzunehmen. 321 Vgl. MK-Nebenstrafrecht/Og˘ lakcıog˘ lu BtMG § 1 Rn. 10 ff., 31 ff.; Kaschkat, in: FS Krause (1990), S. 123 ff.; das BVerfG hält diese Konstellation ausdrücklich für zulässig: BVerfG NJW 1998, 669. 322 Eine solche Definitionstechnik wird nunmehr (erneut) auch für das BtMG in Erwägung gezogen: vgl. BT-Drucks. 18/2550, S. 7 (Ziff. 13); vgl. dazu Rössner/Voit, Gutachten zur Machbarkeit der Einführung einer Stoffgruppenregelung im Betäubungsmittelgesetz, 2011, im Internet abrufbar. 323 Vgl. BT-Drucks. 18/8579, S. 15 ff.; Rössner/Voit, Gutachten zur Machbarkeit der Einführung einer Stoffgruppenregelung im Betäubungsmittelgesetz, 2011, im Internet abrufbar. 324 Nobis, NStZ 2012, 422 (422). 320
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stimmtheit gemacht, da nicht jeder einzelne Stoff genannt wird und es deshalb für den Rechtsunterworfenen weniger einfach zu erkennen ist, ob gewisse Stoffe unter den Begriff fallen. Auf der anderen Seite wird – im Vergleich zur intensionalen Definition – zulasten der Flexibilität die Bestimmtheit insoweit erhöht, als dass zumindest die chemische Zusammensetzung exakt vorgegeben ist und damit – losgelöst von der Frage, ob der Adressat im konkreten Fall in der Lage ist, zu erkennen, ob der fragliche Stoff einer Stoffgruppe zuzuordnen ist – die Zugehörigkeit eines Stoffes zu einer Stoffgruppe (naturwissenschaftlich) eindeutig bestimmbar ist.325 Gleichzeitig bürgt eine solche Definitionstechnik aber die Gefahr, dass auch Stoffe erfasst werden, die nach dem Sinn und Zweck des Gesetzes – hier der Gesundheitsschutz – nicht der Strafbarkeit unterliegen sollen, da sie keine gesundheitsgefährdende Wirkung haben. Damit besteht – wie bei Gefährdungsdelikten generell – die Gefahr der Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.326
III. Aussagen der Rechtsprechung zur Bestimmtheit des Arzneimittelbegriffs Zur Frage der Bestimmtheit des Arzneimittelbegriffs hat die höchstrichterliche Rechtsprechung in drei Entscheidungen Stellung genommen.327 Der 2. Strafsenat des BGH hat sich im Jahr 1997 zu der Frage der Bestimmtheit des Arzneimittelbegriffs aus Anlass der Einstufung einer sog. Designerdroge als Arzneimittel geäußert. In demselben Verfahren wurde anschließend Verfassungsbeschwerde eingelegt, sodass sich auch das BVerfG im Jahre 2006 mit dieser Frage beschäftigte. Zuvor entschied bereits der EGMR mit Urteil vom 15. 11. 1996 über die Frage der Bestimmtheit des – auf der Richtlinie 65/65/EWG beruhenden – französischen Arzneimittelbegriffs. 1. BGH, Urteil vom 03. 12. 1997 – 2 StR 270/97328 a) Argumentation des BGH Entscheidend für die Verurteilung des Angeklagten war die Frage, ob MethylMethaqualon, eine sog. Designerdroge, unter den Arzneimittelbegriff fällt. Der BGH hob den erstinstanzlichen Freispruch auf. Dieser wurde von der Vorinstanz mit der 325
MK-Nebenstrafrecht/Og˘ lakcıog˘ lu, NpSG § 4 Rn. 4; Rössner/Voit, Gutachten zur Machbarkeit der Einführung einer Stoffgruppenregelung im Betäubungsmittelgesetz, 2011, S. 12 ff., abrufbar im Internet; Weber, BtMG § 2 NpSG Rn. 16. 326 Hierzu Rössner/Voit, Gutachten zur Machbarkeit der Einführung einer Stoffgruppenregelung im Betäubungsmittelgesetz, 2011, S. 33 ff., abrufbar im Internet; Duttge/Waschkewitz, in: FS Rössner (2015), S. 737 (747 ff.); Weber, BtMG § 2 NpSG Rn. 17. 327 Zur Frage der Bestimmtheit des § 95 Abs. 1 Nr. 1 AMG i. V. m. § 5 AMG („bedenkliche Arzneimittel“): BVerfG NJW 2000, 3417. 328 BGH NJW 1998, 836.
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fehlenden Arzneimitteleigenschaft des Produkts Methyl-Methaqualon begründet. Der Stoff fiel zur Tatzeit weder unter das Betäubungsmittelgesetz noch unter das Grundstoffüberwachungsgesetz. Das Landgericht begründete den Freispruch, indem es die Arzneimitteleigenschaft (§ 2 Abs. 1 Nr. 5 AMG a. F.) mit der Begründung verneinte, dass das Produkt nie als solches in der Medizin eingesetzt worden sei. Der Angeklagte habe das Produkt eindeutig als Droge hergestellt und kein Drogenkonsument sei davon ausgegangen, ein Arzneimittel zu konsumieren. Dem widersprach der BGH. Zunächst stellt er klar, dass sich der Arzneimittelbegriff vom allgemeinen Sprachgebrauch, der Arzneimittel im Wesentlichen als Wirkstoffe definiere, die zur Erkennung, Verhütung oder Behandlung von Krankheiten dienen, entfernt habe, da er – darüber hinausgehend – auch Mittel erfasse, die die Körperfunktionen beeinflussen. Anschließend stellte der BGH für die Begründung der Arzneimitteleigenschaft – ausnahmsweise, da aufgrund der Neuartigkeit des Stoffes keine Verkehrsauffassung existierte – auf die Zweckbestimmung des Herstellers ab. Dieser habe das Methyl-Methaqualon nicht nur zu rein persönlichen Zwecken, sondern zum gewinnbringenden Verkauf an interessierte Drogenkonsumenten hergestellt. Es sollte damit als sog. Designerdroge und damit den in § 2 Abs. 1 Nr. 5 AMG a. F. genannten Zwecken dienen.329 Eine solche Auslegung – so der BGH – verstoße nicht gegen das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG. Dies begründet er zum einen damit, dass der gesetzliche Arzneimittelbegriff schon durch die an der Rechtsprechung orientierte Neufassung im Jahre 1976 auf objektive Kriterien hin ausgerichtet worden sei. Zum anderen werde der Arzneimittelbegriff durch weitere Vorschriften eingegrenzt, indem § 2 Abs. 3 AMG Lebensmittel, Tabakerzeugnisse und kosmetische Mittel ausdrücklich von dem Anwendungsbereich des AMG ausnehme. Der vom Landgericht unternommene Versuch einer einschränkenden Auslegung des Arzneimittelbegriffs sei mit dem Wortlaut des Arzneimittelbegriffs nicht vereinbar und würde im Ergebnis statt mehr Rechtssicherheit zusätzliche Unsicherheiten mit sich bringen.330 b) Kritik Anders als die Vorinstanz nimmt der BGH keine am Sprachgebrach orientierte, sondern eine am Wortlaut orientierte Auslegung vor. Dass diese BGH-Entscheidung in diametralem Gegensatz zum Urteil des EuGH vom 10. 07. 2014 steht, wurde bereits dargelegt. Aber auch die knappen Ausführungen zur Frage der Bestimmtheit überzeugen nicht. Zwar ist dem BGH zumindest insoweit beizupflichten, als die einschränkende Auslegung der Vorinstanz, die nunmehr auch vom EuGH praktiziert wurde, tatsächlich mit dem Wortlaut der Arzneimitteldefinition nicht vereinbar ist und viele Unsicherheiten mit sich bringt. Dass jedoch der BGH die Bestimmtheit der Norm und die von ihm vorgenommene Auslegung mit der an objektiven Kriterien ausgerichteten Neufassung im Jahre 1976 begründet, ist insoweit verwunderlich, als 329 330
BGH NJW 1998, 836 (837). BGH NJW 1998, 836 (838).
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Kap. 1: Der Arzneimittelbegriff
dass er die Arzneimitteleigenschaft im konkreten Fall gerade nicht an objektiven Kriterien (Verkehrsauffassung), sondern anhand der subjektiven Zweckbestimmung des Hersteller festmacht. Und auch die angeblich vorliegende Eingrenzung des Begriffs durch § 2 Abs. 3 AMG überzeugt angesichts der trotz – und zum Teil auch wegen – dieser Norm bestehenden Abgrenzungsprobleme zu den dort aufgelisteten Produkten nicht. 2. BVerfG, Beschluss vom 16. 03. 2006 – 2 BvR 954/02331 a) Argumentation des Gerichts Infolge der soeben geschilderten Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und Zurückverweisung durch den BGH wurde der Angeklagte wegen Verstoßes gegen § 96 Nr. 4 AMG verurteilt. Hiergegen legte der Angeklagte Verfassungsbeschwerde ein, die u. a. mit einem Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz begründet wurde. Das BVerfG bewertete den Arzneimittelbegriff (§ 2 Abs. 1 Nr. 5 AMG a. F.) als hinreichend bestimmt. Auch medizinisch und pharmazeutisch nicht vorgebildeten Normadressaten sei es möglich, zu bewerten, ob Stoffe oder Stoffsubstanzen geeignet sind, „die Beschaffenheit, den Zustand oder die Funktion des Körpers oder seelische Zustände zu beeinflussen“.332 Die tatbestandliche Weite, die dazu führe, dass auch Produkte – wie z. B. Gifte – unter den Begriff fallen, die landläufig nicht als Medikamente angesehen würden, führe nicht zu einem Problem mit der Normbestimmtheit, da das Gesetz in seinen Voraussetzungen klar formuliert sei, sondern werfe nur die Frage auf, ob die Norm einer einschränkenden Auslegung bedürfe. Eine solche habe der BGH jedoch vorgenommen. Er begrenze den Anwendungsbereich, indem er „grundsätzlich nur diejenigen Stoffe und Substanzen als Arzneimittel ansehen will, die auch von der Verkehrsanschauung – ersatzweise der Wissenschaft – als solche bewertet werden“.333 Das Abstellen auf die subjektive Zweckbestimmung des Herstellers, wenn es an einer Verkehrsanschauung (noch) fehle, führe zu einer Strafbarkeitsbegrenzung, es habe limitierende Wirkung, indem es Substanzen, die zwar die in § 2 Abs. 1 Nr. 5 AMG a. F. geschilderten Wirkungsweisen haben, aber nach dem Herstellerwillen nicht zum Zweck der Einflussnahme auf den menschlichen Körper eingesetzt werden sollen, dem Arzneimittelbegriff entziehe. b) Kritik Soweit das BVerfG feststellt, dass die Frage, ob sog. Designerdrogen unter den Arzneimittelbegriff zu subsumieren sind, kein Problem der Normbestimmtheit sei, sondern vielmehr die Frage aufwerfe, ob eine einschränkende Auslegung erforder331 332 333
BVerfG NJW 2006, 2684. BVerfG NJW 2006, 2684 (Rn. 19). BVerfG NJW 2006, 2684 (Rn. 20).
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lich sei, wird die bereits dargestellte Entwicklung, die das Bestimmtheitsgebot in der Rechtsprechung erfahren hat, verdeutlicht. Das Bestimmtheitsgebot wurde erst in jüngerer Vergangenheit als Handlungsanweisung an den Richter im Sinne einer „Auslegungsbestimmtheit“ gewertet. Die Ausführungen des BVerfG deuten darauf hin, dass sich diese Ansicht zum damaligen Zeitpunkt noch nicht durchgesetzt bzw. entwickelt hatte. Es ist jedoch festzustellen, dass das BVerfG die Einordnung von Designerdrogen unter den Arzneimittelbegriff – trotz der Betonung der Notwendigkeit einer einschränkenden Auslegung zwecks Vermeidung einer Ausuferung des Arzneimittelbegriffs – als zulässig erachtet. Genau mit dieser Intension – der Vermeidung einer Ausuferung – hat hingegen der EuGH in seiner Entscheidung vom 10. 07. 2014 genau das entgegengesetzte Ergebnis erzielt. Die Aussage des BVerfG, medizinisch und pharmazeutisch nicht vorgebildeten Normadressaten sei es möglich, zu bewerten, ob Stoffe oder Stoffsubstanzen geeignet seien, „die Beschaffenheit, den Zustand oder die Funktion des Körpers oder seelische Zustände zu beeinflussen“,334 offenbart unter Berücksichtigung der Angaben des EuGH im Urteil vom 10. 07. 2014 geradezu das Gegenteil, nämlich dass die Norm nicht einmal geeignet ist, dem BVerfG – und damit erst Recht nicht dem Normunterworfenen – die Reichweite des Begriffs ausreichend deutlich zu machen. Die Argumentation des BVerfG ist aber auch im Übrigen nicht überzeugend. Soweit es feststellt, dass für die Einordnung als Arzneimittel grundsätzlich die Verkehrsauffassung entscheidend sei und dadurch der Anwendungsbereich begrenzt werde, folgt schon aus dem Wort „grundsätzlich“, dass dies eben nicht immer der Fall ist. Zunächst bleibt offen, ob eine Verkehrsauffassung generell taugliches Kriterium für die Bestimmtheit einer Strafnorm sein kann. Darüber hinaus ist es verwunderlich, wenn das BVerfG anschließend ausführt, das Abstellen auf die Vorstellung des Produktherstellers, die subjektive Zweckbestimmung, führe ebenfalls zu einer Strafbarkeitsbegrenzung. Denn der BGH hat die Arzneimitteleigenschaft und damit die Strafbarkeit gerade mit dieser Begründung bejaht.335 Es ist insoweit nicht ersichtlich, wie dies zu der vom BVerfG geforderten Notwendigkeit der einschränkenden Auslegung des Arzneimittelbegriffs beitragen soll. Die Konsequenz aus der Forderung der einschränkenden Auslegung muss vielmehr sein, auf die subjektive Zweckbestimmung des Herstellers nur abzustellen, um die Arzneimitteleigenschaft auszuschließen. Richtigerweise hat auch der BGH den Beschluss des BVerfG in diese Richtung interpretiert und zu einem späteren Zeitpunkt unter Bezugnahme auf den Beschluss des BVerfG ausgeführt: „Dieser Begrenzungsfunktion der subjektiven Zweckbestimmung liefe es jedoch zuwider, wenn in Fällen, in denen nach der Verkehrsanschauung objektiv kein Arzneimittel vorliegt, die Einordnung einer Substanz unter den Arzneimittelbegriff und damit auch die Strafbarkeit nach den arzneimittelrechtlichen Vorschriften allein mit der
334 335
BVerfG NJW 2006, 2684 (Rn. 19). Kritisch hierzu auch Meinecke/Harten, StraFo 2014, 9 (14).
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vom Hersteller oder vom Abgebenden zum Ausdruck gebrachten Zweckbestimmung begründet würde.“336 3. EGMR, Urteil vom 15. 11. 1996 – 17862/91337 a) Argumentation des Gerichts In der Rechtssache Cantoni gegen Frankreich entschied der EGMR durch Urteil vom 15. 11. 1996, dass der auf der Richtlinie 65/65/EWG beruhende und im Wortlaut mit dem europäischen Arzneimittelbegriff nahezu identische französische Arzneimittelbegriff (Art. L. 511 des code de la santè publique) mit Art. 7 EMRK338 vereinbar sei. Der Beschwerdeführer wurde durch das nationale Strafgericht wegen des Verkaufs von einprozentigem Eosin, siebenprozentigem Alkohol, Wasserstoffperoxid, Vitamin C, Pflanzeninhalationen, Tascheninhalatoren, antiseptischem Spray und Mineraltabletten in einer Supermarktfiliale zu einer Geldstrafe verurteilt. Sämtliche Produkte wurden als Arzneimittel eingestuft. Daraufhin rügte der Beschwerdeführer vor dem EGMR, dass die gesetzliche Definition eines Arzneimittels nicht den Erfordernissen an Klarheit und Bestimmtheit des Art. 7 Abs. 1 EMRK entspreche. Er begründete dies mit den willkürlichen und widersprüchlichen Entscheidungen der nationalen Gerichte. Eine gefestigte Auslegung liege nicht vor. Auch die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften sei keine Hilfe, da diese es den mitgliedstaatlichen Gerichten überlasse, einzelfallbezogen zu entscheiden, ob ein bestimmtes Produkt als Arzneimittel zu klassifizieren sei und sich dabei auf Begriffe beziehe, die ihrerseits nicht hinreichend bestimmt und nicht ausreichend fachspezifisch seien. Damit zeichneten sich sowohl die gesetzliche als auch die richterliche Begriffsbestimmung durch das Fehlen der erforderlichen Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit aus. Die Europäische Kommission für Menschenrechte teilte die Auffassung des Beschwerdeführers.339 Der Gerichtshof widersprach dem und begründete die Vereinbarkeit des französischen Arzneimittelbegriffs mit Art. 7 EMRK damit, dass Gesetze allgemein anwendbar sein müssten und eine typische Gesetzgebungstechnik gerade darin bestehe, allgemeine Kategorien anstelle erschöpfender Listen zu entwickeln. Es müsse die Möglichkeit der Anpassung an sich verändernde Verhältnisse gegeben sein, weshalb eine übertriebene Starre vermieden werden müsse. Die deshalb in Randbereichen entstehenden 336
BGH NJW 2010, 2528 (Rn. 12). EGMR EuGRZ 1999, 193. 338 Art. 7 EMRK lautet: (1) Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Es darf auch keine schwerere als die zur Zeit der Begehung angedrohte Strafe verhängt werden. (2) Dieser Artikel schließt nicht aus, dass jemand wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt oder bestraft wird, die zur Zeit ihrer Begehung nach den von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen strafbar war. 339 EGMR EuGRZ 1999, 193 (196). 337
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Grauzonen bzw. Zweifel im Hinblick auf Grenzfälle genügten nicht, um eine Strafbestimmung als solche für unvereinbar mit Art. 7 EMRK zu erklären, soweit sich die Mehrheit der Fälle als hinreichend klar erweisen. Zudem verweist der Gerichtshof auf die Möglichkeit und Notwendigkeit die bei der Auslegung verbleibenden Zweifel durch die Rechtsprechung zu beseitigen. Die Frage, ob ein erschöpfender Katalog von Arzneimitteln die geeignetere Variante darstellt, ließ der EGMR – unter dem Hinweis, es sei nicht seine Aufgabe, sich zur Geeignetheit der von den Gesetzgebern gewählten Methoden zu äußern – offen. Soweit der Beschwerdeführer auf die untergerichtlichen unterschiedlichen Einordnungen der hier gegenständlichen Produkte abstellt, führt der Gerichtshof aus, dass sich in der Rechtsprechungspraxis der Untergerichte zwar tatsächlich Abweichungen aufzeigen ließen, der Beschwerdeführer jedoch nicht ausreichend dargelegt habe, ob in den von ihm zitierten Entscheidungen die Einstufung als Arzneimittel über ihre Wirkung oder ihre Aufmachung erfolgt seien. Selbst wenn die unterschiedliche Einordnung identische Fallkonstellationen beträfe, so handele es sich vor den erstinstanzlichen Gerichten in erster Linie um Tatsachenfragen. Dies beträfe sowohl die Frage des derzeitigen Standes der wissenschaftlichen Erkenntnisse als auch die Frage der Wahrnehmung des durchschnittlich informierten Verbrauchers. Zudem betont der Gerichtshof, dass der nationale Kassationshof seit dem Jahre 1957 stets diejenigen Entscheidungen der Tatsachengerichte bestätigt habe, die ein pharmakologisches Erzeugnis als Arzneimittel qualifiziert haben und diejenigen verworfen habe, in denen diese Qualifikation nicht vorlag. So habe der Kassationshof kein erstinstanzliches Urteil aufrechterhalten, in dem ein Produkt nicht als Arzneimittel bezeichnet wurde.340 b) Kritik Vorweg ist anzumerken, dass das Bestimmtheitsgebot der EMRK weniger streng als der deutsche Bestimmtheitsgrundsatz ist.341 Der EGMR begründet die Vereinbarkeit des französischen Arzneimittelbegriffs mit Art. 7 EMRK zunächst, indem er – ähnlich wie es die hiesige nationale Rechtsprechung und insbesondere das BVerfG tut – mit knapper Argumentation die Anforderungen an den Bestimmtheitsgrundsatz senkt und der Rechtsprechung die Möglichkeit der Konkretisierung einräumt. Nachdem der Gerichtshof zunächst zwar einige Urteile des EuGH zu den im konkreten Fall fraglichen Produkten zitiert, geht er jedoch nicht näher auf die vom Beschwerdeführer zitierten widersprüchlichen Entscheidungen der nationalen Gerichte ein, sondern umgeht dies mit zwei fragwürdigen Argumenten. Zum einen wirft er dem Beschwerdeführer vor, er habe nicht vorgetragen, ob die von ihm genannten Entscheidungen die Einstufung aufgrund des Präsentations- oder des Funktionsarzneimittelbegriffs vorgenommen hätten und impliziert damit, es lägen nicht vergleichbare Fallkonstellationen vor. Genau diese Einstufung, die nicht erkennen lässt, 340 341
EGMR EuGRZ 1999, 193 (198). Maunz/Dürig/Schmidt-Aßmann, GG (Vorauflage) Art. 103 Abs. 2 Rn. 250.
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Kap. 1: Der Arzneimittelbegriff
auf welchen der beiden Arzneimittelbegriffe bzw. auf welche Kriterien abgestellt wird, ist jedoch Teil des Problems und basiert auf den unklaren Aussagen der Norm und der Rechtsprechung und nicht etwa dem fehlenden Vortrag des Beschwerdeführers. Zum anderen verweist der Gerichtshof darauf, dass Tatsachenfragen zu klären seien und dies zur unterschiedlichen Einstufung führen könne. Dies setzt jedoch voraus, dass es sich beispielsweise bei der Frage, was eine pharmakologische Wirkung ist, tatsächlich um eine dem Beweis zugängliche Frage handelt, was sowohl von der Rechtsprechung als auch der Naturwissenschaft zum Teil verneint wird.342 Auch die Aussage des Gerichtshofs, der nationale Kassationshof habe seit dem Jahre 1957 nur solche Entscheidungen aufrechterhalten, in denen pharmakologische Erzeugnisse als Arzneimittel eingestuft wurden bzw. in denen das fragliche Produkt als Arzneimittel bezeichnet wurde, ist nicht geeignet, die Bestimmtheit des Arzneimittelbegriffs überzeugend darzulegen. Denn bei der ersten Variante stellt sich die Frage, was ein pharmakologisches Erzeugnis ist und die zweite Variante begründet nicht die Bestimmtheit des Arzneimittelbegriffs, sondern die Unbestimmtheit des Funktionsarzneimittelbegriffs. 4. Zwischenergebnis Der Arzneimittelbegriff wird sowohl vom BVerfG als auch vom BGH und EGMR für vereinbar mit dem Bestimmtheitsgrundsatz bewertet. Die – zumindest vom BGH und BVerfG sehr knappen – Ausführungen überzeugen jedoch nicht und stehen in diametralem Widerspruch zu den Ausführungen des EuGH vom 10. 07. 2014.
IV. Aussagen in der Literatur zur Bestimmtheit des Arzneimittelbegriffs Obwohl in der Literatur die erheblichen Probleme bei der Auslegung des Arzneimittelbegriffs thematisiert und infolge dessen der Begriff als kaum verständlich dargestellt wird,343 wird auf das Problem der Vereinbarkeit mit dem Bestimmtheitsgrundsatz aus Art. 103 Abs. 2 GG ausdrücklich nur vereinzelt eingegangen. Dies mag dem Umstand geschuldet sein, dass es sich in der Regel um zivilrechtliche oder verwaltungsrechtliche Darstellungen handelt und damit der Fokus nicht auf den Bestimmtheitsgrundsatz gelegt wird. Soweit in der Literatur überhaupt auf den Bestimmtheitsgrundsatz eingegangen wird, wird meist unkritisch auf die soeben dargestellten Entscheidungen des BGH344 und des BVerfG345 verwiesen und der 342
Siehe Kapitel 1 C. V. 3. c). Vgl. Dieners/Reese/Doepner/Hüttebräuker, § 3 Rn. 60; Streinz, ZLR 2002, 654 ff.; Preuß, ZLR 2007, 435 ff.; Hahn/Hagenmeyer, ZLR 2003, 707 ff.; Rathke, ZLR 2007, 139 ff. 344 BGH NJW 1998, 836. 345 BVerfG NJW 2006, 2684. 343
C. Die Bestimmtheit des Arzneimittelbegriffs am Maßstab des Art. 103 Abs. 2 GG
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Arzneimittelbegriff für mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar erklärt.346 Vereinzelt werden Bedenken – meist im Zusammenhang mit der Einstufung konkreter Produkte als Arzneimittel – geäußert.347 Ausführlicher mit dieser Problematik beschäftigt hat sich – soweit ersichtlich – lediglich Winters. Er kommt letztlich – unter besonderer Berücksichtigung naturwissenschaftlicher Aspekte – zu dem Ergebnis, dass der Arzneimittelbegriff nicht hinreichend bestimmt ist und geht von einer Verfassungswidrigkeit des § 2 AMG wegen Verstoßes gegen Art. 20 Abs. 3 GG aus.348
V. Bewertung Die bis hierhin erfolgte Analyse des Arzneimittelbegriffs offenbart zahlreiche Probleme bei der Auslegung, die – unter Berücksichtigung des von der Rechtsprechung selbst angelegten Maßstabes – für die Frage der Vereinbarkeit des Arzneimittelbegriffs mit dem Bestimmtheitsgebot von Bedeutung sind. 1. Vorhersehbarkeit der Einstufung eines Produkts als Arzneimittel anhand des § 2 AMG Betrachtet man § 2 AMG wird einem deutlich, dass dem Normadressaten, selbst unter Berücksichtigung etwaigen Fachwissens, die Einstufung eines Produkts als Arzneimittel nicht vorhersehbar ist. Dies liegt zunächst schon an der – oben dargestellten – Struktur der Norm. Es wird hier der Versuch unternommen, die eigentliche Legaldefinition in Absatz 1 durch eine Fiktionsregelung in Absatz 2, eine Negativdefinition in Absatz 3, eine Grenzfallregelung in Absatz 3a und eine Vermutungsregelung in Absatz 4 zu konkretisieren. Eine Konkretisierung wurde dadurch jedoch nicht erzielt. Denn insbesondere die Negativdefinitionen in Absatz 3 und die Grenzfallregelung in Absatz 3a lassen sich systematisch nicht sauber in den § 2 AMG einfügen, sind ihrerseits deshalb und aufgrund der dort ebenfalls verwendeten unbestimmten Rechtsbegriffe auslegungsbedürftig und werden nicht ihrem Wortlaut entsprechend angewendet. Durch die in den Absätze 2 bis 4 erfolgten Regelungen werden die Kriterien für die Einordnung eines Produkts als Arzneimittel unkenntlicher. In Kombination mit den unbestimmten Rechtsbegriffen des Absatz 1 wird die Vorhersehbarkeit nochmals erschwert.
346 Körner/Patzak/Volkmer, BtMG Vorb. AMG Rn. 40; Kloesel/Cyran, § 2 Anm. 32; Kaulen, Abgrenzung, S. 75. 347 Spickhoff-MedR/Knauer, AMG § 95 Rn. 19; ders., PharmR 2008, 199 (200), jeweils bezogen auf die Einstufung eines Paracetamol-Koffein-Gemisch als Arzneimittel nach der a. F. des AMG; Vergho, PharmR 2009, 221 (224 f.); Meinecke/Harten, StraFo 2014, 9 (16). 348 Winters, Rechtliche Abgrenzung, S. 204 f.
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Kap. 1: Der Arzneimittelbegriff
2. Uneinheitliche Auslegung des Arzneimittelbegriffs Der Arzneimittelbegriff wird von der Rechtsprechung nicht einheitlich, zum Teil sogar widersprüchlich ausgelegt. Zunächst stellt die unterschiedliche Anwendung der Norm in der Rechtsprechung ein Indiz für die Unbestimmtheit dar. Wenn schon der Normanwender erkennbar Schwierigkeiten hat, anhand des § 2 AMG Produkte dem Arzneimittelbegriff zuzuordnen oder zu entziehen, gilt dies erst recht für den Normunterworfenen. Zudem wird deutlich, dass, selbst wenn man der Rechtsprechung die Möglichkeit einräumt, unbestimmte Normen bzw. Rechtsbegriffe zu konkretisieren, eine derartige Konkretisierung nicht stattgefunden hat. a) Das Merkmal der Gesundheitszuträglichkeit Die Analyse der Rechtsprechung zum Merkmal der Gesundheitszuträglichkeit hat gezeigt, dass es sich dabei um eine den Funktionsarzneimittelbegriff einschränkende Auslegung handelt und diese insoweit auf den ersten Blick aus Sicht des Bestimmtheitsgrundsatzes zu begrüßen ist. Dass ein Arzneimittel eine – irgendwie geartete – gesundheitsfördernde Wirkung haben muss, entspricht dem allgemeinen Sprachgebrauch, sodass angenommen werden könnte, diese Rechtsprechung habe die Vorhersehbarkeit des sanktionierten Verhaltens verbessert. Mit dem Wortlaut der Norm und dem Willen des Gesetzgebers ist ein solches Verständnis des Arzneimittelbegriffs jedoch genauso wenig in Einklang zu bringen, wie mit den vor dem EuGH-Urteil ergangenen Entscheidungen des BGH und BVerfG zur Frage der Einstufung von Rauschmitteln als Arzneimittel. Schon dies offenbart, dass der Arzneimittelbegriff nicht eindeutig formuliert ist. Darüber hinaus hat sich herausgestellt, dass unter Berücksichtigung der vom EuGH entwickelten Kriterien die Einordnung zahlreicher anderer Produkte als Arzneimittel – unter Einhaltung des Art. 103 Abs. 2 GG – unmöglich erscheint. Zu nennen sind hier insbesondere Aphrodisiaka, Appetitzügler, Dopingmittel, Mittel zur Empfängnisverhütung, Mittel zur Schwangerschaftsunterbrechung, Mittel zum Abstillen und Mittel zur Unterstützung einer künstlichen Befruchtung. Der EuGH hat sich in seiner Entscheidung vom 10. 07. 2014 nicht klar verständlich und auf andere Produkte übertragbar zu der Reichweite des Kriteriums der gesundheitsfördernden Wirkung geäußert.349 Zudem hat er – einmal mehr – durch seine unklaren Äußerungen die Unsicherheiten über die Frage, welche Perspektive für die Beurteilung der Einstufungskriterien maßgeblich ist, nicht nur nicht beseitigt, sondern verschärft. Dies hat die Analyse des Urteils des EuGH vom 10. 07. 2014 349 Auch die Bundesregierung sieht sich nicht in der Lage, aus dem Urteil des EuGH vom 10. 07. 2014 verallgemeinerungsfähige Schlüsse zu ziehen, vgl. BT-Drucks. 18/2550, S. 6 (Ziff. 12): „Auch durch das Urteil des (…) EuGH (…), das Einzelfälle betraf, ist noch nicht vollständig bzw. abschließend geklärt, ob alle psychoaktiven Substanzen (…), die zu Rauschzwecken konsumiert werden, generell vom Anwendungsbereich des AMG ausgeschlossen sind (…).“
C. Die Bestimmtheit des Arzneimittelbegriffs am Maßstab des Art. 103 Abs. 2 GG
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sowie der im Anschluss an das Urteil ergangenen nationalen Gerichtsentscheidungen offenbart.350 Die verschiedenen Lösungsvorschläge der Literatur, die soeben genannten Produkte als Arzneimittel einzustufen, haben sich als untauglich erwiesen. Soweit darauf verwiesen wird, dass Produkte auch unter den Arzneimittelbegriff fallen, wenn sie ein vergleichbares Konzept aufweisen oder aber auf die Beseitigung unerwünschter Zustände abzielen, ist völlig unklar, wie weit ein solches Kriterium reichen würde. An den dargestellten Literaturansichten ist zudem zu kritisieren, dass sie sich – gerade bei der Einordnung von Produkten mit ambivalenten Einsatzmöglichkeiten – vom objektiv-abstrakten Maßstab der Einordnung von Arzneimitteln, der die Vorhersehbarkeit des sanktionierten Verhaltens gewährleistet, – entfernen und zu sehr die subjektive einzelfallorientierte Zweckbestimmung berücksichtigen, um mithilfe dieser die Arzneimitteleigenschaft begründen zu können. Eine solche, den Arzneimittelbegriff ausweitende und damit die Strafbarkeit begründende Auslegung ist mit dem Bestimmtheitsgrundsatz nicht vereinbar und verstößt eindeutig gegen die Vorgaben des BVerfG351 und des BGH352. Denn zulässig ist danach nur das Abstellen auf den Herstellerwillen und dies auch nur zur Verneinung der Arzneimitteleigenschaft. Nach den Vorgaben des BGH, der sich auf die Ausführungen des BVerfG beruft, kann das Kriterium der subjektiven Zweckbestimmung bei der Einordnung eines Stoffes oder einer Zubereitung von Stoffen als Arzneimittel nicht zu einer Ausweitung des gesetzlichen Tatbestands führen, sondern angesichts der außerordentlichen tatbestandlichen Weite lediglich zu einer Begrenzung der Strafbarkeit herangezogen werden. Ein Abstellen auf die subjektive Zweckbestimmung ist demnach nur zur Einschränkung, nicht jedoch zur Ausweitung des Arzneimittelbegriffs zulässig. Insoweit lässt sich auch die Einstufungsmethodik des BSG nicht auf das Strafrecht übertragen. Schließt man – wie es das BSG tut und wofür nach der bis hierhin erfolgten Analyse des EuGH-Urteils vom 10. 07. 2014 einiges spricht – Kontrazeptiva aus der Arzneimitteldefinition aus, so ist es aus strafrechtlicher Sicht unter Berücksichtigung des Bestimmtheitsgrundsatzes nicht zulässig, die Arzneimitteleigenschaft im Einzelfall damit zu begründen, dass das Produkt vom Konsumenten ausnahmsweise zu therapeutischen Zwecken konsumiert wird. Von der Literatur und auch der Rechtsprechung wird aber dennoch oftmals der Versuch unternommen, durch einen Perspektivwechsel die Arzneimitteleigenschaft zu begründen. Diese bereits im Rahmen der Auslegung des Begriffs „pharmakologische Wirkung“ dargestellte und kritisierte Methodik haftet dem Funktionsarzneimittelbegriff generell an. Während in diesem Bereich von der Literatur ganz unverhohlen ein subjektiver Maßstab zur Begründung der Arzneimitteleigenschaft und Strafbarkeit herangezogen wird,353 geschieht dies in der Rechtsprechung zum 350 351 352 353
Siehe Kapitel 1 B. III. 4. und 5. BVerfG NJW 2006, 2684. BGH NJW 2010, 2528. Siehe Kapitel 1 B. III. 5. b).
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Kap. 1: Der Arzneimittelbegriff
Teil unter dem Deckmantel der Anwendung eines objektiven Maßstabes. Insoweit kann beispielhaft auf die bereits erwähnte GBL-Entscheidung des BGH aus dem Jahre 2009354 verwiesen werden. Bei diesem Produkt handelt es sich nach der Verkehrsauffassung um einen Industriereiniger. Das Produkt kann jedoch – wie im konkreten Fall auch geschehen – als Droge verwendet werden. Zwar ist dieses Urteil insoweit überholt, als dass dort das Merkmal der gesundheitsfördernden Wirkung noch keine Rolle spielte und damit Rauschmittel noch unter den Arzneimittelbegriff subsumiert wurden. Von Bedeutung ist es jedoch insoweit, als dass auch dort die Arzneimitteleigenschaft mithilfe der subjektiven Zweckbestimmung begründet wurde. Der BGH führte zwar zunächst – unter Berufung auf die vom BVerfG vorgegebene notwendige einschränkende Auslegung des Funktionsarzneimittelbegriffs – aus, dass es unzulässig sei, die Strafbarkeit mithilfe der subjektiven Zweckbestimmung des Herstellers zu begründen (so wie es die Vorinstanz tat).355 Ein Abstellen auf die subjektive Zweckbestimmung des Hersteller sei nur möglich, um den Arzneimittelbegriff einzuschränken. Anschließend begründete das Gericht die Arzneimitteleigenschaft dann aber, indem es den für die Beurteilung der objektiven Zweckbestimmung maßgeblichen Verkehrskreis, nach dessen Beurteilung es sich bei dem Produkt – so die Feststellungen des Landgerichts – um einen Industriereiniger handelte, auf den „Verkehrskreis der Konsumenten“, denen die Verwendung als Droge bekannt sei, verkleinerte.356 Faktisch bedeutet dies nichts anderes als ein Abstellen auf die subjektive Zweckbestimmung des Konsumenten zur Begründung der Arzneimitteleigenschaft unter dem Deckmantel objektiver Kriterien. Mit einer solchen Vorgehensweise ließe sich bei zahlreichen Produkten, die nach der eigentlich relevanten objektiven Verkehrsauffassung nicht als Arzneimittel zu bewerten wären, die Arzneimitteleigenschaft begründen, wenn nur der Verkehrskreis entsprechend stark verkleinert wird. Diese Vorgehensweise wird unter Bestimmtheitsgesichtspunkten nochmals problematischer, wenn man bedenkt, dass die Rechtsprechung nicht generell, sondern nur – ergebnisorientiert – in Einzelfällen auf den „Verkehrskreis der Konsumenten“ abstellt. Gänzlich ad absurdum geführt wird diese Vorgehensweise, wenn man sich vor Augen führt, dass der BGH an anderer Stelle – wiederum einzelfallorientiert – bei der Einstufung von Produkten als Arzneimittel im Rahmen der Zweckbestimmung ausführt: „Auf den möglichen Kenntnisstand eingeweihter Kunden eines Verkäufers solcher Kräutermischungen über die tatsächliche Bestimmung kommt es nicht an.“357 Von einer Präzisierung des Arzneimittelbegriffs durch eine stringente, einheitliche Rechtsprechung kann auch insoweit keine Rede sein. 354
BGH NJW 2010, 2528. Siehe hierzu aber BGH NJW 1998, 836. Der BGH hat dort die Strafbarkeit mithilfe der subjektiven Zweckbestimmung begründet. 356 BGH NJW 2010, 2528 (2530); siehe auch VGH München PharmR 2008, 206 (208): „Kreis der durchschnittlich informierten Diabetiker“; siehe auch VG Köln BeckRS 2017, 135478. 357 BGH PharmR 2015, 239 (241). 355
C. Die Bestimmtheit des Arzneimittelbegriffs am Maßstab des Art. 103 Abs. 2 GG
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Darüber hinaus hat die Analyse des Arzneimittelbegriffs auch ergeben, dass das Urteil des EuGH vom 10. 07. 2014 nicht dahingehend verstanden werden kann, den Funktionsarzneimittelbegriff – zumindest im Rahmen der Abgrenzung zu Rauschmitteln – durch den Präsentationsarzneimittelbegriff einzuschränken bzw. anders ausgedrückt, in diesen Fällen nur auf den Präsentationsarzneimittelbegriff abzustellen. Zwar entspricht dies spiegelbildlich der praktizierten Einstufungsmethodik bei der Abgrenzung von Arzneimitteln zu Medizinprodukten, bei dem der Präsentationsarzneimittelbegriff durch den Funktionsarzneimittelbegriff eingeschränkt wird. Mit dem Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG ist es aber nicht zu vereinbaren, die Einheitlichkeit des Arzneimittelbegriffs argumentativ anzuführen, um im Einzelfall bei bestimmten – oder eher nicht bestimmten – Produkten trotz Vorliegens der Präsentationsarzneimitteleigenschaft (Medizinprodukte) oder Funktionsarzneimitteleigenschaft (Rauschmittel) die Arzneimitteleigenschaft abzulehnen. Diese Verfahrensweise ist vielmehr Ausdruck der Fehlerhaftigkeit der Arzneimitteldefinition und offenbart einmal mehr, wie ergebnisorientiert und uneinheitlich die Einstufung in der Rechtsprechung erfolgt. b) Das Merkmal der pharmakologischen Wirkung Die Untersuchung des Begriffs „pharmakologische Wirkung“358 hat ergeben, dass dieser mit den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG nicht vereinbar ist. Der Begriff ist weder rechtlich noch naturwissenschaftlich eindeutig bestimmbar, sodass für den Normadressaten das verbotene Verhalten nicht zu erkennen ist. Selbst für den Fall, dass man, wie es das BVerfG tut, einen Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz verneint, wenn ein unbestimmtes Tatbestandsmerkmal durch eine gleichbleibende Anwendung in der Rechtsprechung bestimmt geworden ist, kommt man zu keinem anderen Ergebnis. Denn es konnte aufgezeigt werden, dass auch hier eine derartige Konkretisierung durch eine gleichbleibende Anwendung in der Rechtsprechung gerade nicht erfolgt ist. Vielmehr existieren zahlreiche Gerichtsentscheidungen, die einzelfallorientiert die Einstufung als Arzneimittel vornehmen. Dieselben Stoffe werden von der Rechtsprechung unterschiedlich eingeordnet. Als Musterbeispiele hierfür kann auf die unterschiedliche Einordnung von Macrogol (Darmreinigungspräparat),359 Chlorhexidin (Mundspüllösung)360 und Rauschmitteln361 verwiesen werden.
358
Kapitel 1 B. II. BGH PharmR 2010, 338 ff.; 2011, 299 ff. 360 BGH PharmR 2010, 641 (Mundspüllösung 1); PharmR 2015, 403 (Mundspüllösung 2); PharmR 2016, 79 (Mundspüllösung 3); PharmR 2016, 82 (Mundspüllösung 4). 361 BGH NJW 1998, 836 ff.; 2010, 2528 ff.; EuGH PharmR 2014, 347 ff. 359
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Kap. 1: Der Arzneimittelbegriff
aa) Abhängigkeit der Definition der pharmakologischen Wirkung vom abzugrenzenden Produkt Als äußerst problematisch zu bewerten ist, dass der Begriff der pharmakologischen Wirkung jeweils in Abhängigkeit von dem vom Arzneimittel abzugrenzenden Produkt unterschiedlich definiert wird.362 Sinn und Zweck einer Definition ist es gerade, generelle Einstufungsmerkmale zu liefern, die eine abstrakte – vom Einzelfall und dem jeweils abzugrenzenden Begriff losgelöste – Umschreibung bieten. Dass eine solche von dem abzugrenzenden Produkt abhängige Einstufungsmethodik zu erheblichen Einordnungsproblemen führt, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass beispielsweise auch die Abgrenzung zwischen Medizinprodukt und Lebensmittel problematisch ist,363 damit also schon fraglich sein kann, von welchem Produkt das (potentielle) Arzneimittel abzugrenzen ist, mit der Folge, dass unklar ist, auf welches Abgrenzungskriterium entscheidend abzustellen ist. bb) Erheblichkeitsschwelle als untaugliches Abgrenzungskriterium Die Rechtsprechung stellt im Rahmen der Abgrenzung von Arzneimitteln zu Lebensmitteln auf eine nennenswerte Beeinflussung der physiologischen Funktionen ab, die über dasjenige hinausgehen soll, was eine Nahrungsaufnahme, also der Verzehr eines Lebensmittels in angemessener Menge, auslösen kann.364 Entscheidend soll damit zum einen eine nicht näher bestimmte Erheblichkeitsschwelle sein. Diese wird auch nicht dadurch bestimmter, dass auf einen Vergleich zu der Wirkung eines Lebensmittels abgestellt wird. Soweit die Rechtsprechung ausführt, die Wirkung müsse über dasjenige hinausgehen, was ein in angemessener Menge verzehrtes Lebensmittel bewirken kann, führt dies vielmehr dazu, dass zu klären ist, welche Wirkung ein Lebensmittel verursachen kann. Damit wird letztlich eine Verlagerung der Abgrenzungsproblematik auf die – nicht leichter zu beantwortende – Frage vorgenommen, ob es sich bei dem Produkt um ein Lebensmittel handelt. Auch die Frage, was unter „angemessener Menge“ zu verstehen ist, wurde von der Rechtsprechung nicht ausreichend konkretisiert. Es stellt sich zum Beispiel die Frage, ob als Nahrungsergänzungsmittel vertriebene Knoblauchkapseln dadurch zum Arzneimittel werden, dass sie nicht nur ein bis zwei Zehen, sondern eine ganze Knolle Knoblauch enthalten.365
362 Abgrenzung von Lebensmitteln: Erheblichkeitsschwelle, Abgrenzung von Medizinprodukten: Definition aus MEDDEV. 363 Siehe Anhalt/Dieners/Anhalt/Sachs, MPR § 3 Rn. 48 ff. 364 EuGH PharmR 2009, 122 (126); BGH PharmR 2016, 79 (81). 365 Vgl. Kröll, Arzneimittelrecht, S. 26.
C. Die Bestimmtheit des Arzneimittelbegriffs am Maßstab des Art. 103 Abs. 2 GG 101
cc) Definition der MEDDEV als untaugliches Abgrenzungskriterium Die Definition der pharmakologischen Mittel aus der Leitlinie zur Abgrenzung von Arzneimitteln und Medizinprodukten „Medical Devices: Guidance document“ MEDDEV ist, wie sie selbst zutreffend feststellt, „kein komplett zuverlässiges Kriterium“366 und damit – insbesondere unter Berücksichtigung seiner durch die Rechtsprechung entwickelten erheblichen Ausweitung über den Wortlaut hinaus und der Feststellung, dass sie, wenn überhaupt, bei der Abgrenzung von Arzneimitteln zu Medizinprodukten anwendbar ist – nicht geeignet, den Arzneimittelbegriff in einer den Kriterien des Bestimmtheitsgrundsatzes entsprechenden Weise zu konkretisieren. Auch dies hat sich als Ursache der uneinheitlichen Rechtsprechung herausgestellt. dd) Erfordernis einer pharmakologischen Wirkung im Rahmen des Funktionsarzneimittelbegriffs nicht klar Als weiteres Problem tritt hinzu, dass unklar ist, ob für den Funktionsarzneimittelbegriff das Vorliegen einer pharmakologischen Wirkung überhaupt notwendig ist. Der Begriff pharmakologische Wirkung wird also in der Rechtsprechung nicht nur nicht einheitlich definiert, es besteht darüber hinaus keine Einigkeit darüber, ob das Vorliegen einer pharmakologischen Wirkung überhaupt ein konstitutives Tatbestandsmerkmal des Funktionsarzneimittelbegriffs ist.367 ee) Zwischenergebnis Die bisherigen Darstellungen haben verdeutlicht, dass der Rechtsprechung keine einheitlichen Aussagen darüber zu entnehmen sind, was unter dem Begriff „pharmakologische Wirkung“ zu verstehen ist, welche Bedeutung dieser Begriff für die Arzneimitteleigenschaft hat und ob eine gesundheitsfördernde Wirkung notwendig ist bzw. wie weit dieses Kriterium reichen soll. 3. Strukturell bedingte Ursachen der uneinheitlichen Auslegung des Arzneimittelbegriffs Neben den bereits dargestellten Ursachen für die uneinheitliche Auslegung des Arzneimittelbegriffs sind weitere, strukturell bedingte Ursachen ersichtlich, die dazu beitragen, ein einheitliches – den Begriff konkretisierendes – Verständnis zu erschweren. 366
Siehe unter www.ec.europa.eu: Originalwortlaut: „Although not a completely reliable criterion, the presence of a dose-response correlation is indicative of a pharmacological effect“; kritisch auch Winters, Rechtliche Abgrenzung, S. 103; Lücker, PharmR 2018, 109 (113 ff.). 367 Kapitel 1 B. II. 2.
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Kap. 1: Der Arzneimittelbegriff
a) Tautologie Das Grundproblem besteht zunächst schlicht und einfach darin, dass es sich bei dem Begriff „pharmakologische Wirkung“ um eine Tautologie handelt. Der Arzneimittelbegriff wird beschrieben als ein Produkt mit arzneilicher Wirkung. Es läuft also darauf hinaus, dass ein Arzneimittel (Pharmakon) vorliegt, wenn ein Produkt eine arzneiliche (pharmakologische) Wirkung hat.368 Zu Recht wird dieses Kriteriums deshalb als „Scheinkriterium“369, als „weder aus naturwissenschaftlicher Sicht noch aus rechtlicher Sicht eindeutig“370 und infolgedessen die Abgrenzungsproblematik als „unendliche Geschichte“371, „unlösbare Problematik“372 und „Leerformel“373 bezeichnet. b) Verhältnis zu benachbarten Produktkategorien Während das Verhältnis zwischen Lebensmitteln und Arzneimitteln – formal, also unabhängig von den bereits aufgezeigten Abgrenzungsproblemen – eindeutig in dem Sinne geklärt ist, dass ein Ausschlussverhältnis besteht, gilt dies nicht für das Verhältnis von Arzneimitteln auf der einen Seite und Medizinprodukten sowie Betäubungs- und Dopingmitteln auf der anderen Seite. Nach dem Wortlaut der jeweiligen Definitionsnormen wäre jedes stoffliche Medizinprodukt auch ein Präsentationsarzneimittel und umgekehrt. Dies steht jedoch im Widerspruch zu dem Wortlaut des § 2 Abs. 3 Nr. 7 AMG, der eindeutig festlegt, dass ein Medizinprodukt kein Arzneimittel ist (Ausnahme: Diagnostika). Nach dem Urteil des EuGH vom 10. 07. 2014 stellt sich zudem die Frage, ob ein Betäubungs- oder Dopingmittel ein Arzneimittel sein kann. Der Gesetzgeber geht eindeutig davon aus, dass hier kein Ausschlussverhältnis besteht.374 Wie dies mit den Vorgaben des EuGH in Einklang zu bringen ist, ist jedoch fraglich. Hinzu tritt, dass die vom Arzneimittelbegriff abzugrenzenden und sich mit diesem teilweise überschneidenden Produkte in unterschiedlicher Art und Weise definiert werden. Wie bereits dargelegt, wird sowohl die intensionale (u. a. im AMG und MPG a. F. als auch die extensionalen Begriffsbestimmung (u. a. im BtMG und AntiDopG) verwendet, wobei neuerdings auch sog. Stoffgruppenregelungen (vgl. NpSG) hinzutreten. Die Einführung einer abweichenden Definitionstechnik im BtMG wurde seit dem Jahre 1990 in der parlamentarischen Diskussion
368
Vgl. Dieners/Reese/Doepner/Hüttebräuker, § 3 Rn. 60. Hahn/Hagenmeyer, ZLR 2003, 707 (708). 370 Kloesel/Cyran, § 2 Anm. 68a; vgl. auch Winters, Rechtliche Abgrenzung, S. 195 f. 371 Streinz, ZLR 2002, 654 (654). 372 Preuß, ZLR 2007, 435 (435). 373 Winters, Rechtliche Abgrenzung, S. 101. 374 Vgl. BT-Drucks. 18/4898, S. 23, wonach der Dopingbegriff ausdrücklich Arzneimittel erfassen soll. 369
C. Die Bestimmtheit des Arzneimittelbegriffs am Maßstab des Art. 103 Abs. 2 GG 103
immer wieder wegen Bedenken hinsichtlich ihrer Bestimmtheit abgelehnt.375 Es verwundert daher, dass die im Betäubungsmittelgesetz für erforderlich gehaltene Katalogisierung von Einzelsubstanzen an anderer Stelle entbehrlich sein soll.376 Die unterschiedliche Definitionstechnik der benachbarten Produktkategorien ermöglichen es zudem, die aus Gründen der Gesetzesbestimmtheit bestehende (betäubungsmittelrechtliche) Notwendigkeit einer ausdrücklichen Erfassung von Einzelsubstanzen qua Rückgriff auf das Arzneimittelstrafrecht zu unterlaufen, wie sich durch die Einstufung von Designerdrogen als Arzneimittel gezeigt hat.377 Dies wäre zwar auch möglich, wenn sich der Gesetzgeber ausschließlich der intensionalen Definitionstechnik bedient hätte. Die fehlende Pönalisierung in einem Gesetz, das extensional ausgerichtete Strafnormen enthält (z. B. Strafnormen des BtMG), versetzt den Bürger jedoch in die berechtigte Erwartung, der Umgang mit der jeweiligen nicht aufgelisteten Substanz sei straffrei,378 was aus Sicht der Bestimmtheit problematisch ist, wenn sich dies – über den Umweg des weit gefassten Arzneimittelbegriffs – als falsch herausstellt. c) Verhältnis von Jurisprudenz zu Naturwissenschaft379 Wie bereits aufgezeigt wurde, weist die Rechtsprechung der wissenschaftlich nachgewiesenen pharmakologischen Wirkung eine entscheidende Bedeutung für die Einstufung von Produkten als Arzneimittel zu.380 Dies führt im Ergebnis dazu, dass die Gerichte die Bestimmung des Bedeutungsinhaltes der „pharmakologischen Wirkung“ auf die Naturwissenschaft übertragen.381 So führte der BGH in einer Entscheidung aus dem Jahr 2008 aus, die Frage, ob ein Stoff eine pharmakologische Wirkung besitze, sei einem empirischen Beweis zugänglich.382 Auf den im Rahmen der Revisionsbegründung geäußerten Vorwurf, das Berufungsgericht habe verkannt, dass es sich bei der „pharmakologischen Wirkung“ nicht um eine Tatsachenfrage, sondern um einen unbestimmten Rechtsbegriff handele, erwidert der BGH, dass der Begriff der pharmakologischen Wirkung aus der pharmazeutischen Wissenschaft stamme, die als empirische Wissenschaft mit Hilfe von wissenschaftlichen Methoden nachprüfbare Aussagen über tatsächliche Wirkungszusammenhänge zwischen einem dem Organismus zugeführten Stoff und dessen Reaktion treffe. Die Frage, ob ein Stoff eine pharmakologische Wirkung besitze, sei demnach dem empirischen 375 Vgl. Bundesrat, Diskussionsprotokoll der 610. Sitzung des Ausschusses für Innere Angelegenheiten vom 25. 04. 1990, S. 32; Körner/Patzak/Volkmer, BtMG § 1 Rn. 39; Meinecke/Harten, StraFo 2014, 9 (12). 376 Vgl. Meinecke/Harten, StraFo 2014, 9 (14). 377 Vgl. Duttke/Waschkewitz, in: FS Rössner (2015), S. 737 (744). 378 Meinecke/Harten, StraFo 2014, 9 (14). 379 Siehe hierzu eingehend Winters, Rechtliche Abgrenzung, S. 194 ff. 380 Kapitel 1 B. II. 2. 381 So im Ergebnis auch Winters, Rechtliche Abgrenzung, S. 106 ff. 382 BGH PharmR 2008, 425 (429).
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Kap. 1: Der Arzneimittelbegriff
Beweis zugänglich und beruhe deshalb keineswegs allein auf einer rechtlichen Wertung. Diese Aussage wurde im Rahmen einer späteren Entscheidung durch den BGH relativiert,383 ohne jedoch klarzustellen, ob es sich bei der Frage der Begriffsbestimmung um eine rechtliche Frage handelt. Beiden Urteilen ist nicht klar zu entnehmen, ob für die Begriffsbestimmung das Gericht oder die Naturwissenschaft zuständig ist. Die Klärung der Frage, was unter dem Begriff „pharmakologische Wirkung“ zu verstehen ist, obliegt jedoch der Rechtsprechung. Der Begriff ist auch naturwissenschaftlich nicht eindeutigen zu bestimmen.384 Winters gelangt zutreffend zu dem Ergebnis, dass die Frage „Was ist eine pharmakologische Wirkung (ontologische Ebene)“ von der Frage „Woran erkennt man eine pharmakologische Wirkung (erkenntnistheoretische Ebene)“ zu trennen ist. Während erstere von der Jurisprudenz zu beantworten ist, kann darauf aufbauend anschließend aus naturwissenschaftlicher Sicht beantwortet werden, ob die Voraussetzungen gegeben sind.385 Unter Berücksichtigung der bereits dargestellten unklaren Aussagen der Rechtsprechung zum Begriff der „pharmakologischen Wirkung“ und des Fehlens einer einheitlichen abschließenden Definition, besteht – insbesondere unter gleichzeitiger Berücksichtigung der soeben dargestellten Ausführungen des BGH – die Gefahr, dass die Gerichte die bestehenden Unklarheiten umgehen, indem sie die Verantwortung der Begriffsbestimmung vollumfänglich der Naturwissenschaft zuweisen, welche damit ebenfalls überfordert ist. d) Umgehung des Begriffs „pharmakologische Wirkung“ Neben dem Verweis auf die Naturwissenschaft haben sich in der Rechtsprechung weitere Methoden entwickelt, um den Begriff der pharmakologischen Wirkung zu umgehen. Analysiert man die Rechtsprechung zu dem Begriff, erweckt sie den Eindruck, dass bewusst schon gar nicht der Versuch unternommen wird, den Begriff „pharmakologische Wirkung“ zu konkretisieren oder die Frage der Notwenigkeit des Vorliegens dieser Wirkung zu beantworten. Vielmehr wird versucht, mithilfe von schwammigen, floskelartigen und unklaren Merkmalen im Einzelfall zu einer ergebnisorientierten Einordnung des Produkts zu gelangen. Um dies dem Anschein der 383 BGH PharmR 2010, 338 (339): „Soweit die Revisionserwiderung demgegenüber auf die Senatsentscheidung ,L-Carnitin II‘ (Urt. v. 26. 6. 2008 – IZR 61/05, GRUR 2008, 830 Tz. 26 = WRP 2008, 1213) verweist, berücksichtigt sie nicht genügend, dass der Senat dort lediglich ausgesprochen hat, dass die Frage, ob ein Stoff eine pharmakologische Wirkung besitzt, einem empirischen Beweis zugänglich ist und deshalb keineswegs allein auf einer rechtlichen Wertung beruht. Der Senat hat damit zum Ausdruck gebracht, dass die Beantwortung dieser Frage – jedenfalls auch – eine rechtliche und damit gegebenenfalls in der Revision zu überprüfende Beurteilung des Sachverhalts erfordert.“; vgl. auch BGH PharmR 2010, 522 (527), es handele sich um einen Begriff, „der sowohl auf tatsächliche als auch auf rechtliche Elemente abhebt, und in diesem Sinne ein Tatsachen- und ein Rechtsbegriff“. 384 Siehe hierzu ausführlich Winters, Rechtliche Abgrenzung, S. 149 ff. 385 Winters, Rechtliche Abgrenzung, S. 194 ff.: „Der Versuch, eine Lösung für das Abgrenzungsproblem zu finden scheitert derzeit offensichtlich an der Inkompatibilität juristischer Vorgaben und grundlegender naturwissenschaftlicher Prinzipien.“
C. Die Bestimmtheit des Arzneimittelbegriffs am Maßstab des Art. 103 Abs. 2 GG 105
Vereinbarkeit mit der Arzneimitteldefinition zu verleihen, finden sich in der Rechtsprechung immer wiederkehrende Argumentationsmuster und Vorgehensweisen, die als Einfallstor einer einzelfallorientierten Entscheidung dienen, da sie es ermöglichen sollen, einzelne Voraussetzungen des Arzneimittelbegriffs hinwegoder hinzuzudenken. Als dogmatisches Instrument hierzu dient der Rechtsprechung insbesondere das bewusste Offenlassen des Verhältnisses zwischen Funktions- und Präsentationsarzneimittelbegriff und die damit verbundene sog. Multifaktortheorie,386 das Heranziehen der für sich ebenfalls unbestimmten und unterschiedlich interpretierten Grenzfallregelung und der beliebige Wechsel der für die Einordnung entschiedenen Perspektive (funktional-wissenschaftlich, Eignung oder Zweckbestimmung durch die Verkehrsauffassung, durch den Hersteller oder durch den einzelnen Verbraucher). Damit werden zahlreiche Kriterien erstellt, um dann im Rahmen einer Einzelfallprüfung ergebnisorientiert einzelne Kriterien zur Begründung oder Ablehnung der Arzneimitteleigenschaft heranzuziehen. e) Grenzfallregelung Die Grenzfallregelung des § 2 Abs. 3a AMG (Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2001/ 83/EG) ist unter Berücksichtigung der Vorgaben des EuGH und aufgrund der bereits aufgezeigten Probleme bei der Anwendung387 nicht geeignet, um Abgrenzungsfragen zu vereinfachen. Ihr kommt damit eine rein deklaratorische Funktion zu. Sie trägt darüber hinaus vielmehr auch noch zur Unbestimmtheit des Arzneimittelbegriffs bei, indem sie von der Rechtsprechung wegen des Wortlauts („Berücksichtigung aller Eigenschaften“) als Argument für die sog. Multifaktortheorie – und damit für eine Ausweitung des Funktionsarzneimittelbegriffs – herangezogen wird.388 Zudem verbleiben Unsicherheiten bei der Anwendung der Grenzfallregelung in der Form, dass ihr von einigen Gerichten teilweise – trotz der Vorgaben des EuGH – eine konstitutive Wirkung dergestalt beigemessen wird, dass auch ohne positive Feststellung der Arzneimitteleigenschaft – etwa bei bestehenden Zweifeln hinsichtlich des Vorliegens der pharmakologischen Wirkung – ein Arzneimittel vorliegen soll.389
386
Kapitel 1 A. VI. und B. II. 2. Weder in der Rechtsprechung noch in weiten Teilen der Literatur wird die Anwendung der Hilfskriterien jedoch ausdrücklich mit der Unbestimmtheit des Begriffs „pharmakologische Wirkung“ begründet. Ausdrücklich tut dies Koyuncu, der die Bedeutung der Hilfskriterien gerade in solchen Konstellationen betont, in denen keine klare Aussage über die pharmakologische Wirkung getroffen werden kann (Deutsch/Lippert/Koyuncu, § 2 Rn. 37). Siehe hierzu auch Kügel/Hahn/Delewski, NemV § 1 Rn. 274. 387 Siehe Kapitel 1 A. IX. Die Arzneimitteleigenschaft muss zuvor positiv feststehen, das Verhältnis zu § 2 Abs. 3 AMG ist unklar und die Grenzfallregelung ist im Rahmen der Abgrenzung zu Medizinprodukten nur eingeschränkt anwendbar. 388 EuGH PharmR 2009, 122 (Rn. 36). 389 Vgl. VG Köln BeckRS 2017, 135481 (Rn. 56).
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Kap. 1: Der Arzneimittelbegriff
f) Koexistenz von deutschem und europäischem Arzneimittelbegriff Ein weiteres dem Arzneimittelbegriff generell anhaftendes Problem besteht darin, dass der Begriff sowohl im nationalen Recht als auch im europäischen Recht definiert ist, der deutsche Arzneimittelbegriff also durch das europäische Recht determiniert ist. Im Rahmen der Auslegung des Arzneimittelbegriffs führt diese Struktur zu weiteren Problemen. aa) Anwendung des deutschen oder des europäischen Arzneimittelbegriffs Als erstes stellt sich damit die Frage, auf welche der beiden Arzneimitteldefinition abzustellen ist. Schon allein die Tatsache, dass hier unterschiedliche Ansätze denkbar und von der Rechtsprechung auch vertreten werden, offenbart ein weiteres Problem der Bestimmtheit des Arzneimittelbegriffs. Soweit vertreten wird, diese Frage könne offenbleiben (sog. Kumulationslösung),390 da nur rechtsdogmatische Unterschiede bestünden, abweichende Ergebnisse ausgeschlossen seien bzw. nur theoretisch auftreten könnten und es daher dahinstehen könne, ob der deutsche Arzneimittelbegriff europarechtskonform auszulegen sei oder der europäische Arzneimittelbegriff unmittelbar zur Anwendung komme, ist dem nicht zuzustimmen. Denn aus Gründen der Bestimmtheit muss es für den Normadressat klar erkennbar sein, welche Norm für die Einstufung als Arzneimittel und damit für die Strafbarkeit zur Anwendung kommt.391 Dies gilt selbst dann, wenn man der Ansicht ist, es bestünden keine Unterschiede zwischen den beiden Definitionen, zumal sowohl der europäische als auch der deutsche Arzneimittelbegriff jederzeit – mit der Folge einer inhaltlichen Diskrepanz – geändert werden könnte.392 Damit gilt es zu prüfen, ob auf § 2 AMG oder Art. 1 der Richtlinie 2001/83/EG abzustellen ist. Hierzu werden in der Rechtsprechung und Literatur unterschiedliche Ansätze verfolgt. Nach der vom BGH und Teilen der Literatur vertretenen sog. Koexistenzlösung ist § 2 AMG Ausgangspunkt der Einstufung eines Produkts als Arzneimittel.393 Währenddessen wird im Rahmen der Abgrenzung von Arzneimitteln zu Lebensmitteln von Teilen der Rechtsprechung und der Literatur vertreten, den europäischen Arzneimittelbegriff unmittelbar anzuwenden (sog. Integrationslösung).394 Ausgehend von der Frage, ob das jeweilige Produkt unter den Lebensmittelbegriff fällt, komme – bis zur Geset390 OVG Lüneburg PharmR 2011, 86 (87); OLG Stuttgart PharmR 2008, 386 (388 f.); vgl. auch BGH PharmR 2016, 79 (82); Dieners/Reese/Doepner/Hüttebräuker, § 2 Rn. 38. 391 Kaulen, Abgrenzung, S. 67 f. 392 Kaulen, Abgrenzung, S. 64. 393 BGH PharmR 2006, 329 (335); BGH PharmR 2010, 522 (523); Doepner/Hüttebräuker, ZLR 2008, 1 (3 ff.); Müller, LMuR 2009, 129 (131); Harting, ZLR 2008, 245 (246); Müller, in: FS Doepner (2008), 267 (268 ff.); Ernst, Blankettstrafgesetze, S. 180 f. 394 BVerwG PharmR 2007, 211 (213 f.); BVerwG PharmR 2009, 397 (398 f.), ohne Begründung abweichend dann jedoch BVerwG PharmR 2011, 168 (169 ff.); Doepner/Hüttebräuker, ZLR 2008, 1 (3 ff.); Meyer/Streinz, LFGB, BasisVO Art. 2 Rn. 34; Dettling, LMuR 2009, 101 (105); Köhler, GRUR 2002, 844 (845).
C. Die Bestimmtheit des Arzneimittelbegriffs am Maßstab des Art. 103 Abs. 2 GG 107
zesänderung zum 10. 08. 2021 über den Verweis in § 2 Abs. 2 LFGB a. F. – Art. 2 der VO (EG) Nr. 178/2002 zur Anwendung. Nach Art. 2 Abs. 3 lit. d VO (EG) Nr. 178/ 2002 gehören Arzneimittel im Sinne der Richtlinien 65/65/EWG und 92/73/EWG395 nicht zu den Lebensmitteln. Über diesen Verweis auf den europäischen Arzneimittelbegriff durch die – unmittelbar geltende – Verordnung sei der europäische Arzneimittelbegriff anzuwenden. Prüft man im Rahmen der Abgrenzung von Arzneimitteln zu Lebensmitteln also zunächst die Lebensmitteleigenschaft, gelangt man zu der Verweisung auf den europäischen Arzneimittelbegriff. Gegen diese sog. Integrationslösung werden zahlreiche überzeugende Argumente, wie u. a. die Vermischung der gemeinschaftlichen Handlungsformen „Richtlinie“ und „Verordnung“, die damit einhergehenden Auswirkungen auf sämtliche Negativdefinitionen, die Anmaßung einer Umsetzungskompetenz durch die Gerichte sowie telelogische und historische Erwägungen, angeführt.396 Hinzuzufügen ist dem, dass es mit dem Bestimmtheitsgrundsatz nicht vereinbar wäre, im Rahmen der Abgrenzung von Arzneimitteln zu Lebensmitteln – nur in diesem Bereich ist die sog. Integrationslösung anwendbar – auf den europäischen Arzneimittelbegriff, im Rahmen der Abgrenzung zu anderen Produkten dann aber auf den deutschen Arzneimittelbegriff, abzustellen. Ein weiteres Problem bei der Anwendung der sog. Integrationslösung bestünde darin, dass sich die Unbestimmtheit im Falle der Anwendung des (§ 2 Abs. 2 LFGB a. F. i. V. m.) Art. 2 Abs. 3 lit. d VO (EG) Nr. 178/2002 schon aus der dort angewendeten Verweisungstechnik ergeben würde.397 Denn Art. 2 Abs. 3 lit. d VO (EG) Nr. 178/ 2002 verweist auf die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verordnung schon wieder aufgehobenen Richtlinien 65/65/EWG und 92/73/EWG.398 Aus dem Wortlaut der Verweisung wird nicht klar, ob es sich um eine statische oder eine dynamische Verweisung handelt.399 Sieht man darin eine statische Verweisung, hätte dies zur Konsequenz, dass die veraltete Arzneimitteldefinition zur Anwendung kommen müsste. Dies entspricht eindeutig nicht dem Willen des Gesetzgebers. In der Rechtsprechung und Literatur wird diese Konstruktion deshalb als dynamische Verweisung ausgelegt.400 Dies erscheint zunächst schon insoweit problematisch, als dass hier entgegen dem eindeutigen Wortlaut gesetzgeberische Defizite zulasten der Vorhersehbarkeit des strafbaren Verhaltens und damit zulasten des Normadressaten kaschiert werden. Zudem läge dann eine dynamische Verweisung auf eine Richtlinie vor, die schon für sich genommen unter Bestimmtheitsaspekten äußerst problema395 Die Richtlinie 92/73/EWG erweitert den Anwendungsbereich der Richtlinie 65/65/ EWG und trifft zusätzlich Vorschriften für homöopathische Arzneimittel. 396 Siehe hierzu ausführlich Kaulen, Abgrenzung, S. 66 ff. 397 Vgl. Doepner/Hüttebräuker, ZLR 2004, 429 (459); Kaulen, Abgrenzung, S. 75 f. 398 Ausführlich hierzu Ernst, Blankettstrafgesetze, S. 142 ff.; Kaulen, Abgrenzung, S. 75 f.; zur Frage der Verfassungsmäßigkeit eines Verweises auf eine noch nicht anwendbare EUVerordnung siehe BGH NJW 2017, 966; BVerfG NJW 2018, 3091. 399 Schon das führt zur Unbestimmtheit der Norm, vgl. BGH NStZ-RR 2019, 86. 400 BVerwG PharmR 2008, 73 (75); OVG Lüneburg PharmR 2007, 71 (75); Zipfel/Rathke, BasisVO Art. 2 Rn. 53b (m. w. N.).
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Kap. 1: Der Arzneimittelbegriff
tisch und im Ergebnis mit Art. 103 Abs. 2 GG unvereinbar ist.401 Unabhängig von dem hier erzielten Ergebnis der Anwendbarkeit des deutschen Arzneimittelbegriffs verdeutlichen die geschilderten Ansätze, dass in der Rechtsprechung schon keine Klarheit darüber besteht, welcher der beiden Arzneimittelbegriffe Ausgangspunkt für die Einstufung eines Produkts als Arzneimittel ist. bb) Zuständiges Gericht für die Auslegung des Arzneimittelbegriffs Neben der Frage, welche Definition zur Anwendung kommt, führt die Koexistenz einer deutschen und einer europäischen Definition zu weiteren Problemen. Im Hinblick auf die von der Rechtsprechung im Rahmen des Bestimmtheitsgebots anerkannte Möglichkeit der Präzisierung und Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe durch die Gerichte402 stellt sich die Frage, welches Gericht für die Konkretisierung zuständig ist. Es konnte bereits aufgezeigt werden, dass die Aussagen des EuGH mit denen der nationalen Gerichte nicht immer identisch sind.403 Dem BVerwG wird insoweit ein Verstoß gegen das Auslegungsmonopol des EuGH vorgeworfen.404 Regelmäßig legen nationale Gerichte Auslegungsfragen dem EuGH vor,405 gehen also von einer Konkretisierungskompetenz des EuGH aus.406 Der EuGH kommt dem jedoch oftmals nicht oder nur unzureichend nach. Er begründet dies dann mit der seiner Meinung nach fehlenden Vollharmonisierung des Arzneimittelbegriffs,407 und betont insoweit regelmäßig, dass dasselbe Produkt in den Mitgliedstaaten unterschiedlich eingestuft werden könne, ohne dies jedoch näher zu begründen.408 Auf die Vorlagefrage nach der Auslegung des Begriffs „pharmakologische Wirkung“ antwortete der EuGH, dass „die pharmakologische Eigenschaft eines Erzeugnisses der Faktor sei, aufgrund dessen die mitgliedstaatlichen Behörden 401 Siehe Kapitel 2 E. II. 2. Zur Frage des Umgangs mit Verweisungen auf außer Kraft getretene Ausfüllungsnormen siehe auch Cornelius, Verweisungsbedingte Akzessorietät, S. 422 f. 402 BVerfG NJW 1992, 2947 (2948); wistra 2010, 396 (402); NJW 2010, 3209 (3211 f.); BVerfG NJW 2016, 3648 (3650). 403 Hinsichtlich der Frage, ob im Rahmen des Funktionsarzneimittelbegriffs der wissenschaftliche Nachweis der pharmakologischen Wirkung erforderlich ist, siehe Kapitel 1 A. VI. 2. und B. II. 2. Hinsichtlich der Frage, ob eine gesundheitsfördernde Wirkung/Eignung vorliegen muss, siehe Kapitel 1 B. III. 404 Kügel/Müller/Hofmann, § 2 Rn. 33. 405 Zum Beispiel OVG Münster, BeckRS 2004, 25840; OLG Frankfurt PharmR 2011, 57; BGH PharmR 2013, 379; 2014, 296. 406 Vgl. BGH NJW 2006, 2630 (2634); PharmR 2010, 181 (182); NJW-RR 2010, 1407 (1408) 407 EuGH LMRR 1992, 54 (Rn. 43); PharmR 2008, 59 (62): „solange die Harmonisierung der erforderlichen Vorschriften zur Gewährleitung des Gesundheitsschutzes nicht vollständiger sein wird, (sei) kaum zu vermeiden, dass hinsichtlich der Einstufung von Erzeugnissen als Arzneimittel oder als Lebensmittel noch Unterschiede zwischen den Mitgliedsstaaten bestehen“. 408 EuGH PharmR 2009, 122 (125); 227 (234); PharmR 2008, 59 (62).
C. Die Bestimmtheit des Arzneimittelbegriffs am Maßstab des Art. 103 Abs. 2 GG 109
ausgehend von den Wirkungsmöglichkeiten dieses Erzeugnisses zu beurteilen haben, ob es (…) dazu bestimmt ist, im oder am menschlichen Körper zur Erstellung einer ärztlichen Diagnose oder zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der menschlichen physiologischen Funktionen angewandt zu werden“.409 Anhand der Aussagen des EuGH wird deutlich, dass es nach seiner Ansicht Aufgabe des nationalen Rechtsanwenders ist, die unbestimmten Rechtsbegriffe zu konkretisieren. Diese Haltung spiegelt sich auch in dem Unterlassen der Definition des Krankheitsbegriffes und dem Unterlassen der Präzisierung der Zweckbestimmung im Rahmen des Funktionsarzeimittelbegriffs wieder. Unter dem Deckmantel der fehlenden Vollharmonisierung weist der EuGH damit eine Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe von sich. Dies ist – unabhängig von der Frage, ob die Ansicht des EuGH hinsichtlich der Frage der Vollharmonisierung zutreffend ist oder nicht – insoweit problematisch, als dass der BGH410 – und auch zahlreiche Stimmen in der Literatur411 sowie die Generalanwälte Geelhoed und Trstenjak412 – anders als offensichtlich der EuGH von einer Vollharmonisierung und einem Auslegungsmonopol des EuGH ausgehen, was im Ergebnis dazu führt, dass die Verantwortung für die Konkretisierung der unbestimmten Rechtsbegriffe zwischen dem EuGH und den nationalen Gerichten hin und her geschoben wird.413 g) Festhalten des EuGH an seiner überholten Rechtsprechung An anderer Stelle – und dies kann ebenfalls als Grund dafür herangezogen werden, warum es an einer Konkretisierung des Arzneimittelbegriffs fehlt – ist zu beobachten, dass der EuGH trotz gegenläufiger gesetzgeberischer Entscheidungen an seinen veralteten Rechtspositionen festhält.414 Dies gilt insbesondere bei der Anwendung der sog. Multifaktortheorie415 und der Auslegung der Grenzfallregelung.416
409
EuGH LMRR 2005, 2 (Rn. 54); PharmR 2013, 485 (490). BGH NJW 2006, 2630 (2634); PharmR 2010, 181 (182). 411 Rennert, NVwZ 2008 1179 (1181 ff.); Kügel/Hahn/Delewski, NemV § 1 Rn. 225; Reinhart, ZLR 2008, 642 (643); Meyer/Reinhart, WRP 2005, 1437 (1444); Doepner, PharmR 2018, 116 (117 f.). 412 Geelhoed, Slg. 2005, I-5141 (Rn. 33); Trstenjak, Slg. 2007, I-9811 (Rn. 38). 413 In diese Richtung auch Doepner/Hüttebräuker, WRP 2005, 1195 (1202). 414 In diese Richtung auch Doepner, PharmR 2018, 116 (119 f.). 415 EuGH PharmR 2009, 122 (125); PharmR 2014, 347 (350); BGH BeckRS 2013, 03414 (Rn. 7); PharmR 2016, 82 (83). Die Multifaktortheorie ist durch die klare gesetzgeberische Entscheidung, den Präsentations- vom Funktionsarzneimittelbegriff zu trennen, überholt. 416 EuGH PharmR 2009, 122 (Rn. 24). Die nach dem EuGH nur deklaratorische, nach dem Willen des Gesetzgebers hingegen konstitutive Bedeutung haben soll, vgl. Doepner, PharmR 2018, 116 (123 f.). 410
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Kap. 1: Der Arzneimittelbegriff
h) Fehlende Einheit der Rechtsordnung Ein Blick auf den sozialversicherungsrechtlichen Arzneimittelbegriff hat ein weiteres Problem offenbart. Der Arzneimittelbegriff wird in den unterschiedlichen Rechtsgebieten unterschiedlich ausgelegt. Aus Bestimmtheitsgesichtspunkten ist dies sehr problematisch. Denn eine fehlende Kohärenz der Rechtsordnung erschwert es dem Normadressaten, das strafbare Verhalten vorherzusehen.417
VI. Ergebnis und Ausblick Die Analyse des Arzneimittelbegriffs hat ergeben, dass der Funktionsarzneimittelbegriff wegen der Unklarheit des unbestimmten Rechtsbegriffs „pharmakologische Wirkung“ mit dem Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG nicht vereinbar ist. Dies gilt selbst dann, wenn man der Rechtsprechung die Möglichkeit der Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe einräumt. Das BVerfG führt insoweit aus, dass – gerade in Fällen in denen der Gesetzgeber Tatbestände durch Generalklauseln verhältnismäßig weit und unscharf fasst und dem Normadressaten dadurch nur noch die Möglichkeit der Bestrafung erkennbar ist – der Präzisierung und Konkretisierung durch die Rechtsprechung eine besondere Bedeutung zukomme.418 Die Rechtsprechung treffe insoweit eine besondere Verpflichtung, an der Erkennbarkeit der Voraussetzungen der Strafbarkeit mitzuwirken. Die Auswertung der Aussagen der Rechtsprechung zum Arzneimittelbegriff hat jedoch ergeben, dass eine derartige, den Begriff konkretisierende gefestigte Rechtsprechung und die damit einhergehende zuverlässige Grundlage für die Auslegung und Anwendung nicht existiert. Obwohl es sich bei dem Merkmal der pharmakologischen Wirkung um denjenigen Faktor handelt, auf dessen Grundlage zu beurteilen ist, ob es sich um ein Funktionsarzneimittel handelt,419 also um den „Schlüsselbegriff“420, das „wichtigste“421 bzw. das „zentrale“422 Kriterium, ist der Versuch, diesen Begriff zu konkretisieren, bislang gescheitert. Soweit in der Literatur kritisiert wird, die Einstufung als Arzneimittel erfolge „entsprechend angelsächsischer Rechtspraxis durch Einzelfallentscheidungen des EuGH unter Berücksichtigung grundsätzlicher Ausführungen in früheren Entscheidungen“,423 ist dem hinsichtlich der praktizierten Methodik zuzustimmen. Nach der erfolgten Analyse der Aussagen der Rechtsprechung zum Arzneimittelbegriff ist dem jedoch hinzuzufügen, dass die Einzelfallentscheidungen 417 So führt auch das BVerfG aus, die „Voraussehbarkeit der Strafandrohung und Kohärenz der Rechtsordnung stehen in engem Zusammenhang“, BVerfG NJW 2010, 3209 (3215). 418 BVerfG NJW 2010, 3209 (3211). 419 EuGH PharmR 2009, 334 (335). 420 Müller, NVwZ 2009, 425 (427). 421 BSG PharmR 2008, 343 (346). 422 Preuß, ZLR 2007, 435 (438). 423 Kloesel/Cyran, § 2 Anm. 68a.
C. Die Bestimmtheit des Arzneimittelbegriffs am Maßstab des Art. 103 Abs. 2 GG 111
eine Stringenz im Sinne einer Präzisierung des Begriffs nicht erkennen lassen. Die unklaren und sich zum Teil widersprechenden Vorgaben des EuGH werden von den nationalen Gerichten unterschiedlich bewertet und umgesetzt. Dass eine solche Präzisierung nicht stattfand, hat mehrere Ursachen. Da es sich bei dem Begriff „pharmakologische Wirkung“ um eine Tautologie handelt und der Begriff auch naturwissenschaftlich nicht eindeutig bestimmbar ist, sind unterschiedliche Interpretationen vorprogrammiert. In Kenntnis dieser Problematik haben sich Umgehungsmechanismen gebildet, die es ermöglichen sollen, einzelfallorientiert eine Einstufung als Arzneimittel vorzunehmen. Die Verantwortung für die Konkretisierung der unbestimmten Rechtsbegriffe wird zwischen den nationalen Gerichten und dem EuGH einerseits und der Rechtswissenschaft und der Naturwissenschaft andererseits hin und her geschoben. Die Folge der Feststellung der Unbestimmtheit des Funktionsarzneimittelbegriffs ist, dass die Arzneimitteleigenschaft eines Produkts im Strafrecht nur über den Präsentationsarzneimittelbegriff hergeleitet werden darf. Auch dieser ist im Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz problematisch, weshalb er eng ausgelegt werden muss. Zunächst ist der EuGH gehalten, den Krankheitsbegriff zu definieren bzw. konkretisieren. Darüber hinaus darf die Präsentationsarzneimitteleigenschaft und damit die Strafbarkeit nur über die objektive Verkehrsauffassung begründet werden. Die zum Teil durch die Rechtsprechung erfolgte Ausweitung des Begriffs über die subjektive Zweckbestimmung des Herstellers oder des Verbrauchers ist ebenso unzulässig, wie die strafbarkeitsbegründende Verkleinerung des Verkehrskreises. Hält man sich an diese Maßstäbe, führt dies zum Ergebnis, dass strafrechtlich nur noch eindeutig als Arzneimittel identifizierbare Produkte dem Arzneimittelbegriff unterfallen und damit die Strafbarkeit in einer dem Bestimmtheitsgrundsatz entsprechenden Weise für den Normadressaten vorhersehbar ist. Denn während der Präsentationsarzneimittelbegriff eindeutige, mit dem allgemeinen Sprachgebrauch vereinbare Produkte erfasst, fallen unter den Funktionsarzneimittelbegriff, der ursprünglich als Auffangtatbestand konzipiert wurde,424 Produkte, die „nicht als Arzneimittel daherkommen“.425 Damit wird die Vorgabe des BVerfG, das im Rahmen seiner Ausführungen zur Bestimmtheit des Untreueparagraphen ausführt hat, die „Ziele dementsprechender Auslegung müssen von Verfassungs wegen darin bestehen, die Anwendung (…) auf klare und deutliche (evidente) Fälle zu beschränken“,426 umgesetzt. Kommt man zu dem Ergebnis, dass der Funktionsarzneimittelbegriff nicht auch gegen den aus Art. 20 Abs. 3 GG abgeleiteten verwaltungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz verstößt, wäre die Folge damit eine sog. „Normspaltung“ bzw. „Normambivalenz“,427 d. h. der strafrechtliche Arzneimittelbegriff ist nicht 424
Meinecke/Harten, StraFo 2014, 9 ff. Rennert, NVwZ 2008, 1179 (1183). 426 BVerfG NJW 2010, 3209 (3215). 427 Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht, Rn. 111; ders., in: FS Schaffstein (1975), S. 195 ff.; ders., in: FS Schroeder (2006), S. 641 (644); LK-StGB/Dannecker/Schuhr, § 1 Rn. 341; BK/ 425
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Kap. 1: Der Arzneimittelbegriff
identisch mit dem verwaltungsrechtlichen Arzneimittelbegriff, er ist enger auszulegen.428 Auch wenn eine derartige Normspaltung – nicht zuletzt auch aus Gründen der Bestimmtheit selbst – möglichst vermieden werden soll, ist ein anderer Weg unter Berücksichtigung der derzeitigen Rechtslage nicht möglich.429 Der Bestimmtheitsgrundsatz limitiert insoweit den Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung.430 Eine derartige Normspaltung ist in Bezug auf den Arzneimittelbegriff zudem bereits geübte Praxis. Wie aufgezeigt wurde, wird der verwaltungsrechtliche Arzneimittelbegriff anders ausgelegt als der sozialversicherungsrechtliche Arzneimittelbegriff.431 Dieses Ergebnis – die Unanwendbarkeit des Funktionsarzneimittelbegriffs – entspricht letztlich dem bereits dargestellten alternativen Lösungsansatz,432 den Funktionsarzneimittelbegriff durch den Präsentationsarzneimittelbegriff einzuschränken. Denn eine solche Einschränkung ist nichts anderes als der Verzicht auf die Anwendung des Funktionsarzneimittelbegriffs. Es bestehen jedoch zwei entscheidende Unterschiede zu der oben bereits als untauglich bewerten Einstufungsmethodik. Zum einen wird dieses Ergebnis über das Bestimmtheitsgebot bzw. die Unbestimmtheit des Funktionsarzneimittelbegriffs hergeleitet, d. h. es ist Folge der verfassungsrechtlichen Vorgaben und dient nicht schlicht der Erzielung eines im Einzelfall richtig erscheinenden Ergebnisses. Und zum anderen führt die Feststellung der Unanwendbarkeit des Funktionsarzneimittelbegriffs mangels Bestimmtheit dazu, dass nicht nur bei einigen – nicht genau bestimmbaren – Produktgruppen, sondern im Strafrecht generell auf den Präsentationsarzneimittelbegriff abzustellen ist. Es bleibt damit zu klären, welche Auswirkungen das erzielte Ergebnis hat und welche Möglichkeiten bestehen, um gegebenenfalls auftretende Strafbarkeitslücken zu schließen. Zunächst ist festzustellen, dass die Auswirkung der Nichtanwendbarkeit des Funktionsarzneimittelbegriffs nicht von so einem erheblichen Ausmaß ist, wie man es zunächst annehmen könnte. Denn ein Blick zurück auf die Analyse der Rechtsprechung macht deutlich, dass sich die Anzahl derjenigen Produkte, die als Funktionsarzneimittel, nicht jedoch als Präsentationsarzneimittel, einzustufen sind, im Wesentlichen aus zwei Gründen in Grenzen hält. Zum einen, weil die von der Rechtsprechung angewandte Multifaktortheorie kaschiert, dass zahlreiche über die Hilfskriterien der Multifaktotheorie als Funktionsarzneimittel eingestufte Produkte bereits unter den Präsentationsarzneimittelbegriff zu subsumieren wären. Und zum anderen, weil nach der Entscheidung des EuGH vom 10. 07. 2014 Rauschmittel nicht Pohlreich, GG Art. 103 Abs. 2 Rn. 83; Dietmeier, Blankettstrafrecht, S. 116 f.; Kudlich/ Og˘ lakcıog˘ lu, Rn. 49 f.; krit. zum Begriff Satzger, Europäisierung des Strafrechts, S. 227. 428 Vgl. BGH NJW 200, 2365 ff.; 2002, 1211 ff.; 1585 ff. zu Verstößen gegen das Aktiengesetz und das Kreditwesengesetz; Bülte, JuS 2015, 769 zu § 283b StGB. 429 Vgl. Vergho, PharmR 2009, 221 (226). 430 Vgl. Knauer, PharmR 2008, 199 (200). 431 Siehe Kapitel 1 B. III. 4. c). 432 Siehe Kapitel 1 B. III. 6.
C. Die Bestimmtheit des Arzneimittelbegriffs am Maßstab des Art. 103 Abs. 2 GG 113
mehr unter den Arzneimittelbegriff fallen und auch bei anderen Produkten, nämlich genau bei denjenigen, die nur über den Funktionsarzneimittelbegriff als Arzneimittel einzustufen wären, also diejenigen ohne gesundheitsfördernde Wirkung und ohne Krankheitsbezug, die Arzneimitteleigenschaft ohnehin, unabhängig von dem Ergebnis der Unanwendbarkeit des Funktionsarzneimittelbegriffs, durch die Vorgaben des EuGH in Frage gestellt ist. Aufgrund der festgestellten Unbestimmtheit des Funktionsarzneimittelbegriffs können demnach Strafbarkeitslücken für drei Produktgruppen bestehen: 1. Die soeben genannten Produkte ohne Krankheitsbezug, wie insbesondere schwangerschaftsverhütende und schwangerschaftsabbrechende Mittel. 2. Neuartige Produkte oder Produkte mit ambivalenten Einsatzmöglichkeiten (sog. dual use Produkte), bei denen keine Verkehrsauffassung existiert bzw. die von der Verkehrsauffassung abweichend konsumiert werden. 3. Produkte im Grenzbereich zwischen Arzneimitteln und Medizinprodukten, da Arzneimittel sich von Medizinprodukten gerade durch die pharmakologische Wirkung unterscheiden. Bei den unter 1. genannten Produkten stellt sich die Frage der Arzneimitteleigenschaft nach dem Urteil des EuGH vom 10. 07. 2014 ohnehin. Die Einordnungsproblematik der unter 2. genannten Produkte wurde durch den Ausschluss von Rauschmitteln aus dem AMG durch den EuGH und durch die Neuregelung psychoaktiver Substanzen im NpSG entschärft. Zwar kommen fast täglich neue Arzneimittel auf den Markt, hierbei handelt es sich jedoch nur selten – anders als bei den psychoaktiven Substanzen – um komplett neuartige Produkte. Für die überwiegende Mehrzahl wird wegen der bereits auf dem Markt befindlichen vergleichbaren Produkte und der vorhandenen wissenschaftlichen Erkenntnisse zu diesen eine Verkehrsauffassung bereits bestehen, sodass eine Einordnung über den Präsentationsarzneimittelbegriff erfolgen kann. Bei den unter 3. genannten Produkten entsprach die Frage, wie die Behörden und Gerichte das Produkt einordnen – als Arzneimittel oder Medizinprodukt – aufgrund des unbestimmten Rechtsbegriffs der „pharmakologischen Wirkung“ ohnehin oftmals einer Lotterie, wie am Beispiel der Darmreinigungspräparats Magrocol aufgezeigt wurde.433 Um in diesen Grenzbereichen sowie im Bereich derjenigen Produkte, deren Arzneimitteleigenschaft durch die Rechtsprechung des EuGH vom 10. 07. 2014 in Frage gestellt ist, die für das Strafrecht notwendige Klarheit zu schaffen, ist es erforderlich – auf europäischer Ebene – einen abschließenden Katalog bzw. Stoffliste und somit eine klare Zuordnung gewisser Produkte zu der einen oder anderen Kategorie zu schaffen. Hierfür sind auf nationaler Ebene zwei Ansätze denkbar. Entweder man fügt eine Stoffliste in § 2 AMG ein. Dies hätte zur Folge, dass – wie im BtMG – die Stoffliste für das AMG insgesamt, also auch für die verwaltungsrechtlichen Vorschriften zur Anwendung kämen. Hierfür würde sich eine Ergänzung des § 2 Abs. 2 AMG, der bereits eine 433
Kapitel 1 B. II. 1 a).
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Kap. 1: Der Arzneimittelbegriff
vergleichbare Regelung (fiktive Arzneimittel) enthält, anbieten. Eine andere – weniger weitreichende – Möglichkeit bestünde darin, wie im AntiDopG in den Strafund Bußgeldvorschriften den Arzneimittelbegriff durch Verweis auf den Präsentationsarzneimittelbegriff und eine Stoffliste, die dann als Anlage zum AMG hinzugefügt werden müsste, zu konkretisieren. Dies hätte zur Folge, dass der strafrechtliche Arzneimittelbegriff enger wäre als der verwaltungsrechtliche Arzneimittelbegriff. Beide Varianten wären mit dem strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz vereinbar. Soweit dem – unter Verweis auf die Probleme der Stoffliste des BtMG – entgegengebracht werden kann, dass dann im Hinblick auf neuartige Stoffe ggf. Strafbarkeitslücken entstehen, konnte bereits dargestellt werden, dass sich diese zum einen im Arzneimittelbereich in Grenzen halten und zum anderen überwiegend schon vom Präsentationsarzneimittel erfasst wären. Darüber hinaus bestehen auch im Rahmen einer solchen Gesetzeskonstruktion Möglichkeiten, die Ergänzung derartiger Stofflisten auf den Rechtsverordnungsgeber auszulagern und damit zu beschleunigen.434 Im Übrigen wären Strafbarkeitslücken zugunsten der strafrechtlichen Bestimmtheit hinzunehmen. Für diese Lösung spricht, dass sie die Vorteile einer intensionalen Definition (Präsentationsarzneimittelbegriff) mit denen einer extensionalen Definition (Stoffliste) kombiniert. Eine solche kombinierte Begriffsbestimmung würde den Bedenken entgegentreten, die gegen Positivlisten generell und im Bereich des Arzneimittelrechts speziell immer wieder geäußert werden.435 Der Präsentationsarzneimittelbegriff würde evidente Fälle erfassen und zugleich dafür sorgen, dass sich die Anzahl der in die Stoffliste aufzunehmenden Produkte in Grenzen hält. Die Stoffliste würde Grenzfälle erfassen und diese klar einer Kategorie zuordnen. Diese Lösung wäre neben der für psychoaktive Substanzen gewählten Form der Stoffgruppenregelung im NpSG eine Möglichkeit, das „Alles-oder-NichtsPrinzip“436 abzuschaffen.
434
Siehe § 1 Abs. 2 und 3 BtMG sowie die Neuregelung des § 6 Abs. 3 AMG. Kritisiert werden Positivlisten generell wegen ihrer fehlenden Flexibilität; vgl. MKNebenstrafrecht/Og˘ lakcıog˘ lu, BtMG § 1 Rn. 31. Speziell auf das AMG bezogen wird dieses Instrument kritisiert, weil es damit nur schwer möglich sei, angesichts der Komplexität des Arzneimittelmarktes ein fehlerfreies Abbild der Arzneimittel zu schaffen. Vgl. hierzu EuGRZ 1999,193 (197); zu der Diskussion um die Schaffung einer Positivliste im SGB V vgl. Axer, NZS 2001, 225 ff.; Peters/Schmidt, SGB V § 31 Rn. 48 ff.; Kügel/Müller/Hofmann, § 78 Rn. 121. 436 MK-Nebenstrafrecht/Og˘ lakcıog˘ lu, BtMG § 1 Rn. 31 ff. 435
Kapitel 2
Die Blankettgesetzgebungstechnik des AMG A. Einleitung Dass die Blankettgesetzgebungstechnik mit dem sich aus Art. 103 Abs. 2 GG ergebenden – und zusätzlich in § 1 StGB und § 3 OWiG normierten – Bestimmtheitsgrundsatz, nach dem der Gesetzgeber verpflichtet ist, Straf- und Ordnungswidrigkeitentatbestände in einer Weise zu fassen, die es den Gesetzesunterworfenen ermöglicht, das sanktionierte Verhalten eindeutig zu erkennen, im Konflikt steht, wird einem schon bei einem flüchtigen Blick in die entsprechenden Sanktionsnormen deutlich. Zwar ist anzuerkennen, dass derartige Verweisungen nicht nur der Arbeitserleichterung des Gesetzgebers dienen, sondern darüber hinaus auch der Übersichtlichkeit eines Gesetzes zuträglich sein können, da sie der Vermeidung von Wiederholungen dienen, damit den Gesetzestext verknappen und letztlich auch zu einer Systematisierung beitragen können.1 Auf der anderen Seite – und dies ist der Nachteil solcher Verweisungen – wird der Zusammenhang des Textes zerrissen und der Lesefluss beeinflusst.2 Gerade bei Verweisungen auf Normen, die sich nicht in dem die Verweisung enthaltenen Gesetz, sondern an anderer Stelle befinden, ist es dem Leser selbst bei genauer Bezeichnung der in Bezug genommen Norm deutlich erschwert, den Gesamttatbestand zu erfassen. Im Folgenden soll deshalb die rechtliche Wirksamkeit der im Arzneimittelgesetz herrschenden Gesetzgebungstechnik von Blanketttatbeständen untersucht werden. Hierfür wird zunächst der Begriff der Blankettnorm bzw. des Blankettstrafgesetzes nachvollzogen und im Anschluss daran die im AMG verwendeten Blankettnormen kategorisiert, um dann die von der Rechtsprechung für die Bestimmtheit von Blankettnormen entwickelten Maßstäbe zu analysieren und einer kritischen Würdigung zu unterziehen. Anschließend wird unter Berücksichtigung der in der Literatur vertretenden Ansichten geprüft, ob die einzelnen im AMG verwendeten Konstruktionen mit der kompetenzwahrenden Funktion des Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar sind. Dem folgt die Prüfung der Zulässigkeit der Straf- und Ordnungswidrigkeitentatbestände unter Berücksichtigung der aus Art. 103 Abs. 2 GG abgeleiteten verhaltensleitenden Funktion. Ausgehend von einem zuvor festgelegten Maßstab werden hier die im Hinblick auf die Erkennbarkeit des sanktionierten Verhaltens problematischen 1 2
Vgl. Ernst, Blankettstrafgesetze, S. 60 f. (m. w. N.). Wolff, Die Gesetzessprache, S. 7.
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Kap. 2: Die Blankettgesetzgebungstechnik des AMG
Normen dargestellt und bewertet. Im Anschluss daran werden – losgelöst von der zuvor erfolgten strikten Trennung zwischen der kompetenzwahrenden und der verhaltensleitenden Funktion – zwei neuere Urteil des BVerfG zur Bestimmtheit von Blankettstrafgesetzen außerhalb des AMG unter Berücksichtigung der zuvor erzielten Ergebnisse dargestellt und analysiert. Dies soll zum einen dazu dienen, die zuvor erlangten Erkenntnisse unter Berücksichtigung der neuen Rechtsprechung des BVerfG zu hinterfragen und zum anderen Rückschlüsse auf die im AMG verwendeten Konstruktionen zu ziehen.
B. Blankettbegriff Der Begriff des Blankettstrafgesetzes geht auf Binding zurück.3 Blankettstrafgesetze sind ein Unterfall des Blankettgesetzes bzw. der Blankettnorm, die anders als das Blankettstrafgesetz auch Normen außerhalb des Strafrechts erfassen.4 Nach der Definition von Binding sind Blankettstrafgesetze solche Gesetze, die eine Strafregelung für Verstöße gegen Verbote enthalten, die ihrerseits von einer anderen Institution erlassen werden. Neben dem Element der Ergänzungsbedürftigkeit war es für Binding also erforderlich, dass die Ausfüllung der Norm einer anderen gesetzgebenden Instanz überlassen wird. Teilweise wurde eine weitere Einschränkung vorgenommen, indem als Blankettstrafgesetze nur solche Normen betrachtet wurden, deren Ausfüllung „zu einer anderen Zeit“ vorgenommen wurde.5 De facto wären damit nur dynamische Außenverweisungen als Blankettstrafgesetze einzuordnen.6 Der Begriff wurde jedoch im Laufe der Zeit durch die Rechtsprechung und Literatur erheblich ausgeweitet. Danach werden sämtliche Strafnormen, die zur Ausfüllung ihres Tatbestandes auf andere Bestimmungen verweisen, als Blankettstrafgesetze bezeichnet.7 Wesentliches Kriterium ist danach die Unvollständigkeit der Verweisungsnorm.8 Der von Binding vertretene Definitionsansatz wird – in Abgrenzung zu dem heute herrschenden Verständnis (Blankettbegriff im weiten Sinn) – als enger Blankettbegriff bezeichnet.9 Darüber hinaus wird an der Unterscheidung zwischen den die Ausfüllungsnormen erlassenen Institutionen, wenn auch nicht mehr konstitutiv für die Einordnung als Blankettstrafgesetz, begrifflich festgehalten, indem solche Normen, bei denen die Ausfüllung durch einen anderen Normengeber erfolgt, als echte Blankettnormen und solche, bei denen die Ausfüllung der Norm durch 3
Binding, Handbuch, S. 179. Ernst, Blankettstrafgesetze, S. 39 (m. w. N.). 5 BGH NJW 1954, 970 (972). 6 Satzger, Europäisierung, S. 218. 7 BVerfG NJW 1962, 1563 (1564); Krey, EWR 1981, 109 (173 f.); Satzger, Europäisierung, S. 218; Moll, Europäisches Strafrecht, S. 25; Enderle, Blankettstrafgesetze, S. 81. 8 Moll, Europäisches Strafrecht, S. 25. 9 Satzger, Europäisierung, S. 218. 4
B. Blankettbegriff
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dieselbe Instanz erfolgt, als unechte Blankettnormen bezeichnet werden.10 Zwar hat dieses Kriterium für die Einstufung einer Norm als Blankettnorm keine Bedeutung, es werden jedoch die beiden unterschiedlichen gesetzgeberischen Motive deutlich. Während die echten Blankettnormen in erster Linie der Flexibilisierung des Strafrechts dienen, geht es bei den unechten vordergründig um die Vereinfachung der Gesetzestechnik. Eine weitere Einschränkung kann der Begriff des Blankettstrafgesetzes erhalten, wenn man versucht diesen Begriff von normativen Tatbestandsmerkmalen abzugrenzen. Betrachtet man das Tatbestandsmerkmal „fremd“ in § 242 StGB, so wird deutlich, dass auch hier eine – wenn auch nicht ausdrückliche – Verweisung auf die das Eigentum regelnden Vorschriften des BGB gegeben ist. Zwar besteht bei diesem Beispiel weitestgehend Einigkeit darüber, dass es sich um ein normatives Tatbestandsmerkmal handelt.11 Bei vergleichbaren Straftatbeständen des „modernen“ Strafrechts hat sich eine solche Überzeugung jedoch noch nicht herausgebildet.12 Die Abgrenzung zu normativen Tatbestandsmerkmalen wird insbesondere im Rahmen der Darstellungen von Irrtumsfragen diskutiert, da sie Auswirkungen auf die Frage der Anwendbarkeit von § 16 bzw. § 17 StGB bei Vorliegen eines Irrtums über das normative Tatbestandsmerkmal bzw. das außerstrafrechtliche Verbot hat.13 In Folge der in diesem Bereich erforderlichen Abgrenzung wird teilweise vertreten, nur dann von einem Blankettstrafgesetz auszugehen, wenn das strafbare Verhalten nicht über die Zuwiderhandlung gegen die in der Strafnorm benannten Normen hinaus näher bestimmt wird, wenn also das verbotene Verhalten der Strafnorm in keiner Weise – auch nicht ansatzweise – entnommen werden kann.14 Danach wären fast alle Straf- und Bußgeldnormen des AMG nicht als Blankettnormen zu qualifizieren. Andere Autoren nehmen die Abgrenzung vor, indem sie entweder zwischen ausdrücklichen (dann Blankett) und konkludenten Verweisen (dann normatives Tatbestandsmerkmal) unterscheiden15 oder aber danach fragen, wer die Norm ergänzt, der Richter (dann normatives Tatbestandsmerkmal) oder der Normgeber (dann Blankett).16 Darüber hinaus wird darauf abgestellt, dass es sich bei dem Ausfüllungsobjekt eines Blankettstrafgesetzes um Ver- bzw. Gebote handelt, es also bei Blankettnormen um die Ergänzung, bei normativen Tatbestandsmerkmalen
10 Enderle, Blankettstrafgesetze, S. 81; Zipfel/Rathke/Roffael/Wallau, LFGB Vorb. § 58–§ 62 Rn. 61. 11 Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben/Schuster, § 15 Rn. 103. 12 Hohmann, ZIS 2007, 38 (41), der beispielhaft auf das Merkmal der „Rechtswidrigkeit“ der Absprache des § 298 Abs. 1 StGB verweist. 13 Siehe z. B. Enderle, Blankettstrafgesetze, S. 120 ff.; Bülte, JuS 2015, 769 (773) (m. w. N.). 14 Enderle, Blankettstrafgesetze, S. 349, 4. These zur Garantiefunktion; mit vergleichbar weitreichenden Einschränkungen; Fissenwert, Der Irrtum bei der Steuerhinterziehung, S. 207 ff.; von der Heide, Tatbestands- und Vorsatzprobleme, S. 178 f. 15 Herzberg, JuS 1980, 469 (473); Brugger, VerwArch (78) 1987, 1 (4 f.); kritisch dazu Bülte, JuS 2015, 69 (72). 16 Ernst, Blankettstrafgesetze, S. 47.
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Kap. 2: Die Blankettgesetzgebungstechnik des AMG
hingegen um die Konkretisierung der Tatbestandsmerkmale gehe.17 Soweit jedoch der Schwerpunkt auf verfassungsrechtlichen Problemen liegt, ist festzustellen, dass regelmäßig von einem weiten Blankettbegriff ausgegangen wird und eine Abgrenzung zwischen Blankett und normativen Tatbestandsmerkmalen nicht stattfindet.18 Dies ist im Ergebnis auch überzeugend. Denn zum einen erscheint es methodisch sinnvoller, zunächst von einem weiten, allgemeinen Blankettbegriff auszugehen, um sich verfassungsrechtliche Probleme nicht schon an dieser Stelle abzuschneiden.19 Darüber hinaus kommt der dogmatischen Abgrenzung zwischen normativen Tatbestandsmerkmalen und Blankettstrafgesetzen bei der Untersuchung der Bestimmtheit der Norm eine weitaus geringe Bedeutung zu als bei Irrtumsfragen.20 Zwar ist nach der herrschenden Meinung die Ausfüllungsnorm des Blankettstrafgesetzes an dem sich aus Art. 103 Abs. 2 GG ergebenden Bestimmtheitsgebot zu messen,21 während normative Tatbestandsmerkmale bereits für sich genommen eine vollständige, hinreichend bestimmte Umschreibung des tatbestandlichen Unrechts enthalten müssen und die konkretisierende Norm nicht an Art. 103 Abs. 2 GG zu messen ist,22 sondern lediglich dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgrundsatz unterliegt.23 Zu beachten ist jedoch, dass sämtliche hier zu untersuchenden Straf- und Bußgeldnormen des AMG ausdrücklich auf andere Ver- bzw. Gebote verweisen und damit, auch wenn man den Begriff der Blankettnorm eng zieht, als Blankett einzuordnen sind. Selbst wenn man der Minderheitsmeinung folgt und die Mehrzahl der Straf- und Bußgeldtatbestände des AMG als solche mit normativen Tatbestandsmerkmalen einordnet, hat dies bei der Prüfung des Bestimmtheitsgebots keine Auswirkung. Denn zumindest bei ausdrücklichen Verweisen, mit Benennung der Bezugsnorm, müssen richtigerweise auch im Hinblick auf die Ausfüllungsnormen die Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG gelten, da der Gesetzgeber diese ausdrücklich in Bezug nimmt und damit zum gesetzlichen Tatbestand macht. Auch das BVerfG lässt die Abgrenzung zwischen normativen Tatbestandsmerkmalen und Blanketttatbeständen unter diesen Aspekten bei der Prüfung der Bestimmtheit der Norm offen.24 Begrifflich werden hier im Folgenden die die Verweisung enthaltene Straf- bzw. Bußgeldgeldnorm als Blankettstrafgesetz bzw. Blankett- oder Verweisungsnorm und
17
Vgl. Satzger, Europäisierung, S. 218 f. Vgl. Darstellungen bei Schützdendübel, Die Bezugnahme auf EU-Verordnungen S. 61 ff.; Raabe, Bestimmtheitsgrundsatz; Moll, Europäisches Strafrecht. 19 So auch Dietmeier, Blankettstrafrecht, S. 13. 20 Vgl. Zipfel/Rathke/Dannecker, LFGB (Vorauflage) Vorb. § 58–§ 62 Rn. 61. 21 BVerfG NJW 3209 (3211); LK-StGB/Dannecker/Schuhr, § 1 Rn. 152, 216 (m. w. N.). 22 BVerfG NJW 1988, 2593 (2954); LK-StGB/Dannecker/Schuhr, § 1 Rn. 217; Hüls, NZWiSt 2012, 12 ff.; a. A.: Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 316; Bachmann, Vorsatz und Rechtsirrtum, S. 26 f. 23 Hohmann, ZIS 2007, 38 (40 ff.). 24 BVerfG wistra 2010, 396 (403). 18
C. Blankettkategorien im AMG
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die in Bezug genommenen Normen als Ausfüllungsnorm oder Ausfüllungsobjekt bezeichnet werden.
C. Blankettkategorien im AMG Um die Vereinbarkeit der im AMG herrschenden Blankettgesetzgebungstechnik mit dem Bestimmtheitsgrundsatz untersuchen zu können, soll zunächst die Phänomenologie der im AMG anzutreffenden Verweisungen dargestellt werden. Dies ist von Bedeutung, da sich in Abhängigkeit von der jeweiligen Art der Verweisung unterschiedliche Probleme und Lösungsansätze ergeben können. Insbesondere gilt es zu klären, ob bestimmte Verweisungsformen generell, unabhängig von ihrer konkreten Ausgestaltung, gegen den Bestimmtheitsgrundsatz verstoßen. Als Anknüpfungspunkt der Differenzierung bieten sich verschiedene Merkmale an. Zum einen kann eine Differenzierung anhand der in Bezug genommenen Ausfüllungsnorm stattfinden. Darüber hinaus kann zwischen den verschiedenen Verweisungstechniken und der Offenkundigkeit der Verweisung unterschieden werden. Als vierte Möglichkeit bietet es sich an, auf die sprachliche Fassung der Verweisung abzustellen.
I. Differenzierung nach der Ausfüllungsnorm Als Ausfüllungsnormen kommen generell sowohl förmliche Bundesgesetze, förmliche Landesgesetze, Rechtsverordnungen, Verwaltungsakte als auch EU-Verordnungen und EU-Richtlinien in Betracht. Bis auf die Verweisung auf Landesgesetze sind in den Straf- und Bußgeldtatbeständen des AMG sämtliche Varianten anzutreffen. Während in erster Linie auf die Normen des AMG als förmliches Bundesgesetz selbst verwiesen wird, sind daneben auch zahlreiche Verweise auf Rechtsverordnungen anzutreffen. Hierbei wird entweder ausschließlich25 oder zumindest als Ergänzung zu einer Norm des AMG26 auf eine Rechtsverordnung verwiesen. Ebenfalls nicht die Regel, aber vereinzelnd anzutreffen, sind Straf- oder Bußgeldnormen, die auf vollziehbare Anordnungen, also Verwaltungsakte, verweisen und Verstöße gegen diese sanktionieren.27 Direkte Verweisungen auf EUVerordnungen befinden sich in § 96 Nr. 20 und § 97 Abs. 2a, 2b, 2c, 2d AMG. Auf EU-Richtlinien wird zumindest mittelbar, ergänzend zu dem Verweis auf eine EUVerordnung, Bezug genommen.28
25 26 27 28
§§ 95 Abs. 1 Nr. 2, 96 Nr. 2, 5, 97 Abs. 2 Nr. 4, 31 AMG. §§ 95 Abs. 1 Nr. 6, 96 Nr. 7, 8, 13, 16, 97 Abs. 2 Nr. 5 AMG. §§ 96 Nr. 6, 97 Abs. 2 Nr. 6, 23d, 25, 27, 31 AMG. § 96 Nr. 20 AMG.
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Kap. 2: Die Blankettgesetzgebungstechnik des AMG
II. Differenzierung nach der Verweisungstechnik 1. Außen- und Binnenverweisungen Legt man den heute von der herrschenden Meinung vertretenen Blankettbegriff im weiten Sinne zugrunde, so muss zunächst zwischen sog. Binnen- und Außenverweisungen unterschieden werden. Entscheidendes Merkmal der Binnenverweisung ist, dass die Blankettnorm – im Gegensatz zur Außenverweisung – auf eine Norm verweist, die aus der gleichen Rechtsquelle stammt. Als klassisches Beispiel aus dem AMG kann hier § 95 Abs. 1 Nr. 1 AMG genannt werden. Dieser verweist ausschließlich auf § 5 AMG und nimmt damit eine Norm desselben Gesetzes in Bezug. Nimmt die Blankettnorm Rechtsverordnungen, EU-Verordnungen und EURichtlinien in Bezug – stammen Verweisungsnorm und -objekt also von verschiedenen Normgebern – handelt es sich dahingegen um Außenverweisungen.29 2. Statische und dynamische Verweisungen Von Bedeutung ist darüber hinaus die Unterscheidung nach der Geltungszeit der Ausfüllungsnorm. Insoweit wird zwischen statischen und dynamischen Verweisungen unterschieden.30 Statische Verweisungen nehmen Bezug auf Normen in einer bestimmten Fassung. Die Ausfüllungsnorm kann damit ohne einen weiteren gesetzgeberischen Akt nicht geändert werden. Es wird auf eine inhaltlich feststehende Norm verwiesen, deren nachträgliche Änderung die Blankettnorm nicht mit in Bezug nimmt. Dagegen nehmen dynamische Verweisungen auf die jeweils geltende Fassung der Ausfüllungsnorm Bezug. Eine Änderung der Ausfüllungsnorm führt damit zu einer Änderung des Gesamttatbestandes. Gerade bei Außenverweisungen hat dies den Vorteil, dass der jeweilige Normgeber ohne Beteiligung des Gesetzgebers und ohne ein aufwändiges Gesetzgebungsverfahren den Straftatbestand anpassen kann. Die Unterscheidung dieser beiden Verweisungsformen erscheint zunächst nicht sonderlich schwierig, wenn man davon ausgeht, dass der Gesetzgeber entweder ausdrücklich auf einen Ausfüllungssatz in einer bestimmten Fassung oder aber in der jeweils geltenden Fassung verweist. Die Dynamik der Verweisung kann allerdings auch konkludent oder verdeckt vorliegen. Soweit lediglich auf eine Ausfüllungsnorm verwiesen wird, ohne auf eine konkrete Fassung bzw. die jeweils geltende Fassung Bezug zu nehmen, wird man von einer konkludenten dynamischen Verweisung ausgehen müssen. Da eine ausdrückliche Verweisung auf eine konkrete Fassung der Ausfüllungsnorm in den Straf- und Bußgeldtatbeständen des AMG – und allgemein 29 Teilweise wird der Begriff Außenverweisung enger gezogen und schon dann angenommen, wenn sich Verweis- und Ausfüllungsnorm in unterschiedlichen Normwerken befinden, siehe dazu Debus, Verweisungen, S. 57. Ernst unterscheidet deshalb zwischen normwerkexternen und normgeberexternen Verweisungen, Ernst, Blankettstrafgesetze, S. 17. 30 Vgl. Ossenbühl, DVBl. 1967, 401 ff.; Cornelius, Verweisungsbedingte Akzessorietät, S. 247; Schünemann, in: FS Lackner (1987), S. 367 (374); Schenke, NJW 1980, 743 ff.; MKNebenstrafrecht/Freund, AMG Vorb. § 95 Rn. 52; MK-StGB/Schmitz, § 1 Rn. 68.
C. Blankettkategorien im AMG
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im Nebenstrafrecht – lediglich bei Verweisen auf EU-Recht zu beobachten ist,31 handelt es sich bei (konkludenten) dynamischen Verweisungen um den Regelfall. Es kann damit festgestellt werden, dass es abgesehen von Verweisen auf EU-Recht praktisch keine statischen Verweisungen mehr gibt.32 Neben den konkludenten dynamischen Verweisungen werden zudem sog. „verdeckte dynamische Verweisungen“33 verwendet. Hierbei handelt es sich um Strafoder Bußgeldvorschriften, die statisch auf Ausfüllungsnormen verweisen, die dann wiederum den Inhalt einer dritten Norm dynamisch in Bezug nehmen. Derartige verdeckte dynamische Verweisungen sind im AMG sehr häufig anzutreffen.34 Es handelt sich hierbei um eine Fallgruppe, die sowohl in der Rechtsprechung als auch in der Literatur wenig Beachtung findet. Dies mag damit zusammenhängen, dass solche Konstruktionen sehr schwierig ausfindig zu machen sind, da nicht nur die zahlreichen Straf- und Bußgeldnormen, sondern auch sämtliche Ausfüllungsnormen betrachtet werden müssen. Gerade bei abstrakten, von einzelnen Gesetzen losgelösten Darstellungen zur Problematik der Bestimmtheit von Blankettstrafgesetzen besteht die Gefahr, diese Fallgruppe zu übersehen. Dass solche Verweise aus Sicht der verhaltensleitenden Funktion problematisch sind, liegt auf der Hand. Es stellt sich darüber hinaus jedoch die Frage, ob diese verdeckten Verweisungen aus der Perspektive der kompetenzwahrenden Funktion genauso zu behandelt sind wie die Strafnormen, die unmittelbar – und nicht über den Zwischenschritt einer verwaltungsrechtlichen Norm – die dynamische Verweisung vornehmen. Diese Problematik soll jeweils dort dargestellt werden, wo die Unzulässigkeit einer bestimmten Verweisungstechnik festgestellt wird und ein solches Blankett dann auch in Form einer verdeckten Verweisung auftritt. 3. Einfache und rückverweisende Blankettnormen In Abgrenzung zu der einfachen Verweisung besteht die Besonderheit der rückverweisenden Normen (sog. „qualifizierte Verweisung“35) darin, dass die Blankettnorm eine Strafbarkeit bzw. Ordnungswidrigkeit nur dann vorsieht, wenn die ausfüllende Norm auf die Straf- oder Bußgeldnorm zurückverweist. Dieses Mittel der Rückverweisung wurde erstmals im Jahre 1971 im Betäubungsmittelgesetz36 angewendet.37 Das Modell der Rückverweisung wird bevorzugt bei Verweisungen auf Rechtsverordnungen verwendet. Es sollte nach dem Willen des Gesetzgebers zu einer deutlicheren Erkennbarkeit des strafbaren Verhaltens führen, mithin also Be31 32 33 34 35 36 37
Siehe § 96 Nr. 20 und § 97 Abs. 2a, 2b, 2c, 2d AMG. Vgl. Enderle, Blankettstrafgesetze, S. 88. Marburger, Regeln der Technik, S. 388 f.; Moll, Europäisches Strafrecht, S. 45. Siehe z. B. § 96 Nr. 6 i. V. m. 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AMG. Volkmann, ZRP 1995, 220 ff. Novelle vom 22. 12. 1971 (BGBl. I S. 2097). Schneider, Gesetzgebung, Rn. 77.
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Kap. 2: Die Blankettgesetzgebungstechnik des AMG
denken hinsichtlich des Bestimmtheitsgebots ausräumen.38 Im AMG befindet sich eine derartige Verweisung in § 97 Abs. 2 Nr. 31 AMG. § 95 Abs. 1 Nr. 2 und § 96 Nr. 2 AMG sahen eine solche bis zum 16. 08. 2019 vor.39
III. Differenzierung nach der Offenkundigkeit der Verweisung Eine weitere in der Literatur verwendete Differenzierung erfolgt nach der Offenkundigkeit der Verweisung. Unterschieden wird insoweit zwischen „offengelegten“, „ausdrücklichen“ bzw. „expliziten“40 Verweisungen einerseits und „verborgenen“ bzw. „impliziten“ Verweisen andererseits.41 Anders als bei den eben dargestellten verdeckten Verweisungen geht es hierbei nicht um die Berücksichtigung von Verweisungen auf einer der Blankettnorm nachfolgenden Verweisungsstufe, sondern um die Offenkundigkeit der Verweisung in der Blankettnorm selbst. Auf das AMG bezogen ist festzustellen, dass die Straf- und Bußgeldtatbestände die Ausfüllungsnormen durchgängig ausdrücklich bzw. explizit in Bezug nehmen. Formulierungen wie „entgegen einem Verbot“ oder „in anderen als den gesetzlichen Fällen“ verwendet das AMG nicht. Als verborgene bzw. implizite Verweisung kann u. a. jedoch die Verwendung der Begriffe „Arzneimittel“, „Inverkehrbringen“, „Einund Ausfuhr“, „Verbringen“ und „Herstellen“ betrachtet werden. Diese Begriffe sind in § 2 und § 4 AMG definiert. Die Verwendung von Begriffen, die an anderer Stelle legaldefiniert sind, wird als implizite Bezugnahme betrachtet.42
38 Vgl. Stellungnahme des Bundesrates, BT-Drucks. VI/1877 Anlage 2 S. 12: „Die Bundesregierung wird (…) gebeten, darauf hinzuwirken, daß die Vorschriften entsprechend dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot so gefaßt werden, daß entweder die einzelnen Tatbestände der Verordnung, die strafbewehrt sein sollen, ausdrücklich im Gesetz genannt werden oder daß wenigstens eine Rückverweisungsklausel eingeführt wird, wo nach Zuwiderhandlung gegen eine (…) Verordnung nur dann mit Strafe bedroht werden kann, wenn diese Verordnung für einen bestimmten Tatbestand auf die Strafvorschrift (…) verweist. (…) Durch die vorgesehene Fassung würde der unbestimmte Tatbestand zementiert (…).“ 39 Durch das Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung – GSAV – vom 09. 08. 2019 (BGBl. I S. 1202) wurden die Rückverweisungsklauseln in § 95 Abs. 1 Nr. 2 und § 96 Nr. 2 AMG abgeschafft. 40 Es wird dann weiter in „voll-explizite“ und „teil-explizite“ Verweisungen unterteilt (vgl. Moll, Europäisches Strafrecht, S. 31; Schnell, Verweisungsbedingte Normkomplexität, S. 51 f.; Karpen, Gesetzgebungstechnik, S. 33 f.). 41 Vgl. Dietmeier, Blankettstrafrecht, S. 44 ff.; Moll, Europäisches Strafrecht, S. 31 ff. 42 Warda, Abgrenzung, S. 13 f.; Moll, Europäisches Strafrecht, S. 36; Ernst, Blankettstrafgesetze, S. 184 ff.
C. Blankettkategorien im AMG
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IV. Differenzierung nach der sprachlichen Fassung der Verweisung Verschiedene Blanketttypen lassen sich zudem ermitteln, indem man die sprachliche Fassung der Blanketttatbestände näher betrachtet. Auf Grundlage der vom Bundesjustizministerium veröffentlichten Vorgaben zur Ausgestaltung von Straf- und Bußgeldnormen im Nebenstrafrecht43 werden hier verschiedene Formulierungen verwendet. 1. Die Bezugnahme auf Vorschriften des AMG Soweit ein Straf- oder Bußgeldtatbestand des AMG auf verwaltungsrechtliche Normen des AMG verweist, ist dies in der Regel wie folgt formuliert: § A AMG: Mit (…) wird bestraft/Ordnungswidrig handelt, wer (…) entgegen § B (C, D usw.) AMG die Handlung E vornimmt.44
Die Mehrzahl der auf das AMG selbst verweisenden Straf- und Bußgeldnormen haben eine derartige Struktur. Die bei solchen Verweisen im AMG anzutreffende Alternative lautet: § A AMG: Mit (…) wird bestraft/Ordnungswidrig handelt, wer (…), ohne dass die Voraussetzung B des § C (D, E usw.) vorliegt, die Handlung D vornimmt.45
Diese Variante nimmt Bezug auf solche Normen, die einen Verwaltungsakt voraussetzen. Die Voraussetzung B ist – mit Ausnahme des § 97 Abs. 2 Nr. 9a AMG – immer eine Genehmigung oder Erlaubnis. Abzugrenzen ist diese Kategorie von solchen Blankettnormen, die den Verstoß gegen einen Verwaltungsakt sanktionieren. Denn in der hier beschriebenen Formulierung stellt – anders als bei „echten“ Verweisungen auf Verwaltungsakte – nicht der Verstoß gegen die sich aus dem Verwaltungsakt ergebenden Verpflichtungen, sondern der Verstoß gegen eine Norm, die einen Verwaltungsakt voraussetzt, die tatbestandsmäßige Handlung dar. Beide Alternativen haben gemeinsam, dass die in Bezug genommene(n) Norm(en) ausdrücklich und die tatbestandsmäßige Handlung zumindest in Form einer abstrakten Umschreibung benannt werden. Unabhängig von der gewählten Formulierungsvariante ist die tatbestandsmäßige Handlung jedoch mal mehr und mal weniger präzise beschrieben. Die Bandbreite reicht von einer nahezu vollständigen Beschreibung der in der Ausfüllungsnorm verbotenen Handlung in der Blankettnorm selbst46 bis hin zur einer lediglich generischen Beschreibung des Verbots (z. B. in den 43 Siehe Bundesministerium für Justiz, Empfehlungen zur Ausgestaltung von Straf- und Bußgeldvorschriften im Nebenstrafrecht vom 16. 07. 1999, Beilage Nr. 17a zum Bundesanzeiger vom 22. 09. 1999; vgl. zudem Handbuch des Nebenstrafrechts 2018, Rn. 109 ff., abrufbar unter http://www.bmjv.de. 44 Vgl. u. a. §§ 95 Abs. 1 Nr. 1, 3, 4, 5a, 7, 8, 10, 11, 97 Abs. 2 Nr. 1 AMG. 45 Vgl. u. a. § 96 Nr. 4, 4a, 5a, 5b, 14 AMG. 46 Z. B. § 95 Abs. 1 Nr. 3 AMG.
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Kap. 2: Die Blankettgesetzgebungstechnik des AMG
Verkehr bringen des Arzneimittels), welche dann durch weitere, in der Ausfüllungsnorm benannte Voraussetzungen konkretisiert wird.47 Ein kompletter Verzicht auf die Beschreibung einer verbotenen Verhaltensweise in der Blankettnorm ist in diesen Formulierungsvarianten jedoch nicht zu finden. 2. Die Bezugnahme auf Rechtsverordnungen Soweit die Straf- und Bußgeldtatbestände des AMG auf Rechtsverordnungen verweisen, sind zwei verschiedene Formulierungen erkennbar. Die am häufigsten verwendete Formulierung lautet wie folgt: § A AMG: Mit (…) wird bestraft/Ordnungswidrig handelt, wer (…) entgegen § B (C, D usw.) AMG (auch) in Verbindung mit einer Rechtsverordnung nach § E (F, G usw.) die Handlung H vornimmt.48
Solche Verweisungen werden in den Komplettierungs-, Ausdehnungs-, Änderungs- und Konkretisierungsfall unterteilt.49 Der Komplettierungsfall liegt vor, wenn durch die Rechtsverordnung die Eigenschaften des Tatobjekts bestimmt wird. Die Rechtsverordnung ist damit für die Beschreibung des strafbaren Verhaltens konstitutiv. Im AMG ist dies zum Beispiel dann der Fall, wenn die Strafnormen auf eine Rechtsverordnung nach § 6 (verbotene Arzneimittel) oder nach § 48 (verschreibungspflichtige Arzneimittel) verweisen. Im Ausdehnungsfall wird der Verordnungsgeber ermächtigt, die gesetzliche Vorschrift auf andere Gegenstände oder Sachverhalte auszuweiten. Als Beispiel kann hier auf § 35 Abs. 1 Nr. 2 AMG verwiesen werden, der die Exekutive unter anderem zur Ausweitung der Zulassungspflicht für Arzneimittel ermächtigt und strafrechtlich über § 96 Nr. 5 und 7 AMG relevant wird. Handelt es sich um einen Konkretisierungsfall, werden durch die Rechtsverordnungen die gesetzlichen Vorschriften näher bestimmt. Dies ist im AMG zum Beispiel durch die Ermächtigung in § 54 AMG geschehen. Die Norm ermächtigt den Verordnungsgeber, in gewissen Bereichen (z. B. Herstellung, Inverkehrbingen, Kennzeichnung, Hygiene) spezielle Regelungen zu schaffen. Die Exekutive hat hiervon zum Beispiel durch die Verordnung über die Anwendung der Guten Herstellungspraxis bei der Herstellung von Arzneimitteln, die über § 96 Nr. 18b AMG im Hinblick auf die Einfuhr von Arzneimitteln strafrechtliche Bedeutung erlangt, Gebrauch gemacht. Ein weiterer Fall der Konkretisierung ist in § 42 Abs. 3 AMG zu sehen, der den Verordnungsgeber ermächtigt, Regelungen zur ordnungsgemäßen Durchführung der klinischen Prüfung zu erlassen. In Bezug genommen wird diese Norm durch die Bußgeldvorschrift des § 97 Abs. 2 Nr. 31 AMG. 47
Z. B. § 96 Nr. 4 AMG. Vgl. u. a. §§ 96 Nr. 7, 8, 13, 16, 97 Abs. 2 Nr. 4, 5 AMG. 49 BMJ Empfehlungen (Fn. 482) Rn. 210 – 221; Enderle, Blankettstrafgesetze, S. 30; Dietmeier, Blankettstrafrecht, S. 58 ff. 48
C. Blankettkategorien im AMG
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Liegt ein Änderungsfall vor, so wird der Verordnungsgeber ermächtigt, die gesetzlichen Vorschriften durch die Rechtsverordnung zu ändern. Ausdrückliche Ermächtigungen zur Änderung der gesetzlichen Vorschriften, die über die Bestimmung des Tatobjekts hinausgehen und nicht lediglich eine Konkretisierung darstellen, sind im AMG nicht zu finden. Anders als beim Komplettierungsfall hat die jeweilige Rechtsverordnung in den anderen Fallgruppen keine konstitutive Bedeutung. Eine Strafbarkeit existiert auch ohne den Erlass der Rechtsverordnung. Ob die in Bezug genommene Rechtsverordnung der Vervollständigung des strafbewehrten Verhaltens dient (Komplettierung) und damit der Erlass der Rechtsverordnung für die Strafbarkeit konstitutiv ist oder aber lediglich die Möglichkeit der Ausweitung, Konkretisierung oder Änderung schafft – und damit nur deklaratorische Bedeutung hat –, lässt sich schon aus der Formulierung der Blankettnorm erkennen. Die für die Strafbarkeit lediglich deklaratorische Bedeutung des Erlasses der Rechtsverordnung wird dadurch signalisiert, dass vor der Formulierung „in Verbindung mit einer Rechtsverordnung“ die Worte „auch“ bzw. „oder“ verwendet werden. Die strafbare Verhaltensweise beschreibt die Blankettnorm zum Teil relativ präzise,50 zum Teil liegt aber auch nur eine generische Beschreibung vor.51 Neben der genauen Bezeichnung des in Bezug genommenen förmlichen Gesetzes, der Ermächtigungsnorm, wird – wie immer bei Verweisungen auf Rechtsverordnungen – auf die Rechtsverordnung insgesamt, also ohne Nennung einer einzelnen Norm, verwiesen. Eine weitere Formulierungsvariante, die der Gesetzgeber bei Verweisungen auf Rechtsverordnungen verwendet, lautet: § A AMG : Mit (…) wird bestraft/(…) Ordnungswidrig handelt, wer (…) einer Rechtsverordnung nach § B (C, D usw.) zuwiderhandelt, soweit die Rechtsverordnung für einen bestimmten Tatbestand auf diese Strafnorm verweist.52
Auch hier wird nicht eine spezielle Norm, sondern die gesamte(n) Rechtsverordnung(en) in Bezug genommen. Anders als bei den zuvor dargestellten Modellen werden jedoch nicht einmal die durch die Rechtsverordnung(en) verbotenen Verhaltensweisen beschrieben. Zu beachten ist, dass der Verweis auf eine Rechtsverordnung auch – genau wie bei dem Phänomen der dynamischen Verweisungen bereits dargestellt – verdeckt geschehen kann. Dies ist der Fall, wenn die Blankettnorm selbst lediglich auf eine Vorschrift des AMG verweist, aus dieser sich dann aber das Ver- bzw. Gebot erst
50
Z. B. § 95 Abs. 1 Nr. 5 AMG. Z. B. § 96 Nr. 16 AMG. 52 Vgl. § 97 Abs. 2 Nr. 31 sowie § 96 Abs. 1 Nr. 2 und § 96 Nr. 2 AMG (zur bevorstehenden Änderung dieser Normen siehe aber Gesetzesentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks. 19/ 8753, S. 1, 9 f., und 14). 51
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Kap. 2: Die Blankettgesetzgebungstechnik des AMG
durch einen Verweis auf eine Rechtverordnung ergibt.53 Abweichend von den sonstigen Formulierungen wird hier in der Blankettnorm auf die Formulierung „in Verbindung mit einer Rechtsverordnung (…)“ verzichtet, sodass die Strafnorm keinen Hinweis auf eine später in Bezug genommene Rechtsverordnung enthält. Gemeinsam haben alle Formulierungsvarianten, dass nicht auf eine konkrete, bereits erlassene Rechtsverordnung Bezug genommen wird und es sich damit durchweg um dynamische Verweisungen handelt. 3. Die Bezugnahme auf vollziehbare Anordnungen54 Bei Verweisen auf Verwaltungsakte/Anordnungen ist zu unterscheiden zwischen solchen Verwaltungsakten, die aufgrund förmlicher Gesetze ergehen und solchen, die aufgrund von Rechtsverordnungen oder EU-Verordnung erlassen werden. a) Anordnungen aufgrund förmlicher Gesetze Auch hierbei ist zwischen zwei Formulierungsvarianten zu unterscheiden. Primär wird auf folgende Formulierung zurückgegriffen: § A AMG: Mit (…) wird bestraft/handelt ordnungswidrig, wer (…) einer vollziehbaren Anordnung nach § B (C, D usw.) zuwiderhandelt.55
Benannt wird damit nur die Ermächtigungsgrundlage; das tatbestandsmäßige Verhalten wird hingegen nicht beschrieben. Im Gegensatz hierzu wird bei der zweiten Variante das verbotene Verhalten zumindest ansatzweise dargestellt: § A AMG: Mit (…) wird bestraft/handelt ordnungswidrig, wer (…) entgegen einer vollziehbaren Anordnung nach § B (C, D usw.) (bzw. die durch die vollziehbare Anordnung nach § B (C, D usw.) geforderte) die Handlung E vornimmt.56
b) Anordnungen aufgrund von Rechtsverordnungen Die in diesem Bereich einzig verwendet Variante lautet: § A AMG: Mit (…) wird bestraft/Ordnungswidrig handelt, wer (…) einer vollziehbaren Anordnung aufgrund einer Rechtsverordnung nach § B (C, D usw.) zuwiderhandelt, soweit
53 Siehe z. B. § 96 Nr. 15 AMG, der in Bezug genommene § 56a Abs. 4 AMG verweist auf eine Rechtsverordnung nach § 56a Abs. 3 S. 1 Nr. 4 lit. b AMG und § 96 Nr. 18 AMG, der in Bezug genommene § 59a Abs. 2 AMG verweist auf eine Rechtsverordnung nach § 36 AMG. 54 Nach den Empfehlungen des BMJ soll der Begriff „Verwaltungsakt“ durch den Begriff „Anordnung“ ersetzt werden; siehe BMJ Empfehlungen (Fn. 482) Rn. 202. 55 Vgl. § 97 Abs. 2 Nr. 6, 23d, 25 AMG. 56 Vgl. §§ 96 Nr. 6, 97 Abs. 2 Nr. 27 AMG.
C. Blankettkategorien im AMG
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die Rechtsverordnung für einen bestimmten Tatbestand auf diese Straf-/Bußgeldvorschrift verweist.57
Hier ergibt sich das strafbare Verhalten noch nicht einmal in Form einer generischen Beschreibung aus der Blankettnorm. c) Anordnung aufgrund von EU-Verordnungen Im AMG befindet sich darüber hinaus ein Bußgeldtatbestand, der auf eine vollziehbare Anordnung verweist, die aufgrund einer EU-Verordnung erlassen wurde. Die sprachliche Fassung lautet: § A AMG: Ordnungswidrig handelt, wer (…) einer vollziehbaren Anordnung nach Art. B der VO (EG/EU) C zuwiderhandelt.58
Die Formulierung ist damit die gleiche, wie bei Verweisungen auf Anordnungen, die auf förmliche Gesetze zurückzuführen sind. Das tatbestandsmäßige Verhalten wird nicht einmal generisch beschrieben. 4. Die Bezugnahme auf das Gemeinschaftsrecht Verweise auf EU-Verordnungen sind im AMG wie folgt formuliert: § A AMG: Mit (…) wird bestraft/Ordnungswidrig handelt, wer gegen die Verordnung (EG/ EU) Nr. B verstößt, indem er 1. entgegen Art. C der Verordnung B (in Verbindung mit Art. D der Richtlinie E (in Verbindung mit § F AMG)) die Handlung G vornimmt (…).59
Die Verweisungen auf das Gemeinschaftsrecht in den Straf- und Bußgeldtatbeständen haben gemeinsam, dass sowohl die strafbaren Handlungen – zumindest in Form der Beschreibung eines zu konkretisierenden Verhaltens – genannt als auch die in Bezug genommenen Normen genau bezeichnet werden. Ausdrückliche, offene dynamische Direktverweisungen auf EU-Verordnungen („in der jeweils geltenden Fassung“) sind nicht anzutreffen. Gleiches gilt für die im sonstigen Nebenstrafrecht existierende, als „Anpassungsmodell“60 bezeichnete Formulierungsvariante, nach der lediglich auf die „unmittelbar geltenden Vorschriften der Europäischen Union“ Bezug genommen wird, ohne die tatbestandsmäßige Handlung zu beschreiben.61 Zu 57
§ 97 Abs. 2 Nr. 31 AMG. § 97 Abs. 2c Nr. 2 AMG. 59 Vgl. §§ 96 Nr. 20, 97 Abs. 2b und Abs. 2c Nr. 1, 3 – 6 AMG; nur mit unerheblichen Abweichungen in der Formulierung: § 97 Abs. 2a AMG. 60 Vgl. Schützendübel, Die Bezugnahme auf EU-Verordnungen, S. 241; Satzger, Europäisierung, S. 282 f.; Moll, Europäisches Strafrecht, S. 145 ff.; Schröder, ZLR 2004, 265 ff. 61 Vgl. BMJ Empfehlungen (Fn. 482) Rn. 248 ff.; näher zu diesem sog. „Anpassungsmodell“ Schützendübel, Die Bezugnahme auf EU-Verordnungen, S. 241 ff.; siehe zu einer solchen 58
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Kap. 2: Die Blankettgesetzgebungstechnik des AMG
beobachten ist darüber hinaus, dass im Rahmen der Beschreibung der verbotenen Handlung regelmäßig auch auf EU-Richtlinien verwiesen wird („in Verbindung mit Art. A der Richtlinie B“).62 Dies sind Fälle, in denen sich das tatbestandsmäßige Verhalten nicht schon aus der in Bezug genommenen Norm der EU-Verordnung ergibt. Vielmehr verweist diese hinsichtlich der Beschreibung des Ver- bzw. Gebots auf einen Artikel einer EU-Richtlinie weiter. Die Blankettnorm nimmt den Artikel der EU-Richtlinie ebenfalls in Bezug, wenn nur ein Teil der in dem Artikel der EURichtlinie genannten Ver- und Gebote (auf die der Artikel der EU-Verordnung verweist) dem Strafrecht unterfallen sollen. Unterschiede bestehen bei der Bezeichnung der jeweiligen EU-Verordnung. Während die EU-Verordnungen teilweise mit ihrer kompletten amtlichen Bezeichnung samt Dokumentennummer und Fundstelle im Amtsblatt genannt werden,63 wird andernorts lediglich die Dokumentennummer genannt.64 Soweit auf eine geänderte Fassung der Verordnung verwiesen werden soll, wird die Formulierung „zuletzt geändert durch die Verordnung (EU) (…)“ verwendet.65 Wie bereits bei den dynamischen Verweisungen und den Verweisungen auf Rechtsverordnungen dargestellt, werden auch bei europarechtsakzessorischen Blankettnormen verdeckte Verweisungen vorgenommen. So nimmt beispielsweise § 95 Abs. 1 Nr. 11 AMG § 59d Abs. 1 Nr. 1 AMG in Bezug, der wiederum auf eine EU-Verordnung weiterverweist. Die Europarechtsakzessorietät ergibt sich hier also auf der zweiten Verweisungsstufe.66 Auch auf der dritten Verweisungsstufe werden EU-Verordnungen in Bezug genommen.67 Besonders schwer zu erkennen sind Verweisungen auf das Gemeinschaftsrecht dann, wenn dies erst auf der Ebene der in Bezug genommenen Rechtsverordnung erfolgt. Eine solche Verweisungskette beinhaltet § 95 Abs. 1 Nr. 2 AMG. Dieser verweist auf eine Rechtsverordnung nach § 6 AMG. Ein solche stellt die Arzneimittelfarbstoffverordnung dar. Diese verweist – über mehrere Binnenverweisungen – auf das Gemeinschaftsrecht.68 An diesem Beispiel zeigt sich gleichzeitig besonders prägnant, wie die einzelnen dargestellten Verweisungskategorien bzw. -merkmale kombiniert werden.69 Das Strafblankett nimmt zunächst eine Rechtsverordnung in Bezug. Die relevante Rechtsverordnung verweist dann über
Konstruktion § 10 Abs. 1 und 3 RiFlEtikettG a. F., dazu BVerfG NJW 2016, 3648 ff., ausführlich siehe Kapitel 2 G. I. 62 Siehe § 96 Nr. 20 AMG. 63 §§ 96 Nr. 20, 97 Abs. 2a, 2c, 2d AMG. 64 § 97 Abs. 2b AMG. 65 § 96 Nr. 20 AMG. 66 Siehe auch § 96 Nr. 18a AMG i. V. m. § 59 S. 1 Nr. 2 AMG. 67 Siehe § 97 Abs. 2 Nr. 26 i. V. m. § 66 AMG i. V. m. §§ 64 – 65 AMG. 68 Einer von vielen möglichen „Verweisungssträngen“ lautet: § 95 Abs. 1 Nr. 2 AMG, § 6 Abs. 1 AMG, § 2 Abs. 1 AMFarbstoffVO, § 1 Abs. 2 AMFarbstoffVO, § 1 Abs. 1 AMFarbstoffVO, Anhang I der Richtlinie 94/36/EG. 69 Gleiches gilt für § 96 Nr. 2 AMG.
C. Blankettkategorien im AMG
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mehrere Binnenverweisungen dynamisch auf verschiedene Rechtsakte der EU weiter. Neben der soeben beschriebenen mittelbaren Bezugnahme auf Richtlinien über eine EU-Verordnung sind im AMG auch verdeckte unmittelbare Verweisungen auf EU-Richtlinien zu finden. So verweist der Bußgeldtatbestand des § 97 Abs. 2 Nr. 4 AMG auf den die Kennzeichnung von Arzneimitteln regelnden, mit Wirkung zum 02. 09. 2019 eingefügten § 10 AMG. Dieser verweist auf Art. 54a der Richtlinie 2001/83/EG, der Vorgaben für Sicherheitsmerkmale enthält. Dieser Artikel eröffnet sodann auch noch der Kommission die Möglichkeit, den Tatbestand durch delegierte Rechtsakte zu ergänzen. 5. Zwischenergebnis Hinsichtlich der Formulierung der Verweisungen sind mit den bis hierhin dargestellten Varianten alle im AMG verwendeten Blankettkategorien dargestellt worden. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Differenzierung nach der sprachlichen Fassung in engem Zusammenhang mit der in der Literatur ebenfalls vorgenommen Kategorisierung nach dem Grad der Ergänzungsbedürftigkeit,70 also der Frage, inwieweit die tatbestandsmäßige Handlung bereits in der Blankettnorm selbst beschrieben ist, steht. Denn dies ergibt sich zumeist aus der Wahl der Formulierungsvariante.71 Die sprachliche Fassung der Verweisung hat zudem Auswirkungen auf die Offenkundigkeit der Verweisung. Es hat sich zudem gezeigt, dass zwar abschließende Formulierungsmuster bestehen, die Verweisungen auf die jeweilige Ausfüllungsnorm fallen jedoch unterschiedlich deutlich aus. Zum einen bestehen Unterschiede bei der Benennung der in Bezug genommenen Norm. Während bei Verweisungen auf das AMG selbst und das EU-Recht die konkreten Normen ausdrücklich benannt werden, wird bei Verweisungen auf Rechtsverordnungen nicht die konkrete Rechtsverordnung, sondern nur die Ermächtigungsnorm genannt und damit eine zunächst noch zu ermittelnde Rechtsverordnung in ihrer Gesamtheit in Bezug genommen. Zum anderen bestehen Unterschiede in der Beschreibung der tatbestandsmäßigen Handlung. Bei Verweisungen auf das AMG und auf das EU-Recht lässt sich entweder das tatbestandsmäßige Verhalten bis auf einige Detailregelungen der Blankettnorm entnehmen oder aber das verbotene Verhalten wird zumindest generisch beschrieben. Die Beschreibung des tatbestandlichen Unrechts wird also nicht vollständig der Ausfüllungsnorm überlassen. Anders ist dies jedoch oftmals bei Verweisungen auf Rechtsverordnungen und Verwaltungsakte. Die Blankettnorm besteht hier teilweise nur aus einer Aufzählung von Ermächtigungsnormen. Es ist noch nicht einmal er70
Vgl. Dietmeier, Blankettstrafrecht, S. 46 f.; Moll, Europäisches Strafrecht, S. 38 ff. Vgl. zu den verschiedenen Formulierungsmöglichkeiten ausführlich Enderle, Blankettstrafgesetze, S. 12 ff. 71
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Kap. 2: Die Blankettgesetzgebungstechnik des AMG
kennbar, ob es in der Norm z. B. um das Herstellen, das Inverkehrbringen oder den Bezug von Arzneimitteln geht. Als weiteres Zwischenergebnis kann festgestellt werden, dass – wie am Beispiel des § 95 Abs. 1 Nr. 2 AMG dargestellt wurde – Blankettnormen existieren, die verschiedene Verweisungskategorien auf den verschiedenen Verweisungsstufen kombinieren. Für die Bewertung der Vereinbarkeit mit Art. 103 Abs. 2 GG hat diese Regelungstechnik zwei Auswirkungen. Zum einen muss man bei Verweisungstypen, die aus Sicht der kompetenzwahrenden Funktion problematisch sind, berücksichtigen, dass diese auch in verdeckter Form auftauchen können. Zum anderen ist zu untersuchen, ob sich die Unbestimmtheit in solchen Konstellationen schon aus der Unübersichtlichkeit der Weiterverweisungstechnik ergeben kann. Darüber hinaus gilt es zu klären, welche Rolle dem Grad der Ergänzungsbedürftigkeit zukommt.
D. Die Rechtsprechung zur Bestimmtheit von Blankettnormen Die Rechtsprechung äußert bei der Frage der Vereinbarkeit von Blankettnormen mit dem Bestimmtheitsgrundsatz nur selten Bedenken.72 Sie beruft sich bei der Überprüfung auf die allgemeinen, oben dargestellten, Grundsätze zum Bestimmtheitsgebot. Es werden also die Bestimmtheitsanforderungen, die an Gesetze gestellt werden, die keine Verweisungen enthalten, auf Blankettnormen übertragen.73 Zudem wird regelmäßig betont, dass es genüge, wenn die Blankettnorm die tatbestandsmäßige Handlung und den Taterfolg in einer allgemeinverständlichen, einer Parallelwertung in der Laiensphäre zugänglichen Weise umschreibe.74 Die Voraussetzungen der Strafbarkeit müssen danach entweder in der Blankettnorm selbst oder in dem in Bezug genommenen Gesetz hinreichend deutlich umschrieben werden.75 Die Blankettnorm müsse hinreichend klar erkennen lassen, worauf sich die Verweisung bezieht.76 Das BVerfG stellt darüber hinaus klar, dass sowohl die Blankettnorm selbst als auch die Ausfüllungsnorm den Anforderungen des Bestimmtheitsgrundsatzes genügen müssen.77 Neben den allgemeinen Relativierungen beim Bestimmtheitsgebot, die auch auf Blankettnormen anzuwenden seien, nimmt das BVerfG weitere, spezielle Relativierungen vor. Da Blankettnormen zumeist im Nebenstrafrecht verwendet werden und es sich dabei um „Expertenstrafrecht“ handele, der Normadressat also ein spezifisches Fachwissen aufweise, seien insbesondere in diesem 72 Auf die – wenigen – von der Rechtsprechung als unzulässig bewerteten Verweisungskonstruktionen (insb. BVerfG NJW 2016, 3648) wird im Folgenden eingegangen. 73 BVerfG NJW 2016, 3648 (3650); hierzu ausführlich siehe Kapitel 2 G. I. 74 BVerfG wistra 2010, 396 (404). 75 BVerfG NJW 1987, 3175 (3175); NJW 1992, 35 (35); wistra 2010, 396 (402). 76 BVerfG NVwZ-RR 1992, 521 (521); wistra 2010, 396 (402). 77 BVerfG NJW 1968, 1515 (1516); NJW 1992, 35 (35); wistra 2010, 396 (402).
D. Die Rechtsprechung zur Bestimmtheit von Blankettnormen
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Bereich die Anforderungen an die Bestimmtheit nicht zu hoch anzusetzen.78 Zudem argumentiert das BVerfG mit Praktikabilitätsgründen. So wird auf die aufgrund des Einflusses des Europäischen Gemeinschaftsrechts gegebene Erforderlichkeit wechselnder und vielfältiger Einzelfallregelungen abgestellt.79 Bei Verweisungen auf Rechtsverordnungen sieht das BVerfG in seiner ständigen Rechtsprechung dann kein Problem, wenn sich die wesentlichen Voraussetzungen der Strafbarkeit aus der Blankettnorm selbst oder aus einer anderen in Bezug genommenen formell-gesetzlichen Vorschrift ergeben. Dem Verordnungsgeber dürfe lediglich eine „gewisse Spezifizierung“ überlassen werden.80 Dieser Maßstab wird dann auf europarechtsakzessorische Blankettnormen81 und solche, die Verwaltungsakte in Bezug nehmen82 übertragen. Es sei eine Frage des Einzelfalls, insbesondere gemessen an den Besonderheiten des jeweiligen Rechtsgebiets, welcher Grad der Bestimmtheit erforderlich sei.83 Ohne bereits hier auf die Entscheidungen der Rechtsprechung im Einzelnen detailliert einzugehen,84 ist es nach Auswertung der Maßstäbe der Rechtsprechung nicht verwunderlich, dass das BVerfG nur bei wenigen Blankettnormen einen Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz festgestellt hat.85 Inwieweit diese Maßstäbe den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG genügen und welche alternativen Maßstäbe in der Literatur verwendet werden, soll im Folgenden dargestellt werden. Hierbei wird strikt zwischen den beiden Funktionen, der verhaltensleitenden und der kompetenzwahrenden, unterschieden. Auch wenn bei einzelnen Blankettkategorien beide Funktionen zu problematisieren sind, wird hier die Frage der Vereinbarkeit mit dem Bestimmtheitsgrundsatz also nicht ausgehend von den verschiedenen Blanketttypen, sondern den Funktionen des Bestimmtheitsgrundsatzes dargestellt, da jeweils klar voneinander zu trennende Probleme auftreten und andernfalls die Gefahr bestünde, die beiden Problemkreise zu vermengen. Erst im Anschluss daran wird ein Perspektivwechsel vorgenommen, indem – ausgehend von einem bestimmten Blankettyp, den das BVerfG in seiner neueren Rechtsprechung für unvereinbar mit dem Bestimmtheitsgrundsatz erklärt hat –86 die Auswirkungen dieser und der ihr folgenden Entscheidung des BVerfG zur Bestimmtheit einer Strafnorm aus dem LFGB untersucht und zugleich die bis dahin 78 BVerfG NJW 1978, 1423 (1423); NStZ-RR 2002, 22 (22); wistra 2010, 396 (402); NVwZ-RR 2020, 569 (Rn. 97); ausdrücklich offen gelassen zuvor durch BVerfG NJW 2016, 3648 (3651), siehe hierzu Kapitel 2 G. 79 BVerfG wistra 2010, 396 (403 f.). 80 BVerfG NJW 1962, 1563 (1564 ff.); 1987, 3175 (3175); 1989, 1663 (1663 ff.); NVwZ 2012, 504 (505); PharmR 2016, 86 (91); NJW 2016, 3648 (3651), siehe Kapitel 2 G. 81 BVerfG RIW/AWD 1979, 132 f.; wistra 2010, 396 (400, 402); BVerfG NJW 2016, 3648 (3651); NVwZ-RR 2020, 569 (Rn. 81), siehe Kapitel 2 G. 82 BVerfG NVwZ 2012, 504 (505). 83 BVerfGE 41, 314 (320); 48, 48 (57). 84 Dies erfolgt in Kapitel 2 E. I. 1. c) bb) und Kapitel 2 G. 85 Zu der aktuellen Entwicklung in der Rechtsprechung siehe Kapitel 2 G. 86 BVerfG NJW 2016, 3648 ff.
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Kap. 2: Die Blankettgesetzgebungstechnik des AMG
erzielten Ergebnisse überprüft werden sollen. Die beiden aktuellen Entscheidungen des BVerfG sollen auch deshalb isoliert dargestellt werden, weil die dort relevanten Normen zum einen nicht ohne weiteres einer der im AMG vorkommenden Blankettkategorien zugeordnet werden können und zum anderen das BVerfG selbst – jedenfalls in der Entscheidung über die Strafnormen des RiFlEtikettG aus dem Jahr 2016 – nicht eindeutig zwischen der verhaltensleitenden und der kompetenzwahrenden Funktion des Art. 103 Abs. 2 GG unterscheidet.
E. Überprüfung der Straf- und Bußgeldvorschriften des AMG aus Sicht der kompetenzwahrenden Funktion des Art. 103 Abs. 2 GG Die Frage, ob die Blankettnormen des AMG mit der kompetenzwahrenden Funktion des Art. 103 Abs. 2 GG in Konflikt stehen, stellt sich bei Außenverweisungen, da hier die Gefahr besteht, dass der Gesetzgeber die Frage über das „Ob“ der Strafbarkeit aus der Hand gibt. Im Fokus stehen, nicht zuletzt aufgrund der häufigen Verwendung im AMG, die Verweisungen auf Rechtsverordnungen. Unter diesem Gesichtspunkt ähnlich problematisch sind jedoch auch die europarechtsakzessorischen Blanketttatbestände. Es liegt bei beiden Blankettypen auf der Hand, dass die Vereinbarkeit mit Art. 103 Abs. 2 GG aus Sicht der kompetenzwahrenden Funktion bei dynamischen Verweisungen im besonderen Maße problematisch ist, da hierdurch der „Spielraum“ des jeweiligen außerparlamentarischen Normgebers vergrößert wird.
I. Die Bezugnahme auf Rechtsverordnungen 1. Einfache Verweisungen a) Zulässigkeitsvoraussetzungen Soweit das AMG auf Rechtsverordnungen verweist, handelt es sich ausnahmslos um dynamische Verweisungen. Es stellt sich damit die Frage, ob dies mit Art. 103 Abs. 2 GG aus Sicht der kompetenzwahrenden Funktion vereinbar ist. Zunächst ist festzustellen, dass die Zulässigkeit der Ausfüllung von Straftatbeständen durch Rechtsverordnungen weitestgehend bejaht wird. Die Rechtsprechung und herrschende Meinung in der Literatur gehen von der Zulässigkeit der Tatbestandsergänzung durch Rechtsverordnungen aus, solange der Gesetzgeber die Ermächtigung zur Strafandrohung unzweideutig ausspricht und dabei Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung so genau umreißt, dass sich die Voraussetzungen der Strafbarkeit und die Art der Strafe nicht erst aus der Verordnung ergeben. Die wesentlichen Voraussetzungen der Strafbarkeit müssen sich danach aus der Blankettnorm selbst
E. Überprüfung der kompetenzwahrenden Funktion des Art. 103 Abs. 2 GG
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oder aus einer anderen in Bezug genommenen formell-gesetzlichen Vorschrift ergeben und dem Verordnungsgeber darf lediglich eine gewisse Spezifizierung überlassen bleiben.87 Zur Bestimmung der mit Strafe bedrohten Verhaltensweisen könne das gesamte förmliche Gesetz unter Anwendung der üblichen Auslegungsmethoden sowie die durch eine gefestigte Rechtsprechung herbeigeführte Konkretisierung herangezogen werden.88 Die Zulässigkeit der Ausfüllung von Strafnormen durch Rechtsverordnungen wird in der Literatur begründet, indem ein Vergleich mit der Strafbarkeit des Versuchs eines Erfolgsdelikts89 oder aber mit § 222 StGB90 gezogen wird. In beiden Fällen seien die konkreten Verhaltensweisen bzw. Verhaltensnormen ebenfalls nicht näher im Parlamentsgesetz beschrieben. Wenn diese Verhaltensnormen bei Verweisungen auf Rechtsverordnungen durch diese benannt werden, könne sich dies aus Sicht des Bestimmtheitsgrundsatzes nicht nachteilig auswirken. b) Dogmatische Herleitung Während über das Ergebnis – die Zulässigkeit der Spezifizierung von Strafvorschriften durch Rechtsverordnungen – weitestgehend Einigkeit herrscht, gibt es unterschiedliche Meinungen darüber, wie dieses Ergebnis dogmatisch herzuleiten ist. Hierbei wird insbesondere ein unterschiedliches systematisches Verständnis der in diesem Zusammenhang relevanten Normen (Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG, Art. 103 Abs. 2 GG und Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG) deutlich. Nicht einheitlich beantwortet wird zum einen die Frage, ob der Wortlaut des Art. 103 Abs. 2 GG („gesetzlich bestimmt“) – wie die herrschende Meinung in der Literatur91 und das BVerfG92 annimmt – auch materielle93 oder aber nur förmliche94 Gesetze erfasst. Während die herrschende Meinung in der Pflicht steht, zu begründen, warum dann (dynamische) Verweisung auf Rechtsverordnungen nicht generell und unbegrenzt möglich sind, bedarf es – geht man im Rahmen des Art. 103 Abs. 2 GG vom förmlichen Gesetzesbegriff aus – einer Begründung für die (begrenzte) Zulässigkeit der Verweisungen 87
BVerfG NJW 1962, 1563 (1564 ff.); 1987, 3175 (3175); 1989, 1663 (1663 ff.); NVwZ 2012, 504 (505); PharmR 2016, 86 (91); NJW 2016, 3648 (3651), siehe Kapitel 2 G. I.; Satzger, Europäisierung, S. 255 f.; Schützendübel, Die Bezugnahme auf EU-Verordnungen, S. 276 ff.; kritisch: Krahl, Rechtsprechung, S. 113. 88 BVerfG NJW 1989, 1662 (1662 ff.). 89 Schützendübel, Die Bezugnahme auf EU-Verordnungen, S. 279. 90 MK-Nebenstrafrecht/Freund, AMG Vorb. § 95 Rn. 62. 91 Satzger, Europäisierung, S. 247; Schützendübel, Die Bezugnahme auf EU-Verordnungen, S. 262; Schuster, Strafnormen und Bezugsnormen, S. 264 ff. 92 Ständige Rspr., zuletzt BVerfG NJW 2016, 3648 (3649), wobei das BVerfG regelmäßig auch betont, dass sich aus Art. 103 Abs. 2 GG ein strenger Gesetzesvorbehalt ergebe: BVerfG NVwZ 2009, 239 (239); NJW 2016, 3648 (3649); NVwZ-RR 2020, 569 (Rn. 70). 93 Für diese Ansicht spricht der Vergleich mit dem Wortlaut des Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG, der ausdrücklich ein förmliches Gesetz fordert. 94 Maunz/Dürig/Schmidt-Aßmann, GG (Vorauflage) Art. 103 Abs. 2 Rn. 183; Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 244 ff.
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auf Rechtsverordnungen. Eine solche wird von den Vertretern dieser Ansicht oftmals nicht geliefert.95 Dass dies nur schwer möglich ist, ist den Ausführungen von Tiedemann zu dieser Thematik zu entnehmen, der zwar ein Parlamentsgesetz für Art. 103 Abs. 2 GG fordert, dabei aber die Konkretisierung und Spezifizierung durch Rechtsverordnungen für zulässig hält. Hierfür räumt er ein, dass „in diesem endgültigen, konkretisierenden Sinne das ,Strafgesetz‘ in der Tat das gesamte (geschriebene) Recht“ sei.96 Lässt man die Zulässigkeit von (dynamischen) Verweisungen auf Rechtsverordnungen nicht schon am Gesetzesbegriff des Art. 103 Abs. 2 GG scheitern, stellt sich als nächstes die Frage, ob Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG, der vorschreibt, dass die Freiheit der Person nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes beschränkt werden kann, Verweisungen auf Rechtsverordnungen verbietet. In der Literatur wird teilweise vertreten, Art. 104 Abs. 1 GG sei auf das materielle Strafrecht nicht anwendbar, diese Norm sei vielmehr nur auf Vollstreckungsmaßnahmen im Strafvollzug anzuwenden, da weder in der Strafandrohung noch im Strafurteil ein Freiheitsentzug im Sinne des Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG zu sehen sei.97 Art. 103 Abs. 2 GG wäre überflüssig, beträfe Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG die Strafandrohung.98 Auch verfassungshistorische Argumente sprächen gegen eine Anwendung des Art. 104 Abs. 1 GG auf das materielle Strafrecht.99 Dass nicht jedes materielle Gesetz – selbst wenn es die Voraussetzungen des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG erfüllt – als Strafvorschrift in Betracht kommt, wird von den Vertretern dieser Ansicht damit begründet, dass Art. 103 Abs. 2 GG als eine „strafrechtstypische Verschärfung“ der Voraussetzungen des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG zu verstehen und auf die Wesentlichkeitstheorie zurückzuführen sei.100 Diejenigen, die Art. 104 Abs. 1 GG für anwendbar halten,101 begründen die (eingeschränkte) Zulässigkeit von Verweisungen auf Rechtsverordnungen, indem sie auf den Wortlaut des Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG abstellen, der vorschreibt, dass die 95
Siehe z. B. Maunz/Dürig/Schmidt-Aßmann, GG (Vorauflage) Art. 103 Abs. 2 Rn. 210. Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 254. 97 Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 252; Cornelius, NStZ 2017, 682 (684); Schuster, Strafnormen und Bezugsnormen, S. 267; Dietmeier, Blankettstrafrecht, S. 121; Heghmanns, Grundzüge, S. 92 f.; Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke/Schmahl, GG Art. 104 Rn. 3. 98 Heghmanns, Grundzüge, S. 94. 99 Heghmanns, Grundzüge, S. 92 f., der darauf hinweist, dass die Norm verfassungshistorisch als Schutz gegen willkürliche Polizeiakte, nicht jedoch gegen Rechtsverordnungen gedacht war. 100 LK-StGB/Dannecker/Schuhr, § 1 Rn. 124, 131; Maunz/Dürig/Schmidt-Aßmann, GG (Vorauflage) Art. 103 Abs. 2 Rn. 210; vgl. Sachs/Degenhardt, GG Art. 103 Rn. 65; Satzger, Europäisierung, S. 240, 248; Schützendübel, Die Bezugnahme auf EU-Verordnungen, S. 262; Schuster, Strafnormen und Bezugsnormen, S. 272 ff.; Freund/Rostalski, GA 2016, 443 (448). 101 Vertreter dieser Ansicht gehen auf die oben beschriebene Problematik der Anwendbarkeit des Art. 104 Abs. 1 GG auf das materielle Strafrecht meist nicht ein. Vereinzelnd werden historische und systematische Gründe angeführt: Bode/Seiterle, ZiS 2016, 91 (96 ff.); a. A. Heghmanns, Grundzüge, S. 91, der schlicht auf den schwachen Maßstab des Art. 80 GG zurückgreift; so auch Schünemann, in: FS Lackner (1987), S. 367 (379, Fn. 42). 96
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Freiheitsbeschränkung „aufgrund eines förmlichen Gesetzes“ und eben nicht „durch Gesetz“ erfolgen muss.102 Andere Autoren wollen die durch Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG vorgeschriebene Delegationssperre durchbrechen, indem sie auf kollidierendes Verfassungsrecht hinweisen.103 Das BVerfG äußert sich zu der gesamten Problematik nicht bzw. nur unklar. Dies beginnt damit, dass regelmäßig der sich aus Art. 103 Abs. 2 GG ergebene strenge Gesetzesvorbehalt betont,104 gleichzeitig aber ohne nähere Begründung ausgeführt wird, dass Art. 103 Abs. 2 GG auch materielle Gesetze erfasse und damit ein Verweis auf Rechtsverordnungen zulässig sei.105 Zudem verweist das BVerfG im Rahmen der Prüfung der Bestimmtheit von Verweisungen auf Rechtsverordnungen zwar regelmäßig auf Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG,106 so dass davon auszugehen ist, dass es die Norm auch außerhalb der Strafvollstreckung für anwendbar hält. Eine ausdrückliche Begründung, warum Verweisungen auf Rechtsverordnungen dennoch zulässig sind, liefert das BVerfG allerdings nicht. Um eine klare Stellungnahme zu umgehen, lässt das BVerfG zudem das Verhältnis zwischen Art. 103 Abs. 2 GG, 104 Abs. 1 S. 1 GG und Art. 80 Abs. 1 GG – wohl bewusst – offen. Im Rahmen der Prüfung des Art. 103 Abs. 2 GG wird – ohne das Verhältnis klarzustellen – auf Art. 80 Abs. 1 GG Bezug genommen107 und Art. 104 Abs. 1 GG wird nur „hilfsweise“ (auch in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG) herangezogen,108 sodass nicht klar erkennbar ist, ob das Gericht Art. 104 Abs. 1 GG eine eigenständige Bedeutung beimisst. Das BVerfG begnügt sich offensichtlich damit, dass Art. 104 Abs. 1 GG geringfügig strengere Delegationsvoraussetzungen schaffe als Art. 103 Abs. 2 GG und Art. 80 Abs. 1 GG.109 Im Ergebnis führen die unterschiedlichen dogmatischen Begründungen bei Strafnormen nicht zu unterschiedlichen Prüfungsmaßstäben. Sowohl die Ansicht, die Verweise auf Rechtsverordnungen – wegen der Nichtanwendbarkeit des Art. 104 Abs. 1 GG – für zulässig hält und anschließend Art. 103 Abs. 2 GG im Sinne einer „strafrechtstypischen Verschärfung“ des Art. 80 Abs. 1 GG als Prüfungsmaßstab anwendet, als auch diejenigen, die auf Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG abstellen und diesen dann, sei es über den Wortlaut oder über kollidierendes Verfassungsrecht, „auf-
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Satzger, Europäisierung, S. 248; Ernst, Blankettstrafgesetze, S. 81 f. Bode/Seiterle, ZiS 2016, 91 (101 ff.), wonach ausnahmsweise dynamische Verweisungen auf Rechtsverordnungen zulässig seien, wenn andernfalls die Handlungsfähigkeit des (Straf-)Gesetzgebers in einer für die freiheitlich demokratische Grundordnung nachteiligen Weise leiden würde. 104 BVerfG NVwZ 2009, 239 (239); NJW 2016, 3648 (3649). 105 BVerfG NJW 2016, 3648 (3649); NVwZ-RR 2020, 569 (Rn. 70). 106 BVerfG NJW 1987, 3175 (3175); 1989, 1663 (1663); NVwZ-RR 2020, 569 (Rn. 69). 107 BVerfG NJW 2016, 3648 (3649 f.). 108 BVerfG NJW 2016, 3648 (3650 f.); NVwZ-RR 2020, 569 (Rn. 75, 83). 109 Vgl. Bode/Seiterle, ZiS 2016, 91 (100). 103
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weichen“, verlangen strengere Kriterien, als die durch Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG festgelegten Delegationsvoraussetzungen.110 Für die Frage, ob bei Ordnungswidrigkeiten der gleiche Prüfungsmaßstab gilt wie bei Strafnormen,111 ist die dogmatische Herleitung jedoch von Relevanz. Denn Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG stellt auf die „Freiheit der Person“ ab, die bei Ordnungswidrigkeiten nicht betroffen ist. Nach der sich auf Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG berufenden Ansicht wären damit bei Ordnungswidrigkeiten Verweise auf Rechtsverordnungen aus Sicht der kompetenzwahrenden Funktion lediglich unter Einhaltung der Kriterien des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG möglich. Zu diesem Ergebnis kann man jedoch nicht gelangen, wenn man ausschließlich auf Art. 103 Abs. 2 GG abstellt und diese Norm als eine „Verschärfung“ des Art. 80 Abs. 1 GG begreift. Denn Art. 103 Abs. 2 GG ist – wie § 3 OWiG verdeutlicht – auch auf Ordnungswidrigkeit anwendbar.112 Dies hat zur Folge, dass insoweit derselbe Prüfungsmaßstab wie bei Strafnormen gelten muss. Zwar leitet diese Ansicht ihren Prüfungsmaßstab aus der Wesentlichkeitstheorie ab, sodass man auf den Gedanken kommen könnte, bei der Verhängung von Geldbußen handele es sich nicht um eine so grundlegende Grundrechtseinbuße wie bei Kriminalstrafen, mit der Folge, dass insoweit bei Ordnungswidrigkeiten geringere Anforderungen an die Bestimmtheit zu stellen sein könnten.113 Geht man diesen Weg, leitet man also die geringeren Anforderungen an die Bestimmtheit von Bußgeldnormen aus der Wesentlichkeitstheorie und nicht aus der Nichtanwendbarkeit des Art. 104 Abs. 1 GG ab, würden die geringeren Anforderungen nicht nur im Bereich der Kompetenzwahrung, sondern auch im Bereich der Verhaltensleitung gelten. Diese Argumentation überzeugt jedoch nicht. Auch eine Geldbuße ist wesentlich und Art. 103 Abs. 2 GG differenziert – ohne entsprechende Zwischenstufen – nur zwischen Strafen und Nichtstrafen.114 Die grundgesetzliche Garantie des Art. 103 Abs. 2 GG wurde von der Verfassungsrechtsprechung gerade auf alle „hoheitliche Reaktion“ in Form einer Übelszufügung wegen eines rechtswidrigen Verhaltens ausgedehnt.115 Im Übrigen ist auch nicht nachvollziehbar, wie 110
Davon geht offensichtlich auch das BVerfG aus, das in seiner neueren Rspr. zunächst Art. 103 Abs. 2 i. V. m. Art. 104 Abs. 1 GG (auch mit Blick auf die kompetenzwahrende Funktion) prüft und erst in einem zweiten Schritt (gesondert) auf die Voraussetzungen des Art. 80 Abs. 1 GG eingeht. 111 Das BVerfG hat diese Frage in zwei Entscheidungen bewusst offengelassen. Siehe BVerfG NJW 2010, 754 (755 f.) im Rahmen der Prüfung des Art. 103 Abs. 2 GG und BVerfG NJW 2016, 3648 (3652) im Rahmen der Prüfung des Art. 80 Abs. 1 GG. 112 Maunz/Dürig/Remmert, GG Art. 103 Abs. 2 Rn. 5; KK-OWiG/Rogall, § 3 Rn. 2; Bülte, BB 2016, 3075 (3079) (m. w. N.); BVerfG NJW 2010, 754 (754). 113 Dies deutet auch das BVerfG an, siehe BVerfG NJW 2016, 3648 (3652); Ausdruck eines solchen Verständnisses ist auch die vom BVerfG regelmäßig verwendete Formulierung, die Anforderungen an die Bestimmtheit seien umso höher, je höher die angedrohte Strafe sei. So im Ergebnis auch Cornelius, Verweisungsbedingte Akzessorietät, S. 312 ff.; vgl. dazu auch Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 197 f. 114 Bülte, BB 2016, 3075 (3080). 115 KK-OwiG/Rogall, § 3 Rn. 2 (m. w. N.).
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eine solche Differenzierung der Bestimmtheitsanforderungen aussehen sollte. Eine Straf- oder Bußgeldnorm ist entweder bestimmt, das sanktionierte Verhalten also für den Bürger vorhersehbar, oder aber unbestimmt, das sanktionierte Verhalten also nicht vorhersehbar.116 Senkt man die Anforderungen an die Bestimmtheit von Ordnungswidrigkeiten, hätte dies zur Folge, dass für normale verwaltungsrechtliche Ermächtigungsnormen, ohne strafrechtlichen Bezug, der Maßstab des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG, für Ordnungswidrigkeit ein aus Art. 103 Abs. 2 GG abgeleiteter – im Vergleich dazu etwas strengerer – und für Strafnomen eine ebenfalls aus Art. 103 Abs. 2 GG abgeleiteter – wiederum etwas strengerer – Maßstab gelten würde. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass es – wie noch aufgezeigt wird – schon nicht gelingt, im Rahmen der Prüfung der Bestimmtheit zwischen zwei Stufen (Art. 103 Abs. 2 GG und Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG) zu differenzieren, erscheint es nicht praktikabel, eine weitere, dritte Stufe der Bestimmtheit einzufügen. Im Ergebnis ist es daher überzeugend, Art. 104 Abs. 1 GG – seinem Wortlaut entsprechend – nur auf Vollstreckungsmaßnahmen anzuwenden117 und Art. 103 Abs. 2 GG als strafrechtstypische Verschärfung des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG zu begreifen, der auf Ordnungswidrigkeiten mit dem gleichen Maßstab anzuwenden ist. Andernfalls hätte Art. 103 Abs. 2 GG im Bereich der Kompetenzwahrung keine eigenständige Bedeutung, was sowohl der herrschenden Meinung in der Literatur als auch der ständigen Rechtsprechung des BVerfG, das regelmäßig auf die kompetenzwahrende Funktion des Art. 103 Abs. 2 GG hinweist, widerspräche. Ein Gesetzesvorbehalt zum Zwecke der Kompetenzwahrung würde bei Strafnormen aus Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG und bei Ordnungswidrigkeit aus Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG abgeleitet werden. Dass infolge dessen an Bußgeldvorschriften geringere Anforderungen zu stellen sein sollen, überzeugt auch vor dem Hintergrund nicht, dass der Bestimmtheitsgrundsatz auch bei Strafnormen bereits erhebliche Relativierungen erfahren hat. Zudem hat auch das BVerfG bereits festgestellt, dass der „formale Gesichtspunkt, dass die Ordnungswidrigkeit nicht kriminelles Delikt, das Bußgeldverfahren kein Strafverfahren“ ist, nicht ausreiche, um eine Abweichung von strafrechtlichen Garantien zu rechtfertigen.118 Damit muss für Ordnungswidrigkeitentatbestände der gleiche Prüfungsmaßstab gelten, wie für Straftatbestände.119 c) Anwendung der Zulässigkeitsvoraussetzungen aa) Literatur Im Schrifttum nicht einheitlich beantwortet wird – neben der soeben dargestellten Problematik – die Frage, wie bestimmt das förmliche Gesetz bei Verweisungen auf 116 Auch wenn die Aussage des BVerfG, es genüge, wenn das Risiko der Bestrafung erkennbar sei, in eine andere Richtung geht. 117 So auch Cornelius, Verweisungsbedingte Akzessorietät, S. 314 f. 118 BVerfG NJW 1959, 619 (619). 119 So auch KK-OWiG/Rogall, § 3 Rn. 2.
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Rechtsverordnungen sein muss, was also unter den „wesentlichen Voraussetzungen“, die das förmliche Gesetz beinhalten muss, zu verstehen ist und wann es sich bei den Ergänzungen durch die Rechtsverordnung nur um eine „Spezifizierung“ handelt. Umstritten ist, anders ausgedrückt, wie deutlich die Gewichtverteilung zwischen Verweisungs- und Ausfüllungsobjekt ausfallen muss und was der richtige Anknüpfungspunkt für eine solche Gewichtverteilung ist. Geht es um den Anknüpfungspunkt, fordert eine von der herrschenden Meinung abweichende Ansicht, dass sich die Bedingungen der Strafbarkeit und insbesondere die Verhaltensumschreibungen zumindest in Form einer generischen Beschreibung ausdrücklich schon aus der Blankettnorm selbst und nicht erst aus einem in Bezug genommenen förmlichen Gesetz ergeben müssten.120 Eine dritte Ansicht unternimmt den Versuch, die Blankettstrafgesetze abstrakt in zulässige und unzulässige Kategorien einzuteilen.121 Unterschieden wird insoweit zwischen normkonkretisierenden und normergänzenden Verweisungen,122 wobei die normergänzenden weiter in voll und teilweise ergänzungsbedürftige Blankette unterteilt werden.123 Für zulässig werden nur normkonkretisierende Verweisungen betrachtet, wenn also bereits die Verweisungsnorm selbst die vom Normadressaten einzuhaltende Verhaltensvorschrift nach Gegenstand, Inhalt und Ausmaß hinreichend festlegt.124 Da diese Autoren die Abgrenzung zwischen normergänzenden und normkonkretisierenden Verweisungen nach der Dichte des Regelungsgehalts im Blankettstrafgesetz selbst vornehmen, baut auch diese Ansicht, ohne dies ausdrücklich klarzustellen,125 auf der von der dargestellten Minderheitsmeinung vertretenen Annahme auf, dass sich die wesentlichen Voraussetzungen der Strafbarkeit schon aus dem Blankettstrafgesetz selbst ergeben müssen. bb) Rechtsprechung Der Rechtsprechung ist auf die Frage, was unter „wesentliche Voraussetzung der Strafbarkeit“ und „Spezifizierung“ zu verstehen ist, eine eindeutige Antwort nicht zu 120
Winkelbauer, Verwaltungsakzessorietät, S. 34; Lohberger, Blankettstrafrecht, S. 108. Krey, EWR 1981, 109 (142 f., 156 ff.); Marburger, Regeln der Technik, S. 390; Moll, Europäisches Strafrecht, S. 150. 122 Marburger, Regeln und Technik, S. 390 ff.; Krey, EWR 1981, 109 (150, 156 ff.); Moll, Europäisches Strafrecht, S. 41 f. 123 Moll, Europäisches Strafrecht, S. 40 ff.; wonach voll ergänzungsbedürftige Verweisungen vorlägen, wenn das Strafblankett, ohne auf eine Verhaltensweise einzugehen, nur auf andere Normen verweise. Nach Enderle liegt überhaupt nur in dieser Konstellation ein Blankett vor. Alle anderen Verweise seien demnach normative Tatbestandsmerkmale (Enderle, Blankettstrafgesetze, S. 349). 124 Moll, Europäisches Strafrecht, S. 150. 125 Vgl. Moll, Europäisches Strafrecht, S. 41, der am Beispiel des § 49 Nr. 3 i. V. m. § 26 Abs. 3 Nr. 2 WeinG darstellt, dass sich die Einordnung dieser Norm als ergänzungsbedürftige Verweisung aus der Tatsache ergebe, dass sich der eigentliche Tatbestand erst aus der Ermächtigungsnorm ergebe. 121
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entnehmen. Es genüge, wenn der Gesetzgeber die Verbotsmaterie „in ihren Grundzügen“ festlege,126 wenn die Blankettnorm die tatbestandsmäßige Handlung und den Taterfolg in einer allgemeinverständlichen, einer Parallelwertung in der Laiensphäre zugänglichen Weise beschreibe.127 Es sei erforderlich, aber auch ausreichend, wenn der Gesetzgeber das geschützte Rechtsgut darstelle, einen bestimmten Unrechtstyp erkennen lasse und damit eine normative Wertbestimmung vornehme.128 Das BVerfG weist darauf hin, dass eine Umschreibung des strafrechtlich relevanten Verhaltens erforderlich sei.129 Im Parlamentsgesetz müsse eine konkrete Verhaltensbeschreibung und nicht die Beschreibung einer abstrakten Pflicht erfolgen.130 Zulässig sei es jedoch, wenn eine Einzelauflistung der strafbaren Verhaltensweisen in eine Rechtsverordnung ausgelagert werde,131 die Rechtsverordnung damit also die „Hauptlast der Normsetzung“ trage.132 In der Literatur wird der Begriff der „Spezifizierung“ zum Teil enger gezogen. Der parlamentarische Gesetzgeber müsse aus sich heraus verständliche Ge- und Verbote setzen.133 Der Begriff „Spezifizierung“ wird teilweise durch den Begriff „Konservierung“134 oder „Konkretisierung“135 ersetzt. In diesem Zusammenhang wird eine Entscheidung des BGH herangezogen, in der ein Straftatbestand aus dem Bundesnaturschutzgesetz (Artenschutz) für ausreichend bestimmt erklärt wurde, da lediglich eine „weitere Präzisierung des bereits bestimmten Straftatbestandes“136 erfolge. Aufgrund ihrer Abweichung zur Formulierung des BVerfG wird diese Entscheidung als „bemerkenswert“ bezeichnet.137 Einer solchen Einstufung kann jedoch nicht gefolgt werden. Der BGH hat in der zitierten Entscheidung keinen allgemeinen Prüfungsmaßstab festgelegt, sondern – bezogen auf den konkreten Einzelfall – festgestellt, dass die konkrete Blankettnorm aus diesen Gründen verfassungsgemäß sei. Von einer Abweichung der vom BVerfG entwickelten Maßstäbe kann, trotz der abweichenden und 126
BVerfG NJW 1989, 1663 (1663). BVerfG wistra 2010, 396 (404). 128 BVerfG wistra 2010, 396 (404). 129 BVerfG wistra 2010, 396 (404). 130 BVerfG NVwZ 2007, 1172 (1175); in diese Richtung auch Cornelius, Verweisungsbedingte Akzessorietät, S. 329 ff., der – ähnlich wie das BVerfG – fordert, dass das strafrechtlich relevante Veralten sowie das geschützte Rechtsgut aus dem Parlamentsgesetz ersichtlich sein müsse. 131 BVerfG NJW 1987, 3175 (3175 ff.); vgl. Cornelius, Verweisungsbedingte Akzessorietät, S. 330 f. 132 Heghmanns, Grundzüge, S. 87; vgl. Schuster, Strafnormen und Bezugsnormen, S. 274. 133 In diese Richtung gehen Moll, Europäisches Strafrecht, S. 146; Dietmeier, Blankettstrafrecht, S. 125. 134 Moll, Europäisches Strafrecht, S. 146. 135 Freund/Rostalski, GA 2016, 443 (450). 136 BGH NJW 1996, 3220 (3221). Es handelt sich hierbei zwar um eine auf eine EUVerordnung verweisende Blankettnorm. Wie bereits dargestellt, wendet die Rechtsprechung dabei jedoch die gleichen Kriterien wie bei Verweisungen auf Rechtsverordnungen an. 137 Moll, Europäisches Strafrecht, S. 146; Dietmeier, Blankettstrafrecht, S. 125. 127
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insoweit missverständlichen Formulierung, nicht die Rede sein. Dennoch zeigen schon diese unterschiedlichen Interpretationen, dass die Kriterien der Rechtsprechung insgesamt bewusst unbestimmt gefasst worden sind, um als Einfallstor für eine Einzelfallprüfung zu dienen. Zur Verdeutlichung sollen hier einige Beispiel aus der Rechtsprechung dargestellt werden. Das BVerfG hat § 51 Abs. 1 Nr. 2 LMBG a. F., der auf die sog. Hühnerei-Verordnung verwies, für ausreichend bestimmt erachtet. Die Blankettnorm legte fest, dass sich strafbar mache, wer „einer nach § (…) für Lebensmittel zum Schutze der Gesundheit erlassenen Rechtsverordnung zuwiderhandelt (…)“.138 Der Bestimmtheitsgrundsatz sei hier nicht verletzt, da die Beschreibung des tatbestandlichen Verhaltens mit der Formulierung einer Zuwiderhandlung gegen eine nach ihrem groben Sachbereich angegebenen Rechtsverordnung und der in der Ermächtigungsnorm vorgesehenen Befugnis den Handel mit Lebensmitteln zum Schutz der Gesundheit des Verbrauchers vor Gefahren zu beschränken ausreiche, um die wesentlichen Voraussetzungen der Strafbarkeit selbst zu regeln und dem Verordnungsgeber lediglich die Spezifizierung zu überlassen. Dass die unter Strafe gestellte Zuwiderhandlung nicht in ihren Einzelheiten umschrieben sei, wurde vom Gericht für unbedenklich eingestuft. Dieser knappen Begründung fügte das Gericht zwei „Hilfsbegründungen“ bei. Zum einen verwies es auf das insoweit beim Normadressaten vorhandene besondere Fachwissen. Zum anderen stellte es auf die aufgrund des Einflusses des Europäischen Gemeinschaftsrechts gegebene Erforderlichkeit wechselnder und vielfältiger Einzelfallregelungen ab.139 Vergleicht man diese Entscheidung mit einem Beschluss des BVerfG aus dem Jahre 2007,140 wird der uneinheitliche Maßstab der Rechtsprechung besonders deutlich. Dort wurde eine Bußgeldvorschrift mit der Begründung für verfassungswidrig erklärt, dass dem Parlamentsgesetz lediglich die abstrakte Pflicht und nicht die konkreten Verhaltenspflichten zu entnehmen seien. Die dort gewählte generalklauselartige Formulierung sei mit Art. 103 Abs. 2 GG nicht vereinbar.141 Als verfassungswidrig hat das BVerfG Verweisungen auf Rechtsverordnungen auch dann angesehen, wenn die Rechtsverordnung eine eigenständige Strafandrohung enthielt142 oder aber die Strafbarkeit mit dem Verweis auf eine Rechtsverordnung begründet wurde, welche eine andere Zielrichtung als die des formellen Gesetzes verfolgte, das geschützte Rechtsgut mithin nicht identisch war.143 In einer weiteren Entscheidung stufte das BVerfG § 15 Abs. 2 lit. a Fernmeldeanlagengesetz (FAG) a. F. als mit Art. 103 Abs. 2
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BVerfG NStZ-RR 2002, 22 (22). BVerfG NStZ-RR 2002, 22 (22). 140 BVerfG NVwZ 2007, 1172. 141 BVerfG NVwZ 2007, 1172 (1175), ein vergleichbarer Fall mit wieder abweichender Lösung BVerfG NJW 1962, 1563; kritisch dazu Tiedemann, Tatbestandfunktionen, S. 254. 142 BVerfG NJW 1962, 1339. 143 BVerfG NJW 1968, 1515. 139
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GG nicht vereinbar ein.144 Begründet wurde dies damit, dass mit der Formulierung des § 15 Abs. 2 lit. a FAG a. F. („Mit Freiheitsstrafe (…) wird bestraft, wer genehmigungspflichtige Fernmeldeanlagen unter Verletzung von Verleihungsbedingungen errichtet, ändert oder betreibt (…)“) den Behörden durch die pauschale Anknüpfung der Strafandrohung an inhaltlich nicht näher bestimmte Verleihungsbedingungen die Bestimmung der Voraussetzungen der Strafbarkeit überlassen werde.145 Welche Gebote und Verbote erfasst sein sollen, werde weder im Gesetz über Fernmeldeanlagen noch in anderen förmlichen Gesetzen so bestimmt umgrenzt, dass der Begriff „Verleihungsbedingungen“ als Anknüpfungspunkt für eine Strafdrohung herangezogen werden dürfe. Auch die Strafvorschrift selbst enthalte keine nähere Einschränkung der Verbotsmaterie, die dem Bestimmtheitsgebot der Art. 103 Abs. 2, 104 Abs. 1 Satz 1 GG genügen könne.146 In diesem Fall ging das Gericht also davon aus, dass der Exekutive mehr als nur die Spezifizierung überlassen wurde. cc) Bewertung Gegen die Verwendung der von der Rechtsprechung aufgestellten Kriterien sprechen im Wesentlichen zwei Argumente. Zum einen ist es ihr nicht gelungen, diese Maßstäbe zu konkretisieren, sodass bei der Frage der Zulässigkeit solcher Blankettnormen unabhängig vom Einzelfall kein einheitlicher Maßstab angesetzt werden kann. Zum anderen kann man nach genauerer Betrachtung der in diesem Bereich ergangenen Entscheidungen des BVerfG feststellen, dass die im jeweiligen Einzelfall angewendeten Maßstäbe für die Blankettausfüllung durch Rechtsverordnungen in der Regel nicht über diejenigen hinausgehen, die in Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG ohnehin an den Erlass von Rechtsverordnungen gestellt werden, weshalb sich die Frage stellt, ob dem strafrechtlichen Bestimmtheitsgebot überhaupt noch eine eigenständige Bedeutung zukommt.147 Im Ergebnis ist damit, da sich nach der herrschenden Meinung die wesentlichen Voraussetzungen der Strafbarkeit auch aus der Ermächtigungsnorm ergeben können, jede nicht ohnehin schon verfassungswidrige Rechtsverordnung taugliches und zulässiges Ausfüllungsobjekt eines Blankett144 BVerfG NJW 1989, 1663. Es handelt sich hierbei zwar um eine auf einen Verwaltungsakt verweisende Blankettnorm. Wie bereits dargestellt, wendet das BVerfG dabei jedoch die gleichen Kriterien wie bei Verweisungen auf Rechtsverordnungen an. 145 BVerfG NJW 1989, 1663 (1664). 146 BVerfG NJW 1989, 1663 (1663 f.). 147 Vgl. Dietmeier, Blankettstrafrecht, S. 122; mit der Konsequenz, dass nur noch auf Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG abgestellt werden soll: Schünemann, in: FS Lackner (1987), S. 379 Fn. 42. Es verwundert daher auch nicht, dass das BVerfG § 10 RiFlEtikettG a. F. nicht nur wegen Verstoßes gegen den Bestimmtheitsgrundsatz, sondern – mit größtenteils identischer Argumentation – auch wegen Verstoßes gegen Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG für verfassungswidrig erklärt hat (BVerfG NJW 2016, 3648). In der Entscheidung des BVerfG vom 11. 03. 2020 zum LFGB hat das Gericht hingegen – ebenfalls insoweit nicht verwunderlich – mit fast identischer Argumentation sowohl einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG als auch gegen Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG verneint (BVerfG NVwZ-RR 2020, 568). Ausführlich zu beiden Entscheidungen siehe Kapitel 2. F.
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Kap. 2: Die Blankettgesetzgebungstechnik des AMG
strafgesetzes. Dies kann gerade unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Art. 103 Abs. 2 GG als „strafrechtstypische Verschärfung“ des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG zu verstehen ist, nicht das richtige Ergebnis sein.148 Es widerspricht zudem der vom BVerfG selbst geäußerten Feststellung, dass sich aus Art. 103 Abs. 2 GG ein strengerer Maßstab als aus Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG ergeben müsse.149 Anders wäre es auch nicht zu erklären, warum das BVerfG in einer neueren Entscheidung bei der Frage der Zulässigkeit der Ausfüllung einer Strafnorm durch eine EU-Verordnung zunächst den strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz nach Art. 103 Abs. 2 und Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG und erst anschließend die Bestimmtheit nach Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG prüft.150 Faktisch geht das BVerfG über die Voraussetzungen des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG dann jedoch nicht hinaus. Die Kritik an den von der Rechtsprechung aufgestellten Maßstäben lässt sich jedoch auch auf einige in der Literatur vertretene Ansätze übertragen. Soweit vertreten wird, dass es sich bei der Ausfüllung durch eine Rechtsverordnung um eine Konkretisierung der bereits durch das Parlament getroffenen kriminalpolitischen Grundentscheidung151 oder aber eine „Konservierung“152 handeln müsse, ist auch dieser Maßstab nicht bestimmter als der von der Rechtsprechung gewählte. Wird zwischen – unzulässigen – norminterpretierenden und – zulässigen – normergänzenden bzw. normkonkretisierenden Verweisungen unterschieden,153 führt dies im Ergebnis tendenziell zu einer generellen Unzulässigkeit von Verweisungen auf Rechtsverordnungen. Aus einer solchen Unterteilung folgt, dass alle aus Sicht des Gesetzgebers sinnvollen Verweise auf Rechtsverordnungen verfassungswidrig wären. Fordert man, dass das Strafblankett die vom Normadressaten einzuhaltende Verhaltensvorschrift derart präzise umschreiben muss, wie es von den Vertretern dieser Ansicht gefordert wird, und stellt zudem bei der Frage der Gewichtverteilung zwischen der Strafnorm und der Rechtsverordnung nur auf die Blankettnorm selbst ab, ohne die Ermächtigungsnorm als formelles Gesetz zu berücksichtigen, sind letztlich nur noch deklaratorische Verweisungen auf Rechtsverordnungen zulässig.154 Während also im Ergebnis die Kriterien der herrschenden Meinung tendenziell zu einer generellen Zulässigkeit von Verweisungen auf Rechtsverordnungen führen, weil keine über die in Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG hinausgehenden Anforderungen ge148
Auch die Gegenauffassung, die Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG als Maßstab heranzieht, verlangt strengere Voraussetzungen, als die des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG. 149 BVerfG NVwZ, 2007, 1172 (1175): „Diesen im Vergleich zu den sich aus Art. 20 III und Art. 80 I 2 GG ergebenden strengeren Maßstäben (…).“ 150 BVerfG NJW 2016, 3648. Die Prüfung der Voraussetzungen des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG fällt dabei jedoch sehr viel umfangreicher aus, als die Prüfung der Art. 103 Abs. 2, 104 Abs. 1 S. 1 GG. Siehe auch BVerfG NVwZ-RR 2020, 569, dazu ausführlich Kapitel 2 G. 151 Vgl. Dietmeier, Blankettstrafrecht, S. 128. 152 Moll, Europäisches Strafrecht, S. 146. 153 Vgl. Krey, EWR 1981, 109 (150, 156 ff.); diese Unterscheidung geht zurück auf Marburger, Regeln der Technik, S. 390 ff. 154 Vgl. Schützendübel, Die Bezugnahme auf EU-Verordnungen, S. 278 f.
E. Überprüfung der kompetenzwahrenden Funktion des Art. 103 Abs. 2 GG
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fordert werden, führen die davon abweichenden Ansichten in der Literatur tendenziell zu einer generellen Unzulässigkeit solcher Verweise, da alle nicht nur deklaratorischen Verweise als unzulässig einzustufen wären. Die unterschiedlichen Ansätze in der Rechtsprechung und Literatur basieren unter anderem darauf, dass bei der Frage der Zulässigkeit solcher Verweisungen – sowohl in der Rechtsprechung als auch in der Literatur – nicht sauber zwischen den beiden Funktionen des Art. 103 Abs. 2 GG unterschieden wird. Aus Perspektive der kompetenzwahrenden Funktion steht es dem Gesetzgeber selbstverständlich frei, die wesentlichen Voraussetzungen der Strafbarkeit auch durch weitere förmliche Gesetze, insbesondere also durch die Ermächtigungsnorm, festzulegen. Fordert man hingegen, dass sich die wesentlichen Voraussetzungen der Strafbarkeit schon aus der Blankettnorm selbst ergeben müssen, steht bei dieser Forderung nicht der kompetenzwahrende, sondern der verhaltensleitende Aspekt im Vordergrund. Die Gewichtverteilung zwischen Blankettnorm und Ausfüllungsobjekt ist also für beide Funktionen des Art. 103 Abs. 2 GG von Bedeutung. Wenn Moll ausführt, dass der Aspekt, dass dem Verordnungsgeber nur gewisse Spezifizierungen überlassen werden dürfen, neben seiner Relevanz im Hinblick auf das Demokratieprinzip auch für das Bestimmtheitsgebot entscheidende Bedeutung erhalte,155 ist dem im Ergebnis zuzustimmen. Warum jedoch der Anknüpfungspunkt aus Sicht der verhaltensleitenden Funktion speziell bei Verweisungen auf Rechtsverordnungen nur die Blankettnorm selbst und nicht auch die in Bezug genommene Ermächtigungsgrundlage sein soll, ist nicht nachvollziehbar. Stellt man eine solche Forderung auf,156 müsste dies für sämtliche Blankettypen gefordert werden. Denn aus der Perspektive der Verhaltensleitung kann der Grund für eine solche Forderung nur in der Problematik der Auffindbarkeit der relevanten Rechtsverordnungen liegen. Die dort bestehende Verweisungsunklarheit besteht jedoch erst, nachdem die Ermächtigungsgrundlage ausdrücklich und bestimmt in Bezug genommen wurde. Nachdem damit geklärt wurde, dass bei der materiellen Gewichtverteilung zwischen Verweisungs- und Ausfüllungsobjekt (bildlich gesprochen) auf der einen Seite der Waage sämtliche förmlichen Gesetze und auf der anderen die sie ausfüllenden außergesetzlichen Regelungen stehen müssen, gilt es noch zu definieren, wie das Gewicht, also die Umschreibung des verbotenen Verhaltens, zwischen den förmlichen Gesetzen einerseits und der Rechtsverordnung andererseits zu verteilen ist. Richtigerweise muss dabei darauf abgestellt werden, dass es sich bei der Ausfüllung durch die Exekutive nur um eine durch Anpassung zu erfolgende Aufrechterhaltung der durch den Gesetzgeber getroffenen Wertentscheidung hinsichtlich der Festlegung des materiellen Unrechtskerns handeln darf. Dies kann nur erreicht werden, wenn die Blankettnorm und/oder die in Bezug genommene Ermächtigungsnorm nicht nur allgemein, generalklauselartig die Verbotsmaterie festlegen, sondern konkrete Handlungs- und Unterlassungspflichten, wie z. B. in § 6 155 156
Moll, Europäisches Strafrecht, S. 136. Siehe Kapitel 2 E. I. 1.
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Kap. 2: Die Blankettgesetzgebungstechnik des AMG
AMG das Herstellen und Inverkehrbringen bestimmter Arzneimittel, zumindest generisch vorgeben und die Rechtsverordnung insoweit nur noch eine Detailregelung beinhaltet.157 Legt man den Begriff der „Spezifizierung“ derart eng aus, besteht auf der einen Seite nicht die Gefahr, sich lediglich an den durch Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG ohnehin vorgeschriebenen Voraussetzungen zu orientieren. Auf der anderen Seite bleiben jedoch auch Verweise auf Rechtsverordnungen zulässig, die nicht lediglich deklaratorischen Charakter haben. Es kann also nicht gefordert werden, dass der parlamentarische Gesetzgeber schon aus sich heraus bis ins Detail verständliche Geoder Verbote festlegen muss. Auf Grundlage dieses Maßstabs sind – anknüpfend an die oben verwendete Einteilung der Rechtverordnungsblankette in Komplettierungs-, Ausdehnungs-, Änderungs- und Konkretisierungsfall158 – die sog. Änderungsfälle als verfassungsrechtlich unzulässig zu bewerten. Zulässig ist hingegen die Komplettierung oder Konkretisierung der Strafnorm durch in der Rechtsverordnung benannte Stofflisten. Ausdehnungsfälle sind nur dann zulässig, wenn die Möglichkeit der Ausdehnung vom Gesetzgeber ausdrücklich eröffnet wurde und durch die von der Exekutive erfolgte Ausdehnung der Wertentscheidung des Gesetzgebers entspricht. Der Gesetzgeber muss also ausdrücklich zu erkennen geben, dass er die Exekutive zur Ausdehnung ermächtigt. Zudem muss er einen eng begrenzten Rahmen für diese Ausdehnung vorgeben. Betrachtet man die Verweisungen auf Rechtsverordnungen in den Straf- und Bußgeldvorschriften des AMG, fällt zunächst auf, dass der verfassungsrechtlich besonders problematische Änderungsfall im AMG nicht existiert. Bei der Komplettierung oder Konkretisierung geht es darum, die Exekutive zu ermächtigen, Listen mit aktualisierungsbedürftigen Arzneimitteln zu erstellen, gewisse Ver- und Gebote auf andere Arzneimittel auszuweiten159 oder aber die Verwendung bestimmter (durch Rechtsverordnung festzulegender) Stoffe zu untersagen.160 Soweit es um den ebenfalls nicht unproblematischen Fall der Ausdehnung geht, wird der Rahmen dieser Ausdehnung derart eng begrenzt,161 dass auch hier kein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG aus Sicht der kompetenzwahrende Funktion vorliegt, soweit sich der Verordnungsgeber an diese Vorgaben – andernfalls ist die Rechtsverordnung ohnehin verfassungswidrig – hält.162
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Vgl. Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 258 ff. Siehe Kapitel 2 C. IV. 2. 159 Vgl. §§ 95 Abs. 1 Nr. 6, 96 Nr. 5, 7, 8, 13 AMG. 160 Vgl. §§ 95 Abs. 1 Nr. 2, 96 Nr. 2, Nr. 18 AMG. 161 Siehe § 42 Abs. 3 AMG, der von § 97 Abs. 2 Nr. 31 AMG in Bezug genommen wird. 162 Im Ergebnis ebenso: MK-Nebenstrafrecht/Freund, AMG Vorb. § 95 Rn. 61 f., der die „einfachen“ Verweisungen des AMG auf Rechtsverordnungen für kompetenzrechtlich unproblematisch hält. 158
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2. Qualifizierte Verweisungen (Rückverweisungsklauseln) Im Hinblick auf die kompetenzwahrende Funktion des Art. 103 Abs. 2 GG noch problematischer als die soeben behandelten einfachen Verweisungen auf Rechtsverordnungen sind die ebenfalls im AMG verwendeten Verweisungen auf Rechtsverordnungen mit Rückverweisungsklauseln (sog. qualifizierte Blankettvorschriften163). § 97 Abs. 2 Nr. 31 AMG enthält Verweisungen auf Rechtsverordnungen, bei denen der Gesetzgeber nur für den Fall ein Bußgeld anordnet, dass die in Bezug genommene Rechtsverordnung auf die konkrete Blankettnorm zurückverweist. Auch die Strafvorschriften § 95 Abs. 1 Nr. 2 und § 96 Nr. 2 AMG in der bis zum 16. 08. 2019 gültigen Fassung enthielten entsprechende Verweisungen. Während die Rechtsprechung gegen diese Form der Rückverweisung grundsätzlich keinerlei Bedenken äußert,164 werden sie von zahlreichen Autoren als verfassungswidrig eingestuft.165 Es wird argumentiert, dass hierdurch dem Verordnungsgeber ein zu großer Entscheidungsspielraum überlassen werde. Sieht der Gesetzgeber eine Strafbarkeit nur vor, wenn der Verordnungsgeber auf die Strafnorm zurückverweist, habe der Gesetzgeber der Exekutive nicht nur die Spezifizierung der Entscheidung des Gesetzgebers, sondern allgemein die Entscheidung über das „Ob“ der Strafbarkeit überlassen.166 Der BGH hält derartige Rückverweisungsklauseln hingegen für zulässig. So führt er im Rahmen der Prüfung der Bestimmtheit von § 52 Abs. 2 Nr. 1 VTabakG a. F., der eine entsprechende Rückverweisungsklausel enthielt, in erster Linie Praktikabilitätsgründe an und betont – auch unter Bezugnahmen auf die im AMG befindlichen Rückverweisungsklauseln –, dass derartige Konstellationen vom BVerfG bislang nicht beanstandet wurden.167 Rückverweisungsklauseln trügen zu einer erhöhten Bestimmtheit bei und seien zumindest dann unbedenklich, wenn es 163
Der Begriff geht zurück auf Volkmann, ZRP 1995, 220 ff. BGH NJW 2016, 1251; BVerfG NJW 2016, 3648 und BVerfG NVwZ-RR 2020, 569 betrafen nicht eine solche „klassische“ Rückverweisungsklausel, siehe dazu Kapitel 2 G. 165 MK-Nebenstrafrecht/Freund, AMG Vorb. § 95 Rn. 53 ff.; ders., ZLR 1994, 261 (286 f.); ders., JZ 2014, 362 ff.; Doepner, ZLR 2005, 679 ff.; Satzger, Europäisierung, S. 260; ders., Internationales und Europäisches Strafrecht, § 9 Rn. 81; Volkmann, ZRP 1995, 220 ff.; Dietmeier, Blankettstrafrecht, S. 129 ff.; Moll, Europäisches Strafrecht, S. 174 ff., 186, 278; Spickhoff-MedR/Knauer, AMG § 95 Rn. 9; Graf/Jäger/Wittig/Eschelbach, AMG § 95 Rn. 12 f.; Lenzen, JR 1980, 136 Fn. 27; kritisch auch MK-StGB/Schmitz, § 1 Rn. 66; ders., in: FS Schünemann (2014), S. 235 (241); ders., wistra 2017, 455 f.; Bülte, BB 2016, 3075 (3080 ff.); ders., wistra 2020, 251 f.; Freund/Rostalski, GA 2016, 443 (447 ff.); Hecker, NJW 2016, 3653 ff.; ders., JuS 2017, 79 (80); Honstetter, NZWiSt 2017, 325 (328); Martell/Wallau, ZLR 2017, 67 (70 f.); dies., LMuR 2017, 118 (119); Jahn/Brodowski, ZStW 129 (2017), 363 (374 f.); Sauer, Die Verwaltung 50 (2017), 339 (349); Kempf, AnwBl. 2017, 34 (35); Hoven, NStZ 2016, 377 (381); Sinn, ZJS 2018, 381 (385); Weber, AMG Vor §§ 95 ff. Rn. 4 ff.; vgl. auch KG Berlin BeckRS 2017, 136822; a. A. Enderle, Blankettstrafgesetze, S. 185 ff., 252 ff.; Kügel/ Müller/Hofmann/Raum, Vorb. §§ 95 ff. Rn. 6; Raabe, Bestimmtheitsgrundsatz, S. 82; Cornelius, NStZ 2017, 682 ff.; ders., Verweisungsbedingte Akzessorietät, S. 403 ff., 415; KK-OWiG/ Rogall, § 3 Rn. 16. 166 Vgl. Volkmann, ZRP 1995, 220 (224); Moll, Europäisches Strafrecht, S. 174 ff. 167 BGH NJW 2016, 1251 (1256). 164
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sich – wie seiner Ansicht nach vorliegend der Fall – um deklaratorische Verweisungstechniken handele.168 Diese Argumentation überzeugt nicht.169 Denn durch derartige Klauseln wird dem Verordnungsgeber die Letztentscheidungskompetenz darüber eingeräumt, welches Verhalten strafbar sein soll, sodass von einer deklaratorischen Verweisungstechnik nicht die Rede sein kann. Diese Verweisungen sind mit der verfassungsrechtlichen Kompetenzzuweisung des Art. 103 Abs. 2 GG nicht vereinbar. Soweit argumentiert wird, der Gesetzgeber habe sich in dem von ihm vorgegebenen Rahmen durch den Erlass einer entsprechenden Blankettnorm mit der Sanktionierung bereits generell einverstanden erklärt, ist das nicht überzeugend. Denn durch die Schaffung einer solchen Straf- oder Bußgeldnorm wird lediglich eine Neutralität des Gesetzgebers deutlich, indem er zum Ausdruck bringt, dass er sowohl mit dem Erlass einer solchen Rückverweisung – und der damit bedingten Strafbarkeit – als auch mit der Untätigkeit des Verordnungsgebers – und der damit bedingten Straflosigkeit – einverstanden ist.170 Es genügt gerade nicht, dass der Gesetzgeber durch seine Neutralität ein generelles Einverständnis zum Ausdruck bringt. Würde man dies als ausreichend erachten, würde der Exekutive ein mit Art. 103 Abs. 2 GG nicht zu vereinbarender Spielraum überlassen werden. Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, dass der Ausdruck einer gewissen Neutralität und die Überlassung einer gewissen Entscheidungskompetenz ein strukturelles Problem sei, welches den Verweisungen auf andere Instanzen immanent sei.171 Zum einen kann diese Argumentation nicht die Zulässigkeit von Rückverweisungsklauseln begründen, sondern spricht eher gegen die Zulässigkeit von Außenverweisungen insgesamt. Zum anderen zeigen sich bei qualifizierten Blankettnormen Besonderheiten, die mit den generell bei Verweisungen auf Rechtsverordnung auftretenden Problemen nicht vergleichbar sind. Zwar trifft es zu, dass auch bei einfachen Verweisungen auf Rechtsverordnungen der Verordnungsgeber mittelbar durch den Erlass oder Nicht-Erlass der Rechtsverordnung entscheidet, ob das Verhalten strafbar ist.172 Er tut dies jedoch, indem er von der ihm durch Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG eingeräumten Kompetenz – und zwar auch der Kompetenz, eine Rechtsverordnung gerade nicht zu erlassen – Gebrauch macht. Der Verordnungsgeber kann es also unterlassen, eine Verhaltensnorm zu schaffen, damit entfällt dann logischerweise auch die Strafbarkeit. Anders stellt es sich bei qualifizierten Verweisungen auf Rechtsverordnungen, den Rückverweisungsklauseln dar. Der Verordnungsgeber kann von der Möglichkeit des Erlasses einer Verhaltensnorm Gebrauch machen, gleichzeitig aber durch den Erlass oder Nicht-Erlass einer Rückverweisung ent168
BGH NJW 2016, 1251 (1256). Kritisch auch Freund/Rostalski, GA 2016, 443 (451). 170 Satzger, Europäisierung, S. 259; in diese Richtung auch BGH NJW 2016, 1251 (1256). 171 So aber Enderle, Blankettstrafgesetze, S. 187; Cornelius, NStZ 2017, 682 (688); ders., Verweisungsbedingte Akzessorietät, S. 404 f.; Zipfel/Rathke/Dannecker, (Vorauflage) LFGB Vorb. § 58–§ 62 Rn. 59; Raabe, Bestimmtheitsgrundsatz, S. 82. 172 Mit diesem Argument hält Schuster solche Verweise für nicht generell unzulässig: Schuster, Strafnormen und Bezugsnormen, S. 278. 169
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scheiden, ob das Verhalten strafbar sein soll oder nicht. Einen solchen über Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG hinausgehenden – sich auf die Entscheidung der Strafbarkeit beziehenden – Delegationsmechanismus sieht das Grundgesetz nicht nur nicht vor, sondern verbietet ihn durch Art. 103 Abs. 2 GG. Zudem sind solche Rückverweisungsklauseln schon mit Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG nicht vereinbar. Denn bei der Ermächtigung zum Erlass einer Rückverweisungsklausel handelt es sich um eine sog. „Kann-Ermächtigung“, die nach Ansicht des BVerfG mit Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG nur vereinbar ist, wenn die Anwendbarkeit des Gesetzes nicht davon abhängt, ob von der Ermächtigung Gebrauch gemacht wurde.173 Da jedoch die Straf- bzw. Bußgeldnorm nur bei entsprechender Rückverweisung durch die Exekutive zur Anwendung kommt, ist die „Kann-Ermächtigung“ bereits nach diesem Maßstab unzulässig.174 § 95 Abs. 1 Nr. 2 und § 96 Nr. 2 AMG a. F. sowie § 97 Abs. 2 Nr. 31 AMG sind damit mit Art. 103 Abs. 2 GG nicht vereinbar.175 Dass an die Bestimmtheit von Bußgeldnormen die gleichen Anforderungen wie an Strafnormen zu stellen sind, wurde bereits aufgezeigt. Selbst wenn man dies – sei es wegen der Nichtanwendbarkeit von Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG oder unter Rückgriff auf die Wesentlichkeitstheorie – anders beurteilt, kann nach hiesiger Auffassung die Verweisungskonstruktion des § 97 Abs. 2 Nr. 31 AMG auch dann nicht für zulässig gehalten werden, da durch solche Verweisungskonstruktionen aufgrund der soeben beschrieben eklatanten Kompetenzverschiebung auch bei Ansetzung eines weniger strengen Maßstabes der Verordnungsgeber in unzulässiger Weise über die Strafbarkeit entscheiden kann. 3. Die Neuregelung der §§ 95 Abs. 1 Nr. 2 und 96 Nr. 2 AMG Durch das Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV) vom 09. 08. 2019176 wurden die §§ 95 Abs. 1 Nr. 2 und 96 Nr. 2 AMG sowie der von diesen Strafnormen in Bezug genommene § 6 AMG neu gefasst und hierbei auf die Verwendung von Rückverweisungsklauseln verzichtet. § 95 Abs. 1 Nr. 2 AMG lauten nunmehr: „Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer (…) 2. entgegen § 6 Absatz 1 in Verbindung mit einer Rechtsverordnung nach § 6 Absatz 2, jeweils auch in Verbindung mit einer Rechtsverordnung nach § 6 Absatz 3, ein Arzneimittel in den Verkehr bringt oder bei anderen anwendet, (…)“
§ 96 Nr. 2 AMG lautet in der neuen Fassung: 173
BVerfG NJW 1988, 2529 (2531); ebenso: OVG Hamburg BeckRS 2009, 38049. Volkmann, ZRP 1995, 220 (225 f.). 175 Vgl. MK-Nebenstrafrecht/Freund, AMG Vorb. § 95 Rn. 60; ders., JZ 2014, 362; Freund/ Rostalski, GA 2016, 443 (447); Bülte, BB 2016, 3075 (3080); a. A. Cornelius, Verweisungsbedingte Akzessorietät, S. 405 f. 176 BGBl. I S. 1202. 174
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„Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer (…) 1. entgegen § 6 Absatz 1 in Verbindung mit einer Rechtsverordnung nach § 6 Absatz 2, jeweils auch in Verbindung mit einer Rechtsverordnung nach § 6 Absatz 3, ein Arzneimittel herstellt.“
Die durch diese Strafnormen in Bezug genommen Absätze 1 bis 3 des § 6 AMG lauten: „(1) Es ist verboten, ein Arzneimittel herzustellen, in Verkehr zu bringen oder bei anderen anzuwenden, wenn bei der Herstellung des Arzneimittels einer durch Rechtsverordnung nach Absatz 2 angeordneten Bestimmung u¨ ber die Verwendung von Stoffen, Zubereitungen aus Stoffen oder Gegenständen, die in der Anlage genannt sind, zuwidergehandelt wird. (2) Das Bundesministerium fu¨ r Gesundheit (Bundesministerium) wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Verwendung der in der Anlage genannten Stoffe, Zubereitungen aus Stoffen oder Gegenstände bei der Herstellung von Arzneimitteln vorzuschreiben, zu beschra¨ nken oder zu verbieten, soweit es zur Verhu¨ tung einer Gefa¨ hrdung der Gesundheit von Mensch oder Tier (Risikovorsorge) oder zur Abwehr einer unmittelbaren oder mittelbaren Gefa¨ hrdung der Gesundheit von Mensch oder Tier durch Arzneimittel geboten ist. (3) Das Bundesministerium wird erma¨ chtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates weitere Stoffe, Zubereitungen aus Stoffen oder Gegensta¨ nde in die Anlage aufzunehmen, soweit es zur Risikovorsorge oder zur Abwehr einer unmittelbaren oder mittelbaren Gefa¨ hrdung der Gesundheit von Mensch oder Tier durch Arzneimittel geboten ist. Durch Rechtsverordnung nach Satz 1 sind Stoffe, Zubereitungen aus Stoffen oder Gegensta¨ nde aus der Anlage zu streichen, wenn die Voraussetzungen des Satzes 1 nicht mehr erfu¨ llt sind.“
§ 6 Abs. 1 AMG verbietet das Herstellen, Inverkehrbringen und Anwenden von Arzneimitteln, bei dessen Herstellung gegen eine Rechtsverordnung nach § 6 Abs. 2 AMG verstoßen wird bzw. wurde. § 6 Abs. 2 AMG entspricht § 6 Abs. 1 AMG a. F. Die Neuigkeit besteht darin, dass das Verbot des § 6 Abs. 1 AMG nur dann greift, wenn der Stoff, dessen Verwendung eine Rechtsverordnung nach § 6 Abs. 2 AMG reglementiert, in die Anlage des AMG aufgenommen wurde. Im Rahmen der vom Bundestag beschlossenen Neuregelung des § 6 AMG werden die Stoffe Aflatoxine, Ethylenoxid, Farbstoffe, Frischzellen und Stoffe, Zubereitungen aus Stoffen oder Gegenständen tierischer Herkunft mit dem Risiko der Übertragung transmissibler spongiformer Enzephalopathien als Anlage aufgenommen. Aufgrund der Ermächtigungsnorm des § 6 Abs. 1 AMG a. F. wurden bereits Rechtsverordnungen erlassen, die den Umgang mit diesen Stoffen reglementieren. Im Vergleich zu der alten Regelung wird durch die Benennung der Stoffe in der Anlage die Auffindbarkeit der Rechtsverordnungen deutlich verbessert, da schon der jeweilige Name der Rechtsverordnungen auf den durch sie reglementierten Stoff hinweist. Damit ist zu konstatieren, dass ein Ziel, das auch schon durch die Verwendung von Rückverweisungsklauseln (erfolglos) angestrebt wurde,177 von dieser Verweisungskonstruktion 177 Die Rückverweisungsklauseln haben dieses Ziel aber nicht erreicht, siehe Kapitel 2 F. II. 1. b) bb).
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erreicht wird. Hinsichtlich der vom Gesetzgeber als Anlage aufgenommen Stoffe und den dazugehörigen Rechtsverordnungen bestehen auch aus Sicht der kompetenzwahrenden Funktion des Art. 103 Abs. 2 GG keine Bedenken, da der Gesetzgeber diese Regelungen in seinen Willen aufgenommen hat. Fraglich ist jedoch, wie die Neufassung des § 6 Abs. 3 AMG aus Perspektive der kompetenzwahrenden Funktion des Art. 103 Abs. 2 GG zu beurteilen ist. Die Norm ermöglicht es dem Rechtsverordnungsgeber mit Zustimmung des Bundesrates weitere Stoffe, deren Verwendung dann nach § 6 Abs. 2 AMG durch Rechtsverordnung reglementiert werden kann, in die Anlage des AMG aufzunehmen. Damit bedient sich der Gesetzgeber einer bereits aus dem BtMG bekannten und vom BVerfG als zulässig eingestuften Technik.178 § 1 Abs. 2 BtMG enthält zwecks abschließender Auflistung der dem Betäubungsmittelbegriff zuzuordnenden Stoffe eine vergleichbare Regelung. Vergleicht man diese Verweisungskonstruktion mit den zuvor verwendeten Rückverweisungsklauseln, ist festzustellen, dass sie auch aus Sicht der kompetenzwahrenden Funktion – im Vergleich zu Rückverweisungsklauseln – einen entscheidenden Vorteil haben. Der bei Rückverweisungsklauseln geschilderte Einwand, der Verordnungsgeber könne von der Möglichkeit des Erlasses einer Verhaltensnorm Gebrauch machen, gleichzeitig aber durch den Erlass oder Nicht-Erlass einer Rückverweisung entscheiden, ob das Verhalten strafbar sein soll, greift hier nicht. Denn durch die Formulierung des § 6 Abs. 2 AMG wird deutlich, dass eine Rechtsverordnung nur in Bezug auf Stoffe erlassen werden darf, die – zuvor oder zumindest gleichzeitig – in die Anlage zum AMG aufgenommen wurden. Damit ist ein Gleichlauf von der Schaffung der Verhaltensnorm einerseits und der Entscheidung über die Strafbarkeit im Falle des Verstoßes gegen die Verhaltensnorm andererseits sichergestellt. Somit weist diese Verweisungskonstruktion im Vergleich zu einfachen Verweisungen auf Rechtsverordnungen keine Besonderheit auf. Da die Auflistung gewisser – durch § 6 Abs. 1 – 3 AMG begrenzter – Stoffe durch den Verordnungsgeber bereits als zulässig eingestuft wurde, gilt dies auch für die Neufassung der §§ 95 Abs. 1 Nr. 2, 96 Nr. 2 i. V. m. § 6 Abs. 1 – 3 AMG.
II. Europarechtsakzessorische Blankettnormen 1. Die Bezugnahme auf EU-Verordnungen Wie in weiten Teilen des Nebenstrafrechts verbreitet, verweisen auch die Strafund Bußgeldnormen des AMG auf das EU-Recht. Der Verweis auf EU-Verordnungen ist Ausfluss der sich aus Art. 4 Abs. 3 i. V. m. Art. 288 Abs. 2 AEUV ergebenden Sanktionierungs- und Achtungspflicht der Rechtsnatur der EU-Verordnungen. Das Gemeinschaftsrecht erlangt damit nationalen Strafrechtsschutz. Dies ist nur mittels Verweisung einer nationalen Norm auf die EU-Verordnung möglich, da zum
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BVerfG NJW 1998, 669 ff.; a. A. Kaschkat, in: FS Krause (1990), S. 123 ff.
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Kap. 2: Die Blankettgesetzgebungstechnik des AMG
einen die Union selbst keine Strafrechtssetzungskompetenz hat179 und zum anderen eine Formulierung durch den nationalen Gesetzgeber in der Form, dass der Wortlaut der Verordnung im nationalen Recht ohne Verweisung auf die EU-Verordnung wiederholt wird, unzulässig ist.180 Denn der Gesetzgeber würde im Falle der Formulierung der Verhaltensnorm im nationalen Tatbestand in einem Bereich tätig werden, den der europäische Gesetzgeber bereits besetzt hat.181 Hierdurch bestünde die Gefahr einer Verschleierung des europäischen Ursprungs der Norm, so dass es zu einer unterschiedlichen Interpretation in den verschiedenen Mitgliedstaaten kommen könnte.182 Ähnlich wie bei Verweisungen auf Rechtsverordnungen stellt sich jedoch auch bei Verweisen auf EU-Verordnungen die Frage, ob dies mit der durch Art. 103 Abs. 2 GG vorgesehenen verfassungsrechtlichen Kompetenzzuweisung vereinbar ist. Zunächst ist festzustellen, dass EU-Verordnungen, genau wie nationale Rechtsverordnungen, in Deutschland unmittelbar gelten (Art. 288 Abs. 2 AEUV). Verweise auf nationale Rechtsverordnungen und EU-Verordnungen haben zudem gemein, dass die Blankettnorm damit durch Rechtsnormen ausgefüllt werden, die nicht von der Instanz stammen, die die Straf- oder Bußgeldnorm erlassen hat. Im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Kompetenzverteilung werden daher europarechtsakzessorische Blankettnormen teilweise unter den gleichen Voraussetzungen wie Verweisungen auf Rechtsverordnungen für unproblematisch betrachtet.183 Der nationale Gesetzgeber muss also selbst die wesentliche Grundentscheidung treffen und lediglich die Ausgestaltung des Inhalts in Form einer Spezifizierung delegieren. Das BVerfG hat bereits im Jahre 1970 hierzu ausgeführt: „Gemeinschaftsrecht und nationales Recht sind zwar verschiedene Rechtsordnungen. Die beiden Rechtsordnungen stehen jedoch nicht unverbunden nebeneinander, greifen vielmehr auf mannigfache Weise ineinander. Diese vielfältige Verschränkung von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht verbietet es, Verweisungen auf Gemeinschaftsrecht anders zu beurteilen als Verweisungen auf nationales Recht.“184 Soweit es um die Kompetenzwahrung geht, kann einer Übertragung der Maßstäbe der Verweisungen auf Rechtsverordnungen auf europarechtsakzessorische Blankette jedoch nicht zugestimmt werden. Denn wie sogleich aufgezeigt wird, bedarf es einer solchen Übertragung nicht, weil bei statischen Verweisen auf EU-Verordnungen 179
269 ff. 180
Ausführlich dazu Schützendübel, Die Bezugnahme auf EU-Verordnungen, S. 70 ff.,
BVerfG NJW 2016, 3648 (3651). Schuster, Strafnormen und Bezugsnormen, S. 326. 182 Cornelius, NStZ 2017, 682 (684). 183 BVerfG RIW/AWD 1979, 132 (133); BVerfG wistra 2010, 396 (402); NJW 2016, 3648 (3651); NVwZ-RR 2020, 569 (Rn. 81); Schützendübel, Die Bezugnahme auf EU-Verordnungen, S. 264; a. A. Cornelius, NStZ 2017, 682 (686 ff.); Hüfler, RIW/AWD 1979, 133 ff., der einwendet, dass der nationale Verordnungsgeber aufgrund einer Delegation tätig werde, während das Gemeinschaftsrecht aus einer autonomen Rechtsquelle mit Anwendungsvorrang gegenüber dem nationalen Recht stamme. Deshalb könne das Gemeinschaftsrecht nicht der Spezifizierung des nationalen Rechts dienen. 184 BVerfG NJW 1970, 2155 (2156). 181
E. Überprüfung der kompetenzwahrenden Funktion des Art. 103 Abs. 2 GG
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Kompetenzverschiebungen nicht entstehen185 und dynamische Verweisungen auf EU-Recht generell unzulässig sind. Handelt es sich um statische Verweisungen auf EU-Recht, werden die EU-Verordnungen nicht als blankettausfüllende Spezifizierung von der Union erlassen, sondern ex post vom nationalen Gesetzgeber als Ausfüllungsnorm bestimmt. Der Gesetzgeber hat damit den Wortlaut der EU-Verordnung in seinen Willen aufgenommen. Die Frage der materiellen Gewichtverteilung spielt hier also keine Rolle.186 Zu beachten ist jedoch auch hier, dass aus einer statischen Verweisung eine dynamische werden kann, wenn die statisch in Bezug genommene EU-Verordnung dynamisch auf eine andere EU-Verordnung weiterverweist.187 Bleibt es bei einer statischen Verweisung, ist bei jeder Änderung der Verordnung eine Änderung der Blankettnorm erforderlich. Wird die EU-Verordnung zu einem späteren Zeitpunkt inhaltlich abgeändert oder durch eine anders bezeichnete, aber inhaltsgleiche Verordnung ersetzt, geht die Verweisung ins Leere.188 Mit dieser Feststellung wird zugleich deutlich, dass die praktische Nützlichkeit einer statischen Verweisung auf EU-Verordnungen aufgrund der fehlenden automatischen Anpassung an die Veränderungen des Bezugsobjekts gering ist, da bei jeder Veränderung ein zeitaufwendiges Gesetzgebungsverfahren notwendig wird. Handelt es sich hingegen um eine dynamische Verweisung auf das EU-Recht, wird dieses Instrument von vielen zu Recht als unzulässig eingestuft, da es sich – anders als bei Verweisungen auf Rechtsverordnungen – um eine Verweisung auf Normen eines eigenständig legitimierten Gesetzgebers handelt, der dann über die Voraussetzungen der Strafbarkeit entscheidet.189 Durch eine Änderung der EUVerordnung würde letztlich der Union die Möglichkeit eröffnet werden, über den Inhalt der Blankettstrafnorm zu disponieren.190 Davon abweichende Stimmen in der 185
Vgl. BVerfG NJW 2016, 3648 (3650). Vgl. Schuster, Strafnormen und Bezugsnormen, S. 333 f.; LK-StGB/Dannecker/Schuhr, § 1 Rn. 157. 187 Krey, EWR 1981, 109 (130); Schuster, Strafnormen und Bezugsnormen, S. 333. 188 OLG Koblenz NStZ 1989, 188 ff.; OLG Stuttgart NJW 1990, 657 ff.; Satzger, Europäisierung, S. 270 ff.; Moll, Europäisches Strafrecht, S. 159 ff. 189 Vgl. LK-StGB/Dannecker/Schuhr, § 1 Rn. 159; Enderle, Blankettstrafgesetze, S. 199 f., 266; Hohmann, ZIS 2007, 38 (45); kritisch auch Satzger, Europäisierung, S. 263; mit Unterscheidung zwischen – zulässigen – normkonkretisierenden und – unzulässigen – norminterpretierenden Verordnungen: Krey, EWR 1981, 109 (144, 147 ff., 150, 156 ff., 166 ff., 181 ff.); Moll, Europäisches Strafrecht, S. 194 f.; a. A. Schützendübel, Die Bezugnahme auf EU-Verordnungen, S. 268; Cornelius, NStZ 2017, 682 ff., der mit genau diesem Argument und dem Verweis darauf, dass europäische Verordnungen eine höhere demokratische Eigenlegitimation hätten als Rechtsverordnungen, die Übertragung der Voraussetzungen der Verweisung auf Rechtsverordnungen auf europarechtsakzessorische Verweise ablehnt und einen eigenen „unionsrechtlich modifizierten Parlamentsvorbehalt“ entwickelt. Die Anforderungen an diesen seien dann tendenziell geringer als diejenigen an Verweise auf nationale Rechtsverordnungen, vgl. auch Cornelius, Verweisungsbedingte Akzessorietät, S. 398 f. 190 LK-StGB/Dannecker/Schuhr, § 1 Rn. 146, 159. 186
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Kap. 2: Die Blankettgesetzgebungstechnik des AMG
Literatur sehen dieses Problem zwar auch, ziehen daraus jedoch nicht die Konsequenz der Unzulässigkeit solcher Verweise, sondern nehmen den Gesetzgeber in die Pflicht, im Nachhinein durchgehend zu prüfen, ob nach etwaigen Änderungen der Ausfüllungsvorschrift der Gesamttatbestand weiterhin dem Art. 103 Abs. 2 GG genügt oder Nachbesserungsbedarf entsteht.191 Offen bleibt bei diesem Lösungsvorschlag jedoch, und das ist zugleich das Hauptargument gegen diese Ansicht, wie dies praktisch umgesetzt werden kann und vor allem, wie und wer einen solchen „Überprüfungsmodus“ überprüfen kann. Analysiert man die Rechtsprechung zu diesem Problemkreis, kann kein einheitliches Bild gezeichnet werden.192 Das OLG Koblenz ging im Jahre 1989 von der Unzulässigkeit dynamischer Verweisungen von Strafvorschriften auf das EU-Recht aus. In einem obiter dictum begründete es dies damit, dass – anders als bei Verweisungen auf nationale Rechtsverordnungen – bei dynamischen Verweisungen auf das EU-Recht ein eigenständig legitimierter Gesetzgeber in Bezug genommen werde.193 Bedenken hat bei einer vergleichbaren dynamischen Verweisung auch das BVerfG geäußert. Zwar ging es bei dieser Entscheidung weder um eine Strafvorschrift noch um einen Verweis auf das EU-Recht. Das Gericht hatte vielmehr über die Verfassungsmäßigkeit einer Norm aus der Kostenordnung zu entscheiden, die dynamisch auf eine landesrechtliche Regelung verwies.194 Dennoch können aus dieser Entscheidung interessante Aspekte für die Frage der Bestimmtheit von Blankettnormen gezogen werden, die dynamisch auf das EU-Recht verweisen. Denn zum einen handelt es sich auch hierbei um einen Verweis auf einen eigenständig legitimierten Gesetzgeber und zum anderen müssen die dort getroffenen Aussagen zur bundesstaatlichen Kompetenzzuordnung erst recht bei strafrechtlichen Normen gelten. Das Gericht äußerte in dieser Entscheidung Bedenken gegen dynamische Verweisungen, zog daraus aber nicht etwa die Konsequenz, die Norm deshalb für verfassungswidrig zu erklären, sondern legte die Verweisung auf förmliches Landesrecht als statisch aus.195 Der Entscheidung ist damit jedoch zu entnehmen, dass das BVerfG zumindest in diesem Fall einen dynamischen Verweis auf einen eigenständig legitimierten Gesetzgeber für problematisch hält.196 Andernfalls hätte das BVerfG eine solche geltungserhaltende Reduktion nicht vorgenommen. Da sowohl bei einem dynamischen Verweis auf förmliches Landesrecht als auch bei einem dynamischen Verweis auf EU-Verordnungen ein eigenständig legitimierter Gesetzgeber in Bezug genommen wird, kann also insoweit nichts anderes gelten. Diesen Zusammenhang erkannte auch das BVerfG und verwies in einer jüngeren Entscheidung – bei der es am Rande um die Zulässigkeit von dynamischen Verweisen 191 192 193 194 195 196
Schuster, Strafnormen und Bezugsnormen, S. 334. Zur aktuellen Rechtsprechung des BVerfG siehe Kapitel 2 G. OLG Koblenz NStZ 1989, 188 (189). BVerfG NJW 1978, 1475 ff. BVerfG NJW 1978, 1475 (1477). Anders aber BVerfG NJW 1968, 1083 ff.
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auf EU-Recht ging – auf die zuvor genannte Entscheidung.197 Es teilte die Bedenken und führte aus, dass bei „fehlender Identität der Gesetzgeber“ dynamische Verweise zu einer Verlagerung der Gesetzgebungsbefugnissen führen könnten. Diese seien daher unter bundesstaatlichen, rechtsstaatlichen und demokratischen Gesichtspunkten bedenklich.198 Anders als bei der Entscheidung aus dem Jahre 1978 zog das BVerfG hier jedoch nur die Konsequenz, aufgrund der verfassungsrechtlichen Bedenken einen besonders strengen Prüfungsmaßstab im Einzelfall anzuwenden. Geschehe dies, sei ein dynamischer Verweis bei fehlender Identität der Gesetzgeber „nicht schlechthin ausgeschlossen“.199 Im Ergebnis – so das Gericht – seien die Verweisungen in § 8 Abs. 1 und 12 Abs. 2 des Marktorganisationsgesetzes (MOG) a. F. „verfassungsrechtlich noch hinzunehmen“.200 Gleich mehrere in diesem Zusammenhang relevante Entscheidungen, die sich zudem noch auf das Arzneimittelgesetz beziehen, hat der BGH getroffen.201 Sämtliche Entscheidungen haben die Verweisung in § 95 Abs. 1 Nr. 2a i. V. m. § 6a Abs. 1 und 2 AMG a. F. auf eine außergesetzliche Norm (Anhang des Übereinkommens gegen Doping) zum Gegenstand.202 In der ersten in diesem Zusammenhang ergangenen Entscheidung aus dem Jahr 2013 hielt der BGH diese Verweisung für vereinbar mit Art. 103 Abs. 2 GG.203 Er ließ dabei jedoch offen, ob es sich um eine dynamische oder statische Verweisung handelt.204 Gleichzeitig ließ er ausdrücklich offen, ob dynamische Verweise generell zulässig sind. Die Besonderheit des vom BGH zu entscheidenden Falls bestand darin, dass der nationale Gesetzgeber die auf das Übereinkommen verweisende Norm (§ 6a Abs. 2 AMG a. F.) nach der Änderung des Übereinkommens ebenfalls geändert hat. Der BGH argumentierte deshalb, dass der Gesetzgeber mit der Änderung der Verweisungsnorm den geänderten Inhalt des Übereinkommens in seinen Willen aufgenommen habe.205 Der Entscheidung ist zu entnehmen, dass der BGH mit dynamischen Verweisungen auf außergesetzliche Normen erhebliche Probleme hat, da ansonsten eine solche – auf den konkreten Einzelfall bezogene, nicht verallgemeinerungswürdige – Begründung nicht erforderlich wäre. Die Begründung, mit der der BGH den Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG abwendet, ist jedoch nicht tragbar. Selbst wenn sich mit ihr der sich aus Art. 103 197
BVerfG wistra 2010, 396 (400). BVerfG wistra 2010, 396 (400). 199 BVerfG wistra 2010, 396 (400). 200 BVerfG wistra 2010, 396 (400). 201 BGH PharmR 2014, 114; NStZ-RR 2019, 86; PharmR 2019, 393; PharmR 2020, 152. 202 § 95 Abs. 1 Nr. 2a AMG wurde mit Wirkung zum 18. 12. 2015 aufgehoben. Das AntiDopG trat am selben Tag in Kraft. 203 BGH PharmR 2014, 114. 204 Der Wortlaut des § 6a Abs. 2 AMG wurde zum 26. 10. 2012 geändert (BGBl. I S. 2192), sodass in der darauffolgenden Fassung der inzwischen aufgehobenen Norm eindeutig von einer dynamischen Verweisung auszugehen war. 205 Mit vergleichbarer Argumentation BVerfG NJW 1992, 107 (107); NJW 1997, 1910 (1911). 198
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Kap. 2: Die Blankettgesetzgebungstechnik des AMG
Abs. 2 GG ergebene Gesetzesvorbehalt „retten“ ließe,206 so muss zumindest im Hinblick auf die Tatsache, dass es nicht einmal dem BGH gelingt, zu erkennen, ob es sich um eine statische oder dynamische Verweisung handelt, ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 in Bezug auf die verhaltensleitende Funktion festgestellt werden. Denn der Normadressaten kann nur dann erkennen, welches Verhalten strafbar ist, wenn die Ausfüllungsnorm erkennbar ist. Das ist aber nicht der Fall, wenn nicht ersichtlich ist, ob es sich um eine statische oder eine dynamische Verweisung handelt und damit nicht klar ist, welche Fassung in Bezug genommen wird. Die in der Literatur und Rechtsprechung zum Teil für zulässig gehaltene Möglichkeit, in einem solchen Fall über eine verfassungskonforme Auslegung von einer – zulässigen – statischen Verweisung auszugehen,207 ist äußerst bedenklich.208 Sie würde im Ergebnis dazu führen, dass die vom Gesetzgeber zu verantwortende Unklarheit mithilfe einer geltungserhaltenden Reduktion noch belohnt werden würde.209 In der zweiten Entscheidung zu § 95 Abs. 1 Nr. 2a AMG a. F. teilte der BGH diese Bedenken und stellte fest, dass er an der bis zum 17. 11. 2015 gültigen Fassung „erhebliche Zweifel an der Verfassungskonformität dieses Tatbestandes“ habe.210 Er begründet dies – für die bis zum 26. 10. 2012 gültigen Fassung – mit der soeben dargestellten Problematik, dass unklar bleibe, ob es sich um eine statische oder dynamische Verweisung handelt. Der BGH betonte jedoch auch, dass – für den Fall, dass der Angeklagte die Tat nach dem 26. 10. 2012 und damit nach dem Inkrafttreten der Gesetzesänderung vom 19. 10. 2012,211 durch die klargestellt wurde, dass es sich um eine dynamische Verweisung handelt, begangen habe – die Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit gleichwohl fortbestünden. Dies begründete er mit einem kurzen Hinweis auf die „nach der Rechtsprechung des BVerfG bei dynamischen Verweisungen in Strafgesetzen zu wahrende Rechtssetzungshoheit des Gesetzgebers“.212 Dennoch legte der BGH das Verfahren nicht dem BVerfG vor. Er umging dies, indem der Senat die Strafverfolgung mit Zustimmung des GBA gemäß § 154a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 StPO auf einen anderen Tatvorwurf beschränkte. Vor diesem Hintergrund ist es sehr verwunderlich, dass derselbe Senat des BGH in einer weiteren Entscheidung vom 27. 11. 2019 zu § 95 Abs. 1 Nr. 2a AMG – in eben dieser durch die Gesetzesänderung vom 19. 10. 2012 geänderten Fassung – das 206 Die Argumentation des BGH zu Ende gedacht müsste die Strafnorm dann aber zumindest in dem Zeitraum zwischen der Änderung des Übereinkommens und der Änderung der auf das Übereikommen verweisenden Norm verfassungswidrig gewesen sein. 207 BVerfG NJW 1978, 1475 (1477); VG Hamburg NJW 1979, 667 (669); Arndt, JuS 1979, 784 (789); Ernst, Blankettstrafgesetze, S. 128 f.; Bülte, JuS 2015, 769 (772). 208 Siehe Kapitel 2 F. I. Die Auslegungsbedürftigkeit führt zur Unwirksamkeit. 209 Kritisch insoweit auch Bode/Seiterle, ZiS 2016, 91 (96). 210 BGH NStZ-RR 2019, 86 (87). 211 Zweites Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften (BGBl. 2012 I S. 2192, 2194). 212 BGH NStZ-RR 2019, 86 (87).
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Verfahren ebenfalls nicht dem BVerfG vorlegt.213 Er revidiert hier seine Meinung und führt aus, er sei „trotz der geäußerten Bedenken“ nicht von der Verfassungswidrigkeit überzeugt. Die die dynamische Verweisung betreffende Bedenken seien „nicht von solchem Gewicht“, dass sie zur Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit der Vorschrift führen würden.214 Er begründet dies in erster Linie mit der bereits bekannten Argumentation, dass die Neufassung des im konkreten Fall relevanten Anhangs des Übereinkommens gegen Doping bereits am 10. 02. 2012 (neun Tage vor der Verkündigung des Zweiten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften) veröffentlicht worden und damit im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens bekannt gewesen sei. Damit stehe fest, dass der Gesetzgeber jedenfalls den zum damaligen Zeitpunkt geltenden Anhang als Konkretisierung der Verbots- und Strafnorm legitimiert habe.215 Die hier aufgezeigte Rechtsprechung zu § 95 Abs. 1 Nr. 2a AMG a. F. verdeutlicht erstaunlich prägnant, wie diese versucht, Blankettnormen nicht am Bestimmtheitsgebot scheitern zu lassen. Neben der insoweit fast schon bemerkenswerten Kreativität, mit der eben dies abgewendet wird, verdeutlich sie gleichzeitig aber auch die erheblichen Probleme, die dynamische Verweisungen auf außergesetzliche Normen mit sich bringen. Der Entscheidung vom 27. 11. 2019 können insoweit dieselben Argumente entgegengebracht werden, wie der ersten Entscheidung in diesem Zusammenhang aus dem Jahr 2013. Die Verfassungsgemäßheit wird mit auf den konkreten Einzelfall bezogenen, nicht verallgemeinerungswürdigen Argumenten begründet. Im Ergebnis ist der Ansicht des OLG Koblenz zu folgen. Dynamische Verweise auf EU-Verordnungen sind mit Art. 103 Abs. 2 GG aus Sicht der kompetenzwahrenden Funktion nicht vereinbar. Entscheidend ist hierbei, dass – anders als bei Verweisungen auf Rechtsverordnungen – ein eigenständig legitimierter Gesetzgeber in Bezug genommen wird. Der Unterschied zwischen dynamischen Verweisungen auf Rechtsverordnungen einerseits und EU-Verordnungen andererseits besteht zudem darin, dass der Inhalt der Rechtsverordnung zusätzlich durch das den Maßstäben des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG entsprechende Ermächtigungsgesetz begrenzt wird. Ein solcher – den Inhalt der Bezugsnorm begrenzender – Delegationsmechanismus existiert für EU-Verordnungen nicht. Soweit die Rechtsprechung versucht diese Problematik zu umgehen, indem die Verweisung als statisch ausgelegt wird, ist dies wiederum mit der verhaltensleitenden Funktion des Art. 103 Abs. 2 GG nicht vereinbar. Fraglich ist, inwieweit sich diese Erkenntnis auf die europarechtsakzessorischen Blankettnormen des AMG auswirkt. Wie bereits festgestellt, existieren im AMG keine ausdrücklichen dynamischen Verweisungen auf EU-Verordnungen. Anders als 213 214
393. 215
BGH PharmR 2020, 152. BGH PharmR 2020, 152 (154); in diese Richtung kurz zuvor auch BGH PharmR 2019, BGH PharmR 2020, 152 (155).
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Kap. 2: Die Blankettgesetzgebungstechnik des AMG
von Schützendübel beschrieben,216 werden jedoch im Nebenstrafrecht und auch im AMG neben dem sog. „Anpassungsmodell“217 auch andere (verdeckte) dynamische Verweise auf das EU-Recht verwendet. Die Strafvorschrift des § 96 Nr. 6 AMG nimmt § 23 Abs. 1 AMG in Bezug. Dieser verweist in Abs. 1 S. 1 Nr. 2 ausdrücklich dynamisch auf die VO (EG) Nr. 470/2009, indem er auf die „jeweils geltende Fassung“ Bezug nimmt. Es wird also auf der zweiten Verweisungsstufe dynamisch auf EU-Recht verwiesen. Dieselbe Verweisungstechnik wird auch in § 97 Abs. 2 Nr. 7 lit. c AMG verwendet, der auf § 69a AMG verweist. Dieser wiederum nimmt die Tabelle 2 des Anhangs der VO (EU) Nr. 37/2010 der Kommission vom 22. Dezember 2009 über pharmakologisch wirksame Stoffe und ihre Einstufung hinsichtlich der Rückstandshöchstmengen in Lebensmitteln tierischen Ursprungs dynamisch in Bezug. Gleiches gilt für § 97 Abs. 2 Nr. 25 und 26 AMG, die ebenfalls auf § 69a AMG verweisen. Zudem verweist § 97 Abs. 2a AMG auf § 63h Abs. 7 S. 2 AMG, der die VO (EG) Nr. 540/95 dynamisch in Bezug nimmt.218 Letztlich ebenfalls als (konkludente) dynamische Verweisung auf eine EU-Verordnung zu bewerten sind § 96 Nr. 18a i. V. m. § 59d S. 1 Nr. 2 sowie § 97 Abs. 2b Nr. 1 – 4 AMG. Anders als bei anderen Verweisungen auf EU-Verordnungen wird hier nur die Dokumentennummer, nicht aber die Fundstelle im Amtsblatt und die Fassung der Verordnung genannt. Auch wenn der Gesetzgeber damit die ursprüngliche Fassung der Verordnung in Bezug nehmen wollte, wird dies durch die gewählte Formulierung nicht ausreichend deutlich. Sagt der Gesetzeswortlaut nichts über die letztmalige Änderung und fehlt es zudem an der Benennung der Fundstelle im Amtsblatt, ist nicht ersichtlich, ob mit der Verweisung auf die aktuelle Fassung Bezug genommen werden soll, es schlicht noch keine Änderung der Verordnung gab oder aber explizit auf die ursprüngliche Fassung verwiesen werden soll. Nach dem Wortlaut muss damit ebenfalls von einer dynamischen Verweisung ausgegangen werden, denn diesem lässt sich eine Begrenzung auf eine bestimmte Fassung nicht entnehmen. Noch schwieriger zu erkennen sind dynamische Verweise auf EU-Recht, wenn sie erst auf der Ebene der von der Straf- oder Bußgeldnorm in Bezug genommenen Rechtsverordnung erfolgen. So verweist die im Rahmen des § 95 Abs. 1 Nr. 2 und § 96 Nr. 2 i. V. m. § 6 AMG relevante Arzneimittelfarbstoffverordnung in § 1 Abs. 1 ebenfalls dynamisch auf das EU-Recht.219
216
Schützendübel, Die Bezugnahme auf EU-Verordnungen, S. 268. Vgl. dazu BVerfG NJW 2016, 3648 ff. 218 Diese Konstruktion ist besonders bedenklich, da die Blankettnorm statisch auf die Verordnung (EG) Nr. 540/95 verweist, dann aber über § 63h Abs. 7 S. 2 AMG genau diese Verordnung dynamisch in Bezug genommen wird. 219 Hier besteht jedoch die Besonderheit, dass der Gesetzgeber diese Verweisungskonstruktion durch das Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung in seinen Willen aufgenommen hat, sodass ab Inkrafttreten der entsprechenden Gesetzesänderung ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG nicht mehr vorliegt. 217
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Sämtliche soeben genannten verdeckten bzw. konkludenten dynamischen Verweisungen sind mit Art. 103 Abs. 2 GG aus Sicht der kompetenzwahrenden Funktion nicht vereinbar. Die Kompetenzfrage stellt sich bei verdeckten dynamischen Verweisen in gleicher Weise wie bei „normalen“ bzw. ausdrücklichen dynamischen Verweisungen.220 Es kann keinen Unterschied machen, ob der Gesetzgeber eine aus Sicht der kompetenzwahrenden Funktion mit Art. 103 Abs. 2 GG nicht zu vereinbarende Verweisung in der Blankettnorm unmittelbar vornimmt oder aber auf eine verwaltungsrechtliche Norm verweist, die dann eine solche Verweisung vornimmt. Ansonsten bestünde die Gefahr, dass der Gesetzgeber durch Weiterverweisungskonstruktionen seine Kompetenzen abgibt und die Voraussetzungen des Art. 103 Abs. 2 GG umgeht. Als Beispiel dafür, dass diese Gefahr tatsächlich besteht, kann auf § 95 Abs. 1 Nr. 11 AMG verwiesen werden. Während dieser in der bis zum 31. 05. 2011 gültigen Fassung noch direkt auf eine EU-Verordnung verwies, wurde im Rahmen des Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes vom 25. 11. 2011221 der Verweis auf die EU-Verordnung ein Stufe nach hinten „verschoben“, indem § 59d AMG eingefügt wurde, der nunmehr auf die EU-Verordnung verweist und von § 95 Abs. 1 Nr. 11 AMG in Bezug genommen wird. Die Notwendigkeit der Gleichbehandlung dieser beiden Fallgruppen – der verdeckten mit der direkten dynamischen Verweisung – verdeutlicht auch folgende Überlegung. In gewissen Konstellationen nimmt der Gesetzgeber die dritte Verweisungsstufe bereits in der Blankettnorm mit in Bezug. So verweist § 95 Abs. 1 Nr. 6 auf § 48 Abs. 1 S. 1 „in Verbindung mit einer Rechtsverordnung nach § 48 Abs. 2 Nr. 1“. § 96 Nr. 20 AMG verweist nicht nur auf die VO (EG) Nr. 726/2004, sondern nimmt zugleich ausdrücklich die EU-Richtlinie mit in Bezug, auf die die genannte EU-Verordnung (auf dritter Verweisungsstufe) weiterverweist. Allein aus der Tatsache, dass der Gesetzgeber in der Blankettnorm die dritte Verweisungsstufe mitzitiert bzw. dies unterlässt kann jedoch keine unterschiedliche rechtliche Bewertung der Kompetenzproblematik folgen. Die Weiterverweisungstechnik stellt damit nicht nur aus Sicht der Erkennbarkeit für den Bürger, sondern ebenso aus Sicht der Kompetenzwahrung ein erhebliches Problem dar, da der parlamentarische Gesetzgeber nicht erkennen kann, was letztlich bei der von ihm „in Gang gesetzten“ Verweisungskette „herauskommt“. Aus der Perspektive der kompetenzwahrenden Funktion sind damit sämtliche verdeckten Verweisungen wie direkte Verweisungen zu behandeln. Da dynamische Verweisungen auf EU-Verordnungen unzulässig sind, sind damit auch „verdeckte“ dynamische Verweisungen unzulässig. Verweist eine Rechtsverordnung dynamisch auf das EU-Recht, gilt dies schon deshalb, weil damit der durch Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG festgelegt Delegationsmechanismus ausgehebelt wird.222 220
Marburger, Regeln der Technik, S. 388 f.; Moll, Europäisches Strafrecht, S. 45; vgl. auch Krey, EWR 1981, 109 (130); Schuster, Strafnormen und Bezugsnormen, S. 333. 221 BGBl. I S. 946. 222 Siehe § 1 Abs. 1 Arzneimittelfarbstoffverordnung, der von § 95 Abs. 1 Nr. 2 und § 96 Nr. 2 AMG über § 6 AMG in Bezug genommen wird.
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Kap. 2: Die Blankettgesetzgebungstechnik des AMG
2. Die Bezugnahme auf EU-Richtlinien Im Nebenstrafrecht selten anzutreffen sind Verweise auf EU-Richtlinien. Solche Verweisungen sind aufgrund der Tatsache, dass Richtlinien anders als EU-Verordnungen in den Mitgliedstaaten nicht unmittelbar gelten, sondern der Umsetzung bedürfen (Art. 288 Abs. 3 AEUV) und nicht an den Bürger gerichtet sind, unzulässig.223 Zulässig ist es nach Ansicht des BGH jedoch, wenn ein Straftatbestand lediglich zur Konkretisierung eines Begriffs auf eine europäische Richtlinie verweist.224 In diesem Fall liege lediglich ein offenes, der Wertung durch den Richter zugängliches normatives Tatbestandmerkmal vor.225 Im AMG existieren jedoch verdeckte und mittelbare Verweise auf EU-Richtlinien, die nicht lediglich der Konkretisierung eines Begriffs dienen. So nehmen §§ 96 Nr. 20 und 97 Abs. 2b Nr. 1 und 2 AMG verschiedene EU-Richtlinien in Bezug.226 Zwar erfolgt dies nur mittelbar; primär wird auf eine EU-Verordnung verwiesen. Dieser lässt sich das strafbewehrte Verhalten jedoch nicht vollständig entnehmen, da die EU-Verordnung selbst zwecks Konkretisierung des verbotenen Verhaltens auf eine EU-Richtlinie weiterverweist. Der deutsche Gesetzgeber hat nunmehr die Normen der Richtlinie, die er unter Strafe stellen will, in der Blankettnorm zitiert und begrenzt damit den Tatbestand der EU-Verordnung. Anders als bei direkten Verweisungen auf EURichtlinien ließe sich zwar argumentieren, dass sich die Lage bei einem hier vorliegenden mittelbaren Verweis anders darstellt, da durch den Verweis einer EUVerordnung auf eine EU-Richtlinie der in Bezug genommene Inhalt der EURichtlinie nunmehr über Art. 288 Abs. 2 AEUV unmittelbar in Deutschland gelte. Die Vermischung der Handlungsformen „Verordnung“ und „Richtlinie“ wird jedoch zu Recht als „Systembruch“ bezeichnet, aus der eine solche Konsequenz gerade nicht abgeleitet werden kann.227 Da es bis zur Umsetzung der Richtlinie durch den deutschen Gesetzgeber an einer aktiven gesetzgeberischen Handlung hinsichtlich des in der Richtlinie beschriebenen Inhalts fehlt, genügen § 96 Nr. 20 AMG und § 97 Abs. 2b Nr. 1 und 2 AMG nicht den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG.228 Dies gilt erst recht, wenn die Richtlinie nicht statisch, sondern dynamisch in Bezug genommen wird, was in § 95 Abs. 1 Nr. 2 und § 96 Nr. 2 über § 6 AMG und § 2 sowie § 1 Abs. 1 der Arzneimittelfarbstoffverordnung der Fall ist. In § 96 Nr. 20 AMG gibt der Gesetzgeber die Dokumentennummer, den Titel der Richtlinie, die 223
Graf/Jäger/Wittig/Sackreuther, LFGB Vor §§ 58 – 61 Rn. 23; Spickhoff-MedR/Knauer, AMG § 95 Rn. 10; Rehmann, AMG Vorb. § 95 Rn. 4; Schröder, Europäische Richtlinien, S. 20 f.; Satzger, Europäisierung, S. 213; Ernst, Blankettstrafgesetze, S. 205 f. 224 BGH NZWiSt 2014, 177 ff. 225 Cornelius, NZWiSt 2014, 173 (177). 226 Gleiches gilt für die noch nicht in Kraft getretene Regelung des § 96 Nr. 21 AMG, siehe Gesetz vom 20. 12. 2016 (BGBl. I S. 3048). 227 Kloesel/Cyran, § 2 Anm. 9; Gröning, WRP 2005, 709 (710); Doepner, ZLR 2005, 679 (680). 228 Vgl. Rehmann, AMG Vorb. zu § 95 Rn. 4; kritisch auch Deutsch/Lippert/Tag, § 95 Rn. 5.
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Fundstelle im Amtsblatt und den in Bezug genommenen Stand der Richtlinie durch Angabe der letzten Änderung an. Es wird damit klar, auf welche Fassung der Richtlinie verwiesen wird. Genau wie bei der Benennung der EU-Verordnungen weicht der Gesetzgeber jedoch von dieser Art der Zitierung ab. In § 97 Abs. 2b Nr. 1 und 2 AMG wird lediglich die Dokumentennummer ohne jeden weiteren Zusatz angegeben. Damit wird im AMG dieselbe Richtlinie (Richtlinie 2001/83/EG) in unterschiedlicher Weise zitiert. Dies kann nur den Schluss zulassen, dass der Gesetzgeber damit – ob bewusst oder unbewusst – die Richtlinie, soweit lediglich auf die Dokumentennummer verwiesen wird, dynamisch in Bezug nimmt, was nach den oben ausgeführten Darstellungen unzulässig ist. Dafür spricht auch, dass im Rahmen des § 97 Abs. 2b Nr. 1 AMG auf einen Artikel der Richtlinie 2001/83/EG verwiesen wird („Art. 8 Abs. 3 Unterabsatz 1 Buchstabe iaa“), der erst in der aktuellen Fassung der Richtlinie eingefügt wurde, ohne auf diese neuere Fassung hinzuweisen. Verdeckte Verweise auf Richtlinien befinden sich zudem in § 96 Nr. 16 i. V. m. § 57 Abs. 1a AMG229 und § 97 Abs. 2 Nr. 24j i. V. m. § 63d Abs. 3 S. 4 AMG. Auch bei diesen Verweisungen ist mangels Bezugs auf eine konkrete Fassung von einer dynamischen Verweisung auszugehen. Sämtliche dynamische Verweisungen sind mit Art. 103 Abs. 2 GG aus Sicht der kompetenzwahrenden Funktion nicht vereinbar.
III. Die Bezugnahme auf vollziehbare Anordnungen (Verwaltungsakte) Verweisen Blankettnormen auf Verwaltungsakte, so gelten nach der herrschenden Meinung die gleichen Grundsätze wie bei Verweisungen auf Rechtsverordnungen. Dem kann unter Berücksichtigung der bei Verweisungen auf Rechtsverordnungen dargestellten Probleme zugestimmt werden. Zu beachten ist hierbei jedoch, dass es anders als bei Rechtsverordnungen nicht generell-abstrakte Rechtssätze, sondern einzelfallbezogene Entscheidungen der Verwaltung in den Tatbestand mit einbezogen werden. Gerade hier kommt damit der abstrakt gefassten Beschreibung des verbotenen Verhaltens im Parlamentsgesetz eine entscheidende Bedeutung zu.
IV. Zwischenergebnis Die bisherigen Ausführungen haben verdeutlicht, dass die Verweisungen der Straf- und Bußgeldvorschriften des AMG auf Rechtsverordnungen grundsätzlich mit Art. 103 Abs. 2 GG aus Sicht der kompetenzwahrenden Funktion zu vereinbaren sind. Zwar ist der vom BVerfG gewählte Maßstab („Spezifizierung“) zum einen sehr unkonkret und zum anderen in der durch die Rechtsprechung praktizierten Form 229 Siehe § 57 Abs. 1a S. 2 AMG, wobei § 96 Nr. 16 AMG nur auf § 57 Abs. 1a S. 1 AMG verweist, § 57 Abs. 1a S. 2 AMG die Anwendung des S. 1 jedoch ausschließt und damit § 57 Abs. 1a S. 2 AMG auf der dritten Verweisungsstufe in Bezug genommen wird.
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problematisch, da er nicht über die Voraussetzungen hinausgeht, die Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG ohnehin an die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Rechtsverordnungen stellt. Da die im AMG in Bezug genommenen Rechtsverordnungen jedoch lediglich dazu dienen, die verwaltungsrechtlichen Normen auf gewisse Produkte zu erweitern bzw. gewisse klar umgrenzte, gesetzlich im AMG bereits geregelte Verhaltensnormen zu konkretisieren, also lediglich Detailregelungen enthalten, steht die Kompetenzregelung des Art. 103 Abs. 2 GG diesen Blankettnormen auch bei Anlegung strengerer Maßstäbe nicht entgegen. Anders sieht dies jedoch aus, wenn die Blankettnorm eine Rückverweisungsklausel enthält. Die Regelungen der §§ 95 Abs. 1 Nr. 2 und 96 Nr. 2 AMG a. F. und § 97 Abs. 2 Nr. 31 AMG sind mit der kompetenzwahrenden Funktion des Bestimmtheitsgrundsatzes nicht vereinbar. Gleiches gilt für dynamische Verweisungen auf EU-Verordnungen und (mittelbare) statische und dynamische Verweisungen auf EU-Richtlinien. Die Frage der Vereinbarkeit dieser Verweisungen mit Art. 103 Abs. 2 GG aus Sicht der kompetenzwahrenden Funktion wird von der herrschenden Meinung in der Literatur weitestgehend verneint und auch der Rechtsprechung sind Zweifel an der Zulässigkeit zu entnehmen. Bei der Suche nach derartigen verfassungswidrigen Verweisungen wird einem erneut die strukturelle Komplexität des AMG deutlich. Solche bereits mit dem Gesetzesvorbehalt nicht zu vereinbaren Instrumente – verdeckte und konkludente Verweisung sind insoweit nicht anders zu behandelt als offene Verweisungen – sind aufgrund der zahlreichen, verschachtelten Weiterverweisungen im AMG nur bei genauem Hinsehen zu entdecken, sodass – jedenfalls bei einer abstrakten, vom Einzelfall losgelösten – Darstellung dieser Problematik die Gefahr besteht, solche Konstellationen zu übersehen. Hier ist besondere Sorgfalt geboten, da ansonsten die Möglichkeit bestünde, dass der Gesetzgeber, indem er im Bereich der strukturellen Komplexität (verhaltensleitende Funktion) zumindest an die Grenze der Zulässigkeit geht, eindeutig unzulässige Kompetenzverlagerungen verschleiert.
F. Überprüfung der Straf- und Bußgeldvorschriften des AMG aus Sicht der verhaltensleitenden Funktion des Art. 103 Abs. 2 GG Während sich diese Arbeit bisher insbesondere mit der durch Art. 103 Abs. 2 GG vorgegebenen Kompetenzverteilung beschäftigt hat und hierfür notwendigerweise eine gewisse abstrakte Darstellungsweise erforderlich war, soll nun die Frage der Bestimmtheit der Straf- und Bußgeldvorschriften unter Berücksichtigung der Vorhersehbarkeit des straf- und bußgeldbewehrten Verhaltens anhand des von Art. 103 Abs. 2 GG vorgeschriebenen Maßstabes konkret überprüft werden. Hierfür müssen die Einflussfaktoren der Bestimmtheit konkreter gefasst werden. Zudem sollen – anders als es das BVerfG tut – Kriterien erarbeitet werden, die festlegen, wann ein Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz vorliegt und nicht, wann ein Verstoß
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gegen Art. 103 Abs. 2 GG ausscheidet. Anhand dieser Einflussfaktoren werden dann die Straf- und Bußgeldvorschriften des AMG auf ihre Bestimmtheit hin überprüft. Bevor solche Kriterien herausgearbeitet werden, muss als Vorarbeit jedoch zunächst festgelegt werden, welcher Maßstab bei der Frage der Vorhersehbarkeit des strafbaren Verhaltens relevant ist. Es gilt also abstrakt zu klären, welcher Grad an Bestimmtheit erforderlich ist und ab wann von einer zu unbestimmten Regelung ausgegangen werden muss. Hierfür sollen die durch die Rechtsprechung vorgenommenen, oben dargestellten Relativierungen des Bestimmtheitsgrundsatzes kritisch hinterfragt werden.
I. Prüfungsmaßstab Einigkeit besteht darüber, dass der Normunterworfene bzw. Normadressat dem Tatbestand, also der Blankettnorm samt Ausfüllungsnorm, entnehmen können muss, was verboten ist und welche Sanktion er bei einem Verstoß zu erwarten hat. Die herrschende Meinung geht hierbei von der Notwendigkeit der Vorhersehbarkeit staatlicher Sanktionen als ureigene Funktion des Bestimmtheitsgrundsatzes aus. Ob dies der Fall ist, ist aus Sicht des Bürgers zu beurteilen.230 Bei der Beurteilung dieser Vorhersehbarkeit werden notwendigerweise objektive Kriterien herangezogen, indem auf einen durchschnittlichen, schuldfähigen Normadressaten abgestellt wird. Das Abstellen auf die Sicht des Bürgers ist die notwendige Folge, wenn man sich vor Augen führt, dass der Sinn und Zweck des Bestimmtheitsgrundsatzes in einer verhaltensleitenden Funktion liegt. Auch die Rechtsprechung geht – zumindest abstrakt – von dieser Perspektive aus und betont regelmäßig, dass der Einzelne die Möglichkeit haben müsse, das durch die Strafnorm ausgesprochene Verbot eines bestimmten Verhaltens zu erkennen und die staatlichen Sanktionen im Fall der Übertretung vorherzusehen.231 Betrachtet man dann aber die von der Rechtsprechung vorgenommenen Relativierungen des Bestimmtheitsgebots, so zeigt sich eine Abweichung von dem aufgrund objektiver Kriterien zu ermittelnden Vorhersehbarkeitspostulat aus Sicht des Bürgers. Zunächst ist zu berücksichtigen, dass Relativierungen der Bestimmtheitskriterien generell sehr skeptisch betrachtet werden müssen. Denn nach der allgemeinen Grundrechtslehre handelt es sich bei Art. 103 Abs. 2 GG um ein Recht ohne verfassungsunmittelbare Schranke, weshalb eine Einschränkung nur dort zulässig ist, wo eine Kollision mit anderen Verfassungsnormen besteht und folglich nur ausnahmsweise Werte von Verfassungsrang, nicht jedoch Praktikabilitätserwägungen, die Anforderungen an den Bestimmtheitsgrundsatz, dessen Wesensgehalt nach Art. 19 Abs. 4 GG zudem bestehen bleiben muss, vermindern können.232 Durch die 230 BVerfG NJW 1986, 1671 (1672); 1987, 43 (44); NJW 1995, 1883 (1883); wistra 2010, 396 (402); Moll, Europäisches Strafrecht, S. 129; Satzger, Europäisierung, S. 241 (m. w. N.). 231 BVerfG NJW 1987, 3175 (3175); 1992, 890 (890); 2010, 754 (755); 2016, 3648 (3649). 232 Satzger, Europäisierung, S. 245.
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von der Rechtsprechung vorgenommen Relativierungen233 besteht die Gefahr, dass man sich zu sehr vom Maßstab der individuellen, aus Sicht des Bürgers zu beurteilenden Vorhersehbarkeit löst und damit die Anforderungen absenkt, indem man eben nicht auf die Perspektive des Normunterworfenen, sondern die des Normanwenders abstellt. Besonders deutlich wird dies, wenn man der Rechtsprechung folgt und das potentielle Fachwissen der Adressaten berücksichtigt.234 Das BVerfG geht so weit, dass es in gewissen Bereichen vom Normadressaten spezielle Fachkenntnisse erwartet. In Zweifelsfällen müsse sich der Normadressat sachkundig machen.235 An diesem Vorgehen wird zu Recht kritisiert, dass damit mithilfe des Strafrechts eine Informationspflicht geschaffen werde, deren Verletzung mit dem Verstoß gegen den Blanketttatbestand gleichgesetzt werde.236 Die Prüfung, ob es sich bei den jeweiligen Normen tatsächlich ausschließlich um ein sog. „Expertenstrafrecht“ handelt, ist den Entscheidungen des BVerfG regelmäßig gar nicht oder zumindest nicht in ausreichender Weise zu entnehmen. Beim Arzneimittelgesetz kann gerade nicht davon ausgegangen werden, dass sich die Strafnormen ausschließlich an Experten richten. Durch die Weite der Begriffe „Arzneimittel“ (als Arzneimittel wurden bis zum Urteil des EuGH vom 10. 07. 2014 auch Rauschmittel und Gifte eingeordnet)237, „Herstellen“ (vgl. § 4 Abs. 14 AMG), „Inverkehrbringen“ (vgl. § 4 Abs. 17 AMG) und „Handeltreiben“, sowie der Strafbarkeit des Verkaufs unter Privatpersonen und des Erwerbs und Bezugs von bestimmten Arzneimitteln, sind von weiten Teilen der Strafnormen gerade auch nicht sachkundige Personen betroffen. Auch der Straftatbestand des § 95 Abs. 1 Nr. 3a AMG, der das Fälschen von Arzneimitteln unter Strafe stellt, richtet sich wohl gerade oder zumindest auch an Personen, die kein Fachwissen aufweisen.238 Das fehlende Fachwissen stellt hier gerade einen Grund dar, solchen Personen das Herstellen von Arzneimitteln zu verbieten und eine Zuwiderhandlung strafrechtlich zu sanktionieren. Es handelt sich damit nicht ausschließlich um „Expertenstrafrecht“, weshalb eine pauschale Relativierung des Maßstabes mit dieser Argumentation bezogen auf das AMG schon deshalb unzulässig ist.239 Gegen die Möglichkeit, den Maßstab des Bestimmtheitsgrundsatzes aufgrund des Fachwissens des Adressaten zu relativieren sprechen auch weitere Argumente. Ein etwaiges Fachwissen kann gerade im Bereich von Blankettnormen, bei denen die Schwierigkeit in erster Linie nicht in dem Verständnis von Fachtermini, 233
Siehe Kapitel 2 D. BVerfG NJW 1978, 1423 (1423); NStZ-RR 2002, 22 (22); wistra 2010, 396 (402); NvwZ-RR 2020, 569 (Rn. 97); offen gelassen aber in BVerfG NJW 2016, 3648 (3652). 235 BVerfG NJW 1978, 1423 (1423 ff.); NJW 1987, 3175, (3176); 2000, 3417 (3417); NVwZ-RR 2020, 569 (Rn. 97). 236 MK-StGB/Schmitz, § 1 Rn. 65; LK-StGB/Dannecker/Schuhr, § 1 Rn. 211; a. A. Ernst, Blankettstrafgesetze, S. 97 f., der der Ansicht ist, dies sei hinzunehmen. 237 Siehe Kapitel 1. 238 Siehe hierzu auch Kapitel 2 G. IV. 239 Vgl. Schmitz, in: FS Schünemann (2014), S. 235 (247); Schützendübel, Die Bezugnahme auf EU Verordnungen, S. 261; Moll, Europäisches Strafrecht, S. 140; Satzger, Europäisierung, S. 243. 234
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sondern in der des systematischen Zusammenlesens steht, nicht weiterhelfen.240 Eine Ausrichtung der Bestimmtheitsanforderungen nach den jeweiligen Normadressaten würde zudem zu einer Benachteiligung von Mittätern und Teilnehmern führen, die ein solches Fachwissen nicht haben. Im Rahmen der Beurteilung der Bestimmtheit von Blankettnormen ist es daher nicht zulässig, auf das Fachwissen der Adressaten abzustellen.241 Darüber hinaus wird der Maßstab der subjektiven Vorhersehbarkeit aufgeweicht, indem die Rechtsprechung bei der Frage der Bestimmtheit von Blanketttatbeständen auf die von ihr bei „Vollstrafgesetzen“ entwickelten Maßstäbe verweist. Geht es um unbestimmte Rechtsbegriffe, ist nach der Rechtsprechung dem Bestimmtheitsgebot genüge getan, wenn der Inhalt der Strafnorm durch Auslegung festgestellt werden kann oder durch eine gleichbleibende Anwendung in der Rechtsprechung bestimmt worden ist.242 Auf diesen Maßstab verweist die Rechtsprechung regelmäßig auch bei der Überprüfung von Blankettnormen.243 Hierbei besteht die Gefahr, dass die Erkennbarkeit sich nicht nach Maßgabe des Verständnisses des Laien (Normadressaten), sondern nach der des Gerichts bemisst, das Verständnis des Normadressaten also mit dem des Normanwenders gleichgesetzt wird. Es geht danach primär nicht mehr um die Frage der Bestimmtheit, sondern die der Bestimmbarkeit. Soweit es um die Klarheit der Verweisung, die Struktur des Gesetzes geht, muss bereits dann von einer Unbestimmtheit ausgegangen werden, wenn diese auslegungsbedürftig ist.244 Die Frage der Zulässigkeit der Heilung einer unbestimmten Verweisungskonstruktion durch eine gleichbleibende, präzisierende Rechtsprechung stellt sich damit – anders als bei normativen Tatbestandsmerkmalen – schon nicht. Denn bereits die Notwendigkeit der Präzisierung – die Auslegungsbedürftigkeit – führt zur Unbestimmtheit der Verweisungskonstruktion.245 Denn anders als bei der Verwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen, bei denen es darum geht, mittels generalisierender Tatbestandsumschreibung komplexe Sachverhalte sprachlich zu vereinfachen, geht es bei der Verwendung von Blankettnormen, also der Verweisung auf andere Normen, um eine systematische Vereinfachung einer detaillierten Tatbestandumschreibung. Hat sich der Gesetzgeber für eine solche detaillierte Tatbestandsbeschreibung entschieden, so dürfen die in diesem Bereich durch die Verweisungen vorgenommenen „Vereinfachungen“ nicht zu einer Auslegungsbedürftigkeit führen. 240 Vgl. dazu Vorlagebeschluss des LG Berlin NZWiSt 2016, 112 (115); Ernst, Blankettstrafgesetze, S. 99. 241 A. A. Cornelius, Verweisungsbedingte Akzessorietät, S. 361. 242 BVerfG NJW 1974, 1860 (1862); 1987, 43 (44); NJW 2010, 3209 (3215 ff.); NVwZ 2012, 504 (505). 243 BVerfG NJW 1987, 3175 (3176); NJW 1989, 1663; NVwZ 2012, 504 ff. 244 Satzger, Europäisierung, S. 246. Wie bereits dargestellt – und zum Teil auch von der Rechtsprechung angedeutet – ist beispielsweise eine Verweisung, die nicht erkennen lässt, ob sie dynamisch oder statisch auf die Ausfüllungsnorm verweist, unbestimmt. Siehe Kapitel 2 E. II. 1. 245 Dies lässt sich – wie bereits dargestellt – mit guten Argumenten auch in Bezug auf normative Tatbestandsmerkmale vertreten.
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Dies gilt für Blankettnormen im Vergleich zu normativen Tatbestandsmerkmalen umso mehr, da sich der Gesetzgeber – anders als bei unbestimmten Rechtsbegriffen – gerade gegen eine generalisierende Tatbestandsumschreibung entschieden hat. Damit kann bei Blanketttatbeständen zumindest dann von einer Unbestimmtheit ausgegangen werden, wenn durch die Verwendung der Verweisungstechnik die Notwendigkeit einer Auslegung entsteht.246 In diesem Zusammenhang ist auch der Maßstab der bestmöglichen Präzision von besonderer Bedeutung. Unabhängig davon, ob man diesen Maßstab generell, also auch auf normative Tatbestandsmerkmale, anwendet,247 muss er bei der Frage der Bestimmtheit von Blankettnormen in jedem Fall gelten. Denn anders als bei der Verwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen bzw. normativen Tatbestandsmerkmalen besteht nicht die Notwendigkeit einer sprachlichen Abstraktion und der damit einhergehenden unpräziseren Regelung. Während bei unbestimmten Rechtsbegriffen eine gewisse offene Formulierung gewollt, sprachlich nicht vermeidbar und somit auch anerkannt ist, ist eine präzise – im Ergebnis nicht mehr auslegungsbedürftige – Verknüpfung von verschiedenen Normen möglich und auch notwendig. Die Verknüpfung von Normen dient nicht der Erfassung von sprachlich nicht exakt zu erfassenden Tathandlungen, sondern der Vereinfachung der Gesetzgebungstechnik und letztlich auch der Verständlichkeit für den Normadressaten. Das zu einem Mehr an Variabilität führende Mittel darf nur die Verknüpfung selbst sein, nicht jedoch die bei normativen Tatbeständen weitestgehend anerkannten Relativierungen der Bestimmtheit. Die auf der Ebene der sprachlichen Formulierung von Straftatbeständen für notwendig erachtete und deshalb anerkannte Auslegungsbedürftigkeit führt damit auf der Ebene der Bestimmtheit der Verknüpfung von Normen zur Verfassungswidrigkeit der Blankettnorm. Damit wird deutlich, dass die Methodik der Rechtsprechung – die inhaltsgleiche Übertragung der für unbestimmte Rechtsbegriffe entwickelten Bestimmtheitskriterien auf Blankettnormen – unzulässig ist. Mit der Erkenntnis, dass die Auslegungsbedürftigkeit zur Unbestimmtheit der Norm führt, wird auch klar, dass es, anders als von der Rechtsprechung praktiziert, gerade nicht ausreicht, dass der Normadressat das Risiko der Bestrafung erkennen kann. Eine solche Relativierung der Bestimmtheitskriterien lässt sich allenfalls bei der Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe rechtfertigen. Denn ist aus einer Strafnorm nur das Risiko der Bestrafung erkennbar, so bedeutet dies nichts anderes, als dass die Norm auslegungsbedürftig ist. Je unbestimmter die Norm wäre, desto breiter wäre zugleich das Risiko der Bestrafung. Eine Blankettnorm, die das Inverkehrbringen von bestimmten – in der Ausfüllungsnorm bezeichneten – Arzneimitteln sanktioniert, wäre auch im Falle einer völlig unklaren und unbestimmten Verweisungsstruktur bestimmt, da jeder, der ein Arzneimittel in den Verkehr bringt, sich des Risikos der Bestrafung bewusst wäre. 246 247
Tiedemann, in: FS Roxin (2001), S. 1401 (1405). So MK-StGB/Schmitz, § 1 Rn. 49 (m. w. N.).
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Neben den Kriterien der Auslegungsbedürftigkeit und der bestmöglichen Präzision muss zudem berücksichtigt werden, dass der verhaltensleitenden Funktion des Bestimmtheitsgrundsatzes nur Rechnung getragen werden kann, wenn dem Normadressat der beim Rechtsfindungsakt anfallende Aufwand zumutbar ist.248 Dies gilt erst recht, wenn man, wie von Sinn zutreffend beschrieben, die Kommunikation zwischen Gesetzgeber und Bürger als Kerngehalt des Gesetzlichkeitsprinzips begreift.249 Selbst eine im Ergebnis klar gefasste, nicht auslegungsbedürftige Verweisung kann dieser Funktion des Art. 103 Abs. 2 GG nicht gerecht werden, wenn die Verweisung derart komplex ist, dass der Rechtsfindungsakt unzumutbar ist.
II. Einflussfaktoren für die Frage der Voraussehbarkeit des sanktionierten Verhaltens Geht es um die Festlegung der für die Frage der Voraussehbarkeit entscheidenden Einflussfaktoren, so muss zunächst zwischen der Verweisungsbestimmtheit und der Tatbestandsbestimmtheit unterschieden werden. Während es bei der Verweisungsbestimmtheit um die Frage geht, ob es dem Normadressaten überhaupt möglich ist, sämtliche in Bezug genommenen Normen ausfindig zu machen, geht es bei der Prüfung der Tatbestandsbestimmtheit darum, ob man – die Kenntnis aller Ausfüllungsnormen vorausgesetzt – aus diesem Gesamtgefüge das strafbare Verhalten erkennen kann. Um die Frage der Verweisungsbestimmtheit zu klären, gilt es die Zugänglichkeit sowie die Auffindbarkeit des Ausfüllungsobjekts zu untersuchen. Probleme bei der Auffindbarkeit des Ausfüllungsobjekts können sich aufgrund der mangelhaften Bezeichnung oder aber aufgrund der komplizierten Verweisungsstruktur ergeben. Bei der Frage der Tatbestandsbestimmtheit muss die Formulierung des Blanketts insgesamt, mit sämtlichen Ausfüllungsnormen, sowie auch die Formulierung der Blankettnorm selbst analysiert werden. 1. Verweisungsbestimmtheit a) Zugänglichkeit der Ausfüllungsnorm(en) Um dem Bürger die Möglichkeit zu verschaffen, vom Norminhalt Kenntnis zu erlangen, muss jeder Bestandteil eines Blankettgefüges selbstverständlich ordnungsgemäß verkündet und damit in seinem vollen Wortlaut, in einem öffentlichen Verkündungsorgan, veröffentlicht werden.250 Für Verweise auf EU-Verordnungen hat das BVerfG entschieden, dass die Bestimmtheit nur dann gegeben ist, wenn die 248
Vgl. Satzger, Europäisierung, S. 246; Karpen, Gesetzgebungstechnik, S. 161; Ernst, Blankettstrafgesetze, S. 101, 116. 249 Sinn, in: FS Wolter (2013), S. 503 (505 ff.). 250 BVerwG NJW 1962, 506 (506 f.); 1978, 1475 (1476); BVerfG NJW 2016, 3648 (3650); Satzger, Europäisierung, S. 264.
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Ausfüllungsnorm im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht wurde und dieses ebenso zugänglich ist wie das Bundesgesetzblatt.251 Da dies nach heutigem Standard der Fall ist, ergeben sich hierbei im AMG keine Probleme. b) Auffindbarkeit der Ausfüllungsnorm(en) aufgrund der Bezeichnung Die Möglichkeit der Rechtsfindung ist erheblich erschwert, wenn aus der Lektüre der Blankettnorm nicht klar wird, welche Ausfüllungsnorm(en) in Bezug genommen werden.252 Betrachtet man die Straf- und Bußgeldnormen des AMG, wird deutlich, dass sich eine solche Unklarheit aus unterschiedlichen Gründen ergeben kann. Das Problem der Unklarheit des Ausfüllungsobjekts ist besonders dann zu beobachten, wenn auf Rechtsverordnungen oder EU-Verordnungen verwiesen wird. Unabhängig von diesen speziellen Blankettformen entsteht eine solche Unklarheit jedoch auch immer dann, wenn der Gesetzgeber im Falle der Änderungen der Ausfüllungsnorm die jeweilige Blankettnorm nicht anpasst, es also zu redaktionellen Fehlern kommt. Gerade hier zeigt sich die Schwäche der Blankettgesetzgebungstechnik. Die durch die Verknüpfung bezweckte Vereinfachung und Variabilität des Gesetzes führt dazu, dass bei späteren Gesetzesänderungen, insbesondere wenn nicht nur der Wortlaut, sondern auch der Ort der Regelung geändert wird, nicht nur die eine Komponente, sondern das gesamte Gefüge angepasst werden muss.253 Das Fehlerpotential ist an dieser Stelle – wie sogleich aufgezeigt wird – enorm hoch.254 aa) Redaktionelle Fehler Für den Bürger nicht erkennbar ist das sanktionierte Verhalten, wenn die Blankettnorm nicht mit der Ausfüllungsnorm übereinstimmt. Solche redaktionellen Fehler existieren auch in den Straf- und Bußgeldtatbeständen des AMG. So verweisen § 95 Abs. 1 Nr. 8 und § 97 Abs. 2 Nr. 21 AMG auf § 56a Abs. 1 S. 1 AMG, der wiederum auf § 39 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 AMG weiterverweist. Diese Norm existiert jedoch nicht.255 § 96 Nr. 15 AMG verweist auf § 56a Abs. 4 AMG, der lange Zeit auf § 56a Abs. 3 S. 1 Nr. 2 AMG weiterverwies. Auch dieser Verweis war über mehrere Jahre fehlerhaft und wurde erst durch das Vierte Gesetz zur Änderung arzneimit251
BVerfG RIW/AWD 1979, 132 (133). Siehe hierzu § 10 Abs. 1 RiFlEtikettG a. F., der über § 1 Abs. 1 RiFlEtikettG a. F. auf EU-Verordnungen verweist, ohne diese näher zu beschreiben. Dazu das BVerfG: „Die Verwendung dieser Gesetzgebungstechnik ist verfassungsrechtlich unbedenklich, sofern das Blankettstrafgesetz hinreichend klar erkennen lässt, worauf sich die Verweisung bezieht. Dazu gehört, dass die Blankettstrafnorm die Regelungen, die zu ihrer Ausfüllung in Betracht kommen und die dann durch sie bewehrt werden, sowie deren möglichen Inhalt und Gegenstand genügend deutlich bezeichnet und abgrenzt.“, BVerfG NJW 2016, 3648 (3650). 253 Vgl. OLG Koblenz NJW 1999, 3136 (3136 f.). 254 Vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 27. 09. 2018 – 2 Rb 5 Ss 625/18, juris. 255 Sie wurde m. W.v. 23. 07. 2009 durch Gesetz vom 17. 07. 2009 (BGBl. I S. 1990) aufgehoben. 252
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telrechtlicher und anderer Vorschriften vom 20. 12. 2016 korrigiert,256 indem nun zutreffen auf § 56a Abs. 3 S. 1 Nr. 4 lit. b AMG verwiesen wird.257 Derselbe Fehler wurde jedoch in § 96 Nr. 16, der ebenfalls fälschlicherweise auf § 56a Abs. 3 S. 1 Nr. 2 AMG und nicht auf § 56a Abs. 3 S. 1 Nr. 4 lit. b AMG verweist, nicht korrigiert. Diese fehlenden Kongruenzen zwischen der Blankett- und Ausfüllungsnorm führen nicht nur zur fehlenden Bestimmtheit der Normen,258 sondern zeigen losgelöst vom Einzelfall auch, dass auch der Gesetzgeber den kompliziert verschachtelten Verweisungen, insbesondere den Weiterverweisungen, teilweise selbst nicht mehr folgen kann.259 bb) Die Bezugnahme auf Rechtsverordnungen Das Problem der unklaren Bezeichnung der Ausfüllungsnorm ist zudem speziell den Verweisungen auf Rechtsverordnungen immanent. Aufgrund der Tatsache, dass solche Blankettnormen gerade den Zweck haben, durch die Exekutive variabel ausgefüllt zu werden, ist es dem Gesetzgeber, anders als bei Verweisungen auf EUVerordnungen, nicht möglich, die jeweilige Rechtsverordnung zu benennen.260 Für den Rechtsfindungsakt stellt dies unabhängig von der an anderer Stelle problematisierten Dynamik der Verweisung261 ein Hindernis dar. Denn für den Bürger als Normadressat entsteht so das Problem, dass er sich auf die Suche nach der aufgrund der Ermächtigungsnorm erlassenen Rechtsverordnung begeben muss. Gerade die Tatsache, dass zahlreiche oder aber auch gar keine Verordnungen erlassen werden können,262 wirkt sich auf den Rechtsfindungsakt negativ aus. Dieser Problematik war und ist sich auch der Gesetzgeber bewusst, wie er durch die Verwendung von
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BGBl. I S. 3048. Der aktuelle Wortlaut des § 56a Abs. 3 S. 1 Nr. 4 lit. b AMG entspricht dem Wortlaut des § 56a Abs. 3 S. 1 Nr. 2 AMG a. F. Die Änderung erfolgte bereits m. W.v. 01. 04. 2014 durch Gesetz vom 10. 10. 2013 (BGBl. I S. 3813), sodass der Verweis 2 Jahre und 9 Monate fehlerhaft war. 258 Eine Korrektur mithilfe der Auslegung ist unzulässig, siehe Kapitel 2 F. I.; LK-StGB/ Dannecker/Schuhr, § 1 Rn. 168; vgl. hierzu auch Cornelius, NZWiSt 2014, 173 (175); zu der Problematik des Umgangs mit Verweisungsfehlern: ders., Verweisungsbedingte Akzessorietät, S. 417 ff.; vgl. zudem BVerfG wistra 2004, 255; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 27. 09. 2018 – 2 Rb 5 Ss 625/18, juris; zur Frage einer Ahndungslücke betreffend Insiderhandel und Marktmanipulation allerdings BGH NStZ 2017, 234 und dazu BVerfG NJW 2018, 3091. 259 Als weiteres Beispiel sei hier erwähnt, dass der Bußgeldtatbestand des § 97 Abs. 2 Nr. 7 lit. a AMG in der seit dem 13. 08. 2013 gültigen Fassung auf § 67 Abs. 8 S. 1 AMG verweist, der jedoch erst mit Wirkung zum 01. 01. 2016 in Kraft getreten ist. 260 Wenn also gefordert wird „bei Verweisungen auf schwer auffindbare Normen die Fundstelle anzugeben“ (so Schnell, Verweisungsbedingte Normkomplexität, S. 132), wäre dies gleichbedeutend mit dem Ende von Rechtsverordnungsblankettnormen. 261 Siehe Kapitel 2 F. II. 1. c) bb). 262 Zum Beispiel § 96 Nr. 5 AMG, der auf § 60 Abs. 3 AMG verweist. Von dieser Ermächtigung wurde bislang kein Gebrauch gemacht. 257
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Rückverweisungsklauseln gezeigt hat.263 Neben den – bereits aufgezeigten – Problemen aus Sicht der kompetenzwahrenden Funktion, die dieses Instrumentarium mit sich bringt, muss an solchen Rückverweisungsklauseln jedoch auch kritisiert werden, dass hierdurch lediglich ausgehend von der jeweiligen Rechtsverordnung die Auffindbarkeit der Blankettnorm erleichtert wird, nicht jedoch ausgehend von der Blankettnorm die Auffindbarkeit der zugehörigen Rechtsverordnung. Erst wenn diese ausfindig gemacht wurde, tritt eine Erleichterung ein, da dem Normadressaten dann die Suche nach der relevanten Norm innerhalb der Rechtsverordnung erleichtert wird und die Relevanz der Rechtsverordnung durch die Rückverweisungsklausel deutlich wird. Entscheidend für die Bestimmtheit der Norm ist jedoch die Verweisungsrichtung ausgehend von der Straf- oder Bußgeldnorm selbst und nicht vom Ausfüllungsobjekt.264 Aber selbst ausgehend vom Ausfüllungsobjekt, also der Rechtsverordnung, können Rückverweisungsklauseln zu Problemen bei der Vorhersehbarkeit des strafbaren Verhaltens führen.265 Denn startet man die Suche nach dem strafbaren bzw. ordnungswidrigen Verhalten ausgehend von der Rückverweisungsklausel in den Rechtsverordnungen, besteht die Gefahr, relevante Ver- und Gebote zu übersehen. Die Rechtsverordnungen zählen zumeist unter der Überschrift „Strafvorschriften“ bzw. „Ordnungswidrigkeiten“ in einem Paragraph diejenigen Normen auf, deren Zuwiderhandeln nach der entsprechenden, die Rückverweisung vorschreibenden Straf- oder Bußgeldnorm, sanktioniert werden soll.266 Dies erweckt jedoch den Eindruck, dass Verstöße gegen andere verwaltungsrechtliche Ge- und 263
Siehe Kapitel 2 C. II. 3. Satzger, Europäisierung, S. 258; Bode/Seiterle, ZiS 2016, 91 (93). 265 Auch wenn Freund/Rostalski diese Erwägung unter dem Hinweis, auch eine völlig klare und eindeutige Regelung sei wegen der Missachtung des Grundsatzes der Gewaltenteilung verfassungswidrig, als „Nebenkriegsschauplatz“ bezeichnen (Freund/Rostalski, GA 2016, 443 (444)), kann dieser Aspekt der Rückverweisungsklauseln nicht unbeleuchtet gelassen werden. 266 Siehe z. B. § 10 Arzneimittelhandelsverordnung (AM-HandelsV): Ordnungswidrig im Sinne des § 97 Abs. 2 Nr. 31 des Arzneimittelgesetzes handelt, wer vorsätzlich oder fahrlässig 1. als Betreiber eines Arzneimittelgroßhandels a) entgegen § 2 Abs. 1 eine verantwortliche Person nicht bestellt oder b) [aufgehoben] 2. als nach § 2 Abs. 1 bestellte Person a) entgegen § 4 Abs. 1 oder 3 Arzneimittel umfüllt oder abpackt, b) entgegen § 4a Absatz 1 ein Arzneimittel erwirbt, c) entgegen § 5 Abs. 1 Arzneimittel nicht in der vorgeschriebenen Weise lagert, d) entgegen § 5 Abs. 3 Satz 1 Arzneimittel nicht in der vorgeschriebenen Weise aufbewahrt, e) entgegen § 5 Abs. 3 Satz 2 Arzneimittel nicht kennzeichnet, f) entgegen § 5 Abs. 3 Satz 3 die zuständige Behörde nicht oder nicht rechtzeitig informiert, g) entgegen § 6 Abs. 2 den Lieferungen keine Unterlagen oder Unterlagen mit nicht richtigen oder nicht vollständigen Angaben beifügt, h) entgegen § 7 Abs. 1 oder Abs. 2 Satz 1 Aufzeichnungen nicht, nicht richtig oder nicht vollständig führt, i) Aufzeichnungen oder Nachweise nicht entsprechend § 7 Abs. 3 Satz 1 oder 2, auch in Verbindung mit § 7a Abs. 2 Satz 3, aufbewahrt oder j) entgegen § 7 Abs. 3 Satz 5 oder 6, jeweils auch in Verbindung mit § 7a Abs. 2 Satz 3 Aufzeichnungen oder Nachweise unleserlich macht oder Veränderungen vornimmt (…) 264
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Verbote derselben Rechtsverordnung nicht strafbar oder ordnungswidrig sind. So kann § 10 Arzneimittelhandelsverordnung (AM-HandelsV) dahingehen gedeutet werden, dass die dort aufgelisteten Ordnungswidrigkeiten abschließend sind und damit beispielsweise ein Verstoß gegen § 4 Abs. 4 der AM-HandelsV (Verbot des Inverkehrbringens nicht ausreichend gekennzeichneter Arzneimittel) keine Ordnungswidrigkeit darstellt. Dieser Schluss trügt jedoch. Ein Verstoß gegen § 4 Abs. 4 der AM-HandelsV ist nach § 97 Abs. 2 Nr. 4 und 5 (jeweils i. V. m. § 12 Abs. 1 Nr. 1 AMG) bußgeldbewehrt. Jetzt ließe sich – aus Sicht des Bestimmtheitsgebots allerdings wenig überzeugend – einwenden, dass dies die logische Konsequenz der Koexistenz von einfachen und qualifizierten Verweisungen auf Rechtsverordnungen sei. Es tritt jedoch erschwerend hinzu, dass der Verordnungsgeber Rückverweisungsklauseln zum Teil auch dann verwendet, wenn diese durch den Gesetzgeber nicht vorgeschrieben sind. So wird zum Beispiel in § 4 Arzneimittel-Warnhinweisverordnung (AMWarnV) auf § 97 Abs. 2 Nr. 4 und 5 AMG, die keine Rückverweisungsklauseln enthalten, verwiesen. Andere Rechtsverordnungen, die dieselben Bußgeldtatbestände (§ 97 Abs. 2 Nr. 4 und 5 AMG) ausfüllen, enthalten hingegen eine solche Rückverweisung nicht.267 Ausgehend von der Rechtsverordnung muss hier erst Recht der Eindruck entstehen, dass die Rechtsverordnung dann alle Straf- oder Bußgeldnormen durch Rückverweisung benennt. Führt man sich den § 97 Abs. 2 Nr. 31 AMG vor Augen und versucht diesen in Gänze zu erfassen, wird deutlich, dass dies wegen der Verweisungen auf zahlreiche Ermächtigungsgrundlagen ohne das verbotene Verhalten auch nur ansatzweise in der Blankettnorm selbst zu beschreiben, wenn überhaupt ausgehend von den Rückverweisungen in den jeweiligen Rechtsverordnungen möglich ist. Rückverweisungsklauseln verleiten also dazu, ausgehend von der Ausfüllungsnorm nach dem sanktionierten Verhalten zu suchen, was – wie soeben aufgezeigt – nicht nur beim Auffinden der Rechtsverordnung nicht weiterhilft, sondern zusätzliche Probleme bei der Vorhersehbarkeit des strafbaren Verhaltens mit sich bringt. § 97 Abs. 2 Nr. 31 AMG ist aufgrund der geschilderten Probleme das sanktionierte Verhalten, wenn überhaupt, nur mit erheblichem Aufwand zu entnehmen. Gleiches gilt für § 95 Abs. 1 Nr. 2 und § 96 Nr. 2 AMG a. F. Diese verwiesen auf die Ermächtigungsnorm des § 6 AMG. Von Bedeutung für den Straftatbestand waren und sind damit fünf verschiedene Rechtsverordnungen: die Arzneimittelfarbstoffverordnung, die Arzneimittel-TSE-Verordnung, die Verordnung über ein Verbot der Verwendung von Ethylenoxid bei Arzneimitteln, die Verordnung über das Verbot der Verwendung von mit Aflatoxinen kontaminierten Stoffen bei der Herstellung von Arzneimitteln und die Frischzellenverordnung. Durch die beschlossene Gesetzesänderung durch das Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV) wurden die Stoffe, deren Umgang diese Rechtsverordnungen reglementieren (Aflatoxine, Ethylenoxid, Farbstoffe, Frischzellen und Stoffe, Zubereitungen aus Stoffen oder 267 Siehe z. B. Arzneimittel- und Wirkstoffherstellungsverordnung. Ein Verstoß gegen § 15 wird über §§ 97 Abs. 2 Nr. 4 und 5 AMG sanktioniert. § 42 der Verordnung, der die Ordnungswidrigkeitentatbestände auflistet, sieht insoweit jedoch keine Rückverweisung vor.
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Gegenständen tierischer Herkunft mit dem Risiko der Übertragung transmissibler spongiformer Enzephalopathien), als Anlage zu § 6 AMG aufgenommen. § 6 Abs. 3 AMG sieht nunmehr vor, dass das Bundesministerium durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats weitere Stoffe in die Anlage aufnehmen kann. Durch diese Neuregelung wird sich die Auffindbarkeit der Ausfüllungsnorm verbessern, da nach dieser Konstruktion strafrechtlich relevant nur das Inverkehrbringen, Anwenden oder Herstellen von Arzneimitteln ist, bei deren Herstellung gegen die – in Rechtsverordnungen geregelten – Bestimmungen im Zusammenhang mit der Verwendung der in der Anlage genannten Stoffe verstoßen wurde.268 Zumindest wenn der Name der Rechtsverordnung den in der Anlage genannten Stoff enthält, was bei den bislang erlassenen Rechtsverordnungen der Fall ist, ist es dem Normadressaten möglich und zumutbar, die entsprechende Rechtsverordnung zu finden. Noch zahlreicher – und nur zum Teil von der Neuregelung des § 6 AMG und der damit einhergehenden Verbesserung der Vorhersehbarkeit des strafbaren Verhaltens betroffen – sind die Verweise in § 96 Nr. 18 AMG über § 59a AMG. Dort werden nicht nur die soeben genannten fünf, sondern weitere Rechtsverordnungen (Verordnung über Stoffe mit pharmakologischer Wirkung, Arzneimittel-Standardzulassungsverordnung und die Arzneimittelverschreibungsverordnung) in Bezug genommen. Bei der Suche nach dem strafbaren Verhalten ist der Normadressat auf juristische Spezialkommentare angewiesen, da der Gesetzgeber in der Norm selbst nur unzureichend Anhaltspunkte für die Ausfüllungsnorm liefert. Schon aufgrund dieser Tatsache erscheint der Rechtsfindungsakt dem Bürger erheblich erschwert. Hinzu kommt, dass selbst die einschlägige Fachliteratur offensichtlich mit dem Normgefüge überfordert ist. So wird bei der Kommentierung des § 6 AMG – auf die man bis zur Neuregelung angewiesen war – auf aufgehobene Rechtsverordnungen verwiesen269 oder aber es werden Rechtsverordnungen fälschlicherweise für nicht mehr gültig erklärt.270 Ähnlich schwierig ist es, die für § 96 Nr. 15 und 16 AMG (Abgabe, Verschreiben und Besitz von Arzneimitteln, die nur durch den Tierarzt abgegeben werden dürfen) relevanten Rechtsverordnungen zu finden. Selbst wenn man die soeben beschriebenen redaktionellen Fehler in § 96 Nr. 16 AMG überwindet, indem man entgegen dem Wortlaut nach einer Rechtsverordnung sucht, die aufgrund des § 56a Abs. 3 S. 1 268 Ziel der Neuregelung war es, dass dem Rechtsanwender bereits im Gesetz erkennbar sein soll, fu¨ r welche Stoffe, Zubereitungen aus Stoffen und Gegensta¨ nde es Vorgaben bei der Verwendung fu¨ r die Arzneimittelherstellung gibt (BT-Drucks. 19/8753, S. 45). 269 Rehmann, AMG (Vorauflage) § 6 Rn. 1, dort wird auf die Verordnung über das Verbot der Verwendung bestimmter Stoffe bei der Herstellung von Arzneimitteln zur Anwendung bei Tieren verwiesen, die allerdings durch die Verordnung über Stoffe mit pharmakologischer Wirkung vom 16. 3. 2009 aufgehoben wurde. 270 Weber, AMG § 6 Rn. 7, dort wird ein Urteil des BVerfG zur Gültigkeit der Frischzellenverordnung fälschlicherweise auf die gesamte Verordnung bezogen, womit ein für die Strafnormen des AMG relevanter, noch gültiger Teil der Verordnung (§ 2 Abs. 1 i. V. m. § 1 Abs. 2) übersehen wird.
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Nr. 4 lit. b AMG und nicht der im Gesetz genannten Norm erlassen wurde,271 ist eine solche nicht ohne weiteres auffindbar. Auch ein Blick in die juristischen Spezialkommentare hilft hier nur bedingt weiter, da dort unterschiedliche Angaben über die relevanten Rechtsverordnungen gemacht werden.272 Der Normadressat muss sich also selbst auf die Suche nach der Rechtsverordnung begeben. Er weiß dabei lediglich, dass es sich um eine solche handeln muss, die vorschreibt, dass gewisse Arzneimittel nur von dem Tierarzt selbst angewendet werden dürfen. Er weiß aber nicht, ob aufgrund dieser Ermächtigung überhaupt eine Rechtsverordnung – und wenn ja, wie viele – erlassen wurde. Wohlgemerkt steht hier auch die Strafbarkeit des Besitzes unter Strafe, sodass es nicht nur um die Strafbarkeit des Tierarztes (als potentieller „Experte“) geht. Erst wenn der Normadressat auf die Verordnung über Stoffe mit pharmakologischer Wirkung stößt und dort in § 2 S. 2 i. V. m. der Anlage 2 oder 3 in einer Spalte einer Tabelle unter dem Punkt „Bedingung“ entdeckt, dass etwa Beta-Agonisten mit anaboler Wirkung unter gewissen Umständen nur durch den Tierarzt als Injektion oder aber Testosteron und Progesteron unter Umständen nur durch einen Tierarzt verabreicht werden dürfen, kann man sich sicher sein, die richtige Verordnung gefunden zu haben. Dieses Beispiel verdeutlicht ein weiteres Problem von blankettergänzenden Rechtsverordnungen: Neben der Anzahl der erlassenen Rechtsverordnungen kann sich auch die Tatsache als Problem herausstellen, dass eine Rechtsverordnung aufgrund zahlreicher unterschiedlicher Ermächtigungsnormen erlassen wurde. Der für die konkrete Sanktionsnorm relevante Inhalt kann dann lediglich einem bestimmten Paragrafen oder sogar einer Anlage der Verordnung entnommen werden. Der Titel der Rechtsverordnung gibt jedoch keinerlei Auskunft über diesen speziellen Regelungsbereich. Während die im Rahmen des § 95 Abs. 1 Nr. 3 AMG (Inverkehrbringen von radioaktiven oder mit ionisierenden Strahlen behandelten Arzneimitteln) relevante Rechtsverordnung aufgrund ihres Titels („Verordnung über radioaktive oder mit ionisierenden Strahlen behandelte Arzneimittel“) der Ermächtigungsnorm und damit auch der Blankettnorm relativ eindeutig zuzuordnen ist, kann dem Titel der „Verordnung über Stoffe mit pharmakologischer Wirkung“ nicht entnommen werden, dass sie Regelungen enthält, die vorschreiben, dass gewisse Arzneimittel nur von dem Tierarzt selbst angewendet werden dürfen. Dieselben Probleme ergeben sich bei § 96 Nr. 18c AMG. Unter Strafe gestellt ist dort die Einfuhr von Arzneimitteln oder Wirkstoffen aus einem Drittstaat ohne bestimmte Zertifikate. Über den Verweis auf § 72a Abs. 1d AMG wird darauf hingewiesen, dass Wirkstoffe sowie andere zur Arzneimittelherstellung bestimmte Stoffe menschlicher Herkunft nur erfasst sind, soweit ihre Überwachung durch eine 271
Siehe Kapitel 2 F. I. 1. b) aa). Weber verweist zutreffend auf die Verordnung über Stoffe mit pharmakologischer Wirkung (§ 96 Rn. 169; siehe auch Fuhrmann/Klein/Fleischfresser/Kluge, § 38 Rn. 23). Ein Hinweis auf diese Verordnung ist bei Kügel/Müller/Hofmann/Heßhaus/Laber-Probst, § 56a Rn. 39 ff. jedoch nicht zu finden, obwohl auch dort auf die erlassenen Rechtsverordnungen eingegangen wird. 272
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Rechtsverordnung nach § 54 AMG geregelt ist. Um zu erfahren, dass beispielsweise Blutprodukte in den Anwendungsbereich der Strafnorm fallen, muss der Normadressat die Verordnung über die Anwendung der Guten Herstellungspraxis bei der Herstellung von Arzneimitteln und Wirkstoffen und über die Anwendung der Guten fachlichen Praxis bei der Herstellung von Produkten menschlicher Herkunft (Arzneimittel- und Wirkstoffherstellungsverordnung – AMWHV) finden und dort – auch diese Verordnung wurde aufgrund zahlreicher unterschiedlicher Ermächtigungsnormen erlassen und bezieht sich auf verschiedene Materien – auf § 17 stoßen. Abweichend von dem Titel der Verordnung, der den Anschein erweckt, sie würde nur die Herstellung und Anwendung von Arzneimitteln regeln, bezieht sich der strafrechtlich relevante § 17 dann jedoch auf die Einfuhr von Arzneimitteln. Zwar wird in der Eingangsformel der Verordnung neben zahlreichen anderen Normen auch auf die für die Strafnorm relevante Ermächtigungsnorm (§ 54 AMG) verwiesen. Zum einen ist dies jedoch – wie bereits erläutert – die falsche Verweisungsrichtung. Zum anderen ist vielen relevanten Rechtsverordnungen ein solcher Hinweis nicht zu entnehmen, da sich entweder die Ermächtigungsnorm inzwischen geändert oder aber die Verordnung eine andere Verordnung abgelöst hat und dann ein solcher Hinweis fehlt.273 Es stellt sich nun die Frage, welche Konsequenzen aufgrund der dargestellten Probleme gezogen werden müssen. Hier kann es nur eine Antwort geben. Die Auffindbarkeit der Ausfüllungsnorm ist dem Adressaten in den soeben beschriebenen Fällen unzumutbar. Dies gilt erst recht, wenn man berücksichtigt, dass das Fachwissen bei der Beurteilung der Zumutbarkeit des Rechtsfindungsaktes unerheblich ist.274 Die hier analysierten Probleme werfen zudem die Frage auf, ob Verweisungen auf Rechtsverordnungen aus Perspektive der verhaltensleitenden Funktion generell gegen Art. 103 Abs. 2 GG verstoßen. Zunächst ist festzustellen, dass es nur schwer möglich erscheint, die Probleme bei der Auffindbarkeit der Ausfüllungsnorm durch die von der Rechtsprechung geforderten erhöhten Anforderungen an die Beschreibung der wesentlichen Strafbarkeitsvoraussetzungen in der Blankettnorm (i. V. m. der Ermächtigungsgrundlage oder sonstigen förmlichen Gesetzen) zu beheben. Insoweit bestünde die Notwendigkeit, die Bestimmtheitsanforderungen an die Blankettnorm oder die in Bezug genommen Ermächtigungsgrundlage so hoch anzusetzen, dass der Rechtsverordnung nur noch eine deklaratorische Bedeutung zukäme.275 Aus diesem Grund wäre beispielsweise die Benennung der relevanten Rechtsverordnungen im formellen Gesetz aus Sicht des Bestimmtheitsgrundsatzes zwar begrüßenswert, aber keine praxistaugliche Lösung. Denn damit wäre der Sinn von 273 Siehe z. B. Verordnung über Stoffe mit pharmakologischer Wirkung in der Fassung der Bekanntmachung vom 08. 07. 2009 (BGBl. I S. 1768). Hier wäre also ein weiterer Schritt, und zwar der Blick in die Vorgängerfassung nötig, um dieser dann die Ermächtigungsnorm zu entnehmen. 274 Siehe Kapitel 2 F. I. 275 Vgl. Cornelius, Verweisungsbedingte Akzessorietät, S. 330.
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dynamischen Verweisen auf Rechtsverordnungen konterkariert. Die bezweckte, vom Gesetzgebungsverfahren losgelöste Variabilität wäre nicht mehr gewährleistet und Verweisungen auf Rechtsverordnungen wären damit weitestgehend sinnlos. Allerdings hat sich der im Rahmen der Neuregelung des § 6 AMG gewählte Weg als taugliches Mittel erwiesen, die Auffindbarkeit der für die Strafbarkeit relevanten Rechtsverordnungen zu verbessern, ohne die Variabilität komplett aufzugeben. Stuft man die den Erhalt der Variabilität sichernde Norm des § 6 Abs. 3 AMG nicht als verfassungswidrige Kompetenzverlagerung ein, ist zu konstatieren, dass es dem Gesetzgeber in diesem Fall gelungen ist, eine Verweisungskonstruktion zu schaffen, die – betrachtet man sie isoliert – mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar ist.276 Sämtliche anderen Rechtsverordnungsblankettnormen des AMG sind jedoch – nimmt man den Art. 103 Abs. 2 GG ernst und lässt die Praktikabilitätsgesichtspunkte außen vor – wegen der soeben beschriebenen Probleme mangels Auffindbarkeit der Ausfüllungsnorm als mit Art. 103 Abs. 2 GG unvereinbar einzustufen. cc) Die Bezugnahme auf das EU-Recht Im Hinblick auf die Verweisungsklarheit fordern einige Stimmen in der Literatur gegenüber nationalen Verweisungen erhöhte Anforderungen.277 Begründet wird dies damit, dass sich aus der Verweisung auf solche Normen ein ganz oder teilweise europarechtlich geprägter Tatbestand ergebe und sich aufgrund dessen die Rechtsfindung erschwere.278 Die erhöhten Anforderungen sollen insoweit als Ausgleich dienen. Das BVerfG fordert hingegen unter Zugrundelegung des allgemeinen Maßstabes lediglich eine ordnungsgemäße Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union.279 Auf den ersten Blick erscheinen die Verweisungen auf EUVerordnungen des AMG unter dem Gesichtspunkt der Auffindbarkeit der Ausfüllungsnorm wesentlich unproblematischer als die Verweisungen auf Rechtsverordnungen. Denn – anders als bei der Bezugnahme auf Rechtsverordnungen – ist sich der Gesetzgeber zum Zeitpunkt der Gesetzesformulierung in der Regel des konkreten Verweisungssobjekts bewusst, da sie bereits existiert.280 Wenn also, wie in § 96 Nr. 20 AMG geschehen, die Ausfüllungsnorm mit der amtlichen Fundstelle und der letztmaligen Änderung bezeichnet wird, ergeben sich beim Rechtsfindungsakt keine unzumutbaren Hindernisse. Wie bereits dargestellt,281 zitiert der Gesetzgeber im 276
Zu den zusätzlich bestehenden Problemen, die sich im Rahmen der den § 6 AMG in Bezug nehmenden Sanktionsnormen wegen der dort verwendeten Weiterverweisungstechnik ergeben, siehe Kapitel 2 F II. 1. c) aa). 277 Satzger, Europäisierung, S. 253; ders., JuS 2004, 943 (947); Ambos, Internationales Strafrecht, § 11 Rn. 28. 278 Vgl. auch Moll, Europäisches Strafrecht, S. 153, der auf die „Ferne des Gemeinschaftsrechts und die sich daraus resultierenden Unwägbarkeiten“ hinweist. 279 BVerfG wistra 2010, 396 (400 f.); ebenso Böse, in: FS Krey (2010), S. 7 (14 ff.); Enderle, Blankettstrafgesetze, S. 199. 280 Vgl. aber Globalverweisungen auf EU-Verordnungen z. B. in § 10 RiFlEtikettG a. F. 281 Siehe Kapitel 2 C. IV. 4.
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AMG EU-Verordnungen jedoch auf unterschiedliche Weise. So wird in § 96 Nr. 18a i. V. m. § 59d S. 1 Nr. 2 AMG und § 97 Abs. 2b AMG weder die amtliche Fundstelle noch die relevante Fassung angegeben. Neben den Kompetenzproblemen, die sich daraus ergeben, führt dies auch dazu, dass für den Normadressaten nicht erkennbar ist, auf welche Fassung sich der Gesetzgeber bezieht, da oftmals eine Vielzahl an Änderungsverordnungen erlassen wurden. Der Rechtsfindungsakt ist damit in diesen Fällen unzumutbar. Zu diesem Ergebnis kommt man selbst dann, wenn man an solche Verweisungen keine gesteigerten Anforderungen im Vergleich zu Verweisungen auf nationale Rechtsvorschriften stellt. c) Auffindbarkeit der Ausfüllungsnorm aufgrund der Verweisungsstruktur aa) Weiterverweisungstechnik Neben den Problemen, die sich aus der ungenauen oder fehlerhaften Bezeichnung der Ausfüllungsnorm beim Rechtsfindungsakt ergeben, stellt einen oftmals auch die Verweisungsstruktur des AMG vor erhebliche Schwierigkeiten. Diese können sich daraus ergeben, dass ein Straf- oder Bußgeldtatbestand auf zahlreiche Normen verweist (horizontale Komplexität). So nimmt § 97 Abs. 2 Nr. 31 AMG – ohne jede Beschreibung der tatbestandlichen Handlung – zehn verschiedene Ermächtigungsgrundlagen in Bezug. Bußgeldbewehrt ist demnach jeder Verstoß gegen eine dieser Rechtsverordnungen oder gegen eine vollziehbare Anordnung aufgrund einer solchen, soweit sie eine Rückverweisungsklausel enthält.282 Berücksichtigt man, dass der Normadressat keinerlei Hinweise auf das sanktionierte Verhalten hat, sondern lediglich auf zehn verschiedene Ermächtigungsgrundlagen verwiesen wird, ist der Rechtsfindungsakt hier insbesondere deshalb als unzumutbar zu bewerten, weil sich an dieser Stelle die oben dargestellten Probleme, nämlich die unbekannte Anzahl der erlassenen Rechtsverordnungen und die Existenz von Rechtsverordnungen, die aufgrund unterschiedlicher Ermächtigungsnormen erlassen wurden, potenzieren. Als mindestens ebenso problematisch erweisen sich solche Blankettnormen, die durch zahlreiche Weiterverweisungen geprägt sind (vertikale Komplexität). Durch solche Weiterverweisungen entstehen ganze Verweisungsketten, sodass der Normadressat, um das sanktionierte Verhalten komplett zu erfassen, im AMG bis zu fünf 282 Soweit ersichtlich – die einschlägige Fachliteratur hilft hier nur eingeschränkt weiter, sodass man sich selbst auf die Suche nach den relevanten Rechtsverordnungen begeben muss – existieren Rückverweisungen auf § 97 Abs. 2 Nr. 31 AMG in § 42 der Arzneimittel- und Wirkstoffherstellungsverordnung (AMWHV), in § 3 Abs. 4 der Arzneimittel-TSE-Verordnung (TSEAMV), in § 10 Arzneimittelhandelsverordnung (AM-HandelsV), in § 16 der Verordnung über die Anwendung der Guten Klinischen Praxis bei der Durchführung von klinischen Prüfungen mit Arzneimitteln zur Anwendung am Menschen (GCP-Verordnung), in § 6 der Verordnung über die Nachweispflichten der Tierhalter für Arzneimittel, die zur Anwendung bei Tieren bestimmt sind (Tierhalter-Arzneimittelanwendungs- und Nachweisverordnung), in § 5 der Verordnung über radioaktive oder mit ionisierenden Strahlen behandelte Arzneimittel (AMRadV) und in § 15 der Verordnung über tierärztliche Hausapotheken (TÄHAV).
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Verweisungsstufen überblicken muss. Als Beispiel, welches diese Problematik veranschaulicht, kann hier erneut auf § 95 Abs. 1 Nr. 2 AMG283 (Inverkehrbringen und Anwenden von verbotenen Arzneimitteln) verwiesen werden. Auf der ersten Verweisungsstufe nimmt § 95 Abs. 1 Nr. 2 AMG die Ermächtigungsgrundlage für eine Rechtsverordnung, die das Inverkehrbringen und Anwenden gewisser Arzneimittel untersagt (§ 6 AMG), in Bezug. Ist man nun – in der bis zum 16. 08. 2019 gültigen Fassung mit erheblichen Suchaufwand – zum Beispiel auf die Arzneimittelfarbstoffverordnung gestoßen, ergibt sich aus § 2 Abs. 1 dieser Verordnung, dass das vorsätzliche oder fahrlässige Inverkehrbringen von Arzneimitteln entgegen § 1 Abs. 2 strafbar ist. Nach dieser Norm dürfen Arzneimittel im Sinne des § 2 Abs. 1 AMG dann nicht in den Verkehr gebracht werden, wenn sie nicht den Vorschriften des Abs. 1 entsprechen. Betrachtet man nun § 1 Abs. 1 der Verordnung, stellt man fest, dass dieser hinsichtlich der zu verwendenden Farbstoffe wiederum auf drei verschiedene Objekte verweist: zum einen auf den Anhang I der Richtlinie 94/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Juni 1994 (ABl. EG Nr. L 237 S. 13) in der jeweils geltenden Fassung und zum anderen hinsichtlich der Reinheitskriterien auf den Anhang der Richtlinie 95/45/EG der Kommission vom 26. Juli 1995 (ABl. EG Nr. L 226 S. 1) in der jeweils geltenden Fassung sowie die Monographien des Europäischen Arzneibuchs. Noch komplexer wird es, wenn man mehr oder weniger zufällig auf Art. 33 Abs. 1 der VO (EG) Nr. 1333/2008 stößt. Denn durch diese Norm wird die von der Arzneimittelfarbstoffverordnung in Bezug genommene Richtlinie 94/36/EG aufgehoben. Gibt man jedoch jetzt noch nicht auf, stößt man (gegebenenfalls) auf Art. 34 UAbs. 1 lit. b dieser Verordnung, nach der der für die Strafnorm relevante Anhang I der Richtlinie weiterhin gilt. Insgesamt folgen dem § 95 Abs. 1 Nr. 2 AMG (in dieser Variante) fünf Verweisungsstufen. Hierbei werden zudem verschiedene Verweisungstypen kombiniert. § 95 Abs. 1 Nr. 2 AMG enthält eine dynamische Verweisung auf eine Rechtsverordnung sowie dynamische Verweisungen auf Richtlinien und Monographien und – bis zum Inkrafttreten der Gesetzesänderung durch das Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung vom 06. 08. 2019 – zudem noch eine Rückverweisungsklausel. Neben den sich daraus ergebenen Problemen hinsichtlich der verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Kompetenzverteilung muss auch hier beachtet werden, dass sich durch solche komplexen Strukturen die schon bei einfachen Verweisungen existierenden Probleme potenzieren.284 Insbesondere, wenn es sich wie hier nicht um eine stringente Verweisungskette, sondern um verschachtelte, verzweigte Verweisungen handelt, ist der Rechtsfindungsakt erheblich erschwert. Denn bei der soeben dargestellten Verweisungskette ist zu beachten, dass sie nur einen „Pfad“ der Strafnorm darstellt. Bereits die zweite Verweisungsstufe (§ 6 AMG) eröffnet nach derzeitigem Stand fünf verschiedene Wege, da entsprechend viele Rechtsverordnungen in Bezug genommen werden. Allein schon durch § 1 Abs. 1 der Arzneimittelfarbstoffver283 Siehe auch § 96 Nr. 2 und Nr. 18 AMG, die ebenfalls (mittelbar) auf § 6 AMG verweisen. 284 Vgl. Moll, Europäisches Strafrecht, S. 188.
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ordnung werden dann erneut drei Wege eröffnet. Führt man sich vor Augen, dass beispielsweise auch die Arzneimittel-TSE-Verordnung entsprechende Weiterverweisungen enthält und versucht, den gesamten Straftatbestand des § 95 Abs. 1 Nr. 2 AMG zu erfassen, so stellt sich dieser nicht mehr als eine Verweisungskette, sondern als ein über mehrere Ebenen gestaffeltes, unterschiedlich variables Verweisungssystem dar. In diesem Fall treffen also die vertikale und die horizontale Komplexität zusammen. Während in der Literatur die Weiterverweisungstechnik bei Blanketttatbeständen teilweise kritisch betrachtet wird,285 spiegeln sich diese Bedenken in der Rechtsprechung nicht wider. Die Problematik der Weiterverweisungstechnik spielt bei den Gerichtsentscheidungen über die Bestimmtheit von Blankettnormen regelmäßig keine Rolle. Zwar hat sich der BGH hierzu am Rande geäußert. Er ist jedoch der Ansicht, dass sich aus der Normierungstechnik der Weiterverweisung „unüberwindliche Probleme für die Rechtsfindungspraxis (…) bisher nicht ergeben“286 hätten. Dass es jedoch bei der Frage der Bestimmtheit einer Norm nicht auf die Unüberwindlichkeit, sondern die Zumutbarkeit für den Bürger als Normadressaten ankommt, wurde bereits dargelegt. Anders als der BGH hat das BVerfG solche Strukturen – wenn auch nicht im Zusammenhang mit Blankettstrafgesetzen – in bestimmten Konstellationen für mit dem Bestimmtheitsgebot nicht vereinbar erklärt. In einem Beschluss vom 03. 03. 2004 stellte das BVerfG fest, dass § 39 Abs. 1 und 2 AWG a. F., die jeweils Ermächtigungen zum Eingriff in das Grundrecht aus Art. 10 Abs. 1 GG (Postverkehr und der Telekommunikation) enthielten, mit den rechtsstaatlichen Anforderungen an die Normbestimmtheit und Normklarheit nicht vereinbar seien.287 Es berief sich dabei auf die durch die gewählte Regelungstechnik der Weiterverweisungen bedingte Streubreite und Verschachtelung der Norm.288 Die Eingriffsvoraussetzungen seien für den Bürger als Normadressat nicht ausreichend erkennbar; allenfalls Experten sei dies möglich. Da jedoch – wie aufgezeigt – auch im Rahmen der Bestimmtheit von Straf- und Bußgeldvorschriften, die Verweisungen enthalten, nicht auf das Fachwissen der Normadressaten oder des Normanwenders abgestellt werden kann und zudem die strafrechtlichen Bestimmtheitsanforderungen nicht hinter den in der Entscheidung dargestellten zurückstehen, sind diese Darstellungen auf das hier geschilderte Problem übertragbar.289 Im Ergebnis sind damit solche Weiterverweisungen, die von einer vertikalen und horizontalen Komplexität geprägt sind und damit den „Charakter von Kaskaden“290 285 Moll, Europäisches Strafrecht, S. 181 ff.; MK-StGB/Schmitz, § 1 Rn. 65; LK-StGB/ Dannecker/Schuhr, § 1 Rn. 163 ff. 286 BGH NJW 1996, 3220 (3221). 287 BVerfG NJW 2004, 2213. 288 BVerfG NJW 2004, 2213 (2218). 289 Vgl. MK-StGB/Schmitz, § 1 Rn. 65; KG Berlin BeckRS 2017, 136822 (Rn. 65). 290 BVerfG NJW 2004, 2213 (2218); vgl. auch BFH DStR 2006, 2019 (2025 f.); vgl. Hamm, NJW 2016, 1537 (1537).
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annehmen, nicht mit dem Bestimmtheitsgrundsatz vereinbar. Für das AMG ist dies bei § 95 Abs. 1 Nr. 2, § 96 Nr. 2 und Nr. 18 und § 97 Abs. 2 Nr. 31 AMG der Fall. bb) Dynamische Außenverweisungen Dynamische Außenverweisungen führen zu erheblichen Problemen mit der verfassungsrechtlichen Kompetenzverteilung. Daneben werfen sie jedoch auch die Frage auf, ob sie aus Perspektive der verhaltensleitenden Funktion mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar sind. Teilweise werden dynamische Verweisungen auch unter diesem Gesichtspunkt für grundsätzlich verfassungswidrig erachtet.291 Dem kann jedoch, soweit es sich um ausdrückliche dynamische Verweisungen handelt, so nicht gefolgt werden. Zwar ist zu konstatieren, dass sich aus der Dynamik der Verweisung – bezogen auf das AMG also insbesondere bei Verweisungen auf Rechtsverordnungen – ein über den sowieso schon bestehenden Suchaufwand hinausgehendes Hindernis ergibt, da sich der Normadressat immer nach der aktuellen Fassung erkundigen muss. Im Ergebnis können dynamische Verweisungen jedoch mit den Ketten- und Weiterverweisungen verglichen werden. Unter Berücksichtigung der Zumutbarkeit des Rechtsfindungsaktes macht es keinen Unterschied, ob der Normadressat von einer Norm zur anderen oder von einer Fassung zur anderen Fassung weitersuchen muss. Da die Weiterverweisungstechnik nur im Extremfall unzulässig ist und die dort auftretende Komplexität allein aufgrund einer dynamischen Verweisung nicht besteht, sind (ausdrückliche) dynamische Verweisungen grundsätzlich zulässig. Hat der Normadressat die passende Rechtsverordnung gefunden, was nach der hier vertretenden Ansicht bei einigen Normen des AMG in zumutbarer Weise nicht möglich ist, so ist isoliert betrachtet der von ihm zu leistende Aufwand im Hinblick auf die Suche der aktuellen Fassung nicht unzumutbar. Anders sieht dies jedoch aus, wenn – wie im AMG teilweise der Fall –292 nicht eindeutig erkennbar ist, ob es sich um eine dynamische oder statische Verweisung handelt. In diesem Fall ist dem Bürger nicht ersichtlich, welches Verhalten unter Strafe gestellt ist. Diese Normen verstoßen damit auch insoweit gegen den Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG. 2. Tatbestandsbestimmtheit Bei der Frage der Tatbestandsbestimmtheit gilt es mehrere Faktoren zu berücksichtigen. Zunächst muss der Gesamttatbestand, also die Blankettnorm mit sämtlichen Ausfüllungsobjekten, einen hinreichend bestimmten Inhalt enthalten. Von Bedeutung ist jedoch auch die Gewichtverteilung, also die Frage wie bestimmt schon die Blankettnorm sein muss. 291
Karpen, Gesetzgebungstechnik, S. 162; Marburger, Regeln der Technik, S. 390 ff.; Hohmann, ZIS 2007, 38 (45); a. A. Satzger, Europäisierung, S. 256 f.; Krey, EWR 1981, 109 (144). 292 Siehe Kapitel 2 C. II. 2.
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a) Tatbestandsbeschreibung in der Blankettnorm Die Unvollständigkeit des Tatbestandes ist keine Ausnahme, die Blankettnormen kennzeichnet. Abstrakte und insofern ebenfalls ergänzungsbedürftige Rechtssätze stellen auch außerhalb der Blankettgesetzgebung die Regel dar. Denn die vollständige, abschließende Beschreibung des tatbestandlichen Unrechts, hin zu einem nicht mehr auslegungsbedürftigen Tatbestand, ist nicht möglich. Diese Überlegungen sind bei der Frage der Bestimmtheit der Tatbestandsbeschreibung in der Blankettnorm zu berücksichtigen. Auf der anderen Seite ist jedoch auch zu beachten, dass, wie Krey in Anlehnung an Beling zutreffend ausführt, inhaltsleere „Schurkenparagraphen“ nicht den Anforderungen an die gesetzliche Bestimmtheit entsprechen.293 Die Besonderheit bei Blanketttatbeständen besteht darin, dass sich der vollständige Tatbestand aus der Zusammenschau von Blankett- und Ausfüllungsnorm ergibt. Da jedoch der erste Blick des Normadressaten der in die Blankettnorm ist und die Frage der Bestimmtheit ausgehend von dieser Norm geprüft werden muss, gilt es zunächst zu klären, inwieweit bereits die Blankettnorm selbst Hinweise auf die erfassten strafbaren oder ordnungswidrigen Handlungen geben muss. Wie oben bereits festgestellt wurde, unterscheiden sich die Blankettnormen des AMG im Grad der Präzision der Beschreibung des verbotenen Verhaltens. Während teilweise der Tatbestand bereits in der Blankettnorm selbst präzise beschrieben wird, sodass die Ausfüllungsnorm nur noch Detailregelungen enthält, erfolgt an anderer Stelle lediglich eine generische Beschreibung der verbotenen Verhaltensweisen oder aber es wird schlicht ohne jede Verhaltensbeschreibung auf das Ausfüllungsobjekt verwiesen. Verweist der Tatbestand der Blankettnorm selbst noch in keine oder eine sehr unpräzise Richtung, werden also keine Verhaltensweisen beschrieben, sondern lediglich auf einen oder mehrere andere Paragraphen verwiesen, ist dies unter Berücksichtigung der Voraussehbarkeit des sanktionierten Verhaltens für den Bürger besonders problematisch. Denn der Normadressat kann aus der Straf- bzw. Bußgeldnorm selbst nicht einmal im Ansatz erkennen, welches Verhalten durch die konkrete Norm sanktioniert werden soll. Zwar könnte man einwenden, dass es dem Bürger – insbesondere, wenn es bei einer einfachen Verweisung bleibt – durchaus zumutbar ist, der Ausfüllungsnorm zu folgen und dieser das straf- bzw. bußgeldbewehrte Verhalten zu entnehmen. Allerdings ist hierbei zu berücksichtigen, dass der Normadressat mangels Anhaltspunkten im Wortlaut der Blankettnorm sämtliche Straf- und Bußgeldnormen, die ohne Beschreibung der verbotenen Verhaltensweisen auf andere Normen verweisen, nachvollziehen muss. Je höher also in einem Strafrechtskatalog die Anzahl solcher „inhaltsleeren“ Verweisungen, desto schwieriger ist es für den Normadressaten zu überprüfen, ob das konkret für ihn relevante Verhalten straf- bzw. bußgeldbewehrt ist. Es hilft ihm dabei auch nicht weiter, sich ausgehend von der verwaltungsrechtlichen Verhaltensnorm über das sanktionierte Verhalten zu 293
Krey, EWR 1981, 109 (179); Beling, Die Lehre vom Verbrechen, S. 22.
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informieren. Zwar sind die Straf- und Bußgeldnormen des AMG aufsteigend nach den verwaltungsrechtlichen Normen kodifiziert, welche zudem nach „Themenbereichen“ gegliedert sind. Dieses System wird jedoch von Außenverweisungen und Weiterverweisungen durchbrochen. Gerade durch solche Weiterverweisungen kann nicht ausgeschlossen werden, dass erst auf zweiter Stufe auf die relevante Verhaltensnorm verwiesen und damit die Systematik nicht mehr eingehalten wird. Es darf jedoch auf der anderen Seite auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass bei Blanketttatbeständen der Bestimmtheitsgrundsatz selbst einer zu engen Formulierung der „Ausgangsnorm“ entgegenstehen kann. Denn das straf- bzw. bußgeldbewehrte Verhalten kann dem Normadressaten nur dann erkenntlich gemacht werden, wenn sich – ausgehend von einer weiten Formulierung in der Blankettnorm – die Beschreibung des sanktionierten Verhaltens von Verweisungsstufe zu Verweisungsstufe verengt. Werden die straf- bzw. bußgeldbewehrten Verhaltensweisen durch die Ausfüllungsnorm ausgeweitet, ist dies zumindest dann nicht mit dem Bestimmtheitsgrundsatz vereinbar, wenn der Normadressat nicht schon aus der „Ausgangsnorm“ erblicken kann, dass das konkrete Verhalten erfasst ist. Die materielle Gewichtverteilung zwischen der Blankettnorm und den Ausfüllungsobjekten ist also nicht nur aus kompetenzrechtlicher Sicht, sondern auch unter dem Aspekt der verhaltensleitenden Funktion von Bedeutung. Während aus kompetenzrechtlicher Sicht für Rechtsverordnungen und Verwaltungsakte besonders strenge Anforderungen gelten, muss aus Sicht der Voraussehbarkeit generell zumindest gewährleistet sein, dass der Tatbestand durch die Ausfüllungsobjekte nicht derart ausgeweitet wird, dass diese Ausweitung dem Bürger bei dem Blick in die Straf- bzw. Bußgeldnorm nicht erkennbar ist. Der Bürger muss also durch die „Ausgangsnorm“ in eine gewisse Richtung gelenkt werden, welche durch die Ausfüllungsnormen nicht geändert werden darf. Der Tatbestand muss sich insoweit schrittweise verdichten. Anders als bei der Beurteilung der materiellen Gewichtsverteilung unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Kompetenzverteilung, bei der nicht nur auf die Blankettnorm selbst, sondern sämtliche in Bezug genommenen formellen Gesetze abzustellen ist, geht es bei der Beurteilung der materiellen Gewichtsverteilung aus der Perspektive der verhaltensleitenden Funktion um die Blankettnorm selbst. Straf- oder Bußgeldnormen, die ohne jede Beschreibung der verbotenen Verhaltensweisen auf andere Normen verweisen, sind damit unbestimmt und verfassungswidrig.294 Das AMG verwendet solche Konstruktionen im Rahmen des § 97 AMG.295
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Auch das BVerfG geht in einer neueren Entscheidung am Rande darauf ein, dass eine bloße Weiterverweisung ohne Beschreibung der tatbestandlichen Handlung problematisch sei: BVerfG wistra 2010, 396 (404). 295 Siehe § 97 Abs. 2 Nr. 6, 23d, 25, 31, Abs. 2c Nr. 2 AMG.
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b) Anforderungen an die Ergänzung durch Rechtsverordnungen und Verwaltungsakte Bei Blankettnormen, die durch Rechtsverordnungen oder Verwaltungsakte ergänzt werden, wird gefordert, dass das strafbare Verhalten bereits aus dem Blankettstrafgesetz und den von ihm in Bezug genommenen förmlichen Gesetzen voraussehbar sein muss.296 An dieser Stelle findet damit der gleiche Prüfungsmaßstab Anwendung wie im Rahmen der Prüfung der Vereinbarkeit mit der kompetenzwahrenden Funktion des Art. 103 Abs. 2 GG. Es ist demnach zu überprüfen, ob das Ausfüllungsobjekt lediglich eine Spezifizierung der wesentlichen Strafbarkeitsvoraussetzungen in Form einer Detailregelung zukommt. Dieser Prüfungsmaßstab dient damit nicht nur der Einhaltung der Kompetenzverteilung, sondern auch der Voraussehbarkeit für den Bürger. Insofern kann auf die dort dargestellten Ergebnisse verwiesen werden.297 Dass hier besondere Anforderungen an solche Straf- oder Bußgeldnormen gestellt werden, die auf Rechtsverordnungen und Verwaltungsakte verweisen, lässt sich an dieser Stelle – also bei der Prüfung aus Sicht der verhaltensleitenden Funktion – jedoch nicht mit der Rechtsnatur des Ausfüllungsobjekts begründen, sondern mit der Verweisungsunklarheit, die regelmäßig bei dieser Art der Verweisung besteht. Es wird letztlich der Versuch unternommen, die Voraussehbarkeit für den Normadressaten zu verbessern, indem man fordert, dass sich die Voraussetzungen der Strafbarkeit bereits aus den Normen ergeben müssen, die vor derjenigen Verweisung stehen, bei der die Verweisungsunklarheit besteht. Wie oben bereits dargestellt kann jedoch grundsätzlich bezweifelt werden, ob sich diese Unklarheit mit diesem Mittel beseitigen lässt. Führt man sich jedoch vor Augen, dass die „Spezifizierungs-Rechtsprechung“ nicht nur Ausfluss der Kompetenzerhaltung, sondern auch der Verhaltensleitung ist, und führt diesen Gedanken konsequent zu Ende, müsste man den Schluss ziehen, solche verschärften Anforderungen an alle Blankettnormen zu stellen, die auf einer gewissen Stufe eine mit den Verweisungen auf Rechtsverordnungen vergleichbares Verweisungsdefizit bzw. Verweisungsunklarheit aufweisen. Gleichzeitig wird auch deutlich, dass dies für Verweisungen auf EU-Verordnungen nicht gelten kann. Denn dort ist zumindest im AMG die Verweisungstechnik im Vergleich zu Verweisungen auf Rechtsverordnungen eine andere, in der Regel viel genauere.298 Da bereits aufgezeigt wurde, dass die Übertragung der für Verweisungen auf Rechtsverordnungen entwickelten Maßstäbe auf europarechtsakzessorische Blankettnormen auch aus Sicht der kompetenzwahrenden Funktion nicht zulässig bzw. notwendig ist,299 muss eine Übertragung damit generell abgelehnt werden. Dies führt jedoch nicht dazu, dass im Ergebnis bei eu296
BVerfG NVwZ-RR 2020, 569 (Rn. 75) m. w. N. Siehe Kapitel 2 E. I. 1. 298 Auch hier gibt es – außerhalb des AMG – allerdings Konstruktionen, die eine unklare Globalverweisung enthalten (sog. „Anpassungsmodell“ bzw. § 10 RiFlEtikettG a. F.), siehe Kapitel 2 G. 299 Siehe Kapitel 2 E. II. 297
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roparechtsakzessorischen Blankettnormen möglicherwiese nicht dennoch erhöhte Anforderungen an die Bestimmtheit der nationalen Blankettnorm zu stellen sind. Denn EU-Verordnungen an sich unterliegen nicht dem Art. 103 Abs. 2 GG, sondern den geringeren Anforderungen des gemeinschaftsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatzes. Auch wenn eine nationale Strafnorm auf eine EU-Verordnung verweist, wird teilweise davon ausgegangen, dass Art. 103 Abs. 2 GG auf das in Bezug genommene europäische Recht nicht anwendbar ist.300 Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass bei ausdrücklichen konstitutiven Verweisungen der Inhalt der Ausfüllungsnorm inkorporiert und damit Bestandteil der nationalen Blankettnorm wird. Der Vorrang des Unionsrechts gegenüber dem deutschen Verfassungsrecht gilt hier nicht, soweit die unionsrechtliche Norm in ihrer Funktion als Ausfüllungsnorm zu beurteilen ist. Bei Feststellung der Verfassungswidrigkeit wäre insoweit auch nur die nationale Blankettnorm, nicht jedoch das in Bezug genommene Unionsrecht verfassungswidrig. Der europarechtsakzessorische Gesamttatbestand muss damit am Maßstab des nationalen Bestimmtheitsgebotsgebots gemessen werden.301 Ein strengerer Maßstab an die Formulierung der nationalen Blankettnorm ergibt sich damit zwar nicht schon aufgrund der abstrakten Einordnung eines Straf- oder Ordnungswidrigkeitentatbestandes als europarechtsakzessorisches Blankett. Aus der Tatsache, dass die Blankettnorm und das Ausfüllungsobjekt als Gesamtobjekt dem Art. 103 Abs. 2 GG unterliegen, das gemeinschaftsrechtliche Bestimmtheitsgebot geringere Anforderungen an die Normklarheit vorsieht und das EU-Recht oftmals notwendigerweise aufgrund der fehlenden einheitlichen Rechtssprache sehr weit formuliert ist, um das Anliegen allen Vertragsstaaten klar zu machen,302 folgt aber faktisch im Einzelfall sehr wohl die Notwendigkeit einer präzisen Formulierung der nationalen Blankettnorm. Dies ist jedoch nach der hier vertretenen Ansicht nicht Folge der Übertragung der „Spezifizierungs-Rechtsprechung“ auf europarechtsakzessorische Blankettnormen, sondern die Konsequenzen, die aus der berechtigten Forderung herrührt, dass ein Gesamttatbestand mit sämtlichen Ausfüllungsnormen zu bilden ist, der dann insgesamt an Art. 103 Abs. 2 GG zu messen ist, in Kombination mit der Tatsache, dass das EU-Recht zumeist unbestimmter formuliert ist, als nationale (Sanktions-)Normen. Damit muss insgesamt bei der Frage der Bestimmtheit aus Sicht der verhaltensleitenden Funktion Folgendes gelten: 1. Zunächst muss das strafbare Verhalten aus der Gesamtschau der Blankett- und Ausfüllungsnorm voraussehbar sein. Dies gilt für sämtliche Blanketttypen. Für 300 Zipfel/Rathke/Dannecker, LFGB (Vorauflage) Vorb. § 58 – § 62 Rn. 39; LK-StGB/ Dannecker, (Vorauflage) § 1 Rn. 35 ff.; Graf/Jäger/Wittig/Sackreuther, LFGB Vor §§ 58 – 61 Rn. 23; Enderle, Blankettstrafgesetze, S. 212. 301 Satzger, Europäisierung, S. 237; Krey, EWR 1981, 109 (151 f.); Moll, Europäisches Strafrecht, S. 61 f., 75 f., 141; Ernst, Blankettstrafgesetze, S. 206 ff.; BGH NJW 2010, 2370 (2373). 302 Vgl. Hellmann, in: FS Krey (2010), S. 169 (189).
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europarechtsakzessorische Blankettnormen bedeutet dies in der Regel eine Erhöhung der Anforderungen an die nationale Blankettnorm. 2. Für Verweisungen auf Rechtsverordnungen und Verwaltungsakte gilt, dass das straf- bzw. bußgeldbewehrte Verhalten bereits aus der Blankettnorm oder den in Bezug genommenen förmlichen Gesetzen, also nicht erst aus der Rechtsverordnung, erkennbar sein muss. 3. Ebenfalls für sämtliche Blankettnormen gilt, dass aus der Blankettnorm selbst der Normadressat zumindest durch eine generische Beschreibung der verbotenen Verhaltensweisen in eine gewisse Richtung gelenkt werden muss, sodass jede Blankettnorm, die das verbotene Verhalten in keiner Weise beschreiben, mit dem Bestimmtheitsgrundsatz nicht vereinbar sind. c) Bestimmtheit des Gesamtgefüges Wie bereits dargestellt, wird durch die Bezugnahme auf eine andere Norm der Inhalt dieser Norm inkorporiert. Damit gehört er zum Straf- bzw. Ordnungswidrigkeitentatbestand und unterliegt dem Prüfungsmaßstab des Art. 103 Abs. 2 GG. Aus der Zusammenschau der Ausfüllungsnormen muss sich also das sanktionierte Verhalten für den Normadressaten in zumutbarer Weise erkennen lassen. Problematisch kann dies zum einen sein, wenn aufgrund des Zusammenwirkens der Normen eine strukturelle Komplexität eintritt. Ein weiteres Problem stellt die Bestimmtheit der verwaltungsrechtlichen Normen dar. Hierbei geht es nicht nur um die strukturelle, sondern auch um die terminologische Komplexität. Denn die in Bezug genommen verwaltungsrechtlichen Normen werden vom Gesetzgeber oftmals erlassen, ohne dass sich dieser zu diesem Zeitpunkt bereits bewusst ist, dass die Norm Teil eines Straf- oder Ordnungswidrigkeitentatbestandes wird. Da hinsichtlich der Bestimmtheitsanforderungen an verwaltungsrechtliche Normen geringere Anforderungen zu stellen sind als an Straf- oder Bußgeldnormen, liegt die Problematik der begrifflichen Ungenauigkeit der Ausfüllungsnorm im Rahmen der Beurteilung der Bestimmtheit am Maßstab des Art. 103 Abs. 2 GG auf der Hand. aa) Das Zusammenspiel zwischen Blankettnorm und Ausfüllungsnorm Eine Blankettnorm genügt den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG nicht, wenn aus einer Zusammenschau der Ausfüllungsnormen das strafbare Verhalten nicht ausreichend deutlich erkennbar ist. Das ist der Fall bei § 96 Nr. 18 AMG in Verbindung mit § 59a Abs. 1 und 2 AMG. Nach § 96 Nr. 18 AMG wird bestraft, wer entgegen § 59a Abs. 1 oder 2 AMG303 Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen erwirbt, 303 § 59a AMG lautet: (1) Personen, Betriebe und Einrichtungen, die in § 47 Abs. 1 aufgeführt sind, dürfen Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen, die auf Grund einer Rechtsverordnung nach § 6 bei der Herstellung von Arzneimitteln für Tiere nicht verwendet werden dürfen, zur Herstellung solcher Arznei-
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anbietet, lagert, verpackt, mit sich führt oder in den Verkehr bringt. Die Probleme, die sich für den Normadressaten daraus ergeben, dass damit auf insgesamt drei verschiedene Ermächtigungsnormen für Rechtsverordnungen verwiesen wird, aufgrund derer jeweils mehrere Rechtsverordnungen erlassen wurden, sollen hier außen vor gelassen werden. Jedoch liegt es auf der Hand, dass diese Problematik in Kombination mit derjenigen, die gleich dargestellt wird, die Erfassung des Tatbestandes nochmals erheblich erschwert. Die eigentliche Problematik dieses Tatbestandes entsteht dadurch, dass eine Strafnorm auf eine verwaltungsrechtliche Norm verweist, die eine Vielzahl von Handlungsformen verbietet, sich zudem an zahlreiche verschiedene Adressaten richtet und darüber hinaus unterschiedliche Tatobjekte benennt. Die beiden in Bezug genommenen Absätze des § 59a AMG unterteilen sich in sechs Sätze. Damit beinhaltet das Ausfüllungsobjekt sechs verschiedene Kombinationen, bei denen sich jeweils das Tatsubjekt, das Tatobjekt und die Tathandlung unterscheiden. In der Strafnorm wird versucht, dem mit einer hinsichtlich des Täterkreises und des Tatobjekts offenen Formulierung Rechnung zu tragen. Nur die Handlungsformen werden ausdrücklich aufgelistet. § 59a Abs. 1 S. 1 AMG richtet sich an Personen, Betriebe und Einrichtungen nach § 47 Abs. 1 AMG (der wiederrum zahlreiche Weiterverweisungen enthält). Die verbotenen Handlungsformen stimmen mit denen des § 96 Nr. 18 AMG überein. Tatobjekt sind Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen, die aufgrund einer Rechtsverordnung nach § 6 AMG bei der Herstellung von Arzneimitteln für Tiere nicht verwendet werden dürfen. § 59a Abs. 1 S. 2 AMG richtet sich dann jedoch an den Tierhalter sowie anderen Personen, Betriebe und Einrichtungen, die in § 47 Abs. 1 AMG nicht aufgeführt sind. Verboten ist diesen nur der Erwerb, die Lagerung, das Verpacken und Mitsichführen von den eben beschriebenen Produkten. Damit ist das in der Strafnorm beschriebene „Anbieten“ und „Inverkehrbringen“ für diesen Täterkreis nicht erfasst. § 59a Abs. 2 S. 1 AMG normiert Vorgaben für Tierärzte. Verboten ist ihnen der Bezug von apothekenpflichtigen Stoffen oder Zubereitungen mittel oder zur Anwendung bei Tieren nicht erwerben und für eine solche Herstellung oder Anwendung nicht anbieten, lagern, verpacken, mit sich führen oder in den Verkehr bringen. Tierhalter sowie andere Personen, Betriebe und Einrichtungen, die in § 47 Abs. 1 nicht aufgeführt sind, dürfen solche Stoffe oder Zubereitungen nicht erwerben, lagern, verpacken oder mit sich führen, es sei denn, dass sie für eine durch Rechtsverordnung nach § 6 nicht verbotene Herstellung oder Anwendung bestimmt sind. (2) Tierärzte dürfen Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen, die nicht für den Verkehr außerhalb der Apotheken freigegeben sind, zur Anwendung bei Tieren nur beziehen und solche Stoffe oder Zubereitungen dürfen an Tierärzte nur abgegeben werden, wenn sie als Arzneimittel zugelassen sind oder sie auf Grund des § 21 Abs. 2 Nr. 3 oder 5 oder auf Grund einer Rechtsverordnung nach § 36 ohne Zulassung in den Verkehr gebracht werden dürfen. Tierhalter dürfen sie für eine Anwendung bei Tieren nur erwerben oder lagern, wenn sie von einem Tierarzt als Arzneimittel verschrieben oder durch einen Tierarzt abgegeben worden sind. Andere Personen, Betriebe und Einrichtungen, die in § 47 Abs. 1 nicht aufgeführt sind, dürfen durch Rechtsverordnung nach § 48 bestimmte Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen nicht erwerben, lagern, verpacken, mit sich führen oder in den Verkehr bringen, es sei denn, dass die Stoffe oder Zubereitungen für einen anderen Zweck als zur Anwendung bei Tieren bestimmt sind.
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aus Stoffen, die nicht als Arzneimittel zugelassen sind und auch nicht nach § 21 Abs. 2 Nr. 3 oder 5 AMG oder nach einer Rechtsverordnung nach § 36 AMG verkehrsfähig sind. Die Handlungsform „Beziehen“ wird in der Blankettnorm allerdings nicht erwähnt. Die zweite Alternative des § 59a Abs. 2 S. 1 AMG richtet sich nun, nur schwer erkennbar, an sämtliche Personen. Verboten ist die Abgabe an Tierärzte. Auch die Abgabe ist jedoch in § 96 Nr. 18 AMG nicht genannt. § 59a Abs. 2 S. 2 AMG richtet sich an Tierhalter und bezieht sich lediglich auf den Erwerb und die Lagerung. Zuletzt wendet sich § 59a Abs. 2 S. 3 AMG erneut an andere Personen, Betriebe und Einrichtungen, die in § 47 Abs. 1 nicht aufgeführt sind. Auch hier stimmen die Handlungsformen nicht mit denen des § 96 Nr. 18 AMG überein; das Anbieten ist in der verwaltungsrechtlichen Norm nicht verboten. Insgesamt zeigt sich, dass es dem Gesetzgeber nicht gelungen ist, einen dem Bestimmtheitsgrundsatz entsprechenden Tatbestand zu erstellen. Lediglich § 59a Abs. 1 S. 1 AMG stimmt mit den Handlungsformen der Strafnorm überein. Im Übrigen sind die Handlungsformen zwischen der Strafnorm und der verwaltungsrechtlichen Norm nicht kongruent. Sämtliche Sätze des § 59a AMG beziehen sich auf andere – in Rechtsverordnungen genannte – Stoffe. Zudem variiert der Täterkreis. Hier wird deutlich, dass die Erkennbarkeit des strafbaren Verhaltens für den Normadressaten erheblich erschwert wird, wenn die Blankettnorm und das jeweilige Ausfüllungsobjekt nicht korrekt angepasst sind. Wie bereits dargestellt, ist das AMG teilweise mit redaktionellen Fehlern in der Form behaftet, dass auf nicht existierende oder falsche Normen verwiesen wird.304 Darüber hinaus existieren im AMG – wie eben am Beispiel des § 96 Nr. 18 AMG verdeutlicht – auch Strafnormen, die zumindest eine gewisse Inkongruenz zwischen der Blankettnorm und der Ausfüllungsnorm aufweisen, die dadurch entsteht, dass die Handlungsformen nicht übereinstimmen. Besonders problematisch ist dies, wenn nach dem Wortlaut der Norm die Strafbarkeit durch eine inkongruente Benennung von Handlungsformen weiter reichen würde als das verwaltungsrechtlich Verbot. Zu nennen ist hier zunächst § 95 Abs. 1 Nr. 4 AMG.305 Die Strafnorm nimmt mehrere verwaltungsrechtliche Verhaltensnormen in Bezug (§ 43 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 und Abs. 3 S. 1 AMG). Als Handlungsform ist unter anderem die Abgabe genannt. Würde man dem Wortlaut entsprechend die Abgabe auf sämtliche Ausfüllungsnormen anwenden, würde dies zu einer Inkongruenz führen, da § 43 Abs. 1 S. 2 AMG diese Handlungsform nicht verbieten. Die Rechtsprechung legt den Tatbestand infolgedessen dahingehend aus, dass die Handlungsform der Abgabe nur auf den § 43 Abs. 2 und 3 AMG anzuwenden sei.306 Zwar kann durch eine solche Auslegung die Kongruenz zwischen der Blankettnorm und der Ausfüllungsnorm wiederhergestellt werden. Setzt man jedoch den oben dargestellten Maßstab streng um, ist zu konstatieren, dass die sich hier ergebene Auslegungsbedürftigkeit, die nicht etwa Folge der Verwendung eines 304 305 306
Siehe Kapitel 2 F. II. 1. b) aa). Ein vergleichbares Problem besteht auch bei § 97 Abs. 2 Nr. 10 AMG. BGH NStZ 2004, 457 (458); OLG Stuttgart NStZ-RR 2012, 154 (154).
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unbestimmten Rechtsbegriffs, sondern einer nicht präzisen Verweisungsstruktur ist, zur Unbestimmtheit der Norm führt. Die dargestellten Beispiele (§ 95 Abs. 1 Nr. 4 AMG und § 96 Nr. 18 AMG) haben verdeutlicht, dass das Problem der Inkongruenz zwischen Blankett- und Ausfüllungsnorm oftmals dort entsteht, wo der Gesetzgeber versucht, mithilfe nur einer Blankettnorm verschiedene verwaltungsrechtliche Verhaltensnormen zusammenzufassen. Ein weiterer Fall der Inkongruenz zwischen Blankett- und Ausfüllungsnorm ist zu beobachten, wenn eine Straf- oder Bußgeldvorschrift lediglich auf einen bestimmten Absatz oder Satz einer verwaltungsrechtlichen Norm verweist, ein nicht in Bezug genommener Absatz oder Satz der Ausfüllungsnorm jedoch die für den Straf- oder Ordnunsgwidrigkeiten konstitutive verwaltungsrechtliche Verhaltensnorm in gewissen Konstellationen für nicht anwendbar erklärt. Bezieht man hier nur die konkret genannte Ausfüllungsnorm in den Straf- oder Ordnungswidrigkeitentatbestand ein, ohne die einschränkende verwaltungsrechtliche Norm zu berücksichtigen, führt auch dies zu einem Tatbestand, der im Ergebnis weiter reicht als das verwaltungsrechtliche Verbot. Zu beobachten ist dies unter anderem bei § 96 Nr. 16 AMG.307 Die Norm verweist auf § 57 Abs. 1a S. 1 AMG. Diese Verhaltensnorm wird allerdings durch den sich anschließenden Satz 2 des § 57 Abs. 1 AMG in gewissen Konstellationen – teilweise durch einen Weiterverweis auf eine EU-Richtlinie – eingeschränkt. Es stellt sich also die Frage, wie die ausdrückliche Nichtbenennung dieser Norm in der Blankettnorm zu bewerten ist. Aus verwaltungsrechtlicher Sicht ist eindeutig geregelt, dass die von der Blankettvorschrift benannte Norm in bestimmten Fällen nicht zur Anwendung kommt. Unter Berücksichtigung dieser eindeutigen Regelung und der Tatsache, dass das strafrechtlich sanktionierte Verhalten nicht weiter gehen darf als das verwaltungsrechtlich Verbot, muss man davon ausgehen, dass die den Tatbestand einschränkende Norm auch aus strafrechtlicher Sicht zu berücksichtigen ist. Auf der anderen Seite stellt sich dann die Frage, warum der Gesetzgeber, indem er gerade nur den Satz 1 in Bezug nimmt, die einschränkende Norm ausdrücklich ausklammert. Auch die Systematik des Gesetzes lässt keinen klaren Schluss zu. Denn an anderer Stelle des AMG werden die das verwaltungsrechtliche Gebot einschränkenden Normen ausdrücklich von der Blankettnorm mit in Bezug genommen. So wird in § 96 Nr. 18c AMG ausdrücklich auf § 72a Abs. 1d AMG verwiesen, der den von § 96 Nr. 18c AMG in Bezug genommenen § 72a Abs. 1 S. 1 AMG einschränkt. Letztlich muss hier schon die Tatsache, dass die Verweisungstechnik in diesem Bereich nicht eindeutig und damit auslegbar ist, zur Unbestimmtheit der Strafvorschrift führen. Betrachtet man die Strafnorm des § 96 Nr. 4 AMG, die das Herstellen eines Arzneimittels ohne Erlaubnis sanktioniert, wird ein weiteres Problem erkennbar. Neben der Tatsache, dass auch hier nur auf § 13 Abs. 1 S. 1 AMG verwiesen wird und 307 Das gleiche Problem besteht bei § 96 Nr. 17 i. V. m. § 59 Abs. 2 S. 1 AMG. Auf die den § 59 Abs. 2 S. 1 AMG einschränkenden Sätze 2 und 3 des § 59 Abs. 2 AMG wird nicht verwiesen.
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somit die diese Norm einschränkenden Regelungen in § 13 Abs. 1a und 2 AMG nicht benannt werden, kommt hier erschwerend hinzu, dass die Erkennbarkeit des strafbaren Verhaltens extrem unter der komplizierten Struktur des § 13 AMG leidet. Denn diese enthält in Abs. 1 eine Regel, in Abs. 1a, 2 und 2b eine Ausnahme von dieser Regel, in Abs. 2a S. 1 eine Rückausnahme und in Abs. 2a S. 2 eine Rückausnahme von der Rückausnahme. Innerhalb dieser Regelung wird dann noch auf europäisches Recht verwiesen (§ 13 Abs. 2 Nr. 3 lit. c AMG). Eine solche Struktur mag aus verwaltungsrechtlicher Sicht noch hinnehmbar sein. Den strengen Anforderungen des strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatzes genügt sie hingegen nicht. Die Norm ist damit – auch unter Berücksichtigung der Weite des Herstellungsbegriffs – verfassungswidrig. bb) Begriffliche Komplexität Die Komplexität der Blankettnormen des AMG erhöht sich zudem durch die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe. So enthalten die meisten Straf- und Ordnungswidrigkeitentatbestände den in § 2 AMG legaldefinierten Arzneimittelbegriff. Sowohl der Wortlaut dieser intensionalen Begriffsbestimmung als auch die zahlreichen in der Gesamtheit nicht mehr überschaubaren und widersprüchlichen Urteile zur Auslegung des Begriffs erschweren dem Normadressaten – wie in Kapitel 1 aufgezeigt – zusätzlich den Rechtsfindungsakt. Ähnlich wie auch die Verwendung mehrerer unbestimmter Rechtsbegriffe in einem Tatbestand unter Bestimmtheitsaspekten mit Skepsis betrachtet wird,308 gilt dies in gleichem Maße bei der Kombination von unbestimmten Rechtsbegriffen mit Verweisungstechniken. Die Kombination zweier unter Bestimmtheitsgesichtspunkten problematischer Instrumentarien führt immer auch zu einem im Ergebnis unbestimmteren Tatbestand. In dieser Hinsicht ist auch die weite Auslegung der Begriffe „Herstellen“, „Inverkehrbringen“ und „Handeltreiben“ problematisch. Während für das Herstellen und Inverkehrbringen zumindest auf die einigermaßen klar formulierten Definitionen (§ 4 Abs. 14 und 16 AMG) zurückgegriffen werden kann, ist der Begriff des Handeltreibens nicht definiert. Unter Berücksichtigung der durch die Rechtsprechung praktizierten sehr weiten Auslegung dieses Begriffs werden auch hier erhebliche Bedenken mit dem Bestimmtheitsgrundsatz geäußert.309 Das gleiche gilt auch für die in § 48 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AMG gewählte Formulierung, aus der sich die Verschreibungspflicht für Stoffe mit in der medizinischen Wissenschaft nicht allgemein bekannten Wirkungen ergibt. Diese Formulierung ist für die Straftatbestände des AMG von erheblicher Bedeutung. § 48 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AMG wird von § 96 Nr. 13 AMG ausdrücklich in Bezug genommen. Zudem begründet die Einstufung eines Produkts als verschreibungspflichtig auch in zahlreichen weiteren Fällen die Strafbarkeit.310 Aus Sicht des Bestimmtheitsgrundsatzes ist damit ein generelles Problem der 308 309 310
MK-StGB/Schmitz, § 1 Rn. 55. Weber, BtMG § 29 Rn. 203 ff. (m. w. N.); dazu BVerfG NJW 2007, 1193 ff. Siehe z. B. § 95 Abs. 1 Nr. 4, 5, 9, 10 AMG.
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Straftatbestände des AMG ausgemacht. Neben der Problematik der Verwendung von Blankettnormen führt zusätzlich die breite Verwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen zur Verschärfung der Bestimmtheitsproblematik.311 3. Rechtssystematische Entfernung der Ausfüllungsnorm Ein weiterer Punkt, der sich negativ auf die Vorhersehbarkeit des straf- bzw. bußgeldbewehrten Verhaltens auswirken könnte, ist die rechtssystematische Entfernung zwischen der Blankett- und der Ausfüllungsnorm. Dies gilt im besonderen Maße für Verweisungen auf das EU-Recht. In der Literatur wird darauf verweisen, dass solche Verweisungen zur „Normambivalenz“ und damit zu Unsicherheiten hinsichtlich der Frage, welcher Auslegungsmaßstab anzuwenden ist, führen könnten. Denn es bestehe das Problem, dass bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe ein Konflikt zwischen der durch die Blankettgesetzgebungstechnik bedingten restriktiven Auslegung und dem Bestreben einer europarechtskonformen Auslegung entstehe.312 Nimmt man diese Unsicherheit als Argument für die Unzulässigkeit von Verweisungen auf EU-Normen, so muss dem jedoch entgegengehalten werden, dass das beschriebene Problem nicht nur den europarechtsakzessorischen, sondern den meisten Blankettnormen des AMG immanent ist. Denn fast alle nationalen Verhaltensnormen des AMG, auf die die Straf- und Bußgeldtatbestände verweisen, sind europarechtlich geprägt, da sie der Umsetzung verschiedener EU-Richtlinien dienen. Damit müssen mittelbar die deutschen Straftatbestände europarechtskonform ausgelegt werden,313 was generell zu einem Konflikt mit dem Bestimmtheitsgrundsatz führen kann.314 Dieses Problem ließe sich damit allenfalls als Argument gegen die Blankettgesetzgebungstechnik generell verwenden. Es ist dahingegen jedoch ungeeignet, die Verweise auf das EU-Recht im Speziellen für unzulässig zu erklären.
G. Entwicklungen in der neueren Rechtsprechung und deren Auswirkungen auf die Straftatbestände des AMG Wie bereits angekündigt, soll an dieser Stelle ein vertiefter Blick auf zwei Entscheidungen des BVerfG aus den letzten fünf Jahren zur Frage der Bestimmtheit von Blankettnormen außerhalb des AMG geworfen werden. Losgelöst von der zuvor erfolgten strikten Trennung zwischen der kompetenzwahrenden und der verhaltensleitenden Funktion sollen anhand dieser Entscheidungen die zuvor erzielten Erkenntnisse hinterfragt und analysiert werden. Dies soll dazu dienen, die erlangten 311
Vgl. Deutsch/Lippert/Tag, § 95 Rn. 5. Nestler, NStZ 2012, 672 (672). 313 Vgl. Satzger, Europäisierung, S. 586; Schuster, Strafnormen und Bezugsnormen, S. 345. 314 Im Ergebnis kann dies dazu führen, dass eine europarechtskonforme Auslegung aufgrund des entgegenstehenden Wortlautes nicht möglich ist. 312
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Ergebnisse unter Berücksichtigung der jüngeren Rechtsprechung des BVerfG zu hinterfragen und zudem Rückschlüsse auf die im AMG verwendeten Verweisungskonstruktionen zu ziehen.
I. BVerfG, Beschluss vom 21. 09. 2016 – 2 BvL 1/15 In einer neueren Entscheidung vom 21. 09. 2016 hat das BVerfG § 10 Abs. 1 und 3 Rindfleischetikettierungsgesetz a. F. (RiFlEtikettG a. F.)315 wegen Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 2 i. V. m. 104 Abs. 1 S. 1 GG und Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG für verfassungswidrig erklärt.316 Die Norm enthält in Abs. 1 i. V. m. § 1 Abs. 1 einen Verweis auf „unmittelbar geltende Vorschrift in Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaft oder der Europäischen Union über die Etikettierung von Rindfleisch und Rindfleischerzeugnissen“ und in Absatz 3 die Ermächtigung an den Verordnungsgeber, durch eine Rückverweisungsklausel festzulegen, welche Vorschriften aus diesen Rechtsakten nach § 10 Abs. 1 RiFlEtikettG a. F. strafbar sein sollen. Diese Kombination aus dynamischem Verweis auf das Gemeinschaftsrecht einerseits und einem Verweis auf eine Rechtsverordnung mit Rückverweisungsklausel andererseits hielt der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit durch das BVerfG nicht stand. Zunächst stellte das BVerfG klar, dass die unionsrechtlich determinierte Norm am Maßstab des Grundgesetzes und nicht etwa ausschließlich am Maßstab des Unionsrechtes zu prüfen sei. Anschließend wird in dem Beschluss unter Bezugnahme auf die Aussagen der ständigen Rechtsprechung der Bestimmtheitsgrundsatz dargestellt. Hierbei wird sowohl auf die verhaltensleitende als auch auf die kompetenzwahrende Funktion hingewiesen und auch die bereits beschriebenen Relativierungen des Bestimmtheitsgrundsatzes dargestellt, um anschließend – wiederrum unter Hinweis auf die ständige Rechtsprechung des BVerfG – die Zulässigkeit von Verweisungen im Allgemeinen und solche auf Rechtsverordnungen im Speziellen zu begründen. Das BVerfG betont insoweit, dass dynamische Außenverweisungen nicht schlechthin 315
§ 10 RiFlEtikettG a. F. lautet: „(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer einer unmittelbar geltenden Vorschrift in Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaft oder der Europäischen Union im Anwendungsbereich des § 1 Abs. 1 zuwiderhandelt, soweit eine Rechtsverordnung nach Absatz 3 für einen bestimmten Tatbestand auf diese Strafvorschrift verweist. (2) Der Versuch ist strafbar. (3) Das Bundesministerium wird ermächtigt, soweit es zur Durchsetzung der Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft oder der Europäischen Union erforderlich ist, durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates die Tatbestände zu bezeichnen, die als Straftat nach Absatz 1 zu ahnden sind.“ § 1 Abs. 1 RiFlEtikettG a. F. lautet: „Dieses Gesetz dient der Durchführung der Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft oder der Europäischen Union über die Etikettierung von Rindfleisch und Rindfleischerzeugnissen sowie über die Verkehrsbezeichnung und Kennzeichnung von Fleisch von weniger als zwölf Monate alten Rindern.“ 316 BVerfG NJW 2016, 3648.
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ausgeschlossen seien. Nachdem die Voraussetzungen für Verweisungen auf Rechtsverordnungen dargestellt werden, stellt das BVerfG klar, dass diese Anforderungen auf Fälle zu übertragen seien, in denen Blankettstrafgesetze auf das Unionsrecht verweisen. Die eigentliche Prüfung der Vereinbarkeit des § 10 Abs. 1 RiFlEtikettG a. F. mit Art. 103 Abs. 2 GG fällt dann sehr knapp aus.317 Das BVerfG moniert, dass sich aufgrund des nicht weiter konkretisierten Verweises auf „Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft oder der Europäischen Union“ aus § 10 Abs. 1 RiFlEtikettG a. F. auch in Verbindung mit § 1 Abs. 1 RiFlEtikettG a. F. nicht hinreichend erkennen lasse, welche Verstöße gegen das Unionsrecht sanktioniert werden sollen. Zudem entscheide durch § 10 Abs. 3 RiFlEtikettG a. F., der lediglich darauf abstellt, dass der Erlass der Rechtsverordnung zur Durchsetzung der Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft oder der Europäischen Union erforderlich sein müsse, letztlich der Verordnungsgeber darüber, welches Verhalten strafbar sein soll. Damit liege eine unzulässige „pauschale Blankoermächtigung“ vor.318 Im Anschluss daran begründet das BVerfG deutlich ausführlicher als im Rahmen der Prüfung der Vereinbarkeit mit Art. 103 Abs. 2 und 104 Abs. 1 S. 1 GG, warum § 10 Abs. 3 RiFlEtikettG a. F. auch nach Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG unzulässig sei. Auch im Rahmen dieser Prüfung wird § 10 Abs. 3 RiFlEtikettG a. F. als „pauschale Blankoermächtigung“ bezeichnet, da sie zu Zweck und Ausmaß der Ermächtigung nur festlege, dass die Bezeichnung der Tatbestände der „Durchsetzung der Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft“ dienen und erforderlich sein müssen. Damit fehle es an einer gesetzgeberischen Entscheidung zu Inhalt und Programm der zu erlassenden Rechtsverordnung, weshalb der Verordnungsgeber in seiner Entscheidung, welche Verstöße gegen das in Bezug genommene Gemeinschaftsrecht strafrechtlich sanktioniert werden sollen, völlig frei sei. Auch das Heranziehen von § 10 Abs. 1 RiFlEtikettG a. F. helfe nicht weiter, da diese Norm lediglich das Strafmaß festlege, inhaltlich aber nur auf eine unmittelbar geltende Vorschrift in Rechtsakten der Europäischen Union im Anwendungsbereich des § 1 Abs. 1 RiFlEtikettG a. F., also auf Rechtsakte über die Etikettierung von Rindfleisch und Rindfleischerzeugnissen sowie über die Verkehrsbezeichnung und Kennzeichnung von Fleisch von bis zu zwölf Monate alten Rindern, verweise.
II. Bewertung 1. Vergleichbare Verweisungskonstruktionen im AMG? Es stellt sich nun die Frage, welche Schlüsse aus dieser Entwicklung in der Rechtsprechung für Straf- und Bußgeldvorschriften im AMG gezogen werden können. Zunächst kann festgestellt werden, dass eine Konstruktion wie in § 10 Abs. 1 317 318
BVerfG NJW 2016, 3648 (3651). BVerfG NJW 2016, 3648 (3651).
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Kap. 2: Die Blankettgesetzgebungstechnik des AMG
und 3 RiFlEtikettG a. F. (Kombination aus einer offenen, dynamischen Verweisung auf EU-Verordnungen und einer Verweisung auf eine Rechtsverordnung mit Rückverweisungsklausel) im AMG nicht anzutreffen ist. Die Ausführungen des BVerfG sind jedoch auf andere Verweisungskonstruktionen übertragbar. Wenn das BVerfG ausführt, § 10 Abs. 1 RiFlEtikettG a. F. i. V. m. § 1 Abs. 1 RiFlEtikettG a. F. lasse nicht hinreichend klar erkennen, welche Verstöße gegen unionsrechtliche Vorgaben sanktioniert werden sollen, moniert es damit auch einen Verstoß gegen die verhaltensleitende Funktion. Anders als bei anderen dynamischen Verweisungen auf Normen des EU-Rechts werden diese in § 10 Abs. 1 RiFlEtikettG a. F. nicht durch ausdrückliche Benennung in Bezug genommen. Da das BVerfG in dem hier erörterten Beschluss an seinem Standpunkt festhält, dynamische Verweisungen auf das Unionsrecht seien grundsätzlich zulässig und das Gericht bislang anders konstruierte Verweisungen auf das Unionsrecht nicht bemängelt hat, kann sich die Unvereinbarkeit des Verweises auf „unmittelbar geltenden Vorschrift in Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaft oder der Europäischen Union“ mit Art. 103 Abs. 2 GG aus Sicht der verhaltensleitenden Funktion nur daraus ergeben, dass die in Bezug genommen EU-Normen nicht genauer bezeichnet werden.319 Damit sind in jedem Fall auch – wie hier unabhängig vom Beschluss des BVerfG vom 21. 09. 2016 bereits festgestellt – dynamische Verweisungen auf EU-Verordnungen in Form des sog. Anpassungsmodells unzulässig.320 Auch diese existieren jedoch nicht im AMG. 2. Unzulässigkeit von Rückverweisungsklauseln? Fraglich ist jedoch, ob den Ausführungen des BVerfG entnommen werden kann, dass auch das Gericht Verweisungen auf Rechtsverordnungen mit Rückverweisungsklauseln wegen Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 2 GG aus Sicht der kompe-
319 Dem Beschluss des BVerfG ist jedoch nicht zu entnehmen, ob diese fehlende Bezeichnung des relevanten Unionsrechts durch eine präzisere Formulierung des strafbaren Verhaltens in einem formellen Gesetz ausgeglichen werden kann. Siehe dazu BVerfG NVwZRR 2020, 569; Kapitel 2 G. III. 320 Die Ausführungen des BVerfG lassen nicht eindeutig erkennen, ob es § 10 Abs. 1 RiFlEtikettG a. F. für sich genommen schon mit Art. 103 Abs. 2 aus Sicht der freiheitsgewährleistenden Funktion für unvereinbar hält oder (in Kombination mit) § 10 Abs. 3 RiFlEtikettG a. F. ausschließlich einen Verstoß gegen die verfassungsrechtliche Kompetenzverteilung vorliegen soll. Mit der Begründung, dass beim sog. Anpassungsmodell nicht wie bei § 10 RiFlEtikettG a. F. eine Kombination aus dynamischem Verweis auf das EU-Recht und Verweis auf eine Rechtsverordnung vorliegt, ist nicht auszuschließen, dass das Anpassungsmodell – auch nach dem Beschluss des BVerfG vom 21. 09. 2016 – vom BVerfG für zulässig gehalten wird. Dies überzeugt jedoch nicht, da die Vorhersehbarkeit des strafbaren Verhaltens im Fall des § 10 Abs. 1 RiFlEtikettG a. F. schon an der Auffindbarkeit der in den EURechtsakten normierten verwaltungsrechtlichen Ge- oder Verbote scheitert. In diese Richtungen gehen auch die – nicht ganz eindeutigen – Ausführungen des BVerfG. Denn es prüft (a. a. O., Rn. 51) zunächst § 10 Abs. 1 RiFlEtikettG a. F. unabhängig von § 10 Abs. 3 RiFlEtikettG a. F. und kommt zu dem Ergebnis der fehlenden Erkennbarkeit bereits an dieser Stelle.
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tenzwahrende Funktion für unzulässig hält.321 Zunächst kann festgestellt werden, dass sich das BVerfG in dieser Entscheidung nicht ausdrücklich mit der in der Literatur thematisierten Problematik der Rückverweisungsklauseln beschäftigt hat,322 obwohl § 10 Abs. 1 RiFlEtikettG a. F. eine solche enthält. Infolge der Entscheidung des BVerfG wird in der Literatur allerdings nochmals mit Nachdruck gefordert, Rückverweisungsklauseln insgesamt abzuschaffen.323 Auch der Gesetzgeber interpretiert die Entscheidung des BVerfG in diese Richtung, wie er durch die von ihm beschlossene Neufassung der §§ 95 Abs. 1 Nr. 2 und 96 Nr. 1 i. V. m. § 6 AMG zum Ausdruck gebracht hat.324 Nicht verändert wurde hingegen § 97 Abs. 2 Nr. 31 AMG, der ebenfalls eine Rückverweisungsklausel enthält. Da das BVerfG die Frage der Anwendbarkeit der von ihm aufgestellten Kriterien auf Ordnungswidrigkeit in dieser Entscheidung ausdrücklich offengelassen hat, sah der Gesetzgeber hier offensichtlich keinen Reformbedarf, was – unter Berücksichtigung der Tatsache, dass bei vergleichbaren Bußgeldvorschriften an anderer Stelle unter Hinweis auf dieselbe Entscheidung des BVerfG die Rückverweisungsklauseln abgeschafft (§ 194 Abs. 1 Nr. 1 Strahlenschutzgesetz325) oder gar die Norm komplett aufgehoben wurden (§ 32 Abs. 2 Nr. 3 Transfusionsgesetz326) – nicht konsequent und widersprüchlich ist. Dass Rückverweisungsklauseln – sowohl im Rahmen von Straf- als auch im Rahmen von Bußgeldnormen – mit Art. 103 Abs. 2 GG nicht vereinbar sind, wurde bereits dargestellt. Bei der Frage, welche Auswirkung die Entscheidung des BVerfG vom 21. 09. 2016 generell auf Rückverweisungsklauseln hat, sind jedoch zwei Aspekte zu berücksichtigen. Zum einen lässt sich das BVerfG eine Hintertür offen, indem es durch seine Formulierung den Einzelfallcharakter der Entscheidung hervorhebt. Denn das BVerfG trennt nicht klar zwischen der Einstufung des § 10 Abs. 3 RiFlEtikettG a. F. als „unzulässigen Pauschalermächtigung“ einerseits und der Begründung, dass § 10 Abs. 1 RiFlEtikettG a. F. die Ge- und Verbote nicht hinreichend erkennen lasse. Damit erweckt es den Eindruck, bei einer klareren Bezeichnung der 321 Oder zumindest wegen Verstoßes gegen Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG. Wie bereits dargestellt, äußert sich das BVerfG nicht eindeutig zu den jeweiligen Prüfungsmaßstäben. 322 Vgl. Cornelius, NStZ 2017, 682 (688); Sinn, ZJS 2018, 381 (384 f.). 323 Vgl. Bülte, BB 2016, 3075 (3080); Freund/Rostalski, GA 2016, 443 (447 ff.); Hecker, NJW 2016, 3653 ff.; ders., JuS 2017, 79 (80); Schmitz, wistra 2017, 455 f.; Honstetter, NZWiSt 2017, 325 (328); Martell/Wallau, ZLR 2017, 67 (70 f.); dies., LMuR 2017, 118 (119); Jahn/ Brodowski, ZStW 129 (2017), 363 (374 f.); Sauer, Die Verwaltung 50 (2017), 339 (349); Kempf, AnwBl. 2017, 34 (35); Hoven, NStZ 2016, 377 (381); Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 9 Rn. 81; Sinn, ZJS 2018, 381 (385); vgl. auch KG Berlin BeckRS 2017, 136822; a. A. Cornelius, NStZ 2017, 682 ff., der bei Rückverweisungsklauseln keine über die bei „normalen“ Verweisen auf Rechtsverordnungen hinausgehenden Probleme erkennt und das Urteil des BVerfG vom 21. 09. 2016 daher in erster Linie unter dem Gesichtspunkt der dynamischen Verweisung auf EU-Verordnungen diskutiert. 324 In der Gesetzesbegründung wird insoweit ausdrücklich auf die Entscheidung des BVerfG vom 21. 09. 2016 Bezug genommen, vgl. BT-Drucks. 19/8753, S. 1 ff. 325 BT-Drucks. 19/8753, S. 55. 326 BT-Drucks. 18/11622, S. 28.
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Verhaltensnormen läge möglicherweise kein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG vor.327 Zu berücksichtigen ist zudem, dass die in § 10 Abs. 1 und 3 RiFlEtikettG a. F. gewählte Verweisungsstruktur von denjenigen der „klassischen“ Rückverweisungsklauseln im Nebenstrafrecht und im AMG328 abweicht. Denn § 10 RiFlEtikettG a. F. kombiniert – anders als die Normen mit Rückverweisungsklauseln im AMG bzw. die „klassischen“ Rückverweisungsklauseln – zwei unter dem Aspekt der kompetenzwahrenden Funktion schon für sich genommen problematische Verweisungsmethoden. Er enthält zwecks Festlegung der verwaltungsrechtlichen Ge- und Verbote eine dynamische Verweisung auf EU-Verordnungen und zudem zwecks Festlegung der Strafbarkeit eine dynamische Verweisung auf eine Rechtsverordnung mit Rückverweisungsklausel. Dies hat zur Folge, dass der Verordnungsgeber im Fall des § 10 Abs. 1 RiFlEtikettG a. F. – anders als beispielsweise im Rahmen des § 97 Abs. 2 Nr. 31 AMG oder § 95 Abs. 1 Nr. 2 und § 96 Nr. 2 AMG a. F. – isoliert über die Frage der Strafbarkeit von bereits bestehenden verwaltungsrechtlichen Ge- und Verboten in den jeweiligen EU-Verordnungen entscheidet. Eingefügt in das Gesamtgefüge „Bezugnahme auf Rechtsverordnungen unter dem Aspekt der kompetenzwahrenden Funktion des Art. 103 Abs. 2 GG“ ergeben sich damit drei unterschiedliche Stufen.329 Bei einfachen Verweisungen auf Rechtsverordnungen (Stufe 1) entscheidet der Verordnungsgeber darüber, ob er verwaltungsrechtliche Geoder Verbote erlässt, deren Zuwiderhandeln dann – im Falle des Erlasses der Rechtsverordnung – einen Straftatbestand erfüllen würde. Es steht also der Erlass von Ge- oder Verboten im Vordergrund. Die Entscheidung über die Strafbarkeit ist ein Annex zur Schaffung der verwaltungsrechtlichen Ge- und Verbote. Bei Verweisen auf Rechtsverordnungen mit Rückverweisungsklauseln, wie sie im AMG anzutreffen sind (Stufe 2), entscheidet der Verordnungsgeber sowohl über den Erlass von verwaltungsrechtlichen Ge- und Verboten als auch über deren Strafrechtsrelevanz. Er kann dies isoliert voneinander tun, indem er verwaltungsrechtliche Ge- und Verbote schafft, ohne eine Strafbarkeit festzulegen. Bei Verweisen wie in § 10 RiFlEtikettG a. F. – nennen wir sie offene europarechtsakzessorische Verweisungen auf Rechtsverordnungen mit Rückverweisungsklausel – (Stufe 3) entscheidet der Verordnungsgeber ausschließlich isoliert über die Strafbarkeit, ohne verwaltungsrechtliche Ge- oder Verbote auszusprechen. Diese existieren bereits in den jeweiligen EU-Verordnungen. Der Verordnungsgeber dient also nicht dazu, bei der Erstellung von Ge- und Verboten mitzuwirken, er dient schlicht dazu (zeitlich unbegrenzt) zu entscheiden, welche Handlungen strafbar sein sollen. Zwar wird sein verwaltungsrechtlicher Entscheidungsspielraum durch die bereits bestehenden Ge- und Verbote beschränkt bzw. existiert nicht. Sein strafrechtlicher Entscheidungsspielraum ist 327 In diese Richtung auch Brand/Kratzer, JR 2018, 422 (431). Dieser Eindruck hat sich in der Entscheidung des BVerfG vom 22. 03. 2020 – dazu sogleich in Kapitel 2 G. III. – bestätigt. 328 Beispiele aus dem AMG: § 95 Abs. 1 Nr. 2, § 96 Nr. 2 a. F. und § 97 Nr. 31 AMG. 329 Der Entscheidungsspielraum des Verordnungsgebers bestimmt sich also nicht nur danach, wie präzise der Gesetzgeber in der Ermächtigungsnorm den Handlungsrahmen festlegt. Unabhängig davon ist auch die gewählte Verweisungsstruktur relevant.
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insoweit jedoch unbegrenzt.330 Wie bereits dargestellt, muss hier die Grenze der Zulässigkeit aus Sicht der kompetenzwahrenden Funktion – unabhängig von der Frage, wie präzise der Gesetzgeber den Entscheidungsspielraum des Verordnungsgebers durch eine inhaltliche Beschreibung des Handlungsrahmens benennt (dazu sogleich) – zwischen der Stufe 1 und 2 gezogen werden. Die soeben aufgezeigten Unterschiede zwischen den klassischen Verweisungen auf Rechtsverordnungen mit Rückverweisungsklauseln und der des § 10 Abs. 1 RiFlEtikettG a. F. könnten dem BVerfG jedoch als Argument dienen, Verweisungen auf Rechtsverordnungen mit Rückverweisungsklauseln, wie sie im AMG anzutreffen sind, nicht per se als unzulässig zu bewerten. Dies würde auch begründen, warum das BVerfG in der Entscheidung zu § 10 RiFlEtikettG a. F. die Thematik „Rückverweisungsklausel“ nicht gesondert angesprochen hat. 3. Unzulässigkeit von einfachen Verweisungen auf Rechtsverordnungen? Die Entscheidung des BVerfG hat jedoch nicht nur Auswirkungen auf Verweisungen auf Rechtsverordnungen mit Rückverweisungsklauseln, sondern auch auf die Bewertung von einfachen Verweisungen auf Rechtsverordnungen. Zu unterscheiden ist hier jedoch wieder einmal zwischen der kompetenzwahrenden und der verhaltensleitenden Funktion des Art. 103 Abs. 2 GG. Dass das BVerfG die Verweisungskonstruktion in § 10 Abs. 1 und 3 RiFlEtikettG a. F. aus kompetenzwahrender Sicht bemängelt, überrascht nicht, sodass die Entscheidung in diesem Bereich keine Neuerungen enthält, die auf Verweisungen auf Rechtsverordnungen ohne Rückverweisungsklauseln übertragen werden könnten. Denn selbst unter Zugrundelegung der durch die ständige Rechtsprechung aufgestellten Zulässigkeitsvoraussetzungen solcher Verweise ist die Konstruktion als unzulässig zu bewerten.331 So hat das BVerfG bereits vor dieser Entscheidung ausgeführt, dass es ausreichend, aber auch erforderlich sei, dass der Gesetzgeber die Verbotsmaterie jedenfalls „in ihren Grundzügen“ festlege,332 wenn das Blankettstrafgesetz die tatbestandsmäßige Handlung und den Taterfolg in einer allgemeinverständlichen, einer Parallelwertung in der Laiensphäre zugänglichen Weise beschreibe.333 Es sei erforderlich, aber auch ausreichend, wenn der Gesetzgeber das geschützte Rechtsgut darstelle, einen bestimmten Unrechtstyp erkennen lasse und damit eine normative Wertbestimmung vornehme.334 Hierfür sei aber eine Umschreibung des strafrechtlich relevanten Verhaltens erforderlich.335 Im Parlamentsgesetz müsse eine konkrete Verhaltens330 Zur notwendigen Trennung zwischen der Möglichkeit der Konkretisierung einer Verhaltensnorm und der Schaffung einer Sanktionsnorm vgl. auch MK-Nebenstrafrecht/Freund, AMG Vorb. § 95 Rn. 56 ff. 331 So auch Brand/Kratzer, JR 2018, 422 (427). 332 BVerfG NJW 1989, 1663 (1663). 333 BVerfG wistra 2010, 396 (404). 334 BVerfG wistra 2010, 396 (404). 335 BVerfG wistra 2010, 396 (404).
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Kap. 2: Die Blankettgesetzgebungstechnik des AMG
beschreibung und nicht die Beschreibung einer abstrakten Pflicht erfolgen.336 Diese Vorgaben wurden in § 10 Abs. 1 und 3 RiFlEtikettG a. F. nicht eingehalten. Der Gesetzgeber hat durch die Formulierung in § 10 Abs. 3 RiFlEtikettG a. F. („soweit es zur Durchsetzung der Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft oder der Europäischen Union erforderlich ist“) dem Verordnungsgeber einen weiten Spielraum eingeräumt. Dieser Spielraum wurde auch nicht durch die Beschreibung des generellen Regelungsbereichs der relevanten EU-Verordnungen in § 1 Abs. 1 RiFlEtikettG a. F., auf den § 10 Abs. 1 RiFlEtikettG a. F. verwies („Etikettierung von Rindfleisch und Rindfleischerzeugnissen sowie über die Verkehrsbezeichnung und Kennzeichnung von Fleisch von weniger als zwölf Monate alten Rindern“), ausreichend begrenzt.337 Damit kann nicht von einer Festlegung der wesentlichen Voraussetzung der Strafbarkeit im förmlichen Gesetz gesprochen werden. Dies in Kombination mit der Verwendung einer Rückverweisungsklausel musste auch nach dem bisherigen Maßstab des BVerfG zur Unzulässigkeit wegen Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 2 GG aus Sicht der kompetenzwahrenden Funktion führen.338 Wie bereits zuvor festgestellt, sind die Verweisungen auf Rechtsverordnungen im AMG – soweit sie keine Rückverweisungsklausel enthalten – aus kompetenzrechtlicher Sicht unproblematischer als die in § 10 RiFlEtikettG a. F. verwendete Verweisung, da im AMG die Exekutive ermächtigt wird, Listen mit aktualisierungsbedürftigen Arzneimitteln zu erstellen, gewisse Ver- und Gebote auf andere Arzneimittel auszuweiten, die Verwendung bestimmter (durch Rechtsverordnung festzulegender) Stoffe zu untersagen oder aber der Entscheidungsspielraum der Exekutive derart eng begrenzt wird, dass auch insoweit aus Sicht der kompetenzwahrenden Funktion keine Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG vorliegt. An dieser Feststellung ändert sich auch durch die Entscheidung des BVerfG zu § 10 RiFlEtikettG a. F. damit nichts. Aus verhaltensleitender Perspektive können dem Beschluss des BVerfG im Hinblick auf Rechtsverordnungsblankettnormen jedoch interessante Aussagen entnommen werden. Denn wenn das BVerfG ausführt, § 10 Abs. 1 RiFlEtikettG a. F. i. V. m. § 1 Abs. 1 RiFlEtikettG a. F. lasse nicht hinreichend klar erkennen, welche Verstöße gegen unionsrechtliche Vorgaben sanktioniert werden sollen, da § 10 Abs. 1 RiFlEtikettG a. F. „durch die Verweisung auf die genannten europäischen Rechtsakte lediglich einen nicht weiter konkretisierten Bezugspunkt erst noch näher zu bestimmender Verhaltensgebote und -verbote“ benenne,339 muss dieser Maßstab generell für Verweisungen auf Rechtsverordnungen gelten. Diese seien – so stellt das 336
BVerfG NVwZ 2007, 1172 (1175). Vgl. Hoven, NStZ 2016, 377 (382 f.). 338 Das BVerfG war hier jedoch strenger als in der unter dem Aspekt der Kompetenzwahrung vergleichbaren Konstruktion in § 51 Abs. 1 Nr. 2 LMBG, die das BVerfG für zulässig erachtet hat (BVerfG NStZ-RR 2002, 22). Diese Erkenntnis lässt wiederum den Schluss zu, dass die in § 10 Abs. 3 RiFlEtikettG a. F. verankerte Rückverweisungsklausel – eine solche gab es in § 51 Abs. 1 Nr. 2 LMBG nicht – das Fass zum Überlaufen gebracht hat oder aber das BVerfG faktisch doch einen etwas strengeren Maßstab als damals angelegt hat. 339 BVerfG NJW 2016, 3648 (3651). 337
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BVerfG nochmals ausdrücklich klar – nicht anders zu behandeln als die Verweisungen auf EU-Regelungen. § 10 Abs. 1 i. V. m. § 1 Abs. 1 RiFlEtikettG a. F. verweist ohne konkrete EU-Verordnungen zu benennen auf „unmittelbar geltenden Vorschrift in Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaft oder der Europäischen Union“. Da auch Rechtsverordnungsblankettnormen die in Bezug genommenen Rechtsverordnungen nicht genauer benennen, als § 10 Abs. 1 RiFlEtikettG a. F. die in Bezug genommen EU-Verordnungen, müsste das BVerfG konsequenterweise sämtliche Rechtsverordnungsblankettnormen ebenso als unbestimmt einstufen. Dies jedenfalls dann – insoweit sind die Äußerungen des BVerfG unklar – wenn im formellen Gesetz das strafbare Verhalten nicht genauer beschrieben wird, als es § 10 Abs. 1 RiFlEtikettG a. F. tut. Bei strenger Lesart der Entscheidung des BVerfG kann die Unbestimmtheit jedoch auch allein aus der offenen, ungenauen Bezeichnung des für die Strafbarkeit relevanten Unionrechts abgleitet werden.340 Interpretiert man die Entscheidung des BVerfG so, würde sich damit das bereits dargestellte Ergebnis, dass sämtliche Verweisungen auf Rechtsverordnungen – solange sie diese nicht, wie zum Beispiel §§ 95 Abs. 1 Nr. 2 und 96 Nr. 2 AMG i. V. m. § 6 AMG genau bezeichnen – aus Sicht der verhaltensleitenden Funktion des Art. 103 Abs. 2 GG unzulässig sind, bestätigen. Dem kann auch nicht entgegen gehalten werden, der unklare Verweis auf das EU-Recht in § 10 RiFlEtikettG a. F. allein – der auch den Rechtsverordnungsblankettnormen des AMG immanent ist – überschreite nicht die Schwelle zur Unbestimmtheit, sondern erst die Kombination mit weiteren, die Vorhersehbarkeit erschwerenden Faktoren. Zwar ist es richtig, dass bei § 10 RiFlEtikettG a. F. erschwerend hinzukommt, dass sie sowohl einen Verweis auf das EU-Recht als auch einen Verweis auf eine Rechtsverordnung enthalten. Dies kann aus Sicht der Vorhersehbarkeit des strafbaren Verhaltens jedoch nicht anders beurteilt werden als ein Verweis auf mehrere Rechtsverordnungen. Da die Rechtsverordnungsblankettnormen im AMG zumindest potentiell auf mehrere Rechtsverordnungen verweisen, sind diese insoweit nicht anders zu behandeln als § 10 RiFlEtikettG a. F., sie verstoßen gegen die verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 103 Abs. 2 GG.
III. BVerfG, Beschluss vom 11. 03. 2020 – 2 BvL 5/17 1. Vorlagebeschluss des LG Stade, Beschluss vom 15. 03. 2017 – 600 KLs 1100 Js 7647/10 Unter Berufung auf den Beschluss des BVerfG vom 21. 09. 2016 hat anschließend auch das Landgericht Stade in einer ähnlichen Verweisungskonstellation Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit geäußert, das Verfahren ausgesetzt und es dem
340 Das BVerfG äußert sich nicht eindeutig zu der Frage, ob dieses Defizit der ungenauen Bezeichnung der Bezugsobjekte durch eine genauere Beschreibung des Tatbestands im formellen Gesetz ausglichen werden kann.
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BVerfG vorgelegt.341 Nach Ansicht des LG Stade verstößt auch § 58 Abs. 3 Nr. 2 LFGB342 gegen den Bestimmtheitsgrundsatz und die in Bezug genommene Verordnungsermächtigung des § 62 Abs. 1 Nr. 1 LFGB343 sei mit Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG unvereinbar.344 Wie auch § 10 Abs. 1 RiFlEtikettG a. F. enthält § 58 Abs. 3 Nr. 2 LFGB eine Verweisung auf „unmittelbar geltende Vorschriften in Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaft oder der Europäischen Union“. Welche Verstöße hiergegen strafbar sein sollen, soll – wie auch in § 10 Abs. 1 RiFlEtikettG a. F. – eine Rechtsverordnung (die Ermächtigungsnorm ist hier § 62 Abs. 1 Nr. 1 LFGB, die inhaltlich § 10 Abs. 3 RiFlEtikettG a. F. entspricht) durch eine Rückverweisungsklausel festlegen. Abweichend von § 10 Abs. 1 RiFlEtikettG a. F., der das in Bezug genommene Gemeinschafsrecht durch den Verweis auf § 1 Abs. 1 RiFlEtikettG a. F. inhaltlich einschränkt („Etikettierung von Rindfleisch und Rindfleischerzeugnissen sowie über die Verkehrsbezeichnung und Kennzeichnung von Fleisch von weniger als zwölf Monate alten Rindern“), enthält § 58 Abs. 3 Nr. 2 LFGB eine sog. Entsprechungsklausel, indem er nur solche Rechtsakte der EG oder EU in Bezug nimmt, die inhaltlich einer Regelung entsprechen, zu der die in § 58 Abs. 1 Nr. 18 LFGB345 genannten Vorschriften ermächtigen. In dem konkreten Fall relevant war insoweit die dort – neben vielen anderen – genannte Ermächtigungsnorm § 13 Abs. 1 Nr. 1 und 2 LFGB, die den Verordnungsgeber ermächtigt, die Verwendung bestimmter Stoffe, Gegenstände oder Verfahren bei der Herstellung oder Behandlung von Lebensmit341 LG Stade wistra 2017, 451 ff.; siehe auch Vorlagebeschluss des KG BeckRS 2017, 136822. Das KG hielt § 34 Abs. 2 AWG a. F. i. V. m. § 33 Abs. 1 AWG a. F. wegen des dort verwendeten Verweises auf eine Rechtsverordnung mit Rückverweisungsklausel für unvereinbar mit Art. 103 Abs. 2, 104 Abs. 1 S. 1 GG. Mit Beschluss vom 05. 12. 2017 hat das BVerfG jedoch – mangels Darlegung der Entscheidungserheblichkeit – die Unzulässigkeit der Vorlage festgestellt (BeckRS 2017, 136817). 342 § 58 Abs. 3 LFGB lautet: „Ebenso wird bestraft, wer (…) 2. einer anderen als in Absatz 2 genannten unmittelbar geltenden Vorschrift in Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaft oder der Europäischen Union zuwiderhandelt, die inhaltlich einer Regelung entspricht, zu der die in Absatz 1 Nummer 18 genannten Vorschriften ermächtigen, soweit eine Rechtsverordnung nach § 62 Absatz 1 Nummer 1 für einen bestimmten Straftatbestand auf diese Strafvorschrift verweist (…).“ 343 § 62 Abs. 1 LFGB lautet: „(1) Das Bundesministerium wird ermächtigt, soweit dies zur Durchsetzung der Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft, der Europäischen Union oder der Europäischen Atomgemeinschaft erforderlich ist, durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates die Tatbestände zu bezeichnen, die 1. als Straftat nach § 58 Absatz 3 oder § 59 Absatz 3 Nummer 1 oder 2 Buchstabe a zu ahnden sind (…).“ 344 Ebenso bereits Bülte, JuS 2015, 769 (772). 345 § 58 Abs. 1 LFGB lautet: „Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer (…) Nr. 18 einer Rechtsverordnung nach § 10 Absatz 4 Nummer 1 Buchstabe b, d oder Buchstabe e, § 13 Absatz 1 Nummer 1 oder 2, § 22, § 32 Absatz 1 Nummer 1, 2 oder 3, jeweils auch in Verbindung mit § 28 Absatz 1 Nummer 2, oder § 34 Satz 1 Nummer 1 oder 2 oder einer vollziehbaren Anordnung aufgrund einer solchen Rechtsverordnung zuwiderhandelt, soweit die Rechtsverordnung für einen bestimmten Tatbestand auf diese Strafvorschrift verweist.“
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teln zu verbieten oder zu beschränken oder die Anwendung bestimmter Verfahren vorzuschreiben oder für bestimmte Lebensmittel Anforderungen an das Herstellen, das Behandeln oder das Inverkehrbringen zu stellen. Die Strafbarkeit ergab sich im konkreten Fall nunmehr aus einem Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 i. V. m. Anhang III Abschnitt VI Nr. 1 VO (EG) Nr. 853/2004, der vorschreibt, dass Lebensmittelunternehmer bei der Herstellung von Fleischerzeugnissen keinen Knorpel des Kehlkopfs etc. verwendet werden dürfen. Die aufgrund des § 62 Abs. 1 S. 1 LFGB erlassene Verordnung zur Durchsetzung lebensmittelrechtlicher Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft, Lebensmittelrechtliche Straf- und Bußgeldverordnung (LMStRV) enthielt sodann einen Verweis darauf, dass ein Verstoß gegen diese Vorschrift der EU-Verordnung nach § 58 Abs. 3 Nr. 2 LFGB strafbar ist. 2. Entscheidungsgründe des BVerfG Das BVerfG hält § 58 Abs. 3 Nr. 2 LFGB – anders als bei § 10 Abs. 1 und 3 RiFlEtikettG a. F. – für mit Art. 103 Abs. 2 GG bzw. Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG „(noch) vereinbar“.346 Zunächst wird die Vorlagefrage vom BVerfG konkretisiert. Zu prüfen sei (lediglich), ob § 58 Abs. 3 Nr. 2 LFGB mit dem Grundgesetz vereinbar ist, soweit die Entsprechungsklausel von den in § 58 Abs. 1 Nr. 18 LFGB enthaltenen Verordnungsermächtigungen diejenige nach § 13 Abs. 1 Nr. 1 und 2 LFGB in Bezug nimmt.347 Dies sei erforderlich, da nur solche Rechtsvorschriften zur verfassungsrechtlichen Prüfung und Entscheidung gestellt werden könnten, denen im Ausgangsverfahren rechtliche Bedeutung zukomme. Anschließend wird – nach den bereits im Rahmen der Darstellung der Entscheidung des BVerfG zum RiFlEtikettG beschriebenen grundsätzlichen Ausführungen zum Bestimmtheitsgebot bei Blankettstrafgesetzen – begründet, warum die Strafvorschrift des § 58 Abs. 3 Nr. 2 LFGB, soweit sie zur Prüfung gestellt ist, mit Art. 103 Abs. 2, Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG vereinbar sei. Hierbei unterscheidet das BVerfG – wesentlich deutlicher als in der Entscheidung aus dem Jahr 2016 zum RiFlEtikettG – zwischen der kompetenzsichernden und der freiheitsgewährleistenden bzw. verhaltensleitenden Funktion. Der kompetenzsichernden Funktion des Bestimmtheitsgrundsatzes sei ausreichend Rechnung getragen. Anders als § 10 Abs. 1 RiFlEtikettG a. F. würden die strafbewehrten Verbotsvorschriften des Unionsrechts nicht lediglich „abstrakt skizziert,“ sie seien – aufgrund der Entsprechungsklausel in § 58 Abs. 1 Nr. 18 LFGB und der dort genannten Verordnungsermächtigung – vielmehr ausreichend konkretisiert.348 Das BVerfG stellt an dieser Stelle dar, welcher Tatbestand sich aus den formell-gesetzlichen Vorschriften, die von § 58 Abs. 3 Nr. 2 LFGB in Bezug ge346 347 348
BVerfG NVwZ-RR 2020, 569 (Rn. 69). BVerfG NVwZ-RR 2020, 569 (Rn. 48). BVerfG NVwZ-RR 2020, 569 (Rn. 85).
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Kap. 2: Die Blankettgesetzgebungstechnik des AMG
nommen werden, entnehmen lasse.349 Unter Berücksichtigung dieser formell-gesetzlichen Vorgaben und unter Verweis auf die hochtechnisierten Prozesse der industriellen Herstellung oder Behandlung von Lebensmitteln und den dafür erforderlichen spezifisch-technischen Sachverstand wird dann festgestellt, dass § 13 Abs. 1 Nr. 1 und 2 LFGB lediglich die Konkretisierung technischer Details auf den Verordnungsgeber übertrage, was zur Wahrung der Flexibilität des parlamentarischen Gesetzgebers zulässig sei.350 Als weiteres Argument für die Bestimmtheit führt das BVerfG aus, dass dem Verordnungsgeber bei der Ausübung der ihm durch § 62 Abs. 1 Nr. 1 LFGB eingeräumten Befugnis – anders als bei § 10 Abs. 1 RiFlEtikettG a. F. – kein „substantieller Ausgestaltungsspielraum“ verbleibe.351 Er müsse lediglich prüfen, ob die jeweils von ihm zu benennende Vorschrift des Unionsrechts inhaltlich dem entspricht, was er selbst im Rahmen der ihm durch § 13 Abs. 1 Nr. 1 und 2 LFGB eingeräumten Kompetenz hätte reglementieren dürfen. Er konkretisiere also – abweichend vom Normalfall – nicht selbst die Verhaltensnormen am Maßstab der Ermächtigungsnorm, sondern prüfe im Sinne einer „(hypothetischen) Konkretisierung“,352 welche Regelung er selbst am Maßstab der Ermächtigungsnorm hätte erlassen dürfen. Das Prüfungsprogramm ändere sich insoweit nicht wesentlich, es verlagere sich lediglich der Prüfungsgegenstand von der im Normalfall von der Exekutive zu erlassenen Verhaltensnorm auf die jeweilige Regelung des Unionsrechts, weshalb das Entsprechungskriterium „keine zusätzlichen Defizite bei der Bestimmtheit des Tatbestandes schaffe“.353 Der Gesetzgeber entscheide weiterhin über die Frage der Strafbarkeit, denn das einer Delegation von Rechtssetzungsbefugnissen immanente Risiko eines nicht tätig werdenden Verordnungsgebers bestehe nicht, da der Verordnungsgeber nur tätig werden dürfe, wenn und soweit dies zur Durchsetzung des Unionsrechts erforderlich sei. Die Entsprechungsklausel führe dazu, dass der Verordnungsgeber unionsrechtlichen dazu verpflichtet sei, die Strafbarkeit festzulegen, wenn – wie hier durch die Entsprechungsklausel der Fall – der Gesetzgeber die Entscheidung getroffen habe, für die Umsetzung der unionsrechtlichen Regelung den Weg der Strafbewehrung von Verstößen zu wählen.354
349 „Eine Zuwiderhandlung gegen eine unmittelbar geltende Vorschrift des Unionsrechts, die zur Sicherstellung des Verbraucherschutzes bei Lebensmitteln durch Vorbeugung gegen eine oder Abwehr einer Gefahr für die menschliche Gesundheit die Verwendung bestimmter Stoffe, Gegenstände oder Verfahren beim Herstellen oder Behandeln von Lebensmitteln verbietet oder beschränkt oder die Anwendung bestimmter Verfahren vorschreibt oder für bestimmte Lebensmittel Anforderungen an das Herstellen, das Behandeln oder das Inverkehrbringen stellt, steht unter Strafe, soweit eine Rechtsverordnung nach § 62 I Nr. 1 LFGB für einen bestimmten Straftatbestand einen entsprechenden Rückverweis enthält.“ (BVerfG NVwZ-RR 2020, 569, Rn. 87). 350 BVerfG NVwZ-RR 2020, 569 (Rn. 90). 351 BVerfG NVwZ-RR 2020, 569 (Rn. 91). 352 BVerfG NVwZ-RR 2020, 569 (Rn. 87). 353 BVerfG NVwZ-RR 2020, 569 (Rn. 92). 354 BVerfG NVwZ-RR 2020, 569 (Rn. 94).
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Die sich anschließende Prüfung der freiheitssichernden Komponente des Bestimmtheitsgrundsatzes fällt dann wesentlich kürzer aus. Es wird vom BVerfG lediglich dargestellt, dass es dem Normadressat – wenn auch mit erhöhtem Aufwand – möglich sei, die Einzelnormen aus der Kette § 58 Abs. 3 Nr. 2, § 58 Abs. 1 Nr. 18 und § 13 Abs. 1 Nr. 1 und 2 LFGB zusammenzulesen und den dort enthaltenen Verweisungen zu folgen. Das BVerfG stellt für die Anforderungen an die Erkennbarkeit des strafbaren Verhaltens auf das Leitbild eines sach- und fachkundigen Normadressaten ab.355 Normadressaten des § 58 Abs. 3 Nr. 2 LFGB seien Personen, die im Bereich der Lebensmittelproduktion und im Lebensmittelhandel tätig sind. Die EU (VO) Nr. 853/2004 richte sich ausdrücklich an Lebensmittelunternehmer, welche typischerweise besondere Sach- und Fachkenntnisse hätten. Es handele sich insoweit um spezialisierte Normadressaten. Diese seien zudem gehalten, sich – ggf. durch fachkundige Beratung – Kenntnis vom lebensmittelverwaltungsrechtlichen Pflichten zu verschaffen. Als Hilfsargument führt das BVerfG noch ohne weitere Begründung an, dass der aufgrund von § 62 Abs. 1 Nr. 1 LFGB erlassenen Rechtsverordnung eine bestimmtheitssichernde Wirkung zukomme.356 Die Vereinbarkeit des § 62 Abs. 1 Nr. 1 LFGB mit Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG begründet das BVerfG indem es ausführt, die Norm gebe wegen der Bezugnahme in § 13 Abs.1 Nr. 1 und 2 LFGB auf den in § 1 Abs. 1 Nr. 1 und 2 LFGB vorgegebenen Zweck, den Schutz der Gesundheit, den Inhalt der Ermächtigung – anders als § 10 Abs. 3 RiFlEtikettG a. F. – ausreichend detailliert wieder. Das Defizit der fehlenden namentlichen Bezeichnung der relevanten EU-Verordnungen werde durch die inhaltlichen Vorgaben des § 13 Abs. 1 Nr. 1 und 2 LFGB – die § 10 Abs. 3 RiFlEtikettG a. F. fehlen – kompensiert.
IV. Bewertung Die durch den Beschluss des BVerfG vom 21. 06. 2016 erweckten Erwartungen haben sich nicht erfüllt. Zusammenfassen lässt sich die Entscheidung des BVerfG dahingehend, dass die im Rahmen der Regelung des RiFlEtikettG bemängelten Defizite, die unstreitig zum Teil identisch mit der hier zu überprüfenden Blankettnorm sind, nach Ansicht des BVerfG durch eine präzisere Beschreibung des strafbewehrten Verhaltens im Rahmen der formell-gesetzlichen Regelungen kompensiert wurden. Damit hat das BVerfG von der – im Rahmen der Ausführungen zur Entscheidung zum RiFlEtikettG vom 21. 09. 2016 bereits dargestellten – „offen gelassenen Hintertür“357 Gebrauch gemacht und somit einen Ausweg gefunden, § 58 Abs. 3 Nr. 2 LFGB – und infolge dessen viele weitere Straftatbestände des Nebenstrafrechts – nicht als verfassungswidrig einzustufen. 355 356 357
BVerfG NVwZ-RR 2020, 569 (Rn. 97). BVerfG NVwZ-RR 2020, 569 (Rn. 98). Siehe Kapitel 2 G. II.
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Unmittelbare Auswirkungen auf die Straf- und Bußgeldtatbestände des AMG hat die Entscheidung des BVerfG zum LFGB jedoch nicht, da derartige Verweisungskonstruktionen im AMG nicht existieren. Entsprechungsklauseln sind dort – bislang – nicht anzutreffen. Die Entscheidung des BVerfG zum LFGB ist dennoch von Relevanz für die Frage der Bestimmtheit der Sanktionsnormen des AMG. Zum einen, weil das BVerfG darin auch allgemeine Grundsätze aufstellt bzw. präzisiert, die es hier zu überprüfen gilt und zum anderen weil den Aussagen des BVerfG – jedenfalls bei konsequenter Anwendung dieses Maßstabs auf andere Verweisungskonstruktionen – interessante und auch für das AMG relevante Rückschlüsse entnommen werden können. Das BVerfG prüft zunächst die kompetenzwahrende Funktion des Bestimmtheitsgrundsatzes. § 58 Abs. 3 Nr. 2 LFGB einerseits und § 10 Abs. 1 RiFlEtikettG a. F. andererseits weisen insoweit einige relevante Gemeinsamkeiten auf. Sowohl die überprüften Normen aus dem RiFlEtikettG als auch die des LFGB verweisen dynamisch auf nicht näher bezeichnetes Unionsrecht. Beide Blankettnormen enthalten zudem eine identische Rückverweisungsklausel. Während das BVerfG diese im Beschluss vom 21. 09. 2016 als „pauschale Blankoermächtigung“ bewertet,358 werden derartige Bedenken bzgl. § 62 Abs. 1 Nr. 1 LFGB nicht geäußert. Diese unterschiedliche Bewertung versucht das BVerfG zu begründen, indem es im Wesentlichen auf zwei Aspekte abstellt. Den formell-gesetzlichen Regelungen im LFGB sei, so das BVerfG, das geschützte Rechtsgut und die Tathandlung noch hinreichend deutlich zu entnehmen. Vergleicht man die im formellen Gesetz beschrieben Tathandlungen des LFGB mit denen des RiFlEtikettG,359 ist diese Feststellung jedoch fraglich.360 Hier hätte man auch genau umgekehrt argumentieren können. Selbst wenn man dieser Argumentation des BVerfG jedoch noch folgt, kann aus der – allenfalls sehr geringfügig – präzisieren Beschreibung der Tathandlung im Vergleich zum RiFlEtikettG nicht automatisch der Schluss gezogen werden, dass dies den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG genügt. Da sich offensichtlich auch das BVerfG bewusst war, dass diese Argumentation nicht ausreicht, führt es ein weiteres Argument an. Der „Ausgestaltungsspielraum“ der Exekutive sei auch deshalb beschränkt, weil die Gefahr einer Untätigkeit des nationalen Verord358
BVerfG NJW 2016, 3648 (Rn. 51). LFGB: Eine Zuwiderhandlung gegen eine unmittelbar geltende Vorschrift des Unionsrechts, die die Verwendung bestimmter Stoffe, Gegenstände oder Verfahren beim Herstellen oder Behandeln von Lebensmitteln verbietet oder beschränkt oder die Anwendung bestimmter Verfahren vorschreibt oder für bestimmte Lebensmittel Anforderungen an das Herstellen, das Behandeln oder das Inverkehrbringen stellt. RiFlEtikettG: Eine Zuwiderhandlung gegen eine unmittelbar geltende Vorschrift des Unionsrechts, die die Etikettierung von Rindfleisch und Rindfleischerzeugnissen sowie über die Verkehrsbezeichnung und Kennzeichnung von Fleisch von weniger als zwölf Monate alten Rindern regeln. 360 Wenngleich zu konstatieren ist, dass das geschützte Rechtsgut durch § 13 Abs. 1 LFGB, der auf § 1 Abs. 1 LFGB Bezug nimmt, tatsächlicher deutlicher beschrieben wird, als im RiFlEtikettG. 359
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nungsgebers nicht bestehe. Die Entsprechungsklausel verdeutliche die Entscheidung des nationalen Gesetzgebers, unmittelbar geltende Rechtsakte der Union im Regelungsbereich des § 13 Abs. 1 und 2 LFGB zum Schutze der Gesundheit der Verbraucher unter Strafe zu stellen. Das unionsrechtliche Loyalitätsgebot verpflichte insoweit auch den nationalen Verordnungsgeber tätig zu werden. Wenn das BVerfG also – offensichtlich auch, um im Vorfeld der Entscheidung in der Literatur361 geäußerte Bedenken zu entkräften– ausführt, das „Entsprechungskriterium (schaffe) keine zusätzlichen Defizite bei der Bestimmtheit des Tatbestandes (…)“,362 ist das irreführend. Denn die Entsprechungsklausel dient dem BVerfG – mit der soeben beschriebenen, den Spielraum der Exekutive begrenzenden Funktion – gerade dazu, die Bestimmtheit zu begründen. Zur Rückverweisung sei der nationale Verordnungsgeber „unionsrechtlich verpflichtet, wenn der Gesetzgeber mit der Verordnungsermächtigung die Entscheidung getroffen hat, für die Umsetzung der unionsrechtlichen Regelungen gerade den Weg der Strafbewehrung von Verstößen zu wählen“.363 Die Argumentation des BVerfG überzeugt jedoch nicht. Der Wortlaut des § 62 Abs. 1 Nr. 1 LFGB, der den nationalen Verordnungsgeber ermächtigt, eine Rückverweisungsklausel zu erlassen „soweit dies zur Durchsetzung der Rechtsakte der (…) Europäischen Union (…) erforderlich ist“, verdeutlicht gerade das Gegenteil: einen über die Prüfung der „Entsprechung“ hinausgehenden Entscheidungsspielraum. Dem Wortlaut ist zu entnehmen, dass der nationale Gesetzgeber gerade nicht jeden Verstoß gegen das Unionsrecht mit Strafe bewehren will. Die Entscheidung, ob es erforderlich ist, das Unionsrecht mit einer Strafandrohung oder einer Bußgeldandrohung oder aber gar nicht zu sanktionieren, obliegt – wie im Rahmen des § 10 Abs. 3 RiFlEtikettG a. F. – dem nationalen Verordnungsgeber. Wenn das BVerfG also ausführt: „die in der Entsprechungsklausel in Bezug genommene Verordnungsermächtigung des § 13 Abs. 1 Nr. 1 und 2 LFGB stellt danach die gesetzgeberische Entscheidung zu Inhalt und Programm der Ermächtigung des § 62 Abs. 1 Nr. 1 LFGB dar. Damit ist – wiederum anders als bei § 10 Abs. 3 RiFlEtikettG a. F. (…) – erkennbar, dass der Verordnungsgeber von seiner Ermächtigung in den Fällen Ge361 In der Literatur wurde vorgebracht, die in § 58 Abs. 3 Nr. 2 LFG verwendete Konstruktion führe dazu, dass der durch § 62 Abs. 1 LFGB ermächtigte Verordnungsgeber durch die Schaffung einer Entsprechungsklausel zusätzlich darüber entscheidet, ob die in Bezug gekommene EU-Regelung einer aufgrund der in § 58 Abs. 1 Nr. 18 LFGB genannten Ermächtigungsnorm erlassenen Rechtsverordnung entspricht. Vgl. Schmitz, wistra 2017, 455 (456); a. A. Boch, ZLR 2017, 317 (322); Brand/Kratzer, JR 2018, 422 (431), die darauf verweisen, dass anders als bei § 10 Abs. 3 RiFlEtikettG a. F. nach §§ 58 Abs. 3 Nr. 2, 62 Abs. 1 Nr. 1 LFGB nicht sämtliche unmittelbar in Bezug genommenen unionalen Rechtsakte des Lebens-, Futtermittel- und Bedarfsgegenständerechts potentiell strafbewehrt sein können, sondern nur die die der Entsprechungsklausel standhalten. Bülte, BB 2016, 3075 (3079) weist zutreffend darauf hin, dass damit die Voraussetzungen für die Rückverweisung nur mit dem unbestimmten und unbestimmbaren Begriff der Entsprechung umschrieben werden. 362 BVerfG NVwZ-RR 2020, 569 (Rn. 92). 363 BVerfG NVwZ-RR 2020, 569 (Rn. 94).
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brauch machen muss, in denen bei dem Herstellen, Behandeln oder Inverkehrbringen von Lebensmitteln Gefahren für die menschliche Gesundheit drohen“,364 ist dies nicht zutreffend und widerspricht dem Wortlaut des § 62 Abs. 1 Nr. 1 LFGB, der eine solche Begrenzung des Entscheidungsspielraumes gerade nicht zu erkennen gibt. Auch die Ausführungen des BVerfG zur verhaltensleitenden Funktion des Bestimmtheitsgrundsatzes überzeugen, jedenfalls soweit das BVerfG abstrakt feststellt, es sei auf das normative Leitbild eines sach- und fachkundigen Normadressaten abzustellen – nicht. Zunächst ist jedoch anzumerken, dass die durch das BVerfG erfolgte Beschränkung des Prüfungsumfangs auf die Normenkette § 58 Abs. 3 Nr. 2, § 58 Abs. 1 Nr. 18 und § 13 Abs. 1 und 2 LFGB unbedenklich ist. Zwar kann eine solche Beschränkung – z. B. im Rahmen der Prüfung von einfachen Rechtsverordnungsblankettnormen – problematisch sein. Denn man würde sich dadurch ggf. in unzulässiger Weise die bereits dargestellte Problematik der Kombination aus vertikaler und horizontaler Komplexität (Stichwort: Kaskaden) abschneiden.365 Die Unbestimmtheit kann sich auch und gerade daraus ergeben, dass eine Norm zahlreiche, mehrfach verschachtelte Objekte in Bezug nimmt und dadurch insgesamt nicht mehr überschaubar ist. Deshalb ist mit einer derartigen Begrenzung des Prüfungsumfangs auf die im konkreten Fall einschlägigen Verweisungsobjekte Zurückhaltung geboten. Es besteht dabei immer die Gefahr, die Frage der Bestimmtheit ausgehend vom letzten Verweisungsobjekt vorzunehmen. Entscheidend ist jedoch nicht, ob man dieses letzte Verweisungsobjekt auf eine Strafnorm zurückverfolgen kann, sondern, ob es möglich und zumutbar ist, ausgehend von der Strafnorm sämtliche Verweisungsobjekte und letztlich das sanktionierte Verhalten ausfindig zu machen. Diese Gefahr der unzulässigen Beschränkung des Prüfungsobjekts besteht hier jedoch nicht. Denn die für den Straftatbestand entscheidende Verweisungskette endet hier bei § 13 Abs. 1 Nr. 1 und 2 LFGB. Eine darauf basierende Rechtsverordnung existiert nicht. § 13 Abs. 1 Nr. 1 und 2 LFGB bildet insoweit nur den (inneren) Prüfungsmaßstab des nationalen Rechtsverordnungsgebers, der für die Frage der Erkennbarkeit des strafbaren Verhaltens – mithin für die verhaltensleitende Funktion – irrelevant ist. Denn das Ergebnis dieser Prüfung teilt der Verordnungsgeber in der aufgrund von § 62 Abs. 1 Nr. 1 LFGB erlassenen Rechtsverordnung durch Rückverweisung mit. Ob das strafbare Verhalten vorhersehbar ist, ist demnach vielmehr danach zu beurteilen, ob es dem Normadressaten möglich und zumutbar ist, diese Rechtsverordnung und die darin enthaltene Rückverweisung – ausgehend von der Blankettstrafnorm – ausfindig zu machen. Insoweit könnte man auf den ersten Blick annehmen, dass die hier verwendete Verweisungskonstruktion aus Sicht der verhaltensleitenden Funktion des Bestimmtheitsgrundsatzes Vorteile gegenüber den „typischen“ und auch im AMG verwendeten Rechtsverordnungsblankettnormen (mit Rückverweisungsklauseln) hat. Betrachtet man § 62 Abs. 1 Nr. 1 LFGB und die insoweit erlassene LMRStV (Verordnung zur Durchsetzung lebensmittelrechtlicher Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft – 364 365
BVerfG NVwZ-RR 2020, 569 (Rn. 109). Siehe Kapitel 2 F. II. 1. c) aa).
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Lebensmittelrechtliche Straf- und Bußgeldverordnung) könnte man annehmen, die bei den im AMG verwendeten Rechtsverordnungsblankettnormen auftauchenden und bereits beschriebenen Probleme hinsichtlich der Auffindbarkeit der jeweils in Bezug genommenen Rechtsverordnung(en)366 seien hier abgeschwächt. Die Bezeichnung der Rechtsverordnung lässt ihre Zugehörigkeit und strafrechtliche Relevanz erkennen, weshalb sie einigermaßen gut auffindbar ist und die Rückverweisungsklauseln sind innerhalb dieser Rechtsverordnung – jedenfalls in der aktuellen Fassung der LMRStV – aufgrund ihrer übersichtlichen Gliederung erkennbar. Problematisch dabei ist jedoch, dass die LMRStV – nicht zuletzt gerade aufgrund ihrer genauen Bezeichnung – den Eindruck vermittelt, sie regele die in § 62 Abs. 1 Nr. 1 LFGB vorgesehenen Rückverweisungen auf die Strafnormen des LFGB abschließend.367 Wenn dem so wäre, wäre dies aus Sicht der verhaltensleitenden Funktion von Vorteil. Stößt man – nach langem Suchen oder aber zufällig – auf die Verordnung zur Begrenzung von Kontaminaten in Lebensmittel (Kontaminaten-Verordnung – KmV), die Verordnung über kosmetische Mittel (Kosmetik-Verordnung – KosmetikV) und die Verordnung zur Durchführung unionsrechtlicher Vorschriften betreffend die Information der Verbraucher über Lebensmittel (Lebensmittelinformations-Durchführungsverordnung – LMIDV), muss man zu seiner Verwunderung jedoch feststellen, dass auch dort entsprechende Verweisungen auf die Strafvorschriften des LFGB existieren. Die Möglichkeit, die Erkennbarkeit des strafbaren Verhaltens zu verbessern, indem man nur eine – von einer konkreten verwaltungsrechtlichen Materie losgelöste – „Strafrechtsverordnung“ konzipiert, hat der Gesetzgeber nicht wahrgenommen. Vor diesem Hintergrund sah sich auch das BVerfG offenbar veranlasst, den Maßstab für die Erkennbarkeit und Vorhersehbarkeit des strafbaren Verhaltens abzusenken, indem es – anders als noch im Rahmen der Entscheidung zum RiFlEtikettG, in dem es die Frage noch ausdrücklich offen gelassen hat – auf das Leitbild eines Normadressaten mit besonderer Sach- und Fachkenntnis abstellt. Die konkreten Regelungen richten sich – so das BVerfG – an Lebensmittelunternehmer. Das verwaltungsrechtliche Pflichtenprogramm könne daher als bekannt vorausgesetzt werden, ggf. müsse sich der Normadressat – durch fachkundige Beratung – Kenntnis vom lebensmittelverwaltungsrechtlichen Pflichten verschaffen. Dass dieser Prüfungsmaßstab unzulässig ist, wurde bereits dargestellt.368 Ergänzend ist noch darauf hinzuweisen, dass – wie die Strafnormen des AMG – auch die des LFGB sich oftmals gerade an sachunkundige Personen richten.369 Das BVerfG unterstellt pauschal – ohne genaue Prüfung und ohne Betrachtung des konkreten Einzelfalls – ein oftmals gerade nicht vorhandenes Wissen. Durch das Auferlegen von Informations- bzw. Beratungspflichten, die im Rahmen der Anwendung des § 17 StGB einzelfallbe366
Kapitel 2 F. II. 1. b) bb). Sie wird insoweit in der Fachliteratur auch als einzige – aufgrund dieser Ermächtigungsnorm erlassene – Rechtsverordnung genannt. Siehe etwa Erbs/Kohlhaas/Rohnfelder/ Freytag, § 62 LFGB Rn. 1. 368 Kapitel 2 F. I. 369 Siehe mit Beispielen dazu: Redaktion, ZLR 2020, 376 (381). 367
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Kap. 2: Die Blankettgesetzgebungstechnik des AMG
zogen noch praktikabel sein mögen – wird die Frage der Erkennbarkeit und Vorhersehbarkeit des strafbaren Verhaltens, die abstrakt zu beurteilen ist, zu sehr in den Bereich des „höchst Hypothetischen“ verschoben.370 Mit der Argumentation des BVerfG, es seien nur Experten von der Norm betroffen, diese hätten ein besonderes Fachwissen und wenn nicht, hätten sie es haben müssen, lässt sich jede Blankettnorm – jedenfalls soweit keine redaktionelle Fehler vorliegen – als vereinbar mit dem Bestimmtheitsgrundsatz darstellen. Selbst wenn man den Ausführungen des BVerfG folgt und die soeben geschilderten Bedenken beiseiteschiebt, muss man unter Berücksichtigung der Argumentation des BVerfG jedenfalls zu dem Schluss kommen, dass – wie bereits zuvor, unabhängig von der aktuellen Entscheidung des BVerfG festgestellt371 – die im AMG verwendeten Verweisungen auf Rechtsverordnungen mit Rückverweisungsklausel, die auch außerhalb des AMG auftauchen,372 mit der kompetenzwahrende Funktion des Bestimmtheitsgrundsatzes nicht vereinbar und deshalb verfassungswidrig sind.373 Denn das BVerfG hat in seiner Entscheidung vom 11. 03. 2020 an zahlreichen Stellen betont, dass die Grenze zur Unbestimmtheit, wenn auch noch nicht überschritten, jedenfalls erreicht ist. Die zu überprüfende Verweisungskonstruktion sei mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen „(noch) vereinbar“,374 sie trage der kompetenzsichernden Funktion des Bestimmtheitsgebots „noch hinreichend Rechnung“.375 Diese hier gerade noch eingehaltenen Anforderungen an Bestimmtheit begründet das BVerfG – wie soeben aufgezeigt – entscheidend mit der Entsprechungsklausel, die die Entscheidung des nationalen Gesetzgebers zum Ausdruck bringe, Verstöße gegen unmittelbar geltende Rechtsakte der Union im Regelungsbereich des § 13 Abs. 1 Nr. 1 und 2 LFGB wegen des unionsrechtlichen Loyalitätsgebots immer mit Strafe zu sanktionieren. Wenn dies der Fall wäre, müssten aber Konstellationen wie § 97 Abs. 2 Nr. 31 AMG und §§ 95 Abs. 1 Nr. 2 a. F., 96 Nr. 2 AMG a. F. (und auch § 58 Abs. 1 Nr. 18 LFGB) – mangels Vorliegen einer derartigen, den Entscheidungsspielraum des Verordnungsgebers einschränkenden, Entsprechungsklausel – dem vom BVerfG aufgestellten Maßstab nicht mehr genügen. Oder anders ausgedrückt, die Entsprechungsklausel wäre notwendige Bedingung konstitutiver Rückverweisungsklauseln.376
370
Herz, NZWiSt 2020, 253 (255). Siehe Kapitel 2 E. I. 2. 372 Z. B. § 17 Abs. 1 AWG, § 58 Abs. 1 Nr. 18 LFGB, § 27 Abs. 1 Nr. 1 ChemG und § 74 i. V. m. § 73 Abs. 1a Nr. 24 IfSG. 373 So auch Bülte, wistra 2020, 251 (252). 374 BVerfG NVwZ-RR 2020, 569 (Rn. 69). 375 BVerfG NVwZ-RR 2020, 569 (Rn. 86). 376 Bülte, wistra 2020, 251 (252). 371
H. Ergebnis
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H. Ergebnis Die Analyse der Blankettormen des AMG hat gezeigt, dass zahlreiche Normen nicht mit dem sich aus Art. 103 Abs. 2 GG ergebenen Bestimmtheitsgrundsatz vereinbar und damit verfassungswidrig sind. Im Rahmen der Untersuchung konnte insoweit zunächst aufgezeigt werden, dass Bußgeldnormen dem gleichen Prüfungsmaßstab unterliegen wie Strafnormen. Dem BVerfG ist die Tendenz zu entnehmen, bei Ordnungswidrigkeiten einen großzügigeren Prüfungsmaßstab anzulegen, wenngleich es diese Frage zuletzt ausdrücklich offen gelassen hat.377 Es konnte zudem dargelegt werden, dass Art. 103 Abs. 2 GG als strafrechtstypische Verschärfung des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG zu verstehen ist, an die Bestimmtheit der Straf- und Bußgeldnormen mithin höhere Anforderungen zu stellen sind, als an die durch Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG festgelegten Delegationsvoraussetzungen. Die Auswertung der Rechtsprechung des BVerfG hat jedoch ergeben, dass das Gericht im Rahmen der Prüfung des Art. 103 Abs. 2 GG und Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG denselben Prüfungsmaßstab anlegt, obwohl es Gegenteiliges behauptet.378 Schon den abstrakten Ausführungen des BVerfG zum Bestimmtheitsgebot, die in den einschlägigen Entscheidungen regelmäßig der eigentlichen Prüfung vorausgehen, sind regelmäßig zahlreiche Relativierungen zu entnehmen. Besonders hervorzuheben ist hierbei, dass es nach dem BVerfG ausreicht, wenn für den Adressaten das Risiko der Bestrafung erkennbar ist. Zudem führe die Auslegungsbedürftigkeit nicht zur Unbestimmtheit, es genüge vielmehr, wenn sich mithilfe der üblichen Auslegungsmethoden – auch unter Heranziehung einschlägiger Entscheidungen in der Rechtsprechung – eine zuverlässige Grundlage für die Auslegung und Anwendung der Norm gewinnen lasse.379 Die Übertragung dieser für normative Tatbestandsmerkmale entwickelten Bestimmtheitskriterien auf Blankettnormen ist – wie dargestellt wurde – wegen der im Vergleich zu normativen Tatbestandsmerkmalen unterschiedlichen Intension – die vereinfachte Darstellung des Tatbestandes trotz Bestehen der Möglichkeit einer präziseren Regelung – unzulässig.380 Gleiches gilt für die speziell für Blankettnormen vom BVerfG entwickelten Relativierungen des Bestimmtheitsgrundsatzes, wie etwa das Heranziehen von Praktikabilitätserwägungen, das pauschale Abstellen auf ein vom BVerfG unterstelltes Fachwissen und eine dem Normadressaten auferlegte Informationspflicht. Auch dies hat sich als untauglich zur Einhaltung der verfassungsrechtlichen Vorgaben erwiesen.381 Der Analyse der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Frage der Bestimmtheit von Blankettnormen ist zu entnehmen, dass die Gerichte oftmals zwar zu erkennen geben, dass die Grenze zur Unbestimmtheit erreicht ist, dennoch aber einen Verstoß 377 378 379 380 381
BVerfG NJW 2016, 2348 (Rn. 56). Siehe Kapitel 2 E. I. 1. c) cc). Siehe Kapitel 2 D. Siehe Kapitel 2 F. I. Siehe Kapitel 2 F. I.
206
Kap. 2: Die Blankettgesetzgebungstechnik des AMG
gegen den Bestimmtheitsgrundsatz regelmäßig verneinen, was besonders durch die Aussagen des BGH zur Vereinbarkeit des § 95 Abs. 1 Nr. 2a i. V. m. § 6a Abs. 1 und 2 AMG a. F. mit Art. 103 Abs. 2 GG deutlich wird.382 Soweit vereinzelnd – wie zuletzt im Rahmen der Entscheidung zu § 10 Abs. 1 RiFlEtikettG – ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG bejaht wird, geht das BVerfG nicht auf generelle Probleme der Bestimmtheit von Blankettnormen ein, sondern betont den Einzelfallcharakter der Entscheidung und rudert in den dann folgenden Entscheidungen sodann schnell zurück. Die dafür verwendeten Argumente sind jedoch – wie im Rahmen der Darstellung des Urteils zu § 58 Abs. 3 Nr. 2 LFGB aufgezeigt wurde – nicht überzeugend.383 Sie sind wohl auch vor dem Hintergrund zu betrachten, dass das BVerfG es vermeiden wollte, zahlreiche Normen des Nebenstrafrechts für verfassungswidrig erklären zu müssen. Zudem führt die Argumentation des BVerfG, mit der es den Versuch unternimmt, die Norm (hier § 58 Abs. 3 Nr. 2 LFGB) für verfassungsgemäß zu erklären, zu weiteren – vom Gericht wohl unbewusst aufgeworfenen – Fragen, wie etwa die der Unzulässigkeit von qualifizierten Rückverweisungsklauseln ohne Entsprechungsklauseln.384 Die Prüfung der Reichweite der kompetenzwahrenden Funktion des Bestimmtheitsgrundsatzes hat zudem ergeben, dass die vom BVerfG praktizierte Übertragung der Prüfungskriterien bei Rechtsverordnungsblankettnormen auf dynamische europarechtsakzessorische Blankettnormen unzulässig ist.385 Bei Anwendung der in dieser Arbeit entwickelten Kriterien auf die Straf- und Bußgeldvorschriften des AMG ergibt sich damit folgendes Bild: Ein Verstoß gegen die verfassungsrechtliche Kompetenzverteilung liegt bei Verweisungen auf Rechtsverordnungen mit Rückverweisungsklauseln386 sowie bei – statischen und dynamischen – Verweisungen auf EU-Richtlinien387 und dynamischen Verweisungen auf EU-Verordnungen388 vor. Solche unzulässigen Verweisungen treten im AMG meist in verdeckter Form auf. Die Straf- und Bußgeldnormen verweisen also nicht direkt in unzulässiger Art und Weise auf das EU-Recht, sondern schalten eine verwaltungsrechtliche Norm zwischen. Aus kompetenzrechtlicher Sicht sind diese Konstruktionen jedoch genauso problematisch wie direkte Verweisungen auf Richtlinien bzw. direkte dynamische Verweisungen auf EU-Verordnungen. Dahingegen wurde aufgezeigt, dass die einfachen Verweisungen auf 382
Siehe Kapitel 2 E. II. Siehe Kapitel 2 G. III. 384 Siehe Kapitel 2 G. IV. 385 Siehe Kapitel 2. E. II. 1. 386 §§ 95 Abs. 1 Nr. 2 AMG a. F., 96 Nr. 2 AMG a. F., 97 Abs. 2 Nr. 31 AMG. 387 §§ 95 Abs. 1 Nr. 2 und 96 Nr. 2 i. V. m. § 6 Abs. 1 und 2 AMG i. V. m. § 2 der AMFarbstoffVO i. V. m. § 1 AMFarbstoffVO, § 96 Nr. 16 und 20 AMG, § 97 Abs. 2 Nr. 24j i. V. m. § 63d Abs. 3 S. 4 AMG, § 97 Abs. 2b Nr. 1 und 2 AMG. 388 § 96 Nr. 6 i. V. m. § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AMG, § 96 Nr. 18a i. V. m. § 59d S. 1 Nr. 2 AMG, § 97 Abs. 2 Nr. 7 lit. c i. V. m. § 69a AMG, § 97 Abs. 2 Nr. 25 i. V. m. § 69a AMG, § 97 Abs. 2 Nr. 26 i. V. m. § 69a AMG, § 97 Abs. 2a i. V. m. § 63h Abs. 7 S. 2 AMG und § 97 Abs. 2b Nr. 1 – 4 AMG. 383
H. Ergebnis
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Rechtsverordnungen mit der kompetenzwahrenden Funktion vereinbar sind, da den relevanten Verordnungen lediglich eine Detailregelung zukommt. Unter Berücksichtigung des im Rahmen der Prüfung der Vereinbarkeit der Blankettnormen des AMG mit dem Art. 103 Abs. 2 GG aus Sicht der verhaltensleitenden Funktion entwickelten Prüfungsmaßstabs,389 gilt Folgendes: Es kommt entscheidend auf die Zumutbarkeit des Rechtsfindungsaktes für den Bürger an und jede durch die Verweisungsstruktur entstehende Auslegungsbedürftigkeit führt zur Unbestimmtheit der Norm. Unter Anwendung dieses Maßstabes haben sich ebenfalls zahlreichen Normen als zu unbestimmt erwiesen. Zu nennen sind hier zunächst diejenigen Straf- oder Bußgeldnormen des AMG, die Weiterverweisungen in der Form enthalten, dass sie den Charakter einer Kaskade annehmen.390 Es hat sich zudem gezeigt, dass die Blankettgesetzgebungstechnik dazu führt, dass zahlreiche Verweise schlicht fehlerhaft sind, da das Bezugsobjekt nicht existiert oder aber eine Inkongruenz zwischen der Blankett- und der Ausfüllungsnorm besteht, sodass es eine Frage der Auslegung wäre, welche Verhaltensweisen unter Strafe gestellt werden sollen. Damit erfüllt die Blankettnorm ebenfalls nicht die Voraussetzungen des Art. 103 Abs. 2 GG.391 Dasselbe gilt für solche Straf- und Bußgeldvorschriften des AMG, die nicht bereits in der Blankettnorm selbst das sanktionierte Verhalten zumindest in Form einer generischen Beschreibung vorgeben.392 Als besonders problematisch hat sich aus Sicht der verhaltensleitenden Funktion die Verweisung auf Rechtsverordnungen herausgestellt. Die von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien, namentlich die sog. „SpezifizierungsRechtsprechung“, sind – bei einem engen Verständnis – zwar geeignet, verfassungswidrige Kompetenzverschiebungen zu vermeiden. Selbst bei Einhaltung dieser Kriterien ist jedoch die Auffindbarkeit der Ausfüllungsnorm und damit die Vorhersehbarkeit des sanktionierten Verhaltens nicht sichergestellt. Im Ergebnis sind, mit Ausnahme der neu gefassten § 95 Abs. 1 Nr. 2 und § 96 Nr. 2 jeweils i. V. m. § 6 AMG,393 sämtliche, auch verdeckte und indirekte bzw. mittelbare, Verweisungen auf Rechtsverordnungen nicht mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar. Dies gilt erst Recht, wenn man berücksichtigt, dass – wie die Neuregelung des § 95 Abs. 1 Nr. 2 und § 96 Nr. 2 jeweils i. V. m. § 6 AMG verdeutlicht – eine präzisere Verweisungskonstruktion möglich ist. Dieses Ergebnis hat sich im Rahmen der Analyse der Entscheidung des BVerfG vom 21. 09. 2016 bestätigt. Nach hiesiger Auffassung müsste auch das BVerfG bei konsequenter Anwendung der in diesem Beschluss geschilderten Maßstäbe zahlreiche Verweisungen auf Rechtsverordnungen als verfassungswidrig 389 390
AMG. 391
AMG.
Siehe Kapitel 2 F. I. § 95 Abs. 1 Nr. 2 AMG, § 96 Nr. 2 AMG, § 96 Nr. 18 AMG und § 97 Abs. 2 Nr. 31 § 95 Abs. 1 Nr. 8 AMG, § 96 Nr. 15 AMG a. F., § 96 Nr. 16 AMG und § 97 Abs. 2 Nr. 21
392 § 97 Abs. 2 Nr. 6, § 97 Abs. 2 Nr. 23d, § 97 Abs. 2 Nr. 25, § 97 Abs. 2 Nr. 31, § 97 Abs. 2c Nr. 2 AMG. 393 Kapitel E. I. 3.
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Kap. 2: Die Blankettgesetzgebungstechnik des AMG
einstufen. Bei der Beurteilung der Blankettgesetzgebungstechnik der Straf- und Bußgeldtatbestände des AMG muss neben den soeben dargestellten problematischen Konstruktionen zusätzlich berücksichtigt werden, dass sich die Voraussehbarkeit des straf- bzw. bußgeldbewehrten Verhaltens durch die Kombination einzelner – isoliert betrachtet noch zulässiger Verweisungstypen – erhebliche verschlechtert.394 Problematisch ist zudem nicht nur die Kombination verschiedener Blanketttypen, sondern auch die Kombination der Blankettgesetzgebungstechnik mit der Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe, zumal hier bereits im Kapitel 1 aufgezeigt wurde, dass der für die Mehrzahl der Straf- und Bußgeldvorschriften relevante Arzneimittelbegriff von der Rechtsprechung nicht (ausreichend) konkretisiert wurde. Erschwerend hinzu kommt dann noch die Masse an Straf- und Bußgeldvorschriften, auf die anfangs eingegangen wurde. Auch dies führt zu einer Verschärfung der Bestimmtheitsproblematik.
394
Vgl. Ernst, Blankettstrafgesetze, S. 136.
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Stichwortverzeichnis Auslegungsbedürftigkeit 165, 184, 205
154, 163, 164,
Blankettgesetzgebungstechnik 17, 20, 115, 116, 119, 120, 122, 126, 128, 130, 132, 134, 136, 138, 142, 144, 146, 148, 150, 152, 154, 156, 158, 160, 162, 164, 166, 168, 172, 174, 176, 178, 180, 182, 184, 186, 187, 188, 190, 192, 194, 196, 198, 200, 202, 204, 206, 207, 208 Blankettnorm – echte 117 – europarechtsakzessorisch 128, 131, 149, 150, 180 f., 182, 206 – nationale 181 – Rechtsverordnungsblankettnorm 173, 194, 195, 202, 203 – rückverweisende 121 – unechte 117 Definition – extensional 86, 87, 102, 103 – intensional 86, 87, 88, 102, 103, 186 „Dual use“ Produkte 18, 36, 72, 74, 113 Entsprechungsklausel 197, 198, 200, 201, 204, 206 Expertenstrafrecht 130, 162 – Experte 162, 171, 172, 204 – Fachwissen 82, 95, 130, 140, 162, 163, 172, 176, 204, 205 Funktion – freiheitsgewährleistende 197 – kompetenzwahrende 81, 87, 116, 121, 130, 131, 132, 133, 135, 136, 137, 139, 141, 143, 144, 145, 146, 147, 149, 151, 153, 155, 157, 59, 160, 168, 187, 188, 193, 194, 200, 204, 206, 207 – verhaltensleitende 20, 81, 115, 116, 121, 131, 132, 143, 154, 155, 160, 161, 163,
165, 167, 169, 171, 172, 173, 175, 177, 179, 181, 183, 185, 189, 190, 194, 195, 197, 202, 203, 207 Funktionsarzneimittel 25, 28, 31, 32, 38, 39, 40, 42, 43, 50, 54, 55, 56, 57, 58, 59, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 69, 70, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 96, 98, 99, 101, 105, 108, 110, 111, 112, 113 Geltungserhaltende Reduktion 152, 154 Generische Beschreibung 123, 125, 127, 129, 138, 144, 178, 182, 207 Gesundheitsfördernde Wirkung 58, 60, 61, 62, 67, 69, 72, 74, 77, 96, 98, 101, 107, 113 Grenzfallregelung 47, 49, 50, 52, 95, 105 Hilfskriterien
40, 41, 55, 56, 105, 112
Kaskaden 176, 202 Kompetenzverlagerung 160, 173 Kompetenzverschiebung 87, 147, 151, 207 Kompetenzverteilung 150, 160, 175, 177, 179, 180, 206 Krankheitsbegriff 24, 30, 31, 63, 64, 111 Legaldefinition 21, 95 LFGB 27, 35, 38, 106, 107, 117, 118, 146, 158, 181, 196, 197, 198, 199, 200, 201, 202, 203, 204, 206, 2019, 214, 215 Medizinprodukte 18, 27, 28, 33, 39, 45, 46, 47, 50, 51, 52, 53, 75, 76, 99, 100, 101, 102, 105, 113 Multifaktortheorie 31, 36, 54, 55, 75, 105, 109, 112 Nahrungsergänzungsmittel 32, 33, 38, 39, 42, 53, 60, 100 Normadressat 19, 81, 82, 84, 85, 90, 91, 95, 99, 106, 107, 110, 111, 138, 142, 154, 161, 162, 163, 164, 165, 167, 168, 170, 171,
Stichwortverzeichnis 174, 176, 177, 178, 179, 180, 182, 183, 184, 186, 199, 202, 203, 205 Normatives Tatbestandsmerkmal 117, 158 Pharmakologische Wirkung 18, 21, 25, 26, 27, 31, 32, 33, 34, 35, 37, 38, 39, 40, 42, 43, 45, 46, 50, 51, 52, 53, 54, 55, 56, 57, 59, 60, 67, 68, 70, 75, 77, 78, 86, 93, 99, 100, 101, 102, 103, 104, 105, 108, 110, 111, 113, 170, 171, 172 Präsentationsarzneimittel 28, 29, 30, 31, 39, 47, 50, 55, 56, 58, 59, 64, 69, 74, 75, 76, 77, 78, 99, 105, 111, 112, 114 Präzision 178 – bestmögliche 164 – Präzisionsgebot 84 Qualifizierte – Blankettnorm 145, 146 – Rückverweisungsklausel 206 – Verweisung 121, 145, 146, 169 RiFlEtikettG 128, 132, 141, 166, 173, 180, 188, 189, 190, 191, 192, 193, 194, 195, 196, 197, 198, 199, 200, 201, 206 Rückverweisungsklausel 122, 145, 146, 147, 148, 149, 160, 168, 174, 175, 188, 190, 191, 192, 193, 194, 196, 200, 202, 203, 204, 206 Spezifizierung 131, 133, 134, 138, 139, 140, 141, 143, 144, 145, 150, 151, 159, 180, 181, 207 Strafrechtstypische Verschärfung 134, 135, 137, 142, 205 Tatbestandsbestimmtheit Tautologie 102, 111
165, 177
Verordnungsgeber 23, 87, 114, 124, 125, 131, 133, 143, 144, 145, 146, 147, 149,
221
150, 169, 192, 193, 194, 196, 198, 201, 202, 207 Verweisungen – deklaratorische 138, 146 – dynamische 107, 112, 120, 121, 125, 126, 132, 133, 134, 135, 151, 152, 153, 154, 155, 156, 157, 159, 160, 173, 174, 177, 188, 190, 192, 206 – einfache 132, 145, 146, 149, 169, 175, 178, 192, 197, 206 – konkludente 117, 120, 121, 156, 157, 160 – normergänzende 138 – normkonkretisierende 138, 142, 151 – statische 107, 120, 121, 150, 151, 153, 154, 163, 177, 206 Verweisungsbestimmtheit 165 Verweisungsketten 128, 157, 174, 175, 176, 202 Vorhersehbarkeit 92, 162, 163, 195 – der Einstufung eine Produktes 95 – des sanktionierten Verhaltens 96, 97 – des strafbaren Verhaltens 107, 161, 169, 170, 187, 190, 203 Weiterverweisungen 130, 151, 161, 158, 160, 166, 167, 173, 174, 176, 177, 179, 183, 185 Wesentlichkeitstheorie 134, 136, 147 Zumutbarkeit des Rechtsfindungsaktes 172, 176, 181, 207 Zweckbestimmung 24, 29, 36, 39, 40, 70, 71, 75, 92, 97, 109 – arzneiliche 30, 66 – des Herstellers 69, 70, 89, 92, 98 – objektive 25, 38, 42, 98 – subjektive 73, 90, 91, 97, 98, 111 – therapeutische 34, 47, 59, 60 f., 64 Zweifelsfallregelung 25, 27