Die Beschränkung der Rückwirkung von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs 9783161536625, 9783161536472

Wenn der EuGH entscheidet, erweist sich nicht selten, dass das nationale Recht mit den unionsrechtlichen Vorgaben unvere

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German Pages 616 Year 2015

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Vorwort
Inhaltsübersicht
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Teil 1: Einführung
§ 1 Überblick über die Rechtsprechung zur Rückwirkungsbeschränkung
A. Nichtigerklärung und Ungültigkeitsfeststellung
B. Auslegung von Primär- und Sekundärrecht
C. Andere Verfahrensarten
D. Zahlen zur Rückwirkungsbeschränkung
Teil 2: Grundlagen
§ 2 Instrumente für Vertrauensschutz gegen Rechtsprechung
A. Gar keine Berücksichtigung von Vertrauen und getätigten Investitionen
B. Berücksichtigung von Vertrauen in der Rechtsprechung
I. Rechtssicherheit durch Ausschluss der Rechtsprechungsänderung
II. Modifikation des Norminhalts oder der Normwirkungen
1. Modifikation des Norminhalts
2. Modifikation der Normwirkungen
III. Modifikation der Urteilswirkungen
IV. Änderungsankündigung
V. Berücksichtigung in anderen Rechtsinstituten oder Normen
1. Rechtsbereiche
a) Privatrecht
b) Strafrecht
c) Öffentliches Recht
2. Mindestanforderungen
C. Möglichkeiten des EuGH für unionsrechtlichen Vertrauensschutz
§ 3 Theoretische Grundlagen der Rückwirkung von Rechtsprechung
A. Funktionen der Rechtsprechung im Unionsrecht
B. Tatsächlicher Vergangenheitsbezug von Rechtsprechung
C. Die Bindungswirkung von EuGH-Entscheidungen
I. Nachrangigkeit der Rechtsquelleneigenschaft
II. Keine Selbstbindung des EuGH
III. Unwirksamkeitsverfahren
1. Nichtigkeitsklage nach Art. 263 f. AEUV
2. Ungültigkeitsvorabentscheidung nach Art. 267 Abs. 1 lit. b) Alt. 1 AEUV
3. Inzidentrüge nach Art. 277 AEUV
IV. Auslegung und Auslegungsvorabentscheidung
1. Rechtskraftwirkungen der Auslegungsvorabentscheidung nach Art. 267 Abs. 1 lit. b) Alt. 2 AEUV
2. Allgemeine Bindungswirkung der Auslegung
a) Verfahrensunabhängigkeit der Bindungswirkung
b) Diskussion von Inhalt und Geltungsgrund der Bindungswirkung
aa) Bindung des Gerichts (ehemals Gericht erster Instanz)
bb) Letztinstanzlich entscheidende nationale Gerichte
cc) Nicht-letztinstanzlich entscheidende nationale Gerichte
V. Gegenstand der Bindungswirkung
VI. Sonstige Verfahrensarten
D. Grundsätzliche Rückwirkung von Auslegung und Rechtsfortbildung
I. Auslegung
1. Auslegung im Unionsrecht
2. Zeitliche Wirkung der Auslegung
a) Verfahrensunabhängiger Auslegungsvorgang
b) Erste Auslegung
aa) Natur der Sache/Wesen der Rechtsprechung
bb) Anwendungsbefehl
cc) Gleichheitssatz und Präjudizwirkung
dd) Richtigkeit der Auslegung und des Ergebnisses
ee) Deklarationstheorie vs. Dezisionstheorie
ff) Ziel der Auslegung
gg) Entscheidungserheblichkeit und kein Wert als Präjudiz
hh) Rechtsverweigerung
ii) Gesetzgebergleiche Zukunftsorientierung
jj) Rechtsprechung ohne Zukunftsbezug
kk) Zwischenergebnis
c) Bestätigende Zweitauslegung
II. Rechtsprechungsänderung (ändernde Zweitauslegung) und Rechtsänderung
1. Rechtsprechungsänderung im Unionsrecht
a) Keine absolute Selbstbindung des EuGH
b) Wenige ausdrückliche Rechtsprechungsänderungen
c) Keine besonderen Voraussetzungen
aa) Prozessuale Voraussetzungen einer Überprüfung der Rechtsprechung
bb) Materielle Voraussetzungen einer Rechtsprechungsänderung
d) Keine Notwendigkeit von besonderen Voraussetzungen
2. Stellungnahmen des Gerichtshofs
a) Die Rechtssache C-308/93 Cabanis-Issarte
b) Die Rechtssachen C-184/99 Grzelczyk und C-209/03 Bidar
c) Die Rechtssache T-334/94 Sarrió
3. Differenzierung nach dem Grund der Rechtsprechungsänderung
a) Bessere Rechtserkenntnis
b) Rechtserheblicher Wandel (Rechtsänderung)
c) Auswirkungen
4. Gleichbehandlung der Rechtsänderung bei erster Auslegung
III. Rechtsfortbildung
1. Rechtsfortbildung im Unionsrecht
2. Zeitliche Wirkung
E. Grundsätzliche Rückwirkung der Unwirksamkeit
I. Keine rechtsordnungsübergreifende Aussage aus Rechtstheorie oder Rechtslogik
II. Kein ipso iure-/ex tunc-Nichtigkeitsdogma im Unionsrecht
1. Keine Ableitung aus den prozessualen Regelungen
a) Nichtigkeitsklage nach Art. 263 f. AEUV
b) Ungültigkeitsfeststellung nach Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV
c) Inzidentrüge nach Art. 277 AEUV und Einrede der Rechtswidrigkeit
d) (Partielle) Unanwendbarkeit nach Art. 267 Abs. 1 lit. a), b) AEUV
e) Zwischenergebnis
2. Keine Ableitung aus der Bindungswirkung eines Urteils
3. Keine Ableitung aus der Rückwirkung der Auslegung
4. Keine Ableitung aus Prinzipien des materiellen Unionsrechts
5. Erfordernis einer konstitutiven und rückwirkenden Aufhebungsentscheidung
6. Die Bedeutung der Lehre von den Nichtakten
III. Ergebnis für das Unionsrecht
F. Zeitliche Wirkung in sonstigen Verfahrensarten
I. Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 ff. AEUV
II. Untätigkeitsklage nach Art. 265 f. AEUV
G. Das Prinzip der Rechtssicherheit als Grundlage der Rückwirkungsbeschränkung
I. Rechtssicherheit im Unionsrecht
II. Rechtssicherheit und Rechtsprechung
H. Schlussfolgerungen für die Beschränkung der Rückwirkung
§ 4 Übertragbarkeit der Lehre von der Rückwirkung von Gesetzen?
A. Das Rückwirkungsverbot bei unionsrechtlichen Legislativakten
I. Einführung
1. Anwendungsbereich
2. Auslegungsregel
II. Abgrenzung von echter und unechter Rückwirkung
III. Grundsätzliche Unzulässigkeit echter Rückwirkung
1. Erforderlichkeit der Rückwirkung
2. Beachtung individuellen Vertrauensschutzes
IV. Grundsätzliche Zulässigkeit unechter Rückwirkung
V. Besonderheit: Strafrecht
VI. Ausnahme für deklaratorische Vorschriften
B. Eingeschränkte Übertragbarkeit der Methodik der Legislativrückwirkung auf die Rechtsprechungsrückwirkung
I. Interpretative Vorschriften
II. Von den Schranken der Gesetzesrückwirkung zu den Schranken der Rechtsprechungsrückwirkung?
III. Übertragbarkeit einzelner Gedanken der Dogmatik
IV. Zusammenfassung
Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen
§ 5 Die Kompetenzgrundlagen für die Bestimmung der zeitlichen Wirkungen
A. Nichtigkeitsklage, Art. 264 Abs. 2 AEUV
B. Ungültigkeitsvorabentscheidungsverfahren, Art. 264 Abs. 2 AEUV analog
I. Lücke
II. Vergleichbare Interessenlage
C. Inzidentrüge, Art. 277 AEUV
D. Auslegungsvorabentscheidungsverfahren
I. Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV in Verbindung mit dem Prinzip der Rechtssicherheit
II. Keine vorrangige Analogie zu Art. 264 Abs. 2 AEUV
1. Auslegungsentscheidung als „faktische Unanwendbarkeitserklärung“ mitgliedstaatlichen Rechts
2. Sonderfall der Unanwendbarkeit von Unionsrecht unergiebig
3. Suspendierung des höherrangigen Rechts
III. Schweigende Anerkennung der Kompetenz zur Rückwirkungsbeschränkung
E. Weitere Verfahrensarten
I. Vertragsverletzungsverfahren, Art. 258 ff. AEUV, und Untätigkeitsklage, Art. 265 f. AEUV
1. Äußerungen des Gerichtshofs
2. Stellungnahmen der Generalanwälte
3. Anwendbarkeit der Auslegungsrückwirkungsbeschränkung
II. Gutachtenverfahren, Art. 218 Abs. 11 AEUV
III. Einstweilige Anordnungen und Eilverfahren
F. Zusammenfassung
§ 6 Der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung
A. Die Abwägung von Rechtssicherheit und „Objektivität des Rechts“
I. Der Grundsatz der Rechtssicherheit
II. Der Grundsatz der „Objektivität des Rechts“ im Unionsrecht
B. Auslegungsentscheidungen
I. Das Konnexitätsmerkmal
1. Inhalt und Begrifflichkeiten
2. Maßstab des EuGH und Möglichkeiten zu dessen Konkretisierung
3. Auswirkungen der Konnexität
4. Ablehnung eines eigenständigen Tatbestandsmerkmals
II. Der gute Glaube
1. Bezugspunkt und Inhalt des guten Glaubens
a) Bezugspunkt: „Unionsbestimmungen“
b) Inhalt: „objektive und bedeutende Unsicherheit“
aa) Normative Unbestimmtheit?
bb) Bestehen einer bestimmten Rechtslage
cc) „Neuheit“ der Rechtsprechung?
dd) Dogmatisch: Rechtliche Akzeptanz eines tatsächlichen Irrtums wegen Verhaltensverantwortlichkeit der Union
ee) Objektivierter und abstrakter Maßstab
ff) Vergleich zum Maßstab der Staatshaftung
c) Anforderungen an die Prognoseentscheidung
aa) Strenger Maßstab
bb) Relevanz der europarechtlichen Methodenlehre
cc) Insbesondere die Bedeutung des Wortlauts
2. Einzelne Abwägungskriterien
a) Rechtsfortbildung/Auslegung
b) Erste Auslegung/Rechtsprechungsänderung
c) Charakter der ausgelegten Rechtsnorm
aa) Primärrecht/Sekundärrecht
bb) Zwingendes Recht/Dispositives Recht
cc) Materielles Recht/Verfahrensrecht/Prozessrecht
d) Unterscheidung nach einzelnen Rechtsgebieten?
aa) Privatrecht
bb) Geschlechtsdiskriminierung
cc) Strafrecht
dd) Steuerrecht
ee) Beihilferecht
ff) Sonstige berücksichtigungsfähige Interessen
3. Vertrauensbegründendes Verhalten
a) Rechtsansichten der Unionsstellen als Vertrauensauslöser
b) Rechtmäßigkeit des vertrauensbegründenden Verhaltens/der Rechtslage?
c) Verhalten des Gerichtshofs (Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2 SpS. 5 EUV)
aa) Rechtsprechung des Gerichtshofs
(1) Allgemeine Erwägungen zum Vertrauen in Rechtsprechung
(2) Objektiv und subjektiv einschlägige Rechtsprechung – Rechtsprechungsänderung
(3) Nicht objektiv aber subjektiv einschlägige Rechtsprechung
(4) Objektiv einschlägige aber subjektiv nicht einschlägige Rechtsprechung
(5) Judikatives Unterlassen?
bb) Schlussanträge der Generalanwälte
d) Verhalten der Kommission (Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2 SpS. 4 EUV)
aa) Tun
bb) Schweigen oder Untätigkeit
cc) Zusammenfassung
e) Verhalten des Rates (Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2 SpS. 3 EUV)
f) Verhalten des Europäischen Parlaments (Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2 SpS. 1 EUV)
g) Verhalten anderer Organe oder Stellen der Union
aa) Europäische Zentralbank (Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2 SpS. 6 EUV)
bb) Rechnungshof (Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2 SpS. 7 EUV)
cc) Europäischer Rat (Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2 SpS. 2 EUV)
dd) Andere Einrichtungen der untergeordneten Organisationsstrukturen
(1) Beratender Ausschuss für die Mehrwertsteuer
(2) Sekundäre Organisationsstrukturen
(3) Agenturen
h) Verhalten der Mitgliedstaaten
i) Sonstige Rechtsansichten (Private, Verbände, Wissenschaft, nationale Gerichte und Behörden)
j) Rangordnung der Verursacher
4. Ausschluss des Vertrauens
a) Geklärte Rechtslage
aa) Grundsätze
bb) Problemidentität mit Konnexität und Neuheit
cc) Kritik am objektiven Maßstab
(1) Gleichbehandlungsgrundsatz und Einheitlichkeit des Unionsrechts
(2) Bindungswirkung als Basis der Ungleichbehandlung
(3) Vermeidung territorialer Zersplitterung trotz „mitgliedstaatsbezogener“ Auslegung
(4) Keine Ungleichbehandlung/Zersplitterung durch objektiviert-subjektiven Maßstab
dd) Anwendung des allgemeinen Gutglaubensmaßstabs
b) Weitere Umstände
5. Die Vertrauenden
a) Die betroffenen Verkehrskreise
b) Mitgliedstaaten als Betroffene
c) Kommission und Nicht-EU-Angehörige
6. Zeitpunkt des guten Glaubens und des vertrauensrelevanten Verhaltens der Unionsorgane
a) Ein Zeitraum bis zum Urteil
b) Trittbrettfahrerproblematik
c) Mehrere Phasen des guten Glaubens?
d) Flexiblere Anknüpfung bei Beginn und Ende des guten Glaubens?
7. Kein Kausalitätserfordernis
8. Abschließendes Beispiel und Zwischenfazit – Die Rechtssache Mangold
III. „Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Auswirkungen“
1. Zweck des Merkmals
2. Doppelte Verknüpfung mit dem „Gutglaubensmerkmal“
3. Beachtung der Auswirkungen auf alle Mitgliedstaaten
4. „Wirtschaftliche Auswirkungen“
a) Tatsächliche Reichweite der Auswirkungen
aa) Mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie
bb) Abwälzung der Lasten
b) Keine administrativen oder praktischen Schwierigkeiten
c) Prüfung der Zahlen durch den Gerichtshof
5. „Schwerwiegend“
a) Zahlen aus den einschlägigen Sachverhalten
b) Relativer Schwellenwert und Bezugspunkt
c) Anzahl der betroffenen Fälle und Dauer des Verstoßes
d) Konkretisierungsversuch
6. „Gefahr“
7. Kritik
C. Unwirksamkeitsentscheidungen
I. Wohlerworbene Rechte und Vertrauensschutz
1. Vertrauenssituation
a) Bezugspunkt des Vertrauens
b) Verstärkung des Vertrauens durch zusätzliche Faktoren
c) Keine Präklusion
d) Erschütterung der Gültigkeitsvermutung
e) Rechtsprechungsänderung
2. Schützenswerte (Rechts-)Position
3. Abstrakte Betroffenheit
4. Betroffene
5. Anzahl der betroffenen Rechtsverhältnisse
6. Geltungsdauer und -zeitraum der aufgehobenen Norm
II. Rechtssicherheitserwägungen im öffentlichen Interesse
1. Stabilität des Haushaltsplans
2. Gewaltenteilung/Beurteilungsspielräume anderer Organe/Gleichheitsgrundsatz
3. Klage ist auf ein sachliches Mehr gerichtet (Verpflichtungssituation)
4. Neue Wettbewerbsverzerrungen durch Rückabwicklung
5. Völkerrechtliche Bindung
6. Vermeidung einer Regelungslücke
a) Keine Rechtswidrigkeit des hypothetischen Rechtsakts
b) Wahrscheinlichkeit des Neuerlasses
c) Schützenswerte Regelungsziele
aa) Kontinuität von Harmonisierungsmaßnahmen und besonderen Projekten
bb) Kontinuität der Besoldung von Unionsangestellten
cc) Restriktive Maßnahmen in der GASP
d) Verhältnis zur Gesetzesrückwirkung (Fallgruppe der Schließung einer Gesetzeslücke)
e) Ausnahme bei Art. 60 Abs. 2 EuGH-Satzung
III. Abwägungsfeste Rechtsklarheit?
IV. Abgrenzung zur Teilunwirksamkeit und besonderen Tenorierungsformen
1. Unwirksamkeit folgt aus der zeitlich unbegrenzten Geltung
2. Unwirksamkeit ist auf die Vergangenheit beschränkt
3. Unwirksamkeit beruht auf der Nichteinbeziehung vergangener Sachverhalte
4. Vertrauensschutz durch sachliche Beschränkung der Unwirksamkeit
5. Besondere Verfahrensarten und Tenorierungsformen
D. Einheitlicher verfahrensübergreifender Maßstab?
E. Die Ablehnung einer Rückwirkungsbeschränkung
F. Rückwirkungsbeschränkung als Rechtspolitik?
§ 7 Die Rechtsfolgenbestimmung der Rückwirkungsbeschränkung
A. Dogmatische Einordnung
I. Nichtigkeitsklage: Aufrechterhalten materieller Wirkungen
II. Auslegung und Auslegungsvorabentscheidung
1. Wortlautanalyse teilweise unergiebig
2. Klagbarkeitsbeschränkung
3. Der Unterschied zu einer materiellen Beschränkung des Anwendungsbereichs („Anwendbarkeitsbeschränkung“)
4. Vor- und Nachteile der sui generis-Lösung des EuGH
5. Normativer Gehalt
6. Auslegungsrückwirkungsbeschränkung in anderen Verfahrensarten
III. Ungültigkeitsvorabentscheidung
1. Grundsatz: Aufrechterhalten materieller Wirkungen
2. Aussetzen der Wirkungen der Ungültigerklärung – Die Rechtssache Régie Networks
IV. Gemeinsamkeiten bei Unwirksamkeit und Auslegung
1. Keine Veränderung des Hauptsachetenor
2. Negation einer Norm
3. Keine Veränderung der Präjudizregeln
4. Keine Veränderung der allgemeinen Regeln über die Kollision von Unionsrecht und mitgliedstaatlichem Recht
5. Möglichkeit einer einheitlichen Dogmatik?
B. Sachliche Reichweite
I. Auslegungsentscheidungen
1. Begrenzung auf einzelne Rechtsfrage
2. Begrenzung auf abgeschlossene Sachverhalte
a) Steuerrecht
b) Soziale Leistungen
c) Private (Dauer-)Schuldverhältnisse
II. Unwirksamkeitsentscheidungen
1. Aufrechterhalten aller Wirkungen
2. Aufrechterhalten der Durchführungsmaßnahmen
3. Aussetzen der Wirkungen der Ungültigerklärung
III. Auswirkung auf Schadensersatzansprüche nach Art. 340 Abs. 2 AEUV und den unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch
1. Auslegungsrückwirkungsbeschränkung
2. Fortwirkungsanordnung
3. Haftung der Mitgliedstaaten nach dem unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch
C. Zeitliche Reichweite
I. Auslegungsentscheidungen
1. Keine Übergangsfristen
2. Tag des Urteils als Bezugspunkt
3. Früherer Zeitpunkt bei „bestätigender Zweitauslegung“?
a) Nachholung einer Rückwirkungsbeschränkung
aa) Keine Änderung des früheren Urteils
bb) Änderung der Rückwirkungsentscheidung
(1) Einzige relevante Fallgruppe im Vergleich zur sofortigen Beschränkung und ihre Rechtfertigung
(2) Widerspruch zur allgemeinen Dogmatik der Rechtsprechungsänderung
(3) Erkennbarkeit der zeitlichen Geltung einer bestimmten Auslegung
(4) Keine Gefahr für die Einheitlichkeit des Unionsrechts
(5) Faktische Zersplitterung und mangelnde Prozessbeteiligung
(6) Ex post-Betrachtung der wirtschaftlichen Folgen und Anrechnung des „Ersparten“
cc) Ergebnis
dd) Alternative bei Verneinung der Nachholbarkeit: Unionaler Staatshaftungsanspruch
b) Übertragung früherer Rückwirkungsbeschränkungen
c) Erstauslegendes Urteil war keine Auslegungsvorlage
4. Zukünftiger Zeitpunkt
II. Unwirksamkeitsentscheidungen
1. Abgrenzung der erfassten Sachverhalte
a) Tag des Urteils als Bezugspunkt
b) Frühere Zeitpunkte
aa) Kein Anwendungsfall
bb) Keine Nachholbarkeit
cc) Übertragung früherer Rückwirkungsbeschränkungen
c) Spätere Zeitpunkte
aa) Nach dem Kalender bestimmter oder bestimmbarer Zeitpunkt
bb) Aufhebung des unwirksamen Rechtsakts
cc) Kombination von Ablauf des Rechtsakts und kalendermäßiger Maximalfrist
dd) Unbegrenzt?
2. Aufrechterhaltungsfrist
D. Personeller Geltungsbereich – Ausnahmen für die Parteien des (Ausgangs-)Rechtsstreits und/oder andere Rechtsbehelfsführer
I. Auslegungsentscheidungen
1. Individualrechtsschutz
2. Bedeutung für die Durchsetzung des Unionsrechts
3. Belohnung für die Kosten und Mühen der Klage; Klageanreize
4. Keine Entscheidungserheblichkeit
5. Einbeziehung anderer Rechtsbehelfsführer
6. Teleologisch begründete Ausnahmen; Trittbrettfahrerproblematik
II. Unwirksamkeitsentscheidungen
1. Nichtigkeitsklage
2. Ungültigkeitsvorlage
III. Unterschiede zwischen Ungültigkeitsvorlage, Nichtigkeitsklage und Auslegungsvorlage
IV. Die Einlegung eines Rechtsbehelfs
1. Klage
2. Entsprechender Rechtsbehelf
3. Einzelfragen
4. Offenhalten zu Gunsten hoheitlicher Akteure?
E. Räumlicher Geltungsbereich
§ 8 Besonderheiten für EuG und Fachgerichte
A. Praktische Relevanz und Beschreibung des Instanzenzugs
B. Unwirksamkeitsverfahren
C. Fallübersicht für Auslegungsbeschränkung
D. Rechtsprechung des EuG als Aspekt des guten Glaubens
I. EuG als letzte Instanz
II. EuG als Eingangsinstanz
1. Urteil wird nicht rechtskräftig
2. Urteil wird rechtskräftig
E. Gewährung von Vertrauensschutz durch das EuG
F. Fachgerichte
§ 9 Auswirkungen der Rückwirkungsentscheidung auf die anderen Unionsorgane
A. Rückwirkung und Unionsverwaltungsrecht
B. Änderung der Rechtslage durch den Unionsgesetzgeber oder den Unionsverfassungsgeber
Teil 4: Prozessrechtliche Fragestellungen
§ 10 Allgemeines zur Rückwirkungsbeschränkung im Prozess vor dem EuGH
A. Prüfungsstandort und Überschrift
B. Entscheidungsbegründung
C. Tenorierung
I. Notwendigkeit
II. Wortlaut und Inhalt
D. Kosten des Rechtsstreits
E. Rechtskraft
I. Rechtskraft der Hauptsacheentscheidung
II. Keine eigenständige Rechtskraft der Rückwirkungsentscheidung
F. Das zweistufige Verfahren nach Ludewig
§ 11 Das Erfordernis eines „Antrags“
A. Dogmatische Einordnung
I. Normative Vorgaben
II. Keine Bindung des EuGH
III. Wortlaut uneinheitlich und untechnisch
IV. Verhältnis zum Streitgegenstand der Hauptsache
V. Schlussfolgerungen
B. Personelle Voraussetzungen
I. Beteiligte
II. Keine „Antragsbefugnis“
C. Hilfsantrag und inhaltliche Grenzen
I. Bedingung/Hilfsantrag
II. Inhaltliche Begrenzung
D. Formelle Anforderungen
§ 12 Darlegung und Beweis der Tatbestandsvoraussetzungen
A. Allgemeine Grundsätze zur Beweisführung im Unionsprozess
B. Grundsätze bei Rückwirkungsbeschränkungen
I. Feststellungslast
II. Belastung des Interessierten
C. Einzelheiten
I. Vertrauenstatbestand, insbesondere guter Glaube
II. Schwere wirtschaftliche Auswirkungen
Teil 5: Rückwirkungsbeschränkung und mitgliedstaatliches Recht
§ 13 Grundlagen
A. Die Unionsrechtsbezogenheit der Rückwirkungsbeschränkung
B. Allgemeine Schranken
I. Rechts- oder Bestandskraft
II. Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten
C. Kein grundsätzlicher Ausschluss nationalen Vertrauensschutzes
D. Nationaler Vertrauensschutz im Verhältnis zu den Kollisionslösungsmechanismen
I. Ausgangspunkt 1: Unterscheidung zwischen unmittelbar und mittelbar geltendem Unionsrecht
II. Ausgangspunkt 2: Keine Unterscheidung nach beschränkter und nicht beschränkter Rückwirkung oder nach der Verfahrensart
III. Ausgangspunkt 3: Keine Kollision, wenn das materielle Unionsrecht nationalen Vertrauensschutz zulässt
1. Beispiel: Sportwettenmonopol und Grundfreiheiten
2. Beispiel: Altersdiskriminierung und Chartagrundrechte
IV. Ausgangspunkt 4: Vertragsverletzung bei Überschreiten der unionsrechtlichen Grenzen
§ 14 Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als nationalverfassungsrechtliche Integrationsschranke?
A. Ausbrechende Rechtsakte/ultra vires-Handlungen
B. Verfassungsidentität
C. Grundrechtsschutz und Solange-Rechtsprechung
I. Solange-Rechtsprechung
II. Übertragung auf das Judikativrückwirkungsverbot
1. Vertrauensschutz als grundrechtsrelevante Verfassungsgarantie
2. Vergleich des Schutzniveaus
3. Ergebnis
§ 15 Unmittelbar anwendbares Unionsrecht
A. Konformauslegung ohne Bedeutung
B. Grundsätze des Anwendungsvorrangs
C. Kollision von unmittelbar anwendbarem Unionsrecht und mitgliedstaatlichem Recht
I. Erforderliche Qualität der Kollision
II. Zeitliche Grenzen der Kollision
III. Direkte Kollision durch nationalen Vertrauensschutz
D. Temporäre Suspendierung des Anwendungsvorrangs, insbesondere die Rechtssache Winner Wetten
I. Suspendierung des Anwendungsvorrangs durch deutsche Verwaltungsgerichte
II. Die Entscheidung in der Rechtssache Winner Wetten
III. Analoge Anwendung von Art. 264 Abs. 2 AEUV
1. Lückenfeststellung
2. Lückenfüllung
a) Subjektiver Rechtsschutz
b) Einheitliche Anwendung und Wirkung des Unionsrechts
3. Zwischenergebnis
IV. Rechtsanalogie
1. Abwägung mit unionalen Interessen und Rechtsgrundsätzen
2. Tatbestandsvoraussetzungen
a) Vertrauensschutz – Das Verhältnis zur Auslegungsrückwirkungsbeschränkung
b) Regelungslücke
c) Frustration der nationalen Wertungsentscheidung
V. Entscheidungsmonopol des Europäischen Gerichtshofs
§ 16 Mittelbar anwendbares Unionsrecht, insbesondere richtlinienkonforme Auslegung
A. Grundsätze der Konformauslegung
B. Grenzen
I. Zwei kumulative Grenzen
II. Reichweite eines unionalen Vertrauensschutzes
III. Die Gewährung von Vertrauensschutz als nationale Begrenzung der richtlinienkonformen Auslegung
1. Kein ausschließlich kompetenzielles Verständnis der Schranke
2. Mindestanforderung des Äquivalenzgrundsatzes
3. Modifikation des nationalen Vertrauensmaßstabs
a) Modifikation des Vorhersehbarkeitskriteriums
aa) In Bezug zum materiellen Recht
bb) In Bezug zur Methodenlehre
b) Vertrauensschutz zu Gunsten der öffentlichen Hand
c) Endzeitpunkt des nationalen Vertrauens
C. Zusammenfassung
§ 17 Staatshaftung als Ausgleich für enttäuschtes Vertrauen?
A. Staatshaftungsansprüche bei der Gewährung von nationalem Vertrauensschutz
I. Unionsrechtlicher Staatshaftungsanspruch
II. Nationale Amtshaftungs- und Staatshaftungsansprüche
B. Staatshaftungsansprüche bei der Nichtgewährung von nationalem Vertrauensschutz
I. Unionsrechtlicher Staatshaftungsanspruch
1. Anwendung des bekannten Staatshaftungsanspruchs
a) Verletzung einer subjektiv-rechtlichen Norm
b) Hinreichend qualifizierter Verstoß
2. Anpassung der Anspruchsvoraussetzungen?
II. Nationale Amts- und Staatshaftungsansprüche
1. Die Stellungnahme des Bundesverfassungsgerichts in der Rechtssache Honeywell
2. Bekannte Ansprüche
3. Voraussetzungen eines zu schaffenden Anspruchs
Teil 6: Zusammenfassung der Ergebnisse
Anhang I: Übersicht zu den Entscheidungen zur Rückwirkungsbeschränkung
A. Nichtigkeitsklage
B. Gültigkeitsvorabentscheidung
C. Auslegungsvorabentscheidung
D. Vertragsverletzung
Anhang II: Neue Rechtsakte bei Gefahr von Regelungslücken
Literaturverzeichnis
Sachregister
Recommend Papers

Die Beschränkung der Rückwirkung von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs
 9783161536625, 9783161536472

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Studien zum ausländischen und internationalen Privatrecht 337 Herausgegeben vom

Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht Direktoren:

Jürgen Basedow, Holger Fleischer und Reinhard Zimmermann

Frank Rosenkranz

Die Beschränkung der Rückwirkung von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs

Mohr Siebeck

Frank Rosenkranz, geboren 1979; Studium der Rechtswissenschaften an der EuropaUniversität Viadrina in Frankfurt (Oder); Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der RuhrUniversität Bochum; Referendariat am Oberlandesgericht Hamm mit Stationen in ­Bochum, Dortmund, Düsseldorf und Tel Aviv (Israel); 2009–14 Promotionsstudium an der Ruhr-Universität Bochum; 2011 Forschungsaufenthalt an der Harvard Law School; seit 2014 Akademischer Rat a. Z. an der Ruhr-Universität, Bochum.

e-ISBN PDF 978-3-16-153662-5 ISBN 978-3-16-153647-2 ISSN 0720-1141 (Studien zum ausländischen und internationalen Privatrecht) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb. dnb.de abrufbar. © 2015  Mohr Siebeck, Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwer­ tung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elek­ tronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruck­ papier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden.

Für Julia

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2014 von der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum als Dissertation angenommen. Für die Veröffentlichung sind Rechtsprechung und Literatur noch bis Ende 2014 berücksichtigt. Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Karl Riesenhuber, M.C.J., der mich über viele Jahre auf mannigfaltige Weise unterstützt und gefördert hat. Prof. Dr. Wolfram Cremer danke ich für weiterführende Hinweise im äußerst zügig erstellten Zweitgutachten, Prof. Dr. Fabian Klinck und Prof. Dr. Florian Möslein, LL.M. für die zahlreichen Anregungen sowie die gewährte Unterstützung. Prof. Gráinne de Búrca, die durch ihre Einladung einen Forschungsaufenthalt an der Harvard Law School ermöglicht hat, danke ich für die freundliche Aufnahme und ihre Gesprächsbereitschaft. Den Direktoren des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Jürgen Basedow, LL.M., Prof. Dr. Holger Fleischer, LL.M., und Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Reinhard Zimmermann bin ich für die Aufnahme der Arbeit in die Schriftenreihe der „Studien zum ausländischen und internationalen Privatrecht“ ebenso zu Dank verpflichtet. Die Arbeit wurde gefördert durch Stipendien des Bucerius Jura Programms und der Wilhelm und Günter Esser-Stiftung sowie den Aulinger-Preis 2014. Mein herzlicher Dank gilt darüber hinaus meiner Familie, meinen Freunden und meinen Lehrstuhlkollegen, die auf unterschiedlichem Wege alle ihren Anteil am Gelingen dieses Projekts hatten. Frank Rosenkranz Bochum, Juli 2015

Inhaltsübersicht Vorwort ...................................................................................................... VII Inhaltsverzeichnis ........................................................................................ XI Abkürzungsverzeichnis ..........................................................................XXVII

Teil 1: Einführung ................................................................................... 1 § 1 Überblick über die Rechtsprechung zur Rückwirkungsbeschränkung .................................................................. 3

Teil 2: Grundlagen ................................................................................... 9 § 2 Instrumente für Vertrauensschutz gegen Rechtsprechung ..................... 9 § 3 Theoretische Grundlagen der Rückwirkung von Rechtsprechung .........16 § 4 Übertragbarkeit der Lehre von der Rückwirkung von Gesetzen? .........98

Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen ................................... 112 § 5 Die Kompetenzgrundlagen für die Bestimmung der zeitlichen Wirkungen ......................................................................................... 112 § 6 Der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung ............................... 130 § 7 Die Rechtsfolgenbestimmung der Rückwirkungsbeschränkung .......... 293 § 8 Besonderheiten für EuG und Fachgerichte ........................................ 380

X

Inhaltsübersicht

§ 9 Auswirkungen der Rückwirkungsentscheidung auf die anderen Unionsorgane .................................................................................... 388

Teil 4: Prozessrechtliche Fragestellungen ...................................... 397 § 10 Allgemeines zur Rückwirkungsbeschränkung im Prozess vor dem EuGH................................................................................................. 397 § 11 Das Erfordernis eines „Antrags“....................................................... 405 § 12 Darlegung und Beweis der Tatbestandsvoraussetzungen ................... 417

Teil 5: Rückwirkungsbeschränkung und mitgliedstaatliches Recht ........................................................................................... 428 § 13 Grundlagen ........................................................................................ 429 § 14 Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als nationalverfassungsrechtliche Integrationsschranke? ........................ 442 § 15 Unmittelbar anwendbares Unionsrecht .............................................. 450 § 16 Mittelbar anwendbares Unionsrecht, insbesondere richtlinienkonforme Auslegung .......................................................... 479 § 17 Staatshaftung als Ausgleich für enttäuschtes Vertrauen? ................... 497

Teil 6: Zusammenfassung der Ergebnisse ...................................... 515

Anhang I: Übersicht zu den Entscheidungen zur Rückwirkungsbeschränkung ............................................................... 519 Anhang II: Neue Rechtsakte bei Gefahr von Regelungslücken .................... 528 Literaturverzeichnis ................................................................................... 531 Sachregister ............................................................................................... 575

Inhaltsverzeichnis Vorwort ...................................................................................................... VII Inhaltsübersicht ........................................................................................... IX Abkürzungsverzeichnis ..........................................................................XXVII

Teil 1: Einführung ................................................................................... 1 § 1 Überblick über die Rechtsprechung zur Rückwirkungsbeschränkung .................................................................. 3 A. B. C. D.

Nichtigerklärung und Ungültigkeitsfeststellung ...................................... 3 Auslegung von Primär- und Sekundärrecht ............................................. 5 Andere Verfahrensarten .......................................................................... 6 Zahlen zur Rückwirkungsbeschränkung .................................................. 7

Teil 2: Grundlagen ................................................................................... 9 § 2 Instrumente für Vertrauensschutz gegen Rechtsprechung ..................... 9 A. Gar keine Berücksichtigung von Vertrauen und getätigten Investitionen ........................................................................................... 9 B. Berücksichtigung von Vertrauen in der Rechtsprechung ......................... 9 I. Rechtssicherheit durch Ausschluss der Rechtsprechungsänderung...10 II. Modifikation des Norminhalts oder der Normwirkungen .................10 1. Modifikation des Norminhalts ...................................................10 2. Modifikation der Normwirkungen .............................................10 III. Modifikation der Urteilswirkungen ..................................................11 IV. Änderungsankündigung ...................................................................11 V. Berücksichtigung in anderen Rechtsinstituten oder Normen ............12 1. Rechtsbereiche ..........................................................................12 a) Privatrecht ..........................................................................13 b) Strafrecht ............................................................................13

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c) Öffentliches Recht ..............................................................14 2. Mindestanforderungen ..............................................................14 C. Möglichkeiten des EuGH für unionsrechtlichen Vertrauensschutz .........14 § 3 Theoretische Grundlagen der Rückwirkung von Rechtsprechung .........16 A. Funktionen der Rechtsprechung im Unionsrecht ....................................16 B. Tatsächlicher Vergangenheitsbezug von Rechtsprechung ......................17 C. Die Bindungswirkung von EuGH-Entscheidungen .................................19 I. Nachrangigkeit der Rechtsquelleneigenschaft ..................................20 II. Keine Selbstbindung des EuGH .......................................................21 III. Unwirksamkeitsverfahren ................................................................22 1. Nichtigkeitsklage nach Art. 263 f. AEUV .................................22 2. Ungültigkeitsvorabentscheidung nach Art. 267 Abs. 1 lit. b) Alt. 1 AEUV .............................................................................23 3. Inzidentrüge nach Art. 277 AEUV ............................................25 IV. Auslegung und Auslegungsvorabentscheidung ................................26 1. Rechtskraftwirkungen der Auslegungsvorabentscheidung nach Art. 267 Abs. 1 lit. b) Alt. 2 AEUV ..................................26 2. Allgemeine Bindungswirkung der Auslegung ...........................27 a) Verfahrensunabhängigkeit der Bindungswirkung ...............27 b) Diskussion von Inhalt und Geltungsgrund der Bindungswirkung ...............................................................28 aa) Bindung des Gerichts (ehemals Gericht erster Instanz) ........................................................................28 bb) Letztinstanzlich entscheidende nationale Gerichte .......29 cc) Nicht-letztinstanzlich entscheidende nationale Gerichte .......................................................................30 V. Gegenstand der Bindungswirkung ...................................................37 VI. Sonstige Verfahrensarten .................................................................39 D. Grundsätzliche Rückwirkung von Auslegung und Rechtsfortbildung .....39 I. Auslegung .......................................................................................40 1. Auslegung im Unionsrecht ........................................................40 2. Zeitliche Wirkung der Auslegung .............................................45 a) Verfahrensunabhängiger Auslegungsvorgang .....................46 b) Erste Auslegung .................................................................47 aa) Natur der Sache/Wesen der Rechtsprechung ................47 bb) Anwendungsbefehl .......................................................48 cc) Gleichheitssatz und Präjudizwirkung ...........................50 dd) Richtigkeit der Auslegung und des Ergebnisses ...........52 ee) Deklarationstheorie vs. Dezisionstheorie ......................53 ff) Ziel der Auslegung .......................................................55

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XIII

gg) Entscheidungserheblichkeit und kein Wert als Präjudiz ........................................................................57 hh) Rechtsverweigerung .....................................................59 ii) Gesetzgebergleiche Zukunftsorientierung ....................60 jj) Rechtsprechung ohne Zukunftsbezug ...........................61 kk) Zwischenergebnis .........................................................62 c) Bestätigende Zweitauslegung .............................................62 II. Rechtsprechungsänderung (ändernde Zweitauslegung) und Rechtsänderung ...............................................................................63 1. Rechtsprechungsänderung im Unionsrecht ................................63 a) Keine absolute Selbstbindung des EuGH ............................64 b) Wenige ausdrückliche Rechtsprechungsänderungen ...........64 c) Keine besonderen Voraussetzungen ....................................65 aa) Prozessuale Voraussetzungen einer Überprüfung der Rechtsprechung ......................................................65 bb) Materielle Voraussetzungen einer Rechtsprechungsänderung ......................................................................66 d) Keine Notwendigkeit von besonderen Voraussetzungen .....68 2. Stellungnahmen des Gerichtshofs ..............................................69 a) Die Rechtssache C-308/93 Cabanis-Issarte ........................70 b) Die Rechtssachen C-184/99 Grzelczyk und C-209/03 Bidar ...................................................................70 c) Die Rechtssache T-334/94 Sarrió .......................................71 3. Differenzierung nach dem Grund der Rechtsprechungsänderung ...................................................................................72 a) Bessere Rechtserkenntnis ...................................................72 b) Rechtserheblicher Wandel (Rechtsänderung) ......................73 c) Auswirkungen ....................................................................74 4. Gleichbehandlung der Rechtsänderung bei erster Auslegung ....75 III. Rechtsfortbildung ............................................................................75 1. Rechtsfortbildung im Unionsrecht .............................................75 2. Zeitliche Wirkung .....................................................................77 E. Grundsätzliche Rückwirkung der Unwirksamkeit ..................................79 I. Keine rechtsordnungsübergreifende Aussage aus Rechtstheorie oder Rechtslogik ..............................................................................79 II. Kein ipso iure-/ex tunc-Nichtigkeitsdogma im Unionsrecht .............82 1. Keine Ableitung aus den prozessualen Regelungen ...................82 a) Nichtigkeitsklage nach Art. 263 f. AEUV ...........................82 b) Ungültigkeitsfeststellung nach Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV .......................................................................83 c) Inzidentrüge nach Art. 277 AEUV und Einrede der Rechtswidrigkeit .................................................................84

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d) (Partielle) Unanwendbarkeit nach Art. 267 Abs. 1 lit. a), b) AEUV ..................................................................84 e) Zwischenergebnis ...............................................................85 2. Keine Ableitung aus der Bindungswirkung eines Urteils ...........85 3. Keine Ableitung aus der Rückwirkung der Auslegung ..............86 4. Keine Ableitung aus Prinzipien des materiellen Unionsrechts ...87 5. Erfordernis einer konstitutiven und rückwirkenden Aufhebungsentscheidung ..........................................................90 6. Die Bedeutung der Lehre von den Nichtakten ...........................91 III. Ergebnis für das Unionsrecht ...........................................................91 F. Zeitliche Wirkung in sonstigen Verfahrensarten ....................................92 I. Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 ff. AEUV ....................92 II. Untätigkeitsklage nach Art. 265 f. AEUV ........................................93 G. Das Prinzip der Rechtssicherheit als Grundlage der Rückwirkungsbeschränkung .........................................................................................93 I. Rechtssicherheit im Unionsrecht......................................................94 II. Rechtssicherheit und Rechtsprechung ..............................................94 H. Schlussfolgerungen für die Beschränkung der Rückwirkung ..................96 § 4 Übertragbarkeit der Lehre von der Rückwirkung von Gesetzen? .........98 A. Das Rückwirkungsverbot bei unionsrechtlichen Legislativakten ............98 I. Einführung ......................................................................................98 1. Anwendungsbereich ..................................................................98 2. Auslegungsregel ........................................................................99 II. Abgrenzung von echter und unechter Rückwirkung .........................99 III. Grundsätzliche Unzulässigkeit echter Rückwirkung ...................... 100 1. Erforderlichkeit der Rückwirkung ........................................... 101 2. Beachtung individuellen Vertrauensschutzes........................... 101 IV. Grundsätzliche Zulässigkeit unechter Rückwirkung ...................... 103 V. Besonderheit: Strafrecht ................................................................ 104 VI. Ausnahme für deklaratorische Vorschriften ................................... 104 B. Eingeschränkte Übertragbarkeit der Methodik der Legislativrückwirkung auf die Rechtsprechungsrückwirkung .............................. 105 I. Interpretative Vorschriften ............................................................. 105 II. Von den Schranken der Gesetzesrückwirkung zu den Schranken der Rechtsprechungsrückwirkung? ................................................ 107 III. Übertragbarkeit einzelner Gedanken der Dogmatik ....................... 108 IV. Zusammenfassung ......................................................................... 110

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen ................................... 112 § 5 Die Kompetenzgrundlagen für die Bestimmung der zeitlichen Wirkungen ......................................................................................... 112 A. Nichtigkeitsklage, Art. 264 Abs. 2 AEUV ........................................... 113 B. Ungültigkeitsvorabentscheidungsverfahren, Art. 264 Abs. 2 AEUV analog ............................................................. 115 I. Lücke ............................................................................................ 115 II. Vergleichbare Interessenlage ......................................................... 116 C. Inzidentrüge, Art. 277 AEUV .............................................................. 117 D. Auslegungsvorabentscheidungsverfahren ............................................. 118 I. Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV in Verbindung mit dem Prinzip der Rechtssicherheit....................................................................... 119 II. Keine vorrangige Analogie zu Art. 264 Abs. 2 AEUV ................... 120 1. Auslegungsentscheidung als „faktische Unanwendbarkeitserklärung“ mitgliedstaatlichen Rechts ..................................... 121 2. Sonderfall der Unanwendbarkeit von Unionsrecht unergiebig . 122 3. Suspendierung des höherrangigen Rechts ................................ 124 III. Schweigende Anerkennung der Kompetenz zur Rückwirkungsbeschränkung .................................................................. 124 E. Weitere Verfahrensarten ...................................................................... 125 I. Vertragsverletzungsverfahren, Art. 258 ff. AEUV, und Untätigkeitsklage, Art. 265 f. AEUV ...................................... 125 1. Äußerungen des Gerichtshofs .................................................. 125 2. Stellungnahmen der Generalanwälte ....................................... 126 3. Anwendbarkeit der Auslegungsrückwirkungsbeschränkung .... 127 II. Gutachtenverfahren, Art. 218 Abs. 11 AEUV ................................ 128 III. Einstweilige Anordnungen und Eilverfahren ................................. 129 F. Zusammenfassung ................................................................................ 130 § 6 Der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung ............................... 130 A. Die Abwägung von Rechtssicherheit und „Objektivität des Rechts“ .... 131 I. Der Grundsatz der Rechtssicherheit ............................................... 131 II. Der Grundsatz der „Objektivität des Rechts“ im Unionsrecht ........ 132 B. Auslegungsentscheidungen .................................................................. 133 I. Das Konnexitätsmerkmal ............................................................... 136 1. Inhalt und Begrifflichkeiten .................................................... 136 2. Maßstab des EuGH und Möglichkeiten zu dessen Konkretisierung ...................................................................... 137 3. Auswirkungen der Konnexität ................................................. 143 4. Ablehnung eines eigenständigen Tatbestandsmerkmals ........... 143

XVI

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II. Der gute Glaube............................................................................. 145 1. Bezugspunkt und Inhalt des guten Glaubens ........................... 145 a) Bezugspunkt: „Unionsbestimmungen“.............................. 145 b) Inhalt: „objektive und bedeutende Unsicherheit“ .............. 147 aa) Normative Unbestimmtheit? ....................................... 147 bb) Bestehen einer bestimmten Rechtslage ....................... 148 cc) „Neuheit“ der Rechtsprechung? ................................. 151 dd) Dogmatisch: Rechtliche Akzeptanz eines tatsächlichen Irrtums wegen Verhaltensverantwortlichkeit der Union ................................................................... 154 ee) Objektivierter und abstrakter Maßstab........................ 157 ff) Vergleich zum Maßstab der Staatshaftung.................. 159 c) Anforderungen an die Prognoseentscheidung ................... 159 aa) Strenger Maßstab ....................................................... 160 bb) Relevanz der europarechtlichen Methodenlehre ......... 160 cc) Insbesondere die Bedeutung des Wortlauts ................ 162 2. Einzelne Abwägungskriterien.................................................. 164 a) Rechtsfortbildung/Auslegung ........................................... 165 b) Erste Auslegung/Rechtsprechungsänderung...................... 166 c) Charakter der ausgelegten Rechtsnorm ............................. 167 aa) Primärrecht/Sekundärrecht ......................................... 167 bb) Zwingendes Recht/Dispositives Recht........................ 168 cc) Materielles Recht/Verfahrensrecht/Prozessrecht......... 168 d) Unterscheidung nach einzelnen Rechtsgebieten? .............. 168 aa) Privatrecht .................................................................. 168 bb) Geschlechtsdiskriminierung ....................................... 170 cc) Strafrecht ................................................................... 171 dd) Steuerrecht ................................................................. 171 ee) Beihilferecht .............................................................. 172 ff) Sonstige berücksichtigungsfähige Interessen .............. 173 3. Vertrauensbegründendes Verhalten ......................................... 173 a) Rechtsansichten der Unionsstellen als Vertrauensauslöser 174 b) Rechtmäßigkeit des vertrauensbegründenden Verhaltens/der Rechtslage? ............................................... 176 c) Verhalten des Gerichtshofs (Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2 SpS. 5 EUV) ..................................................................... 177 aa) Rechtsprechung des Gerichtshofs ............................... 178 (1) Allgemeine Erwägungen zum Vertrauen in Rechtsprechung ................................................... 178 (2) Objektiv und subjektiv einschlägige Rechtsprechung – Rechtsprechungsänderung ................ 179 (3) Nicht objektiv aber subjektiv einschlägige Rechtsprechung ................................................... 182

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(4) Objektiv einschlägige aber subjektiv nicht einschlägige Rechtsprechung ............................... 184 (5) Judikatives Unterlassen? ...................................... 185 bb) Schlussanträge der Generalanwälte ............................ 186 d) Verhalten der Kommission (Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2 SpS. 4 EUV) ..................................................................... 186 aa) Tun ............................................................................ 187 bb) Schweigen oder Untätigkeit ....................................... 189 cc) Zusammenfassung ...................................................... 192 e) Verhalten des Rates (Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2 SpS. 3 EUV) ..................................................................... 193 f) Verhalten des Europäischen Parlaments (Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2 SpS. 1 EUV) ....................................................... 194 g) Verhalten anderer Organe oder Stellen der Union ............. 195 aa) Europäische Zentralbank (Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2 SpS. 6 EUV) .............................................................. 195 bb) Rechnungshof (Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2 SpS. 7 EUV) .............................................................. 195 cc) Europäischer Rat (Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2 SpS. 2 EUV) .............................................................. 195 dd) Andere Einrichtungen der untergeordneten Organisationsstrukturen ............................................. 196 (1) Beratender Ausschuss für die Mehrwertsteuer ..... 196 (2) Sekundäre Organisationsstrukturen ...................... 197 (3) Agenturen ............................................................ 197 h) Verhalten der Mitgliedstaaten ........................................... 197 i) Sonstige Rechtsansichten (Private, Verbände, Wissenschaft, nationale Gerichte und Behörden) ......................... 200 j) Rangordnung der Verursacher .......................................... 202 4. Ausschluss des Vertrauens ...................................................... 203 a) Geklärte Rechtslage .......................................................... 203 aa) Grundsätze ................................................................. 203 bb) Problemidentität mit Konnexität und Neuheit............. 204 cc) Kritik am objektiven Maßstab .................................... 205 (1) Gleichbehandlungsgrundsatz und Einheitlichkeit des Unionsrechts ........................................... 206 (2) Bindungswirkung als Basis der Ungleichbehandlung .......................................................... 207 (3) Vermeidung territorialer Zersplitterung trotz „mitgliedstaatsbezogener“ Auslegung .................. 207 (4) Keine Ungleichbehandlung/Zersplitterung durch objektiviert-subjektiven Maßstab ............... 208 dd) Anwendung des allgemeinen Gutglaubensmaßstabs ... 209

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b) Weitere Umstände ............................................................ 210 5. Die Vertrauenden .................................................................... 212 a) Die betroffenen Verkehrskreise ........................................ 213 b) Mitgliedstaaten als Betroffene .......................................... 214 c) Kommission und Nicht-EU-Angehörige ........................... 216 6. Zeitpunkt des guten Glaubens und des vertrauensrelevanten Verhaltens der Unionsorgane .................................................. 216 a) Ein Zeitraum bis zum Urteil ............................................. 216 b) Trittbrettfahrerproblematik ............................................... 217 c) Mehrere Phasen des guten Glaubens? ............................... 220 d) Flexiblere Anknüpfung bei Beginn und Ende des guten Glaubens? ......................................................................... 221 7. Kein Kausalitätserfordernis ..................................................... 223 8. Abschließendes Beispiel und Zwischenfazit – Die Rechtssache Mangold ....................................................... 223 III. „Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Auswirkungen“ ........... 224 1. Zweck des Merkmals .............................................................. 225 2. Doppelte Verknüpfung mit dem „Gutglaubensmerkmal“ ........ 226 3. Beachtung der Auswirkungen auf alle Mitgliedstaaten ............ 226 4. „Wirtschaftliche Auswirkungen“............................................. 228 a) Tatsächliche Reichweite der Auswirkungen...................... 229 aa) Mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie .................... 230 bb) Abwälzung der Lasten ................................................ 231 b) Keine administrativen oder praktischen Schwierigkeiten .. 232 c) Prüfung der Zahlen durch den Gerichtshof ....................... 233 5. „Schwerwiegend“.................................................................... 234 a) Zahlen aus den einschlägigen Sachverhalten .................... 235 b) Relativer Schwellenwert und Bezugspunkt ....................... 236 c) Anzahl der betroffenen Fälle und Dauer des Verstoßes ..... 239 d) Konkretisierungsversuch .................................................. 239 6. „Gefahr“ ................................................................................. 242 7. Kritik ...................................................................................... 243 C. Unwirksamkeitsentscheidungen ........................................................... 245 I. Wohlerworbene Rechte und Vertrauensschutz ............................... 247 1. Vertrauenssituation ................................................................. 248 a) Bezugspunkt des Vertrauens ............................................. 248 b) Verstärkung des Vertrauens durch zusätzliche Faktoren ... 250 c) Keine Präklusion .............................................................. 250 d) Erschütterung der Gültigkeitsvermutung........................... 251 e) Rechtsprechungsänderung ................................................ 252 2. Schützenswerte (Rechts-)Position ........................................... 253 3. Abstrakte Betroffenheit ........................................................... 255 4. Betroffene ............................................................................... 255

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5. Anzahl der betroffenen Rechtsverhältnisse .............................. 256 6. Geltungsdauer und -zeitraum der aufgehobenen Norm ............ 257 II. Rechtssicherheitserwägungen im öffentlichen Interesse ................ 259 1. Stabilität des Haushaltsplans ................................................... 260 2. Gewaltenteilung/Beurteilungsspielräume anderer Organe/Gleichheitsgrundsatz .................................................. 261 3. Klage ist auf ein sachliches Mehr gerichtet (Verpflichtungssituation) ........................................................ 263 4. Neue Wettbewerbsverzerrungen durch Rückabwicklung ......... 264 5. Völkerrechtliche Bindung ....................................................... 265 6. Vermeidung einer Regelungslücke .......................................... 267 a) Keine Rechtswidrigkeit des hypothetischen Rechtsakts .... 268 b) Wahrscheinlichkeit des Neuerlasses ................................. 269 c) Schützenswerte Regelungsziele ........................................ 272 aa) Kontinuität von Harmonisierungsmaßnahmen und besonderen Projekten ................................................. 272 bb) Kontinuität der Besoldung von Unionsangestellten .... 274 cc) Restriktive Maßnahmen in der GASP ......................... 275 d) Verhältnis zur Gesetzesrückwirkung (Fallgruppe der Schließung einer Gesetzeslücke)....................................... 277 e) Ausnahme bei Art. 60 Abs. 2 EuGH-Satzung ................... 279 III. Abwägungsfeste Rechtsklarheit? ................................................... 280 IV. Abgrenzung zur Teilunwirksamkeit und besonderen Tenorierungsformen ...................................................................... 282 1. Unwirksamkeit folgt aus der zeitlich unbegrenzten Geltung .... 283 2. Unwirksamkeit ist auf die Vergangenheit beschränkt .............. 285 3. Unwirksamkeit beruht auf der Nichteinbeziehung vergangener Sachverhalte .................................................................. 285 4. Vertrauensschutz durch sachliche Beschränkung der Unwirksamkeit ........................................................................ 285 5. Besondere Verfahrensarten und Tenorierungsformen .............. 286 D. Einheitlicher verfahrensübergreifender Maßstab? ................................ 287 E. Die Ablehnung einer Rückwirkungsbeschränkung ............................... 291 F. Rückwirkungsbeschränkung als Rechtspolitik? .................................... 291 § 7 Die Rechtsfolgenbestimmung der Rückwirkungsbeschränkung .......... 293 A. Dogmatische Einordnung ..................................................................... 294 I. Nichtigkeitsklage: Aufrechterhalten materieller Wirkungen .......... 295 II. Auslegung und Auslegungsvorabentscheidung .............................. 297 1. Wortlautanalyse teilweise unergiebig ...................................... 297 2. Klagbarkeitsbeschränkung ...................................................... 299

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3. Der Unterschied zu einer materiellen Beschränkung des Anwendungsbereichs („Anwendbarkeitsbeschränkung“) ........ 302 4. Vor- und Nachteile der sui generis-Lösung des EuGH ............ 303 5. Normativer Gehalt................................................................... 304 6. Auslegungsrückwirkungsbeschränkung in anderen Verfahrensarten ....................................................................... 307 III. Ungültigkeitsvorabentscheidung .................................................... 308 1. Grundsatz: Aufrechterhalten materieller Wirkungen ............... 308 2. Aussetzen der Wirkungen der Ungültigerklärung – Die Rechtssache Régie Networks............................................. 309 IV. Gemeinsamkeiten bei Unwirksamkeit und Auslegung ................... 310 1. Keine Veränderung des Hauptsachetenor ................................ 311 2. Negation einer Norm ............................................................... 311 3. Keine Veränderung der Präjudizregeln .................................... 311 4. Keine Veränderung der allgemeinen Regeln über die Kollision von Unionsrecht und mitgliedstaatlichem Recht ...... 311 5. Möglichkeit einer einheitlichen Dogmatik? ............................. 313 B. Sachliche Reichweite ........................................................................... 313 I. Auslegungsentscheidungen ............................................................ 314 1. Begrenzung auf einzelne Rechtsfrage ...................................... 314 2. Begrenzung auf abgeschlossene Sachverhalte ......................... 317 a) Steuerrecht........................................................................ 318 b) Soziale Leistungen ............................................................ 319 c) Private (Dauer-)Schuldverhältnisse ................................... 320 II. Unwirksamkeitsentscheidungen ..................................................... 321 1. Aufrechterhalten aller Wirkungen ........................................... 322 2. Aufrechterhalten der Durchführungsmaßnahmen .................... 322 3. Aussetzen der Wirkungen der Ungültigerklärung .................... 324 III. Auswirkung auf Schadensersatzansprüche nach Art. 340 Abs. 2 AEUV und den unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch ............ 325 1. Auslegungsrückwirkungsbeschränkung ................................... 325 2. Fortwirkungsanordnung .......................................................... 327 3. Haftung der Mitgliedstaaten nach dem unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch ........................................................... 327 C. Zeitliche Reichweite ............................................................................ 328 I. Auslegungsentscheidungen ............................................................ 328 1. Keine Übergangsfristen ........................................................... 328 2. Tag des Urteils als Bezugspunkt ............................................. 329 3. Früherer Zeitpunkt bei „bestätigender Zweitauslegung“? ........ 330 a) Nachholung einer Rückwirkungsbeschränkung................. 331 aa) Keine Änderung des früheren Urteils ......................... 331 bb) Änderung der Rückwirkungsentscheidung ................. 331

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(1) Einzige relevante Fallgruppe im Vergleich zur sofortigen Beschränkung und ihre Rechtfertigung ..................................................... 332 (2) Widerspruch zur allgemeinen Dogmatik der Rechtsprechungsänderung ................................... 333 (3) Erkennbarkeit der zeitlichen Geltung einer bestimmten Auslegung ......................................... 333 (4) Keine Gefahr für die Einheitlichkeit des Unionsrechts ........................................................ 333 (5) Faktische Zersplitterung und mangelnde Prozessbeteiligung ............................................... 334 (6) Ex post-Betrachtung der wirtschaftlichen Folgen und Anrechnung des „Ersparten“ ............. 337 cc) Ergebnis ..................................................................... 338 dd) Alternative bei Verneinung der Nachholbarkeit: Unionaler Staatshaftungsanspruch .............................. 338 b) Übertragung früherer Rückwirkungsbeschränkungen ....... 339 c) Erstauslegendes Urteil war keine Auslegungsvorlage ....... 341 4. Zukünftiger Zeitpunkt ............................................................. 341 II. Unwirksamkeitsentscheidungen ..................................................... 346 1. Abgrenzung der erfassten Sachverhalte ................................... 347 a) Tag des Urteils als Bezugspunkt ....................................... 347 b) Frühere Zeitpunkte ........................................................... 348 aa) Kein Anwendungsfall ................................................. 348 bb) Keine Nachholbarkeit ................................................. 348 cc) Übertragung früherer Rückwirkungsbeschränkungen . 349 c) Spätere Zeitpunkte ............................................................ 350 aa) Nach dem Kalender bestimmter oder bestimmbarer Zeitpunkt .................................................................... 350 bb) Aufhebung des unwirksamen Rechtsakts .................... 352 cc) Kombination von Ablauf des Rechtsakts und kalendermäßiger Maximalfrist.................................... 355 dd) Unbegrenzt? ............................................................... 355 2. Aufrechterhaltungsfrist ........................................................... 356 D. Personeller Geltungsbereich – Ausnahmen für die Parteien des (Ausgangs-)Rechtsstreits und/oder andere Rechtsbehelfsführer ........... 357 I. Auslegungsentscheidungen ............................................................ 358 1. Individualrechtsschutz............................................................. 359 2. Bedeutung für die Durchsetzung des Unionsrechts .................. 361 3. Belohnung für die Kosten und Mühen der Klage; Klageanreize ........................................................................... 362 4. Keine Entscheidungserheblichkeit ........................................... 363 5. Einbeziehung anderer Rechtsbehelfsführer.............................. 364

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6. Teleologisch begründete Ausnahmen; Trittbrettfahrerproblematik ...................................................... 365 II. Unwirksamkeitsentscheidungen ..................................................... 368 1. Nichtigkeitsklage .................................................................... 368 2. Ungültigkeitsvorlage ............................................................... 369 III. Unterschiede zwischen Ungültigkeitsvorlage, Nichtigkeitsklage und Auslegungsvorlage ................................................................. 371 IV. Die Einlegung eines Rechtsbehelfs ................................................ 372 1. Klage ...................................................................................... 373 2. Entsprechender Rechtsbehelf .................................................. 373 3. Einzelfragen ............................................................................ 375 4. Offenhalten zu Gunsten hoheitlicher Akteure? ........................ 376 E. Räumlicher Geltungsbereich ................................................................ 377 § 8 Besonderheiten für EuG und Fachgerichte ........................................ 380 A. B. C. D.

Praktische Relevanz und Beschreibung des Instanzenzugs ................... 380 Unwirksamkeitsverfahren .................................................................... 381 Fallübersicht für Auslegungsbeschränkung .......................................... 381 Rechtsprechung des EuG als Aspekt des guten Glaubens ..................... 383 I. EuG als letzte Instanz .................................................................... 383 II. EuG als Eingangsinstanz ............................................................... 384 1. Urteil wird nicht rechtskräftig ................................................. 384 2. Urteil wird rechtskräftig .......................................................... 385 E. Gewährung von Vertrauensschutz durch das EuG ................................ 386 F. Fachgerichte......................................................................................... 387 § 9 Auswirkungen der Rückwirkungsentscheidung auf die anderen Unionsorgane .................................................................................... 388 A. Rückwirkung und Unionsverwaltungsrecht .......................................... 388 B. Änderung der Rechtslage durch den Unionsgesetzgeber oder den Unionsverfassungsgeber ...................................................................... 390

Teil 4: Prozessrechtliche Fragestellungen ...................................... 397 § 10 Allgemeines zur Rückwirkungsbeschränkung im Prozess vor dem EuGH................................................................................................. 397 A. Prüfungsstandort und Überschrift ......................................................... 397 B. Entscheidungsbegründung ................................................................... 399 C. Tenorierung ......................................................................................... 399 I. Notwendigkeit ............................................................................... 400

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II. Wortlaut und Inhalt........................................................................ 401 D. Kosten des Rechtsstreits....................................................................... 403 E. Rechtskraft ........................................................................................... 404 I. Rechtskraft der Hauptsacheentscheidung ....................................... 404 II. Keine eigenständige Rechtskraft der Rückwirkungsentscheidung .. 404 F. Das zweistufige Verfahren nach Ludewig ............................................ 405 § 11 Das Erfordernis eines „Antrags“....................................................... 405 A. Dogmatische Einordnung ..................................................................... 406 I. Normative Vorgaben ..................................................................... 406 II. Keine Bindung des EuGH .............................................................. 406 III. Wortlaut uneinheitlich und untechnisch ......................................... 407 IV. Verhältnis zum Streitgegenstand der Hauptsache........................... 409 V. Schlussfolgerungen ........................................................................ 409 B. Personelle Voraussetzungen ................................................................. 410 I. Beteiligte ....................................................................................... 410 II. Keine „Antragsbefugnis“ ............................................................... 414 C. Hilfsantrag und inhaltliche Grenzen ..................................................... 414 I. Bedingung/Hilfsantrag ................................................................... 414 II. Inhaltliche Begrenzung .................................................................. 415 D. Formelle Anforderungen ...................................................................... 416 § 12 Darlegung und Beweis der Tatbestandsvoraussetzungen ................... 417 A. Allgemeine Grundsätze zur Beweisführung im Unionsprozess ............ 417 B. Grundsätze bei Rückwirkungsbeschränkungen..................................... 418 I. Feststellungslast ............................................................................ 419 II. Belastung des Interessierten........................................................... 419 C. Einzelheiten ......................................................................................... 420 I. Vertrauenstatbestand, insbesondere guter Glaube .......................... 423 II. Schwere wirtschaftliche Auswirkungen ......................................... 424

Teil 5: Rückwirkungsbeschränkung und mitgliedstaatliches Recht ........................................................................................... 428 § 13 Grundlagen ........................................................................................ 429 A. Die Unionsrechtsbezogenheit der Rückwirkungsbeschränkung ............ 429 B. Allgemeine Schranken ......................................................................... 431 I. Rechts- oder Bestandskraft ............................................................ 432 II. Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten...................................... 433 C. Kein grundsätzlicher Ausschluss nationalen Vertrauensschutzes ......... 435

XXIV

Inhaltsverzeichnis

D. Nationaler Vertrauensschutz im Verhältnis zu den Kollisionslösungsmechanismen ........................................................................... 437 I. Ausgangspunkt 1: Unterscheidung zwischen unmittelbar und mittelbar geltendem Unionsrecht ................................................... 438 II. Ausgangspunkt 2: Keine Unterscheidung nach beschränkter und nicht beschränkter Rückwirkung oder nach der Verfahrensart ....... 439 III. Ausgangspunkt 3: Keine Kollision, wenn das materielle Unionsrecht nationalen Vertrauensschutz zulässt ........................... 439 1. Beispiel: Sportwettenmonopol und Grundfreiheiten ................ 439 2. Beispiel: Altersdiskriminierung und Chartagrundrechte .......... 441 IV. Ausgangspunkt 4: Vertragsverletzung bei Überschreiten der unionsrechtlichen Grenzen ............................................................ 442 § 14 Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als nationalverfassungsrechtliche Integrationsschranke? ........................ 442 A. Ausbrechende Rechtsakte/ultra vires-Handlungen ............................... 442 B. Verfassungsidentität ............................................................................. 444 C. Grundrechtsschutz und Solange-Rechtsprechung ................................. 444 I. Solange-Rechtsprechung ............................................................... 445 II. Übertragung auf das Judikativrückwirkungsverbot ........................ 446 1. Vertrauensschutz als grundrechtsrelevante Verfassungsgarantie ................................................................................... 446 2. Vergleich des Schutzniveaus ................................................... 447 3. Ergebnis .................................................................................. 449 § 15 Unmittelbar anwendbares Unionsrecht .............................................. 450 A. Konformauslegung ohne Bedeutung .................................................... 450 B. Grundsätze des Anwendungsvorrangs .................................................. 451 C. Kollision von unmittelbar anwendbarem Unionsrecht und mitgliedstaatlichem Recht ................................................................................. 452 I. Erforderliche Qualität der Kollision............................................... 452 II. Zeitliche Grenzen der Kollision ..................................................... 453 III. Direkte Kollision durch nationalen Vertrauensschutz .................... 453 D. Temporäre Suspendierung des Anwendungsvorrangs, insbesondere die Rechtssache Winner Wetten............................................................ 456 I. Suspendierung des Anwendungsvorrangs durch deutsche Verwaltungsgerichte ...................................................................... 456 II. Die Entscheidung in der Rechtssache Winner Wetten .................... 458 III. Analoge Anwendung von Art. 264 Abs. 2 AEUV .......................... 459 1. Lückenfeststellung .................................................................. 459 2. Lückenfüllung ......................................................................... 460 a) Subjektiver Rechtsschutz .................................................. 462

Inhaltsverzeichnis

XXV

b) Einheitliche Anwendung und Wirkung des Unionsrechts ................................................................................ 462 3. Zwischenergebnis ................................................................... 463 IV. Rechtsanalogie .............................................................................. 463 1. Abwägung mit unionalen Interessen und Rechtsgrundsätzen ... 466 2. Tatbestandsvoraussetzungen ................................................... 466 a) Vertrauensschutz – Das Verhältnis zur Auslegungsrückwirkungsbeschränkung .............................................. 467 b) Regelungslücke ................................................................ 470 c) Frustration der nationalen Wertungsentscheidung ............. 474 V. Entscheidungsmonopol des Europäischen Gerichtshofs ................. 477 § 16 Mittelbar anwendbares Unionsrecht, insbesondere richtlinienkonforme Auslegung .......................................................... 479 A. Grundsätze der Konformauslegung ...................................................... 479 B. Grenzen ............................................................................................... 480 I. Zwei kumulative Grenzen .............................................................. 481 II. Reichweite eines unionalen Vertrauensschutzes ............................ 484 III. Die Gewährung von Vertrauensschutz als nationale Begrenzung der richtlinienkonformen Auslegung ............................................. 487 1. Kein ausschließlich kompetenzielles Verständnis der Schranke ................................................................................. 487 2. Mindestanforderung des Äquivalenzgrundsatzes ..................... 489 3. Modifikation des nationalen Vertrauensmaßstabs.................... 489 a) Modifikation des Vorhersehbarkeitskriteriums ................. 490 aa) In Bezug zum materiellen Recht ................................. 492 bb) In Bezug zur Methodenlehre ...................................... 493 b) Vertrauensschutz zu Gunsten der öffentlichen Hand ......... 495 c) Endzeitpunkt des nationalen Vertrauens ........................... 495 C. Zusammenfassung ................................................................................ 497 § 17 Staatshaftung als Ausgleich für enttäuschtes Vertrauen? ................... 497 A. Staatshaftungsansprüche bei der Gewährung von nationalem Vertrauensschutz .................................................................................. 498 I. Unionsrechtlicher Staatshaftungsanspruch ..................................... 498 II. Nationale Amtshaftungs- und Staatshaftungsansprüche ................. 500 B. Staatshaftungsansprüche bei der Nichtgewährung von nationalem Vertrauensschutz .................................................................................. 501 I. Unionsrechtlicher Staatshaftungsanspruch ..................................... 501 1. Anwendung des bekannten Staatshaftungsanspruchs ............... 502 a) Verletzung einer subjektiv-rechtlichen Norm.................... 502 b) Hinreichend qualifizierter Verstoß .................................... 504

XXVI

Inhaltsverzeichnis

2. Anpassung der Anspruchsvoraussetzungen? ........................... 507 II. Nationale Amts- und Staatshaftungsansprüche .............................. 510 1. Die Stellungnahme des Bundesverfassungsgerichts in der Rechtssache Honeywell ........................................................... 511 2. Bekannte Ansprüche ............................................................... 512 3. Voraussetzungen eines zu schaffenden Anspruchs .................. 513

Teil 6: Zusammenfassung der Ergebnisse ...................................... 515

Anhang I: Übersicht zu den Entscheidungen zur Rückwirkungsbeschränkung ..................................................................................... 519 A. B. C. D.

Nichtigkeitsklage ................................................................................. 519 Gültigkeitsvorabentscheidung .............................................................. 522 Auslegungsvorabentscheidung ............................................................. 523 Vertragsverletzung ............................................................................... 527

Anhang II: Neue Rechtsakte bei Gefahr von Regelungslücken .................... 528 Literaturverzeichnis ................................................................................... 531 Sachregister ............................................................................................... 575

Abkürzungsverzeichnis

a.A. a.a.O. a.E. a.F. ABl. Abs. AcP AEUV AGG AiB All ER Alt. Anm. AöR AP ArbRB ArbuR ARSP Art. AuA Aufl. AuR B&C Int BAG BB BE begr. BetrAV BFH BGB BGH BSG BT-Drs. BTR Bull.Int.Tax. BVerfG

andere Ansicht an aufgeführtem Ort am Ende alte Fassung Amtsblatt der Europäischen Union Absatz/Absätze Archiv für die civilistische Praxis Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (Lissabonner Fassung) Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz Arbeitsrecht im Betrieb All England Law Reports Alternative Anmerkung Archiv des öffentlichen Rechts Arbeitsrechtliche Praxis Arbeits-Rechtsberater Arbeit und Recht Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Artikel Arbeit und Arbeitsrecht Auflage Arbeit und Recht Benefits & Compensation International Bundesarbeitsgericht Betriebs-Berater Begründungserwägung begründet Betriebliche Altersversorgung Bundesfinanzhof Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgerichtshof Bundessozialgericht Bundestagsdrucksache British Tax Review Bulletin for International Taxation Bundesverfassungsgericht

XXVIII bzw. CamLJ CMLRev d.h. Dalloz DB DB-SR ders. dies. Diss. DÖV DStR DStZ DVBl DZWir EAGV EAS EBL EBLR ECFR EG EGV EJLS EJML EJRR EL ELRep ELRev EMRK ErfKomm ERPL ET EU EuConst EuG EuGH EuGH-Satzung EuGRZ EuLF EuR EurLJ EurPubL EUV EuZ EuZA EuZW

Abkürzungsverzeichnis beziehungsweise Cambridge Law Journal Common Market Law Review das heißt Recueil Dalloz Sirey, jurisprudence Der Betrieb Der Betrieb - Status: Recht derselbe dieselbe(n) Dissertation Die Öffentliche Verwaltung Deutsches Steuerrecht Deutsche Steuer-Zeitung Deutsches Verwaltungsblatt Deutsche Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft Europäisches Arbeits- und Sozialrecht European Business Law European Business Law Review European Company and Financial Law Review Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (Amsterdamer Fassung) Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (Maastrichter Fassung) European Journal of Legal Studies European Journal of Migration and Law European Journal of Risk Regulation Ergänzungslieferung European Law Reporter European Law Review Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten Erfurter Kommentar European Review of Public Law European Taxation Europäische Union European Constitutional Law Review Europäisches Gericht Europäischer Gerichtshof Satzung des Europäischen Gerichtshofs Europäische Grundrechte-Zeitschrift The European Legal Forum Europarecht European Law Journal European Public Law Vertrag über die Europäische Union (Lissabonner Fassung) Zeitschrift für Europarecht Europäische Zeitschrift für Arbeitsrecht Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht

Abkürzungsverzeichnis EWiR EWS f., ff. FA FamFG FG FJ Fn. FR FS GA GASP GewArch GG GLJ GmbHR GPR GRUR GRUR Int GS HdStR HLR Hrsg. hrsgg. i.E. i.e.S. i.Erg. i.S.v. i.V.m. i.w.S. IJ IJCL IJEL ILJ InfAuslR insb. IPRax IStR IWB JA JbArbR JBl JIBFL JJZ JLSS JOR JudRev

XXIX

Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht Europäisches Wirtschafts- & Steuerrecht folgende (Singular/Plural) Fachanwalt Arbeitsrecht Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit Festgabe Finanz Journal Fußnote(n) Finanz-Rundschau Festschrift Generalanwalt/Generalanwältin Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union Gewerbearchiv Grundgesetz German Law Journal GmbH Rundschau Zeitschrift für Gemeinschaftsprivatrecht Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht Internationaler Teil Gedächtnisschrift Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland Harvard Law Review Herausgeber herausgegeben im Einzelnen im engeren Sinne im Ergebnis im Sinne von in Verbindung mit im weiteren Sinne The Irish Jurist The International Journal of Comparative Labour Law and Industrial Relations Irish Journal of European Law Industrial Law Journal Informationsbrief Ausländerrecht insbesondere Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrecht Internationales Steuerrecht Internationale Wirtschafts-Briefe Juristische Arbeitsblätter Jahrbuch des Arbeitsrechts Juristische Blätter Journal of International Banking and Finance Law Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler Journal of the Law Society of Scotland Jahrbuch für Ostrecht Juridical Review

XXX JURA jurisPR-ArbR jurisPR-SozR jurisPR-WettbR JZ K&R Kap. KOM krit. KSchG LAG lit. LQR m.N. m.w.N. MarkenG MarkenR MDR MJ MLR MMR MR MR-Int MüKo NJOZ NJW Nr. NVwZ NZA öAnwBl OGH OJLS ÖJZ ÖStZ OVG öVwGH RabelsZ RdA RdW RIW RL Rn. Rs. RW S. s. s.a. SAE SchlA

Abkürzungsverzeichnis Juristische Ausbildung juris PraxisReport Arbeitsrecht juris PraxisReport Sozialrecht juris PraxisReport Wettbewerbs- und Immaterialgüterrecht JuristenZeitung Kommunikation und Recht Kapitel Europäische Kommission kritisch Kündigungsschutzgesetz Landesarbeitsgericht littera (Buchstabe) Law Quarterly Review mit Nachweisen mit weiteren Nachweisen Markengesetz Markenrecht Monatsschrift für Deutsches Recht Maastricht Journal of European and Comparative Law Modern Law Review Multimedia und Recht Migrantenrecht Medien und Recht International Münchener Kommentar Neue Juristische Online-Zeitschrift Neue Juristische Wochenschrift Nummer(n) Neue Zeitschrift für Verwaltungsrech Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht österreichisches Anwaltsblatt Oberster Gerichtshof (Österreich) Oxford Journal of Legal Studies Österreichische Juristen-Zeitung Österreichische Steuer-Zeitung Oberverwaltungsgericht österreichischer Verwaltungsgerichtshof Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Recht der Arbeit Recht der Wirtschaft (Österreich) Recht der Internationalen Wirtschaft – Betriebs-Berater International Richtlinie Randnummer(n) Rechtssache(n) Rechtswissenschaft Seite(n), Satz siehe siehe auch Sammlung arbeitsrechtlicher Entscheidungen Schlussanträge

Abkürzungsverzeichnis SGB SKS-Vertrag Slg. sog. SpS. st.Rspr. Stbg StbJb StuB StuW SWI SWK TranspR u.a. U.Chi.L.Rev. UAbs. UEFA UR v. verb. VerfO VersR VerwArch VG VGH vgl. VO VW VwGO WiVerw WM WRP WVK YbEL z.B. ZaöRV ZAR ZAS ZESAR ZEuP ZEuS ZfA ZfP ZfWG ZGR ZIP

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Sozialgesetzbuch Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion Amtliche Sammlung des EuGH sogenannt(e/er/en) Spiegelstrich ständige Rechtsprechung Die Steuerberatung Steuerberater-Jahrbuch NWB Unternehmensteuern und Bilanzen Steuer und Wirtschaft Steuer & Wirtschaft International Steuer- und Wirtschaftskartei Transportrecht und andere/unter anderem University of Chicago Law Review Unterabsatz Union des Associations Européennes de Football Umsatzsteuer-Rundschau von/m, versus verbunden(e) Verfahrensordnung Versicherungsrecht Verwaltungsarchiv – Zeitschrift für Verwaltungslehre, Verwaltungsrecht und Verwaltungspolitik Verwaltungsgericht Verwaltungsgerichtshof vergleiche Verordnung Versicherungswirtschaft Verwaltungsgerichtsordnung Wirtschaft und Verwaltung Wertpapier-Mitteilungen – Zeitschrift für Wirtschafts- und Bankrecht Wettbewerb in Recht und Praxis Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (Wiener Vertragsrechtskonvention) Yearbook of European Law zum Beispiel Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik Zeitschrift für Arbeitsrecht und Sozialrecht Zeitschrift für europäisches Sozial- und Arbeitsrecht Zeitschrift für Europäisches Privatrecht Zeitschrift für Europarechtliche Studien Zeitschrift für Arbeitsrecht Zeitschrift für Politik Zeitschrift für Wett- und Glücksspielrecht Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht Zeitschrift für Wirtschaftsrecht

XXXII ZÖR ZRP ZStW ZTR ZUM ZZP

Abkürzungsverzeichnis Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft Zeitschrift für Tarifrecht Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht Zeitschrift für Zivilprozess

1. Teil

Einführung Teil 1: Einführung Die zeitliche Wirkung der Rechtsprechung des EuGH hat in den letzten Jahren eine Vielzahl von Veröffentlichungen erlebt. Das Thema ist in der Tat ein europarechtlicher „Dauerbrenner“1. Dabei lässt sich durchaus eine gewisse Konturierung und Konsolidierung der Rechtsprechung des Gerichtshofs feststellen,2 wenngleich aufgrund des Einzelfallbezugs zahlreiche offene Fragen verbleiben3. Dennoch muss sich angesichts vierer Dissertationen4 in wenigen Jahren jede weitere fragen lassen, welchen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn sie noch beitragen kann. Insofern hat es sich als Glücksfall erwiesen, dass die vorliegende Untersuchung von vornherein sehr breit konzipiert war. Sie ist weder auf einzelne Rechtsgebiete noch einzelne Verfahrensarten beschränkt. Zugleich liegt ihr ein theoretischer Ausgangspunkt zugrunde. Im Mittelpunkt der Arbeit steht das Unionsrecht. Auf die Untersuchung nationaler Rechtsordnungen und einen Vergleich mit ihnen wird weitgehend verzichtet.5 Damit soll keine Missachtung der Rechtsvergleichung einhergehen. Die Beschränkung ist allein Ausdruck ihrer begrenzten Funktionalität bei der Bestimmung eines konkreten Inhalts unionaler Rechtsgrundsätze. Detaillierte Lösungen lassen sich aufgrund der Vielzahl mitgliedstaatlicher Lösungen aus der Methode der wertenden Rechtsvergleichung für die zeitlichen Rechtsprechungswirkungen nicht ableiten.6 Zum Unionsrecht gehört 1 Sellmann/Augsberg, DÖV 2006, 533, 537; Winter, jurisPR-ArbR 8-2011, Anm. 6 sub A. 2 Franzen, RIW 2010, 577, 578. 3 Grabitz/Hilf/Nettesheim-Karpenstein, Das Recht der Europäischen Union, 51. EL 2013, Art. 267 AEUV Rn. 115; Weber-Grellet, DStR 2009, 1229, 1235. 4 Christoph Müller, Die Begrenzung der zeitlichen Wirkungen von EuGHEntscheidungen, Diss. Bonn 2009; Frank Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, Baden-Baden (Nomos) 2010; Philipp Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, Berlin (Duncker & Humblot) 2012; Kovács, Christian, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, Baden-Baden (Nomos) 2014. 5 Soweit Entscheidungen deutscher Gerichte zitiert wurden, basieren die Angaben der Randnummern, soweit nicht abweichend gekennzeichnet, auf der Wiedergabe in juris. 6 Das konzediert letztendlich auch Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 52 f. auf Basis eines eigenen Überblicks über ausgewählte (europäische) Rechtsordnungen (a.a.O. S. 20 ff.).

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Teil 1: Einführung

nach hiesigem Verständnis auch dessen Zusammenwirken mit dem nationalen Recht.7 Es sind unionale Vorgaben, die die Möglichkeiten des nationalen Rechts für eine eigenständige Regelung der Wirkungen von EuGHRechtsprechung begrenzen. Das betrifft insbesondere die (überwiegende) Konstellation, in der die Auslegung des Unionsrechts nicht mit einer zeitlichen Einschränkung versehen wird. Ausgangspunkt der Arbeit sind theoretische Überlegungen zur Natur von Rechtsprechung und deren Wirkungen. Demgegenüber hat vor allem Ludewig seinen Fokus auf die ökonomischen Hintergründe der Rückwirkungsrechtsprechung gelegt.8 Der hier gewählte Ansatz führt nicht nur zu unterschiedlichen Begründungen, sondern teilweise zu anderen Ergebnissen. Vor allem aber ermöglicht er eine grundsätzlich verschiedene Perspektive auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den unionsprozessualen Verfahrensarten. Konsequenterweise werden sämtliche Verfahrensarten vor dem EuGH in die Untersuchung miteinbezogen. Insbesondere das Zusammenspiel mit der bisher nicht eingehend behandelten Nichtigkeitsklage verspricht neue Erkenntnisse.9 Im Einklang mit diesem Ansatz erstreckt sich die Untersuchung auf alle Rechtsbereiche und will allgemeingültige Antworten finden. Die Eigenschaft des Unionsrechts als Querschnittsmaterie sowie die geringe Zahl von Entscheidungen aus einzelnen Rechtsgebieten lassen dies geboten erscheinen. Demzufolge gliedert sich die Arbeit in vier wesentliche Teile. Zuerst werden die theoretischen Grundlagen von Rechtsprechung erörtert und hinsichtlich ihrer zeitlichen Wirkungen eingehend untersucht (Erster Teil). Der zweite Teil widmet sich den materiellrechtlichen Fragestellungen (Kompetenzen, Tatbestandsvoraussetzungen, Rechtsfolgenbestimmungen). Im dritten Teil werden die prozessrechtlichen Implikationen (vor allem „Antragstellung“ und Feststellungslast) adressiert. Das Verhältnis von unionsrechtlicher Rückwirkungsbeschränkung und mitgliedstaatlichem Recht ist Gegenstand des letzten Teils.

Hingegen kommt Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 211 und 239 zu „augenfälligen“ bzw. „augenscheinlichen“ Parallelen. 7 Ebenso Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 155 ff. 8 Vgl. z.B. den Teil zur ökonomischen Analyse (S. 265 ff.), die Betonung der Geldströme als problemerzeugend (S. 107 ff.) oder die Hervorhebung der wirtschaftlichen Auswirkungen als erstes Tatbestandsmerkmal und Motiv der Mitgliedstaaten (S. 129 ff.). 9 Müller, Die Begrenzung der zeitlichen Wirkungen von EuGH-Entscheidungen, 2009, S. 14 ff. liefert vor allem einen Überblick zur einschlägigen Rechtsprechung, Ludewig, Schaer und Kovács beschränken sich auf (Auslegungs-)Vorabentscheidungen.

§ 1 Überblick über die Rechtsprechung zur Rückwirkungsbeschränkung

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Vorweg soll jedoch eine kurze Darstellung der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur zeitlichen Wirkung seiner Urteile einen Überblick über die Probleme geben und das Verständnis der Arbeit erleichtern.

§ 1 Überblick über die Rechtsprechung zur Rückwirkungsbeschränkung Die bisherige Judikatur des Gerichtshofs zur zeitlichen Wirkung seiner Rechtsprechung wird herkömmlich in zwei Bereiche eingeteilt: zum einen die Nichtigerklärung von Gemeinschaftsrechtsakten nach Art. 263 f. AEUV und die Ungültigkeitsfeststellung nach Art. 267 Abs. 1 lit. b) Alt. 1 AEUV sowie zum anderen die Auslegung von Primär- und Sekundärrecht gemäß Art. 267 Abs. 1 lit. b) Alt. 2 AEUV.10 A. Nichtigerklärung und Ungültigkeitsfeststellung Die ersten Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs, die sich mit den zeitlichen Wirkungen der Entscheidung auseinandersetzten, ergingen zur Nichtigerklärung von Verordnungen gemäß Art. 263 f. AEUV11. Hierbei stellte der Gerichtshof fest, dass die Nichtigerklärung grundsätzlich ex tunc wirkt.12 Gleichzeitig machte er jedoch in besonderen Ausnahmefällen von dem in Art. 264 Abs. 2 AEUV eingeräumten Recht Gebrauch, die Wirkungen der Nichtigerklärung von Art. 264 Abs. 1 AEUV abweichend zu bestimmen. So hat beispielsweise der Gerichtshof Verordnungen mit rechtswidrig zu niedrig angesetzten Beamtenbezügen bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung aufrecht erhalten.13 Insgesamt spielt die Aufrechterhaltung eines einmal eingeschlagenen politischen Weges eine prominente Rolle.14 Als weitere Gründe 10

Weiß, EuR 1995, 377, 379 et passim. Darauf Bezug nehmend Waldhoff, Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, 2006, S. 37 f.; ders., EuR 2006, 615, 630 f.; ders., CMLRev 46 (2009), 173, 185 f.; anders wohl Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012. 11 Vorgängernormen waren Art. 173 f. EGV bzw. Art. 230 f. EG. 12 EuGH v. 12.6.1980 – Rs. 130/79 Express Dairy Foods, Slg. 1980, 1887 Rn. 14. 13 EuGH v. 5.6.1973 – Rs. 81/72 Kommission ./. Rat, Slg. 1973, 575 Rn. 15 („Um jedoch die Kontinuität der Besoldungsregeln zu wahren…“); ebenso EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 59/81 Kommission ./. Rat, Slg. 1982, 3329 Rn. 39; EuGH v. 28.6.1988 – Rs. 7/87 Kommission ./. Rat, Slg. 1988, 3401 Rn. 29; zuletzt EuGH v. 24.11.2010 – Rs. C-40/10 Kommission ./. Parlament, Slg. 2010, I-12043 Rn. 95. 14 Kontinuität des Haushalts und des öffentlichen Dienstes der EU in EuGH v. 3.7.1986 – Rs. 34/86 Rat ./. Parlament, Slg. 1986, 2155 Rn. 48; EuGH v. 31.3.1992 – Rs. C-284/90 Rat ./. Parlament, Slg. 1992, I-2277 Rn. 37; EuGH v. 7.12.1995 – Rs. C-41/95 Rat ./. Parlament, Slg. 1995, I-4411 Rn. 44; Kontinuität der Kabotage-Regelung in EuGH v. 16.7.1992 – Rs. C-65/90 Parlament ./. Rat, Slg. 1992, I-4593 Rn. 23; Kontinuität der

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Teil 1: Einführung

nannte der EuGH die Vermeidung rechtloser Zustände15 oder umfangreicher Rückabwicklungsprobleme16. Art. 264 Abs. 2 AEUV erfasst seit dem Lissabonner Vertrag alle Handlungen der Union. Die Vorgängerbestimmungen waren noch auf Verordnungen beschränkt. Der EuGH wandte diese regelmäßig analog im Fall der Nichtigerklärung anderer Sekundärrechtsakte an.17 Eine Ausnahme für Betroffene, die einen Rechtsbehelf gegen die gemeinschaftsrechtlichen oder nationalen Rechtsakte oder gegen abgeleitete oder sonstige Durchführungsmaßnahmen eingelegt haben, gewährt der Gerichtshof nicht. Diese Rechtsprechung übertrug der EuGH im Wege der Analogie auf die Feststellung der Ungültigkeit von Sekundärrechtsakten nach Art. 267 Abs. 1 lit. b) Alt. 1 AEUV.18 Auch die Ungültigkeitsfeststellung wirkt damit grundsätzlich auf den Erlasszeitpunkt der Norm zurück und kann nur ausnahmsweise eingeschränkt werden.19 Als weiterer Grund für eine Beschränkung der Rückwirkung kam beispielsweise hinzu, dass den Legislativorganen ein Gestaltungsspielraum bei der Beseitigung eines Verstoßes gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz zusteht.20 Erforderlich sind „zwingende Erwägungen der Rechtssicherheit, die sich aus der Gesamtheit der Interessen“ ergeben.21 Auch hier gewährte der Gerichtshof zunächst in drei Urteilen zu Währungsausgleichsbeträgen keine Ausnahme von der Beschränkung der Rückwirkung für die Parteien des Ausgangsrechtsstreits oder andere Betroffene, Verkehrspolitik in EuGH v. 1.6.1994 – Rs. C-388/92 Parlament ./. Rat, Slg. 1994, I-2067 Rn. 21; EuGH v. 5.7.1995 – Rs. C-21/94 Parlament ./. Rat, Slg. 1995, I-1827 Rn. 31; Kontinuität der Visumsvorschriften in EuGH v. 10.6.1997 – Rs. C-392/95 Parlament ./. Rat, Slg. 1997, I-3213 Rn. 26. 15 EuGH v. 13.12.2001 – Rs. 93/00 Parlament ./. Rat, Slg. 2001, I-10119 Rn. 48. 16 EuGH v. 12.5.1998 – Rs. C-106/96 Großbritannien und Nordirland ./. Kommission, Slg. 1998, I-2729 Rn. 39 ff. 17 Zu Richtlinien vgl. EuGH v. 7.12.1995 – Rs. C-41/95 Rat ./. Parlament, Slg. 1995, I-4411 Rn. 31 f.; EuGH v. 7.7.1992 – Rs. C-295/90 Parlament ./. Rat, Slg. 1992, I-4193 Rn. 26 f. Zu Beschlüssen EuGH v. 28.5.1998 – Rs. C-22/96 Parlament ./. Rat, Slg. 1998, I-3231 Rn. 41 f. Zu Entscheidungen vgl. EuGH v. 12.5.1998 – Rs. C-106/96 Großbritannien und Nordirland ./. Kommission, Slg. 1998, I-2729 Rn. 39 ff.; EuGH v. 30.5.2006 – verb. Rs. C-317/04 und C-318/04 Parlament ./. Rat und Kommission, Slg. 2006, I-4721 Rn. 73 f. 18 Z.B. EuGH v. 19.10.1977 – verb. Rs. 117/76 und 16/77 Ruckdeschel u.a., Slg. 1977, 1753 Rn. 13; EuGH v. 15.10.1980 – Rs. 109/79 Maiseries de Beauce, Slg. 1980, 2883 Rn. 46. 19 EuGH v. 12.6.1980 – Rs. 130/79 Express Dairy Foods, Slg. 1980, 1887 Rn. 14; EuGH v. 15.10.1980 – Rs. 109/79 Maiseries de Beauce, Slg. 1980, 2883 Rn. 45; EuGH v. 15.10.1980 – Rs. 145/79 Roquettes Frères, Slg. 1980, 2917 Rn. 52; EuGH v. 15.10.1980 – Rs. 4/79 Providence agricole de la Champagne, Slg. 1980, 2823 Rn. 45. 20 EuGH v. 19.10.1977 – verb. Rs. 117/76 und 16/77 Ruckdeschel u.a., Slg. 1977, 1753 Rn. 13; EuGH v. 22.12.2008 – Rs. C-333/07 Régie Networks, Slg. 2008, I-10807 Rn. 125. 21 EuGH v. 10.3.1992 – verb. Rs. C-38/90 und C-151/90 Lomas u.a., Slg. 1992, I-1781 Rn. 24.

§ 1 Überblick über die Rechtsprechung zur Rückwirkungsbeschränkung

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die einen Rechtsbehelf eingelegt hatten.22 Nach deutlicher Kritik aus dem französischsprachigen Raum23 änderte der EuGH seine diesbezügliche Rechtsprechung.24 Er hielt sich jedoch ausdrücklich offen, die Verfahrensbeteiligten oder sonstige Rechtsbehelfsführer in den Rückwirkungsausschluss mit einzubeziehen, wenn ihm dies notwendig erscheint.25 Das war dann zuletzt tatsächlich der Fall.26 B. Auslegung von Primär- und Sekundärrecht Geht es im Vorabentscheidungsverfahren nicht um die (Un-)Gültigkeitsfeststellung, sondern um die Auslegung von Primär- oder Sekundärrecht, teilt das Urteil grundsätzlich die zeitlichen Wirkungen der Norm. Die Auslegung einer Unionsnorm durch den Gerichtshof nach Art. 267 Abs. 1 lit. b) Alt. 2 AEUV „erläutert und […] verdeutlicht, in welchem Sinn und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre“ und wirkt auf den Geltungsbeginn der Gemeinschaftsnorm zurück.27 Die fraglichen Unionsnormen sind daher auf alle in der Vergangenheit liegenden Sachverhalte anzuwenden, ungeachtet sonstiger materieller oder prozessualer Streithindernisse.28 Der Gerichtshof nimmt auch hier für sich die Kompetenz in Anspruch, ausnahmsweise die Rückwirkung aufgrund des Grundsatzes der Rechtssicherheit zu begrenzen, wenn das Urteil erhebliche Schwierigkeiten bei in „gutem Glauben“ begründeten Rechtsverhältnissen für die Vergangenheit

22 EuGH v. 15.10.1980 – Rs. 109/79 Maiseries de Beauce, Slg. 1980, 2883 Rn. 46; EuGH v. 15.10.1980 – Rs. 145/79 Roquettes Frères, Slg. 1980, 2917 Rn. 53; EuGH v. 15.10.1980 – Rs. 4/79 Providence agricole de la Champagne, Slg. 1980, 2823 Rn. 46. 23 Vgl. Everling, FS Börner, 1992, S. 57, 62 ff. 24 Vgl. EuGH v. 15.1.1986 – Rs. 41/84 Pinna, Slg. 1986, 1 Rn. 30. 25 EuGH v. 27.2.1985 – Rs. 112/83 Produits de Maïs, Slg. 1985, 719 Rn. 18; EuGH v. 22.5.1985 – Rs. 33/84 FRAGD, Slg. 1985, 1605 Rn. 18; EuGH v. 15.1.1986 – Rs. 41/84 Pinna, Slg. 1986, 1 Rn. 29; EuGH v. 10.3.1992 – verb. Rs. C-38/90 und C-151/90 Lomas u.a., Slg. 1992, I-1781 Rn. 25; EuGH v. 26.4.1994 – Rs. C-228/92 Roquettes Frères ./. Hauptzollamt Geldern, Slg. 1994, I-1445 Rn. 25. 26 EuGH v. 9.11.2010 – verb. Rs. C-92/09 und C-93/09 Schecke und Eifert, Slg. 2010, I-11063 Rn. 94 und Tenor Nr. 2. 27 St.Rspr., z.B. EuGH v. 18.10.2012 – Rs. C-525/11 Mednis, ECLI:EU:C:2012:652 Rn. 41; EuGH v. 21.10.2010 – Rs. C-242/09 Albron Catering, Slg. 2010, I-10309 Rn. 35; EuGH v. 15.9.1998 – Rs. C-231/96 Edilizia Industriale Siderurgica Srl (Edis), Slg. 1998, I-4951 Rn. 15; EuGH v. 2.2.1988 – Rs. 24/86 Blaizot u.a., Slg. 1988, 379 Rn. 27; EuGH v. 27.3.1980 – Rs. 61/79 Denkavit, Slg. 1980, 1205 Rn. 16; EuGH v. 27.3.1980 – verb. Rs. 66/79, 127/79 und 128/79 Salumi u.a., Slg. 1980, 1237 Rn. 9. 28 EuGH v. 13.12.1983 – Rs. 222/82 Apple and Pear Development Council, Slg. 1983, 4083 Rn. 38; EuGH v. 2.12.1997 – Rs. C-188/95 Fantask u.a., Slg. 1997, I-6783 Rn. 37.

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Teil 1: Einführung

hervorrufen könnte.29 Eine Beschränkung der Rückwirkung spricht der EuGH aus, „wenn zum einen die Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Auswirkungen bestand, die insbesondere mit der großen Zahl von Rechtsverhältnissen zusammenhingen, die gutgläubig auf der Grundlage der als gültig betrachteten Regelung eingegangen worden waren, und wenn zum anderen sich herausstellte, dass die Einzelnen und die nationalen Behörden zu einem mit der Gemeinschaftsregelung unvereinbaren Verhalten veranlasst worden waren, weil eine objektive und bedeutende Unsicherheit hinsichtlich der Tragweite der Gemeinschaftsbestimmungen bestand, zu der gegebenenfalls auch das Verhalten anderer Mitgliedstaaten oder der Kommission beigetragen hatte“.30

Wie bei Nichtigerklärung und Ungültigkeitsfeststellung soll auch bei der Auslegung die Rückwirkungsbeschränkung nur auf Antrag der Prozessparteien durch den Gerichtshof vorgenommen werden können. Zudem kann die Beschränkung nur im auslegenden Urteil einheitlich für alle Mitgliedstaaten erfolgen.31 Nach ständiger Rechtsprechung sind die Parteien des Vorlageverfahrens und andere Betroffene, die einen Rechtsbehelf eingelegt haben, von der Rückwirkungsbeschränkung ausgenommen.32 Die vom EuGH vorgenommene Rückwirkungsbeschränkung verhindert nicht, dass sich Angehörige eines Mitgliedsstaates auf eine nationale Sachregelung berufen können, die dieselben Vorgaben macht wie die rückwirkungsbeschränkte Unionsnorm. Beispielsweise verhindert die Beschränkung der zeitlichen Wirkung des Art. 157 AEUV nicht, dass ein nationales Diskriminierungsverbot die Entgeltgleichheit in der Vergangenheit herstellt.33 C. Andere Verfahrensarten Bei anderen Verfahrensarten kam es bisher noch nicht zu einer Beschränkung der Rückwirkung. In Betracht gezogen hat der EuGH dies bisher einzig im Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 ff. AEUV. Der Gerichtshof sprach vereinzelt die Übertragung der Grundsätze zur Auslegungswirkung an, verneinte jedoch ein jedes Mal die entsprechenden Tatbestandsvoraussetzun29

EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne II, Slg. 1976, 455 Rn. 69 ff.; EuGH v. 2.2.1988 – Rs. 24/86 Blaizot u.a., Slg. 1988, 379 Rn. 27; EuGH v. 27.3.1980 – Rs. 61/79 Denkavit, Slg. 1980, 1205 Rn. 16; EuGH v. 4.5.1999 – Rs. C-262/96 Sürül, Slg. 1999, I-2685 Rn. 108; EuGH v. 15.3.2005 – Rs. C-209/03 Bidar, Slg. 2005, I-2119 Rn. 67. 30 EuGH v. 20.9.2001 – Rs. C-184/99 Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193 Rn. 53; EuGH v. 15.3.2005 – Rs. C-209/03 Bidar, Slg. 2005, I-2119 Rn. 69; EuGH v. 24.4.2006 – Rs. C-423/04 Richards, Slg. 2006, I-3585 Rn. 42. 31 EuGH v. 6.3.2007 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Rn. 36 f. 32 EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne II, Slg. 1976, 455 Rn. 74/75; EuGH v. 2.2.1988 – Rs. 24/86 Blaizot u.a., Slg. 1988, 379 Rn. 35; EuGH v. 17.5.1990 – Rs. C-262/88 Barber, Slg. 1990, 1889 Rn. 44 f. 33 EuGH v. 10.2.2000 – verb. Rs. C-270/97 und C-271/97 Sievers und Schrage, Slg. 2000, I-929 Rn. 53 ff.

§ 1 Überblick über die Rechtsprechung zur Rückwirkungsbeschränkung

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gen. Darüber hinaus ließ er zumeist ausdrücklich offen, ob die Erwägungen der Auslegungsrückwirkungsbeschränkung überhaupt im Vertragsverletzungsverfahren angewendet werden können.34 D. Zahlen zur Rückwirkungsbeschränkung35 Offizielle Zahlen zu den Entscheidungen des EuGH, die sich ausdrücklich mit den zeitlichen Wirkungen beschäftigen, existieren nicht. Mit Hilfe der digitalen Recherchemöglichkeiten kann jedoch ein recht genaues Bild der Rechtsprechung gezeichnet werden. Dabei ist es hilfreich, dass der Gerichtshof zunehmend einheitliche Tenorierungen und Abschnittsüberschriften verwendet.36 Die so herausgearbeiteten Daten finden sich – geordnet nach Verfahrensarten – im Anhang I dieser Arbeit.37 Danach ergibt sich Folgendes: Die Hälfte aller Urteile (97) betrifft das Auslegungsvorabentscheidungsverfahren. Dies korreliert mit der überragenden Bedeutung dieses Verfahrens und der größeren Gesamtanzahl an Verfahren.38 Die Erfolgsquote eines Antrags auf Beschränkung der Rückwirkung liegt lediglich bei 12% (8 von 66);39 außerdem ist eine solche seit dem Jahr 2000 nicht mehr erfolgt. Wird eine Rückwirkungsbeschränkung vorgenommen, so nimmt der Gerichtshof aber in allen Fällen die Rechtsbehelfsführer davon aus. In den übrigen EuGHEntscheidungen war die zeitliche Wirkung nicht entscheidungserheblich, 34

EuGH v. 12.9.2000 – Rs. C-359/97 Kommission ./. Großbritannien und Nordirland, Slg. 2000, I-6355 Rn. 92; EuGH v. 7.6.2007 – Rs. C-178/05 Kommission ./. Griechenland, Slg. 2007, I-4185 Rn. 67; EuGH v. 12.2.2009 – Rs. C-475/07 Kommission ./. Polen, Slg. 2009, I-19 Rn. 60 ff. (abgekürzte Veröffentlichung); EuGH v. 26.3.2009 – Rs. C-559/07 Kommission ./. Griechenland, Slg. 2009, I-47 Rn. 75 ff. (abgekürzte Veröffentlichung); EuGH v. 15.12.2009 – Rs. C-284/05 Kommission ./. Finnland, Slg. 2009, I-11705 Rn. 58; EuGH v. 15.12.2009 – Rs. C-239/06 Kommission ./. Italien, Slg. 2009, I-11913 Rn. 59; EuGH v. 15.12.2009 – Rs. C-387/05 Kommission ./. Italien, Slg. 2009, I-11831 Rn. 59. Ohne einen solchen Vorbehalt jedoch EuGH v. 24.9.1998 – Rs. C-35/97 Kommission ./. Frankreich, Slg. 1998, I- 5325 Rn. 47 ff.; EuGH v. 19.3.2002 – Rs. C-426/98 Kommission ./. Griechenland, Slg. 2002, I-2793 Rn. 40 ff.; EuGH v. 6.10.2005 – Rs. C-204/03 Kommission ./. Spanien, Slg. 2005, I-8389 Rn. 29 f. 35 Die Daten befinden sich auf dem Stand vom 31.12.2014. 36 Eingehend unten § 11 A.und C. 37 Unten S. 545 ff. 38 Über die Hälfte aller (neu eingegangenen, entschiedenen und anhängigen) Verfahren vor dem EuGH sind Vorabentscheidungsverfahren (vgl. vorläufiger Jahresbericht des Europäischen Gerichtshofs 2013, S. 79 ff.) und davon der Großteil Auslegungsvorabentscheidungen. 39 Vgl. auch Antwort der Bundesregierung v. 15.5.2007 auf die kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Oskar Lafontaine und der Fraktion DIE LINKE, BT-Drs. 16/5371 S. 7: „Die vom EuGH in Analogie zur Regelung des Artikel 231 Abs. 2 EG-Vertrag entwickelte grundsätzliche Möglichkeit der Begrenzung der zeitlichen Wirkungen von Vorabentscheidungsurteilen haben in der Praxis kaum Erfolg.“

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Teil 1: Einführung

erläuterte der Gerichtshof seine allgemeine Rechtsprechung bzw. einzelne Entscheidungen oder übertrug eine bestehende Beschränkung auf ähnliche Sachverhalte40. 21 Mal äußerten sich die Generalanwälte zu Aspekten der Rückwirkungsbeschränkung, ohne dass dies später im Urteil angesprochen wurde. Weitere 90 Äußerungen entfallen auf Nichtigkeitsklagen und noch einmal 21 auf Gültigkeitsvorlagen. Die Erfolgsquote des Antrags ist in beiden Fällen vergleichsweise hoch, bei der Gültigkeitsvorlage ungefähr 69% (11 von 16) und bei den Nichtigkeitsklagen sogar 80% (72 von 90). Auffällig ist, dass bei den Nichtigkeitsklagen niemals die Rechtsbehelfsführer von der Rückwirkungsbeschränkung ausgenommen wurden, während dies im Gültigkeitsverfahren immerhin noch bei 5 von 11 (45%) Entscheidungen der Fall war. Ausschließlich in den Schlussanträgen wurde das Thema in 15 Nichtigkeitsklagen und 5 Gültigkeitsvorlagen behandelt. Im Vertragsverletzungsverfahren befasste sich der Gerichtshof insgesamt 12 Mal mit der Möglichkeit einer Beschränkung der zeitlichen Wirkungen, verneinte diese jedoch in sämtlichen Fällen. Hinzu kommen Erörterungen in 7 Schlussanträgen.

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Dazu eingehend unten § 7 C.I.3.b), S. 357.

2. Teil

Grundlagen Teil 2: Grundlagen Bevor die einschlägige Judikatur zur Rechtsprechungsrückwirkung näher analysiert werden kann, muss der theoretische Hintergrund dargestellt werden. Nur bei Berücksichtigung dieser Grundlagen lassen sich Ergebnisse finden, die systematisch und methodologisch in das übrige Unionsrecht eingepasst sind.

§ 2 Instrumente für Vertrauensschutz gegen Rechtsprechung Instrumente für Vertrauensschutz gegen Rechtsprechung Die nationalen Rechtsordnungen haben bisher eine Fülle von Modellen hervorgebracht, wie die Judikative bei ihrer Tätigkeit Vertrauensschutzerwägungen berücksichtigen kann. Diese sollen vorab überblicksartig dargestellt werden, um den methodischen Rahmen der Rückwirkungsbegrenzung zu erläutern. A. Gar keine Berücksichtigung von Vertrauen und getätigten Investitionen Zuerst kann man etwaiges Vertrauen oder im Vertrauen getätigte Investitionen gänzlich unberücksichtigt lassen. Das kommt nicht nur in Betracht, wenn man Rechtsprechung allgemein oder in konkreten Fällen ohnehin nur als prospektiv (also ex nunc) wirkend ansehen würde. Es lässt sich vertreten, dass auch eine grundsätzlich rückwirkende Rechtsprechung nicht aufgrund von Rechtssicherheitserwägungen inhaltlich oder zeitlich verändert werden soll. An dieser Stelle kann dahingestellt bleiben, welche Argumente dafür ins Feld zu führen sein könnten. B. Berücksichtigung von Vertrauen in der Rechtsprechung Dem stehen zahlreiche Modelle gegenüber, nach denen Erwägungen des Vertrauensschutzes gegen Rechtsprechung in irgendeiner Weise den Inhalt einer Rechtsordnung beeinflussen. Neben der nur zeitweiligen Beschränkung kommt auch eine zeitlich unbegrenzte Berücksichtigung in Betracht. Außerdem kann die Rückwirkungsbeschränkung abstraktes oder konkretes Vertrauen berücksichtigen.

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Teil 2: Grundlagen

Rechtssicherheit durch Ausschluss der Rechtsprechungsänderung

I.

Rechtssicherheit ließe sich zuerst mittels besonderer Voraussetzungen für eine Rechtsprechungsänderung erreichen. Danach dürfte eine einmal eingeschlagene Rechtsprechung nur geändert werden, wenn schutzwürdige Interessen Dritter nicht entgegenstehen. II. Modifikation des Norminhalts oder der Normwirkungen Zweitens kann man an die Norm anknüpfen, auf deren Bestand oder auf deren Inhalt von den Rechtsunterworfenen vertraut wurde. Dabei ließe sich entweder schon der Inhalt der Norm selbst modifizieren oder die von der Norm ausgehenden Wirkungen. 1. Modifikation des Norminhalts Verändert man den Norminhalt, so gibt man z.B. einer Norm mit dem Inhalt X zeitweilig den Inhalt Y. Anknüpfungspunkte sind dann zumeist die Tatbestandsmerkmale einer Norm, auf die sich das Vertrauen richtet. Hauptanwendungspunkt dieses Modells ist das sogenannte prospective overruling, wie es in den USA durchgeführt wird. Es wird eine inhaltlich als „falsch“ erkannte Rechtsprechung aus Gründen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes bis zum Tage des Urteils beibehalten und nicht geändert.1 Auch in der deutschen Rechtsordnung lässt sich dieses Modell nachweisen, wenn der Bundesgerichtshof die Änderung seiner jahrzehntelangen Rechtsprechung zur Haftungsverfassung der Außengesellschaft bürgerlichen Rechts erst für die Zukunft ankündigt und nicht sofort umsetzt.2 Die Modifikation des Norminhalts berücksichtigt üblicherweise nur abstrakten Vertrauensschutz und ist daher weniger einzelfallbezogen.3 Der Norminhalt ließe sich aber auch nur für einzelne personell oder sachlich näher bestimmte Anwendungsfälle zeitweilig modifizieren. Dann käme es zu einer gespaltenen Auslegung oder Anwendung der Norm. 2. Modifikation der Normwirkungen Eine Alternative dazu stellt die Modifikation der Wirkungen der ausgelegten Norm dar. Hierbei bleibt der Inhalt der Norm unangetastet; es werden der Norm nur einzelne oder sogar alle Wirkungen für einen bestimmten Zeitraum genommen.

1

Martens, JZ 2011, 348, 355. Vgl. BGH v. 21.1.2002 – II ZR 2/00 (BGHZ 150, 1) und BGH v. 7.4.2003 – II ZR 56/02 (BGHZ 154, 370); Langenbucher, JZ 2003, 1132 ff. 3 Kritisch z.B. Cross/Harris, Precedent in English Law, 4. Aufl. 1991, S. 230. 2

§ 2 Instrumente für Vertrauensschutz gegen Rechtsprechung

11

So könnte z.B. das Inkrafttreten einer Norm verschoben werden oder die Norm in bestimmten Prozessen unanwendbar sein. Gleichzeitig ließe sich dies auf einzelne Anwendungsfälle der Norm begrenzen, indem beispielsweise nur bestimmte Kläger von der Berufung auf die Norm ausgeschlossen werden. Als Anknüpfungspunkte eignen sich daher nicht nur alle zeitbezogenen Wirkungen oder Wirksamkeitsvoraussetzungen der Norm, sondern auch inhaltliche Tatbestandsmerkmale. Hierbei wird deutlich, dass die Übergänge von einer Normwirkungsmodifikation zur Norminhaltsmodifikation fließend sein können. Unterfall der Normwirkungsmodifikation ist z.B. die Aufrechterhaltung rechtswidriger Normen, wenn diese für unwirksam erklärt wurden. Der Inhalt der Norm wird dabei nicht verändert, sondern das Gericht ist ermächtigt, alle oder sämtliche Wirkungen der Norm aufrecht zu erhalten. Diesem Ansatz folgt Art. 264 Abs. 2 AEUV. Wie die Norminhaltsmodifikation ist auch die Normwirkungsmodifikation üblicherweise, aber nicht denknotwendig mit einem abstrakten, verallgemeinernden Vertrauensschutz verknüpft. III. Modifikation der Urteilswirkungen Neben den Normwirkungen ließen sich auch die Wirkungen der jeweiligen Entscheidung des Gerichts abweichend vom Normalfall gestalten. Voraussetzung dafür wäre zumindest, dass den Urteilen über das Faktische hinausgehende, eigenständige Wirkungen beigemessen werden. Diese könnten dann vom entscheidenden Gericht in ihrem zeitlichen, sachlichen oder personellen Anwendungsbereich beschränkt werden. IV. Änderungsankündigung Eine weitere Möglichkeit ist die richterliche Ankündigung einer unerwarteten Rechtsprechung in einem Fall, in dem diese Rechtsprechung selbst noch nicht der Entscheidung zugrunde gelegt wird.4 Dieses Vorgehen ist einer gesetzlichen Übergangsvorschrift vergleichbar. Irrelevant dürfte hier sein, ob die Ankündigung selbst als ratio decidendi oder als obiter dictum einzustufen wäre, denn maßgeblich wäre allein ihre vertrauenszerstörende Wirkung.5 Möglich sind ebenfalls sog. „Warnurteile“, mit denen nur Zweifel ausgedrückt werden, aber noch kein Wechsel angekündigt wird.6 Das Bundesar4 Vgl. Tur, OJLS 22 (2002), 463, 482 f.; Tur, JudRev 1978, 33, 52; 63 f.; Lunk, FS Reuter, 2010, 689, 695: „Annunziationsjudikatur“; ein Beispiel nennt auch Everling, FS Börner, 1992, S. 57, 65. 5 So auch v. Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, S. 455. 6 Zur Praxis des BAG z.B. Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, 1996, S. 139 ff.

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Teil 2: Grundlagen

beitsgericht hat dieses Vorgehen sogar mit ausdrücklichen Aufforderungen an die Literatur verknüpft, das angesprochene Problem zu diskutieren.7 V. Berücksichtigung in anderen Rechtsinstituten oder Normen Vertrauensschutz durch die Rechtsprechung gegen Rechtsprechung muss nicht zwingend durch Bezug auf die konkrete Norm gewährt werden, in deren Inhalt das Vertrauen bestand. Die Rechtsordnung wird dann nicht so verändert, dass sie dem entspricht, was die Vertrauenden für richtig hielten, sondern die Vertrauenden werden auf andere Weise so gestellt als wäre ihr Vertrauen nicht enttäuscht worden. Je mehr die Rechtsordnung ein System vieler ineinandergreifender materieller oder prozessualer Regelungen ist, desto eher lässt sich Vertrauensschutz auch an anderen Stellen dieses Systems gewähren. Ziel müsste es dann sein, die gleichen Erwägungen systemgerechter zu (den gleichen) gerechten Ergebnissen zu führen und sogar besser auf Besonderheiten des Einzelfalls reagieren zu können. Systemgerechter sind diese Modifikationen dann möglichweise schon deshalb, weil sie den Normen keinen unterschiedlichen Inhalt geben, je nachdem auf welchen Zeitpunkt sich diese beziehen. Einheitlich für alle Rechtsbereiche ließe sich zum Beispiel ein verschuldensunabhängiger Ersatzanspruch gegen den Staat vorstellen, der eventuellen Vertrauensschaden abdeckt.8 Zur sprachlichen Abgrenzung ließe sich bei den Modifikationen von Norminhalt, Normwirkungen oder Urteilswirkungen von primärem Vertrauensschutz sprechen und bei der Berücksichtigung in anderen Rechtsbereichen von sekundärem Vertrauensschutz.9 In einer Rechtsordnung könnte sowohl sekundärer als auch primärer Vertrauensschutz gewährt werden. Es könnte auch nur eine der beiden Varianten vorkommen. Soweit man primären Vertrauensschutz verneint, ist jedoch sekundärer Vertrauensschutz nicht ausgeschlossen.10 1. Rechtsbereiche Die Rechtslehre hat versucht, in den verschiedenen Rechtsbereichen verschiedene Möglichkeiten aufzuzeigen, Vertrauensschutz systemgerecht und dogmatisch sauber zu gewähren. Die Lösungen beziehen sich zumeist auf die Einteilung der Rechtsmaterien in Privatrecht, öffentliches Recht und Strafrecht, die hier zu Darstellungszwecken übernommen werden soll. 7

Vgl. BAG v. 26.10.1973 – 3 AZR 118/73, Rn. 34 ff. v. Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, S. 160; Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, 1971, S. 5 f. 9 Vgl. Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 134. 10 So z.B. Zimmermann/Jansen, Quieta Movere – Interpretative Change in a Codified System, 1998, S. 285, 307; Bydlinksi, JBl 2001, 2, 21 ff. 8

§ 2 Instrumente für Vertrauensschutz gegen Rechtsprechung

13

a) Privatrecht Das Privatrecht wird als besonders geeignet angesehen, Vertrauen sekundär zu berücksichtigen. Wegen seiner großen Zahl an ineinandergreifenden Regelungen und dem umfassend systematischen Ansatz gilt es als besonders flexibel und soll feinere Abstufungen als eine „Alles-oder-Nichts-Lösung“ ermöglichen.11 Die Beispiele und Vorschläge aus der Literatur sind zahlreich.12 Neben solchen Normen, die direkt auf Rechtssicherheits- oder Vertrauensschutzerwägungen Bezug nehmen, kommen im Privatrecht alle Regelungen in Betracht, die ein Verschulden voraussetzen13 oder sonst eine Vorhersehbarkeit verlangen wie das Institut der Störung der Geschäftsgrundlage14. Auch könnten Verträge im Verständnis der alten Rechtslage ausgelegt werden15, der Beginn der Anspruchsverjährung modifiziert16 oder die Generalklauseln, wie Treu und Glauben/good faith, herangezogen werden.17 Ebenfalls ließe sich Vertrauensschutz z.B. als Einrede wegen Gutgläubigkeit beim Empfang der Leistung gegen einen Anspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung systemgerecht implementieren.18 Nicht ausgeschlossen ist schließlich, gar eine richterliche Billigkeitsrechtsprechung wie die englische equity zur Gewährung von Vertrauensschutz einzuspannen.19 b) Strafrecht Das strafrechtliche Urteil beruht in jeder Rechtsordnung auch auf einem Schuldurteil über den Angeklagten. Mittels dieser Schuldkomponente kann

11

Jansen, ERPL 2 (2000), 336, 341 f. Siehe Bydlinski, JBl 2001, 2, 22; Medicus, NJW 1995, 2577 ff.; Vonkilch, Das Intertemporale Privatrecht, 1999, S. 321 ff. 13 Jansen, ERPL 2 (2000), 336, 341; Zimmermann/Jansen, Quieta Movere – Interpretative Change in a Codified System, 1998, S. 285, 307; Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, S. 134 ff. 14 Bydlinski, JBl 2001, 2, 22; Huep, Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf ältere Sachverhalte, 2001, S. 121 ff., 151 ff. 15 Zimmermann/Jansen, Quieta Movere – Interpretative Change in a Codified System, 1998, S. 285, 307 f. 16 Jüngst BGH v. 28.10.2014 – XI ZR 348/13, Rn. 34 ff. m.w.N.; s.a. Piekenbrock/Ludwig/Rodi, ZIP 2014, 1353 ff. 17 Zimmermann/Jansen, Quieta Movere – Interpretative Change in a Codified System, 1998, S. 285, 308 ff.; Höpfner, RdA 2006, 156, 164 f.; Pieroth/Hartmann, ZIP 2010, 753, 759. 18 A.A. Bridge, JIFBL 14 (1999), 5, 8. 19 Vgl. MacQueen, ERPL 2 (2000), 352, 355 zum schottischen Recht. 12

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Teil 2: Grundlagen

berechtigtes Vertrauen in allen Fallgestaltungen berücksichtigt werden.20 Dahingestellt soll hier bleiben, ob es im Strafrecht überhaupt eines Vertrauensschutzes bedarf. So könnten die gesetzlichen Rückwirkungs- und Bestimmtheitsgebote den Bedarf gänzlich entfallen lassen.21 c) Öffentliches Recht Im Bereich des sonstigen öffentlichen Rechts könnte sekundärer Vertrauensschutz neben der Bestandskraft von auf rechtswidrige Rechtsakte oder falsche Rechtsprechung gestützten Einzelakten auch mittels eines Aufhebungsverbots für noch nicht bestandskräftige Einzelakte erreicht werden. Weiterhin könnte man bei Erlass eines Individualrechtsakts auf die vermeintliche Rechtslage zur Zeit des Antrags abstellen oder bei der (gerichtlichen oder verwaltungsinternen) Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Maßnahme auf die Rechtslage im Zeitpunkt des Antrags oder des Erlasses der Maßnahme oder der Einlegung des Rechtsbehelfs. 2. Mindestanforderungen Die Berücksichtigung im System einer Rechtsordnung muss einigen Mindestanforderungen genügen. Sie muss zuerst bei allen in Betracht kommenden Fallgestaltungen und Verfahrensarten anwendbar sein, da sonst die beabsichtigte Berücksichtigung von Vertrauensschutz von Zufällen abhängen würde.22 Dazu muss das System eine ausreichende Zahl von Ansatzpunkten für Erwägungen der Rechtssicherheit bieten. Gleichzeitig müsste ein solches Modell gewährleisten, dass die unterschiedlichen Einzelfälle in einem kohärenten System zueinander entwickelt werden können. Das Modell muss den Gerichten ermöglichen, auch zukünftige und unbekannte Fälle zu beurteilen. C. Möglichkeiten des EuGH für unionsrechtlichen Vertrauensschutz Für den Europäischen Gerichtshof sind die Möglichkeiten, Vertrauensschutz gegen seine Rechtsprechung zu gewähren, hingegen begrenzt. Insbesondere ist für ihn sekundärer Vertrauensschutz nicht einfach durchführbar. Zum einen stellt das Unionsrecht in weiten Bereichen kein umfassend kodifiziertes System dar. Es wird oftmals nach nationalen Verfahrensvorschriften von den Mitgliedstaaten angewandt. Ob das Vertrauen eines Rechtsunterworfenen auf Unionsebene Berücksichtigung finden kann, hinge dann von 20 Zur Eignung des deutschen § 17 StGB z.B. Arndt, Probleme rückwirkender Rechtsprechungsänderung, 1974, S. 40 ff.; dagegen Neumann, ZStW 103 (1991), 331, 333 m.w.N. 21 So Tröndle, FS Dreher, 1977, S. 117, 135 f.; a.A. Neumann, ZStW 103 (1991), 331 m.w.N. 22 A.A. Bydlinksi, JBl 2001, 2, 23, der Härten in Kauf nehmen möchte.

§ 2 Instrumente für Vertrauensschutz gegen Rechtsprechung

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Zufällen ab. Der EuGH hätte keinen Einfluss darauf, ob die Vertrauensschutzerwägungen noch in seinem Verfahren bei der Auslegung von Unionsrecht oder erst bei der Auslegung von nationalem Recht zum Tragen kommen. Letzteres ist dem Gerichtshof jedoch entzogen, so dass der Vertrauensschutz dann lückenhaft wäre. Zum anderen scheitern auf Unionsebene die Versuche, Modelle aufzubauen, die überhaupt oder in weiten Teilen nur auf einzelne Rechtsgebiete zugeschnitten sind. Die Unterscheidung nach den Gegensätzen Privatrecht – Öffentliches Recht – Strafrecht ist im Unionsrecht nicht immer durchführbar. So müssen die ergebnisbezogenen Vorgaben einer Richtlinie von den Mitgliedstaaten zwar vor allem durch rechtsverbindliche Gesetzesnormen umgesetzt werden.23 Für die Umsetzung kommen aber sowohl privatrechtliche als auch öffentlich-rechtliche Normen in Betracht.24 Die entsprechenden Richtlinienvorschriften lassen sich dann nicht eindeutig einer bestimmten Rechtsmaterie zuordnen. Sekundärer Vertrauensschutz ließe sich deshalb nur in Einzelbereichen einführen, die eingehend unionsrechtlich geregelt sind. Es wäre dann nicht möglich, der Rückwirkungsbeschränkung eine einheitliche, für alle Rechtsgebiete geltende Dogmatik zugrunde zu legen. Darüber hinaus wäre sekundärer Vertrauensschutz nur durch eine Verzahnung von nationaler und unionsrechtlicher Ebene erreichen. Dabei müsste das fehlende materiellrechtliche oder prozessuale System des Unionsrechts durch den Rückgriff auf die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen ausgeglichen werden. Das Unionsrecht (in der ihm durch den Gerichtshof gegebenen Gestalt) würde den Mitgliedstaaten nur Vorgaben machen, in welchen Einzelfällen sie mit ihrem nationalen Instrumentarium im Ergebnis Vertrauensschutz zu gewähren haben und wann nicht. Um die einheitliche Geltung des Unionsrechts zu erhalten, müssten diese Vorgaben wohl sehr detailliert und konkret sein. Es dürfte also nicht ausreichen, den Mitgliedstaaten die Ausgestaltung des Vertrauensschutzes freizustellen, wenn dadurch letztlich nur Mindeststandards eingeführt würden, weil dies den Anforderungen an die unionsrechtliche Rechtssicherheit 23 EuGH v. 15.10.1986 – Rs. 168/85 Kommission ./. Italien, Slg. 1986, 2945 Rn. 16; EuGH v. 28.2.1991 – Rs. C-131/88 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1991, I-825 Rn. 35 f.; EuGH v. 30.5.1991 – Rs. 361/88 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1991, I-2567 Rn. 15; EuGH v. 20.3.1997 – Rs. C-96/95 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1997, I-1653 Rn. 39; EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-144/99 Kommission ./. Niederlande, Slg. 2001, I-3541 Rn. 17; EuGH v. 9.12.2003 – Rs. C-129/00 KOM ./. Italien, Slg. 2003, I-14637 Rn. 32 f.; EuGH v. 3.3.2011 – Rs. C-50/09 Kommission ./. Irland, Slg. 2011, I-873 Rn. 46 ff.; Hamenstädt, EuR 2011, 263, 267 f.; Herdegen, WM 2005, 1921, 1926 f.; M. Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung, 2010, S. 149 ff.; Jarass/Beljin, NVwZ 2004, 1, 7. 24 Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, 2009, § 8 Rn. 56; Riesenhuber, EUVertragsrecht, 2013, § 6 Rn. 34.

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Teil 2: Grundlagen

nicht genügt.25 Ein Modell sekundären Vertrauensschutzes würde daher die Kompetenzen der Mitgliedstaaten nicht weniger beschränken als primärer Vertrauensschutz.

§ 3 Theoretische Grundlagen der Rückwirkung von Rechtsprechung Theoretische Grundlagen der Rückwirkung von Rechtsprechung Die theoretischen Grundlagen der Rechtsprechung können vor allem aus zwei Richtungen auf die Rückwirkungsproblematik ausstrahlen. Zum einen könnte die zeitliche Wirkung sich an der Bindungswirkung der EuGH-Urteile orientieren und mit ihr einer einheitlichen Methodik unterliegen. Entscheidender dürfte zum anderen sein, ob sich rechtstheorische Erkenntnisse über die zeitliche Wirkung von Rechtsprechung gewinnen lassen.26 Den theoretischen Grundlagen der Rechtsprechung ließe sich eine Aussage entnehmen, wenn sie eine Rückwirkung zwingend anordnen oder verbieten. Im ersteren Falle könnte eine solche vom Gerichtshof nicht beschränkt und im zweiten nicht angeordnet werden. Als dritte Möglichkeit könnte die zeitliche Wirkung der Gestaltung durch den EuGH freigestellt sein oder zumindest ein RegelAusnahme-Verhältnis mit entsprechender Argumentationslast vorgegeben sein. A. Funktionen der Rechtsprechung im Unionsrecht Der Gerichtshof der Europäischen Union sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des EUV und des AEUV, Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV.27 Er ist eine der Kontrollinstanzen im institutionellen Gleichgewicht der Organe der Union (vgl. Art. 13 EUV). Ihm obliegt die letztverbindliche Entscheidung über die Unwirksamkeit und die inhaltliche Reichweite von Unionsrecht. Der Europäische Gerichtshof ist als Organ der Union an die Strukturprinzipien des Unionsrechts gebunden. Auch Rechtsprechungstätigkeit ist Ausübung von Hoheitsgewalt und bedarf als solche einer Legitimation. Die Wahrung des Rechts der Union hat nicht nur einen objektivrechtlichen Gehalt, sondern auch eine subjektiv-rechtliche Komponente. So dienen nicht nur die Individualnichtigkeitsklage nach Art. 263 Abs. 4 AEUV oder die Inzidentrüge nach Art. 277 AEUV dem Rechtsschutz des Einzelnen. 25

A.A. wohl Waelbroeck, YbEL 1 (1981), 115, 121 f. Kritisch zur Bedeutung der Rechtstheorie für die Rückwirkungsfrage Osterloh, FS Hassemer, 2010, S. 173, 181. 27 Eine Ausnahme besteht freilich für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik einschließlich der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, vgl. Art. 24 Abs. 1 UAbs. 2 S. 6 EUV und Art. 275 AEUV. 26

§ 3 Theoretische Grundlagen der Rückwirkung von Rechtsprechung

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Auch das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV soll neben der Auslegung und Kontrolle des Unionsrechts trotz seiner objektiven Ausgestaltung zur Rechtsdurchsetzung des Einzelnen beitragen;28 jedoch ist die Herstellung und Wahrung der Rechtsprechungseinheit das Hauptziel.29 Die Einführung des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV dürfte den Fokus auch im Unionsrecht in Zukunft etwas stärker auf die subjektiv-rechtliche Seite verschieben. Der Gegensatz von objektiv-rechtlicher und subjektiv-rechtlicher Komponente spiegelt sich wider in den weiteren Funktionen jeder Rechtsprechung: der Gewährung von gerechten Einzelfallentscheidungen und der Schaffung einer allgemeinen Richtschnur für das Verständnis der Normen des Unionsrechts. Auch der Gerichtshof dient diesen beiden Zielen. Beide stehen jedoch gleichberechtigt nebeneinander; sie entsprechen sich sogar.30 Eine nur im Einzelfall gerechte Lösung kann nicht ohne Anpassung als allgemeine Verhaltensregel gelten, genauso wie allgemeine Verhaltensregeln auch im Einzelfall gerechte Ergebnisse ermöglichen müssen.31 Die Besonderheit der Rechtsprechungstätigkeit des Europäischen Gerichtshofs liegt in der Begrenzung auf einzelne, abschließend (Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, Art. 5 Abs. 1, 2 EUV) aufgezählte Verfahrensarten. Inhaltlich ist der EuGH durch die Reichweite des Unionsrechts beschränkt und keine Superrevisionsinstanz für sämtliche Bereiche mitgliedstaatlicher Rechtsprechung. B. Tatsächlicher Vergangenheitsbezug von Rechtsprechung Nach der Einschätzung von Husserl beschäftigen sich die Gesetzgebung mit der Zukunft, die Verwaltung mit der Gegenwart und die Rechtsprechung mit der Vergangenheit.32 Damit ist angesprochen, dass sich die richterliche Entscheidung zumeist auf einen tatsächlichen Sachverhalt bezieht, der sich im Wesentlichen in der Vergangenheit abgespielt oder jedenfalls dort begonnen 28

Schillig, Konkretisierungskompetenz und Konkretisierungsmethoden im Europäischen Privatrecht, S. 85 m.w.N.; Poelzig, JJZ 2009, 209, 212 f.; Everling, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 1986, S. 18 ff.; eingehend Thomy, Individualrechtsschutz durch das Vorabentscheidungsverfahren, 2009, S. 102 ff. 29 Herrmann, EuZW 2006, 231; Groh, EuZW 2002, 460, 462; Heß, ZZP 108 (1995), 59, 63. 30 A.A. Bydlinski, JBl 2001, 2, 14, 25: Einzelfallentscheidung ist „primäre Aufgabe der [nationalen] Rechtsprechung“, während der EuGH „primär abstrakte Normbeziehungen und Rechtsfragen“ beurteilt. 31 Neumann, ZStW 103 (1991), 331, 338 f. 32 Husserl, Recht und Zeit, 1955, S. 52 ff. i.V.m. S. 42 ff.; dies aufgreifend Kirchhof, Verwalten und Zeit, 1995, S. 73, 75; Waldhoff, Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, 2006, S. 11; vgl. auch Bittner, JZ 2013, 645; kritisch zu dieser Abgrenzung z.B. Mähner, Der Europäische Gerichtshof als Gericht, 2005, S. 64 f.

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Teil 2: Grundlagen

hat.33 Dies kann man aus der Natur der Rechtsprechung folgern34 oder herausstellen, dass es der Zeitbedarf eines modernen Verfahrens ist, der für die tatsächlich verstreichende Zeit sorgt.35 Auch wenn Gerichte Zukünftiges regeln,36 ändert sich der Vergangenheitsbezug der entscheidungserheblichen Tatsachen nicht.37 Das gilt in gleichem Maße für besondere Prozesssituationen, wie Unterlassungsklagen oder einstweilige Anordnungen, in denen die zu beurteilenden Tatsachen solche der Vergangenheit oder Gegenwart sind, niemals jedoch der Zukunft. Was in der Zukunft geschieht, ist ungewiss und kann daher von keinem Menschen (auch keinem Richter) gewusst, sondern allenfalls prognostiziert werden. Dieser Vergangenheitsbezug der Rechtsprechung existiert natürlich ebenso im Unionsrecht. Auf der Hand liegt dies, wo der Europäische Gerichtshof selbst in autonomen Verfahren das Verhalten von Personen, Mitgliedstaaten oder Organen abschließend rechtlich beurteilt. Dies ist beispielsweise der Fall bei Nichtigkeitsklagen gegen Unionsakte oder im Vertragsverletzungsverfahren. In den Vorabentscheidungsverfahren ist der Gerichtshof zwar in ein vor nationalen Gerichten begonnenes und dort zu beendendes Verfahren als „Zwischeninstanz“ eingebettet; und er beurteilt allein die unionsrechtliche Rechtsfrage. Dennoch dient das Auslegungs- oder Ungültigkeitsurteil ebenso der Streitentscheidung im Hinblick auf ein bereits vergangenes tatsächliches, nationales Geschehen. Wie im mitgliedstaatlichen Recht kommt es dabei nicht darauf an, in welchem Rechtsgebiet der EuGH tätig wird. Anknüpfungspunkt der richterlichen Entscheidung ist im Zivilrecht wie im Öffentlichen Recht und im Strafrecht ein in der Vergangenheit liegender Sachverhalt.

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Der Zeitraum zwischen dem Geschehen des Sachverhalts und der Entscheidung hängt dabei von vielen Faktoren ab, z.B. dem Abwarten der Parteien bis zur Verfahrenseinleitung oder der Verfahrensdauer. Es soll unberücksichtigt bleiben, dass während des Prozesses vorgenommene Handlungen die rechtliche Beurteilung beeinflussen können und zeitlich nicht ebenso weit zurückliegen. 34 Klappstein, Die Rechtsprechungsänderung mit Wirkung für die Zukunft, 2009, S. 35; Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, 1996, S. 5: der richterlichen Tätigkeit „wesenseigen“; Höpfner, RdA 2006, 156, 157: „notwendiges Charakteristikum“; Waelbroeck, YbEL 1 (1981), 115, 120: „necessarily retrospective“. 35 Der Zeitraum lässt sich theoretisch extrem verkürzen, aber niemals ganz abschaffen. Es ist theoretisch denkbar, dass die Parteien noch im selben Moment der Tatsachengeschehnisse den Streitbedarf erkennen und einen Richter anrufen, der sofort entscheidet. Wie (sach-)gerecht ein solches Verfahren ist, bleibt hier dahingestellt. 36 Vgl. Hart/Sachs, The Legal Process, 1994, S. 163; Pieroth/Hartmann, ZIP 2010, 753, 757 f. 37 Ähnlich Huep, Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf ältere Sachverhalte, 2001, S. 22 Fn. 14; Kirchhof, Verfassungsrechtliche Maßstäbe für die Dauer von Verfahren und Rechtserkenntnissen, 1995, S. 109, 115.

§ 3 Theoretische Grundlagen der Rückwirkung von Rechtsprechung

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Sieht man den Vergangenheitsbezug der Rechtsprechung als Faktum an,38 so wird deutlich, worin das „Rückwirkungsproblem“ bei rechtsprechender Tätigkeit besteht. Liegt zwischen der Handlung des Rechtsunterworfenen und deren Beurteilung durch den Europäischen Gerichtshof ein (längerer) Zeitraum, so ist zu begründen, ob und warum die richterliche Entscheidung schon auf den Zeitpunkt der Tatsachen einwirkt und die rechtlichen Maßstäbe in diesem Zeitpunkt bestimmt. Vom Vergangenheitsbezug hinsichtlich der Tatsachen lässt für sich noch nicht zwingend auf eine Rückwirkung sämtlicher Gerichtsurteile schließen.39 Gleichzeitig entlastet jener nicht davon, sich des Rückwirkungsproblems bewusst sein zu müssen.40 C. Die Bindungswirkung von EuGH-Entscheidungen Mit der zeitlichen Wirkung der Rechtsprechung ist ihre Bindungswirkung eng verknüpft.41 Zwar können sowohl die Präjudizwirkung als auch die Rückwirkung von Rechtsprechung unabhängig voneinander bestehen, doch verstärken sie gegenseitig ihre praktischen Auswirkungen und damit das Bedürfnis nach rechtlicher Berücksichtigung. Gleichzeitig spiegeln einige der oben überblicksartig angesprochenen Voraussetzungen und Rechtsfolgen der Rückwirkungsbeschränkung die Bedeutung der Bindungswirkung wider. Eine Bindung kann Rechtssicherheit erzeugen und schützenswertes Vertrauen begründen. Die Maßstäbe des guten Glaubens und der wirtschaftlichen Auswirkungen dürften sich an der Anzahl der von einem Urteil betroffenen Sachverhalte orientieren. Ebenso müssen die territoriale und personelle Reichweite der Rechtsfolgenbestimmung mit der Dogmatik der Wirkung eines Urteils im Einklang stehen. Schließlich gilt es, die Befugnis zur „Beantragung“ einer Rückwirkungsbeschränkung darauf abzustimmen. Der Begriff Bindungswirkung bezeichnet hier die Frage, ob und warum eine Entscheidung des EuGH entweder ihn selbst, das EuG oder die mitgliedstaatlichen Gerichte bindet. Die Bindungswirkung von Urteilen ist ein Mittel, um die einheitliche Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten sicherzustellen und die Stabilität der Rechtsprechung zu gewährleisten.42 Soweit diese Ziele auf anderem Wege ebenso effektiv oder sogar besser er38

So auch Klappstein, Die Rechtsprechungsänderung mit Wirkung für die Zukunft, 2009, S. 32; Griebeling, RdA 1992, 373, 375. 39 A.A. Waldhoff, Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, 2006, S. 11 f.; Huep, Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf ältere Sachverhalte, 2001, S. 22. 40 Vgl. Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, 1996, S. 5, der vor einer Bagatellisierung der Problematik ausdrücklich warnt; ähnlich Lieb, FS Gaul, 1997, S. 381, 384 f. 41 Ebenso Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 53 f. 42 Vgl. Martens, JZ 2011, 348, 351 zum englischen stare decisis.

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reicht werden, besteht kein Anlass für eine strenge Bindungswirkung. Alternative Mittel wären beispielsweise ein kodifikatorisches Rechtssystem mit klarer Normenhierarchie und wissenschaftlicher Rechtsdogmatik.43 Eine Bindungswirkung könnte sich dabei zuerst aus einer direkten Verbindlichkeit des Tenors ergeben, einer erga omnes-Rechtskraftwirkung. Das Urteil setzt dann geltendes Recht gegenüber allen Rechtssubjekten. Die Bindungswirkung kann sich alternativ als – aus dem deutschen Recht te44 – präsumtiv-faktische Verbindlichkeit darstellen. Jedenfalls muss sich die konkrete Ausgestaltung der Bindungswirkung aus der Unionsrechtsordnung ergeben, denn sie lässt sich nur rechtsordnungsspezifisch beantworten.45 Der Begriff „Bindungswirkung“ umfasst daher sowohl die sog. inter partes-Wirkung des Urteils oder von Urteilsbestandteilen als auch die erga omnes-Wirkung, die hier nur die unmittelbare Wirkung des Urteils oder eines Teiles davon für Nichtverfahrensbeteiligte beschreiben soll. Die teilweise in der Literatur verwendeten, aber unüblich gebliebenen Begriffe der ad remoder ultra rem-Wirkung46 sollen hier nicht verwendet werden, da auch sie nur deskriptiven Charakter haben und die Gefahr weiterer Sprachverwirrung heraufbeschwören. I.

Nachrangigkeit der Rechtsquelleneigenschaft

Im Zusammenhang mit der Bindungswirkung wird regelmäßig die Rechtsquelleneigenschaft von Entscheidungen des Gerichtshofs diskutiert. Unter Rechtsquellen versteht man alle verbindlichen Geltungsgründe für das vom Richter gefundene Recht, also alle unabhängigen Regeln, warum das Ergebnis des Richters dem Recht entspricht.47 Versucht man nun herauszufinden, ob richterliche Entscheidungen ein Geltungsgrund für das Ergebnis späterer, anderer richterlicher Entscheidungen sind, dann zeigt sich, dass damit die Frage nach der Bindungswirkung von Urteilen nur anders bezeichnet ist.48

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Martens, JZ 2011, 348, 355. Vgl. Larenz, FS Schima, 1969, S. 247, 260 f. 45 Im Ergebnis Ehricke, Bindungswirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 1997, S. 39. 46 Vgl. Ehricke, Bindungswirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 1997, S. 44; Klappstein, JJZ 2009, 233, 253 Fn. 120; Schröder, Gesetzesbindung des Richters und Rechtsweggarantie im Mehrebenensystem, 2010, S. 141 Fn. 60; kritisch schon Tomuschat, Die gerichtliche Vorabentscheidung nach dem Vertrag über die Europäischen Gemeinschaften, 1964, S. 172 f. und 175. 47 Riesenhuber-Köndgen, Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 6 Rn. 5; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 519 f.; Cross/Harris, Precedent in English Law, 4. Aufl. 1991, S. 173. 48 Grunsky, Grenzen der Rückwirkung bei einer Änderung der Rechtsprechung, 1970, S. 14; vgl. Klappstein, JJZ 1999, 233, 266; Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsprob44

§ 3 Theoretische Grundlagen der Rückwirkung von Rechtsprechung

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Daher ist die Frage der Rechtsquelleneigenschaft – wie die der Bindungswirkung – eine Beurteilung, die für jede Rechtsordnung selbst beantwortet werden muss.49 Verweise auf mitgliedstaatliche Rechtsordnungen können allenfalls den Horizont für mögliche Lösungen erweitern, nicht aber eine spezifisch unionsrechtliche Argumentation ersetzen.50 II. Keine Selbstbindung des EuGH Der Europäische Gerichtshof ist an keines seiner Urteile, egal aus welchem Verfahren, selbst gebunden.51 Er kann grundsätzlich jederzeit von Tenor oder Gründen einer früheren Entscheidung abweichen, soweit nicht besondere Umstände entgegenstehen.52 Ebenso darf das EuG seine Rechtsprechung später inhaltlich revidieren.53 Gegen eine strenge Präjudizienbindung ohne Änderungsmöglichkeit spricht schon die Gefahr, dass das Recht sonst „versteinern“ würde.54 Eine Reaktion auf geänderte rechtliche oder tatsächliche Umstände wäre dann nur mittels einer weitgreifenden Unterscheidungslehre (distinguishing) möglich, die die Reichweite der Urteile stark mit den konkreten Umständen des Falles verknüpft. Dies würde wiederum zu Lasten der Voraussehbarkeit des Rechts gehen. Frühere Entscheidungen des Gerichtshofs schaffen jedoch eine faktische Argumentationshürde, die zumeist nur durch neue Argumente oder Entwicklungen überwunden werden kann. Deshalb folgt der Gerichtshof regelmäßig seiner eigenen Rechtsprechung. Darauf basiert zudem die CILFIT-

lem, 2002, S. 599 ff.; unklar Schima, Zur Wirkung von Auslegungsentscheidungen des EuGH, 2000, S. 280, 284. 49 Cross/Harris, Precedent in English Law, 4. Aufl. 1991, S. 167; Schima, Zur Wirkung von Auslegungsentscheidungen des EuGH, 2000, S. 280, 284. 50 Anders aber GA Jääskinen, SchlA v. 2.12.2010 – Rs. C-148/09 P Belgien ./. Deutsche Post u.a., Slg. 2011, I-8573 Rn. 110. 51 Langenbucher, JJZ 1999, 65, 75 m.w.N. und Beispielen aus der Rechtsprechung; Arnull, Interpretation and Precedent in European Community Law, 1998, S. 115, 125 f.; ders., CMLRev 30 (1993), 247, 251 f.; Leisner, EuR 2007, 689, 695; GA Trstenjak, SchlA v. 28.3.2007 – Rs. C-331/05 P Internationaler Hilfsfonds ./. Kommission, Slg. 2007, I-5475 Rn. 84 f. Eingehend unten bei § 3 D.II.1., S. 66 ff. 52 Vgl. Ehricke, Bindungswirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 1997, S. 51; Schima, Wirkungen und Grenzen der Entscheidungen des EuGH, 2007, S. 73, 74; Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995, S. 155; Toth, YbEL 4 (1984), 1, 36; Ahmling, Analogiebildung durch den EuGH im Europäischen Privatrecht, 2012, S. 133 ff.; auch schon Tomuschat, Die gerichtliche Vorabentscheidung nach den Verträgen über die europäischen Gemeinschaften, 1964, S. 188 f. 53 Arnull, Interpretation and Precedent in European Community Law, 1998, S. 115, 130. 54 Ehricke, Bindungswirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 1997, S. 51; Grosche, Rechtsfortbildung im Unionsrecht, 2011, S. 267.

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Rechtsprechung55, wonach eine Vorlage unterbleiben kann, wenn die Rechtsfrage durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs geklärt ist. Sie setzt voraus, dass der Gerichtshof davon ausgeht, dass er grundsätzlich die erneute Vorlagefrage gleich beantworten wird.56 III. Unwirksamkeitsverfahren 1. Nichtigkeitsklage nach Art. 263 f. AEUV Im Tenor einer erfolgreichen Nichtigkeitsklage erklärt der Gerichtshof gemäß Art. 264 Abs. 1 AEUV die angegriffene Handlung der Union für nichtig. Nach allgemeiner Ansicht verliert eine mit allgemeiner Wirkung ausgestattete Handlung (zum Beispiel die Verordnung oder Richtlinie) damit in der gesamten Union ihre Verbindlichkeit gegenüber allen Adressaten und darf grundsätzlich von Unions- oder mitgliedstaatlichen Gewalten nicht mehr angewendet werden.57 Auch das EuG hat eine durch den Gerichtshof erfolgte Nichtigerklärung zu beachten. Streitig ist nur die Wirkung bei individuell adressierten Akten wie Scheinverordnungen oder Entscheidungen. Einer erga omnesWirkung der Nichtigkeit bedarf es dort nicht, da sich die Adressaten, die nicht schon selbst ein Rechtsmittel eingelegt haben, schon wegen des Grundsatzes der materiellen Bestandskraft nicht auf die Rechtswidrigkeit des Rechtsakts berufen können.58 Die mitgliedstaatlichen Gerichte bleiben selbstverständlich nach Art. 267 Abs. 2 AEUV berechtigt, die Reichweite und Bedeutung der Nichtigerklärung durch Vorlagefragen an den Gerichtshof klären zu lassen. Unzulässig wäre nur eine Vorlage, die allein darauf abzielt, die Unionshandlung nun im selben Fall für nicht-nichtig, also für wirksam, zu erklären. Zum einen wäre der Rechtssicherheit mit der fortbestehenden Änderungsmöglichkeit nicht gedient. Zum anderen widerspräche dies dem gestaltenden Charakter des Nichtigkeitsurteils.59 Ergibt die Prüfung des Gerichtshofs keine Gründe für die Nichtigkeit der Handlung, so wird die Klage abgewiesen, nicht aber die Wirksamkeit der Handlung positiv festgestellt.60 Die Handlung ist also basierend auf der all-

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EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 CILFIT ./. Ministero della Sanità, Slg. 1982, 3415. McLeod, Legal Method, 9. Aufl. 2013, S. 214. 57 EuGH v. 12.2.2008 – Rs. C-199/06 CELF, Slg. 2008, I-469 Rn. 61; EuGH v. 1.6.2006 – verb. Rs. C-442/03 P und C-471/03 P P & O European Ferries [Vizcaya] und Diputación Foral de Vizcaya ./. Kommission, Slg. 2006, I-4845 Rn. 43 m.w.N.; StreinzEhricke, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 263 Rn. 3. 58 Calliess/Ruffert-Cremer, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 264 Rn. 2; vgl. Vogt, EuR 2004, 618. 59 Toth, YbEL 4 (1984), 1, 13 f. 60 Z.B. EuGH v. 15.7.2004 – Rs. C-501/00 Spanien ./. Kommission, Slg. 2004, I-6717. 56

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gemeinen Gültigkeitsvermutung61 weiterhin von allen nationalen und Unionsorganen anzuwenden. Die mitgliedstaatlichen Gerichte können Fragen nach der Wirksamkeit der Handlung jederzeit vorlegen und neue Argumente hinsichtlich schon geprüfter Nichtigkeits- oder Ungültigkeitsgründe vortragen. 2. Ungültigkeitsvorabentscheidung nach Art. 267 Abs. 1 lit. b) Alt. 1 AEUV Die Ungültigkeitsvorabentscheidung nach Art. 267 Abs. 1 lit. b) Alt. 1 AEUV ist unmittelbar an das vorlegende mitgliedstaatliche Gericht gerichtet. Trotz der unterschiedlichen Ausgestaltung der Verfahren hat der Gerichtshof die Wirkungen von Nichtigkeits- und Ungültigkeitsentscheidung weitgehend angeglichen. Erklärt der Gerichtshof eine Handlung für ungültig, so hat dies die gleichen Folgen wie bei der Nichtigerklärung: Die entsprechenden Bestimmungen müssen von den mitgliedstaatlichen oder Unionsorganen unangewendet bleiben.62 Das gilt auch für die mitgliedstaatlichen Gerichte. Für jene stellte eine Ungültigerklärung einen „ausreichenden Grund dafür dar, diese Handlung bei den von ihm zu erlassenden Entscheidungen als ungültig anzusehen.“63 Damit ist nicht lediglich gemeint, dass den mitgliedstaatlichen Gerichten freisteht, ob sie die Handlung ohne weitere Anrufung des Gerichtshofs unangewendet

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EuGH v. 12.2.2008 – Rs. C-199/06 CELF, Slg. 2008, I-469 Rn. 60; EuGH v. 15.6.1994 – Rs. C-137/92 P Kommission ./. BASF, Slg. 1994, I-2555 Rn. 48; EuGH v. 13.2.1979 – Rs. 101/78 Granaria, Slg. 1979, 623 Rn. 4 f.; Schwarze-Schwarze, EUKommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 264 AEUV Rn. 3; Bülow, Die Relativierung von Verfahrensfehlern im Europäischen Verwaltungsverfahren und nach §§ 45, 46 VwVfG, 2007, S. 27 ff.; Annacker, Der fehlerhafte Rechtsakt im Gemeinschafts- und Unionsrecht, 1998, S. 79 ff. Der EuGH verwendet die Bezeichnung „Vermutung der Rechtmäßigkeit“ (présomption de légalité, presumed to be lawful), wenngleich die Rechtsfolgen mit dem Begriff „Gültigkeitsvermutung“ oder „Wirksamkeitsvermutung“ besser beschrieben sind; zum Begriff der Geltungsvermutung schon Paulson, ARSP 65 (1979), 1, 14 ff. 62 Sodan/Ziekow-Dörr, VwGO, 4. Aufl. 2014, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz Rn. 142: „formale Bindungswirkung erga omnes“; Pechstein, EU-Prozessrecht, 4. Aufl. 2011, Rn. 866; Rengeling/Middeke/Gellermann-Middeke, EU-Rechtsschutz, 3. Aufl. 2014, § 10 Rn. 105; Frenz/Kühl, DStZ 2009, 432, 433; Frenz, Handbuch Europarecht, Band 5, 2010, Rn. 3403; Annacker, Der fehlerhafte Rechtsakt im Gemeinschafts- und Unionsrecht, 1998, S. 132: „de facto eine Erga-omnes-Wirkung“; a.A. Germelmann, Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen in der Europäischen Union, 2009, S. 408, der die abweichende Formulierung betont. 63 EuGH v. 8.11.2007 – Rs. C-421/06 Fratelli Martini, Slg. 2007, I-152 Rn. 54 (abgekürzte Veröffentlichung); EuGH v. 27.2.1985 – Rs. 112/83 Produits de Maïs, Slg. 1985, 719 Rn. 16; EuGH v. 13.5.1981 – Rs. 66/80 International Chemical Corporation, Slg. 1981, 1191 Rn. 13. Der unklare Wortlaut findet sich auch in der englischen und französischen Fassung.

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lassen oder nicht.64 Vielmehr sollte durch die umständliche Formulierung lediglich zum Ausdruck gebracht werden, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte weiterhin nach Art. 267 Abs. 2 AEUV berechtigt und nach Art. 267 Abs. 3 AEUV verpflichtet bleiben, dem Gerichtshof Fragen zu Reichweite und Inhalt der Ungültigerklärung zu stellen.65 Unzulässig sind hingegen Vorlagen, die allein auf eine Erklärung der Nicht-Ungültigkeit von schon für ungültig erklärten Unionshandlungen abzielen.66 Begründen lässt sich dies mit der Vergleichbarkeit von Ungültigkeitsund Nichtigkeitsurteil.67 Der Gerichtshof wendet die für die Nichtigkeitsklage geltenden Art. 264, 266 AEUV auf die Ungültigerklärung analog an, weil beide Verfahren abstrakt die Legalität der Unionshandlung anhand der gleichen Maßstäbe prüfen. Die für die Nichtigkeitsklage ausgeführten Argumente68 greifen daher auch hier durch, denn der Gerichtshof kann die ungültige Norm nicht später wieder für gültig (nicht-ungültig) erklären.69 Dem steht nicht entgegen, dass in einem solchen Fall anderen Betroffenen die Möglichkeit genommen wird, in einem späteren Verfahren ihre Argumente für die Gültigkeit des Rechtsakts vorzubringen.70 Wie bei der Nichtigkeitsklage, wo dies ebenso ausgeschlossen ist, überwiegt das Interesse an der Endgültigkeit der geklärten Rechtslage.

64 In diesem Sinne gibt auch EuG v. 5.2.2007 – Rs. T-91/05 Sinara Handel, Slg. 2007, II-245 Rn. 65 diese Rechtsprechung wieder. Im Ergebnis ebenso, jedoch mit der Unterscheidung von relativ wirkender Rechtskraft und absoluter faktischer Präjudizienwirkung Germelmann, Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen in der Europäischen Union, 2009, S. 407 ff. 65 Ebenso Lenaerts/Arts/Masels/Bray, Procedural Law of the European Union, 2. Aufl. 2006, Rn. 10-015; Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 88; wohl auch Lewis, Remedies and the Enforcement of European Community Law, 1996, S. 248. 66 von der Groeben/Schwarze-Gaitanides, EUV/EGV, 6. Aufl. 2003, Art. 234 EGV Rn. 90; Lenaerts/Maselis/Gutman, EU Procedural Law, 2014, 10.19 (S. 473); ebenso für das vorlegende Gericht wegen der Rechtskraft des Vorlageurteils Germelmann, EuR 2009, 254, 259. A.A. Klappstein, JJZ 2009, 233, 253 f. mit Fn. 122; wohl auch Bebr, CMLRev 18 (1981), 475, 480. 67 A.A. Germelmann, EuR 2009, 254, 261 ff., der aber sowohl die „faktisch gleiche“ Wirkung von Nichtigkeits- und Ungültigkeitsurteil als auch die Analogien zu Art. 264 Abs. 2, 266 AEUV anerkennt und deshalb die dogmatische Widersprüchlichkeit rügt. 68 Vgl. oben § 3 C.III.1., S. 23. 69 Schweitzer/Hummer/Obwexer, Europarecht, 2007, Rn. 861; Lenaerts/Arts/Masels/ Bray, Procedural Law of the European Union, 2. Aufl. 2006, Rn. 10-014; Schima, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH, 2. Aufl. 2004, S. 101; Beckmann, Probleme des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 177 EWG-Vertrag, 1988, S. 109; Pietrek, Verbindlichkeit von Vorabentscheidungen nach Art. 177 EWGV, 1989, S. 231 f. 70 In diese Richtung Germelmann, Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen in der Europäischen Union, 2009, S. 419.

§ 3 Theoretische Grundlagen der Rückwirkung von Rechtsprechung

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Bejaht der Gerichtshof keinen der geprüften Ungültigkeitsgründe, so stellt er fest, dass die Prüfung der Handlung nichts für eine Ungültigkeit ergeben hat. Der Urteilsinhalt ist sachlich begrenzt, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass neue, vom EuGH noch nicht beachtete Ungültigkeitsgründe oder Umstandsänderungen in einem späteren Verfahren zur Ungültigkeit führen würden.71 Die letztinstanzlich entscheidenden Gerichte bleiben gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV zur Vorlage verpflichtet, wenn sie die Handlung als ungültig ansehen wollen. Gleiches gilt ungeachtet des Wortlauts des Art. 267 Abs. 2 AEUV und wegen des Entscheidungsmonopols des EuGH auch für unterinstanzliche Gerichte.72 3. Inzidentrüge nach Art. 277 AEUV Erklärt der Gerichtshof eine Handlung gemäß Art. 277 AEUV inzident für unanwendbar, wirkt diese Unanwendbarkeit nur inter partes zwischen den Beteiligten des Anlassrechtsstreits.73 Die Handlung besteht gegenüber allen anderen Adressaten fort,74 die Unanwendbarerklärung nimmt nicht an der absoluten Rechtskraft des Urteils teil.75 Das Organ, das den Rechtsakt erlassen hat, ist rechtlich nicht zu seiner Aufhebung oder Änderung verpflichtet.76 Eine rechtliche Pflicht würde die 71 Frenz/Kühl, DStZ 2009, 432, 434; wortgleich Frenz, Handbuch Europarecht, Band 5, 2010, Rn. 3404; einschränkend Schima, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH, 2. Aufl. 2004, S. 101 f., der annimmt, dass im Eilverfahren entscheidende Gerichte eine unionsrechtliche Norm jedenfalls nicht aus schon geprüften und verneinten Gründen vorläufig aussetzen dürfen. 72 EuGH v. 22.10.1987 – Rs. 314/85 Foto-Frost, Slg. 1987, 4199 Rn. 15 ff.; vgl. Calliess/Ruffert-Wegener, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 267 AEUV Rn. 49. 73 Allg. Ansicht; Schweitzer/Hummer/Obwexer, Europarecht, 2007, Rn. 868; Lenaerts/Arts/Masels/Bray, Procedural Law of the European Union, 2. Aufl. 2006, Rn. 9-015; Schermers/Waelbroeck, Judicial Protection in the European Union, 6. Aufl. 2001, § 1041. 74 Pechstein, EU-Prozessrecht, 4. Aufl. 2011, Rn. 980; Schwarze-Schwarze, EUKommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 277 AEUV Rn. 13; von der Groeben/SchwarzeGaitanides, EUV/EGV, 6. Aufl. 2003, Art. 241 EGV Rn. 13; Rengeling/Middeke/Gellermann-Middeke, EU-Rechtsschutz, 3. Aufl. 2014, § 11 Rn. 23. 75 Germelmann, Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen in der Europäischen Union, 2009, S. 407. 76 Streinz-Ehricke, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 277 AEUV Rn. 13 m.w.N.; von der Groeben/Schwarze-Gaitanides, EUV/EGV, 6. Aufl. 2003, Art. 241 EGV Rn. 14; Annacker, Der fehlerhafte Rechtsakt im Gemeinschafts- und Unionsrecht, 1998, S. 135 f. A.A. Barav, CMLRev 11 (1974), 366, 386; Lenaerts/Arts/Masels/Bray, Procedural Law of the European Union, 2. Aufl. 2006, Rn. 9-015; Hein, Die Inzidentkontrolle sekundären Gemeinschaftsrechts durch den Europäischen Gerichtshof, 2001, S. 24 f., 168 ff.; wohl auch Calliess/Ruffert-Cremer, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 277 AEUV Rn. 8. Unklar EuGH v. 20.3.1984 – verb. Rs. 75 und 117/82 Razzouk u.a. ./. Kommission, Slg. 1984, 1509 Rn. 19.

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Teil 2: Grundlagen

Fristen des Art. 263 AEUV sinnlos machen.77 Eine Unterscheidung danach, ob die Unanwendbarkeitsgründe über das Individualinteresse des Antragstellers hinausgehen,78 ist abzulehnen, da Rechtssicherheit dann nur durch eine Klarstellung des Gerichtshofs zu erlangen wäre. Faktische Folge der Unanwendbarkeitsfeststellung dürfte jedoch regelmäßig die entsprechende Anpassung sein. Denn in allen nicht-bestandskräftigen Rechtsverhältnissen könnte die Rechtswidrigkeit der Rechtsgrundlage gerügt werden, soweit die Gründe für die Unanwendbarkeit über den Einzelfall hinaus verallgemeinert werden können.79 Es dürfte nämlich nicht davon auszugehen sein, dass der Gerichtshof seine einmal getroffene Auslegung ändern wird.80 Die Unionsgerichte müssen eine für unanwendbar erklärte Vorschrift in einem anderen Verfahren erst erneut für unanwendbar erklären. Eine vergleichbare Bindungswirkung wie bei Nichtigkeits- oder Ungültigkeitserklärung besitzt die Inzidentrüge nicht. Die nationalen Gerichte sind nicht berechtigt, den fraglichen Rechtsakt in anderen Verfahren unangewendet zu lassen. Weil nur der Gerichtshof über die Rechtswidrigkeit von Unionsrecht und deren Folgen entscheiden kann, muss das mitgliedstaatliche Gericht diese Frage vorlegen. Einer darauffolgenden Ungültigkeitserklärung käme dann die oben beschriebene Bindungswirkung nach der Foto-Frost-Rechtsprechung zu. Dieser umständliche Weg lässt sich damit rechtfertigen, dass im Inzidentrügeverfahren auch individuelle Interessen zur Unanwendbarkeit führen können und deshalb die inhaltliche Reichweite der Ungültigkeit nicht immer deutlich bestimmbar ist. IV. Auslegung und Auslegungsvorabentscheidung Von der Bindungswirkung der Urteile und Beschlüsse des EuGH zur Unwirksamkeit von Unionssekundärrecht werden die Wirkungen der Entscheidungen im Auslegungsvorabentscheidungsverfahren unterschieden. 1. Rechtskraftwirkungen der Auslegungsvorabentscheidung nach Art. 267 Abs. 1 lit. b) Alt. 2 AEUV Auslegungsvorabentscheidungen sind im Rahmen des konkreten Vorlageverfahrens und des nationalen Ausgangsverfahrens unmittelbar für die Verfahrensbeteiligten verbindlich.81 Das beruht auf der Rechtskraft der durch das

77

Streinz-Ehricke, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 277 AEUV Rn. 13; ähnlich Pechstein, EU-Prozessrecht, 4. Aufl. 2011, Rn. 981. 78 Sinaniotis, EurPubL 2001, 103, 124. 79 Lenaerts/Arts/Masels/Bray, Procedural Law of the European Union, 2. Aufl. 2006, Rn. 9-015; Alexander, YbEL 8 (1988), 11, 22. 80 Streinz-Ehricke, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 277 AEUV Rn. 13. 81 Z.B. EuGH v. 5.10.2010 – Rs. C-173/09 Elchinov, Slg. 2010, I-8889 Rn. 29 m.w.N.

§ 3 Theoretische Grundlagen der Rückwirkung von Rechtsprechung

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Vorlageverfahren eingeführten instantiellen Überordnung der Vorabentscheidung.82 Darüber hinaus entfalten diese keine materielle Rechtskraft.83 2. Allgemeine Bindungswirkung der Auslegung a) Verfahrensunabhängigkeit der Bindungswirkung In seinem CILFIT-Urteil stellte der Gerichtshof klar, dass die nationalen, letztinstanzlich entscheidenden Gerichte auch dann von der Vorlagepflicht des Art. 267 Abs. 3 AEUV befreit sind, wenn eine gesicherte Rechtsprechung des Gerichtshofs über die entscheidungserhebliche Auslegung besteht (sog. acte éclairé). Dabei kommt es – ganz ausdrücklich – nicht darauf an, in welcher Verfahrensart diese Rechtsprechung entstanden ist.84 Daraus lässt sich schließen, dass nach Ansicht des Gerichtshofs die Auslegung immer die gleiche Bindungswirkung erzielt.85 Es handelt sich also dogmatisch nicht um eine Bindungswirkung eines Urteils, insbesondere nicht des Vorabentscheidungsurteils, sondern um Wirkungen, die der Unionsnorm aufgrund der Auslegung durch den Gerichtshof zukommen.86 Daher muss die Präjudizwirkung immer gleich sein, wenn der Europäische Gerichtshof Unionsrecht auslegt. Es ist gleichgültig, in welchem Verfahren die Auslegung vorgenommen wird.87 Eine Norm des Unionsrechts kann dabei nicht nur im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 Abs. 1 lit. a), b) AEUV ausgelegt werden. Auf einem bestimmten Verständnis (d.h. einer Auslegung) des Unionsrechts beruhen ebenso alle anderen gemeinschaftsrechtlichen Entscheidungen. Der Ungültigkeit oder Nichtigkeit einer Unionsnorm (Art. 267 Abs. 1 lit. b), 263 AEUV), der Feststellung eines Vertragsverstoßes (Art. 258 AEUV) oder der Verpflichtung zum Schadensersatz (Art. 268 AEUV) liegt die Auslegung von Unionsprimär- oder -sekundärrecht

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Im Einzelnen z.B. Ehricke, Bindungswirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 1997, S. 40 ff. m.w.N.; Langenbucher, JJZ 1999, 65, 76; Nicolaysen, Europarecht I, 2. Aufl. 2002, S. 417; a.A. Gutsche, Die Bindungswirkung der Urteile des Europäischen Gerichtshofes, 1967, S. 169 ff., 175 ff. 83 Schima, Wirkungen und Grenzen der Entscheidungen des EuGH, 2007, S. 73, 74 f. m.N. aus der Rechtsprechung. 84 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 CILFIT ./. Ministero della Sanità, Slg. 1982, 3415 Rn. 14; Köber, Kooperations- und Beschleunigungsmechanismen im Vorabentscheidungsverfahren, 2013, S. 69. 85 Vgl. EuGH v. 16.2.1978 – Rs. 88/77 Minister for Fisheries ./. Schonenberg u.a., Slg. 1978, 473 Rn. 10/13. 86 Im Ergebnis ebenso Lenaerts, CMLRev 44 (2007), 1625, 1642 unter Berufung auf den deklaratorischen Charakter der Auslegung. 87 So auch schon Toth, YbEL 4 (1984), 1, 61 Fn. 251; Arnull, Interpretation and Precedent in European Community Law, 1998, S. 115, 134 f.

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zugrunde. Daher entfalten alle diese Urteile dieselbe Bindungswirkung, soweit es um die in ihnen vorgenommene Auslegung von Unionsrecht geht.88 Als weitere Folge sind solche Argumente für die Beurteilung der Bindungswirkung ungeeignet, die sich allein auf das Vorlageverfahren beziehen und nicht auf die Auslegung in anderen Verfahren übertragbar sind. So ist ein Rekurs auf die Abstraktheit der Vorlagefrage oder den Tenor des Vorlageurteils nicht hilfreich,89 weil dies Besonderheiten des Vorlageverfahrens sind. Ebenso führt die Eigenart des Vorabentscheidungsverfahrens, dass es dort „keine Parteien gibt“90, nicht zwingend zu einer erga omnes-Wirkung der Auslegung. Vielmehr beruht die Parteilosigkeit auf dem besonderen Charakter des Vorabentscheidungsverfahrens als interjudizieller Dialog.91 b) Diskussion von Inhalt und Geltungsgrund der Bindungswirkung Gegen eine von der Rechtskraft verschiedene Bindungswirkung spricht nicht schon, dass die Auslegung durch den EuGH stark an den konkreten Merkmalen des Sachverhalts orientiert und daher einer allgemeinen Geltung nicht zugänglich ist.92 Selbst wenn der Tatsachenbezug ungewöhnlich stark ausgeprägt wäre, würde dies doch nur einen Grund ergeben, genau zu untersuchen, was der Inhalt der Bindung ist. Dieser Einwand betrifft also die genaue Bestimmung des vom EuGH gefundenen Ergebnisses, kann jedoch nicht beantworten, wer an dieses Ergebnis gebunden ist. aa) Bindung des Gerichts (ehemals Gericht erster Instanz) Das Gericht sieht sich selbst nicht grundsätzlich an die Auslegung des Unionsrechts durch den EuGH gebunden an. Es erachtet die Rechtsauffassung des EuGH nur über Art. 61 EuGH-Satzung und das Institut der Rechtskraft als für sich verbindlich.93 Daneben stellt Art. 54 Abs. 2 EuGH-Satzung einen

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Vgl. auch Tsikrikas, Die Wirkungen der Urteile des Europäischen Gerichtshofs im Vertragsverletzungsverfahren (Art. 169 ff. EWGV), 1990, S. 143 und 147 f., der aus der Ähnlichkeit der Entscheidungen im Vertragsverletzungs- und Vorabentscheidungsverfahren hinsichtlich der Auslegung des Gemeinschaftsrechts Folgerungen für die außerprozessualen Bindungswirkungen zieht. 89 A.A. Klappstein, JJZ 2009, 233, 259; Schima, Zur Wirkung von Auslegungsentscheidungen des EuGH, 2000, S. 280, 311. 90 Vgl. EuGH v. 5.3.1986 – Rs. 69/85 Wünsche, Slg. 1986, 947 Rn. 14. 91 A.A. Lenaerts/Arts/Masels/Bray, Procedural Law of the European Union, 2. Aufl. 2006, Rn. 6-031. 92 So Bebr, CMLRev 18 (1981), 475, 487. 93 EuG v. 5.6.1996 – Rs. T-162/94 NMB u.a. ./. Kommission, Slg. 1996, II-427 Rn. 36; Weatherill/Beaumont, EU Law, 3. Aufl. 1999, S. 202 mit Bezugnahme auf EuG v. 27.2.1992 – verb. Rs. T-79/89 u.a. BASF u.a. ./. Kommission, Slg. 1992, II-315; a.A. Lenaerts/Arts/Masels/Bray, Procedural Law of the European Union, 2. Aufl. 2006, Rn. 6-030

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Bindungsgrund dar.94 Unabhängig davon muss das Gericht den Aussagen des Gerichtshofs nur im Rahmen ihrer Überzeugungskraft folgen.95 Der EuGH scheint das zu akzeptieren.96 Die Einbettung in den Instanzenzug setzt das Gericht natürlich dem Risiko aus, auf das Rechtsmittel hin nach Art. 58 Abs. 1 EuGH-Satzung wegen der „Verletzung des Unionsrechts“ aufgehoben zu werden.97 bb) Letztinstanzlich entscheidende nationale Gerichte Das Auslegungsergebnis des Gerichtshofs bindet die mitgliedstaatlichen Gerichte zuerst über die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV. Das letztinstanzlich entscheidende nationale Gericht darf von einer unionsgerichtlichen Auslegung nicht abweichen, ohne die Frage dem EuGH vorgelegt zu haben.98 Dies ergibt sich schon im Umkehrschluss zu den Ausnahmen von der Vorlagepflicht entsprechend der Da Costa-Rechtsprechung des Gerichtshofs. Danach ist das mitgliedstaatliche Gericht von der Vorlagepflicht befreit, wenn sich der Gerichtshof zur Auslegung einer Vorschrift schon in einem gleichgelagerten Vorabentscheidungsverfahren geäußert hat.99 Diese Ausnahme ergibt natürlich nur einen Sinn, wenn das nationale Gericht dann auch an diese Auslegung des Unionsrechts gebunden ist.100 Das dient der einheitlichen Geltung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts in allen Mit-

Fn. 323 mit Bezugnahme auf EuG v. 6.12.2001 – Rs. T-43/98 Emesa Sugar ./. Rat, Slg. 2001, II-3519 Rn. 73. 94 Arnull, The European Union and its Court of Justice, 2. Aufl. 2006, S. 636. 95 Arnull, Interpretation and Precedent in European Community Law, 1998, S. 115, 134. 96 Vgl. GA Trstenjak, SchlA v. 28.3.2007 – Rs. C-331/05 P Internationaler Hilfsfonds ./. Kommission, Slg. 2007, I-5475 Rn. 84; Weatherill/Beaumont, EU Law, 3. Aufl. 1999, S. 202 f. mit Bezugnahme auf EuGH v. 7.5.1991 – Rs. C-69/89 Nakajima All Precision ./. Rat, Slg. 1991, I-2069 Rn. 49 f. 97 Brown/Kennedy, The Court of Justice of the European Communities, 5. Aufl. 2000, S. 376. 98 Schwarze-Schwarze, EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 267 AEUV Rn. 71; von der Groeben/Schwarze-Gaitanides, EUV/EGV, 6. Aufl. 2003, Art. 234 EGV Rn. 93; Pechstein, EU-Prozessrecht, 4. Aufl. 2011, Rn. 868; Klappstein, JJZ 2009, 233, 257 f. 99 EuGH v. 27.3.1963 – verb. Rs. 28/62 bis 30/62 Da Costa u.a., Slg. 1963, 60, 80 f.; vertieft in EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 CILFIT ./. Ministero della Sanità, Slg. 1982, 3415 Rn. 13 f. 100 Frenz, Handbuch Europarecht, Band 5, 2010, Rn. 3404. Die Bindungswirkung des Art. 267 Abs. 3 AEUV lässt sich auch als Fiktion der Rechtskraft begreifen: Die Da-CostaRechtsprechung befreit das letztinstanzlich entscheidende Gericht aus prozessökonomischen Gründen von der Vorlage, die eigentlich verpflichtend ist, und verhindert die Rechtskraftbindung an das Auslegungsergebnis des EuGH, welche durch die (gedachte) Vorlage ausgelöst werden würde.

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gliedstaaten sowie dem Prinzip der Rechtssicherheit.101 Die Bindungswirkung entsteht demnach für die letztinstanzlichen mitgliedstaatlichen Gerichte über ein primärrechtliches Abweichungsverbot. Die Bindungswirkung scheitert auch nicht an ihrer mangelnden unionsrechtlichen Durchsetzbarkeit.102 Die aus Art. 267 Abs. 3 AEUV folgende Pflicht zur Vorlage ist im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens vollständig judizierbar, wenngleich Kommission und EuGH von einem Konflikt mit den nationalen Gerichten meist absehen.103 Es handelt sich hierbei dogmatisch nicht um die Missachtung eines Urteils des EuGH, sondern die Missachtung der Vorlagepflicht. Eines Rekurses auf Art. 4 Abs. 3 EUV zur Begründung eines „Urteilsbeachtungsgebotes“ bedarf es daher nicht.104 Auch sind die nationalen Gerichte als Teil der mitgliedstaatlichen Staatsgewalt immer unmittelbarer Adressat des aus dem Unionsprimärrecht folgenden Abweichungsverbotes. cc) Nicht-letztinstanzlich entscheidende nationale Gerichte Für die nicht-letztinstanzlich entscheidenden nationalen Gerichte könnte man einerseits eine strenge erga omnes-Bindungswirkung (vergleichbar der englischen precedent-Doktrin) vorsehen.105 Andererseits könnte man wie bei den letztinstanzlich entscheidenden Gerichten allein ein Abweichungsverbot postulieren106 oder sogar jede Bindungswirkung verneinen107. Richtigerweise ist 101

Ehricke, Bindungswirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 1997, S. 49 f.; Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EGVertrag, 2. Aufl. 1995, S. 155. 102 A.A. Ehricke, Bindungswirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 1997, S. 54 ff., der die Bindungswirkung von letztinstanzlichen und anderen Gerichten einheitlich unter Verzicht auf Art. 267 AEUV begründet. 103 Calliess/Ruffert-Wegener, EUV/AEUV, Art. 267 AEUV Rn. 33 f.; Lenaerts/Arts/ Masels/Bray, Procedural Law of the European Union, 2. Aufl. 2006, Rn. 2-054; eingehend Solar, Vorlagepflichtverletzung mitgliedstaatlicher Gerichte und ihre Sanierung, 2004, S. 106 ff. 104 Z.B. Woods/Watson, Steiner & Woods EU Law, 11. Aufl. 2012, S. 235. 105 Bydlinski, FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 3, 6 bezeichnet wohl das als herrschende Meinung; vgl. Koenig, EWS 2010, 449, 451 f. 106 Vgl. Tsikrikas, Die Wirkungen der Urteile des Europäischen Gerichtshofs im Vertragsverletzungsverfahren (Art. 169 ff. EWGV), 1990, S. 146 f.; Lenaerts/Arts/Masels/ Bray, Procedural Law of the European Union, 2. Aufl. 2006, Rn. 2-058; Lenaerts, CMLRev 44 (2007), 1625, 1642; Leible/Terhechte-Karpenstein, EnzEuR Bd. 3, 2014, § 8 Rn. 113; Schillig, Konkretisierungskompetenzen und Konkretisierungsmethoden im Europäischen Privatrecht, S. 93; Rösler, Europäische Gerichtsbarkeit auf dem Gebiet des Zivilrechts, 2012, S. 447 ff.; Schröder, Gesetzesbindung des Richters und Rechtsweggarantie im Mehrebenensystem, 2010, S. 139 ff.; Schermers/Waelbroeck, Judicial Protection in the European Union, 6. Aufl. 2001, §§ 547, 563, 622; Schima, Wirkungen und Grenzen der Entscheidungen des EuGH, 2007, S. 73 ff.; Schima, Das Vorabentscheidungsverfahren vor

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aber von einer formalen Bindungswirkung abzusehen und allein eine präsumtiv-faktische Verbindlichkeit der Begründung anzunehmen.108 Zuerst ist dabei zu erkennen, dass eine erga omnes-Bindungswirkung sich im Vertragsverletzungsverfahren oder im Staatshaftungsprozess nicht besser als eine präsumtive Bindungswirkung durchsetzen lassen würde. Zwar führte eine unmittelbare Bindung dazu, dass das vorgeworfene mitgliedstaatliche Handeln die Missachtung der EuGH-Rechtsprechung durch das nationale Gericht wäre.109 Im anderen Falle ließe sich dem Mitgliedstaat vorwerfen, dass er die Rechtsprechung nicht durch klare Rechtssetzung angeleitet hat. In gleicher Weise lässt sich nicht darauf abstellen, dass die Staatshaftung für judikatives Unrecht nicht durch die Verletzung der Vorlagepflicht, sondern die Missachtung der inhaltlichen Vorgaben des Unionsrechts durch das Gericht ausgelöst wird.110 Der Gerichtshof beschränkt diese Rechtsprechung nämlich auf letztinstanzliche Gerichte.111 Unergiebig ist weiterhin der Hinweis auf die dem englischen distinguishing ähnliche Praxis des Gerichtshofs, die Reichweite von juristischen Aussagen in vorherigen Entscheidungen voneinander und vom aktuellen Fall

dem EuGH, 2. Aufl. 2004, S. 99 f. (Bindung aber keine Vorlagepflicht); Koopmans, Stare decisis in European Law, 1982, S. 11, 18 f.; wohl auch OGH v. 31.8.2010 – 4Ob120/10s, sub 3.1.; unsicher Schweitzer/Hummer/Obwexer, Europarecht, 2007, Rn. 861; DausesDauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, 32. EL 2013, P II Rn. 238 f.; unentschieden Jacobs, The Effect of Preliminary Rulings in the National Legal Order, 1994, 29, 30. 107 Z.B. Tomuschat, Die gerichtliche Vorabentscheidung nach dem Vertrag über die Europäischen Gemeinschaften, 1964, S. 191. 108 Althammer, Bindungswirkung der Entscheidungen des EuGH, 2012, S. 37, 47 ff.; Beck, The Legal Reasoning of the Court of Justice of the EU, 2012, S. 237 f.; DänzerVanotti, FS Everling, 1995, S. 205, 206; Everling, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof, 1986, S. 66; Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, 1999, S. 276 ff. m.w.N.; Hufen/Nörr, Beschränkung von Urteilswirkungen im Falle der Feststellung der Verfassungswidrigkeit von Rechtsnormen, 2008, Teil 1, S. 40; Kerwer, Das europäische Gemeinschaftsrecht und die Rechtsprechung der deutschen Arbeitsgerichte, 2003, S. 646 ff.; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band II, 3. Aufl. 2012, Rn. 410; Schmitz/Stammler, AöR 2011, 479, 488; SchwarzeSchwarze, EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 267 AEUV Rn. 71; Streil, Das Vorabentscheidungsverfahren als Bindeglied zwischen europäischer und nationaler Rechtsprechung, 1983, S. 69, 78; wohl auch GA Trstenjak, SchlA v. 28.3.2007 – Rs. C-331/05 P Internationaler Hilfsfonds ./. Kommission, Slg. 2007, I-5475 Rn. 84; dies., ZEuP 2007, 145, 150; Keppert, ÖStZ 1997, 165, 167 f.; Kokott/Henze/Sobotta, JZ 2006, 633, 634; Schlachter, ZfA 2007, 249, 265. 109 Vgl. Schima, Wirkungen und Grenzen der Entscheidungen des EuGH, 2007, S. 73, 77. 110 Vgl. Kokott/Henze/Sobotta, JZ 2006, 633, 637. 111 Calliess/Ruffert-Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 340 Rn. 50.

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Teil 2: Grundlagen

abzugrenzen.112 Auch ein kodifiziertes Rechtssystem mit präsumtiver Bindungswirkung wie die deutsche Rechtsordnung bewertet die rechtlichen Aussagen eines Gerichtsurteils im Zusammenhang mit dem jeweiligen Sachverhalt, um zu ermitteln, inwieweit die Aussagen auf Besonderheiten des Sachverhalts beruhen oder verallgemeinerbar sind.113 Dieses Vorgehen ist daher kein Unterscheidungsmerkmal zwischen den verschiedenen Rechtsordnungen.114 Ebensowenig basiert die Tatsache, dass der Gerichtshof auf seine eigenen Entscheidungen verweist, auf einer Theorie der Bindungswirkung seiner Entscheidungen.115 Dadurch sollen die Kontinuitäten der Rechtsprechung betont und wiederholende Argumentationen erspart werden. Gleichfalls uneindeutig ist die Regelung des Art. 99 EuGH-VerfO (Art. 104 § 3 EuGH-VerfO a.F.).116 Die Möglichkeit, schon beantwortete Vorlagefragen mit einem Beschluss in kleinerer Besetzung und ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden, ist bei einer präsumtiven Verbindlichkeit genauso sinnvoll. Ihr Zweck liegt in der Arbeitserleichterung und Verfahrensökonomie. Durch den Abschluss des Vorlageverfahrens wird das Vorlagegericht schon durch die Rechtskraft des Beschlusses gebunden. Die darüber hinausgehende Praxis, die Gerichte von einschlägigen Entscheidungen in Kenntnis zu setzen und eine Rücknahme der Vorlage abzuwarten,117 spricht nur gegen eine strikte Bindungswirkung ohne Vorlagemöglichkeit, denn anderenfalls müsste der Gerichtshof die Vorlage sogar förmlich zurückweisen. Dieselben Überlegungen müssen hinsichtlich Art. 23 Abs. 2 EuGHSatzung angestellt werden. In dieser Vorschrift sind die Beteiligungsrechte der Mitgliedstaaten, der Kommission, der Organe und der sonstigen Unionsstellen veranktert. Solche sprechen zwar für eine über das Ausgangsverfahren

112

In diese Richtung auch Kähler, Strukturen und Methoden der Rechtsprechungsänderung, 2. Auf. 2011, S. 374; a.A. Barceló, Precedent in European Community Law, 1997, S. 407, 430. 113 So auch Groh, EuZW 2002, 460, 463 mit Fn. 38; v. Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, S. 472 f. 114 Allgemein zur Konvergenz der Rechtsmethoden Klöckner, JJZ 2004, 231, 243 ff.; Klöckner, Grenzüberschreitende Bindung an zivilgerichtliche Präjudizien, 2006, S. 15 ff. 115 A.A. Koopmans, Stare decisis in European Law, 1982, S. 11, 21, der wohl aber auf die Art und Weise der Selbstreferenz abstellt. 116 A.A. Lenaerts/Arts/Masels/Bray, Procedural Law of the European Union, 2. Aufl. 2006, Rn. 6-032; v. Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, S. 505; Anderson/Demetriou, References to the European Court, 2. Aufl. 2002, Rn. 14-044; Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 64. 117 Vgl. Lenaerts/Arts/Masels/Bray, Procedural Law of the European Union, 2. Aufl. 2006, Rn. 6-032; Schima, Zur Wirkung von Auslegungsentscheidungen des EuGH, 2000, S. 280, 293.

§ 3 Theoretische Grundlagen der Rückwirkung von Rechtsprechung

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hinausgehende Bindungswirkung,118 treffen aber über die Qualität der Bindung keine Aussage. Schließlich lässt sich auch die Rechtsprechung zur Beschränkung der zeitlichen Urteilswirkungen nicht fruchtbar machen.119 Daraus ergibt sich nämlich nur, dass der EuGH überhaupt von einer irgendwie gearteten Bindungswirkung ausgeht, nicht aber wie diese konkret ausgestaltet ist.120 Daher gibt es auch in Deutschland – wo von einer präsumtiv-faktischen Verbindlichkeit ausgegangen wird – ebenso eine Rückwirkungsbeschränkungsrechtsprechung wie in den Vereinigten Staaten – wo eine strengere Präjudizwirkung vertreten wird –, während es in England bisher eine solche Rechtsprechung nicht gibt, obwohl auch dort die Präjudizwirkung wesentlich strenger als in Deutschland ist. Gegen eine strikte erga omnes-Bindung ohne Vorlagemöglichkeit spricht Art. 267 Abs. 2 AEUV, der den Gerichten ausdrücklich ein Vorlagerecht einräumt. Zwar verbliebe Art. 267 Abs. 2 AEUV noch ein eigener Anwendungsbereich in dem Fall, dass noch keine einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs existiert. Durch die Vorlagemöglichkeit wird aber dem Gerichtshof die Möglichkeit gegeben, flexibel auf Neuerungen zu reagieren.121 Gleichzeitig können die mitgliedstaatlichen Gerichte solche Auslegungsergebnisse auf direktem Wege hinterfragen, die sie nicht überzeugen. Der Wortlaut des Art. 267 Abs. 2 AEUV kann darüber hinaus nicht gegen eine erga omnes-Bindung mit Vorlagemöglichkeit (auch sog. „gelockerte ergaomnes-Wirkung“122) ins Feld geführt werden. Solange den nationalen Gerichten die Vorlagemöglichkeit gegeben wird, ist Art. 267 Abs. 2 AEUV Genüge getan. Eine sachliche Unabhängigkeit der Gerichte verlangt der Wortlaut nicht.123 Ginge man davon aus, dass die Bindung an die EuGH-Urteile eine grundsätzliche Vorlagepflicht der nicht-letztinstanzlichen Gerichte auslöst, so würde die von Art. 267 Abs. 2 und 3 AEUV vorgenommene Unterscheidung nivelliert. Wie die letztinstanzlich entscheidenden Gerichte wären dann alle 118

Richtig daher Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 64. 119 A.A. Lenaerts, CMLRev 44 (2007), 1625, 1642 f. Fn. 102; ders./Maselis/Gutman, EU Procedural Law, 2014, 6.34 (S. 248); Broberg/Fenger, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union, 2014, S. 390 f.; vgl. auch Schwarz/Fraberger, ecolex 1998, 52, 54. 120 Ähnlich Schima, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH, 2. Aufl. 2004, S. 100; ders., Wirkungen und Grenzen der Entscheidungen des EuGH, 2007, S. 73, 75 f. 121 Klappstein, JJZ 2009, 233, 260, 262. 122 Ehricke, Bindungswirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 1997, S. 49. 123 A.A. wohl Calliess/Ruffert-Wegener, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 267 AEUV Rn. 49.

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Teil 2: Grundlagen

anderen Gerichte zur Vorlage verpflichtet, wenn sie der Auslegung des Gerichtshofs nicht folgen wollen. Zwar verbliebe Art. 267 Abs. 2 AEUV auch hier ein eigener Anwendungsbereich in den Fällen, in denen noch keine verbindliche Auslegung durch den Gerichtshof existiert.124 Jedoch leuchtet nicht ein, warum das Schutzniveau für die Einheitlichkeit des Unionsrechts höher ist, wenn der EuGH schon einmal tätig geworden ist. Das Unionsrecht ist auch ohne vorherige Entscheidung des Gerichtshofes verbindlich und seine Verbindlichkeit erhöht sich nicht, wenn und weil der Gerichtshof ein Urteil gefällt hat. Dementsprechend erhöht ein Abweichungsverbot mit Vorlagemöglichkeit auch nicht das Maß der Rechtssicherheit: Durch die Pflicht zur Vorlage bei Abweichungswillen wird der mögliche Streit um die Auslegung des Unionsrechts nicht verhindert, sondern nur schneller zum EuGH geleitet. Rechtssicherheit schafft der Gerichtshof – wie jedes andere Gericht – nur wenn vorhersehbar ist, dass eine einmal eingeschlagene Rechtsprechung auch beibehalten wird.125 Zuzugeben ist, dass der Gerichtshof für die Ungültigkeitserklärung genau diese Dogmatik vertritt:126 Die Ungültigkeitserklärung kann nur vom EuGH selbst vorgenommen werden und sie genügt für alle Gerichte, die Handlung nicht anzuwenden; die Gerichte können Fragen zur Reichweite der Ungültigkeitserklärung erneut vorlegen.127 Dort verbleibt Art. 267 Abs. 2 AEUV ein eigener Anwendungsbereich neben Art. 267 Abs. 3 AEUV nur für den Fall, dass der EuGH noch gar nicht angerufen wurde und das nationale Gericht die ihm vorgetragenen Unwirksamkeitsgründe nicht für durchgreifend hält und die Unionshandlung aufrechterhalten und anwenden möchte. Das Gericht bleibt dann nämlich im Einklang mit der Gültigkeitsvermutung für Unionshandlungen und entscheidet so, wie es entscheiden müsste, wenn die Gültigkeitsfrage gar nicht aufgeworfen worden wäre. Bei einer Auslegungsvorlage kann es eine solche Vermutung der Unionsrechtskonformität für keine der vom mitgliedstaatlichen Gericht für vertretbar gehaltenen Auslegungsvarianten einer Unionsnorm geben. Auslegungs- und Gültigkeitsvorabentscheidung sind daher nicht zwingend gleich zu behandeln.128 124

Lenaerts/Arts/Masels/Bray, Procedural Law of the European Union, 2. Aufl. 2006, Rn. 2-058. 125 Das gilt unabhängig davon, ob man Änderungen überhaupt nicht zulässt oder die Kriterien dafür sehr streng sind oder die Rechtsprechung so überzeugend ist, dass jegliche Änderungskriterien nicht erfüllt würden. 126 Das betonen Broberg/Fenger, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union, 2014, S. 390; Anderson/Demetriou, References to the European Court, 2. Aufl. 2002, Rn. 14-042. 127 Zu den Einzelheiten siehe oben § 3 C.III.2., S. 24. 128 Ähnlich wie hier Glaesner, EuR 1990, 143, 147; im Ergebnis ebenso Calliess/Ruffert-Wegener, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 267 AEUV Rn. 49, der darauf

§ 3 Theoretische Grundlagen der Rückwirkung von Rechtsprechung

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Wegen der allgemeinen – und vor dem Hintergrund des Rechtsstaatsprinzips selbstverständlichen – Verbindlichkeit benötigt das Unionsrecht die Bindung der unterinstanzlichen Gerichte an die Auslegung durch den EuGH nicht.129 Die Gesetzesbindung steht dem funktional gleich und wird von einer sich immer klarer herauskristallisierenden Europäischen Methodenlehre130 flankiert. Der Gerichtshof scheint dem zuzuneigen, wenn er in ständiger Rechtsprechung davon ausgeht, dass „durch die Auslegung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts erläutert und erforderlichenfalls verdeutlicht [wird], in welchem Sinn und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre“131.132 Auch abstellt, dass die Argumente des EuGH aus der Foto-Frost-Entscheidung nur für die Ungültigkeitserklärung tragen; a.A. Toth, YbEL 4 (1984), 1, 66. 129 A.A. unter Rekurs auf eben dieses Prinzip und die deklaratorische Auslegungstheorie Lenaerts/Arts/Masels/Bray, Procedural Law of the European Union, 2. Aufl. 2006, Rn. 6-031. 130 Aus der zahlreichen Literatur z.B. Adrian, Grundprobleme einer juristischen [gemeinschaftsrechtlichen] Methodenlehre, 2009; Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997; Bredimas, Methods of Interpretation and Community Law, 1978; Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998; Buerstedde, Juristische Methodik des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 2006; Busch/Kopp/McGuire/Zimmermann (Hrsg.), Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 2009: Europäische Methodik – Konvergenz und Diskrepanz europäischen und nationalen Privatrechts, 2010; Dederichs, Die Methodik des EuGH, 2004; Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, 2009; Herresthal, Rechtsfortbildung im europäischen Bezugsrahmen, 2006; Neergaard/Nielsen (Hrsg.), European Legal Method – in a Multi-Level EU Legal Order, 2012; Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2014; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band II, 3. Aufl. 2013; Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, 2009. 131 Z.B. EuGH v. 6.7.1995 – Rs. C-62/93 BP Soupergaz, Slg. 1995, 1883 Rn. 39. Vgl. EuGH v. 2.2.1988 – Rs. 309/85 Barra, Slg. 1988, 355 Rn. 11; EuGH v. 2.2.1988 – Rs. 24/86 Blaizot, Slg. 1988, 379 Rn. 27; EuGH v. 27.3.1980 – Rs. 61/79 Denkavit italiana, Slg. 1980, 1205 Rn. 16; EuGH v. 27.3.1980 – verb. Rs. 66/79, 127/79 und 128/79 Salumi u.a., Slg. 1980, 1237 Rn. 9; EuGH v. 10.7.1980 – Rs. 881/79 Ariete, Slg. 1980, 2545 Rn. 6; EuGH v. 10.7.1980 – Rs. 826/79 Mireco, Slg. 1980, 2559 Rn. 7; EuGH v. 11.8.1995 – verb. Rs. C-367/93 bis C-377/93 Roders B.V. u.a., Slg. 1995, I-2229 Rn. 42; EuGH v. 19.10.1995 – Rs. C-137/94 Richardson, Slg. 1995, I-3407 Rn. 31; EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, Slg. 1995, I-4921 Rn. 141; EuGH v. 13.2.1996 – verb. Rs. C-197/94 und C-252/94 Bautiaa u.a., Slg. 1996, I-505 Rn. 47; EuGH v. 15.9.1998 – Rs. C-231/96 Edilizia Industriale Siderurgica Srl (Edis), Slg. 1998, I-4951 Rn. 15; EuGH v. 24.9.1998 – Rs. C-35/97 Kommission ./. Frankreich, Slg. 1998, I- 5325 Rn. 46 (ähnlich); EuGH v. 4.5.1999 – Rs. C-262/96 Sürül, Slg. 1999, I-2685 Rn. 107; EuGH v. 10.2.2000 – Rs. C-50/96 Schröder, Slg. 2000, I-743 Rn. 43; EuGH v. 10.2.2000 – verb. Rs. C-270/97 und C-271/97 Sievers und Schrage, Slg. 2000, I-929 Rn. 45; EuGH v. 10.2.2000 – verb. Rs. C-234/96 und C-235/96 Vick und Conze, Slg. 2000, I-799 Rn. 43; EuGH v. 13.1.2004 – Rs. C-453/00 Kühne & Heitz, Slg. 2004, I-837 Rn. 21; EuGH v. 10.1.2006 – Rs. C-402/03 Skov und Bilka, Slg. 2006, I-199 Rn. 50; EuGH v. 30.3.2006 – Rs. C-184/04 Uudenkau-

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Teil 2: Grundlagen

wenn die genaue Bedeutung etwas unklar bleibt, so bezieht sich der Gerichtshof doch vorrangig auf die Anwendung des gesetzten Unionsrechts. Etwas deutlicher ist eine Aussage des EuGH zu den Nichtigkeitsurteilen, wo „zu beachten ist, dass sich die den Einzelnen zustehenden Rechte nicht aus diesem Urteil, sondern aus den Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts, die in der innerstaatlichen Rechtsordnung unmittelbare Wirkung haben, selbst ergeben.“133

Ebenso hängt die Effektivität der Durchsetzung des Unionsrechts nicht davon ab, ob die nicht-letztinstanzlichen Gerichte unmittelbar gebunden sind an die Auslegung durch den Gerichtshof oder an das gesetzte Unionsrecht in Verbindung mit der Letztentscheidungsmacht des EuGH und der unmittelbaren Bindung der nationalen letztinstanzlichen Gerichte.134 Die Unionsrechtsordnung ist in beiden Fällen auf den nationalen Instanzenzug angewiesen,135 um das vom EuGH gefundene Auslegungsergebnis letztendlich auch zur Anwendung zu bringen, wenn ein nationales Gericht sich der Ansicht des Gerichtshofs verweigert. Es macht keinen Unterschied, ob das Gericht der Auslegung des EuGH offen nicht folgt oder einschlägige Präjudizien für unanwendbar hält (distinguishing). Das eine Mal muss die Bindung an die Unionsnorm (in ihrem Verständnis durch den EuGH) und das andere Mal die Präjudizbindung durch den nationalen Instanzenzug kontrolliert werden. Da wegen der unmittelbaren Bindung der letztinstanzlichen Gerichte „die Fäden immer beim Gerichtshof zusammenlaufen“136, nimmt das Unionsrecht diese Gefahr für die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung hin.137 Erst die Verfestigung einer unipungin kaupunki, Slg. 2006, I-3039 Rn. 53; EuGH v. 5.10.2006 – verb. Rs. C-290/05 und C-333/05 Nádasdi und Németh, Slg. 2006, I-10115 Rn. 62; EuGH v. 12.2.2008 – Rs. C-2/06 Kempter, Slg. 2008, I-411 Rn. 35 f.; EuGH v. 13.4.2010 – Rs. C-73/08 Bressol u.a., Slg. 2010, I-2735 Rn. 90; EuGH v. 7.7.2011 – Rs. C-263/10 Nisipeanu, Slg. 2011, I-97 Rn. 32 (abgekürzte Veröffentlichung); EuGH v. 13.12.2012 – Rs. C-465/11 Forposta und ABC Direct Contact, ECLI:EU:C:2012:801 Rn. 44 (Hervorhebung vom Verfasser). 132 A.A. Frenz, Handbuch Europarecht, Band 5, 2010, Rn. 3406; wohl auch GA Cosmas, verb. SchlA v. 8.10.1998 – Rs. C-50/96 Schröder, verb. Rs. C-234/97 und C-235/97 Vick und Conze, Rs. C-270/97 und C-271/97 Sievers und Schrage, Slg. 2000, I-743 Rn. 62; wohl auch Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, 1996, S. 110. 133 EuGH v. 14.12.1982 – verb. Rs. 341/81 bis 316/81 und 83/82 Procureur de la République ./. Waterkeyn u.a., Slg. 1982, 4337 Rn. 16. 134 A.A. Klappstein, JJZ 2009, 233, 260; Broberg/Fenger, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union, 2014, S. 390. 135 Vgl. Ehricke, Bindungswirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 1997, S. 15. 136 Schima, Wirkungen und Grenzen der Entscheidungen des EuGH, 2007, S. 73, 76; v. Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, S. 505. 137 Schima, Zur Wirkung von Auslegungsentscheidungen des EuGH, 2000, S. 208, 309 f.; vgl. auch Groh, EuZW 2002, 460, 462 „weitreichendes Vertrauen in die nationalen Gerichte“.

§ 3 Theoretische Grundlagen der Rückwirkung von Rechtsprechung

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onsrechtswidrigen nationalen Rechtsprechung auf letztinstanzlicher Ebene soll durch die Vorlagepflicht verhindert werden.138 Dem lässt sich auch nicht entgegenhalten, dass das Unionsrecht damit davon abhängig wird, dass eine Partei ein Rechtsmittel einlegt oder dass die nationalen Instanzenzüge möglicherweise nicht effektiv sind. Ersteres wird bei Fällen ohne einschlägige Präjudizien des EuGH von Art. 267 Abs. 2 AEUV ausdrücklich akzeptiert.139 Letzteres könnte bei auffälligen Schwächen durch einen konkreten und engen Begriff des letztinstanzlichen Gerichts unionsrechtlich kontrolliert werden. Darüber hinaus steht der Unionsrechtsordnung aber das Zutrauen des Art. 267 Abs. 2 AEUV auch im Hinblick auf das Subsidiaritätsprinzip gut zu Gesicht. Die mitgliedstaatlichen Instanzenzüge sind teilweise in jahrhundertelanger Rechtsentwicklung entstanden. Man darf davon ausgehen, dass die Mitgliedstaaten, die ja innerstaatlich ebenso die Ziele der Rechtseinheit und Rechtssicherheit kennen und verfolgen,140 ineffektive Systeme längst geändert hätten oder ändern würden. Die unterschiedliche Bindung von nichtletztinstanzlich im Vergleich zu letztinstanzlich entscheidenden Gerichten ist Folge der Ankoppelung des EuGH an das nationale Gerichtssystem. Die Vorlagepflicht des Art. 267 Abs. 3 AEUV zielt darauf ab, den EuGH als Instanz über den nationalen Gerichten einzurichten, um ein Unionsgerichtssystem zu schaffen. In einem einheitlichen Unionsgerichtssystem sollten die nationalen Gerichte aber nicht strenger als das (europäische) Gericht behandelt werden. Schließlich kommen beide Ansichten zu vergleichbaren Ergebnissen. Schon das deutsche Rechtssystem zeigt, dass mit dem Gebot, eine eventuelle Abweichung vom Präjudiz ausreichend zu begründen, Rechtseinheit und Rechtssicherheit Genüge getan wird, wenn es Vorlagepflichten flankieren.141 Es steht außerdem zu hoffen, dass mit der bloß präsumtiv-faktischen Verbindlichkeit auch eine höhere Ausführlichkeit in den Begründungen des EuGH einhergeht. V. Gegenstand der Bindungswirkung Gegenstand der Bindungswirkung ist bei Nichtigkeits- und Ungültigkeitsverfahren der Tenor der EuGH-Entscheidung. Die Bindungswirkung ist hier an die Rechtskraft des Unwirksamkeitsausspruchs gekoppelt. Die Urteilsbegrün-

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EuGH v. 4.6.2002 – Rs. C-99/00 Lyckeskog, Slg. 2002, I-4839 Rn. 14 f. Schima, Zur Wirkung von Auslegungsentscheidungen des EuGH, 2000, S. 208, 309. 140 Vgl. v. Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, S. 493 ff.; Tridimas, The General Principles of EU Law, 2. Aufl. 2007, S. 242 f. 141 Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 566 f.; Martens, JZ 2011, 348, 354 f. Mit ebendiesem Ergebnis für den Vergleich von englischem und europäischem Recht McLeod, Legal Method, 9. Aufl. 2013, S. 215, 222. 139

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Teil 2: Grundlagen

dung nimmt an dieser Wirkung nur in dem Maße teil, wie sie zur Verdeutlichung des Tenors erforderlich ist.142 Unabhängig von Rechtskraft und Tenor können alle Aussagen des Gerichtshofs zum Inhalt des Unionsrechts in allen Verfahren Gegenstand der „Auslegungsbindungswirkung“ sein.143 Dabei relativiert sich die Trennung zwischen ratio decidendi und obiter dictum, denn diese ist vor allem Ausdruck einer streng formalisierten, normativen Präjudizbindung, welche es im Unionsrecht nicht gibt.144 Die Unionsrechtsprechung lässt denn auch keine strenge Unterscheidung erkennen.145 Um die Reichweite einer Aussage des EuGH im Hinblick auf eine bestimmte Fallrechtsprechung zu verfeinern, bleibt die Unterscheidung jedoch weiterhin relevant.146 Das enthebt freilich nicht von der Notwendigkeit zu ermitteln, ob die frühere Entscheidung für die Beurteilung des jetzt zu entscheidenden Sachverhalts einschlägig ist.147 Dazu muss herausgearbeitet werden, was in der Vorentscheidung tatsächlich entschieden wurde.148 Dann ist zu fragen, ob beide Fälle hinreichend ähnlich sind.149 Bei identischem Sachverhalt ist das Präjudiz unmittelbar anzuwenden und es lässt sich wie im common law von einer in point-Einschlägigkeit sprechen.150 Ist der Sachverhalt hinreichend ähnlich, wird das Präjudiz über einen Analogieschluss angewendet.151 Ande142

A.A. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995, S. 149. 143 A.A. Schröder, Gesetzesbindung des Richters und Rechtsweggarantie im Mehrebenensystem, 2010, S. 150 f., der nur der Auslegungsvorabentscheidung eine strenge Bindungswirkung beilegen möchte. 144 Arnull, The European Union and its Court of Justice, 2. Aufl. 2006, S. 631; ders., Interpretation and Precedent in European Community Law, 1998, S. 115, 126 f.; ders., CMLRev 30 (1930), 247, 249; v. Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, S. 506; Lengauer, Nichtigkeitsklage vor dem EuGH, 1998, S. 25; anders Barceló, Precedent in European Community Law, 1997, S. 407, 427 ff.; vgl. auch Keil, Die Systematik privatrechtlicher Rechtsprechungsänderungen, 2007, S. 78 zum deutschen Recht. A.A. z.B. Beckmann, Probleme des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 177 EWG-Vertrag, 1988, S. 111. 145 Toth, YbEL 4 (1984), 1, 36 ff. 146 Arnull, Interpretation and Precedent in European Community Law, 1998, S. 115, 126 f. 147 Aus der Literatur z.B. Arnull, The European Union and its Court of Justice, 2. Aufl. 2006, S. 625 ff., insbesondere S. 631 f.; Barceló, Precedent in European Community Law, 1997, S. 407 sub IV. und V. (S. 427 ff., 430 ff.); Toth, YbEL 4 (1984), 1, 36 ff. Zum nationalen Recht auch Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 356 ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1991, S. 512 ff. 148 Arnull, The European Union and its Court of Justice, 2. Aufl. 2006, S. 631. 149 Am Beispiel des common law Hager, Rechtsmethoden in Europa, 2009, 3. Kap. Rn. 94 (S. 120); McLeod, Legal Method, 9. Aufl. 2013, S. 150. 150 Zum common law Hager, Rechtsmethoden in Europa, 2009, 3. Kap. Rn. 31 (S. 97). 151 Zum common law Hager, Rechtsmethoden in Europa, 2009, 3. Kap. Rn. 31 (S. 97 f.).

§ 3 Theoretische Grundlagen der Rückwirkung von Rechtsprechung

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renfalls ist der Sachverhalt abzugrenzen (distinguishing). Die Wahl zwischen Analogie und Abgrenzung ist ein „normativ-wertender Vorgang“, bei dem dem EuGH ein Einschätzungsspielraum zusteht.152 Die Wertung wird vorrangig durch die Bestimmung des Abstraktionsniveaus der Rechtsfrage und der Tatsachen geleistet.153 Angewendet wird der abstrahierte, verallgemeinerungsfähige richterliche Rechtssatz und nicht die konkrete Lösung des früheren Falles.154 Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Rechtsfrage, die sich jedoch nicht losgelöst von den Tatsachen bestimmen lässt.155 Es besteht durchaus eine „Wechselwirkung zwischen Tatsachen- und Rechtsmaterial“.156 Aus dem „Zusammenhang von Sachverhalt und Entscheidungsgründen [ist] die zugrunde gelegte Rechtsthese herauszuarbeiten“.157 VI. Sonstige Verfahrensarten Im Vertragsverletzungsverfahren bindet das Urteil nur die Verfahrensbeteiligten unmittelbar. Die tenorierte Feststellung der Verletzung des Vertrages durch ein bestimmtes Verhalten des Mitgliedstaates bindet die Gerichte des verurteilten Mitgliedstaates. Darüber hinaus kommt dem Tenor keine Bindungswirkung zu. Eine im Urteil vorgenommene Auslegung i.w.S. bindet jedoch alle mit der Auslegung von Unionsrecht befassten Gerichte (auch solche anderer Mitgliedstaaten) nach Maßgabe des zuvor Erläuterten.158 Nach dem gleichen Muster sind auch die übrigen Verfahrensarten von EUV und AEUV zu beurteilen. Eine für alle Gerichte der Union maßgebliche Bindung kommt allein für die im Urteil vorgenommene Auslegung im weiten Sinne in Betracht. D. Grundsätzliche Rückwirkung von Auslegung und Rechtsfortbildung Es ist beinahe ein juristischer Allgemeinplatz, dass Rechtsprechung grundsätzlich zurückwirkt. Dieser rechtstheoretische Ausgangspunkt muss hier jedoch begründet werden. Die Annahme einer grundsätzlichen Rückwirkung 152

Zum common law Maultzsch, Grundstrukturen der englischen Case Law-Methodik, 2012, S. 470, 484 (Rn. 1347). 153 Riesenhuber-Schillig, Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 25 Rn. 8 f. 154 Toth, YbEL 4 (1984), 1, 42; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band II, 3. Aufl. 2012, Rn. 412. 155 Toth, YbEL 4 (1984), 1, 42. 156 Zum deutschen Recht Keil, Die Systematik privatrechtlicher Rechtsprechungsänderungen, 2007, S. 68. 157 Zum deutschen Recht Keil, Die Systematik privatrechtlicher Rechtsprechungsänderungen, 2007, S. 62 i.V.m. S. 68. 158 Seer/Müller, IWB 2008, 255, 256 f.; vgl. zu ebendieser Konstellation EuGH v. 16.2.1978 – Rs. 88/77 Minister for Fisheries ./. Schonenberg u.a., Slg. 1978, 473 Rn. 10/13.

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Teil 2: Grundlagen

begründet nämlich die Argumentationslast im Falle einer ausnahmeweisen Nichtrückwirkung.159 I.

Auslegung

Das gilt zuerst für die richterlichen Entscheidungen, die in der Methodenlehre der Auslegung zugeordnet werden. Im Folgenden soll erläutert werden, welchen Charakter die Auslegung des Unionsrechts hat und warum damit eine grundsätzliche Rückwirkung verknüpft ist. 1. Auslegung im Unionsrecht Auslegung ist die Konkretisierung einer Norm160 in Abhängigkeit von einem bestimmten Sachverhalt.161 Sie ist von der Rechtsanwendung zu unterscheiden, welche die Übertragung des Auslegungsergebnisses auf den Sachverhalt beschreibt.162 Damit ist freilich nicht ausgeschlossen, dass sich der Auslegungsvorgang eng an die Tatsachen des Falles anlehnt, selbst wenn dieser letztlich von einem anderen Gericht oder einer Behörde entschieden wird.163 Jede Auslegung ist mehr als die reine Ableitung eines vorgegebenen Ergebnisses. Sie enthält „Erkenntnis und Bewertung, Aktivität und Passivität“.164 Sie ist insoweit schöpferisch und keine reine Wiedergabe des Textes.165 Sie verändert die tatsächliche Anwendung der Norm und trägt insoweit 159

A.A. wohl Osterloh, FS Hassemer, 2010, S. 173, 181, der nicht von rechtstheoretischen Kategorien auf unmittelbare Rechtsfolgenanordnungen schließen möchte. Kritisch zur Brauchbarkeit der Rechtstheorie für die Frage der Rückwirkung auch Tur, OJLS 22 (2002), 463, 476. 160 Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 606; Schillig, Konkretisierungskompetenzen und Konkretisierungsmethoden im Europäischen Privatrecht, 2009, S. 110; Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, 2009, S. 75. 161 Z.B. Kokott/Henze, FS Spindler, 2011, S. 279, 282; Felder, Rechtsfindung im Spannungsverhältnis von sprachlicher Vagheit und Präzision, FG Müller, 2008, S. 73, 74; Lepsius, JZ 2014, 488, 491. 162 Bredimas, Methods of Interpretation and Community Law, 1978, S. 2; Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 331; Schwarze-Schwarze, EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 19 EUV Rn. 30. 163 Vgl. Groh, Die Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2005, S. 32 ff. 164 Bredimas, Methods of Interpretation and Community Law, 1978, S. 3; ähnlich Stone Sweet/McCown, Discretion and Precedent in European Law, 2003, S. 84. 165 Ladeur/Augsberg, Rechtstheorie 36 (2005), 143 f., 150; Tomuschat, FS Ress, 2005, S. 857; Kirchhof, Richterliche Rechtsfindung, 1995, S. 160, 160 f., 166 f.; Roth, RabelsZ 2011, 787, 791; Bleckmann, GS Constantinesco, 1983, S. 61; Pollicino, GLJ 2004, 283, 286 f., 304; Colneric, ZEuP 2005, 225; Barav, The European Court of Justice and the Use of Judicial Discretion, 2003, S. 116, 118; Stone Sweet/McCown, Discretion and Precedent in European Law, 2003, S. 84 ff. (passim); Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 31; Poiares Maduro, EJLS 2007,

§ 3 Theoretische Grundlagen der Rückwirkung von Rechtsprechung

41

Züge der Rechtsfortbildung.166 Dies ist nicht auf Einzelfälle beschränkt, sondern geschieht zu unzähligen Anlässen.167 Auch bei einer „schlichten“ Auslegung ist daher ein nicht unerheblicher Teil Kreativität vonnöten.168 Der Vorgang der Auslegung kann deshalb kein richtiges Ergebnis produzieren.169 Er kann nur falsifiziert werden. Ein Auslegungsergebnis ist danach „richtig“, wenn es sich anhand bestimmter Kriterien (z.B. Wortlaut, Systematik, Genese, Telos, Folgenabschätzung, Rechtsvergleichung, ökonomische Analyse)170 rechtfertigen lässt.171 Die in dieser Weise begrenzte Rechtsschöp1 (passim); Paunio/Lindross-Hovinheimo, EurLJ 16 (2010), 395, 398 f.; Endicott, Legal Theory 3 (1997), 37, 58 ff. im Hinblick auf Unbestimmtheit aufgrund von „vagueness“. 166 Schermers/Waelbroeck, Judicial Protection in the European Union, 6. Aufl. 2001, § 262; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 140, 313 f., 366 f.; Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 32 f.; Grunsky, Grenzen der Rückwirkung bei einer Änderung der Rechtsprechung, 1970, S. 9; Doris, Normenhierarchie nach Art. 25 Abs. 1, S. 1, 2 u. 3, 87 Abs. 2 und 93 Abs. 4 der griechischen Verfassung und systematische Auslegung im Privatrecht, 2011, S. 1 f.; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band I, 11. Aufl. 2013, Rn. 248 ff.; Tillmanns, FS Buchner, 2009, S. 885, 886 f. Für das common law Schauer, U.Chi.L.Rev. 73 (2006), 883, 886 ff. 167 Zimmermann/Jansen, Quieta Movere – Interpretative Change in a Codified System, 1998, S. 285, 296 f. 168 Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung, 1995, S. 126 f., 133 ff.; weitergehend z.B. Lee, Die Struktur der juristischen Entscheidung aus konstruktivistischer Sicht, 2010, der die Subjektivität der richterlichen Entscheidung als zwingenden Ausgangspunkt für eine konstruktivistische Rechtstheorie ansieht. 169 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl. 2013, Rn. 807 m.w.N.; Urbina, Legal Method and the Rule of Law, 2002, S. 63; Wank, Rechtstheorie 13 (1982), 465, 476; a.A. Bydlinski, JBl 2001, 2, 8 Fn. 10. Für Neumann, FS Hassemer, 2010, S. 143, 150 ist die Richtigkeit der Entscheidung nur noch ein Gebot der Darstellung des Ergebnisses im Urteil: Es sei „zu verfahren, als ob in jedem Fall nur eine Entscheidung richtig wäre“ (Hervorhebung im Original). 170 Was zu den Auslegungsmitteln zählt, ist auch für das Unionsrecht im Einzelnen umstritten, vgl. zur Bedeutung der Rechtsvergleichung z.B. Riesenhuber-Schwartze, Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 4 Rn. 24 ff.; Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 277 ff.; zur Folgenabschätzung grundsätzlich z.B. Deckert, Folgenorientierung in der Rechtsanwendung, 1995 sowie Klausch, FS Reuter, 2010, S. 1279 ff. und Fleischer, RabelsZ 2011, 700, 723 f., im Kontext des Unionsrechts Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 478 ff. 171 Pohl, Rechtsprechungsänderung und Rückanknüpfung, 2005, S. 27 m.w.N.; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 612; Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 65; Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, 1996, S. 196; Langenbucher, ARSP 88 (2002), 398, 406; Gruschke, Rechtstheorie 41 (2010), 35, 47 ff. Diese Überlegung liegt im Übrigen auch dem Verständnis der richtlinienkonformen Auslegung zugrunde: Das Gebot zur richtlinienkonformen Auslegung soll sich nur aktualisieren, wenn der Richter vertretbar zwischen mehreren Auslegungsmöglichkeiten wählen kann, vgl. Canaris,

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Teil 2: Grundlagen

fung ist keine Verletzung der (wie auch immer ausgestalteten) Rechtssetzungsbefugnis der Legislative, sondern ureigene Kompetenz der Judikative. Dem Gesetzgeber bleibt es unbenommen, durch eigene (authentische)172 Konkretisierungen der Rechtsbegriffe die Freiräume der Gerichte zu begrenzen173 oder diese Kompetenz an eine andere Instanz zu delegieren174. Damit wird hier eine streng deklaratorische Theorie der Auslegung abgelehnt.175 Nach ihr ist der Richter als bloßer Mund des Gesetzes nicht befugt oder in der Lage, eigene Regeln zu setzen. Die Rechtsordnung selbst enthalte für jeden denkbaren Fall eine einzige richtige Lösung. Aufgabe des Richters und der Methodenlehre sei es, diese Lösung zu finden.176 Damit ist ein Wandel des Inhalts einer Norm nicht unmöglich, sondern er muss über den Wandel der Rechtsordnung und ihrer Prinzipien oder die (konkludente) BezugFS Bydlinski, 2002, S. 47, 72; Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 272. Dann ist aber keine allein richtig. 172 Authentische Interpretation bezeichnet die Konkretisierung der Norm durch den Normgeber selbst; vgl. Schnapp, JZ 2011, 1125; Meyer, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 221, 224; Vonkilch, Das Intertemporale Privatrecht, 1999, S. 280 ff.; Heß, Intertemporales Privatrecht, 1998, S. 427 ff.; Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EUGH, 1995, S. 181. Abweichend von Schnapp wird als authentische Interpretation hier nicht die „Klarstellung“ einer „falschen“ Rechtsprechung angesehen. Die Auslegung durch den Gesetzgeber muss der Auslegung entsprechen, die die Gerichte vorgenommen haben oder hätten. Meyer, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 221, 228 f. nennt das „wahre Authentische Interpretation“ in Abgrenzung zur „verdeckten Rechtsänderung“. Schröder, Gesetzesbindung des Richters und Rechtsweggarantie im Mehrebenensystem, 2010, S. 143 bezeichnet hingegen unter Bezugnahme auf Bärmann, JZ 1959, 553, 558 die Auslegung durch den EuGH als „authentische Interpretation“. 173 Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, 1996, S. 196 Fn. 558; ohne Positionierung Hummer/Obwexer, EuZW 1997, 295, 304. So einen Fall behandelt beispielsweise EuGH v. 16.12.1976 – verb. Rs. 36/76 und 37/76 Foral u.a., Slg. 1976, 2009. Siehe dazu auch unten § 4 B.I., S. 111. Einschränkend im Hinblick auf die rückwirkende Konkretisierung für das deutsche Recht BVerfG v. 17.12.2013 – 1 BvL 5/08, Rn. 48 ff.; dem BVerfG zustimmend Hey, NJW 2014, 1564; krit. Masing, Abweichende Meinung zu BVerfG v. 17.12.2013 – 1 BvL 5/08, Rn. 85 ff.; Lepsius, JZ 2014, 488; Wißmann, ZJS 2015, 333. 174 Zu den Grenzen dieser Möglichkeit EuGH v. 8.3.2011 – Gutachten 1/09 Europäisches Patentgericht, Slg. 2011, I-1137 Rn. 65 ff. 175 Neumann, FS Hassemer, 2010, S. 143, 149 m.w.N. sieht die deklaratorische Theorie als widerlegt an; ähnlich Farnsworth, An Introduction to the Legal System of the United States, 4. Aufl. 2010, S. 58; Koopmans, CamLJ 39 (1980), 287, 296 f.; a.A. z.B. Beever, OJLS 33 (2013), 421 ff. (zum common law und unter Zugrundelegung eines abgewandelten Verständnisses der Theorie); wohl auch Gruschke, Rechtstheorie 41 (2010), 35, 38 f. Einen Überblick über diesen Klassiker der Jurisprudenz vermittelt Shapiro, The HartDworkin-Debate: A Short Guide for the Perplexed, Public Law and Legal Theory Working Paper Series, Paper No. 77, 2007. 176 Z.B. BVerfG v. 28.9.1992 – 1 BvR 496/87, Rn. 13; HdStR-Maurer, 3. Aufl. 2006, § 79 Rn. 149; Kokott/Henze, NJW 2006, 177, 179.

§ 3 Theoretische Grundlagen der Rückwirkung von Rechtsprechung

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nahme tatsächlicher Umstände begründet werden.177 Frühere anderslautende gerichtliche Entscheidungen oder abweichende Rechtsansichten von Richtern, Anwälten oder Generalanwälten lassen sich nach der deklaratorischen Theorie mit der begrenzten Erkenntnisfähigkeit des Menschen begründen.178 Insoweit geht die deklaratorische Theorie von einer – für Fallrechtssysteme ebenso wie für kodifizierte Rechtssysteme – utopischen Vermutung der Vollständigkeit der vorgegebenen Rechtsordnung aus.179 Eine Rechtsordnung könnte selbst durch die Bezugnahme auf Aussagen der Moral nicht immer eine eindeutige Antwort liefern. Es bleibt zumeist eine Wahl zwischen gegenläufigen Werten.180 Ebenso hilft es nicht, sich darauf zurückzuziehen, dass juristische Ergebnisse aus Prinzipien abgeleitet werden müssen.181 Die meisten sogenannten Prinzipien sind als Gegenstand von Optimierungsgeboten182 offen für eine Abwägung und Gewichtung untereinander und müssen zueinander in Relation gesetzt werden.183 Eine Rechtsordnung und ihre Methodenlehre halten dafür keine eindeutigen Maßstäbe bereit.184 Der Gerichtshof hat sich lange Zeit nicht zu diesen theoretischen Grundlagen geäußert.185 Die von Vertretern beider Ansichten angeführte Standardformulierung, wonach der EuGH

177

A.A. Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 66 f. 178 Vgl. z.B. Finnis, LQR 115 (1999), 170, 174 f.; a.A. Summers, Statutory Interpretation in the United States, 1991, S. 407, 446. 179 Jansen, ERPL 2 (2000), 336, 338; Zimmermann/Jansen, Quieta Movere – Interpretative Change in a Codified System, 1998, S. 285, 303; Zimmermann, ZEuP 1999, 713, 722; wohl auch Hassemer, Rechtstheorie 39 (2008), 1, 6 f.; Höpfner, RdA 2006, 156, 161; Waelbroeck, YbEL 1 (1981), 115, 117. 180 Hart, The Concept of Law, 1997, S. 204 f.; siehe auch Höpfner, RdA 2006, 156, 161. 181 Vgl. Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977, S. 105 ff.; Dworkin, Law’s Empire, 1986, S. 221 ff. 182 Alexy, Zur Struktur von Rechtsprinzipien, 2000, S. 31, 38 f. (auf dem Boden seiner Prinzipientheorie); Klement, JZ 2008, 756, 763 (in Ablehnung von Alexys Prinzipientheorie). Nicht jeder als „Prinzip“ bezeichnete Rechtsgrundsatz fällt unter diese Bezeichnung oder ist ein Optimierungsgebot, Poscher, RW 2010, 349, 370; vgl. zum Beispiel des Demokratieprinzips Maunz/Dürig-Grzeszick, Grundgesetz-Kommentar, 68. EL 2013, Art. 20 (Demokratie) Rn. 158 ff. m.w.N. zum Streitstand. 183 Zimmermann/Jansen, Quieta Movere – Interpretative Change in a Codified System, 1998, S. 285, 304. 184 Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, 1996, S. 193 m.w.N.; Jansen, Der Staat 36 (1997), 27, 44 ff. 185 Insoweit nicht weiterführend ist, dass der Gerichtshof regelmäßig selbstreferenziell argumentiert. Damit nimmt er nicht auf die vorherigen Entscheidungen als Rechtsquelle Bezug, sondern versucht, den Begründungsaufwand zu verringern, vgl. schon Toth, YbEL 4 (1984), 1, 30 ff.

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Teil 2: Grundlagen

„durch die Auslegung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts erläutert und erforderlichenfalls verdeutlicht, in welchem Sinn und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre“,186

ist im Kontext der jeweils in Frage stehenden Rückwirkung der Entscheidungen zu sehen und enthielt noch keine Aussagen in Bezug auf die deklaratorische oder dezisionistische Theorie. Erstmals in der Rechtssache Kempter ergänzte der Gerichtshof diesen Satz jedoch um die Feststellung, dass „eine Vorabentscheidung […], mit anderen Worten, nicht konstitutiver, sondern rein deklaratorischer Natur [sei] und daher grundsätzlich auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens der ausgelegten Vorschrift zurück[wirke]“.187

Gleichwohl hat er diese Aussage später nur punktuell wiederholt188 und bezieht sich die Stellungnahme ausdrücklich nur auf die Wirkungen des Vorabentscheidungsverfahrens und nicht den methodischen Vorgang der Auslegung. Natürlich enthält nicht jeder Auslegungsvorgang das gleiche Maß an eigener Schöpfung.189 Je bestimmter der auszulegende Rechtsbegriff, desto weniger Freiräume bleiben für das Gericht. Deshalb darf der schöpferische Charakter nicht überbetont werden, mag er auch unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln in gleicher Weise betreffen190. Legte man der Rechtsprechung die gleiche oder eine ähnliche Freiheit bei, wie sie der Gesetzgeber hat, so wäre in der Tat die Übertragung der Rückwirkungsgrenzen des Gesetzge-

186 St.Rspr.; z.B. EuGH v. 27.3.1980 – Rs. 61/79 Denkavit italiana, Slg. 1980, 1205 Rn. 16; EuGH v. 6.7.1995 – Rs. C-62/93 BP Soupergaz, Slg. 1995, 1883 Rn. 39; EuGH v. 13.2.1996 – verb. Rs. C-197/94 und C-252/94 Bautiaa u.a., Slg. 1996, I-505 Rn. 47; EuGH v. 15.9.1998 – Rs. C-231/96 Edilizia Industriale Siderurgica Srl (Edis), Slg. 1998, I-4951 Rn. 15; EuGH v. 10.2.2000 – Rs. C-50/96 Schröder, Slg. 2000, I-743 Rn. 43; EuGH v. 30.3.2006 – Rs. C-184/04 Uudenkaupungin kaupunki, Slg. 2006, I-3039 Rn. 53; EuGH v. 10.5.2012 – verb. Rs. C-338/11 bis C-347/11 Santander Asset Management u.a., ECLI:EU: C:2012:286 Rn. 58 (Hervorhebung vom Verfasser). 187 EuGH v. 12.2.2008 – Rs. C-2/06 Kempter, Slg. 2008, I-411 Rn. 35. 188 EuGH v. 8.9.2011 – verb. Rs. C-89/10 und C-96/10 Q-Beef, Slg. 2011, I-7819 Rn. 48; EuGH v. 16.1.2014 – Rs. C-429/12 Pohl, ECLI:EU:C:2014:12 Rn. 30. Auch die Generalanwälte haben diese Aussage lediglich vereinzelt aufgegriffen, vgl. GA Trstenjak, SchlA v. 17.6.2010 – Rs. C-229/09 Hogan Lovells International, Slg. 2010, I-11335 Rn. 83 und GA Jääskinen, SchlA v. 2.12.2010 – Rs. C-148/09 P Belgien ./. Deutsche Post u.a., Slg. 2011, II-8573 Rn. 116; vorher aber schon GA Leger, SchlA v. 17.6.2003 – Rs. C-453/00 Kühne & Heitz, Slg. 2003, I-837 Rn. 38. 189 Zimmermann/Jansen, Quieta Movere – Interpretative Change in a Codified System, 1998, S. 285, 304 meinen sogar, deklaratorische und kreative Tätigkeit ließen sich nicht trennscharf unterscheiden. 190 Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 25 ff. Vgl. auch Grunsky, Grenzen der Rückwirkung bei einer Änderung der Rechtsprechung, 1970, S. 7; Schima, Zur Wirkung von Auslegungsentscheidungen des EuGH, 2000, S. 280, 286.

§ 3 Theoretische Grundlagen der Rückwirkung von Rechtsprechung

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bers auf die Rechtsprechung geboten.191 Der Rechtsprechung ist es jedoch nicht erlaubt, jedes beliebige Ergebnis zu finden. Sie ist nicht frei in ihrer Tätigkeit, sondern durch den Text der Norm und die Methodenlehre auf rechtliche (als Gegensatz zu politischen) Argumente beschränkt.192 Jedoch kann auch die Methodenlehre keine absolut geltenden Rangfolgen der Auslegungskriterien vorgeben.193 Die Ungenauigkeit der Sprache, die ihren Grund vor allem in der gewünschten Abstraktion hat, öffnet Interpretationsspielräume, die inhaltlichen Streit ermöglichen. Die Methodenlehre begrenzt diesen Spielraum, kann ihn aber nicht völlig schließen.194 2. Zeitliche Wirkung der Auslegung Für die Beurteilung der zeitlichen Wirkungen sollen die möglichen Fälle einer Auslegung in drei Gruppen unterteilt werden. Von der „ersten Auslegung„ ist die „Zweitauslegung„ zu unterscheiden, die wiederum in die „bestätigende“ und die „ändernde Zweitauslegung„ zu trennen ist. Der Begriff „erste Auslegung“ bezeichnet dabei, dass eine Norm noch nicht im Hinblick auf einen bestimmten Sachverhalt konkretisiert wurde. „Erste“ Auslegung ist mithin der Auslegungsvorgang, der die Subsumtion des konkreten Sachverhalts unter die Unionsrechtsnorm erst ermöglicht. Dies ist der Fall, wenn die fragliche Norm noch nicht vom Europäischen Gerichtshof ausgelegt wurde oder wenn zwar die Norm zuvor schon ausgelegt wurde, nun aber ein anderer Sachverhalt zu beurteilen ist. Letzteres ließe sich auch als „erweiternde“ Auslegung benennen, da dort der vom Gerichtshof verbindlich interpretierte Wirkungsbereich der Norm erweitert wird. Demgegenüber bezeichnet die „Zweitauslegung“ die Wiederholung einer Auslegung einer bestimmten Norm im Hinblick auf einen bestimmten Sachverhalt. Diese erneute Auslegung einer Vorschrift kann dabei zu demselben Ergebnis wie die vorherige Auslegung kommen, „bestätigende Zweitauslegung“, oder von der vorherigen Interpretation abweichen, „ändernde Zweitauslegung“. Die „ändernde Zweitauslegung“ ist demnach gleichbedeutend mit einer Rechtsprechungsänderung. Mit dem Auslegungsvorgang ist dessen zeitliche Wirkung fest verknüpft. Jede Auslegung hat eine zeitliche Komponente, die von ihr nicht abgelöst 191

Griller, Der Rechtsbegriff bei Ronald Dworkin, 2011, S. 57, 69; ähnlich Huep, Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf ältere Sachverhalte, 2001, S. 25. 192 Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, S. 26 f.; vgl. auch Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 34 ff. 193 Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, 1996, S. 193 m.w.N.; zum deutschen Recht eingehend und differenzierend Canaris, FS Medicus, 1999, 25 ff. 194 Cross/Bell/Engle, Statutory Interpretation, 3. Aufl. 1995, S. 29; Bengoetxea, The Scope for Discretion, Coherence and Citizenship, 2003, S. 48, 63.

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werden kann. Im Grundsatz ist das ermittelte Auslegungsergebnis auf alle Fälle seit Inkrafttreten der ausgelegten Norm anzuwenden. Ausnahmen bestehen nur, wenn sich die Rechtslage zwischenzeitlich geändert hat. Außerdem kann das Prinzip der Rechtssicherheit der Anwendung der Auslegung für die Vergangenheit entgegenstehen. a) Verfahrensunabhängiger Auslegungsvorgang Geht man davon aus, dass der Gerichtshof auch bei Auslegung im engeren Sinne das Recht entwickelt, so ist damit die Rückwirkung der Auslegung nicht bestritten. Es sprechen im Gegenteil mehrere Gründe dafür, dass die erstmalige Auslegung einer Norm durch den Europäischen Gerichtshof im Grundsatz Rückwirkung auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens der Norm entfaltet. Die zeitliche Wirkung der Auslegung ist wie die Bindungswirkung keine Urteilswirkung, sondern eine Normwirkung. Wirkung entfaltet nur die ausgelegte Norm, nicht jedoch die Entscheidung des Gerichtshofs.195 Die zeitliche Wirkung ist daher an die Norm anzuknüpfen. Für die Rückwirkung des Auslegungsergebnisses kommt es demzufolge auf die konkrete Verfahrensart nicht an, in der über die Auslegung entschieden wurde. Unerheblich ist auch, ob der Auslegungsvorgang der Hauptgegenstand des Verfahrens ist oder ob sie inzident erfolgt. Deswegen ist es zumindest missverständlich, wenn die überwiegende Literatur ebenso wie der EuGH die zeitliche Wirkung als Wirkung eines Urteils bezeichnen.196

195

Kokott/Henze, NJW 2006, 177, 178; Frenz/Kühl, DStZ 2009, 432, 435; wortgleich Frenz, Handbuch Europarecht, Band 5, 2010, Rn. 3413; Schmitz/Stammler, AöR 2011, 479, 489; Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 110; Lange, Der Anspruch auf Erstattung gemeinschaftsrechtswidrig erhobener Steuern, 2008, S. 28 Fn. 44; Saßenroth, Die Bestandskraft deutscher Steuerbescheide im Licht der Rechtsprechung des EuGH, 2009, S. 50; vgl. auch EuGH v. 14.12.1982 – verb. Rs. 341/81 bis 316/81 und 83/82 Procureur de la République ./. Waterkeyn u.a., Slg. 1982, 4337 Rn. 16. Damit ist zugleich auch aus diesem Grund (d.h. neben der Bindungswirkung) ein Verständnis der EuGH-Entscheidungen als eigenständige Rechtsquelle abzulehnen; vgl. z.B. Trstenjak, ZEuP 2007, 145, 150; die Rechtsquelleneigenschaft bejahend z.B. Arnull, CMLRev 30 (1993), 247, 265. Ebenso bedingt die „kreative“ Theorie der Auslegung keine Anerkennung der richterlichen Entscheidung als Rechtsquelle, Lasser, Judicial Transformations, 2009, S. 125 (anhand des französischen Rechts). 196 Vgl. nur Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, passim; Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, passim; Anderson/Demetriou, References to the European Court, 2. Aufl. 2002, Rn. 14066 ff.; Kotschnigg, SWI 1998, 83.

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b) Erste Auslegung Schon die Erstauslegung erzeugt ein Rückwirkungsproblem und darf deswegen aus der Untersuchung nicht ausgeschlossen werden.197 Bezeichnenderweise sind die meisten der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs, in denen er sich mit den zeitlichen Wirkungen beschäftigte, solche ohne einschlägige Rechtsprechungslinie.198 Die Erstauslegung soll daher der Ausgangspunkt der theoretischen Überlegungen sein. aa) Natur der Sache/Wesen der Rechtsprechung Überraschend häufig rekurriert die Literatur zur Begründung der Rückwirkung von Rechtsprechung auf die „Natur der Sache“, „das Wesen der Auslegung„ oder vergleichbare Formeln.199 Hingegen kann die Berufung auf die 197 Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, 1996, S. 253 ff. (insb. S. 262); Medicus, NJW 1995, 2577, 2582; Tillmanns, FS Buchner, 2009, S. 885, 887; Chr. Weber, JJZ 1994, 221, 225; Kirchner, Rückwirkungsproblematik bei der betrieblichen Altersversorgung nach europäischem und deutschem Recht, 2000, S. 21 f.; vgl. auch Bydlinski, JBl 2001, 2, 17 und 22 f.; Höpfner, RdA 2006, 156, 157; Herdegen, WM 2009, 2202, 2204 f.; Farnsworth, An Introduction to the Legal System of the United States, 4. Aufl. 2010, S. 67: „an aspect of retroactivity“. 198 Barceló, Precedent in European Community Law, 1997, S. 407, 432; RiesenhuberNeuner, Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 12 Rn. 25. Zum Teilbereich des Arbeitsrechts Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, 1996, S. 109; Huep, Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf ältere Sachverhalte, 2001, S. 18 f.; Egger, öAnwBl 2001, 528 f.; Rühmann, BetrAV 1993, 107, 108. 199 Vgl. Frenz/Kühl, DStZ 2009, 432, 435; wortgleich Frenz, Handbuch Europarecht, Band 5, 2010, Rn. 3412; Weiß, EuR 1995, 377, 378; Waldhoff, Rückwirkung von EuGHEntscheidungen, 2006, S. 14, v. Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, S. 523; Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 89; Kerwer, Das europäische Gemeinschaftsrecht und die Rechtsprechung der deutschen Arbeitsgerichte, 2003, S. 663; Rengeling/Middeke/Gellermann-Middeke, EU-Rechtsschutz, 3. Aufl. 2014, § 10 Rn. 106 und Wollenweber, Das „Mangold“- Urteil und die unmittelbare Wirkung gemeinschaftsrechtlicher Diskriminierungsverbote im deutschen Arbeitsrecht, 2008, S. 171: „Wesen“; von der Groeben/Schwarze-Gaitanides, EUV/EGV, 6. Aufl. 2003, Art. 234 EGV Rn. 94: Rückwirkung ergibt sich „aus dem Sinn der Auslegung“; Tröndle, FS Dreher, 1977, S. 117, 134 f.: „Natur der Sache“, „per se als Richterspruch“; Brocker, NJW 2012, 2996 f.: „Natur der Sache“, „Eigenart der Gerichtsbarkeit“; Ribbrock, BB 2006, 2611: „Grundkonzeption“; Schimansky, WM 2001, 1889: der Rechtsprechung „immanent“; Cross/Harris, Precedent in English Law, 4. Aufl. 1991, S. 32: „a necessary evil“; Lasser, Judicial Transformations, 2009, S. 151: „inherently retroactive“; Ruffert, JZ 2004, 620: „sachlogische zwingende ‚Rückwirkung‘ gerichtlicher Entscheidungen“. Das meint wohl auch GA Jääskinen, SchlA v. 2.12.2010 – Rs. C-148/09 P Belgien ./. Deutsche Post u.a., Slg. 2011, I-8573 Rn. 110: „klassisches Element“; Schermers/Waelbroeck, Judicial Protection in the European Union, 6. Aufl. 2001, § 624: „generally accepted“ und § 142: „inherently“; Juratowitch, Retroactivity and the Common

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„Natur der Sache“ keine inhaltliche Begründung liefern.200 Sie benennt die wahren Gründe einer Aussage nicht, sondern verschleiert sie hinter einer Formulierung, deren Bedeutung auch die Methodenlehre nicht zufriedenstellend klären kann.201 Dies gilt auch für die Wirkungen von Auslegung. Was macht gerade die Natur der Rechtsprechung aus? Welches sind die Wesenszüge, die gerade grundsätzlich für eine Rückwirkung der Auslegung streiten? Darauf fehlt eine Antwort. bb) Anwendungsbefehl Wie jeder nationalen Norm ist auch jeder Norm des Unionsrechts ein Anwendungsbefehl vom Zeitpunkt ihres Inkrafttretens immanent. Der Normgeber will, dass die Norm gilt und angewandt wird. Unternimmt er keine authentische Interpretation, z.B. durch Definitionsnormen, so geht mit der Norm die Berechtigung und die Verpflichtung des Gerichtshofs einher, die Vorschrift zu konkretisieren. Der Auftrag zur Konkretisierung setzt zeitlich mit dem Anwendungsbefehl am Beginn der Geltungsdauer ein.202 Die Auslegung lässt sich insoweit nicht von der Norm ablösen.203 Wurde die Norm rückwirkend in Kraft gesetzt, so gilt auch ab diesem Zeitpunkt der Konkretisierungsauftrag.204 Maßgeblich ist der Zeitpunkt, in dem die Norm überhaupt irgendwelche Rechtswirkungen entfalten soll.205 In allen Fällen ist der bis zur richterlichen Konkretisierung verstreichende Zeitraum strukturell bedingt.206 Legt der Gerichtshof eine Norm zum ersten Mal aus, so existiert ein verbindliches Verständnis der Norm bis zum Zeitpunkt des Urteils nicht. Ginge man davon aus, dass eine Auslegung des Gerichtshofs erst ab dem Zeitpunkt Law, 2008, S. 120; Steinhauer, Die Auslegung, Kontrolle und Durchsetzung mitgliedstaatlicher Pflichten im Recht des Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Gemeinschaft, 1997, S. 139: „versteht sich grundsätzlich von selbst“. Zum „natürlichen“ Vergangenheitsbezug der Tatsachen siehe oben § 3 B., S. 18. 200 Statt aller Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl. 2013, Rn. 919 ff. 201 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 417; vgl. auch Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1991, S. 51 ff., der mehrere Argumentationssituationen ausmacht; Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Aufl. 1983, S. 118 ff., der gerade die rechtliche Relevanz der Faktizität problematisiert. 202 Drüen/Kahler, StuW 2005, 171, 180. 203 Schlachter, ZfA 2007, 249, 265; Weiß, EuR 1995, 377, 378; Tavakoli/Westhäuser, DB 2008, 702, 704; im Ergebnis ebenso Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 41; wohl auch Lenaerts/Arts/Masels/Bray, Procedural Law of the European Union, 2. Aufl. 2006, Rn. 6-033. 204 Vgl. Riesenhuber-Neuner, Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 12 Rn. 21 zum Anwendungsbefehl als Geltungsgrund der Gesetzesrückwirkung. 205 Anders wohl Eicker/Ketteler, BB 2005, 131, 132. 206 Näher oben § 3 B., S. 18.

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des Auslegungsurteils (oder ab einem anderen nach dem Inkrafttreten liegenden Zeitpunkt) gilt, so müsste doch immer noch verbindlich geklärt werden, welchen Inhalt die Norm bis zu diesem Zeitpunkt hatte. Eine solche Klärung kann es nun aber nicht geben, weil niemand anderes diese Kompetenz für sich in Anspruch nehmen könnte. Es fehlte dann an einer objektiven Geltung des Rechts, weil dieses in seinem Inhalt allein vom rechtsunterworfenen Subjekt abhängig wäre.207 Noch darüber hinausgehend ließe sich die Eigenschaft als Rechtsnorm selbst in Zweifel ziehen. Hängt der Inhalt einer Vorschrift vom Willen der Rechtsunterworfenen ab, fehlt es an einer (Rechts-)Norm im Sinne einer verbindlichen (sanktionierten) Sollensanordnung208.209 Dadurch wird die Normsetzung schlichtweg sinnlos und die zeitliche Geltung einer Norm verzerrt210. Dem lässt sich nicht entgegenhalten, dass eine Norm nicht zwingend über längere Zeit denselben Inhalt haben muss.211 Zwar sind Wandelungen in der Rechtsauffassung des EuGH möglich und können im Einzelfall erstrebenswert sein,212 jedoch geht es hier noch gar nicht um einen Wandel der Rechtsprechung oder einen Wandel des Norminhalts, sondern um die erstmalige Konkretisierung der Norm. So besehen ist der Anwendungsbefehl ein Ausfluss von Gewaltenteilungsgrundsatz und Demokratieprinzip. Er erhält seine Durchsetzungskraft zum Ersten daraus, dass bestehende Gesetze auch befolgt werden müssen; „Gesetzgebung generiert Gesetzesbindung“ der Judikative.213 Zum Zweiten darf es der Rechtsprechung grundsätzlich nicht möglich sein, in einem Auslegungsverfahren die Geltung einer Norm direkt oder indirekt aufzuheben. Dies ist besonderen Verfahren vorbehalten. Daraus ergibt sich weiterhin, welcher Normebene sich der Anwendungsbefehl letztlich zuordnen lassen muss. Gewaltenteilung und Demokratieprinzip sind keine überpositiven Rechtsgrundsätze, sondern werden im Unionsrecht durch das Unionsprimärrecht eingeführt und ausgestaltet. Aus dem Primärrecht können sich daher auch – immanente – Schranken für diese Prinzipien, die nicht absolut gewährleistet werden, ergeben.

207 Paulson, ARSP 65 (1979), 1, 2, für den damit das Prinzip der Rechtssicherheit angesprochen ist; ebenso Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 57. 208 Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, 190. 209 Dworkin, Antioch Review 30 (1970), 151, 153; Paulson, ARSP 65 (1979), 1, 12. 210 GA Léger, SchlA v. 17.6.2003 – Rs. C-453/00 Kühne & Heitz, Slg. 2004, I-837 Rn. 39. 211 So Tsikrikas, Die Wirkungen der Urteile des Europäischen Gerichtshofs im Vertragsverletzungsverfahren (Art. 169 ff. EWGV), 1990, S. 151 f., der daraus die ex nuncWirkung begründet. 212 I.E. unten § 3 D.II.3., S. 75. 213 Hassemer, Rechtstheorie 39 (2008), 1, 3 f.

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Diese Sichtweise verkürzt die Tätigkeit des EuGH nicht auf die Auslegung von positiven Rechtsnormen, während sie die Anwendung von Rechtsprinzipien oder überpositivem Recht ausblendet. Der Anwendungsbefehl gilt nicht nur bei der Auslegung einer positiven Norm. Er ist ebenso mittelbar bei der Bezugnahme auf allgemeine Rechtsprinzipien oder Grundsätze des Primärrechts anwendbar. Das Unionsrecht ist im Ganzen eine von den Mitgliedstaaten abgeleitete Rechtsordnung.214 Sie lässt sich schon wegen des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1, 2 EUV) vollständig auf die Unionsverträge zurückführen. Jede Auslegung eines allgemeinen Rechtsprinzips ist daher auch eine Auslegung der Reichweite des Primärrechts und daher insoweit normgebunden. cc) Gleichheitssatz und Präjudizwirkung Der auch im Unionsrecht geltende Gleichheitssatz215, also das Gebot, Gleiches gleich und Ungleiches nach dem Maß der Ungleichheit ungleich zu behandeln,216 kann letztlich die Rückwirkung der Auslegung einer Unionsnorm nicht gebieten.217 Grundlage des Gleichheitssatzes ist der wertende Vergleich zweier Fallgruppen, hier der angekündigten Anwendung der getroffenen Auslegung auf zukünftige Sachverhalte und deren Nichtanwendung auf vergangene Sachverhalte. Diese Heranziehung des Gleichheitssatzes fußt jedoch auf einer doppelten Fiktion. Zuerst ist Basis dieses Vergleichs, dass jedes Gericht – und so der Gerichtshof – für sich in Anspruch nehmen müsste, richtig entschieden und eine dem geltenden Recht entsprechende Lösung gefunden zu haben. Jedoch gibt es keine objektive Richtigkeit richterlicher Entscheidungen im Sinne von wahr oder falsch.218 Nur das richtige Recht muss aber neben den zukünftigen auch vergangene Sachverhalte regeln, denn eine Gleichbehandlung im „Unrecht“ gebietet der Gleichheitssatz nach ganz allgemeiner Ansicht auch im Unionsrecht nicht.219 Zudem unterstellt dieser Ansatz, dass der gefundene Rechtssatz auch in der Zukunft angewandt wird.220 Ob dies der Fall ist, beurteilt sich aber nach einem anderen Wirkungsmechanismus von Gerichtsent214 BVerfG v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92, 2 BvR 2159/92, Rn. 107 ff. (Maastricht); BVerfG v. 30.6.2009 – 2 BvE 2/08 u.a., Rn. 231 f. (Lissabon); Riesenhuber-Köndgen, Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 6 Rn. 8. 215 Dazu z.B. Huster, EuR 2010, 325, 333. 216 EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-422/02 P Europe Chemi-Con ./. Rat, Slg. 2005, I-791 Rn. 33; EuGH v. 16.12.2008 – Rs. C-127/07 Arcelor, Slg. 2008, I-9895 Rn. 23 m.w.N. 217 A.A. Waelbroeck, YbEL 1 (1981), 115, 120. 218 Siehe oben § 3 D.I.1., S. 41. 219 Grabitz/Hilf/Nettesheim-Mayer, Das Recht der Europäischen Union, 51. EL 2013, nach Art. 6 EUV Rn. 229 m.N. aus der dienst- und kartellrechtlichen Rechtsprechung. 220 A.A. Huep, Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf ältere Sachverhalte, 2001, S. 24.

§ 3 Theoretische Grundlagen der Rückwirkung von Rechtsprechung

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scheidungen, der Präjudiz- oder Bindungswirkung. Die Präjudizwirkung von Entscheidungen lässt sich selbst jedoch nicht rechtstheoretisch begründen, sondern nur anhand der spezifischen Regeln einer Rechtsordnung entwickeln. Dabei ist es nicht maßgeblich, wie man die Präjudizwirkung des Urteils begründet.221 Entnimmt man beispielsweise einem Gerichtsurteil auch die Aussage, „nach der damit aufgestellten Maxime [sei] künftig jeder gleichartige Fall zu entscheiden“222, so wird die Bindung des Gerichts an seine einmal getroffene Auslegung nicht über den Gleichheitssatz erreicht, sondern über den Grundsatz des Vertrauensschutzes. Dennoch setzt dieser Ansatz die Anwendung eines durch die jeweilige Rechtsordnung auszugestaltenden und in seiner Geltung nicht universalen Grundsatzes ebenso voraus wie eine Begründung, warum das Urteil die vorgenannte Aussage mit einschließt.223 Schon ein einfaches Beispiel zeigt, dass die durch den Gleichheitssatz oder andere Rechtsgrundsätze vorgenommene Verknüpfung zwischen Bindungswirkung und Rückwirkung jedenfalls zur Begründung letzterer nicht tragfähig ist: Selbst wenn ein Urteil des EuGH überhaupt keine Präjudizwirkung für zukünftige Entscheidungen des Gerichtshofs oder der mitgliedstaatlichen Gerichte hätte, so würde jedenfalls daran die Rückwirkung auf den Anlassfall nicht scheitern. Wenn es für die Wirkung auf den Anlassfall aber nicht davon abhängt, ob die Präjudizwirkung besteht oder nicht besteht, so zeigt sich, dass beide insoweit voneinander unabhängig sind. Deshalb verwundert es nicht, dass in der Literatur der Gleichheitssatz und die „Urteilsrückwirkung“ und deren Beschränkung durch den EuGH in genau umgekehrter Richtung verwendet werden, um eine Präjudizwirkung der EuGH-Urteile zu begründen.224 Hiermit soll nicht geleugnet werden, dass die Rückwirkung der Auslegung im Anlassfall zumeist keine wirtschaftlich schwerwiegenden Folgen aufwirft.225 Erst mit einer signifikanten Bindungswirkung des Urteils entsteht ein

221

Im Einzelnen zu den unterschiedlichen Begründungsansätzen oben § 3 C.IV.2.b),

S. 29. 222

Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 429; Koopmans, CamLJ 39 (1980), 287, 288. Ähnlich enthält für Schimansky, WM 2001, 1889 ein Urteil die „Erwartung, dass dieses Gericht künftig an seiner in dem entschiedenen Rechtsstreit geäußerten Rechtsansicht festhalten wird.“. 223 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 429 sieht den Grund in der behaupteten Richtigkeit. 224 Vgl. Schima, Wirkungen und Grenzen der Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 2007, S. 73, 75 f.; ders., Zur Wirkung von Auslegungsentscheidungen des EuGH, 2000, S. 280, 302 ff.; Bebr, CMLRev 18 (1981), 475, 484 f.; Pietrek, Verbindlichkeit von Vorabentscheidungen nach Art. 177 EWGV, 1989, S. 262 ff.; auch HdStR-Maurer, 3. Aufl. 2006, § 79 Rn. 150 zum deutschen Recht. 225 Zu dieser Tatbestandsvoraussetzung schon oben § 1 B., S. 5 und eingehend unten § 6 B.III., S. 237 ff.

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„wirkliches“ Rückwirkungsproblem.226 Die Auswirkungen der EuGH-Urteile sind wesentlich einschneidender, wenn die Entscheidungen wegen einer Bindungswirkung neben dem Anlassfall auch andere Sachverhalte betreffen. Gleichwohl ist die Bindungswirkung keine Voraussetzung für die Rückwirkung und kommt es auch im Anlassfall zu Belastungen der Rechtsunterworfenen. dd) Richtigkeit der Auslegung und des Ergebnisses Weiterhin wird vertreten, die materielle Gerechtigkeit gebiete die Rückwirkung von Rechtsprechung. Das als richtig erkannte Recht müsse auch auf in der Vergangenheit liegende Fälle Anwendung finden.227 Soweit ausschließlich sekundärer Vertrauensschutz für möglich gehalten wird,228 bezieht sich die „Richtigkeit“ auf die Auslegung einer konkreten Norm, nicht hingegen auf die endgültige Lösung des gesamten Sachproblems. Dies scheint sich durch die ständige Rechtsprechung des EuGH stützen zu lassen. Dieser führt aus: „Es trifft zwar zu, dass bei allen gerichtlichen Entscheidungen ihre praktischen Auswirkungen sorgfältig erwogen werden müssen, dies darf aber nicht soweit gehen, dass die Objektivität des Rechts gebeugt und seine zukünftige Anwendung unterbunden wird, nur weil eine Gerichtsentscheidung für die Vergangenheit gewisse Auswirkungen haben kann.“229

Damit meint der Gerichtshof jedoch Folgendes: Das von ihm unter Zugrundelegung der bekannten Auslegungsmethoden gefundene, „richtige“ Ergebnis soll sich nicht verändern können, nur weil das Urteil auf Einzelne oder Viele bestimmte Auswirkungen hat. Die Rechtsprechung soll objektiv in dem Sinne bleiben, dass Sie von den Rechtsansichten Einzelner losgelöst ist. Auch sollen Auswirkungen auf Einzelne nicht die allgemeine Geltung des Rechts für alle Rechtsunterworfenen beeinträchtigen können. Ausdruck findet dies im 226

Waldhoff, Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, 2006, S. 14; ähnlich Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 39; Rainer, IStR 1996, 328; Fraberger, Wirkung von EuGH-Urteilen und Rechtskraftdurchbrechung im Abgabenverfahren, 2000, S. 151, 159. Den Zusammenhang betonen auch Bydlinski, JBl 2001, 2, 3; Woods/Watson, Steiner & Woods EU Law, 11. Aufl. 2012, S. 235 f.; Neumann, ZStW 103 (1991), 331, 340; Kotschnigg, SWI 1998, 83; Germelmann, Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen in der Europäischen Union – Eine Untersuchung vor dem Hintergrund der deutschen, französischen und englischen Rechtskraftlehren, 2009, S. 422 f. 227 Huep, Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf ältere Sachverhalte, 2001, S. 24 f.; vorsichtiger Zimmermann/Jansen, Quieta Movere – Interpretative Change in a Codified System, 1998, S. 285, 307; dagegen schon Medicus, NJW 1995, 2577, 2580 f. 228 So ausdrücklich zum nationalen Recht Bydlinski, JBl 2001, 2. 229 EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne II, Slg. 1976, 455 Rn. 71/73.

§ 3 Theoretische Grundlagen der Rückwirkung von Rechtsprechung

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Willen des EuGH, die „zukünftige Anwendung“ des Rechts zu schützen. Ihm geht es mit der zitierten Aussage nicht um die Wirkung in der Vergangenheit, sondern um die „Richtigkeit“ des Rechts in der Zukunft. Dass nicht die Richtigkeit eines Auslegungsergebnisses die Rückwirkung gebietet, ergibt sich aus der Überlegung, dass auch ein „objektiv falsches“ Recht bis zu seiner Änderung jedenfalls zeitlich zurückwirken und auf vergangene Sachverhalte angewandt werden müsste. Der allgemeine und zeitlich unbegrenzte Rechtsanwendungsbefehl des Gesetzgebers230 misst auch einer „falschen“ Auslegung Wirkung seit dem Inkrafttreten der Norm zu. Wer sollte auch verbindlich feststellen, dass es sich um die falsche Auslegung handelt? Es verfängt demgemäß nicht, die Anwendung einer anderen als der in die Zukunft wirkenden und insoweit als Recht erkannten Rechtsprechung als Unrecht anzusehen. Gebietet es das Unionsprimär- oder -sekundärrecht, auf berechtigtes Vertrauen Rücksicht zu nehmen, so entspricht eine Rückwirkungsbeschränkung dem Recht und ist dann auch „richtig“.231 Damit zeigt sich, dass die materielle Gerechtigkeit keine rechtstheoretischen Aussagen über die zeitliche Wirkung von Rechtsprechung treffen kann. Die Anknüpfung der Gerechtigkeit an die „Richtigkeit“ ist eine Anknüpfung an die konkreten Ausgestaltungen der jeweiligen Rechtsordnung und dieser deswegen nicht übergeordnet. Mit anderen Worten dreht sich die Auseinandersetzung an dieser Stelle darum, ob Vertrauensschutz- oder Rechtssicherheitsargumente den Inhalt oder die Anwendung der auszulegenden Rechtsnorm beeinflussen können oder nicht. Das müssen aber andere Argumente begründen. ee) Deklarationstheorie vs. Dezisionstheorie Trotz der schon oben erfolgten Ablehnung des deklaratorischen Verständnisses der richterlichen Tätigkeit ist klarzustellen, dass der Streit über den deklaratorischen oder dezisionistischen Charakter der Rechtsprechung des EuGH für die Frage der Rückwirkung einer Erstauslegung nicht entschieden werden muss.232 Im Ergebnis ist es von untergeordneter Bedeutung, ob der EuGH (wie auch der nationale Richter) bei einer Auslegung das schon vorgegebene Recht nur findet233 – also kein neues Recht konstitutiv setzt, sondern das 230

Siehe oben § 3 D.I.2.b)bb), S. 50. So zum deutschen Recht Pieroth/Hartmann, ZIP 2010, 753, 756; Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, S. 137; Grunsky, Grenzen der Rückwirkung bei einer Änderung der Rechtsprechung, 1970, S. 10. Das ist auch dann nicht anders, wenn man wie Bydlinski, JBl 2001, 2, 14 den Ausdruck „rechtsrichtig“ verwendet. 232 Im Ergebnis ebenso, aber unter Bezugnahme auf die faktischen Wirkungen Juratowitch, Retroactivity and the Common Law, 2008, S. 119 ff. zum englischen common law. 233 Vgl. Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, 1996, S. 110; Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 96 Fn. 198; Kirchner, 231

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Teil 2: Grundlagen

bestehende Recht zu Tage befördert – oder ob er es aus eigener, begrenzter Kompetenz schafft.234 Letztlich ist der Richter nach beiden Theorien an den Geltungsbefehl des Normgebers gebunden und soll dem Norminhalt vom Zeitpunkt des Inkrafttretens zur Durchsetzung im Einzelfall verhelfen. Für einen dezisionistischen Ansatz wurde das gerade erläutert. Die deklaratorische Theorie wiederum diente geradezu der Verschleierung der Rückwirkung von Rechtsprechung.235 So wundert es nicht, dass einerseits davon ausgegangen wird, die Auslegung sei für den EuGH nur deklaratorisch236 und müsse deshalb grundsätzlich auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens zurückwirken,237 und andererseits vertreten wird, gerade die Möglichkeiten einer Rückwirkungsbegrenzung und der Änderung seiner Rechtsprechung widersprächen der deklaratorischen Theorie.238 Nach beiden Theorien stellt sich die Rückwirkungsbeschränkung in gleicher Weise als Kompetenzproblem zwischen Legislative und Exekutive dar. Legt man eine deklaratorische Sichtweise zugrunde, so wird durch die Beschränkung der Rückwirkung der Geltungsbefehl der Norm für einen gewissen Zeitraum suspendiert und die Kompetenz des Gesetzgebers berührt. Gesteht man dem Richter eine begrenzte schöpferische Tätigkeit zu, so stellt die Rückwirkungsproblematik bei der betrieblichen Altersversorgung nach europäischem und deutschem Recht, 2000, S. 103; Wenzel, NJW 2008, 345, 346; Osterloh, FS Hassemer, 2010, S. 173, 175; Hahn, DStZ 2003, 489, 491; Lenaerts/Arts/Masels/Bray, Procedural Law of the European Union, 2. Aufl. 2006, Rn. 6-031; Lange, Der Anspruch auf Erstattung gemeinschaftsrechtswidrig erhobener Steuern, 2008, S. 29 f.; Wouters, MJ 1994, 179, 213; Pietrek, Verbindlichkeit von Vorabentscheidungen nach Art. 177 EWGV, 1989, S. 264; allgemein auch Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977, S. 81 ff.; ders., HLR 88 (1975), 1057 ff. mit seiner Theorie von der „one right answer“; dazu Herbst, JZ 2012, 891, 892 ff. Dagegen z.B. Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band II, 3. Aufl. 2012, Rn. 407 ff. 234 So für ausgewählte bahnbrechende Urteile Hartley, Constitutional Problems of the European Union, 1999, S. 41 f. 235 Cross/Harris, Precedent in English Law, 4. Aufl. 1991, S. 30; das zeigt sich auch bei Finnis, LQR 115 (1999), 170, 174 f. 236 Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, 1996, S. 110, 121; Osterloh, FS Hassemer, 2010, S. 173, 181; Hartley, LQR 112 (1996), 95, 97; Moore, ELRev 1995, 159, 164. Zur Rechtsprechung des EuGH und den Stellungnahmen der Generalanwälte siehe oben § 3 D.I.1., S. 38. 237 Vgl. Huep, Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf ältere Sachverhalte, 2001, S. 69; Osterloh, FS Hassemer, 2010, S. 173, 175; Toth, YbEL 4 (1984), 1, 76; Allott, CamLJ 1977, 7, 9 f.; Schlücke, Die Umsetzung von EuGHEntscheidungen in das deutsche Steuerrecht, 2014, S. 79; GA von Gerven, verb. SchlA v. 28.4.1993 – Rs. C-109/91, C-110/91, C-152/91 und C-200/91 Ten Oever u.a., Slg. 1993, I-4879 Rn. 13; GA Jääskinen, SchlA v. 2.12.2010 – Rs. C-148/09 P Belgien ./. Deutsche Post u.a., Slg. 2011, I-8573 Rn. 116; Trstenjak, ZEuP 2007, 145, 150; unklar Simon, SABENA is dead, Gabrielle Defrenne’s Case is still alive, 2010, S. 265, 272. 238 Schima, Zur Wirkung von Auslegungsentscheidungen des EuGH, 2000, S. 280, 302 f.

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Rückwirkungsbegrenzung ebenso eine Beeinträchtigung der gesetzgeberischen Geltungsanordnung dar. Der Gesetzgeber will, dass die Norm von Anfang an gilt, wenn auch in selbstständiger Ausformung durch die dazu (unionsprimärrechtlich oder verfassungsmäßig) berufenen Gerichte. Die deklaratorische Theorie hat jedoch zur Folge, dass der Richter nicht durch die Berufung auf Vertrauensschutz- oder Rechtssicherheitserwägungen den Inhalt der ausgelegten Rechtsnorm modifizieren kann, solange die Rechtsnorm nicht schon direkt oder indirekt auf solchen Erwägungen beruht.239 Der Berücksichtigung des Vertrauens über die Begrenzung der Normwirkungen oder mittels anderer Instrumente steht jedoch auch die deklaratorische Theorie nicht entgegen.240 Anderenfalls würde sie der Ausbildung jeglicher Rechtssicherheit im Wege stehen, da die Rechtsunterworfenen nicht sicher sein könnten, dass aktuell anerkannte Rechtsaussagen nicht in Zukunft rückwirkend geändert werden. Das gesamte aktuelle Recht stünde damit unter einem Unsicherheitsvorbehalt.241 Hier ermöglicht die dezisionistische Theorie eine flexiblere Handhabung der Instrumente zur Gewährung von Vertrauensschutz. Gesteht man der Rechtsprechung bei der Normauslegung einen eigenen Gestaltungsspielraum zu, so ist es nicht ausgeschlossen, dass diese Gestaltung durch die Rechtsprechung selbst auf zukünftige Fälle begrenzt werden kann.242 Neben der Berücksichtigung der Rechtssicherheit mittels anderer Instrumente (im Rahmen der Rechtsanwendung) oder der Begrenzung von Normwirkungen ließe sich ebenso die Modifikation des Norminhalts selbst rechtfertigen. Gleichzeitig sind dezisionistische Theorie und primärer Vertrauensschutz nicht notwendig miteinander verbunden.243 ff) Ziel der Auslegung Fragwürdig ist der Einfluss der Theorien zum Auslegungsziel auf die zeitliche Wirkung der Auslegung. Ein solcher kann nicht schon mit dem Hinweis verneint werden, dass das Ziel der Auslegung letztlich nur die Wahl der Auslegungsmittel bestimmt und daher nur für das Ergebnis der Auslegung, nicht aber für ihre Wirkungen maßgeblich ist. Denn die Wahl der Auslegungsmittel 239 Deflorian, ERPL 2 (2000), 364, 366; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band II, 3. Aufl. 2012, Rn. 408. 240 Siehe nur Lord Hobhouse of Woodborough, in House of Lords v. 27.7.2000 Regina v. Governor of Her Majesty's Prison Brockhill Ex Parte Evans, [2000] 4 All ER 15, der ausdrücklich das prospective overruling ablehnt, aber nicht generell gegen Vertrauensschutzerwägungen ist. Ebenso Bydlinski, JBl 2001, 2; Jansen, ERPL 2 (2000), 336, 341. 241 Tur, OJLS 22 (2002), 463, 480. 242 Anders z.B. Steinmeyer, Die Berücksichtigung der wirtschaftlichen, finanziellen und sozialpolitischen Folgen in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der EG, 1995, S. 93, 98, der wohl von einer zwingenden Zukunftswirkung ausgeht. 243 Vgl. z.B. Zimmermann/Jansen, Quieta Movere – Interpretative Change in a Codified System, 1998, S. 285, 302 ff.

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kann sehr wohl einen Rückschluss auf die grundsätzliche Wirkung des Ergebnisses zulassen. Versteht man Auslegung als Ermittlung des historischen Willens des Gesetzgebers244 so liegt es nahe, die Wirkung der Auslegung an den Geltungszeitraum der Norm anzuknüpfen. Diese Anknüpfung wird aber letztlich nur durch einen gedanklichen Zwischenschritt erreicht. Man geht unausgesprochen davon aus, dass der Wille des Gesetzgebers auf eine gleichmäßige Anwendung der Norm vom Beginn des Geltungszeitraums an gerichtet ist. Dies ist jedoch nichts anderes als der schon oben als Geltungsgrund der Rückwirkung erkannte Rechtsanwendungsbefehl. Sieht man als Ziel des Auslegungsvorgangs eine objektive Bedeutung der Norm im Entscheidungszeitpunkt an,245 spricht dies auf den ersten Blick für eine Geltung ab diesem Zeitpunkt oder ab dem Zeitpunkt, in dem sich die Norm objektiv vom Gesetzgeberwillen ablöste. Ein Abweichen von Methode und Ergebnis der subjektiven Theorie durch die objektive Theorie kommt in zwei Fällen in Betracht. Zuerst, wenn der gesetzgeberische Wille im Wortlaut keine ausreichende Entsprechung findet und deshalb unberücksichtigt bleiben soll.246 In diesem Fall würden die Vertreter der objektiven Theorie die Wirkungen der Auslegung dennoch an den Zeitpunkt des Inkrafttretens der Norm anknüpfen. Denn sie halten den Willen des Gesetzgebers dann in jedem Zeitpunkt für unbeachtlich. Nach ihr begründet sich das andere Auslegungsergebnis nicht mit einer Änderung der Umstände, sondern mit einer abweichenden Gewichtung der Auslegungsmittel seit dem Inkrafttreten der Norm. Ändern sich nach dem Erlass der Norm das Gesamtsystem des Rechts oder tatsächliche Umstände, so kann die objektive Theorie – in einem zweiten Fall – zu anderen Ergebnissen kommen, weil der historische Gesetzgeberwille einfacher beiseitegeschoben werden kann. Hierbei würde es sich aber nicht mehr um einen Fall der ersten Auslegung handeln, sondern um eine Rechtsänderung247. Das Auslegungsergebnis wäre nämlich ein anderes gewesen, wenn die Norm vor den Änderungen ausgelegt worden wäre. Diese Differenzierung gilt wiederum ebenso für die subjektive Auslegung. Führt die Anwendung der subjektiven Theorie zu einer veränderten Auslegung, so liegt eine Rechtsänderung vor und es müssen deren Konsequenzen beachtet wer244

Riesenhuber-ders., Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 10 Rn. 8 ff.; zum deutschen Recht Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl. 2013, Rn. 717 ff.; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 627 ff. 245 Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 66 ff.; Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, 2009, S. 375 f.; zum deutschen Recht Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 316 ff., 333 ff. 246 Zum deutschen Recht z.B. BVerfG v. 16.12.1981 – 1 BvR 898/79 u.a., Rn. 59; BVerfG v. 17.5.1960 – 2 BvL 11/59 und 2 BvL 11/60, Rn. 18. 247 Zur Rechtsänderung unten § 3 D.II.4., S. 78.

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den. Der Unterschied zwischen den Theorien liegt nur darin, dass die objektive Theorie eine Rechtsänderung schon ermöglichen kann, wo dies unter der subjektiven Theorie ausgeschlossen ist. Die objektive Theorie ist demzufolge geeignet, die besondere Situation der Rechtsänderung oder der Rechtsprechungsänderung eher auszulösen, nicht jedoch Unterschiede in der Art der Wirkungen der Auslegung zu begründen. gg) Entscheidungserheblichkeit und kein Wert als Präjudiz Gegen eine Abweichung von der Rückwirkung im Falle der Rechtsprechungsänderung wird vorgebracht, die Rechtsprechungsänderung sei bei Berücksichtigung widerstreitenden Vertrauensschutzes niemals entscheidungserheblich, da sie nicht im Ausgangsfall angewendet werden könnte.248 Dann müsse sie aber bei Beachtung der Theorie richterlichen Begründens stets unterbleiben. Das lässt sich auf die erste Auslegung übertragen, indem man argumentiert, die Auslegung und Anwendung der Norm ist nicht entscheidungserheblich, wenn ihre Geltung ohnehin für den zu entscheidenden Fall suspendiert würde. Dieser Gedanke ist im Zusammenhang mit einem weiteren Argument zu würdigen. So wird vertreten, selbst wenn ein Gericht die Auslegung vornähme und diese dann wiederum aufgrund von Vertrauensschutzerwägungen begrenzte, so wäre diese Auslegung als Präjudiz wertlos, da sie definitionsgemäß nur obiter erfolgen würde.249 Damit diente die erfolgte Auslegung weder der Entscheidung des Anlassfalles, noch als Präjudiz der Entscheidung anderer Fälle und sei somit schlechthin unnötig.250 Zuerst muss klar herausgestellt werden, dass mit dieser Argumentation jede Vertrauensschutzerwägung ausgeschlossen wird, die noch im selben Verfahren gewährt werden müsste. Ob Vertrauensschutz in einem anderen, weiteren Verfahren zwischen denselben Parteien oder zumindest einer der Parteien und einem Dritten noch berücksichtigt werden könnte, wäre dann aber abhängig von Zufällen oder der Geschicklichkeit der Parteien bei der Bestimmung des Streitgegenstandes. Deshalb führt das Argument über die Entscheidungserheblichkeit konsequenterweise dazu, überhaupt keinen Vertrauensschutz bei der (geänderten) Auslegung des Rechts zu gewähren. Wenig ist gewonnen, wenn man darauf verweist, dass trotz Beschränkung der Rückwirkung die Auslegung und Anwendung einer Norm immer ent248

Vgl. Grunsky, Grenzen der Rückwirkung bei einer Änderung der Rechtsprechung, 1970, S. 22; Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, S. 137 f. 249 Lord Hobhouse of Woodborough, in House of Lords v. 27.7.2000 Regina v. Governor of Her Majesty's Prison Brockhill Ex Parte Evans, [2000] 4 All ER 15: „Such a decision would by definition not be part of the ratio decidendi of the case and therefore would not constitute an authoritative decision.” 250 Wie hier aber z.B. Tur, OJLS 22 (2002), 463, 482 f.

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scheidungserheblich ist, wenn der Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens von der Rückwirkungsbeschränkung ausgenommen wird. So verschiebt man lediglich das Problem zu der Frage, ob diese Rückausnahme dann geboten und somit dem Ermessen des Gerichtshofs entzogen ist.251 Außerdem wäre dann nicht die Auslegung und Anwendung der Norm, sondern die Rückwirkungsbeschränkung selbst nicht mehr entscheidungserheblich, da sie im Anlassfall ja nicht zum Tragen kommt. Es lässt sich auch nicht argumentieren, die im Urteil vorgenommene Auslegung zerstöre die Vertrauensgrundlage in die bisherige oder eine vermutete, „falsche“ Rechtslage und sei deshalb entscheidungserheblich. Dem müsste man nämlich entgegenhalten, dass diese Zerstörung nur relevant wird, wenn zuvor dem Anschein oder dem Bestehen einer anderen Rechtslage überhaupt Bedeutung beigemessen wird. Die Rückwirkungsbeschränkung beseitigt dann nur, was sie erst aufbaut. Überzeugender ist zu betonen, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs und die insoweit vorgenommene Auslegung des Unionsrechts vorrangig der Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsanwendung des Unionsrechts dienen. „Entscheidungserheblich“ ist nicht nur, was den Anlassfall entscheidet, sondern auch, was zur Klärung des Inhalts des Unionsrechts beiträgt und so seine einheitliche Anwendung sicherstellt.252 Dies gilt für alle Verfahrensarten des Unionsrechts, da der Gerichtshof hinsichtlich der Verbindlichkeit seiner Auslegungsergebnisse nicht danach unterscheidet, in welchem Verfahren die Auslegung stattgefunden hat (CILFIT-Rechtsprechung).253 Die vom Gerichtshof vorgenommene Auslegung mag zwar für das Einzelurteil daher unter Umständen nicht entscheidungserheblich im herkömmlichen Sinne und daher insoweit obiter dictum sein, sie hat aber dennoch für die allgemeine Rechtsentwicklung Relevanz.254 Welche Teile eines Urteils für welche Gerichte auf welche Art verbindlich sind, entscheidet sich unter Berücksichtigung der Spezifika einer Rechtsordnung.255 So steht es dem Gerichtshof frei zu bestimmen, welche Aussagen seiner Urteile mit allgemeiner Bindungswirkung 251

Dazu eingehend unten § 7 D., S. 376 ff. Vgl. Arnull, Interpretation and Precedent in European Community Law, 1998, S. 115, 126 f. (dort aber zum Inhalt der Bindungswirkung). Vgl. auch Deflorian, ERPL 2 (2000), 364, 375 zum US-amerikanischen prospective overruling und Neumann, ZStW 103 (1991), 331, 353, der zum deutschen Strafverfahrensrecht darauf hinweist, dass der Doppelfunktion der Gerichte (Einzelfallentscheidung und Normsetzung) nicht ausreichend Rechnung getragen wird. 253 Siehe oben § 3 D.I.2.a), S. 48. 254 Weitergehend Keil, Die Systematik privatrechtlicher Rechtsprechungsänderungen, 2007, S. 83 zum deutschen Recht, der Rechtsprechungsänderung und Gewährung von Vertrauensschutz insgesamt als entscheidungserheblich und daher ratio decidendi ansieht, da sie sich gegenseitig bedingen. 255 Vgl. § 3 C., S. 20 ff. I.Erg. ebenso Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 232; Beck, The Legal Reasoning of the Court of Justice of the EU, 2012, S. 242 f. 252

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nach der CILFIT-Rechtsprechung ausgestattet sind. Gerade dies ist im vorliegenden Zusammenhang der Zweck der Unterscheidung von ratio und dictum sowie der Entscheidungserheblichkeit. Die Inhalte dieser Begriffe sind nicht unabänderbar.256 Einer im Anlassfall nicht entscheidungserheblichen Auslegung kommt im Unionsrecht eine ähnliche Präjudizwirkung wie tragenden Ausführungen zu.257 hh) Rechtsverweigerung Fehl geht schließlich der Vorwurf, die nur zukünftige Auslegung oder Anwendung einer Vorschrift durch den Richter stelle eine Rechtsverweigerung dar.258 Die Rechtsverweigerung bezeichnet nur die Nichterfüllung der Pflicht, überhaupt ein Urteil zu sprechen. Fällt der Richter eine Entscheidung, gleich welchen Inhalts, so erfüllt er diese Pflicht.259 Aus dem prozeduralen Verbot der Rechtsverweigerung kann daher nicht gefolgert werden, ob ein Hoheitsakt aufgehoben, eine Klage abgewiesen oder in welcher Richtung eine Norm ausgelegt bzw. das Recht fortgebildet wird. Verstünde man unter der geforderten Entscheidung eine „sachrichtige“, wäre damit wiederum die materielle Gerechtigkeit angesprochen und es gilt das oben unter dd) Gesagte. Nicht mit dem Rechtsverweigerungsverbot verwechselt werden, darf auch die Frage, ob einem bestimmten Kläger in einer bestimmten Position überhaupt der Weg zu einer Sachentscheidung offensteht. Das meint den unionsrechtlichen Justizgewährungsanspruch, also die effektive Gewährung eines gerichtlichen Rechtsschutzes für unionsrechtlich begründete Rechte,260 und damit eine prozedurale Garantie, die auf den Inhalt der zu treffenden Sachentscheidung keinen Einfluss haben kann.

256 McLeod, Legal Method, 9. Aufl. 2013, S. 135 zum englischen Recht; Martens, JZ 2011, 348, 352. Vgl. auch Cross/Harris, Precedent in English Law, 4. Aufl. 1991, S. 231, die die Entscheidungserheblichkeit der Auslegung und des Zeitpunkts der Geltung dieser Auslegung getrennt behandeln wollen. 257 Vgl. Piekenbrock, ZZP 119 (2006), 3, 19 f. 258 Das klingt an bei Lord Hobhouse of Woodborough, in House of Lords v. 27.7.2000 Regina v. Governor of Her Majesty's Prison Brockhill Ex Parte Evans, [2000] 4 All ER 15: „The constitutional role of the courts is to decide disputes and grant remedies. The disputes will include disputes whether a previous decision still represents the law and should be followed or over-ruled. It is a denial of the constitutional role of the courts for courts to say that the party challenging the status quo is right, that the previous decision is over-ruled, but that the decision will not affect the parties and only apply subsequently.” Ebenso HdStR-Maurer, 3. Aufl. 2006, § 79 Rn. 150. 259 Vgl. Grosche, Rechtsfortbildung im Unionsrecht, 2011, S. 106 ff. im Kontext des Rechtsfortbildungsbegriffs; sowie Maunz/Dürig-Hillgruber, Grundgesetz-Kommentar, 68. EL 2013, Art. 97 Rn. 70 und Lieb, FS Gaul, 1997, S. 381, 391 zum deutschen Recht. 260 Vgl. EuGH v. 13.3.2007 – Rs. C-432/05 Unibet, Slg. 2007, I- 2271 Rn. 36 f.

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ii) Gesetzgebergleiche Zukunftsorientierung Die Gefahr, sich mit Begründungen auf abstrakten Ebenen im Kreis zu drehen, zeigt sich bei dem Argument, nur der Gesetzgeber dürfe die Rechtslage für die Zukunft ändern und der Richter mache sich zu einem solchen, wenn er die Rückwirkung seiner Rechtsprechung(sänderung) ausschließe.261 Diese Überlegung lässt sich als Ausprägung der deklaratorischen Theorie ansehen und schon deswegen ablehnen.262 Man kann weiterhin darauf verweisen, dass Rechtsprechung auch gesetzgeberähnliche Funktionen wahrnimmt263 und die Trennung der Gewalten im Unionsrecht nach dem Prinzip des institutionellen Gleichgewichts nicht ebenso streng wie in den nationalen Rechtsordnungen ist264. Folgendes dürfte darüber hinaus zu bedenken sein: Da jede Rechtsordnung in Grenzen rückwirkende Gesetze kennt, kann man die eingangs aufgeführte Aussage jedenfalls nicht so verstehen, dass der Gesetzgeber die ausschließliche Aufgabe habe, nur die Zukunft zu regeln. Da jede Rechtsordnung den Gerichtsentscheidungen auch eine gewisse Wirkung als Präjudiz in der Zukunft zugesteht, lässt sich die Aussage nicht so interpretieren, dass Gerichtsentscheidungen gar keine Wirkungen in die Zukunft entfalten dürfen. Versteht man das Argument nun als Kritik, dass die Entscheidung nicht auch den Anlassfall erfasst, dann ist damit entweder die Entscheidungserheblichkeit angesprochen oder die Rechtsverweigerung. Beides ist aber wie unter gg) und ff) gezeigt nicht tragfähig. Übrig bleibt demnach, dass Rechtsprechung nicht nur in die Zukunft wirken darf, also (auch) in die Vergangenheit wirken muss. Das soll jedoch erst begründet werden und darf daher nicht Prämisse sein. Vielmehr spricht es sogar dagegen, dass eine rückwirkungsbeschränkte Auslegung nicht als Aliud zu einer nichtrückwirkungsbeschränkten Auslegung anzusehen ist, sondern 261 So schon Hamson, Methods of interpretation, 1976, S. II-15; Curtin, CMLRev 27 (1990), 475, 486. Auch Zimmermann/Jansen, Quieta Movere – Interpretative Change in a Codified System, 1998, S. 285, 306; Jansen, ERPL 2 (2000), 336, 340 f.; Juratowitch, Retroactivity and the Common Law, 2008, S. 210 f.; Beckmann, Probleme des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 177 EWG-Vertrag, 1988, S. 114; ähnlich Allott, CamLJ 1977, 7, 9 f. Zum englischen Recht z.B. Lord Hobhouse of Woodborough, in House of Lords v. 27.7.2000 Regina v. Governor of Her Majesty's Prison Brockhill Ex Parte Evans, [2000] 4 All ER 15: „They would be declining to exercise their constitutional role and adopting a legislative role deciding what the law shall be for others in the future.”; a.A. aber Lord Nicholls, in House of Lords v. 30.6.2005 National Westminster Bank plc v. Spectrum Plus Limited a.o., [2005] 4 All ER 209 Rn. 31 ff. 262 Koopmans, CamLJ 39 (1980), 287, 296 f.; vgl. Beever, OJLS 33 (2013), 421, 432 ff. 263 Hager, Rechtsmethoden in Europa, 2009, 4. Kap. Rn. 254 (S. 220); Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 101 f. 264 Calliess/Ruffert-Calliess, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 13 EUV Rn. 9, 18; Hummer/Obwexer, EuZW 1997, 295, 298 f.

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als Minus. Denn sobald einem Auslegungsvorgang eine irgendwie geartete Präjudizwirkung beigelegt wird, besitzt ein Urteil zwei unterscheidbare Wirkungen:265 eine für den konkreten Fall und eine für potentielle Fälle in der Zukunft. Wenn die Auslegung im konkreten Fall unbeachtlich ist, so bleibt doch ihre Qualität als Präjudiz erhalten.266 Diese verstärkt sich nicht, sondern wird allenfalls schwächer.267 Damit basiert die Präjudizwirkung weiterhin auf einem Einzelfall und nicht einer abstrakten gutachterlichen Beurteilung.268 Dem lässt sich nicht entgegenhalten, dass die Präjudizwirkung nur an solche Auslegungen geknüpft werden kann, die entscheidungserheblich sind, denn insofern ist – wie oben ausführlich dargestellt269 – der Begriff der Entscheidungserheblichkeit anzupassen. jj) Rechtsprechung ohne Zukunftsbezug Im Schnittbereich der schon diskutierten Argumente liegt schließlich die Hypothese, einzige Aufgabe der Rechtsprechung sei es, die Auslegung des Rechts im Hinblick auf den konkreten Einzelfall vorzunehmen;270 die Präjudizwirkung wäre dann nur ein Annex, ein Reflex.271 Soweit damit die Entscheidungserheblichkeit der Auslegung angesprochen wird, greift dies, wie oben unter gg) ausgeführt, nicht durch. Meint man, der Richter solle sich nur auf den vorliegenden Fall konzentrieren und nicht vorgeben, wie ein zukünftiger Fall zu entscheiden ist, so trägt dies ebenso nicht. Zuzugeben ist, dass bei jeder Präjudizwirkung in gewissem Maße erst der neue Fall über die Reichweite des vergangenen Falles entscheidet. Der spätere Rechtsanwender besitzt einen Spielraum, den alten Fall mittels der Sachverhaltsmerkmale von dem zu entscheidenden Fall abzugrenzen.272 Nur soweit der neue Fall dem alten vergleichbar ist, kommt der früher gefundene Rechtssatz zur Anwen265

Tur, OJLS 22 (2002), 463, 474; ähnlich v. Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, S. 446; Medicus, WM 1997, 2333, 2335; Höpfner, RdA 2006, 156, 159; Bittner, JZ 2013, 645, 648 f.; weitergehender auch Tur, JudRev 1978, 33, 38; hingegen geht von der Untrennbarkeit beispielsweise aus Juratowitch, Retroactivity and the Common Law, 2008, S. 209 ff. 266 Ähnlich McLeod, Legal Method, 9. Aufl. 2013, S. 135. 267 A.A. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 434 ff.: das Gericht legt sich durch Ankündigung fest. 268 Vgl. Riesenhuber-Neuner, Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 12 Rn. 9 m.w.N. 269 Siehe § 3 D.I.2.b)gg), S. 59. 270 Zimmermann/Jansen, Quieta Movere – Interpretative Change in a Codified System, 1998, S. 285, 306 Fn. 130; Zimmermann, ZEuP 1999, 713, 723; Thunhart, ÖJZ 2010, 706, 710. 271 So denn Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, 2009, S. 427. Es genügt wohl nicht, die Präjudizwirkung nur als sekundäre Aufgabe zu bezeichnen, da sonst nicht ausreichend klar wird, dass sie ohne die primäre Aufgabe (= Einzelfallentscheidung) nicht existieren darf, so aber Bydlinski, JBl. 2001, 2, 14. 272 Das entspricht dem distinguishing in den common law-Traditionen.

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dung. Je größer die Freiheiten dieses Abgrenzungsvorganges, desto weniger kann schon das zuerst entscheidende Gericht die Wirkung auf andere/zukünftige Sachverhalte bestimmen. Wie schon erläutert, geht mit der Rückwirkungsbeschränkung eben genau diese Präjudizwirkung der in engerem Sinne nicht entscheidungserheblichen Auslegung einher. Das Gericht verknüpft mit seiner Auslegung keine gesetzesgleiche absolute Wirkung in der Zukunft. Reichweite und faktische Kraft seiner Präjudizwirkung bestimmen sich auch bei einer Rückwirkungsbeschränkung nach den sonst geltenden Regeln. Die Gegenansicht scheint darüber hinaus inkonsistent mit ihren eigenen Grundsätzen. So müssen vergangene Urteile bei der Auslegung des späteren Falls (im Rahmen einer irgendwie gearteten Präjudizienbindung) herangezogen werden, aber das Gericht darf nicht beachten, dass sein Urteil in der Zukunft als Präjudiz herangezogen werden muss. Daher ist es nicht zu beanstanden, dass ein Gericht versucht, – im geschilderten Rahmen – eine Rechtsregel zu finden, die den aktuellen und zukünftige – identische oder gleichgelagerte – Fälle entscheiden kann.273 kk) Zwischenergebnis Die „erste“ Auslegung einer Norm muss demnach grundsätzlich auf den Zeitpunkt ihres Inkrafttretens zurückwirken.274 Das entspricht im Ergebnis der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach „durch die Auslegung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts erläutert und erforderlichenfalls verdeutlicht [wird], in welchem Sinn und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre.“275 Grund dafür ist der grundsätzlich auf den Zeitpunkt des Geltungsbeginns der Vorschrift zurückreichende Anwendungsbefehl als Ausdruck des Demokratie- und Gewaltenteilungsgrundsatzes. Die zeitliche Wirkung ist dabei ebenso verbindlich wie das eigentliche Auslegungsergebnis; beide können nicht voneinander losgelöst werden. c) Bestätigende Zweitauslegung Die bestätigende Zweitauslegung ist weitgehend unproblematisch. Mit ihr wird ein schon ermitteltes Auslegungsergebnis auf eine vergleichbare Sachverhaltskonstellation übertragen. Dennoch hat die richterliche Tätigkeit auch 273

Deflorian, ERPL 2 (2000), 364, 381; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 436; Tur, JudRev 1978, 33, 41 f. 274 Das gilt auch für umsetzungsbedürftige Rechtsakte, insbesondere für Richtlinien. Schon um etwaigen „Vorwirkungen“ gerecht zu werden, ist der Rechtsakt nicht erst mit Ablauf der Umsetzungsfrist entsprechend der Auslegung des EuGH zu verstehen. Im Übrigen müssen freilich alle Anwendbarkeitsvoraussetzungen für den jeweiligen Mitgliedstaat erfüllt sein. Missverständlich daher Bruns, NJW 2008, 1929, 1931. 275 Nachweise wie § 3 Fn. 186.

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hier kreative Bereiche. Kern der gerichtlichen Aussage ist nämlich, dass der neue Sachverhalt im Hinblick auf die ausgelegte Norm vergleichbar ist. Insoweit wird das Verständnis der Norm erweitert. Wie bei der Erstauslegung wirkt diese Erkenntnis auf den Geltungsbeginn der Vorschrift zurück. II. Rechtsprechungsänderung (ändernde Zweitauslegung) und Rechtsänderung Zur Auslegung zählen ebenso die Rechtsprechungsänderung (in der Form der ändernden Zweitauslegung) und die Rechtsänderung. Von einer Rechtsprechungsänderung kann man sprechen, wenn der EuGH „die gleiche Rechtsfrage (zumindest) ein zweites Mal entscheidet und bei der neuerlichen Bewertung von der vorherigen abweicht“.276 Nicht genügend sind die Fälle, in denen nur ähnliche Sachverhalte oder Rechtsfragen entschieden werden277 und die der ersten Auslegung zuzuordnen sind. Die Abgrenzung ist freilich schwierig, da die Frage, ob ein Sachverhalt ähnlich ist und die gleichen Rechtsfragen aufwirft, schon eine rechtliche Bewertung enthält. Eine Rechtsprechungsänderung liegt auch ohne ausdrückliche Bezeichnung durch den EuGH vor.278 Bezugspunkt der Änderung muss das Unionsrecht sein, weshalb an dieser Stelle nicht maßgeblich ist, ob so die nationale Rechtsordnung ebenfalls „verändert“ werden kann.279 Die zeitliche Wirkung einer ändernden Zweitauslegung ist wie bei der Erstauslegung an die ausgelegte Norm geknüpft und nicht etwa an das Urteil. Auch die Rechtsprechungsänderung hat insoweit Rückwirkung. Hierbei kommt es jedoch zu Unterschieden, je nach dem Grund der Rechtsprechungsänderung. Die Abgrenzung von Rechtsprechungsänderung und Erstauslegung hat schließlich Auswirkungen auf die Anwendung des Grundsatzes der Rechtssicherheit, insbesondere auf die Begründung und Zerstörung von gutem Glauben.280 1. Rechtsprechungsänderung im Unionsrecht Der Gerichtshof hat – wie jedes andere Gericht auch – die Möglichkeit, den Aspekten der Rechtssicherheit nicht nur durch eine Rückwirkungsbeschränkung zur Geltung zu verhelfen. Ebenso kann er die Rechtsprechungsänderung 276

Lunk, FS Reuter, 2010, S. 689, 694. Lunk, FS Reuter, 2010, S. 689, 694. 278 Toth, YbEL 4 (1984), 1, 33; vgl. zum deutschen Recht Kähler, Strukturen und Methoden der Rechtsprechungsänderung, 2. Auf. 2011, S. 20 f.; Pohl, Rechtsprechungsänderung und Rückanknüpfung, 2005, S. 88 f.; a.A. Keil, Die Systematik privatrechtlicher Rechtsprechungsänderungen, 2007, S. 84. 279 Das legt beispielsweise Tillmanns, FS Buchner, 2009, S. 885, 887 ihrer Untersuchung zugrunde. 280 Siehe unten § 6 B.II.3.c)aa)(2), S. 188. 277

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selbst unter bestimmte Voraussetzungen stellen und so eine Rückwirkungsbeschränkung obsolet oder zumindest weniger dringlich machen. Die Rückwirkung von Rechtsprechungsänderungen muss daher im Kontext von deren Voraussetzungen betrachtet werden.281 Je strenger die Voraussetzungen für eine Rechtsprechungsänderung, desto weniger notwendig ist eine Rückwirkungsbeschränkung; je flexibler und effektiver die Rechtssicherheit durch die Begrenzung der Rückwirkung geschützt wird, desto freier kann die Rechtsprechung ihren Kurs auch ändern und tut das dann auch.282 Welche Grenzen der EuGH für eine Änderung der Rechtsprechung zieht und ob solche notwendig sind, ist Gegenstand der folgenden Darstellungen. a) Keine absolute Selbstbindung des EuGH Es wurde schon dargestellt,283 dass der EuGH keiner absoluten Selbstbindung an seine einmal getroffene Rechtsprechung im Sinne einer stare decisisDoktrin unterliegt. Abweichungen und Änderungen sind prinzipiell möglich, um eine Versteinerung des Unionsrechts zu verhindern. b) Wenige ausdrückliche Rechtsprechungsänderungen Beispiele für Rechtsprechungsänderungen des EuGH sind vergleichsweise selten. Dies mag zum einen daran liegen, dass er eine Rechtsprechungsänderung nicht immer als solche bezeichnet und keine einheitlichen Formulierungen verwendet.284 Außerdem ist die Abgrenzung zwischen einer Verfeinerung der Rechtsprechung und einer Rechtsprechungsänderung im Einzelfall kompliziert und deren Notwendigkeit für den EuGH bisher nicht erkennbar.285 Dies macht es schwierig, die entsprechenden Urteile zu finden und zu analysieren. Wohl auch daher setzt sich das Schrifttum nur vereinzelt mit den etwaigen Schranken einer Rechtsprechungsänderung auseinander.286 Folglich lässt sich nur schwer abschätzen, wie viele Fälle echter Rechtsprechungsän281

v. Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, S. 452; Bydlinsky, JBl 2001, 2, 3. Diese Wechselwirkung betont schon Waelbroeck, YbEL 1 (1981), 115, 117 f. 283 Siehe § 3 C.II., S. 22. 284 GA La Pergola, SchlA v. 12.2.1998 – Rs. C-262/96 Sürül, Slg. 1998, I-2685 Fn. 35; Klappstein, Die Rechtsprechungsänderung mit Wirkung für die Zukunft, 2009, S. 213; Bydlinksi, JBl 2001, 2, 26; Riesenhuber-Rebhahn, Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 18 Rn. 8; Riesenhuber-Stotz, Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 22 Rn. 57; a.A. Colneric, ZEuP 2005, 225, 230; Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, 2009, S. 305; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 227 f. Das gilt natürlich erst recht für die Rechtslagenänderung ohne Vorrechtsprechung. 285 Arnull, Interpretation and Precedent in European Community Law, 1998, S. 115, 129 verlangt eine ausdrückliche Rechtsprechungsänderung, damit klar ist, was nun gelten soll. 286 Klappstein, Die Rechtsprechungsänderung mit Wirkung für die Zukunft, 2009, S. 208. 282

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derung tatsächlich existieren. Es ist anzunehmen, dass es mehr sind als die in der Methodenliteratur besprochenen Beispiele.287 c) Keine besonderen Voraussetzungen In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs finden sich keine besonderen Voraussetzungen für eine Änderung der Rechtsprechung. Das gilt sowohl hinsichtlich der Anforderungen an das Vorbringen der Prozessparteien oder Vorlagegerichte als auch hinsichtlich des inhaltlichen Überwiegens der Argumente für eine Rechtsprechungsänderung. aa) Prozessuale Voraussetzungen einer Überprüfung der Rechtsprechung Der Gerichtshof hat bisher keine besonders hohen Hürden für die mitgliedstaatlichen Gerichte aufgestellt, um im Vorabentscheidungsverfahren vom EuGH eine Überprüfung seiner eigenen Rechtsprechung zu erfragen. Vorlageberechtigt sind alle nationalen Gerichte, nicht nur das Gericht eines früheren Vorlageverfahrens.288 Um in eine sachliche Überprüfung seiner Rechtsprechung einzutreten, verlangt der Gerichtshof regelmäßig, dass das Vorlagegericht ihm „neue Gesichtspunkte unterbreitet, die ihn dazu veranlassen könnten, eine bereits gestellte Frage abweichend zu beantworten.“289 Darunter fallen neben neuen rechtlichen Gegenargumenten290 auch Tatsachen, die noch nicht berücksichtigt wurden, und die Weiterentwicklung anderer, die Rechtsfrage beeinflussender Bereiche des Unionsrechts291. Ausreichend ist insoweit schon, dass die frühere Rechtsprechung zu unerwünschten Auswirkungen führt.292

287

Klappstein, Die Rechtsprechungsänderung mit Wirkung für die Zukunft, 2009, S. 209 sieht als Grund für die wenigen Fälle an, dass die Voraussetzungen des EuGH für eine erneute inhaltliche Prüfung einer schon entschiedenen Rechtsfrage die nationalen Gerichte abschrecken; dazu sogleich c) aa), S. 68. 288 GA La Pergola, SchlA v. 12.2.1998 – Rs. C-262/96 Sürül, Slg. 1998, I-2685 Fn. 21; GA Jacobs, verb. SchlA v. 11.7.1991 – Rs. C-24/90, C-25/90 und C-26/90 Hauptzollamt Hamburg-Jonas ./. Werner Faust, Slg. 1991, 4905 Rn. 34. 289 EuGH v. 5.3.1986 – Rs. 69/85 Wünsche Handelsgesellschaft, Slg. 1986, 947 Rn. 15; EuGH v. 6.3.2003 – Rs. C-466/00 Kaba, Slg. 2003, I-2219 Rn. 39; vgl. auch EuGH v. 16.5.2000 – Rs. C-388/95 Belgien ./. Spanien, Slg. 2000, I-3123 Rn. 52. 290 Z.B. EuGH v. 18.4.2002 – verb. Rs. C-61/96, C-132/97, C-45/98, C-27/99, C-81/00 und C-22/01 Spanien ./. Rat, Slg. 2002, I-3439 Rn. 45 ff.; EuGH v. 3.4.1968 – Rs. 28/67 Molkerei-Zentrale Westfalen, Slg. 1968, 211 sub 1. A und B. 291 Z.B. EuGH v. 23.3.2004 – Rs. C-138/02 Collins, Slg. 2004, I-2703 Rn. 63; EuGH v. 17.10.1990 – Rs. C-10/89 HAG II, Slg. 1990, I-3711 Rn. 10. 292 Vgl. EuGH v. 24.11.1993 – Rs. C-267/91 Keck und Mithouard, Slg. 1993, I-6097 Rn. 16 (zur Frage, ob diese Entscheidung eine Rechtsprechungsänderung oder eine Klarstellung war Adrian, Grundprobleme einer juristischen [gemeinschaftsrechtlichen] Metho-

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Teil 2: Grundlagen

Dieser Maßstab verlangt von den Vorlagegerichten keine qualifizierten Argumente, sondern nur ein Mindestmaß an Vorprüfung. Das vorlegende Gericht sollte selbst davon überzeugt sein, dass das neue Vorbringen die Rechtsprechung des EuGH beeinflussen kann. Es genügt schon die Möglichkeit, dass das neue Vorbringen den Gerichtshof umschwenken lässt. Lediglich offensichtlich sachfremde Argumente sind damit von vornherein ungeeignet, vom Gerichtshof geprüft zu werden.293 Die vom Gerichtshof verwendete Formulierung schließt nicht einmal solche Tatsachen oder Argumente aus, die zum Zeitpunkt der früheren Urteile schon existierten, aber im dortigen Verfahren nicht diskutiert worden waren. Entscheidend ist allein, dass der EuGH sie noch nicht gewürdigt hat. Der Gerichtshof verlangt demnach konstruktive Kritik an seiner Rechtsansicht und keine bloße Andersbewertung der bekannten Argumente durch ein nationales Gericht. Damit sind lediglich die Mindestanforderungen an einen juristischen Diskurs zwischen verschiedenen Gerichten zu erfüllen. Das ist weder übertrieben aufwändig noch fortschrittsfeindlich.294 Für das Vorbringen der Prozessparteien in anderen Verfahrensarten gelten vergleichbare Voraussetzungen.295 bb) Materielle Voraussetzungen einer Rechtsprechungsänderung Die Änderung der Rechtsprechung unterliegt außerdem keinen besonderen materiellen Schranken.296 Der Gerichtshof ändert seine Meinung immer dann, wenn ihn die vorgebrachten sachlichen Gründe davon überzeugen, dass eine andere Rechtsauffassung zu besseren Ergebnissen führt. Eine gesonderte, ausdrückliche Abwägung des Interesses an der neuen Rechtsauffassung mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit findet nicht statt.297 Der EuGH führt soweit ersichtlich in keiner Entscheidung über eine ausdrückliche Rechtsprechungsänderung konkretes oder abstraktes Vertrauen als eine Grenze seiner Kompetenz zur Änderung der Rechtsprechung an.298 Auch die von der Literadenlehre, 2009, S. 809 ff. m.w.N.); EuGH v. 3.4.1968 – Rs. 28/67 Molkerei-Zentrale Westfalen, Slg. 1968, 211 sub 1. C. 293 Die Beurteilung der Sachfremdheit verlangt freilich selbst schon eine gewisse juristische Vorprüfung. 294 A.A. wohl Klappstein, Die Rechtsprechungsänderung mit Wirkung für die Zukunft, 2009, S. 209. 295 Vgl. zur Nichtigkeitsklage EuGH v. 22.5.1990 – Rs. 70/88 Parlament ./. Rat, Slg. 1990, 2041 (Tschernobyl I) trotz der Verneinung des Klagerechts des Europäischen Parlaments in EuGH v. 27.9.1988 – Rs. 302/87 Parlament ./. Rat, Sgl. 1988, 5615 (Komitologie). 296 Wie hier schon Lord Mackenzie Stuart/Warner, FS Kutscher, 1981, S. 273, 276. 297 A.A. wohl Riesenhuber-Stotz, Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 22 Rn. 57. 298 Siehe EuGH v. 17.10.1990 – Rs. C-10/89 HAG II, Slg. 1990, I-3711; EuGH v. 24.11.1993 – Rs. C-267/91 Keck und Mithouard, Slg. 1993, I-6097; EuGH v. 30.4.1996 –

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tur als „versteckte“ Rechtsprechungsänderung deklarierten Fälle lassen eine solche Voraussetzung nicht erkennen.299 Inhaltlich kann sich der Gerichtshof grundsätzlich von jedem Sachargument überzeugen lassen. Der erhebliche Anstieg von Klagen vor den nationalen Gerichten ist für sich allein jedoch nicht ausreichend, eine Rechtsprechungsänderung herbeizuführen.300 Demgegenüber deuten sich bei Generalanwalt Lagrange strengere Maßstäbe an, wenn er die Abweichung von einer bestehenden Rechtsprechung „nicht ohne stichhaltige Gründe“301 zulassen will. Er verlangte in seinen Schlussanträgen, dass der Gerichtshof den berechtigten Kontinuitätserwartungen der Normadressaten Rechnung tragen muss und von der Möglichkeit zur Rechtsprechungsänderung „nur mit Zurückhaltung Gebrauch machen [darf], wenn [er] nicht die Rechtssicherheit zerstören will“302. Auch Generalanwalt Jääskinen wollte kürzlich unter anderem aus Gründen der Rechtssicherheit von

Rs. C-308/93 Cabanis-Issarte, Slg. 1996, I-2097; EuGH v. 30.6.1998 – Rs. C-394/96 Brown ./. Rentokil, Slg. 1998, I-4185; EuGH v. 5.10.1999 – Rs. C-179/95 Spanien ./. Rat, Slg. 1999, I-6475; EuGH v. 16.5.2000 – Rs. C-388/95 Belgien ./. Spanien, Slg. 2000, I-3123 Rn. 51 ff.; EuGH v. 25.7.2008 – Rs. C-127/08 Metock u.a., Slg. 2008, I-6241 Rn. 58 ff. 299 EuGH v. 6.2.1973 – Rs. 48/72 Brasserie de Haecht, Slg. 1973, 77; EuGH v. 28.4.1971 – Rs. 4/69 Lütticke, Slg. 1971, 325 Rn. 6 bzw. EuGH v. 26.2.1986 – Rs. 175/84 Krohn, Slg. 1986, 753 Rn. 30 ff. (s. Toth, YbEL 4 [1984], 1, 33; Pietrek, Verbindlichkeit von Vorabentscheidungen nach Art. 177 EWGV, 1989, S. 253 f.; Lengauer, Nichtigkeitsklage vor dem EuGH, 1998, S. 25 Fn. 43; Anderson/Demetriou, References to the European Court, 2. Aufl. 2002, Rn. 14-010 Fn. 11); EuGH v. 8.9.2011 – Rs. C-371/10 National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 (s. Timmermans, RabelsZ 77 (2013), 368, 377 und Mörsdorf, EuZW 2012, 296, 298); sowie die zweifelhaften Beispiele EuGH v. 20.2.1979 – Rs. 120/78 Rewe ./. Bundesmonopolverwaltung für Branntwein, Slg. 1979, 649 (Cassis de Dijon) (s. Klappstein, Die Rechtsprechungsänderung mit Wirkung für die Zukunft, 2009, S. 209 f.); EuGH v. 16.12.1981 – 244/80 Foglia ./. Novello, Slg. 1981, 3045 und EuGH v. 11.3.1986 – Rs. 121/85 Conegate, Slg. 1986, 1007 (s. Brown/Kennedy, The Court of Justice of the European Communities, 5. Aufl. 2000, S. 372); EuGH v. 19.11.1991 – Rs. C-6/90 Francovich und Bonifaci, Slg. 1991, I-5357 und EuGH v. 5.3.1996 – verb. Rs. C-46/93 und C-48/93 Brasserie du pêcheur, Slg. 1996, I-1029 (s. Bydlinski, JBl 2001, 2, 26); EuGH v. 20.10.1993 – verb. Rs. C-92/92 und C-326/97 Phil Collins u.a., Slg. 1993, I-5145 (s. Rhein, FS Piper, 1996, S. 755; Schack, GRUR Int 1995, 310, 311 f.). 300 EuGH v. 3.4.1968 – Rs. 28/67 Molkerei-Zentrale Westfalen, Slg. 1968, 211 sub 1. C; siehe aber auch EuGH v. 24.11.1993 – Rs. C-267/91 Keck und Mithouard, Slg. 1993, I-6097 Rn. 14. 301 GA Lagrange, SchlA v. 13.3.1963 – verb. Rs. 28/62 bis 30/62 Da Costa u.a., Slg. 1963, 60, 91. 302 GA Lagrange, SchlA v. 13.3.1963 – verb. Rs. 28/62 bis 30/62 Da Costa u.a., Slg. 1963, 60, 92. Ähnlich GA Warner, SchlA v. 15.12.1976 – Rs. 62/76 Strehl ./. Pensioensfonds Mijnwerkers, Slg. 1977, 211, 220.

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Teil 2: Grundlagen

einer Änderung einer bestehenden Rechtsprechung absehen, obwohl er eine andere Lösung des Sachproblems bevorzugt hätte.303 d) Keine Notwendigkeit von besonderen Voraussetzungen Die Notwendigkeit von Grenzen für eine Rechtsprechungsänderung wird vor allem in der Literatur betont. Da die Urteile des Europäischen Gerichtshofs besonderes Vertrauen der Rechtsunterworfenen begründen können, dürften sie nicht beliebig geändert werden.304 Versteht man die Funktion der Rechtsprechung als eine doppelte, einerseits die Entscheidung eines in der Vergangenheit liegenden Sachverhalts und andererseits die Entwicklung zukünftiger Verhaltensregeln für die Rechtsunterworfenen,305 sind besondere Voraussetzungen für eine Rechtsprechungsänderung nicht erforderlich.306 Das Vertrauen der Betroffenen wird im Bedarfsfall allein durch eine Rückwirkungsbeschränkung geschützt.307 So wird sichergestellt, dass das in der Vergangenheit begründete Vertrauen auch nur Auswirkungen auf vergangene Sachverhalte hat, nicht aber für die Zukunft die Rechtsentwicklung beeinträchtigt.308 Es ist nicht notwendig, die erkannt „falsche“ Rechtsanwendung für die Zukunft zu perpetuieren. Dem Gesetzge303

GA Jääskinen, SchlA v. 19.7.2012 – Rs. C-35/11 Test Claimants in the FII Group Litigation, ECLI:EU:C:2012:483 Rn. 35. 304 Riesenhuber-Neuner, Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 12 Rn. 24; W.-H. Roth, RabelsZ 2011, 787, 840; Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EUGH, 1995, S. 181 ff.; wohl auch Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, 2009, S. 428; Buerstedde, Juristische Methodik des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 2006, S. 22, 158 f. (einschränkend wiederum auf S. 142 f.); Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 73. Unklar ist die Position von Langenbucher: Einerseits dürfe der (nationale) Richter die bisherige Praxis nicht unbesehen ändern (dies., JZ 2003, 1132, 1134), andererseits könne der EuGH ohne Einschränkungen von seinen eigenen Urteilen abweichen (dies., CamLJ 1998, 481, 508) und schließlich sei Vertrauensschutz eines von zwei Kriterien für die Abweichung von einer höchstrichterlichen Rechtsprechung (dies., Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, S. 126 ff.). A.A. Toth, YbEL 4 (1984), 1, 36; wohl auch Bleckmann, NJW 1982, 1177. Zum deutschen (Steuer-)Recht vgl. z.B. Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, S. 606 ff. m.w.N.; Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 615 ff.; Fischer, DStR 2008, 697, 698 m.w.N.; weitere Nachweise auch bei Kähler, Strukturen und Methoden der Rechtsprechungsänderung, 2. Auf. 2011, S. 352 Fn. 257. 305 Vgl. auch Maultzsch, Streitentscheidung und Normbildung durch den Zivilprozess, 2010, S. 252 ff.; Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, S. 623 f. zum deutschen Recht. 306 I.Erg. ebenso Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 229 f. 307 Grosche, Rechtsfortbildung im Unionsrecht, 2011, S. 256 f.; zum deutschen Recht Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, 1996, S. 11 f. 308 Piekenbrock, ZZP 119 (2006), 3, 15; Höpfner, RdA 2006, 156, 160; Kanzler, FS Spindler, 2011, S. 265, 274 f.; Hyland, IJEL 2 (1995), 208, 231.

§ 3 Theoretische Grundlagen der Rückwirkung von Rechtsprechung

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ber werden denn, zum Vergleich, solche sachlichen Schranken nicht auferlegt. Er darf eine ungewollte Auslegung jederzeit ohne besondere Gründe (notfalls eben nur für die Zukunft) korrigieren. Argumente, warum das nur für die Legislative gelten soll, sind nicht ersichtlich. Jedenfalls kann es auf deren demokratische Legitimation nicht ankommen. Die Gewährung von Vertrauensschutz ausschließlich im Rahmen der Rückwirkungsbeschränkung ermöglicht darüber hinaus eine flexiblere Handhabung der Rechtssicherheitserwägungen als die Beschränkung von Rechtsprechungsänderungen. Während bei letzterer nur entweder auf Kosten einer besseren Rechtsansicht der Vertrauensschutz ganz überwiegen oder auf Kosten des Vertrauensschutzes die Weiterentwicklung oder Anpassung des Rechts durchgesetzt werden kann, ermöglicht die hier vertretene Lösung die Berücksichtigung beider Interessen, nur getrennt in der zeitlichen Dimension.309 Dieser Lösung stünde übrigens die deklaratorische Theorie nicht entgegen. Auch sie müsste sich den Vorwurf gefallen lassen, zu widersprüchlichen Ergebnissen zu führen. Einerseits würde man nach ihr von einer bloßen Rechtserkenntnis ausgehen und daher zwingend und ausnahmslos eine Rechtsprechungsrückwirkung propagieren. Andererseits müsste man in Ausnahmefällen das vorgegebene Ergebnis aufgrund von Erwägungen der Rechtssicherheit verändern (genauer gesagt: nicht an die bessere Erkenntnis anpassen).310 Damit ist das Einfallstor für Vertrauensschutz insofern als beliebig erkannt und es sollte dasjenige Mittel gewählt werden, welches ausgewogenere Lösungen verspricht. 2. Stellungnahmen des Gerichtshofs Der Gerichtshof hat bisher nicht ausdrücklich dazu Stellung bezogen, welche zeitlichen Wirkungen er einer Rechtsprechungsänderung grundsätzlich beilegt. Es lässt sich jedoch mittelbar aus den Rechtssachen C-308/93 und C209/03 entnehmen, dass der Gerichtshof hierbei gegenüber der Erstauslegung keinen Sonderweg beschreiten will.311

309

Piekenbrock, ZZP 119 (2006), 3, 15; in diesem Sinne auch Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 103. Die Rechtsprechungsänderung wird dann insoweit wie die Gesetzesänderung behandelt. Letztere stellt den Vertrauensschutz allein mittels Übergangsvorschriften oder zukünftiger Anwendung sicher. Zur Übertragung der Methodik der Gesetzesrückwirkung auf die allgemeine Rechtsprechungsrückwirkung siehe § 4, S. 102 ff. 310 In diese Richtung argumentieren Cross/Harris, Precedent in English Law, 4. Aufl. 1991, S. 35. 311 I.Erg. ebenso Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, 1996, S. 109.

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Teil 2: Grundlagen

a) Die Rechtssache C-308/93 Cabanis-Issarte In der Rechtssache C-308/93 ging es um die diskriminierungsfreie Festsetzung von Versicherungsbeträgen einer Rente für hinterbliebene Ehegatten eines Wanderarbeitnehmers in einem anderen Mitgliedstaat als dem der Staatsangehörigkeit des Hinterbliebenen. Der Gerichtshof änderte hier ausdrücklich seine fast 20 Jahre währende ständige Rechtsprechung, wonach Leistungen der sozialen Sicherheit nur aus eigenem Recht, nicht aber abgeleitet vom Ehegatten oder Familienangehörigen erworben werden konnten.312 Im Anschluss daran begrenzte er die zeitlichen Wirkungen des Urteils.313 Dabei wandte der EuGH offenbar seine allgemeine Rechtsprechung zur Rückwirkungsbegrenzung bei Auslegungsentscheidungen an.314 So prüft er zwar nicht die Voraussetzung des guten Glaubens oder zitiert die Obersätze aus der Leitentscheidung,315 doch entsprechen Abschnittsüberschrift, Tenorierung und die Prüfung der finanziellen Folgen (d.h. das zweite Tatbestandsmerkmal) der allgemeinen Rückwirkungsrechtsprechung.316 Schon die Tatsache, dass der EuGH eine ausdrückliche Beschränkung der zeitlichen Wirkungen für notwendig erachtet, spricht dafür, dass er nicht per se für jede Rechtsprechungsänderung von einer bloß prospektiven Wirkung ausgeht. Nach Ansicht des Gerichtshofs ist daher auch eine Rechtsprechungsänderung grundsätzlich auf alle vor dem Urteilsdatum entstandenen und nicht prozessual abgeschlossenen Sachverhalte anwendbar. Methodische oder dogmatische Aussagen zum Grund der Rückwirkung sind diesem Urteil jedoch nicht zu entnehmen. b) Die Rechtssachen C-184/99 Grzelczyk und C-209/03 Bidar In ähnlicher Weise verfuhr der Gerichthof in den Rechtssachen C-184/99 und C-209/03. Dort änderte er seine über 10 bzw. 15 Jahre bestehende Rechtsprechung, nach der eine staatliche Unterhaltsbeihilfe für Studierende im Gegensatz zur Gewährung von Beihilfen für Unterrichts-, Einschreibe- oder sonstige Gebühren nicht in den Anwendungsbereich des Art. 18 AEUV (Art. 12 EG, Art. 7 EWG-Vertrag) fiel.317 Zwar begrenzte der Gerichtshof hier im

312

EuGH v. 30.4.1996 – Rs. C-308/93 Cabanis-Issarte, Slg. 1996, I-2097 Rn. 29 ff. EuGH v. 30.4.1996 – Rs. C-308/93 Cabanis-Issarte, Slg. 1996, I-2097 Rn. 46 ff. 314 Dies tat ausdrücklich GA Tesauro, SchlA v. 29.2.1996 – Rs. C-308/93 CabanisIssarte, Slg. 1996, I-2097 Rn. 19. 315 Anders GA Tesauro, SchlA v. 29.2.1996 – Rs. C-308/93 Cabanis-Issarte, Slg. 1996, I-2097 Rn. 19. 316 Zur Frage, ob und inwieweit dabei Modifikationen vorgenommen werden (müssen), unten § 6 B.III.6., S. 257. 317 EuGH v. 20.9.2001 – Rs. C-184/99 Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193 Rn. 35 ff.; EuGH v. 15.3.2005 – Rs. C-209/03 Bidar, Slg. 2005, I-2119 Rn. 38 ff. Zur Abgrenzung der jeweils 313

§ 3 Theoretische Grundlagen der Rückwirkung von Rechtsprechung

71

Anschluss die Rückwirkung des Urteils nicht. Er wandte aber ebenso die Grundsätze der Rechtsprechung zur Rückwirkungsbeschränkung bei Auslegungsentscheidungen an und verneinte unter Bezugnahme auf einschlägige Entscheidungen im Ergebnis den fehlenden guten Glauben318 bzw. die Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Auswirkungen.319 c) Die Rechtssache T-334/94 Sarrió Entgegen dem ersten Anschein lässt sich aus dem Urteil des Europäischen Gerichts in der Rechtssache T-334/94 nichts Gegenteiliges ableiten. Dort entschied das Gericht, die Kommission habe bei Erlass einer kartellrechtlichen Bußgeldentscheidung die vom Gericht erst später aufgestellten, besonderen Anforderungen an die Begründung solcher Entscheidungen nicht eingehalten.320 Dennoch verneinte das EuG einen Verstoß gegen die Begründungspflicht, „unter [diesen] besonderen Umständen und unter Berücksichtigung der Tatsache, daß die Kommission bereit war, im gerichtlichen Verfahren alle Auskünfte über den Berechnungsmodus der Geldbußen zu geben“.321 Betrachtet man allein den Anfang dieser Textstelle, so scheint das Gericht der Rechtsprechungsänderung im Normalfall keine Rückwirkung beilegen zu wollen,322 jedenfalls aber nicht bei einer Verschärfung von formellen Rechtmäßigkeitsanforderungen. Legt man nämlich die allgemeine Rückwirkungsrechtsprechung des EuGH zugrunde, hätte die Kommission durchaus die später erfolgte Rechtsprechung schon beachtet haben müssen. Dies erkannte auch die Klägerin und rügte das Vorgehen des Gerichts im Rechtsmittelverfahren mit einem Standardeinwand gegen die prospektive Rechtsprechungswirkung.323 Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass das EuG mit zwei kurzen Sätzen zur Unkenntnis der Kommission von den späteren Entscheidungen des Gerichts der allgemeinen Rechtsprechung des EuGH zur Rechtsprechungsrückwirkung widersprechen wollte. Diese damals schon gefestigte Rechtsprechung wird weder zitiert noch setzt sich das EuG inhaltlich damit auseinander. Außerdem beruht das Ergebnis des EuG auch darauf, dass sich die fehlende Begründung

betroffenen Konstellationen instruktiv GA Geelhoed, SchA v. 11.11.2004 – Rs. C-209/03 Bidar, Slg. 2005, I-2119 Rn. 17 ff., 28 ff.; Düsterhaus, EuZW 2005, 325 f. 318 EuGH v. 20.9.2001 – Rs. C-184/99 Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193 Rn. 48 ff. 319 EuGH v. 15.3.2005 – Rs. C-209/03 Bidar, Slg. 2005, I-2119 Rn. 64 ff. 320 EuG v. 14.5.1998 – Rs. T-334/94 Sarrió ./. Kommission, Slg. 1998, II-1439 Rn. 351 f. 321 EuG v. 14.5.1998 – Rs. T-334/94 Sarrió ./. Kommission, Slg. 1998, II-1439 Rn. 353. 322 So ausdrücklich Schermers/Waelbroeck, Judicial Protection in the European Union, 6. Aufl. 2001, § 143. 323 Vgl. EuGH v. 16.11.2000 – Rs. C-291/98 P Sarrió ./. Kommission, Slg. 2000, I-1213 Rn. 57.

72

Teil 2: Grundlagen

im gerichtlichen Verfahren noch nachholen ließ.324 Es liegt nahe, dass das Gericht die Problematik der Rechtsprechungswirkungen überhaupt nicht erkannt, jedenfalls nicht ausreichend gewürdigt hatte und daher eine so weitgehende Aussage gar nicht treffen wollte. Der EuGH hielt in der Rechtsmittelinstanz schon das vom EuG aufgestellte zusätzliche Begründungserfordernis für überobligatorisch. Das Urteil des EuG war insofern im Ergebnis nicht zu beanstanden. Auf die zeitliche Wirkung der Rechtsprechungsänderung musste der Gerichtshof nicht eingehen.325 3. Differenzierung nach dem Grund der Rechtsprechungsänderung Die zeitliche Wirkung der Rechtsprechungsänderung sollte sich an ihrem Grund orientieren.326 Es wurde in der Literatur herausgearbeitet, dass eine ändernde Zweitauslegung auf einer besseren Rechtserkenntnis einerseits oder der Wandlung von rechtserheblichen Umständen andererseits beruhen kann.327 Bei näherer Betrachtung dieser Möglichkeiten ergibt sich für beide ein unterschiedlicher Rückwirkungszeitpunkt. a) Bessere Rechtserkenntnis Ändert der Gerichtshof seine Rechtsprechung aufgrund besserer Rechtserkenntnis, will er von einer als „unrichtig“ angesehenen Auslegung abrücken und ein „richtiges“, neues Ergebnis anwenden. Dem kann beispielsweise ein anderes Verständnis des Normtextes zugrunde liegen oder der Wille, unvorhergesehene Folgen der früheren Entscheidung zu vermeiden.328 Im Falle besserer Rechtserkenntnis gebietet – wie bei der ersten Auslegung – der gesetzgeberische Anwendungsbefehl die Rückwirkung auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens der ausgelegten Vorschrift. Die Norm sollte von Anfang an (eigentlich) in dem „richtigen“ Verständnis ausgelegt und angewendet werden. Hierbei ist nicht hinderlich, dass die Rückwirkung nicht erforderlich ist, um Eigenschaft der Vorschrift als Rechtsnorm zu sichern.329 Zwar könnte für die Zeit vor dem ändernden Urteil die alte Rechtslage gelten, die ebenso von der zuständigen Judikative autorisiert wurde, jedoch ist kein 324

EuG v. 14.5.1998 – Rs. T-334/94 Sarrió ./. Kommission, Slg. 1998, II-1439 Rn. 352 f. 325 EuGH v. 16.11.2000 – Rs. C-291/98 P Sarrió ./. Kommission, Slg. 2000, I-1213 Rn. 79 f. 326 Ähnlich Lieb, FS Gaul, 1997, S. 381, 387. 327 Kähler, Strukturen und Methoden der Rechtsprechungsänderung, 2. Auf. 2011, S. 80 ff. (zum deutschen Recht); Juratowitch, Retroactivity and the Common Law, 2008, S. 154 ff. (zum englischen Recht); vgl. auch Tur, OJLS 22 (2002), 463, 477. 328 Im Einzelnen Kähler, Strukturen und Methoden der Rechtsprechungsänderung, 2. Auf. 2011, S. 88 ff. 329 Vgl. oben § 3 D.I.2.b)bb), S. 50.

§ 3 Theoretische Grundlagen der Rückwirkung von Rechtsprechung

73

rechtstheoretisches Argument330 ersichtlich, die alte, „falsche“ Rechtslage unnötig zu perpetuieren.331 Auch der Gleichheitssatz steht nicht entgegen. Pohl hat ausführlich dargelegt, dass die Ungleichbehandlung der schon nach dem alten Recht entschiedenen Fälle mit den noch nicht entschiedenen Fällen, die vor dem ändernden Urteil liegen, auf der Rechtskraft ersterer beruht.332 b) Rechtserheblicher Wandel (Rechtsänderung) Während bei der Fallgruppe der besseren Rechtserkenntnis die rechtserheblichen Umstände unverändert bleiben, liegt anderenfalls eine Rechtsänderung vor. Die fragliche Norm muss im Zeitpunkt des späteren Urteils anders verstanden werden als zur Zeit des früheren Urteils, während auch aus einer ex post-Perspektive das frühere Urteil als „richtig“ anzusehen ist.333 Erst der Wandel äußerer Umstände verlangt eine geänderte Auslegung. Die Rechtsprechungsänderung beruht also nicht auf einer besseren Erkenntnis der Vorschrift, sondern auf Änderungen im Bezugssystem der auszulegenden Norm. Zu diesem Bezugssystem gehören insbesondere auslegungsrelevante weitere Vorschriften oder normrelevante Tatsachen oder Anschauungen.334 So lag es beispielsweise in den oben unter 2.b) genannten Entscheidungen in Rechtssachen Grzelczyk und Bidar. Dort hatte sich zwar nicht die auszulegende Vorschrift des Art. 12 Abs. 1 EG (jetzt Art. 18 Abs. 1 AEUV) verändert, jedoch waren in der Zwischenzeit die Kompetenzen der Gemeinschaft im Hinblick auf die allgemeine und die berufliche Bildung erweitert worden.335 Dies rechtfertigte eine Neubestimmung des Anwendungsbereichs von Art. 12 Abs. 1 EG. Zu Recht hat der Gerichtshof deshalb dort auch einen Vertrauenstatbestand verneint, wenngleich seine frühere Rechtsprechung insoweit abwägend zu berücksichtigen gewesen wäre.336 Daneben ist der einfachste Fall eines rechtserheblichen Wandels die Änderung der auszulegenden Norm

330

Zu Erwägungen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes sogleich § 3 G.,

S. 98. 331

In diesem Sinne z.B. Kähler, Strukturen und Methoden der Rechtsprechungsänderung, 2. Auf. 2011, S. 343 ff.; Lord Nicholls, in House of Lords v. 30.6.2005 National Westminster Bank plc v. Spectrum Plus Limited a.o., [2005] 4 All ER 209 Rn. 38. 332 Pohl, Rechtsprechungsänderung und Rückanknüpfung, 2005, S. 191 f. 333 Kähler, Strukturen und Methoden der Rechtsprechungsänderung, 2. Auf. 2011, S. 82. 334 Kähler, Strukturen und Methoden der Rechtsprechungsänderung, 2. Auf. 2011, S. 83 ff. 335 EuGH v. 20.9.2001 – Rs. C-184/99 Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193 Rn. 34 f., EuGH v. 15.3.2005 – Rs. C-209/03 Bidar, Slg. 2005, I-2119 Rn. 38 ff. 336 EuGH v. 20.9.2001 – Rs. C-184/99 Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193 Rn. 54.

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Teil 2: Grundlagen

selbst durch den Gesetzgeber, wenn erst dadurch eine Neuauslegung geboten ist.337 Damit wird deutlich, dass der Anwendungsbefehl für die Zeit vor den gewandelten Umständen keine Geltung der neuen Rechtslage anordnet. Erst mit Abschluss des Wandels der Umstände gilt grundsätzlich die neue Rechtsprechung.338 Zwar können hierbei die Feststellung des Wertewandels und seine exakte zeitliche Fixierung Schwierigkeiten bereiten, jedoch dürfte dies nicht undurchführbar sein:339 Ein Umstand ist gerade dann relevant, wenn ohne ihn ein anderes Auslegungsergebnis erzielt worden wäre. c) Auswirkungen Damit lässt sich feststellen, dass sich Rechtsprechungsänderungen gleichermaßen in die Vergangenheit erstrecken, der Bezugspunkt der Rückwirkung sich jedoch in Abhängigkeit vom Grund der Änderung unterscheidet.340 In der Rechtsprechung des Gerichtshofs zeitigen die verschiedenen Gründe freilich bisher keine unterschiedlichen zeitlichen Wirkungen. Die vorgenommene Differenzierung zwingt außerdem dazu, eine Rechtsprechungsänderung eingehend zu begründen.341 Denn die Einordnung als Änderung der maßgeblichen Umstände oder als Änderung der Rechtserkenntnis hängt davon ab, welche Gegebenheiten der Gerichtshof als maßgeblich aufdeckt. Die unterschiedlichen zeitlichen Rechtsfolgen sind daher ausgesprochen begründungsabhängig und deshalb manipulationsanfällig.

337

GA Villalón, SchlA v. 31.1.2013 – Rs. C- 414/11 Daiichi Sankyo und SanofiAventis, ECLI:EU:C:2013:49 Rn. 115 ff. 338 A.A. Boujong, FS Heldrich, 2005, S. 1235, 1243 f.; Lieb, FS Gaul, 1997, S. 381, 388 f., die das Tätigwerden eines Gerichts als notwendige Voraussetzung für die Rechtsänderung und daher dies als maßgeblichen Zeitpunkt ansehen; i.Erg. ebenso für ex nuncWirkung Tsikrikas, Die Wirkungen der Urteile des Europäischen Gerichtshofs im Vertragsverletzungsverfahren (Art. 169 ff. EWGV), 1990, S. 151 f. 339 Vgl. Medicus, NJW 1995, 2577, 2581. 340 Anders z.B. Klappstein, Die Rechtsprechungsänderung mit Wirkung für die Zukunft, 2009, S. 213. Sie sieht die Rückwirkung einer Rechtsprechungsänderung „in der Art des Gemeinschaftsrechts begründet: Dem Satz der ‚praktischen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts‘, de[m] effet utile, haftet nämlich ein deklaratorischer Aspekt an: Durch die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes entfaltet d[a]s Gemeinschaftsrecht Wirkung.“ Auch Pieroth/Hartmann, ZIP 2010, 753, 756 (zum deutschen Recht), die feststellen, dass es mehrere Fälle der Rechtsprechungsänderung gibt, ohne daraus Konsequenzen zu ziehen. 341 Schima, Zur Wirkung von Auslegungsentscheidungen des EuGH, 2000, S. 280, 296 erkennt schon für jede Rechtsprechungsänderung einen besonderen faktischen Begründungsdruck.

§ 3 Theoretische Grundlagen der Rückwirkung von Rechtsprechung

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4. Gleichbehandlung der Rechtsänderung bei erster Auslegung Die Konstellation der Rechtsänderung kann auch in Kombination mit einer ersten Auslegung auftreten. Das ist der Fall, wenn die fragliche Norm zwar zum ersten Mal konkretisiert wird, bei einer hypothetischen früheren Auslegung aber ein anderes Auslegungsergebnis hätte erzielt werden müssen. Praktisch kann das vor allem bei Vorschriften werden, die schon länger in Geltung sind. Ändern sich hier während des Geltungszeitraums rechtserhebliche Umstände, so kann die erste Auslegung nicht auf das ursprüngliche Inkrafttreten der Norm zurückwirken. Besonders deutlich wird das, wenn die auszulegende Bestimmung zwischenzeitlich vom Gesetzgeber geändert wurde. Da es an früherer Rechtsprechung fehlt, liegt zwar keine Rechtsprechungsänderung im Wortsinne vor.342 Dennoch muss diese Situation ebenso wie eine Rechtsänderung bei vorheriger Auslegung behandelt werden.343 III. Rechtsfortbildung Die gerade herausgearbeiteten Grundsätze gelten auch für die rechtsfortbildende Tätigkeit des Gerichtshofs. Das durch Rechtsfortbildung entwickelte Unionsrecht ist wie bei der Auslegung grundsätzlich rückwirkend zu berücksichtigen. Abweichungen können sich hier aber aus dem Maßstab der Rechtsfortbildung ergeben. 1. Rechtsfortbildung im Unionsrecht Die Befugnis des Gerichtshofs zur Fortbildung des Unionsrechts ist weithin anerkannt.344 Der Gerichtshof selbst unterscheidet zwar sprachlich nicht zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung.345 Dies wird jedoch nicht als hinderlich angesehen, solange in der Sache die besonderen Voraussetzungen und

342

Lieb, FS Gaul, 1997, S. 381, 386 f. Das meint wohl auch Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 181 f. In der Praxis dürfte die Rechtsänderung zumeist der Einfachheit halber unbeachtet bleiben. 344 BVerfG v. 8.4.1987 – 2 BvR 687/85, Rn. 55 ff.; Calliess/Ruffert-Wegener, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 19 EUV Rn. 17; Riesenhuber-Neuner, Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 12 Rn. 7 ff.; Everling, JZ 2000, 217, 221 f.; Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 333; kritisch z.B. Hillgruber, Spielräume und Grenzen des EuGH, 2012, S. 1, 6 ff. 345 Ausführlich Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, 2009, S. 55 ff. m.w.N. Ebenso Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 33 ff.; Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 51; Canaris, FS Bydlinski, 2002, S. 47, 81 ff.; Ahmling, Analogiebildung durch den EuGH im Europäischen Privatrecht, 2012, S. 141 ff.; anders zum Europäischen Prozessrecht Heß, IPRax 2006, 348, 361. 343

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Teil 2: Grundlagen

Grenzen der Rechtsfortbildung beachtet werden.346 Als Mittel der Rechtsfortbildung durch den Europäischen Gerichtshof hat Walter vor allem die Analogie, die Ableitung aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen und das Prinzip des effet utile ausgemacht.347 Entscheidend sei dabei die Bildung überverfassungsmäßiger Prinzipien.348 Wo die Grenzen der Rechtsfortbildungskompetenz liegen, ist hingegen noch nicht endgültig geklärt. Klar ist, dass sich die Rechtsfortbildung einerseits – gleichsam nach innen – von der „bloßen“ Auslegung abgrenzt und andererseits – gleichsam nach außen – zur Tätigkeit der Legislative in Konkurrenz tritt.349 Für die hiesige Untersuchung ist letztere Grenze freilich unbedeutend, da ein rechtswidriges Urteil auch durch eine Rückwirkungsbeschränkung nicht rechtmäßig wird und außerdem der EuGH ein eigenes Urteil niemals an Ort und Stelle als kompetenzüberschreitend brandmarken würde. Für die Abgrenzung zur Auslegung wird überwiegend – aus der deutschen Methodenlehre übertragen – auf den möglichen Wortsinn der Norm abgestellt350 oder darauf, ob nur das bestehende Recht angewendet und nicht bisher Unbekanntes hinzugefügt wird351.

346 Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, 2009, S. 207; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 5; Riesenhuber-Neuner, Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 12 Rn. 2. 347 Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, 2009, S. 161 ff.; Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 59, 305 ff.; Ahmling, Analogiebildung durch den EuGH im Europäischen Privatrecht, 2012, S. 171 ff. sieht die Analogie als vorrangig an. 348 Constantinesco, The ECJ as a Law-Maker, 2000, S. 73, 79; Hartley, LQR 112 (2006), 95, 102 f.; ähnlich Möllers, EuR 1998, 20, 32 f. 349 Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007, S. 98 betont für das deutsche Recht die Kontextbezogenheit jeder Definition von Rechtsfortbildung. 350 Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, 2009, S. 58 ff. m.w.N.; Riesenhuberders., Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 10 Rn. 19; Riesenhuber-Neuner, Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 12 Rn. 2 f.; offenlassend W.-H. Roth, RabelsZ 2011, 787, 820. 351 In diesem Sinne Hager, Rechtsmethoden in Europa, 2009, S. 196 f.; Huep, Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf ältere Sachverhalte, 2001, S. 70; Stein, FS Universität Heidelberg, 1986, S. 619; Wank, FS Stahlhacke, 1995, S. 633, 635; Bleckmann, GS Constantinesco, 1983, S. 61; wohl auch Grosche, Rechtsfortbildung im Unionsrecht, 2011, S. 123 ff., der allerdings auf den Erklärungs- und nicht den Erkenntniszusammenhang abstellt; Jestaedt, Richterliche Rechtssetzung statt richterlicher Rechtsfortbildung, 2012, S. 49, 63; Mittmann, Die Rechtsfortbildung durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften und die Rechtsstellung der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, 2000, 232 f., der dabei aber die Bedeutung des geschriebenen Rechts überbetont.

§ 3 Theoretische Grundlagen der Rückwirkung von Rechtsprechung

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2. Zeitliche Wirkung Für die zeitliche Wirkung der Rechtsfortbildung ist also nach einem spezifisch zeitlich wirkenden Unterschied zur Auslegung zu suchen. Nur ein solcher könnte einen anderen Geltungsbeginn als bei der Auslegung rechtfertigen. Jegliche Abgrenzungsvorschläge gegenüber der Legislativtätigkeit352 betonen demgegenüber die Gemeinsamkeiten von Auslegung und Rechtsfortbildung und sind hier daher unfruchtbar. Für eine Gleichbehandlung spricht dabei schon, dass Rechtsfortbildung und Auslegung als zwei Ausprägungen eines einheitlichen Vorganges angesehen werden.353 Dabei ist es gleichgültig, ob man beide als deklaratorisch ansieht354 oder – wie hier355 – die schöpferische Qualität auch der Auslegung betont. Wie für die Auslegung herausgearbeitet, liegt auch der Dezisionstheorie die grundsätzliche Rückwirkung ihrer Ergebnisse zugrunde.356 In gleicher Weise spricht die Zusammenfassung von Auslegung und Rechtsfortbildung in dem Begriff der „interprétation“ durch den EuGH für eine einheitliche Behandlung der Rückwirkungszeitpunkte. Herkömmliches Merkmal zur Beurteilung, ob eine Rechtsfindung Auslegung oder Rechtsfortbildung darstellt, ist der (mögliche) Sinn des Wortlauts der fraglichen Norm. Hält man dies nicht schon von vornherein für ungeeignet,357 so ist doch zu konstatieren, dass mit dem Wortsinn die Vorhersehbarkeit im Sinne des Vertrauensschutzes/der Rechtssicherheit angesprochen ist.358 Die Vorhersehbarkeit ist dann aber das sachnähere Differenzierungskriterium, welches einzelfallbezogen beurteilt werden kann. Außerdem lässt sich so verhindern, dass die Unsicherheiten in der Bestimmung der Wortsinngrenze auf die zeitliche Wirkung der jeweiligen Entscheidung übertragen werden. Und schließlich ist es gerade der Anspruch der Methodenbindung, der die 352

Z.B. das „Verbot einer rechtspolitischen Entscheidung“, vgl. Grosche, Rechtsfortbildung im Unionsrecht, 2011, S. 110 ff. m.w.N.; Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, S. 26 f.; Calliess, NJW 2005, 929, 932; DänzerVanotti, RIW 1992, 733, 737. 353 Everling, JZ 2000, 217, 218; Schroeder, FS G.H. Roth, 2011, S. 735, 739; Hillgruber, Grenzen der Rechtsfortbildung durch den EuGH, 1993, S. 31; vgl. auch Jestaedt, Richterliche Rechtssetzung statt richterliche Rechtsfortbildung, 2012, S. 49, 58 f. m.w.N. 354 So ausdrücklich GA Reischl, SchlA v. 9.1.1980 – verb. Rs. 66/79, 127/79 und 128/79 Salumi u.a., Slg. 1980, 1237, 1270. 355 Siehe oben § 3 D.I.1., S. 41. 356 Siehe oben § 3 D.I.2.b)ee), S. 55. 357 So z.B. Wank, FS Stahlhacke, 1995, S. 633, 634 f.; Grosche, Rechtsfortbildung im Unionsrecht, 2011, S. 113 ff.; Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, 2009, S. 410; krit. auch Riesenhuber-Baldus, Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 2 Rn. 19, 79; a.A. Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, 2009, S. 59 ff. 358 Vgl. Huep, Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf ältere Sachverhalte, 2001, S. 70; Riesenhuber-Neuner, Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 12 Rn. 17.

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Rechtsfortbildung theoretisch vorhersehbar macht359: Unterläge die Rechtsfortbildung keiner verbindlichen Methodik, wären ihre Ergebnisse in der Tat zumeist überraschend. In gleichem Maße unergiebig ist die herkömmliche Voraussetzung einer Gesetzeslücke. Zum einen korreliert der Gedanke der Lücke mit der Wortsinngrenze und zum anderen beantwortet das nicht die Frage, warum die Lücke nicht schon bei einem (gedachten) früheren Fall oder einer (hypothetischen) sofortigen Gerichtsentscheidung ebenso geschlossen worden wäre. Lässt man dabei Erwägungen der Rechtssicherheit außen vor – da diese ja nur eine Abwägung erzwingen, nicht aber die grundsätzliche Rückwirkung beseitigen –, bleiben lediglich solche Sachverhalte übrig, in denen sich zwischen einer früheren und der jetzigen Entscheidung die Rechtslage geändert hat. Eine Änderung der Rechtslage begründet jedoch auch bei der Auslegung eine Abweichung von der grundsätzlichen Rückwirkung. Anlass für eine solche Ausnahme von der Rückwirkung geben beispielsweise Entscheidungen, in denen der Gerichtshof die Evolution des Unionsrechts selbst betont und zur Voraussetzung für sein Ergebnis macht.360 In diesen Fällen dürfte aber zumeist auch eine Änderung der Rechtslage gegeben sein, nicht notwendig hingegen eine Rechtsprechungsänderung. In allen anderen und damit den meisten zu entscheidenden Fällen gebietet hingegen Art. 19 EUV als Kompetenz- und Aufgabenzuweisung, dass etwaige Lücken des Unionsrechts rückwirkend mit dessen Inkrafttreten zu schließen sind.361 Diese Lösung ist weiterhin davon unabhängig, auf welche Weise der EuGH die Lücke im Unionsrecht füllt, lediglich die Rückwirkungszeitpunkte können sich unterscheiden. Bei einer Analogie kann das Inkrafttreten der in Bezug genommenen Norm den Geltungsbeginn bestimmen – vergleichbar dem Zeitpunkt bei der Auslegung der Norm. Leitet der Gerichtshof die Lösung aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen oder dem Grundsatz des effet utile 359

Dies gilt umso mehr, wenn man beispielsweise die Analogie als vom Gleichheitssatz geboten ansieht, vgl. EuGH v. 19.11.2009 – Rs. C-402/07 Sturgeon, Slg. 2009, I-10923 Rn. 48 ff.; Ahmling, Analogiebildung durch den EuGH im Europäischen Privatrecht, 2012, S. 161 f. m.w.N.; stellvertretend für die herrschende deutsche Methodenlehre Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 381; ders./Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 202. 360 Z.B. EuGH v. 16.12.2008 – Rs. C-210/06 Cartesio, Slg. 2008, I-9641 Rn. 109; EuGH v. 11.9.2008 – Rs. C-141/07 Kommission ./. Deutschland, Slg. 2008, I-6935 Rn. 25; EuGH v. 13.3.2001 – Rs. C-379/98 PreussenElektra, Slg. 2001, I-2099 Rn. 81; EuGH v. 2.4.1998 – Rs. C-213/96 Outukumpu, Slg. 1998, I-1777 Rn. 30; EuGH v. 20.10.1993 – Rs. C-297/92 INPS ./. Baglieri, Slg. 1993, I-5211 Rn. 17; EuGH v. 28.1.1992 – Rs. C-204/90 Bachmann, Slg. 1992, I-249 Rn. 27; EuGH v. 11.7.1991 – Rs. C-17/90 Pinaud Wieger, Slg. 1991, I-5253 Rn. 14 (allesamt zur Begrenzung eines im Streit stehenden Normverständnisses). 361 Anders Domröse, JJZ 2009, 109, 120 für die analoge Anwendung von Verjährungsregeln.

§ 3 Theoretische Grundlagen der Rückwirkung von Rechtsprechung

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ab, bestimmt deren Geltungsbeginn den Rückwirkungszeitpunkt – vergleichbar der Auslegung des sonstigen Unionsprimärrechts. Hierbei aktualisieren sich freilich eventuelle Unklarheiten bei der Begründung und Herleitung von allgemeinen Rechtsgrundsätzen.362 Nichts anderes ergibt sich schließlich, wenn man den Kompetenzen des EuGH neben Auslegung und Rechtsfortbildung noch einen dritten Bereich zuordnet, die (freie) Rechtsschöpfung.363 Soweit eine solche überhaupt zulässig sein sollte364 und ungeachtet etwaiger Abgrenzungsschwierigkeiten, erfolgt sie doch nicht losgelöst von rechtlichen oder tatsächlichen Bezugspunkten. Diese sind dann Begründung für die Rückwirkung und Anknüpfung für den Rückwirkungszeitpunkt. Auch die rechtsfortbildende Entscheidung ist demnach grundsätzlich rückwirkend zu beachten. Unterschiede zur Auslegung bestehen insoweit nicht.365 Allein der Rückwirkungszeitpunkt ist hier schwieriger zu bestimmen, er richtet sich vor allem nach der Methode der Lückenfüllung. E. Grundsätzliche Rückwirkung der Unwirksamkeit Nunmehr soll geklärt werden, ob sich aus dem Vorgang einer Kontrolle der Vereinbarkeit von Rechtsakten mit höherrangigen Rechtsnormen Vorgaben für die zeitliche Wirkung einer solchen Entscheidung ableiten lassen. Die vom Gerichtshof verbindlich festgestellte Unvereinbarkeit wird hier verfahrensübergreifend als „Unwirksamkeit“ (einer Unionsnorm) bezeichnet. Die Unwirksamkeit soll demnach der Oberbegriff von Nichtigkeit, Ungültigkeit oder Unanwendbarkeit sein. Zur Bestimmung der zeitlichen Wirkung könnte es zuerst Gründe geben, die rechtsordnungsübergreifend allgemeine Geltung verlangen (I.). Soweit es daran fehlt, ist das Unionsrecht auf spezifische Regelungen eines einheitlichen Grundsatzes zu untersuchen (II.). I. Keine rechtsordnungsübergreifende Aussage aus Rechtstheorie oder Rechtslogik Obwohl jede Unwirksamkeitsentscheidung eines Gerichts auf mindestens einer Auslegung, nämlich der höherrangigen und zu prüfenden Norm, be362 Vgl. Henssler/Tillmanns, FS Birk, 2008, S. 179, 195 zum primärrechtlichen Verbot der Altersdiskriminierung. 363 Vgl. Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH, 2008, S. 334 ff. 364 Bejahend z.B. Bleckmann, GS Constantinesco, 1983, S. 61, 65 f.; Borchardt, Der Gerichtshof der EG als Ersatzgesetzgeber?, 1995, S. 53, 55 und 60 f. 365 Vgl. Dänzer-Vanotti, RIW 1992, 733, 736; auch Grosche, Rechtsfortbildung im Unionsrecht, 2011, S. 256 ff., der die Rückwirkungsproblematik für die Rechtsfortbildung anhand der bekannten EuGH-Urteile erörtert und keine Unterschiede zur Auslegung erkennen lässt.

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Teil 2: Grundlagen

ruht,366 muss die Unwirksamkeit die zeitlichen Wirkungen der Auslegung nicht teilen. Zwar besteht der Verstoß gegen das höherrangige Recht vom jeweiligen Inkrafttreten an, jedoch bezieht sich die Unwirksamkeitserklärung auf einen eigenständigen Rechtsakt. Dessen Existenz kann abstraktes Vertrauen der Rechtsunterworfenen begründen, welches durch eine ex nuncWirkung der Aufhebungsentscheidung abstrakt geschützt werden könnte. Rechtstheoretische Vorgaben für die zeitlichen Wirkungen könnten sich insbesondere einem sogenannten Nichtigkeitsdogma entnehmen lassen. Darunter versteht man die Anordnung einer von selbst eintretenden und rückwirkenden (ipso iure und ex tunc)367 Unwirksamkeit einer rechtswidrigen Norm.368 Eine solche theoretisch oder logisch zwingende Nichtigkeit gibt es jedoch nicht. Ausgangspunkt ist hierbei, dass sich begriffstheoretische Überlegungen auch im Unionsrecht nicht fruchtbar machen lassen. Begrifflichkeiten sind – als Wortlautargumente – allenfalls der Beginn der Auslegung des Unionsrechts. Deshalb lässt sich aus dem von Art. 264 AEUV verwendeten Ausdruck der „Nichtigkeit“ allein keine zeitliche Rechtsfolge ableiten.369 Die Rechtsfolgen einer Unwirksamkeitserklärung müssen erst umfassend begründet und ein „Dogma der ex tunc-Nichtigkeit„ erst abgeleitet werden.370 Nur aus diesem würde sich der deklaratorische Charakter der Normenkontrollentscheidung ergeben. Es genügt folglich nicht, den üblichen Beschreibungen von EuGH-Entscheidungen als „deklaratorisch“ oder „konstitutiv“ die zeitlichen Wirkungen als „ex tunc“ oder „ex nunc“ unmittelbar zuzuordnen. Vielmehr müssen zuerst die Urteilswirkungen ermittelt werden, um daraus eine Bezeichnung als deklaratorisch oder konstitutiv zu rechtfertigen. Ebenso unergiebig ist die Tatsache, dass die Unwirksamkeit im Unionsrecht durch eine autoritative Entscheidung erkannt wird. Sowohl eine ex tuncWirkung, als auch eine ex nunc-Wirkung lassen sich damit kombinieren. Eine Normenkontrollentscheidung kann feststellen, was schon gilt, oder eine Aufhebung vornehmen, die zurückwirkt oder nicht. Die Bündelung der Entscheidung bei einer bestimmten Instanz dient vor allem dem Schutz des Normset-

366

115 f.

Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 64 ff.,

367 B.J. Schneider, Die Funktion der Normenkontrolle und des richterlichen Prüfungsrechts, 1988, S. 35 f. versteht die ipso iure-Unwirksamkeit immer als deklaratorische, von Anfang an eintretende Unwirksamkeit, die nicht der (zusätzlichen) Bezeichnung als ex tunc bedarf. 368 Vgl. Schlaich/Korioth-Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Aufl. 2012, Rn. 379. 369 So aber wohl Koopmans, CamLJ 39 (1980), 287, 290; Toth, YbEL 4 (1984), 1, 13 f. 370 Ähnlich Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 408.

§ 3 Theoretische Grundlagen der Rückwirkung von Rechtsprechung

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zers und der Rechtssicherheit, weil widersprüchliche Entscheidungen unterschiedlicher Autoritäten verhindert werden. Rechtstheoretisch oder rechtslogisch ist nicht vorgegeben, auf welche Sachverhalte ein Unwirksamkeitsurteil anzuwenden ist.371 Die Entscheidung für eine der Rechtsfolgen ist eine Wertungsentscheidung der jeweiligen Rechtsordnung und ist daher aus dieser heraus zu beantworten.372 Die Frage der zeitlichen Wirkung spiegelt das Maß der Durchsetzung der vom (höherrangigen) Legislativorgan erlassenen Normen wider. Dieses enthält eine Aussage dahin, ob der Rechtsanwendungsbefehl des höherrangigen Normgebers oder der des niederen Normgebers stärker betont werden soll. Daher lässt sich aus der abstrakten Kompetenzordnung für diese Frage nichts ableiten. Vielmehr ist die Rückwirkungsfrage ein Detail der organschaftlichen Kompetenzordnung einer Rechtsordnung. Es besteht nicht einmal eine logische Verknüpfung zwischen der deklaratorischen Unwirksamkeitsfeststellung und ihrer anfänglichen oder rückwirkenden Rechtsfolge. Die Festlegung der zeitlichen Reichweite ist auch insoweit beliebig.373 Eine anfängliche Unwirksamkeit ist logisch nicht vorgegeben, und die Unwirksamkeit könnte ebenso erst eintreten, sobald die Rechtswidrigkeit der Norm festgestellt wurde.374 Eine mögliche Begründung dafür wäre es, an die faktische Geltung der Norm bis zur Normenkontrollentscheidung stets abstrakt gewährten Vertrauensschutz anzuknüpfen.375 Bestätigt wird dieser Befund durch einen Blick auf die verschiedenen Regelungen in den Mitgliedstaaten. Dort finden sich sowohl rückwirkende, als nur zukunftswirkende Entscheidungsformen.376 Dementsprechend würde für

371

Nettesheim, EuR 2006, 737, 748; Bettermann, FS Eichenberger, 1982, S. 593, 597 f.; HStR-Battis, 2. Aufl. 1992, § 165 Rn. 26; HStR-Löwer, 3. Aufl. 2005, § 70 Rn. 114; B.J. Schneider, Die Funktion der Normenkontrolle und des richterlichen Prüfungsrechts, 1988, S. 15; insoweit zustimmend auch Schlaich/Korioth-Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Aufl. 2012, Rn. 379 a.E.; wohl ebenso Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 42 f.; a.A. Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt, 1980, S. 192. 372 In diesem Sinne auch Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt, 1980, S. 159. 373 Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 51 Fn. 22; Böckenförde, Die sogenannte Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze, 1966, S. 25 f. 374 Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 51 Fn. 22. 375 Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, 1994, S. 563. 376 Vgl. Schmitz/Krasniqi, EuR 2010, 189, 197 ff.; Hufen/Nörr, Beschränkung von Urteilswirkungen im Falle der Feststellung der Verfassungswidrigkeit von Rechtsnormen, 2008, Teil 1, S. 10 f.

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Teil 2: Grundlagen

das Unionsrecht auch der Hinweis auf die „vorkonstitutionelle Herkunft“ einer bestimmten Rechtsfolge fehlgehen.377 II. Kein ipso iure-/ex tunc-Nichtigkeitsdogma im Unionsrecht Ist die Rechtsfolge der Rechtswidrigkeit einer Norm von der Gestaltung im Unionsrecht abhängig, so muss untersucht werden, welche Regelung in den Unionsverträgen getroffen wurde. Ausdrückliche Bestimmungen über die materiellen Fehlerfolgen bei Unionsrechtsakten finden sich in den Verträgen nicht. 1. Keine Ableitung aus den prozessualen Regelungen Unergiebig ist zuerst die Analyse der bestehenden prozessualen Regelungen. Die unionalen Regelungen der Art. 263 f., 267 und 277 AEUV enthalten keine einheitlichen Urteilswirkungen.378 a) Nichtigkeitsklage nach Art. 263 f. AEUV Die Nichtigkeitsklage mündet nach allgemeinem Verständnis in ein Gestaltungsurteil,379 welches die Rechtslage mit Eintritt der Rechtskraft des Urteils verändert.380 Dafür spricht der Wortlaut von Art. 264 Abs. 2 AEUV: „fortgelten“ können nur solche Wirkungen, die der Rechtsakt schon hatte.381 Diese vorherigen Wirkungen können nicht die Gültigkeitsvermutung sein, die jedem Unionsrechtsakt zukommt. Denn diese Vermutung wurde gerade widerlegt und kann daher logisch nicht fortgelten. Die Wirkungen in der Vergangenheit sind auch nicht nur faktische Wirkungen, denn solche kann ein Gericht durch Rechtsspruch nicht aufrechterhalten. Demnach hatte der Rechtsakt vorher rechtliche Wirkungen, zumindest insoweit, dass er von jedem Adressaten zu beachten war und die Rechtslage gestalten konnte.382 Erst die Nichti377

Zu diesem Argument vgl. schon Sigloch, JZ 1958, 80, 81 zum deutschen Recht. Hein, Inzidentkontrolle, 2001, S. 181 ff.; Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, 1994, S. 574 f. 379 Gesser, Die Nichtigkeitsklage nach Art. 173 EGV, S. 7 f., 237. 380 Schwarze-Schwarze, EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 264 AEUV Rn. 4; Hein, Die Inzidentkontrolle sekundären Gemeinschaftsrechts durch den Europäischen Gerichtshof, 2001, S. 98 f.; vgl. EuGH v. 12.2.2008 – Rs. C-199/06 CELF, Slg. 2008, I-469 Rn. 61; unklar hingegen z.B. EuGH v. 8.11.2001 – Rs. C-228/99 Silos e Mangimi Martini, Slg. 2001, I-8401 Rn. 36. 381 Calliess/Ruffert-Cremer, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 263 AEUV Rn. 1: „wie Art. 264 AEUV verdeutlicht“. 382 EuGH v. 15.6.1994 – Rs. C-137/29 P BASF, Slg. 1994, I-2555 Rn. 48; EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-475/01 Kommission ./. Griechenland, Slg. 2004, I-8923 Rn. 18; Pechstein, EU-Prozessrecht, 4. Aufl. 2011, Rn. 343; von der Groeben/Schwarze-Gaitanides, EUV/EGV, 6. Aufl. 2003, Art. 231 EG Rn. 2. 378

§ 3 Theoretische Grundlagen der Rückwirkung von Rechtsprechung

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gerklärung führt zur Unwirksamkeit des Rechtsakts. Die Wirkungen der Nichtigkeitsklage sprechen demnach gegen ein Nichtigkeitsdogma.383 Das Nichtigkeitsurteil wirkt für und gegen jedermann. Einer besonderen Anfechtung des Rechtsakts durch andere Adressaten bedarf es nicht. Dem Urteil kommt nach allgemeiner Ansicht Rückwirkung zu.384 Es beseitigt alle Wirkungen des aufgehobenen Rechtsakts auch für die Vergangenheit und entfernt ihn aus der Unionsrechtsordnung.385 b) Ungültigkeitsfeststellung nach Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV Das Urteil einer Ungültigkeitsvorlage soll hingegen deklaratorische Wirkung haben und die Ungültigkeit schon vorher ipso iure eingetreten sein.386 Dennoch verlangt der Gerichtshof, dass ein Unionsrechtsakt auch bei offensichtlichen Mängeln solange angewendet wird, bis die Ungültigkeit von ihm festgestellt worden ist.387 Darüber hinaus sind die Prüfungsmaßstäbe des Nichtigkeits- und des Gültigkeitsverfahrens vom Gerichtshof vereinheitlicht worden.388 Auch im Ergebnis haben Nichtigkeitsklage und Ungültigkeitsfeststellung gleiche Wirkungen.389 Der Feststellung der Ungültigkeit kommt Rückwirkung zu, die gegenüber allen anderen Rechtsunterworfenen gilt.390 Die Wirkungen der Ungültigkeitsvorlage ließen sich also mit einem Nichtigkeitsdogma in Einklang bringen. Sie sind jedoch nicht eindeutig, denn sowohl Wortlaut als auch Systematik sind dahingehend nicht zwingend.391 383

Ebenso Willers, Verfassungsgerichtliche Übergangsfristen im Mehrebenensystem, 2011, S. 36. 384 EuGH v. 26.4.1988 – verb. Rs. 97/86, 193/86, 99/86 und 215/86 Asteris, Slg. 1988, 2181 Rn. 30; EuGH v. 12.2.2008 – Rs. C-199/06 CELF, Slg. 2008, I-469 Rn. 61; EuG v. 9.9.2010 – Rs. T-348/07 Stichting Al-Aqsa, Slg. 2010, II-4575 Rn. 40; Lengauer, Nichtigkeitsklage vor dem EuGH, 1998, S. 20. 385 Das EuG sieht letzteres als das Wesen der Nichtigkeitserklärung an, s. nur EuG v. 6.7.2011 – Rs. T-142/11 SIR ./. Rat, ECLI:EU:T:2011:333 Rn. 22; EuG v. 31.1.2012 – Rs. T-527/09 Ayadi ./. Kommission, ECLI:EU:T:2012:35 Rn. 30. 386 Lewis, Remedies and the Enforcement of European Community Law, 1996, S. 248; wohl auch Schwarze-Schwarze, EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 267 AEUV Rn. 21 („rechtswidrig und daher nichtig“); vgl. Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, 1994, S. 573 f. 387 EuGH v. 28.2.1989 – Rs. 201/87 Cargill, Slg. 1989, 489 Rn. 21 f. 388 Pechstein, EU-Prozessrecht, 4. Aufl. 2011, Rn. 861. 389 Pechstein, EU-Prozessrecht, 4. Aufl. 2011, Rn. 866; Rengeling/Middeke/Gellermann-Middeke, EU-Rechtsschutz, 3. Aufl. 2014, § 10 Rn. 105, Streil, Das Vorabentscheidungsverfahren als Bindeglied zwischen europäischer und nationaler Rechtsprechung, 1983, S. 69, 81. 390 Zur Entwicklung dieses allgemein anerkannten Grundsatzes in der Rechtsprechung des EuGH Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 191 ff. 391 Im Ergebnis ebenso Hein, Inzidentkontrolle, 2001, S. 182.

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c) Inzidentrüge nach Art. 277 AEUV und Einrede der Rechtswidrigkeit Die Inzidentrüge nach Art. 277 AEUV ist eine „inzidente Feststellungsklage, die auf eine konkrete Normenkontrolle gerichtet ist“.392 Sie wirkt unmittelbar nur zwischen den Parteien. Insoweit muss ihr grundsätzlich Rückwirkung zukommen, denn anderenfalls könnte sich die klagende Partei überhaupt nicht auf die Unanwendbarkeit berufen. Darüber hinaus hat die Unanwendbarkeitserklärung nur faktische Wirkung auf andere vergangene oder zukünftige Verfahren, soweit diese noch nicht bestands- oder rechtskräftig geworden sind. Damit ist gemeint, dass das erlassende Unionsorgan den fraglichen Rechtsakt selbst ändern kann.393 Ein anderer Kläger kann sich in einem Prozess nicht auf die Unanwendbarkeitserklärung berufen, sondern muss eine neue entsprechende Feststellung (im Wege des Art. 277 AEUV) erstreiten.394 Diese Unanwendbarkeitserklärung hätte dann selbstverständlich ebenso grundsätzlich Rückwirkung wie die erste. Art. 277 AEUV ist Ausdruck eines allgemeinen Grundsatzes des Unionsrechts, wonach jeder Kläger die Rechtswidrigkeit der Grundlage einer ihn belastenden Handlung rügen kann (sogenannte Einrede der Rechtswidrigkeit).395 Dieser Grundsatz wurde von den europäischen Gerichten bisher aber nur herangezogen, um die Reichweite der Vorläuferbestimmungen des Art. 277 AEUV auf dessen heutiges Niveau zu erweitern396 oder eine Vorlagemöglichkeit für nationale Gerichte zu schaffen397. Die Wirkungen einer Einrede der Rechtswidrigkeit entsprechen denen des Art. 277 AEUV, insbesondere verbleibt es beim Entscheidungsmonopol des Gerichtshofs. d) (Partielle) Unanwendbarkeit nach Art. 267 Abs. 1 lit. a), b) AEUV Als vierte Fehlerkategorie hat sich die (partielle) Unanwendbarkeit nach der Skoma-Lux-Rechtsprechung398 durchgesetzt. Bei einem Verstoß gegen die Veröffentlichungspflichten ist der Rechtsakt nicht gänzlich unwirksam, sondern darf nur keine belastende Wirkung für alle oder einen Teil der Unions392

Ehle, MDR 1964, 719. Schwarze, FS Schlochauer, 1981, S. 927, 938 f.; Grabitz/Hilf/NettesheimStoll/Rigod, Das Recht der Europäischen Union, 51. EL 2013, Art. 277 AEUV Rn. 15. 394 Anders Daig, Nichtigkeits- und Untätigkeitsklagen im Recht der Europäischen Gemeinschaften, 1985, S. 193, der zumindest mittelbare Rechte für die Zukunft ableitet. 395 Hein, Die Inzidentkontrolle sekundären Gemeinschaftsrechts durch den Europäischen Gerichtshof, 2001, S. 36. 396 EuG v. 26.10.1993 – verb. Rs. T-6/92 und T-52/92 Reinarz ./. Kommission, Slg. 1993, II-1047 Rn. 56. 397 EuGH v. 15.2.2001 – Rs. C-239/99 Nachi Europe, Slg. 2001, I-1197 Rn. 35. 398 Obajtek, DeLuxe 5/2008 S. 1 sieht dies schon in EuGH v. 25.1.1979 – Rs. 98/78 Racke, Slg. 1979, 69 Rn. 15 begründet; die Rs. Racke zitiert auch EuGH v. 12.7.2012 – Rs. C-146/11 Pimix, ECLI:EU:C:2012:450 Rn. 33; dezidiert anders Bobek, The Binding Force of Babel, 2007, S. 19 f. 393

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bürger entfalten.399 Die mitgliedstaatlichen Hoheitsträger bleiben hingegen vollumfänglich an den Inhalt des Rechtsakts gebunden.400 Der Rechtsakt ist jedoch nicht nichtig oder ungültig im Sinne von Art. 264 Abs. 1 AEUV oder Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV; vielmehr bezeichnet der EuGH die partielle Unanwendbarkeit ausdrücklich als Unterfall der Auslegung des höherrangigen Unionsrechts und ordnet sie dem Auslegungsverfahren nach Art. 267 Abs. 1 AEUV zu.401 Die Feststellung der partiellen Unanwendbarkeit ist beim Gerichtshof monopolisiert; sie kann nur von ihm im Auslegungsverfahren nach Art. 267 Abs. 1 lit a), b) AEUV getroffen werden.402 Die partielle Unanwendbarkeit wirkt wie die anderen Unwirksamkeiten auf den Erlasszeitpunkt des fraglichen Rechtsakts zurück. Die Anbindung an das Auslegungsverfahren spricht dafür, dass der Gerichtshof hier von einer deklaratorischen Wirkung seiner Erklärung ausgehen dürfte. e) Zwischenergebnis Die Feststellung der Rechtswidrigkeit eines Unionsrechtsakts bedarf stets einer ausdrücklichen Entscheidung des Gerichtshofs, wenngleich diese nicht immer tenoriert wird. Daher ist nicht erkennbar, ob die Ausgestaltung des Prozessrechts auf einem Dogma der ipso iure-Unwirksamkeit beruht.403 Die Nichtigkeitsklage deutet in Richtung einer konstitutiven Erklärungswirkung, während die Unanwendbarkeitsvorlage und die Inzidentrüge einer deklaratorischen Wirkung zuneigen. Die Ungültigkeitsvorlage wäre mit beiden Fundierungen zu erklären. 2. Keine Ableitung aus der Bindungswirkung eines Urteils Mangels eindeutiger Regelungen im positiven Unionsrecht könnte man versuchen, aus der Bindungswirkung eines Urteils abzuleiten, ob dieses eine ipso iure-Nichtigkeit oder eine Gestaltungswirkung voraussetzt. So geht Schilling davon aus, dass eine erga omnes-Wirkung sowohl konstitutiv als auch deklaratorisch zu erreichen sei. Hingegen verlange das inter partes wirkende Urteil eine (deklaratorische) ipso iure-Nichtigkeit/Unanwendbarkeit. Da „hier eine generelle Entscheidung über die Rechtsfolge des Kompetenzverstoßes bzw. der Normenkollision nicht vorgesehen ist, ist die Nichtanwendung der ‚schwächeren‘ Norm nur mit der Begründung möglich, diese sei ipso iure 399

EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-161/06 Skoma-Lux, Slg. 2007, I-10841 Rn. 51. Siehe auch noch unten § 5 D.II.2., S. 128. 400 EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-161/06 Skoma-Lux, Slg. 2007, I-10841 Rn. 59. 401 EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-161/06 Skoma-Lux, Slg. 2007, I-10841 Rn. 57 ff. 402 EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-161/06 Skoma-Lux, Slg. 2007, I-10841 Tenor Nr. 2. 403 Ebenso Hein, Inzidentkontrolle, 2001, S. 183 f.; anders Busse-Muskala, Normenkontrolle in der Europäischen Union, 2007, S. 216.

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(und ex tunc) überspielt.“404 Differierende Regelungen über die Rechtsfolgen einer Rechtswidrigkeit seien nicht erstrebenswert, weswegen eine Vereinheitlichung auf die durch das Ungültigkeits- und das Inzidentverfahren zwingend vorgegebene Regelung des Nichtigkeitsdogmas erfolgen müsse.405 Diese Argumentation trägt jedoch nur für den Fall, dass die Nichtanwendung durch jede beliebige Instanz erfolgen kann und nicht – wie im Unionsrecht – bei einem Gericht gebündelt ist. Ein Unionsrechtsakt kann nur auf den oben genannten Wegen (Nichtigkeitsklage, Ungültigkeits- und Auslegungsvorlage, Inzidentrüge) für unwirksam erklärt werden, und bei allen Varianten ist die Aufhebungsentscheidung des EuGH notwendige Voraussetzung. Anders gewendet: Eine ipso iure-Nichtigkeit muss auch von jedermann jederzeit ohne besondere Verfahren geltend gemacht werden können.406 Anderenfalls hat sie gegenüber der konstitutiven, rückwirkenden Aufhebung keinen Unterscheidungs- und Mehrwert.407 Genau an diesem Merkmal fehlt es im Unionsrecht. Eine ipso iure-Nichtigkeit, die in unterschiedlichen Verfahren zu unterschiedlichen Wirkungen führt, ist nicht vorstellbar.408 Hier zeigt sich der Unterschied zur bloßen Auslegung von Normen, die von jedem Gericht selbst vorgenommen werden kann. Dort stellt lediglich der Instanzenzug ein Mindestmaß an Einheitlichkeit sicher.409 3. Keine Ableitung aus der Rückwirkung der Auslegung In gleicher Weise lässt sich die Rückwirkung der Auslegung nicht für eine zwingende ex tunc-Wirkung der Unwirksamkeit fruchtbar machen. Zwar beruht die Unwirksamkeit immer auf einer doppelten Auslegung des Unionsrechts (des höherrangigen und des aufzuhebenden), jedoch ist damit nur festgestellt, dass ab dem Inkrafttreten beider Normen ein Normkonflikt vorliegt. Dieser Konflikt muss nicht denknotwendig auch für die Zeit vor seiner Feststellung durch den dazu berufenen Gerichtshof zu Gunsten des höherrangigen Rechts aufgelöst werden.

404

Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, 1994, S. 564; genau a.A. insoweit Hein, Die Inzidentkontrolle sekundären Gemeinschaftsrechts durch den Europäischen Gerichtshof, 2001, S. 168, 178. 405 Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, 1994, S. 574 f. 406 Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 57. 407 Nettesheim, EuR 2006, 737, 749. 408 Toth, YbEL 4 (1984), 1, 13 f.; a.A. Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, 1994, S. 575. 409 Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 67. Siehe auch oben § 3 C.IV.2.b)cc) a.E., S. 36 f.

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4. Keine Ableitung aus Prinzipien des materiellen Unionsrechts Schließlich wird argumentiert, ein Dogma der ex tunc- und ipso iureUnwirksamkeit folge aus den materiellen Grundsätzen des Unionsrechts. Auf das Unionsrecht überträgt Hein die Lehre Ipsens, wonach ein Nichtigkeitsdogma aus drei Voraussetzungen folge.410 Erforderlich seien die Stufenordnung des Rechts, die Einheit und Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung sowie die unmittelbare Geltung der Grundrechte, wobei letztere nur die Relevanz der Rechtsfolgenfrage zum Ausdruck bringe.411 Daraus folge ein „festgefügtes Dogma“ der ex tunc-/ipso iure-Nichtigkeit.412 Ausdruck der Stufenordnung des Unionsrechts sei das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, aus dem die Höherrangigkeit des Primärrechts unmittelbar folge.413 Weiterhin ergebe sich aus dem Vorrang und der Eigenständigkeit des Unionsrechts das Gebot der Einheitlichkeit des Unionsrechts, welches durch das Ungültigkeitsvorlageverfahren prozessual flankiert werde.414 Schließlich sei das Primärrecht zumindest teilweise unmittelbar anwendbar und die Union an die Grundrechte gebunden.415 Im Ergebnis stehe vor allem das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung einer Gültigkeitsvermutung, wie sie vom EuGH postuliert wird, entgegen.416 Da auch ohne ipso iure-Nichtigkeit das höherrangige Recht den Maßstab der Rechtswidrigkeitsprüfung für niederrangigeres Recht bildet,417 ist die Existenz einer Stufenordnung418 nur Vorbedingung für das eigentliche Argument419, nämlich die „Unverbrüchlichkeit des höherrangigen Rechts“. Ipsen macht den „Unverbrüchlichkeitsgrundsatz“ jedoch nur für die Verfassungswidrigkeit geltend. Übertragen auf das Unionsrecht ließe sich damit bestenfalls primärrechtswidriges Recht, nicht aber beispielsweise sekundärrechtswidriges Tertiärrecht beurteilen.420 Für beide Varianten sieht das Unionsrecht 410

Hein, Inzidentkontrolle, 2001, S. 185 ff. Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt, 1980, S. 73 ff., 189. 412 Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt, 1980, S. 169. 413 Hein, Inzidentkontrolle, 2001, S. 186. 414 Hein, Inzidentkontrolle, 2001, S. 187. 415 Hein, Inzidentkontrolle, 2001, S. 187. 416 Hein, Inzidentkontrolle, 2001, S. 189 f. 417 Ähnlich Bettermann, FS Eichenberger, 1982, S. 593, 597. 418 Zur Ableitung der Normenhierarchie im Unionsrecht aus Art. 13 Abs. 2 S. 1 EUV i.V.m. Art. 263, 288 AEUV siehe Nettesheim, EuR 2006, 737, 746 und Hofmann, Normenhierarchien im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000, S. 23 ff. Ohne besondere Ableitung geht auch Kokott, FS Hirsch, 2008, S. 117 ff. von ihrer Existenz aus. 419 Vgl. Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt, 1980, S. 159 ff., 192. 420 Insoweit unklar Hein, Inzidentkontrolle, 2001, S. 180 ff. 411

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jedoch einheitliche Klagearten und einheitliche Rechtsfolgen vor. Gleichzeitig leitet Ipsen diesen Grundsatz aus positiven (deutschen) Verfassungsnormen ab. Diese spezifische Argumentation ist daher schon im nationalen Kontext nicht auf andere Normkollisionen übertragbar und führt für das Unionsrecht erst recht nicht weiter. Darüber hinaus lässt sich ein „Unverbrüchlichkeitsgrundsatzes“ im Unionsrecht nicht begründen. Normen oder Grundsätze ähnlich der von Ipsen bemühten Art. 79 Abs. 3, 123, 146 a.F. GG existieren im Unionsrecht nicht. Aus der bloßen Verbindlichkeit der Verträge oder der Unionsgrundrechte für die Unionsorgane lässt sich nicht mehr als eine Rangordnung ableiten, insbesondere keine Fehlerfolgenlehre. Zwar ist auch im Unionsrecht ein Prinzip der Einheit und Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung anerkannt.421 Der Verweis darauf genügt jedoch nicht, denn Widerspruchsfreiheit ließe sich ebenso mittels eines konstitutiv-rückwirkenden Aufhebungsakts herstellen.422 Die „Unverbrüchlichkeit“ soll zusätzlich einer zeitweiligen rechtlichen Geltung widersprechenden rangniederen Rechts entgegenstehen. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung als (horizontale) Kompetenzregelung423 wird überspannt, wenn mit ihm jegliche (Primär-)Rechtsverletzung sanktioniert und die Nichtanwendung normativen Unionsrechts durch die nationalen Behörden ermöglicht werden soll.424 Argument für ein Nichtigkeitsdogma ist dann nicht mehr die Widerspruchsfreiheit des Unionsrechts, sondern die „Unverbrüchlichkeit“ der mitgliedstaatlichen Kompetenzen. Letztere werden ausreichend mittels der Rügemöglichkeit in allen wesentlichen Verfahrensarten gewährleistet.425 Weiterhin diskreditiert eine Gültigkeitsvermutung für eine rechtswidrige Unionsnorm nicht den Geltungsanspruch des höherrangigen Rechts, wenn mittels einer Rückwirkungsfiktion der Rechtsverstoß für alle Sachverhalte beseitigt wird. Gleichzeitig ließe sich argumentieren, dass die Unionsrechtsordnung dem Sekundärgesetzgeber die Kompetenz einräumt, den Geltungsanspruch des Primärrechts durch Normgebung insoweit einzuschränken. Ob 421 Allgemein Petersen, EG-Richtlinienumsetzung und Übergangsgerechtigkeit, 2008, S. 118 ff.; zum Europäischen Privatrecht z.B. Riesenhuber, System und Prinzipien, 2003, S. 52 f.; vgl. auch Riesenhuber-Leible/Domröse, Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 8 Rn. 19 und Streinz, Europarecht, 9. Aufl. 2012, Rn. 760. Zum hier nicht gemeinten Prinzip der Einheitlichkeit der Unionsrechtsordnung im Sinne der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts z.B. v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und Europäische Integration, 1996, S. 118 ff. 422 Es dürfte sogar ein konstitutiv-prospektiver Aufhebungsakt genügen. 423 v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und Europäische Integration, 1996, S. 97 f.; Dauses-v. Danwitz, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, 32. EL 2013, B II Rn. 3. 424 So aber Hein, Inzidentkontrolle, 2001, S. 189 f. Wie hier i.Erg. wohl auch BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, Rn. 56 ff. (Honeywell). 425 Vgl. Grabitz/Hilf/Nettesheim-Bast/v. Bogdandy, Das Recht der Europäischen Union, 51. EL 2013, Art. 5 EUV Rn. 31.

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dabei die empirische Erfahrung der überwiegenden Rechtmäßigkeit trägt, kann dahinstehen.426 Jedenfalls gewährt eine Rechtsordnung, die besondere Aufhebungsverfahren für Rechtsnormen vorsieht, dem Normgeber einen Vertrauensvorschuss.427 Das Prinzip der Rechtssicherheit kann ebenso nicht zur Begründung einer ipso iure-Nichtigkeit herangezogen werden.428 Aus Sicht des Rechtsadressaten tritt Gewissheit über die Rechtslage erst mit einem verbindlichen Gerichtsurteil ein. Auch die ipso iure-nichtige Unionshandlung setzt die höherrangige Norm „faktisch außer Kraft“, denn ihr kommt stets zumindest der Anschein der Geltung zu.429 Für die Frage nach der zeitlichen Wirkung des Gerichtsurteils macht es außerdem keinen Unterschied, ob die Rückwirkung stets als Fiktion einer konstitutiven Aufhebung oder als Folge einer deklaratorischen Entscheidung eintritt. Allein der Bezugspunkt des Vertrauens würde sich unterscheiden. Bei einer deklaratorischen Wirkung könnte nur an die vorgestellte faktische Rechtslage angeknüpft werden. Bei einer konstitutiven Wirkung ließe sich für den Vertrauensschutz auch auf die rückwirkend beseitigte, rechtliche Geltung der aufgehobenen Norm abstellen. Außerhalb der Rückwirkungsproblematik kommt es freilich zu weiteren Unterschieden.430 Daher gebietet schließlich auch die Gleichbehandlung der Wirkungen unionsrechtswidrigen Unionsrechts mit Wirkungen unionsrechtswidrigen nationalen Rechts kein Nichtigkeitsdogma. Zwar scheint das Unionsrecht „interne Widersprüche“ weniger streng zu behandeln, wenn es dort eine durch den EuGH zu widerlegende Gültigkeitsvermutung aufstellt und bei externen Widersprüchen jede nationale Stelle zur Durchsetzung des Unionsrechts auffordert.431 Jedoch soll durch die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV und den nationalen Instanzenzug faktisch dieselbe Wirkung erreicht werden. Die Unanwendbarkeit nationalen Rechts basiert so regelmäßig auf einer vorherigen Entscheidung des Gerichtshofs. Bei einer Rückwirkungsfiktion der Unwirksamkeitsentscheidungen sind dann auch die zeitlichen Wirkungen identisch.

426

Vgl. Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 75. Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 75. 428 A.A. Hein, Inzidentkontrolle, 2001, S. 189 f. 429 A.A. Hein, Inzidentkontrolle, 2001, S. 188. 430 Vgl. Hein, Inzidentkontrolle, 2001, S. 190. 431 Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, 1994, S. 575. Darauf weist auch Nettesheim, EuR 2006, 737, 748 hin. 427

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5. Erfordernis einer konstitutiven und rückwirkenden Aufhebungsentscheidung Mit der Ablehnung eines Nichtigkeitsdogmas ist das Bedürfnis nach einer möglichst konsistenten Fehlerfolgenlehre nicht verneint.432 Das zeigen schon die Bestrebungen des EuGH, die Wirkungen des Nichtigkeits- und Ungültigkeitsverfahrens zu vereinheitlichen. Die herausgearbeiteten Aussagen des Unionsrechts lassen sich wie folgt zusammenführen. Zuerst ist eine konstitutive Aufhebungsentscheidung des Gerichtshofs notwendig;433 die Geltungsvermutung einer Sekundärrechtsnorm muss widerlegt werden.434 Das klingt in der Regelung des Art. 264 Abs. 2 AEUV an, denn es liegt näher, bestehende Wirkungen eines Rechtsakts aufrechtzuerhalten als ihn „zum Leben zu erwecken“.435 Die unterschiedlichen Bezeichnungen der Unwirksamkeitsverfahren sind insoweit nur Ausdruck der verschiedenen Bindungswirkungen der EuGH-Urteile.436 Während Nichtigkeit und Ungültigkeit erga omnes verbindlich sind, führen Inzidentrüge und partielle Unanwendbarkeit nur zu einer präsumtiven Bindung anderer als der Beteiligten. Diese Inkonsistenz lässt sich zwar rügen,437 ist de lege lata aber hinzunehmen, weil beabsichtigt.438 Zudem kommt einer Aufhebungsentscheidung grundsätzlich Rückwirkung zu. Das folgt aus dem Anwendungsbefehl der höherrangigen Norm, der wie bei der Auslegung vom Erlasszeitpunkt an wirkt. Jenem wird durch eine Rückwirkungsfiktion am besten Rechnung getragen.439 Aus Gründen der Rechtssicherheit sind jedoch Ausnahmen möglich.

432

Vgl. Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, 1994, S. 575, der freilich zu einem anderen Ergebnis kommt. 433 Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 64 ff., 115 f. begründet dieses Ergebnis auch aus dem dezisionistischen Charakter der Auslegung. 434 Ein eingeschränkter Kontrollmaßstab im Sinne einer Rechtmäßigkeitsvermutung geht damit nicht zwingend einher; dazu Kokott, FS Hirsch, 2008, S. 117, 126 f. 435 Nettesheim, EuR 2006, 737, 749. 436 Nettesheim, EuR 2006, 737, 750; ebenso Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, 1994, S. 575; wohl auch Hein, Inzidentkontrolle, 2001, S. 190; a.A. Lenaerts/Maselis/Gutman, EU Procedural Law, 2014, 10.21 (S. 475), die aus dem Urteil einer Gültigkeitsvorlage nur eine Unanwendbarkeit der Unionsnorm ableiten. 437 Vgl. Hein, Inzidentkontrolle, 2001, S. 201 ff., 267 ff.; auch schon Matthies, FS Hallstein, 1966, S. 304, 318. 438 Germelmann, Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen in der Europäischen Union, 2009, S. 402. 439 Ebenso zum deutschen Recht im Rahmen seiner Theorie der autoritativen Geltungsbeendigung Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 410 f.

§ 3 Theoretische Grundlagen der Rückwirkung von Rechtsprechung

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6. Die Bedeutung der Lehre von den Nichtakten Bestätigt wird dieser Befund durch einen Blick auf die Lehre von den Nichtakten. Nichtakte sind Rechtsakte, die nicht einmal die Mindestanforderungen an das Zustandekommen erfüllen, weil sie offensichtliche und schwerwiegende Fehler aufweisen.440 Die Nichtexistenz kann jederzeit ohne verfahrensmäßige Beschränkungen geltend gemacht werden. Die Gültigkeitsvermutung des Sekundärrechts wird dabei durchbrochen, weshalb es einer Widerlegung dieser Vermutung nicht bedarf.441 Die Theorie von den Nichtakten beschreibt eine materielle Fehlerfolge. Sie ist losgelöst von den Verfahrensarten der Unionsverträge und bisher noch nicht befriedigend in diese eingepasst worden.442 Die Inexistenz erfasst alle Handlungsformen der Union; auch abstrakt-generelle Regelungen können unbeachtlich sein.443 Die Inexistenz kann von jeder Partei in jedem Verfahren ohne Rücksicht auf Fristabläufe geltend gemacht werden.444 Damit entspricht deren Dogmatik gerade dem propagierten Nichtigkeitsdogma. Da die Inexistenz als begrenzte Ausnahme zu den Rechtsfolgen einer Rechtswidrigkeit formuliert ist, muss der Grundsatz abweichend davon, also ohne ipso iureNichtigkeit, ausgestaltet sein.445 III. Ergebnis für das Unionsrecht Welche Folgen die Rechtswidrigkeit eines Rechtsakts hat, ist einer Rechtsordnung nicht vorgegeben. Das Unionsrecht kennt kein Dogma, nach dem eine Handlung ipso iure und ex tunc unwirksam ist. Die Rechtswidrigkeit führt dennoch grundsätzlich zur Aufhebbarkeit in einem der Unwirksamkeitsverfahren. Wird der Rechtsakt (teilweise) aufgehoben, so wirkt dies grundsätzlich zurück. Eine Unterscheidung nach dem Abstraktionsgrad des Rechtsakts ist dem Unionsrecht fremd. Allein die Bindungswirkung des EuGH-Urteils variiert je nach Verfahrensart. Im Vergleich zum Auslegungsverfahren stellt die konstitutive Aufhebungsentscheidung einen Unterschied dar. Die rechtliche und nicht nur fakti440 Annacker, Der fehlerhafte Rechtsakt im Gemeinschafts- und Unionsrecht, 1998, S. 81 f. 441 Annacker, EuZW 1995, 755, 756. 442 Hein, Inzidentkontrolle, 2001, S. 197; weniger kritisch Bülow, Die Relativierung von Verfahrensfehlern im Europäischen Verwaltungsverfahren und nach §§ 45, 46 VwVfG, 2007, S. 25. 443 Ohne Einschränkung auf bestimmte Handlungen auch Pechstein, EU-Prozessrecht, 4. Aufl. 2011, Rn. 379 ff. 444 Annacker, EuZW 1995, 755, 759; Busse-Muskala, Normenkontrolle in der Europäischen Union, 2007, S. 221. 445 Vgl. Annacker, Der fehlerhafte Rechtsakt im Gemeinschafts- und Unionsrecht, 1998, S. 123.

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Teil 2: Grundlagen

sche Geltung der unwirksamen Unionshandlung ermöglicht, den Vertrauensschutz daran anzuknüpfen. F. Zeitliche Wirkung in sonstigen Verfahrensarten I.

Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 ff. AEUV

Die sonstigen Verfahrensarten des Unionsrechts sind nicht rechtsgestaltend. Insbesondere das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 ff. AEUV ist insoweit deklaratorischer Natur.446 Grund ist, dass der Gerichtshof dort nur eine Auslegung des Unionsrechts vornimmt und damit kein Unionsrechtsakt in seiner Geltungsvermutung überwunden werden muss. Ob der EuGH darüber hinaus zu konkreten Anweisungen über die Modalitäten der Beseitigung des Verstoßes an die Mitgliedstaaten befugt ist, ist damit nicht beantwortet.447 Dagegen lässt sich anführen, dass die Verträge keine entsprechende Ermächtigung enthalten. Auch ist in Art. 260 AEUV ein Ausspruch über einen Folgenbeseitungsanspruch nicht vorgesehen.448 Die Feststellung der Vertragsverletzung ist dabei weder für die Auslegung des Unionsrechts und die sich daraus ergebende Rechtswidrigkeit des nationalen Verhaltens (z.B. der nationalen Norm) noch für andere Rechtsfolgen eines Unionsrechtsverstoßes konstitutiv. Die Auslegung oder Fortbildung einer Unionsnorm durch den Gerichtshof im Vertragsverletzungsverfahren wirkt wie im Auslegungsvorlageverfahren.449 Ihr kommt daher Rückwirkung zu,450 weshalb das gerügte nationale Verhalten von Anfang an rechtswidrig war. Hierfür lässt sich gerade auf die Rechtsprechung zum unionalen Staatshaftungsanspruch verweisen. In der Rechtssache Francovich hatte der Gerichtshof den Schadensersatzanspruch allein auf die Rechtswidrigkeit des mitgliedstaatlichen Verhaltens, nicht aber auf deren Feststellung im vorangegangenen Vertragsverletzungsverfahren gestützt.451 Es bedarf auch keiner

446

Prete/Smulders, CMLRev 47 (2010), 9, 47. Vgl. zum Streit Streinz-Ehricke, EVU/AEUV, 2. Aufl. 2011, Art. 260 Rn. 8. 448 Streinz-Ehricke, EVU/AEUV, 2. Aufl. 2011, Art. 260 Rn. 8 m.w.N.; Pechstein, EUProzessrecht, 4. Aufl. 2011, Rn. 311; a.A. Petersen, EG-Richtlinienumsetzung und Übergangsgerechtigkeit, 2008, S. 341 ff. 449 Eine Ähnlichkeit der vorgenommenen Auslegung erkennt auch Tsikrikas, Die Wirkungen der Urteile des Europäischen Gerichtshofs im Vertragsverletzungsverfahren (Art. 169 ff. EWGV), 1990, S. 142 f., wenngleich er daraus zwar auf eine ex nuncBindungswirkung, für beide Verfahren (ders., a.a.O., S. 151 f.) aber auf eine rückwirkende Schadensbeseitigungspflicht (ders., a.a.O., S. 172 ff.) schließt. 450 Für grundsätzliche ex nunc-Wirkung bei ausnahmsweiser ex tunc-Wirkung auf Basis der Urteilswirkung nicht der Normwirkung hingegen Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 59 ff. 451 EuGH v. 19.11.1991 – Rs. C-6/90 Francovich und Bonifaci, Slg. 1991, I-5357 Rn. 28 ff. 447

§ 3 Theoretische Grundlagen der Rückwirkung von Rechtsprechung

93

vorherigen Durchführung eines Vertragsverletzungsverfahrens zur Geltendmachung eines unionalen Staatshaftungsanspruchs.452 Das Vertragsverletzungsverfahren ist somit ein funktional dem Auslegungsverfahren ähnliches Instrument. Beide führen zu einem Ausspruch über den Inhalt des Unionsrechts und die Vereinbarkeit bestimmter nationaler Regeln damit. Beide enthalten in ihrem Tenor keine darüber hinausgehenden Feststellungen. II. Untätigkeitsklage nach Art. 265 f. AEUV Die Untätigkeitsklage ergänzt die Nichtigkeitsklage als Teil desselben Rechtsbehelfs, ist selbst aber eine Feststellungklage.453 Mit ihr soll eine konkrete Untätigkeit für rechtswidrig erklärt werden. Ob aus dem Tenor des die Untätigkeit feststellenden Urteils ein (rückwirkender) Folgenbeseitigungsanspruch abzuleiten ist, ist wiederum streitig, dürfte aber wie bei der Vertragsverletzungsklage zu verneinen sein.454 Ebenso wie dort verändert auch hier der Ausspruch des EuGH nicht die von Anfang an bestehende Rechtswidrigkeit der Untätigkeit. Die Auslegung des maßgeblichen höherrangigen Rechts wirkt auf dessen Erlasszeitpunkt zurück, weshalb sich dies auf die Rechtswidrigkeit auswirkt. G. Das Prinzip der Rechtssicherheit als Grundlage der Rückwirkungsbeschränkung Die grundsätzliche Rückwirkung von Auslegung und Unwirksamkeit kann im Einzelfall eingeschränkt werden. Basiert – wie hier vertreten – die Rückwirkung auf dem Anwendungsbefehl des Unionsrechts, so wird deutlich, dass dies nicht absolut gelten kann. Der Rechtsanwendungsbefehl als Ausprägung der Gesetzesbindung, des Demokratieprinzips und der Gewaltenteilung kann sich gegenüber gleichrangigen Rechtsgrundsätzen nur im Wege der Konkordanz durchsetzen.455 Für die zeitlichen Wirkungen der Rechtsprechung müssen demnach das Prinzip der Rechtssicherheit sowie andere höchstrangige Rechtsgrundsätze des Unionsrechts beachtet werden.

452 Umgekehrt führt aber ein Urteil, in dem eine Verletzung des Unionsrechts festgestellt wird, ohne Weiteres zu einem offenkundigen qualifizierten Verstoß, EuGH v. 5.3.1996 – verb. Rs. C-46/93 und C-48/93 Brasserie du pêcheur, Slg. 1996, I-1029 Rn. 57; EuGH v. 23.4.2008 – Rs. C-201/05 Test Claimants in the CFC and Dividend Group Litigation, Slg. 2008, I-2875 Rn. 123. 453 Streinz-Ehricke, EUV/AEUV, 2. Auf. 2011, Art. 265 AEUV Rn. 1 m.w.N. 454 Streinz-Ehricke, EUV/AEUV, 2. Auf. 2011, Art. 266 AEUV Rn. 13. 455 Für Rechtsprechungsänderungen erlaubt Pohl, Rechtsprechungsänderung und Rückanknüpfung, 2005, S. 194 Rückwirkungen nur unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit.

94 I.

Teil 2: Grundlagen

Rechtssicherheit im Unionsrecht

Rechtssicherheit und Vertrauensschutz sind als Rechtsprinzipien des Unionsrechts vom EuGH anerkannt. Dabei wird Vertrauensschutz regelmäßig als Ausfluss des Prinzips der Rechtssicherheit angesehen.456 Beide sind als ungeschriebene Rechtsgrundsätze von primärrechtlichem Rang.457 Ungeachtet einiger Inkonsistenzen458 wird Rechtssicherheit herkömmlich als ein objektiver Grundsatz angesehen, der Klarheit und Genauigkeit von Normen und Einzelregelungen verlangt, während Vertrauensschutz als dessen subjektivrechtliche Komponente bezeichnet wird.459 Dies zeigt sich vor allem darin, dass Rechtssicherheit regelmäßig zur Begründung von Regelungen verwendet wird, die für den Einzelnen nachteilig sind.460 Ihr objektiver Gehalt geht letztlich auf die Anerkennung der Gleichheit aller Menschen zurück und ist somit Ausdruck der Menschenwürde,461 wie sie im Unionsrecht nach Art. 6 Abs. 1 EUV in Verbindung mit Art. 1 EuGRC ebenso anerkannt ist462. II. Rechtssicherheit und Rechtsprechung Die Anerkennung des Grundsatzes der Rechtssicherheit im Unionsrecht im Allgemeinen gebietet freilich noch nicht seine Berücksichtigung gegenüber der Rechtsprechung des EuGH.463 Indes sprechen gute Gründe dafür, im Einzelfall auch die Judikativtätigkeit daran zu messen.464

456

EuGH v. 19.9.2000 – verb. Rs. C-177/99 und C-181/99 Ampafrance und Sanofi, Slg. 2000, I-7013 Rn. 67; EuGH v. 18.5.2000 – Rs. C-107/97 Rombi und Arkopharma, Slg. 2000, I-3367 Rn. 66. 457 Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 38; vorsichtiger Hatje, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz, 2008, S. 223, 224. 458 Vgl. Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, 2002, S. 388 ff. 459 GA Cosmas, SchlA v. 8.6.1995 – Rs. C-63/93 Duff u.a., Slg. 1996, I-569 Rn. 25; Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 37; v. Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, S. 147 f.; Galetta, Der Vertrauensschutz aus der Perspektive des italienischen Verwaltungsrechts (im Vergleich mit der deutschen und der gemeinschaftsrechtlichen Perspektive), 2008, S. 203, 221; M. Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung, 2010, S. 142; zur vergleichbaren deutschen Diktion Pohl, Rechtsprechungsänderung und Rückanknüpfung, 2005, S. 174 m.w.N. 460 v. Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, S. 148. 461 v. Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, S. 149. 462 Zuvor schon EuGH v. 9.10.2011 – Rs. C-377/98 Niederlande ./. Parlament und Rat, Slg. 2001, I-7079 Rn. 70; EuGH v. 14.10.2004 – Rs. C-36/02 Omega, Slg. 2004, I-9609 Rn. 34; EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05 Laval, Slg. 2007, I-11767 Rn. 94. 463 Vonkilch, Das Intertemporale Privatrecht, 1999, S. 337. 464 Vorsichtiger noch Streil, Das Vorabentscheidungsverfahren als Bindeglied zwischen europäischer und nationaler Rechtsprechung, 1983, S. 69, 83 („vertretbar“).

§ 3 Theoretische Grundlagen der Rückwirkung von Rechtsprechung

95

Das Prinzip der Rechtssicherheit beeinflusst als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts die Erfüllung jeglicher unionaler Aufgaben und die Wahrnehmung sämtlicher Kompetenzen durch die Unionsorgane.465 Dazu gehört selbstverständlich auch die Judikative. Eine ihrer Funktionen ist es, Rechtssicherheit zu schaffen. Das ist eng mit dem Streben nach Einheitlichkeit des Unionsrechts verknüpft und findet eine Ausprägung in der Bindungswirkung der EuGH-Urteile. Kehrseite der Sicherstellung von Kontinuität und Vorhersehbarkeit der Rechtsprechung muss dann sein, dass die Rechtsunterworfenen sich darauf verlassen, also vertrauen können; anderenfalls könnte auf beides auch verzichtet werden.466 Dem lässt sich nicht entgegenhalten, dass Vertrauen in die Kontinuität von Rechtsprechung rein soziologisch-faktisches Vertrauen ist. Als Begründung dafür kann insbesondere nicht angeführt werden, Rechtsprechung ließe sich ohne besondere Schranken ändern, weshalb es an einer Basis für Vertrauensschutz fehlt. Wie oben unter D.II.1.d) (S. 68 ff.) ausgeführt, kann sich Rechtsprechung gerade nur deshalb frei ändern, weil eventuelles Vertrauen der Betroffenen auf der Ebene der zeitlichen Wirkung besser berücksichtigt werden kann. Das Vertrauen in die augenscheinliche Rechtslage ist daher nicht nur faktischer Natur, sondern auch rechtlich relevant. Zu Recht wurde die Rückwirkungsrechtsprechung des Gerichtshofs daher verbreitet gelobt. Sie ermögliche die Berücksichtigung praktischer Bedürfnisse und verschließe die Augen nicht vor den bedeutsamen Auswirkungen der EuGH-Urteile.467 Zudem ist der Grundsatz der Rechtssicherheit nicht zu allgemein gefasst, um die „rechtsrichtige“ Lösung des spezielleren einfachen Rechts zu modifizieren.468 Die Vertreter dieser Ansicht sind schon nicht konsequent, wenn sie davon ausgehen, dass die zeitliche Dimension einer Rechtsprechungsänderung nicht verändert werden könnte (kein prospective overruling), das Ob der Rechtsprechungsänderung sich aber sehr wohl nach den Kriterien der Vorher-

465

Raitio, The Principle of Legal Certainty in EC Law, 2003, S. 187 ff.; Tridimas, The General Principles of EU Law, 2. Aufl. 2007, S. 242 ff.; v. Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, S. 497 ff. 466 Z.B. Keil, Die Systematik privatrechtlicher Rechtsprechungsänderungen, 2007, S. 240 ff. In diesem Sinne auch Vogel, StuW 2005, 373, 375, der in der Rückwirkungsbeschränkung die Außerkraftsetzung der Bindungswirkung der EuGH-Entscheidung sieht. 467 Harding, YbEL 1 (1981), 93, 111 f.; Bernhardt, Verfassungsprinzipien – Verfassungsgerichtsfunktionen – Verfassungsprozeßrecht im EWG-Vertrag, 1987, S. 162, 259; Schlockermann, Rechtssicherheit als Vertrauensschutz in der Rechtsprechung des EuGH, 1984, S. 148; Mead, MR 1988, 260, 262; Alexander, YbEL 8 (1988), 11, 24; Morris/Morrow/Spink, MLR 1996, 893, 897; Gundel, EWS 2009, 350, 358. 468 Vgl. Bydlinski, JZ 1985, 149, 153; ders., JBl 2001, 2, 15, der freilich das Unionsrecht davon ausnehmen möchte.

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Teil 2: Grundlagen

sehbarkeit oder Kontinuität beurteilt.469 Wieso die Rechtssicherheit für ersteres zu grob, zu zweitem aber in der Lage sein soll, kann nicht überzeugend dargelegt werden. Damit ist eine Lösung, die Rechtssicherheit beachtet, durchaus primärrechtskonform.470 Darüber hinaus sind die „reinen“ Sachlösungen insoweit unterkomplex, wenn sie den Konflikt um etwaiges Vertrauen in eine frühere tatsächliche oder irrtümlich angenommene Rechtslage in ihrer Interessenabwägung ganz ausblenden. Schließlich kann Rechtssicherheit auch gewährt werden, ohne den Inhalt der jeweiligen Rechtsnorm oder ihre zeitliche Geltung zu verändern. Dafür eignet sich – wie vom Gerichtshof verwendet471 – eine Klagbarkeitsbeschränkung. Ebenso bleibt im dreistufigen Modell der Gesetzesanwendung472 das Auslegungsergebnis „richtig“ und wird lediglich aus Gründen der Rechtssicherheit nicht auf den Einzelfall angewendet.473 Im Zusammenhang mit der Rechtsprechungsrückwirkung verwendet der Gerichtshof den Begriff des Vertrauensschutzes generell nicht, sondern leitet die Rückwirkungsbeschränkung aus der Rechtssicherheit ab.474 Im Einklang damit unterliegt die Rückwirkungsbeschränkung objektiven Maßstäben, die vom konkreten Vertrauen der Rechtsbehelfsführer weitgehend unabhängig sind.475 Soweit im Folgenden von Vertrauensschutz die Rede ist und es sich auf die Rechtsprechungsrückwirkung bezieht, wird der Begriff demnach abweichend vom sonstigen Verständnis als subjektive Rechtsposition verstanden. H. Schlussfolgerungen für die Beschränkung der Rückwirkung Für die Untersuchung der Beschränkung einer Rückwirkung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ergeben sich folgende Schlussfolgerungen: Der zeitliche Abstand zwischen dem Geltungsbeginn einer Rechtsnorm und ihrer Klärung durch den EuGH ist strukturell bedingt. Er wird grundsätzlich durch Rückwirkung der Rechtsprechung geschlossen. Es obliegt den Rechtsunterworfenen, dies zu berücksichtigen und sich mit ihren Planungen 469 Einschränkend hingegen Bydlinksi, FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 3, 29 ff., der nur bei rechtlich gleichwertigen (Sach-)Lösungen den Grundsatz der Rechtssicherheit in Anschlag bringen will. 470 Vgl. Langenbucher, ZEuP 2006, 854, 867 f.; Langenbucher, JZ 2003, 1132, 1135 ff.; Neuner, FS Georgiades, 2005, S. 1231, 1243 ff. 471 Dazu eingehend unten § 7 A.II., S. 314 ff. 472 Vgl. Rüthers/Höpfner, JZ 2005, 21, 24 f.; Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 141 ff.; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl. 2013, Rn. 730b. 473 Auch dagegen wohl Juratowitch, Retroactivity and the Common Law, 2008, S. 215 zum englischen Recht. 474 Siehe nur EuGH v. 13.4.2010 – Rs. C-73/08 Bressol u.a., Slg. 2010, I-2735 Rn. 91. 475 Siehe unten § 6 B.II.1.b), S. 154 ff.

§ 3 Theoretische Grundlagen der Rückwirkung von Rechtsprechung

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darauf einzustellen. Diese Grundsätze gelten sowohl für die Auslegung (einschließlich der Rechtsfortbildung) als auch die Unwirksamkeit von Unionsrecht. Maßgeblich für die Bindungs- und Rückwirkung der Auslegung ist nicht die Verfahrensart, in der der Gerichtshof entschieden hat. Das ausgelegte Unionsrecht bindet über die Verfahrensbeteiligten hinaus auch in zurückliegenden Konstellationen aufgrund des Anwendungsbefehls des Gesetzgebers und nicht etwa wegen des Tenors einer möglichen Auslegungsvorabentscheidung. Entscheidend ist der materielle Auslegungsvorgang, wie er jeder EuGH-Entscheidung zugrunde liegt. Die vom Gerichtshof und der Literatur vorgenommene Unterscheidung nach Verfahrensarten ist nicht in den theoretischen Grundlagen angelegt. Im Gegenteil dürfte aus der verfahrensunabhängigen (Rück-)Wirkungen der Auslegung eher zu schließen sein, dass auch die Beschränkung dieser (zeitlichen) Wirkungen verfahrensunabhängig erfolgen sollte. Soweit dennoch eine Abgrenzung von Auslegung und Unwirksamkeit vorgenommen wird, lässt sich dafür die konstitutive Aufhebungsentscheidung als Begründung anführen. Die Unwirksamkeit kann deshalb nur in besonderen Verfahren geltend gemacht werden. Aufgrund der einheitlichen Grundlagen dieser Verfahrensarten sollte die Abgrenzung von der in allen Verfahren auftretenden Auslegung ebenso nicht verfahrensbezogen, sondern materiell und einheitlich erfolgen. Demzufolge lassen sich Bindungswirkung und Rückwirkung als zwei unterschiedlich gerichtete Wirkungen der ausgelegten Norm („der Auslegung“) begreifen. Die Norm wirkt im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits seit ihrem Erlasszeitpunkt inhaltlich grundsätzlich einheitlich und ist insoweit zu beachten. Darüber hinaus gilt die Norm in dem ihr durch den EuGH gegebenen Verständnis für alle anderen Sachverhalte. Diese „Bindungswirkung des EuGH-Urteils“ ist in gleichem Maße mit einer Rückwirkung verknüpft. In anderen Fällen als dem Anlassfall kommt es damit gleichsam zum Zusammentreffen von Bindungs- und Rückwirkung, ohne dass die eine die andere beeinträchtigt oder voraussetzt. Dort stellen sich dieselben Fragen, die die Rückwirkung im Anlassfall erzwingen. Damit wird deutlich, dass sich die „Rückwirkungsproblematik“ auch unabhängig von einer irgendwie gearteten Bindungswirkung stellen kann, sie wird dort jedoch besonders virulent, weil nicht nur ein einziges, sondern eine Vielzahl von Rechtsverhältnissen betroffen ist.476 Es spricht jedoch Nichts dagegen und Vieles dafür, die mit einem Urteil einhergehende Bindungswirkung bei der Entwicklung einer Dogmatik der Rückwirkungsbeschränkung zu beachten oder sogar zur Voraussetzung zu machen.

476

Insoweit ist Waldhoff, Rückwirkung von EuGH-Rechtsprechung, 2006, S. 14 zuzustimmen.

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Teil 2: Grundlagen

§ 4 Übertragbarkeit der Lehre von der Rückwirkung von Gesetzen? Übertragbarkeit der Lehre von der Rückwirkung von Gesetzen? In der deutschen Rechtslehre gibt es zahlreiche Stimmen, die die Grundsätze der Rückwirkung von Gesetzen auf die Rückwirkung von Rechtsprechung übertragen wollen.477 Für das Unionsrecht wird Vergleichbares nicht gefordert, soll hier jedoch untersucht werden. Dazu ist es nötig, Rechtsprechung und Gesetzgebung in ihrer Funktion gegenüberzustellen; ein bloßer Hinweis auf die (umstrittene) Rechtsquelleneigenschaft des Richterrechts genügt nicht als Begründung.478 Ob die Dogmatik des Gerichtshofs zur Gesetzesrückwirkung im Gesamten oder in Teilen übertragbar ist und ob gegebenenfalls Modifikationen vorzunehmen sind, erfordert zuerst eine Auseinandersetzung mit der diesbezüglichen Rechtsprechung. A. Das Rückwirkungsverbot bei unionsrechtlichen Legislativakten I.

Einführung

Das Unionsrecht kennt ein grundsätzliches Verbot der Rückwirkung von Gesetzgebungsakten (im Sinne von Art. 289 Abs. 3 AEUV) als Ausdruck des Prinzips der Rechtssicherheit und der Rechtsstaatlichkeit.479 Mangels allgemeiner480 primärrechtlicher Regelung ergibt sich dies immer noch allein aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsrechts. 1. Anwendungsbereich Das unionsrechtliche Rückwirkungsverbot begrenzt zuerst die Tätigkeit des Unionsgesetzgeber. Es gilt außerdem für die Schaffung von nationalem Umsetzungsrecht im Anwendungsbereich von Unionsrichtlinien.481 Dort können sich Verbot oder Zulässigkeit einer Rückwirkung von Umsetzungsrecht demnach sowohl aus dem Unions- als auch dem nationalem Recht ergeben. Die Richtlinie steht dem nicht entgegen, solange die Rechte gewahrt bleiben, die 477

Zum deutschen Recht z.B. Medicus, NJW 1995, 2577; ders., WM 1997, 2333; Höpfner, RdA 2006, 156, 162 ff. (zumindest die unechte Rückwirkung); Steiner, Vertrauensschutz als Verfassungsgrundsatz, 1998, S. 31, 36. 478 Zu Recht Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, 1996, S. 16. 479 Calliess/Ruffert-Calliess, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 2 EUV Rn. 26; Berger, Zulässigkeitsgrenzen der Rückwirkung von Gesetzen, 2002, S. 204. 480 Zur Besonderheit des Strafrechts siehe unten § 4 A.V., S. 109. 481 EuGH v. 26.4.2005 – Rs. C-376/02 Goed Wonen, Slg. 2005, I-3445 Rn. 32, 34; Kadelbach/Sobotta, EWS 1996, 11, 13; a.A. Heukels, Intertemporales Gemeinschaftsrecht, 1990, S. 254, 311; Berg/Nachtsheim, DVBl 2001, 1103, 1107.

§ 4 Übertragbarkeit der Lehre von der Rückwirkung von Gesetzen?

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durch die Richtlinie unmittelbar eingeräumt wurden.482 Das Äquivalenzgebot verlangt darüber hinaus nur die Gleichbehandlung des Umsetzungsrechts mit dem sonstigen nationalen Recht, also das Anlegen identischer Maßstäbe.483 2. Auslegungsregel Der Gerichtshof gibt dem Rückwirkungsverbot eine doppelte Richtung. Zuerst interpretiert er den zeitlichen Geltungsbereich einer Unionsnorm streng im Sinne einer ausschließlichen pro futuro-Wirkung. Solange der Gesetzgeber nicht ausdrücklich klargestellt hat, dass ein Gesetzgebungsakt Wirkungen für die Vergangenheit entfalten soll, misst der Gerichtshof materiellrechtlichen484 Vorschriften diese Wirkung auch nicht bei.485 Dabei orientiert sich der EuGH an Wortlaut, Zweck und Aufbau der fraglichen Norm. Eine Vorschrift wirkt jedoch – mangels Übergangsregelung – sofort mit ihrem Inkrafttreten und kann dabei auch bestehende Rechtsverhältnisse verändern.486 Als zweiten Schritt begrenzt der Gerichtshof sachlich die Zulässigkeit einer vom Gesetzgeber angeordneten Rückwirkung. II. Abgrenzung von echter und unechter Rückwirkung Der Gerichtshof unterscheidet hinsichtlich des sachlichen Rückwirkungsverbots von Legislativakten – ähnlich wie das Bundesverfassungsgericht487 – zwischen echter und unechter Rückwirkung. Die echte Rückwirkung sieht er als „Rückwirkung im eigentlichen Sinne“ an, während er die unechte Rückwirkung auch als „sofortige Anwendbarkeit“ bezeichnet.488 Ob die Rückwirkung zulässig ist, beurteilt sich für beide Bereiche nach unterschiedlichen Kriterien, weshalb es einer trennscharfen Abgrenzung bedarf. Zuerst knüpft der EuGH an „die Beeinträchtigung wohlerworbener Rechte„ an. Dieses 482

EuGH v. 8.3.1988 – Rs. 80/87 Dik, Slg. 1988, 1601 Rn. 12 ff. So zur richtlinienkonformen Auslegung EuGH v. 15.4.2008 – Rs. C-268/06 Impact, Slg. 2008, I-2483 Rn. 104; dazu Schweighofer, ELRep 2009, 9, 13. 484 Verfahrensvorschriften gelten regelmäßig für alle zum Zeitpunkt des Erlasses schwebenden Verfahren, vgl. EuGH v. 12.11.1981 – verb. Rs. 212/80 bis 217/80 Salumi u.a., Slg. 1981, 2735 Rn. 9; EuGH v. 6.7.1993 – verb. Rs. C-121/91 und C-122/91 CT Control und JCT Benelux, Slg. 1993, I-3873 Rn. 22; EuG v. 19.2.1998 – Rs. T-42/96 Eyckeler & Malt, Slg. 1998, II-401 Rn. 55. 485 Z.B. schon EuGH v. 12.10.1978 – Rs. 10/78 Belbouab, Slg. 1978, 1915 Rn. 7; EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-293/04 Beemsterboer Coldstore Services, Slg. 2006, I-2263 Rn. 21; EuGH v. 12.9.2013 – C-614/11 Kuso, ECLI:EU:C:2013:544 Rn. 24 m.w.N. 486 EuGH v. 6.7.2010 – Rs. C-428/08 Monsanto Technology, Slg. 2010, I-6765 Rn. 66 m.w.N. 487 Berger, Zulässigkeitsgrenzen der Rückwirkung von Gesetzen, 2002, S. 201 ff.; Pohl, Rechtsprechungsänderung und Rückanknüpfung, 2005, S. 138. 488 Schermers/Waelbroeck, Judicial Protection in the European Union, 6. Aufl. 2001, § 135. 483

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Merkmal ist jedoch zu unbestimmt und wegen seines vermögensrechtlichen Ansatzes als weitgehend ungeeignet kritisiert worden und in der praktischen Bedeutung gering.489 Danach zieht der Gerichtshof das Kriterium des vollständig abgeschlossenen Sachverhalts heran.490 Eine Vorschrift, die Rechtsfolgen anordnet für Tatsachen, die von den Adressaten nicht mehr verändert werden können, unterfällt den Regeln über die echte Rückwirkung. Maßgeblich ist, ob eine belastende Rechtsfolge noch abgewendet oder eine begünstigende Rechtsfolge noch herbeigeführt werden kann.491 Schließlich stellt der Gerichtshof verstärkt auf „formelle“ bzw. „normstrukturelle Elemente“ ab.492 Echte Rückwirkung hat demnach ein Rechtsakt, wenn der Beginn seines zeitlichen Anwendungsbereichs vor dem Zeitpunkt seiner Veröffentlichung im Amtsblatt liegt.493 Das Kriterium der Abgeschlossenheit und die formale Rückwirkung werden alternativ verwendet und können beide für sich eine echte Rückwirkung begründen.494 In schwierigen Fällen bedient sich der EuGH zusätzlich noch einer wirtschaftlichen Folgenbetrachtung.495 Unmaßgeblich für die Abgrenzung ist, ob die Rückwirkung für die Betroffenen des Rechtsakts günstig oder ungünstig ist496 oder welches Organ den Rechtsakt erlassen hat.497 III. Grundsätzliche Unzulässigkeit echter Rückwirkung Die echte Rückwirkung ist nach der sog. Racke-Formel nur ausnahmsweise zulässig, „wenn das angestrebte Ziel es verlangt und das berechtigte Vertrauen der Betroffenen gebührend beachtet ist.“498 Danach sind zwei kumulative Voraussetzungen nötig. Zum einen die Erforderlichkeit der Rückwirkung und zum anderen die Beachtung individuellen Vertrauensschutzes. 489

Heukels, Die Rückwirkungsjudikatur des EuGH, 1992, S. 11, 36 ff.; a.A. Fuß, FS Kutscher, 1981, S. 201, 202 et passim. 490 Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 2005, S. 1084; Gilsdorf, RIW 1983, 22, 27. 491 EuGH v. 16.2.1982 – Rs. 258/80 Rumi ./. Commission, Slg. 1982, 487 Rn. 10; Schermers/Waelbroeck, Judicial Protection in the European Union, 6. Aufl. 2001, § 137. 492 Berger, Zulässigkeitsgrenzen der Rückwirkung von Gesetzen, 2002, S. 183 ff.; Heukels, Die Rückwirkungsjudikatur des EuGH, 1992, S. 16 f.; v. Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, S. 515 f. 493 Heukels, Die Rückwirkungsjudikatur des EuGH, 1992, S. 17; Schwarze-Bittner, EUKommentar, 3. Aufl. 2013, Art. 40 AEUV Rn. 75. 494 Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 2005, S. 1084; Günther, EuZW 2000, 329 f. 495 v. Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, S. 532. 496 EuGH v. 29.1.1985 – Rs. 234/83 Gesamthochschule Duisburg, Slg. 1985, 327 Rn. 20; Heukels, Die Rückwirkungsjudikatur des EuGH, 1992, S. 11 f. 497 Gilsdorf, RIW 1983, 22, 28 f. 498 EuGH v. 25.1.1979 – Rs. 98/78 Racke, Slg. 1979, 69 Rn. 20; EuGH v. 25.1.1979 – Rs. 99/78 Decker, Slg. 1979, 101 Rn. 8.

§ 4 Übertragbarkeit der Lehre von der Rückwirkung von Gesetzen?

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1. Erforderlichkeit der Rückwirkung Erforderlich ist die Rückwirkung nur dann, wenn das Ziel der Regelung die Rückwirkung verlangt, weil es anders nicht erreicht werden kann. Ausreichend ist daher nicht jede Zweckmäßigkeitserwägung, sondern es bedarf eines zwingenden öffentlichen Interesses oder triftiger Gründe des Allgemeinwohls.499 Als solche wurden u.a. anerkannt die Sicherung der Funktionsfähigkeit des Gemeinsames Marktes (Marktstabilisierung)500, die Vermeidung von Umgehungsmanövern auf stark reglementierten Märkten501, die systembedingt rückwirkende Berechnung von Währungsausgleichsbeträgen502 oder die Vermeidung eines Rechtsvakuums503. Nach verbreiteter Ansicht handelt es sich dabei um eine konkretisierte Verhältnismäßigkeitsprüfung.504 Dem Unionsgesetzgeber steht jedoch eine Einschätzungsprärogative zu, die nur bei offenkundigem Überschreiten des gesetzgeberischen Ermessens verletzt ist.505 Nicht erforderlich (im Sinne der Verhältnismäßigkeit) ist danach z.B. die Festlegung einer Höchstgarantiemenge für Tabak nachdem die Jahresernte schon begonnen hat, wenn das Ziel darin bestand, die Tabakproduktionsmengen zu steuern.506 2. Beachtung individuellen Vertrauensschutzes Das individuelle Vertrauen darf nicht unbeachtet bleiben, wenn es schutzwürdig ist. Dazu verlangt der allgemeine Vertrauenstatbestand auf der objektiven Seite ein vertrauensbegründendes Verhalten der Unionsorgane und eine darauf beruhende konkrete Vertrauensbetätigung des Betroffenen. Auf der subjektiven Seite hindert die Vorhersehbarkeit der Rückwirkung die Schutzbedürftigkeit der Betroffenen. Bei der echten Legislativrückwirkung entfallen die objektiven Anforderungen an den Vertrauensschutz. Eines konkreten vertrauensbegründenden Verhaltens bedarf es nicht, weil das grundsätzliche Verbot der (echten) Rückwirkung Vertrauen in eine rückwirkungsfreie Ge499

Berger, Zulässigkeitsgrenzen der Rückwirkung von Gesetzen, 2002, S. 188. EuGH v. 30.9.1982 – Rs. 108/81 Amylum, Slg. 1982, 3107. 501 EuGH v. 16.2.1982 – Rs. 258/80 Rumi, Slg. 1982, 487; EuGH v. 21.4.1988 – Rs. 338/85 Pardini ./. Ministero del commercio con l'estero, Slg. 1988, 2041. 502 EuGH v. 25.1.1979 – Rs. 98/78 Racke, Slg. 1979, 69; EuGH v. 25.1.1979 – Rs. 99/78 Decker, Slg. 1979, 101. 503 EuGH v. 19.5.1982 – Rs. 84/81 Staple Dairy Products, Slg. 1982, 1763. 504 Berger, Zulässigkeitsgrenzen der Rückwirkung von Gesetzen, 2002, S. 189; Heukels, Intertemporales Gemeinschaftsrecht, S. 264; Heukels, Die Rückwirkungsjudikatur des EuGH, 1992, S. 26; Berg/Nachtsheim, DVBl 2001, 1103, 1106; Günther, EuZW 2000, 329, 330. 505 Berger, Zulässigkeitsgrenzen der Rückwirkung von Gesetzen, 2002, S. 188; Heukels, Die Rückwirkungsjudikatur des EuGH, 1992, S. 28 f. 506 EuGH v. 11.7.1991 – Rs. C-368/89 Crispoltoni I, Slg. 1991, I-3695 Rn. 18-20. 500

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setzgebung schafft.507 Regelmäßig hat der betroffene Marktteilnehmer das Vertrauen auch in Anspruch genommen.508 Das zeigt sich, wenn im Agrarrecht schon die – notwendigerweise erfolgende – Aussaat oder Auspflanzung als Vertrauensbetätigung genügt.509 Der Gerichtshof verlangt auch keinen Nachweis über die konkrete Motivationslage einzelner Betroffener. Entscheidendes Kriterium ist daher, ob die Marktteilnehmer die Änderung der Rechtslage vorhersehen konnten.510 Maßgeblich ist ein objektiver und vernünftiger Marktteilnehmer, dessen Sonderkenntnisse zu seinen Lasten berücksichtigt werden.511 Der EuGH verlangt, dass sich die Marktteilnehmer aus den ihnen zur Verfügung stehenden Quellen selbsttätig unterrichten,512 und bürdet ihnen recht erhebliche Anstrengungen im Hinblick auf die ständige und aufmerksame Beobachtung des Marktes auf.513 Geschützt ist ein Betroffener insbesondere vor solchen Regelungen, die ihn gerade deshalb belasten sollen, weil er von einer durch eine andere Vorschrift eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht hat.514 Nicht geschützt werden die Marktteilnehmer hingegen vor Rechtsänderungen, die die Unionsorgane im Rahmen eines ihnen eingeräumten Ermessens vornehmen können, insbesondere dort wo ständige Anpassungen an die Marktlage nötig sind.515 Weitere „rechtslageimmanente“ Kriterien sind die Fortführung abgelaufener, zeitlich befristeter Regelungen, das Bestehen eines Änderungsautomatismus, der regelmäßig an Vergangenes anknüpft, oder die Ersetzung lediglich aus formellen Gründen für nichtig erklärter Vorschriften durch eine inhaltsgleiche Regelung.516 Daneben besteht für die Unionsverwaltung die Möglichkeit, etwaiges schutzwürdiges Vertrauen zu beachten und vorab durch Ankündigung zu zerstören. Anerkannt sind insoweit u.a. die Ankündigung der Neuregelung im 507

Heukels, Die Rückwirkungsjudikatur des EuGH, 1992, S. 30. Heukels, Die Rückwirkungsjudikatur des EuGH, 1992, S. 30. 509 Vgl. EuGH v. 11.7.1991 – Rs. C-368/89 Crispoltoni, Slg. 1991, I-3695 Rn. 14 f., 21; EuGH v. 6.7.2000 – Rs. C-402/98 ATB, Slg. 2000, I-5501 Rn. 39 f. 510 Heukels, Die Rückwirkungsjudikatur des EuGH, 1992, S. 31; v. Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, S. 518. 511 EuGH v. 21.4.1988 – Rs. 338/85 Pardini ./. Ministero del commercio con l'estero, Slg. 1988, 2041 Rn. 25 f.; Heukels, Die Rückwirkungsjudikatur des EuGH, 1992, S. 31. Trotzdem wird diese Merkmal in Anlehnung an die allgemeinen Voraussetzungen des Vertrauensschutzes als subjektiv bezeichnet; vgl. Berger, Zulässigkeitsgrenzen der Rückwirkung von Gesetzen, 2002, S. 190; Heukels, Intertemporales Gemeinschaftsrecht, 1990, S. 175 ff.; anders v. Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, S. 518. 512 EuGH v. 30.9.1982 – Rs. 108/81 Amylum ./. Rat, Slg. 1982, 3107 Rn. 13 ff. 513 Gilsdorf/Bardenhewer, EuZW 1992, 267, 269; Fuß, FS Kutscher, 1981, S. 201, 212. 514 EuGH v. 28.4.1988 – Rs. 120/86 Mulder I, Slg. 1988, 2321 Rn. 23 f.; EuGH v. 28.10.2004 – Rs. C-164/01 P van den Berg, Slg. 2004, I-10225 Rn. 66. 515 Schwarze-Bittner, EU-Kommentar, 3. Aufl. 2013, Art. 40 AEUV Rn. 76. 516 EuGH v. 13.11.1990 – Rs. C-331/88 FEDESA, Slg. 1990, I-4023 Rn. 46 f.; Heukels, Die Rückwirkungsjudikatur des EuGH, 1992, S. 31 f. 508

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Amtsblatt der EU,517 Vorabinformationen in Sitzungen der Kommission mit beteiligten Adressatenkreisen,518 die Nutzung von Mitteilungen in Pressediensten519 oder die Information nationaler Verwaltungsinstanzen zusammen mit der Möglichkeit für die Normadressaten, diesbezügliche Erkundigungen bei diesen Stellen einzuholen520. Es genügt daher, dass die Marktteilnehmer vorhersehen können, dass eine (Neu-)Regelung beabsichtigt ist, nicht welchen konkreten Inhalt sie haben wird.521 IV. Grundsätzliche Zulässigkeit unechter Rückwirkung Unechte Rückwirkung liegt vor, wenn ein Rechtsakt Wirkungen auf Sachverhalte entfaltet, die zwar schon begonnen wurden, aber noch nicht abgeschlossen sind. Der EuGH sieht das nicht als „Rückwirkung im eigentlichen Wortsinn“ an.522 Deshalb gilt hier auch nicht das grundsätzliche Verbot der Rückwirkung.523 Eine unechte Rückwirkung ist „grundsätzlich unmittelbar auf die künftigen Auswirkungen eines Sachverhaltes anwendbar, der unter der Geltung der alten Vorschrift entstanden ist“.524 Sie ist nur unzulässig, wenn besondere Gründe des Vertrauensschutzes entgegenstehen. Das ist der Fall, wenn in einer Abwägung das berechtigte Vertrauen der Betroffenen gegenüber dem Interesse am Erlass der Unionsnorm überwiegt.525 Im Vergleich zur echten Rückwirkung sind hier die Anforderungen an den Vertrauensschutz strenger.526 Ein Vertrauen auf die Beibehaltung zukünftiger Wirkungen vergangener Tatsachen besteht grundsätzlich nicht.527 Maßstab für die Bewertung des Vertrauens sind Art und Verfestigungsgrad der jeweiligen Dispositionen. Je konkreter und verbindlicher das Rechtsverhältnis zwischen den Gemeinschaftsorganen und dem Marktteilnehmer ausgestaltet ist, desto schutzwürdiger sind seine darunter getätigten Dispositionen.528 Dieses Vertrauen kann 517

Berger, Zulässigkeitsgrenzen der Rückwirkung von Gesetzen, 2002, S. 192 f.; Heukels, Intertemporales Gemeinschaftsrecht, 1990, S. 281 f.; jeweils m.w.N. 518 EuGH v. 30.11.1983 – Rs. 235/82 Ferriere San Carlo, Slg. 1983, 3949 Rn. 12 f. 519 Borchardt, EuGRZ 1988, 309, 313. 520 GA Reischl, SchlA v. 6.12.1978 – Rs. 98/78 Racke, Slg. 1979, 69, 98 f. 521 Heukels, Die Rückwirkungsjudikatur des EuGH, 1992, S. 31. 522 EuGH v. 14.1.1987 – Rs. 278/84 Deutschland ./. Kommission, Slg. 1987, 1 Rn. 35. 523 Berger, Zulässigkeitsgrenzen der Rückwirkung von Gesetzen, 2002, S. 194. 524 EuGH v. 6.7.2010 – Rs. C-428/08 Monsanto Technology, Slg. 2010, I-6765 Rn. 66 m.w.N. 525 Craig, CamLJ 55 (1996), 289, 305; Berger, Zulässigkeitsgrenzen der Rückwirkung von Gesetzen, 2002, S. 194. 526 Borchardt, EuGRZ 1988, 309, 311; Gilsdorf/Bardenhewer, EuZW 1992, 267. 527 v. Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, S. 521. 528 Berger, Zulässigkeitsgrenzen der Rückwirkung von Gesetzen, 2002, S. 194 f.; Craig, CamLJ 55 (1996), 289, 307.

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jedoch noch von öffentlichen Unionsinteressen überwogen werden.529 Dahingehend hat der Gerichtshof vor allem die Funktionsfähigkeit des Gemeinsamen Marktes zu schützen gesucht. Dort müssen die Marktteilnehmer mit einer ständigen Anpassung an die wirtschaftliche Lage rechnen.530 Schutzziele sind insbesondere die Aufrechterhaltung eines Marktgleichgewichts und die Effektivität der unionalen Marktlenkungsmechanismen.531 V. Besonderheit: Strafrecht Eine Sonderrolle nimmt der Bereich des Strafrechts ein. Ein Unionsrechtsakt darf weder – ungeachtet etwaiger Kompetenzfragen – selbst rückwirkend strafrechtliche Sanktionen anordnen, noch kann er als Rechtfertigung für nationale Rechtsnormen herangezogen werden, die ein bestimmtes Verhalten rückwirkend unter Strafe stellen.532 Dies gilt absolut und ohne die sonst bei echter Rückwirkung geltenden Ausnahmen. Gleichzeitig kennt auch das Unionsrecht einen aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten abgeleiteten Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes.533 Wegen Art. 6 Abs. 1 EUV gilt das strafrechtliche Rückwirkungsverbot auch über Art. 49 EU-Grundrechtecharta.534 VI. Ausnahme für deklaratorische Vorschriften Vom Rückwirkungsverbot gänzlich ausgenommen sind Normen, die andere Vorschriften lediglich klarstellen oder auslegen.535 In der Literatur wird dies auch als „formale oder scheinbare Rückwirkung“ bezeichnet.536 Der Ge-

529

Dazu Heukels, Intertemporales Gemeinschaftsrecht, 1990, S. 192 ff. EuGH v. 12.12.1996 – Rs. C-241/95 Accrington Beef, Slg. 1996, 6699 Rn. 33; EuGH v. 16.5.1979 – Rs. 84/78 Tomadini, Slg. 1979, 1801 Rn. 20-22. 531 Berger, Zulässigkeitsgrenzen der Rückwirkung von Gesetzen, 2002, S. 195 f. 532 EuGH v. 13.11.1990 – Rs. 331/88 FEDESA, Slg. 1990, I-4023 Rn. 43 f.; Schermers/Waelbroeck, Judicial Protection in the European Union, 6. Aufl. 2001, § 141. 533 EuGH v. 28.4.2011 – Rs. C-61/11 PPU El Dridri alias Karim, Slg. 2011, I-3015 Rn. 61 m.w.N.; Calliess/Ruffert-Blanke, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 49 EU-GRCharta Rn. 4. 534 Nach dem Beitritt der EU zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten wird das dort in Art. 7 enthaltene strafrechtliche Rückwirkungsverbot für die EU völkerrechtlich verbindlich, Calliess/Ruffert-Kingreen, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 6 EUV Rn. 7. 535 EuGH v. 8.5.1974 – Rs. 183/73 Osram, Slg. 1974, 477 Rn. 8; Schermers/Waelbroeck, Judicial Protection in the European Union, 6. Aufl. 2001, § 142. 536 Gilsdorf, RIW 1983, 22, 28. 530

§ 4 Übertragbarkeit der Lehre von der Rückwirkung von Gesetzen?

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richtshof ist bei der Annahme eines solchen „ausschließlich interpretativen Charakters“ bisher sehr zurückhaltend.537 Worauf diese Ausnahme dogmatisch beruht, klärt der Gerichtshof nicht ausdrücklich. Aus seiner Rechtsprechung ergibt sich aber, dass eine solche interpretatorische Vorschrift vorliegen soll, wenn die neue Norm die geltende Rechtslage nicht verändert. Dazu muss eine inzidente Prüfung ergeben, dass die neue Norm genau das vorgibt, was eigentlich schon unter der alten Gesetzeslage galt.538 Es muss sich mithin um einen materiellen, inhaltlichen Gleichlauf von früherem und aktuellem Recht handeln.539 Die bloße Formulierung als Interpretationsnorm genügt nicht, denn anderenfalls würde so das Rückwirkungsverbot umgangen werden können.540 B. Eingeschränkte Übertragbarkeit der Methodik der Legislativrückwirkung auf die Rechtsprechungsrückwirkung I.

Interpretative Vorschriften

Vom Blickwinkel der Rechtsprechungsrückwirkung ist die Ausnahme vom Rückwirkungsverbot für ausschließlich auslegende Regeln besonders interessant. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die authentische Interpretation die richterliche Auslegung ersetzen kann.541 Beide sind in ihrer Zielsetzung und ihrer Wirkungsweise vergleichbar. Nach dem Verständnis des EuGH eint sie ihr deklaratorischer Charakter.542 Deshalb wäre es konsequent, wenn der Gerichtshof die authentische Auslegung an den gleichen Maßstäben misst wie die Auslegung durch die Gerichte.

537

Schermers/Waelbroeck, Judicial Protection in the European Union, 6. Aufl. 2001, § 142; Raitio, The Principle of Legal Certainty in EC Law, 2003, S. 196; vgl. EuGH v. 28.3.1979 – Rs. 158/78 Biegi, Slg. 1979, 1103 Rn. 11. 538 EuGH v. 16.12.1976 – verb. Rs. 36/76 und 37/76 Foral u.a., Slg. 1976, 2009 Rn. 9. 539 A.A. wohl GA van Gerven, verb. SchlA v. 7.6.1994 – Rs. C-57/93 und C-128/93 Vroege und Fisscher, Slg. 1994, I-4541 Rn. 20, 23, dem der Zweck als Auslegung zu genügen scheint; unklar auch Gilsdorf, RIW 1983, 22, 28. Zum österreichischen § 8 ABGB verlangt Vonkilch, Das Intertemporale Privatrecht, 1999, S. 282 ff., dass neben den Willen zur Interpretation auch mindestens eine zweifelhafte Rechtslage treten, die Auslegung aber nicht notwendig eine materielle Klarstellung sein muss. Kritisch auch Meyer, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 221, 239, der anmerkt, dass dadurch der Sinn der authentischen Interpretation (die Möglichkeit, den Richter zu einer bestimmten Auslegung zu zwingen) beseitigt wird. Die Rechtswirkungen der authentischen Interpretation beschränken sich aber in der Tat allein auf die Ausnahme vom Rückwirkungsverbot. 540 Heukels, Intertemporales Gemeinschaftsrecht, 1990, S. 86; vgl. auch EuGH v. 23.3.1993 – Rs. C-314/91 Weber ./. Parlament, Slg. 1993, I-1093 Rn. 22. Insgesamt kritisch deswegen zur Lage im deutschen Recht Schnapp, JZ 2011, 1125. 541 Siehe oben bei § 3 D.I.1., S. 42. 542 Heukels, Intertemporales Gemeinschaftsrecht, 1990, S. 85.

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Teil 2: Grundlagen

Der EuGH nimmt bei der Auslegung durch den Gesetzgeber eine deklaratorische Wirkung nur an, wenn die neue Vorschrift inhaltlich genau der früheren Rechtslage entspricht. Anders ausgedrückt kommt eine Rückwirkung nicht in Betracht, wenn die Gesetzgebung etwas Neues bestimmt.543 Der EuGH hat in seiner bisherigen Rechtsprechung dazu keine Ausnahmen vorgesehen. Die deklaratorische und damit Rückwirkung der authentischen Interpretation steht insoweit klar im Widerspruch zur Dogmatik der richterlichen Auslegung. Dort ist die Ausnahme der Rückwirkungsbeschränkung anerkannt und hat gerade bei der „ersten Auslegung“ eine erhebliche Bedeutung. Näher läge es daher, wenn der Gerichtshof bei der Bestimmung des deklaratorischen Charakters auf seine Ergebnisse zur Rechtsprechungsrückwirkung zurückgreifen würde oder seine Jurisdiktion zur Rechtsprechungsrückwirkung sich ausschließlich am Merkmal der Neuheit orientieren würde. Wie es zu dieser Wertungsverschiedenheit kommt, ist nicht leicht nachzuvollziehen. Zuerst könnten die authentische und die richterliche Interpretation doch so große Unterschiede aufweisen, dass eine Gleichbehandlung nicht gerechtfertigt ist. Dazu ließe sich auf die Gesetzesbindung der Rechtsprechung verweisen. Die Judikative ist in ihrer Tätigkeit durch methodische Schranken begrenzt. Sie darf das Gesetz nicht ändern, sondern allenfalls fortbilden. Der Gesetzgeber unterliegt diesen Schranken nicht.544 Hier geht es jedoch nur um einen Ausschnitt der legislativen Tätigkeit; betroffen ist die Auslegung bestehenden Rechts durch den Gesetzgeber. Dieser begibt sich dabei in den Aktionsbereich der Rechtsprechung. Das steht ihm frei, denn er hätte die Norm auch schon von Anfang an konkreter formulieren können. Diese Konkretisierungskompetenz verliert er nicht mit Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens. Die strenge Definition des EuGH von deklaratorischer gesetzgeberischer Auslegung führt dazu, dass der Gesetzgeber so agiert haben muss als wäre er gebunden, das existierende Recht zu beachten und nur zu konkretisieren. Im Verständnis des EuGH gehen seine eigenen Kompetenzen bei einer „Auslegung“ weit über das hinaus, was er unter einer authentischen „deklaratorischen Auslegung“ durch den Gesetzgeber versteht. Möglicherweise bezweckt diese Strenge, eine Umgehung des Rückwirkungsverbots zu verhindern. Daraus ließe sich nun der Schluss ziehen, dass anhand eines Neuheitsmerkmals die Abgrenzung von deklaratorischer und nicht-deklaratorischer Richtertätigkeit vorgenommen werden könnte. Die Auslegung im engeren Sinne oder Teile davon würden so von der Rechtsfortbildung oder Teilen 543

Kritisch hinsichtlich einer Ausnahme vom Legislativrückwirkungsverbot für authentische Interpretationsnormen daher z.B. Heß, Intertemporales Privatrecht, 1998, S. 436. 544 Für die Unionsorgane bestehen inhaltliche Schranken nur im hier zu vernachlässigenden Fall der formlosen Berichtigung; vgl. Heukels, Intertemporales Gemeinschaftsrecht, 1990, S. 83 f.

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davon unterscheidbar werden. Jedoch lässt sich dies auf dem Boden der derzeitigen Theorien zur Natur der Rechtsprechung, insbesondere der vom EuGH vertretenen (und nicht umsonst so bezeichneten) deklaratorischen Theorie nicht durchführen. Nach ihr findet der Richter ausschließlich das schon vorgegebene Recht und schafft insoweit keine neue Rechtslage. Als Abgrenzungsmerkmal taugt die Neuheit dann nicht. Nach der dezisionistischen Ansicht ist dieses Merkmal ebenfalls unbrauchbar. Legt man jeder Rechtsprechungstätigkeit zumindest geringe Kreativität bei und sieht sie dann schon als neu an, würde jedes Urteil der Rückwirkungsbeschränkung zugänglich sein. Das Neuheitsmerkmal könnte seinen Zweck nicht erfüllen, zwischen einerseits per se rückwirkender und andererseits am Vertrauensschutz zu messender Rechtsprechung zu trennen. Plausibler ist daher die Vermutung, dass der Gerichtshof bei der Schaffung der Ausnahme vom Gesetzesrückwirkungsverbot nicht überblickt hat, dass hier eine Parallele zur Rechtsprechungsrückwirkung gezogen werden könnte und müsste. Es ist nicht ausgeschlossen, dass er dies nachholt, wenn er dazu Gelegenheit bekäme.545 II. Von den Schranken der Gesetzesrückwirkung zu den Schranken der Rechtsprechungsrückwirkung? Lässt sich im Anschluss daran klären, ob die Rückwirkung von Rechtsprechung im Allgemeinen analog zur Rückwirkung von Gesetzen behandelt werden muss? In der deutschen Rechtsprechung und Literatur wird teilweise vertreten, weil oder wenn und soweit (höchstinstanzliche) Rechtsprechung funktionell gesetzgebergleich ist, muss sie sich auch in den für den Gesetzgeber geltenden Rückwirkungsgrenzen halten.546 Was dem Gesetzgeber verboten ist, dürfe der Rechtsprechung nicht freigestellt sein.547 Als Kriterium für die Bestimmung der funktionellen Vergleichbarkeit wird einerseits pauschal darauf verwiesen, dass Rechtsprechung die Gesetzgebung weithin vertrete und die gleiche Vertrauensgrundlage bilde.548 Andererseits wird dies auf letztinstanzliche Gerichte beschränkt, da nur diese abstrakt-generelle Handlungsanweisungen geben würden, deren Beachtung von den Bürgern erwartet

545 Die Rechtsprechung zur authentischen Auslegung basiert – soweit erkennbar – auf alten Entscheidungen und wurde vom Gerichtshof zuletzt nicht verwendet. Es besteht daher die Möglichkeit, dass sie im Ganzen aufgegeben wurde. 546 Vgl. die Nachweise bei Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, 1996, S. 104 f.; ähnlich BAG v. 7.3.1995 – 3 AZR 282/94, Rn. 53; a.A. z.B. HdStR-Maurer, 3. Aufl. 2006, § 79 Rn. 145 f. 547 Medicus, NJW 1995, 2577, 2582. 548 Medicus, NJW 1995, 2577, 2582; Bydlinski, JBl 2001, 2, 25 ff., mit zweifelhaftem Rekurs auf die „methodenfreie und ungebundene“ Rechtsfindung durch den EuGH.

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Teil 2: Grundlagen

wird.549 Diese „gewisse Leitbildentscheidung“ soll sich zum einen aus den Regelungen der betreffenden Rechtsordnung ergeben, z.B. aus dem Charakter als Revisionsentscheidung, aus Vorlagepflichten oder Vorschriften, die als Zulässigkeitsvoraussetzung die „Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage“ formulieren.550 Zum anderen sollen praeter legale, gesetzesvertretende Rechtsfortbildung oder gesetzesunabhängiges Richterrecht zu einer „funktionalen Äquivalenz“ führen.551 Das Gericht werde zum de facto-Normgeber, wenn es nicht einfach subsumiere, sondern sich die Rechtsfrage nur unter Zuhilfenahme abstrakter Rechtsprinzipien, Wertungen und Abwägungen lösen lasse; dies mache einen von „Billigkeit und Ermessen“ unabhäng-igen Vertrauensschutz nötig.552 In diesen Fällen wird das Vertrauen der Rechtsunterworfenen auf eine bestehende Rechtslage durch die übergangsweise Beibehaltung dieser Rechtslage geschützt. Der Grundsatz der Rechtssicherheit wird als Rechtmäßigkeitskriterium für den Erlass von Gesetzen oder von Rechtsprechung verwendet.553 Das darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Ausgangssituation eine gänzlich verschiedene ist. Bei der Gesetzesrückwirkung geht es darum, die Wirkung in die Vergangenheit zu begründen, die Wirkung in die Zukunft besteht jedenfalls. Bei der Rechtsprechungsrückwirkung geht es darum, die Rückwirkung auszuschließen. Rechtsprechung muss wegen des Rechtsanwendungsbefehls die strukturelle Zeitverschiebung immer durch Rückwirkung überwinden. Legt man hierauf die Schablone der Gesetzesrückwirkung an, dann liegt regelmäßig eine echte Rückwirkung vor (Ausnahme sind vor allem einzelne Konstellationen bei Dauerschuldverhältnissen). Dann würde aber die zwingende Rückwirkung zumeist eine zwingende Rückwirkungsbeschränkung nach sich ziehen. Dieser Widerspruch kann nur aufgelöst werden, wenn man für die Beschränkung der zeitlichen Wirkungen der Rechtsprechung andere Kriterien verwendet. III. Übertragbarkeit einzelner Gedanken der Dogmatik Der Unterschied zwischen Rechtsprechungsrückwirkung und Gesetzesrückwirkung554 bedeutet jedoch nicht, dass damit jegliche Orientierung an der Dogmatik der Gesetzesrückwirkung ausgeschlossen ist. Ob und inwieweit 549 Grunsky, Grenzen der Rückwirkung bei einer Änderung der Rechtsprechung, 1970, S. 13; ähnlich Buchner, GS Dietz, 1973, S. 175, 182. 550 Grunsky, Grenzen der Rückwirkung bei einer Änderung der Rechtsprechung, 1970, S. 13 ff. 551 Pieroth/Hartmann, ZIP 2010, 753, 758. 552 BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, Rn. 104. 553 Zur Gesetzesrückwirkung Heukels, Intertemporales Gemeinschaftsrecht, 1990, S. 159 f. 554 Gordon, EC Law in Judicial Review, 2007, Rn. 9.77: „special type of retroactivity”.

§ 4 Übertragbarkeit der Lehre von der Rückwirkung von Gesetzen?

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Konzepte der Gesetzesrückwirkung übertragbar sind, richtet sich danach, ob die zugrunde liegenden Sachfragen identisch oder mindestens vergleichbar sind.555 Wie soeben angesprochen, lässt sich die Unterscheidung von echter und unechter Rückwirkung bei der Rechtsprechungsrückwirkung allenfalls mit Modifikationen verwenden. Zusätzlich als problematisch erweist sich die formalistische Anknüpfung des EuGH an die Wirkung vor der Verkündung der Rechtsnorm.556 Überträgt man dies auf die Rechtsprechung, so ist dies entweder unmöglich (Wirkung der Rechtsprechung vor der Verkündung der Rechtsnorm) oder die theoretische Regel (Wirkung der Rechtsprechung vor der Verkündung des Urteils). Durch ein solches Merkmal ist demnach nichts gewonnen. Parallelen lassen sich lediglich zu der inhaltlichen Unterscheidung ziehen, ob die Rechtsadressaten sich auf die neue Rechtsprechung noch einstellen können.557 Der grundsätzliche Ansatzpunkt, laufende und abgeschlossene Rechtsverhältnisse unterschiedlich zu behandeln, lässt sich daher durchaus fruchtbar machen.558 Unübertragbar zeigt sich weiterhin das Merkmal der Erforderlichkeit einer echten Rückwirkung. Die Rechtsprechungsrückwirkung ist immer erforderlich. Sie ist theoretisch vorgegeben, denn Rechtsprechung soll den verbindlichen Inhalt der Norm von deren Inkrafttreten an konkretisieren. Auch die Fallgruppe wohlerworbener Rechte ist für die Bewertung schutzbedürftigen Vertrauens unbrauchbar.559 Das Vertrauen in eine bestimmte Rechtslage vor deren Klärung durch den Gerichtshof erweist sich im Nachhinein immer als Vertrauen in eine falsche und insofern rechtswidrige Rechtsansicht, ebenso das Vertrauen in die alte Rechtslage bei einer Rechtsprechungsänderung. Eine Rückwirkungsbegrenzung würde stets ausscheiden, wenn man die frühere Rechtsprechung als falsch (und damit rechtswidrig) ansehen würde.560 Auch der Verhältnismäßigkeitsmechanismus kann nicht ohne Modifikation übertragen werden. Die Prüfung einer Rechtsprechungsrückwirkungsbeschränkung erfolgt nicht stets in einem öffentlich-rechtlichen Rechtsstreit. Sie kann in allen Rechtsbereichen vorkommen, die das Unionsrecht abdeckt, und nimmt dann deren Rechtsnatur an. Die Rechtsprechungsrückwirkung muss sich daher – soweit sie einheitlichen Grundsätzen folgen soll – an der Ambivalenz der Zuordnung ausrichten und alle beteiligten Interessen in einer um-

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27.

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Vgl. Riesenhuber-Neuner, Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 12 Rn. 2,

Vgl. oben § 4 A.II., S. 104. Vgl. oben § 4 A.II., S. 104. 558 Vgl. GA Kokott, SchlA v. 30.9.2010 – Rs. C-236/09 Association Belge des Consommateurs Test-Achats ASBL u.a., Slg. 2011, I-773 Rn. 81. 559 Vgl. oben § 4 A.II., S. 99. 560 Vgl. die Nachweise oben § 3 D.I.2.b)dd), S. 52 f. 557

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Teil 2: Grundlagen

fassenden Abwägung berücksichtigen.561 Das Gesetzesrückwirkungsverbot hingegen ist öffentlich-rechtlich ausgestaltet. Es richtet sich gegen den Hoheitsträger,562 ist also den Grundrechten vergleichbar als Abwehrrecht konzipiert.563 Privatrechtliche Regelungen zielen hingegen auf einen Ausgleich von privaten Interessen ab und nicht auf den Schutz vor hoheitlicher Einwirkung.564 Von einer Rechtsprechungsrückwirkung ist in Privatrechtsverhältnissen immer auch eine andere Privatperson mittelbar betroffen.565 Dagegen lässt sich dann nicht einwenden, dass auch das Rechtsprechungsrückwirkungsverbot sich unmittelbar nur gegen die Gerichte als Träger staatlicher Gewalt richtet.566 Weitreichende Parallelen sind hingegen möglich bei der Frage, welche Unionsorgane durch welches Verhalten überhaupt rechts- und vertrauensschutzerheblich handeln können und welche Qualität dieses Handeln erreichen muss. Hierbei muss aber Augenmerk darauf gelegt werden, dass die Akteure des Gesetzgebungsprozesses und der richterlichen Tätigkeit verschieden sind. Vergleichbar erscheinen weiterhin die Überlegungen zum Ausschluss des Vertrauensschutzes wegen Vorankündigungen oder konkret unsicherer Rechtslagen. IV. Zusammenfassung Rechtsprechungsrückwirkung und Gesetzesrückwirkung haben ihren gemeinsamen Ursprung im Prinzip der Rechtssicherheit. Dennoch trennen sie deutliche Unterschiede, so dass sich die Dogmatik zur Gesetzesrückwirkung weder vollständig auf die Rechtsprechungsrückwirkung übertragen noch entsprechend anwenden ließe. Von einem „allgemeinen unionsrechtlichen Rückwirkungsverbot“, das einheitlich für Rechtsprechung und Gesetzgebung gilt,

561

In diesem Sinne Höpfner, RdA 2006, 156, 163 f.; wohl auch Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 138 f. 562 GA Lenz, SchlA v. 6.6.1990 – Rs. C-99/89 Yanez-Campoy, Slg. 1990, I-4097 Rn. 48. f. 563 Siehe nur Heukels, Intertemporales Gemeinschaftsrecht, 1990, S. 133 ff., 225 ff., der die Grenzen der Gesetzesrückwirkung allein aus der Perspektive des Individualrechtsschutzes untersucht. 564 Jansen, ERPL 2 (2000), 336, 340. 565 Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, 1996, S. 209 ff. 566 In diese Richtung hingegen Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 138 f.; Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, 1996, S. 209 ff.

§ 4 Übertragbarkeit der Lehre von der Rückwirkung von Gesetzen?

111

lässt sich daher nicht sprechen.567 Einzelne Elemente können aber durchaus für die Rechtsprechungsrückwirkung fruchtbar gemacht werden.

567

So aber GA Kokott, SchlA v. 30.9.2010 – Rs. C-236/09 Association Belge des Consommateurs Test-Achats ASBL u.a., Slg. 2011, I-773 Rn. 81.

3. Teil

Materiellrechtliche Fragestellungen Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen Nach dieser Grundlegung sind nun die materiellrechtlichen Problemstellungen der Rückwirkungsbeschränkung zu untersuchen. Zuerst ist zu klären, worauf die Kompetenz des Gerichtshofs zu dieser Rechtsprechung beruht, bevor der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung analysiert wird. Dabei werden sich deutliche Unterschiede für die einzelnen Verfahrensarten nachweisen lassen, die sich in den Bestimmungen der Rechtsfolgen fortsetzen. Dem Vergleich und der Konvergenz der divergierenden Anforderungen wird daher besonderes Augenmerk geschenkt.

§ 5 Die Kompetenzgrundlagen für die Bestimmung der zeitlichen Wirkungen Kompetenzgrundlagen Aus den Grundlagen des Unionsrechts ergab sich, dass die Rechtsprechung des EuGH grundsätzlich zurückwirkt. Einer besonderen Kompetenznorm bedurfte es dafür nicht. Vielmehr ist diese Wirkung den Aufgabenzuweisungen (Art. 19 Abs. 1 EUV und Art. 251 ff. AEUV) an den EuGH immanent. Davon ausgehend bedarf die Kompetenz zur abweichenden Bestimmung der zeitlichen Wirkungen einer eigenständigen Begründung. Es muss geklärt werden, woraus sich die Berechtigung des Gerichtshofs ergibt, aufgrund von Erwägungen der Rechtssicherheit die Folgen seiner Rechtsprechung zu begrenzen. Es ist zu beachten, dass die Wahl der Kompetenzgrundlage Auswirkungen auf die Dogmatik haben kann. Soweit man mit der Kompetenznorm jeweils eine bestimmte, abweichende Dogmatik verbindet, könnte auf diese Weise die Frage einer einheitlichen, für alle Entscheidungen des EuGH geltenden Vorgehensweise schon negativ beantwortet sein. Im Ausgangspunkt werden daher die jeweiligen Verfahren getrennt voneinander untersucht, insbesondere ist die Gültigkeits- von der Auslegungsvorlage zu unterscheiden ist.1

1

Anders z.B. Hufen/Nörr, Beschränkung von Urteilswirkungen im Falle der Feststellung der Verfassungswidrigkeit von Rechtsnormen, 2008, Teil 1, S. 37 ff., die das Vorlageverfahren einheitlich beurteilen.

§ 5 Kompetenzgrundlagen

113

A. Nichtigkeitsklage, Art. 264 Abs. 2 AEUV Bei der Nichtigkeitsklage nach Art. 263 f. AEUV enthält Art. 264 Abs. 2 AEUV eine ausdrückliche Kompetenzzuweisung an den EuGH, diejenigen Wirkungen zu bezeichnen, die als fortgeltend zu betrachten sind. Der Gerichtshof hat diese Bestimmung zu Recht dahin ausgelegt, dass sie auch die (zeitweise) Aufrechterhaltung von rechtswidrigen Rechtsakten umfasst und nicht nur die Regelung der Teilnichtigkeit durch Trennung von rechtswidrigen und rechtmäßigen Teilen einer einheitlichen Handlung.2 Die Entscheidung über die Unwirksamkeit einer Unionsvorschrift muss aus Gründen der einheitlichen Geltung des Unionsrechts dem EuGH aufgetragen sein und nicht etwa den Mitgliedstaaten.3 Art. 264 Abs. 2 AEUV ist Ausdruck des allgemeinen Grundsatzes der Rechtssicherheit.4 Die Vorschrift enthält einen Ermessensspielraum zu Gunsten der Unionsgerichte, um die Folgen der Nichtigkeitsurteile einzelfallbezogen bestimmen zu können.5 In der Fassung des Lissaboner Vertrages ermöglicht Art. 264 Abs. 2 AEUV die Aufrechterhaltung von Wirkungen aller Handlungen im Sinne von Art. 288 AEUV. Die Vorgängernormen waren noch auf Verordnungen beschränkt und enthielten für alle anderen Rechtsakte keine Regelung. Der Gerichtshof wandte jedoch schon diese Vorschriften entsprechend auf Richtlinien6, die Feststellung des Haushaltsplans durch den Präsidenten des Europäischen Parlaments7, einen Beschluss zur Annahme eines völkerrechtlichen Vertrages8, einen Beschluss über den Inhalt einer Stellungnahme bei einer völkerrechtlichen Konferenz9, andere Beschlüsse10 und auf Entscheidungen11

2 Kritisch z.B. noch Brown, CMLRev 18 (1981), 509, 517: „bold interpretation“; Usher, ELRev 1981, 116, 118; Ipsen, EuR 1973, 339, 341: „weite Interpretation“. Wie hier aber schon Matthies, FS Hallstein, 1966, S. 304, 311 f. und Fn. 18. 3 EuGH v. 26.4.1994 – Rs. C-228/92 Roquette Frères ./. Hauptzollamt Geldern, Slg. 1994, I-1445 Rn. 20. 4 Calliess/Ruffert-Cremer, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 263 AEUV Rn. 3; auch schon Reischl, Ansätze zur Herausbildung eines europäischen Verwaltungsrechts in der Rechtsprechung des EuGH, 1982, S. 97, 106; ähnlich Borchardt, Der Grundsatz des Vertrauensschutzes im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1988, S. 135. 5 Groussot, CMLRev 44 (2007), 761, 772; Vedder/Heintschel v. Heinegg-Pache, EUV/AEUV/GrRCh, 2012, Art. 264 AEUV Rn. 6; Grabitz/Hilf/Nettesheim-Dörr, Das Recht der Europäischen Union, 51. EL 2013, Art. 264 AEUV Rn. 13; in diesem Sinne schon Gleiss/Kleinmann, NJW 1966, 1591, 1593. 6 EuGH v. 7.7.1992 – Rs. C-295/90 Parlament ./. Rat, Slg. 1992, I-4193; EuGH v. 5.7.1995 – Rs. C-21/94 Parlament ./. Rat, Slg. 1995, I-1827. 7 EuGH v. 3.7.1986 – Rs. 34/86 Rat ./. Parlament, Slg. 1986, 2155; EuGH v. 31.3.1992 – Rs. C-284/90 Rat ./. Parlament, Slg. 1992, I-2277; EuGH v. 7.12.1995 – Rs. C-41/95 Rat ./. Parlament, Slg. 1995, I-4411. 8 EuGH v. 7.3.1996 – Rs. C-360/93 Parlament ./. Rat, Slg. 1996, I-1195 Rn. 36. 9 EuGH v. 1.10.2009 – Rs. C-370/07 Kommission ./. Rat, Slg. 2009, I-8917 Rn. 64.

114

Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

an.12 Die Begrenzung des Wortlauts auf Verordnungen beruhte nämlich auf der Annahme, andere Rechtsakte könnten keine unmittelbaren Wirkungen entfalten.13 Die weite Anwendung von Art. 264 Abs. 2 AEUV durch den EuGH zeigt, dass jede Rechtswirkung einer Unionshandlung fortwirken kann. Es muss sich dabei nicht um eine unmittelbare Wirkung gegenüber Privatrechtspersonen handeln. Deshalb erfasst die Erweiterung des Wortlauts potentiell alle Handlungen der Union, die daher einer einheitlichen Systematik der Rückwirkungsbeschränkung unterliegen. Diese Systematik wurde im Lissaboner Vertrag nur kodifiziert; eine inhaltliche Änderung war mit der Änderung des Wortlauts nicht beabsichtigt.14 Vielmehr gab der Vertragsgesetzgeber konkludent sein Einverständnis mit diesen Rechtsprechungsgrundsätzen zu erkennen. Art. 264 Abs. 2 AEUV gilt direkt auch für Nichtigkeitsklagen, die nach Art. 271 lit. b) AEUV erhoben werden.15 Art. 271 AEUV erweitert nur den Anwendungsbereich der Nichtigkeitsklage nach Art. 263 f. AEUV und schafft keine eigenständige Klage- oder Verfahrensart. Mit der Aufhebung der eigenständigen Nichtigkeitsklage des Art. 146 EAG a.F. zu Gunsten von Art. 263 f. AEUV16 erfasst Art. 264 Abs. 2 AEUV nunmehr auch direkt Verstöße gegen den Euratom-Vertrag. Bei kombinierten Klagen aus Art. 173 EWG a.F. und Art. 146 EAG a.F. beschränkte der Gerichtshof schon früher einheitlich seine Rückwirkung, ohne zu den Kompetenzfragen ausdrücklich

10

EuGH v. 28.5.1998 – Rs. C-22/96 Parlament ./. Rat, Slg. 1998, I-3231 Rn. 42; EuGH v. 19.11.1998 – Rs. C-159/96 Portugal ./. Kommission, Slg. 1998, I-7379 Rn. 52 f.; EuGH v. 11.9.2003 – Rs. C-211/01 Kommission ./. Rat, Slg. 2003, I-8913 Rn. 57; EuGH v. 6.11.2008 – Rs. C-155/07 Parlament ./. Rat, Slg. 2008, I-8103 Rn. 87. Zu einem Beschluss des Rates der Gouverneure der Europäischen Investitionsbank siehe GA Mancini, SchlA v. 24.11.1987 – Rs. 85/86 Kommission ./. Rat der Gouverneure der Europäischen Investitionsbank, Slg. 1988, 1281, 1311 f. 11 EuGH v. 7.3.1996 – Rs. C-360/93 Parlament ./. Rat, Slg. 1996, I-1195 Rn. 36; EuGH v. 26.3.1996 – Rs. C-271/94 Parlament ./. Rat, Slg. 1996, I-1689 Rn. 40; EuGH v. 12.5.1998 – Rs. C-106/96 Großbritannien und Nordirland ./. Kommission, Slg. 1998, I-2729 Rn. 41; EuGH v. 30.5.2006 – verb. Rs. C-317/04 und C-318/04 Parlament ./. Rat und Kommission, Slg. 2006, I-4721 Rn. 73 f.; EuGH v. 1.4.2008 – verb. Rs. C-14/06 und C-295/06 Parlament und Dänemark ./. Kommission, Slg. 2008, I-1649 Rn. 84 12 Ausführliche Darstellung bei Müller, Die Begrenzung der zeitlichen Wirkungen von EuGH-Entscheidungen, 2009, S. 28 ff. 13 So anlässlich einer Richtlinie GA Jacobs, SchlA v. 20.5.1992 – Rs. C-295/90 Parlament ./. Rat, Slg. 1992, I-4193 Rn. 43; O’Leary, CMLRev 30 (1993), 639, 645. 14 Streinz-Ehricke, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2011, Art. 264 AEUV Rn. 10; Lenz/Borchardt-Borchardt, EU-Verträge, 5. Aufl. 2010, Art. 264 AEUV Rn. 8 (anders in 6. Aufl.); Geiger/Khan/Kotzur-Kotzur, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2010, Art. 264 AEUV Rn. 8. 15 Vgl. GA Mancini, SchlA v. 24.11.1987 – Rs. 85/86 Kommission ./. Rat der Gouverneure der Europäischen Investitionsbank, Slg. 1988, 1281 sub 14. 16 Siehe Art. 106a Abs. 1 EAGV.

§ 5 Kompetenzgrundlagen

115

Stellung zu beziehen.17 Einer analogen Anwendung von Art. 174 Abs. 2 EWG a.F. im Verfahren nach Art. 146 EAG a.F. dürften keine Einwände entgegengestanden haben.18 B. Ungültigkeitsvorabentscheidungsverfahren, Art. 264 Abs. 2 AEUV analog Auch für die Ungültigkeitsvorabentscheidung kann Art. 264 Abs. 2 AEUV als Kompetenzgrundlage herangezogen werden. Während zu Beginn der 1980er Jahre eine entsprechende Befugnis des EuGH noch angezweifelt wurde,19 wird sie heute allgemein akzeptiert.20 Methodisch handelt es sich dabei um eine Analogie.21 Das erfordert eine Lücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit und eine vergleichbare Interessenlage.22 I.

Lücke

Art. 267 Abs. 1 AEUV enthält keine Regelung darüber, welche Folgen einer Ungültigerklärung zukommen und insbesondere, ob eine ungültige Unions17

EuGH v. 31.3.1992 – Rs. C-284/90 Rat ./. Parlament, Slg. 1992, I-2277 Rn. 34 ff.; EuGH v. 7.12.1995 – Rs. C-41/95 Rat ./. Parlament, Slg. 1995, I-4411 Rn. 43 ff. 18 Novak, St. Galler Europarechtsbriefe 1996, 32. 19 Z.B. Lauwaars, The temporal effect of a declaration of invalidity, 1987, S. 313, 314, 316; ausführliche Argumentation z.B. bei Bebr, FS Stein, 1987, S. 91, 106 ff. Zum Kompetenzstreit mit den französischen Gerichten z.B. Roseren, CMLRev 31 (1994), 315, 372 ff.; Everling, FS Börner, 1992, S. 57, 62 ff.; Ehlers-Gundel, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 4. Aufl. 2014, § 27 Rn. 57 Fn. 175; die Argumente sind auch dargestellt bei Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 98; Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 93 ff. 20 EuGH v. 9.11.2010 – verb. Rs. C-92/09 und C-93/09 Schecke und Eifert, Slg. 2010, I-11063 Rn. 93; Hakenberg/Stix-Hackl, Handbuch zum Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof, 3. Aufl. 2005, S. 78 Fn. 82; Calliess/Ruffert-Wegener, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 267 Rn. 51; Müller, Die Begrenzung der zeitlichen Wirkungen von EuGHEntscheidungen, 2009, S. 48 ff.; Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 222 ff. 21 Die Diktion von EuGH und Generalanwälten ist nicht immer einheitlich: EuGH v. 27.2.1985 – Rs. 112/83 Produits de Maïs, Slg. 1985, 719 Rn. 17 geht von einer Auslegung („interpretation“) aus; EuGH v. 9.11.2010 – verb. Rs. C-92/09 und C-93/09 Schecke und Eifert, Slg. 2010, I-11063 Rn. 93 hält Art. 264 Abs. 2 AEUV für „entsprechend anwendbar“; GA Trstenjak, SchlA v. 17.6.2010 – Rs. C-229/09 Hogan Lovells International, Slg. 2010, I-11335 Rn. 88 stellt auf den Rechtsgedanken von Art. 264 Abs. 2 AEUV ab, ebenso GA Kokott, SchlA v. 26.6.2008 – Rs. C-333/07 Régie Networks, Slg. 2008, I-10807 Rn. 131; auf beides wiederum rekurriert GA Kokott, SchlA v. 30.9.2010 – Rs. C-236/09 Association Belge des Consommateurs Test-Achats ASBL u.a., Slg. 2011, I-773 Rn. 73 bzw. 75. 22 Ahmling, Analogiebildung durch den EuGH im Europäischen Privatrecht, 2012, S. 147 ff.

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

norm in ihren Wirkungen aufrechterhalten bleiben kann. Das Bedürfnis nach gleichförmiger Anwendung des Unionsrechts verlangt eine einheitliche Bestimmung der Wirkungen einer Ungültigerklärung.23 Diese lassen sich nicht von der Sachentscheidung trennen und müssen demnach aus dem Unionsrecht abgeleitet werden.24 Das geschriebene Recht ist insoweit lückenhaft. II. Vergleichbare Interessenlage Es besteht auch die notwendige vergleichbare Interessenlage zwischen Nichtigkeitsklage und Ungültigkeitsvorlage. Beide Verfahren sind Möglichkeiten der Rechtmäßigkeitskontrolle von Unionssekundärrecht25 und ihre Prüfungsmaßstäbe sind vereinheitlicht26. Bei Nichtigkeit und Ungültigkeit geht es um die Kollision von Unionsrecht mit höherrangigem Recht.27 Art. 264 Abs. 2 AEUV ermöglicht, diese Kollision flexibel im Einklang mit anderen Prinzipien des Primärrechts aufzulösen.28 Dementsprechend dient die Analogie der Kohärenz beider Verfahren.29 Im Vergleich zur Nichtigkeit besteht bei der Ungültigkeitserklärung sogar noch mehr Bedarf nach einer Begrenzung der Rückwirkung, denn diese kann noch Jahre nach Inkrafttreten des Rechtsakts geltend gemacht werden.30 Der Analogie zu Art. 264 Abs. 2 AEUV steht nicht der aus Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV abgeleitete, allgemeine Grundsatz der Rechtssicherheit entgegen, der vom EuGH unter anderem zur Beschränkung der Auslegungsrückwirkung herangezogen wird31. Zwar liegt jeder Ungültigerklärung immer auch eine Auslegung des höherrangigen Rechts zugrunde.32 Jedoch gilt dies ebenso für die Nichtigkeitsklage, bei der Art. 264 Abs. 2 AEUV unmittelbar Anwendung findet. Auch die frühere, den Wortlaut übersteigende Auswei23

GA Villalón, SchlA v. 8.12.2011 – Rs. C-533/10 CIVAD, EU:C:2011:819 Rn. 43; Bebr, FS Stein, 1987, S. 91, 107; vorsichtig bejahend Waelbroeck, YbEL 1 (1981), 115, 122. 24 Bebr, CMLRev 22 (1985), 771, 784; GA Villalón, SchlA v. 8.12.2011 – Rs. C-533/10 CIVAD, EU:C:2011:819 Rn. 43. 25 EuGH v. 27.2.1985 – Rs. 112/83 Produits de Maïs, Slg. 1985, 719 Rn. 17; EuGH v. 8.2.1996 – Rs. C-212/94 FMC, Slg. 1996, I-389 Rn. 56. 26 Frenz/Kühl, DStZ 2009, 432, 435; wortgleich Frenz, Handbuch Europarecht, Band 5, 2010, Rn. 3411. 27 Weiß, EuR 1995, 377, 379 ff. 28 Terhechte, EuR 2006, 828, 836. 29 EuGH v. 27.2.1985 – Rs. 112/83 Produits de Maïs, Slg. 1985, 719 Rn. 17; Vgl. auch GA Darmon, SchlA v. 14.11.1984 – Rs. 112/83 Produits de Maïs, Slg. 1985, 720, 725 f. Zustimmend Weiß, EuR 1995, 377, 384; Bebr, CMLRev 25 (1988), 667, 672 ff. 30 Bebr, FS Stein, 1987, S. 91, 107; Lenaerts/Arts/Masels/Bray, Procedural Law of the European Union, 2. Aufl. 2006, Rn. 10-018. 31 Dazu unten § 5 D.I., S. 119. 32 Osterloh, FS Hassemer, 2010, S. 173, 180. Eingehend dazu oben § 3 D.I.2.a), S. 46, vgl. auch unten § 6 D., S. 287 ff.

§ 5 Kompetenzgrundlagen

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tung der Vorgängernormen auf andere Rechtakte als Verordnungen lässt sich auf den prägenden Gedanken der Rechtssicherheit zurückführen.33 Gleichwohl handelte es sich dabei methodisch ebenso um Analogieschlüsse. Der hinter einer konkreten Regelung stehende allgemeine Rechtsgrundsatz verhindert nicht deren analoge Anwendung auf vergleichbare Fallgestaltungen, sondern begünstigt sie. Die analoge Anwendung einer Spezialregelung ist daher dem Verweis auf einen allgemeinen Rechtsgrundsatz vorzuziehen, soweit die Vergleichbarkeit reicht. Schließlich lässt sich der Streit um die Rückausnahme für Rechtsbehelfsführer nicht im Sinne einer Kompetenzableitung aus dem Grundsatz der Rechtssicherheit heranziehen. Diese Rückausnahme wird von Art. 264 Abs. 2 AEUV ebenso ermöglicht.34 Dass der Gerichtshof nach anfänglicher Ablehnung der personellen Rückausnahme und daraus entstehendem Streit mit französischen Gerichten35 dazu überging, die Rechtsbehelfsführer von einer Rückwirkungsbeschränkung freizustellen, war nicht auf einem Wechsel der Kompetenzgrundlage, sondern der Rechtsanschauung begründet.36 C. Inzidentrüge, Art. 277 AEUV Bei der Inzidentrüge nach Art. 277 AEUV stellt sich zuerst die Frage, ob eine Rückwirkungsbeschränkung überhaupt notwendig werden kann. Charakteristisch für die Inzidentrüge ist nämlich, dass sich die Unanwendbarkeit nur im konkreten Verfahren auswirkt. Der Gerichtshof hat die Wirkungen einer Nichtigkeitserklärung jedoch auch schon zeitweise aufrechterhalten, obwohl diese inhaltlich auf den Kläger beschränkt war.37 Auch hier wäre der einzige Begünstigte der Unwirksamkeit der Kläger des Ausgangsverfahrens gewesen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass eine solche Notwendigkeit in einer Inzidentklagesituation auftritt. Schwerer wiegt, dass die Rüge nach Art. 277 AEUV stets in ein anderes Verfahren eingebettet ist. Es ließe sich also überlegen, ob nur das Ergebnis/der Tenor des eigentlichen Hauptverfahrens in seiner Rückwirkung beschränkt werden sollte. Einer separaten Beschränkung des Unanwendbarkeitsausspruchs bedürfte es dann in der Tat nicht. Dagegen spricht allerdings, dass es dogmatisch sauberer ist, die Rechtssicherheitserwägungen dort anzuknüpfen, worauf sie sich beziehen. Ist es eigentlich die Rechtsgrundlage, die aus besonderen Gründen trotz Rechtswidrigkeit aufrecht erhalten bleiben soll, dann müssen die Argumente dementsprechend zugeord33

Cremona, CMLRev 34 (1997), 389, 397. Zur Frage, ob die Rückausnahme auch bei der Nichtigkeitsklage möglich ist, unten § 7 D.II.1., S. 368. 35 Siehe die Nachweise oben § 5 Fn. 19. 36 A.A. Düsterhaus, EuZW 2006, 393, 395. 37 EuGH v. 3.9.2008 – verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P Kadi und Al Barakaat International Foundation ./. Rat und Kommission, Slg. 2008, I-6351 Tenor Nr. 2 und 3. 34

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

net werden. Für die Organe, die die höherrangige Handlung erlassen haben, tritt so klarer hervor, dass eine Rückwirkungsbeschränkung auch in anderen Verfahren, die sich gegen diese Handlung richten, in Betracht kommt. Nachteilig ist zwar, dass die Rückwirkungsbeschränkung dann nicht an einen Tenor anknüpfen kann. Das liegt aber in der Natur eines Inzidentstreits. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der EuGH sie aus Klarstellungsgründen dennoch tenoriert. Außerdem werden so auch die Inzidentrüge und die – aus ihr abgeleitete – allgemeine Einrede der Rechtswidrigkeit, die vor nationalen Gerichten erhoben wird, gleich behandelt. Bei letzterer verlangt der Gerichtshof, die angegriffene Rechtsgrundlage ihm zur Gültigkeitsprüfung vorzulegen,38 in deren Rahmen dann Art. 264 Abs. 2 AEUV analog zur Anwendung kommt. Dort knüpft die Rückwirkungsbeschränkung also auch an die abstraktgenerelle Rechtsgrundlage an. Es ist also für die Frage der Rückwirkung zu trennen zwischen dem Ergebnis der eigentlichen Klage und der Unanwendbarerklärung der inzident angegriffenen Rechtsgrundlage. Die Kompetenz zur Beschränkung der Rückwirkung der Unanwendbarerklärung folgt aus der entsprechenden Anwendung von Art. 264 Abs. 2 AEUV. Die Interessenlage ist bei der Unanwendbarkeit ist mit der bei Nichtigkeitsklage und Ungültigkeitsvorlage vergleichbar. Art. 277 AEUV verweist für den Prüfungsmaßstab auf Art. 263 Abs. 2 AEUV und stellt damit neben der Nichtigkeitsklage und der Ungültigkeitsvorlage einen dritten Weg zur Überprüfung von Unionsrecht anhand eines einheitlichen Maßstabs dar. In allen drei Verfahren wird die Wirksamkeit eines Unionsrechtsakts ganz oder teilweise beseitigt. Gegen die Anwendung der Auslegungsgrundsätze, also Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV als Kompetenznorm, lässt sich außerdem anführen, dass die Inzidentunanwendbarkeit wie die Nichtigkeit und die Ungültigkeit auf einem konstitutiven Akt des Gerichtshofs beruht.39 Dieser hat zwar eine geringere Bindungswirkung und wird nicht tenoriert, findet sich aber in den Urteilsgründen. D. Auslegungsvorabentscheidungsverfahren Weder die Verträge noch die Bestimmungen der Satzung und der Verfahrensordnung über die Auslegungsvorabentscheidung enthalten eine ausdrückliche Kompetenzzuweisung für die Modifikation der zeitlichen Wirkungen einer Auslegungsentscheidung an den EuGH.40 Mittlerweile überwunden ist das Vorbringen, die Beobachtung und Berücksichtigung der Auswirkungen seiner Rechtsprechung durch den EuGH falle unter die „Anwendung des Unionsrechts“ im Sinne von Art. 19 Abs. 1 38 Grabitz/Hilf/Nettesheim-Stoll/Rigod, Das Recht der Europäischen Union, 51. EL 2013, Art. 277 AEUV Rn. 5. 39 Vgl. oben § 3 E.II.5., S. 90. 40 Kritisch daher Hartley, Constitutional Problems of the European Union, 1999, S. 41.

§ 5 Kompetenzgrundlagen

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UAbs. 1 EUV.41 Diese ist nach gefestigter Rechtsprechung dem Gerichtshof im Auslegungsvorlageverfahren entzogen.42 Anwendung des Unionsrechts meint die Subsumtion des Sachverhalts auf das vom Gerichtshof ausgelegte Recht. Die Begrenzung der zeitlichen Wirkungen einer Unionsnorm kann sich hingegen aus einem unionalen Gebot der Rechtssicherheit ergeben. Dessen Reichweite wird selbstverständlich vom EuGH durch „Auslegung“ im Sinne von Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 EUV, Art. 267 Abs. 1 lit. a) AEUV bestimmt. Soweit versucht wird, die Kompetenz zur Rückwirkungsbeschränkung aus der verfassungsgerichtlichen oder verfassungsgerichtsähnlichen Stellung des Europäischen Gerichtshofs zu begründen,43 geht dies fehl. Zuerst ist fraglich, ob bei einer solchen Abgrenzung nicht auf den konkreten Auslegungsgegenstand abgestellt werden müsste. Eine solche Unterscheidung ist aber weder nachzuweisen, noch sinnvoll. Zudem zeigt ein Blick auf das deutsche Recht, dass das Bedürfnis nach einer Rückwirkungsbeschränkung keine Besonderheit des Verfassungsrechts ist, wird sie doch nicht nur vom BVerfG, sondern insbesondere von den Fachgerichten vorgenommen.44 I. Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV in Verbindung mit dem Prinzip der Rechtssicherheit Im Einklang mit dem Gerichtshof ist als Kompetenznorm auf Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV in Verbindung mit dem Prinzip der Rechtssicherheit zurückzugreifen.45 Die Berücksichtigung von Auswirkungen seiner Urteile auf 41

So noch Hamson, Methods of interpretation, 1976, S. II-15; Waelbroeck, YbEL 1 (1981), 115, 122. 42 Calliess/Ruffert-Wegener, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 267 AEUV Rn. 5. 43 Ehlers-Gundel, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 4. Aufl. 2014, § 27 Rn. 57; Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 34 Fn. 43. 44 Vgl. Klappstein, Die Rechtsprechungsänderung mit Wirkung für die Zukunft, 2009 (Zivilgerichte); Huep, Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf ältere Sachverhalte, 2001 (Arbeitsgerichte); Lübbe, Grenzen der Rückwirkung bei Rechtsprechungsänderungen, 1998 (Zivil- und Arbeitsgerichte); Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, 1996 (Arbeitsgerichte); Bischoff, Das Problem der Rückwirkung bei einer Änderung der Rechtsprechung, 1980 (Finanzgerichte); Knittel, Zum Problem der Rückwirkung bei einer Änderung der Rechtsprechung im Steuerrecht, 1974 (Finanzgerichte); Grunsky, Grenzen der Rückwirkung bei einer Änderung der Rechtsprechung, 1970 (Zivilgerichte). 45 EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne II, Slg. 1976, 455 Rn. 74/75; EuGH v. 11.3.1981 – Rs. 69/80 Worringham, Slg. 1981, 767 Rn. 32; EuGH v. 13.4.2010 – Rs. C-73/08 Bressol u.a., Slg. 2010, I-2735 Rn. 91; Keppert, ÖStZ 1997, 165, 168; Tridimas, ELRev 1996, 199, 201 f.; Langenfeld, Die Gleichbehandlung von Mann und Frau im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1990, S. 93 ff.; Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995, S. 150; Beckmann, Probleme des

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den Grundsatz der Rechtssicherheit fällt unter seine Aufgabe, die Wahrung des Rechts bei Anwendung und Auslegung der Verträge zu sichern. Die Kompetenz zur Ausgestaltung der allgemeinen, ungeschriebenen Rechtsgrundsätze erhielt in Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV Ausdruck. Dagegen lässt sich nicht ins Feld führen, dass die allgemeinen Rechtsprinzipien als Optimierungsgebote nicht geeignet sind, die „an sehr konkreten Rechtsschichten erarbeitete Lösungen umzudrehen.“46 Der Rekurs auf die Rechtssicherheit dient der Berücksichtigung von Vertrauenserwägungen, die im punktuellen Sachrecht der Union gerade keine spezielle oder allgemeine Berücksichtigung gefunden haben. Dort wo Rechtsgrundsätze konkret zum Tragen kommen, lassen sich aus ihnen durchaus auch subsumierbare Rechtssätze ableiten. Es besteht kein Grund, entweder auf das sachlich richtige Ergebnis oder auf die Beachtung der Auswirkungen des Urteils zu verzichten, wenn auch beides miteinander kombiniert werden kann.47 Dem liegt hingegen nicht die Überlegung zugrunde, dass nur „ein in allen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen anerkannter Grundsatz“ geeignet ist, die Kollision zwischen nationalem Recht und Unionsrecht zu lösen.48 Die Rückwirkungsbeschränkung ist – auch im Verständnis des Gerichtshofs – ein innerunionales Phänomen; auf die Existenz des Grundsatzes in allen Mitgliedstaaten kommt es nicht an. Davon abgesehen ist der Inhalt des Prinzips der Rechtssicherheit in den Mitgliedstaaten durchaus sehr verschieden, so dass konkrete Ergebnisse daraus nicht abgeleitet werden könnten. Der Grundsatz kann daher nur unionsautonom interpretiert werden, was freilich punktuelle rechtsvergleichende Anleihen bei den Mitgliedstaaten nicht ausschließt. II. Keine vorrangige Analogie zu Art. 264 Abs. 2 AEUV Der Bezugnahme von Art. 19 Abs. 1 EUV und dem allgemeinen Prinzip der Rechtssicherheit steht eine mögliche Analogie zu Art. 264 Abs. 2 AEUV nicht entgegen.49 Für eine solche Analogie könnte sprechen, dass Hintergrund Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 177 EWG-Vertrag, 1988, S. 115; Kerwer, Das europäische Gemeinschaftsrecht und die Rechtsprechung der deutschen Arbeitsgerichte, 2003, S. 663 f. 46 Bydlinski, JBl 2001, 2, 14 f. 47 Langenfeld, Die Gleichbehandlung von Mann und Frau im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1990, S. 92 f. 48 Weiß, EuR 1995, 377, 383; ihm folgend Waldhoff, Rückwirkung von EuGHEntscheidungen, 2006, S. 37 f.; ähnlich Schmitz/Krasniqi, EuR 2010, 189, 204 f. 49 Die Analogie befürworten Sellmann/Augsberg, DÖV 2006, 533, 537; Schmitz/Stammler, AöR 2011, 479, 496; Thewes, Bindung und Durchsetzung der gerichtlichen Entscheidungen in der EU, 2003, S. 84; Geiger/Khan/Kotzur-Kotzur, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2010, Art. 264 AEUV Rn. 8; Lenz/Borchardt-Borchardt, EU-Verträge, 6. Aufl. 2013, Art. 267 AEUV Rn. 62; Bydlinski, JBl 2001, 2, 24 f.; Albarth/Wunderlich, EWS 2006, 205, 210; Heß, Intertemporales Privatrecht, 1998, S. 506; wohl auch Pietrek, Ver-

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von Art. 264 Abs. 2 AEUV gerade die Abwägung des Prinzips der objektiven Gesetzesgeltung mit der dem Grundsatz der Rechtssicherheit ist.50 Jedoch wird so nicht die Norm analog angewendet, sondern allenfalls deren Rechtsgedanke. Eine Analogie erfordert auch im Unionsrecht Lücke und vergleichbare Interessenlage.51 Eine Lücke ist hier gegeben, denn eine positive Vorschrift, die die Rückwirkungsbeschränkung zulässt oder ausschließt, ist nicht vorhanden. Gleichzeitig besteht ein Bedürfnis dafür, die Wirkungen der Auslegung mit den allgemeinen Rechtsgrundsätzen in Ausgleich zu bringen. Zur Begründung der vergleichbaren Interessenlage wird zum einen vorgebracht, die Auslegungsentscheidung erkläre entgegenstehendes mitgliedstaatliches Recht faktisch selbst für unanwendbar und sei daher den Unwirksamkeitsentscheidungen ähnlich. Zum anderen könnte sich die Vergleichbarkeit aus der Behandlung der in der Rechtsprechung entwickelten Fallgruppe der partiellen Unanwendbarkeit von Unionsrecht ableiten lassen. Beides vermag indes nicht zu überzeugen. 1. Auslegungsentscheidung als „faktische Unanwendbarkeitserklärung“ mitgliedstaatlichen Rechts Teilweise wird vertreten, dass die Auslegungsentscheidung zusammen mit dem Anwendungsvorrang unmittelbar anwendbaren Unionsrechts zu einer (faktischen) „Unanwendbarkeitserklärung“ rechtswidrigen mitgliedstaatlichen Rechts führe.52 Der Gerichtshof fälle mittelbar ein Urteil über entgegenbindlichkeit von Vorabentscheidungen nach Art. 177 EWGV, 1989, S. 47 ff.; sie zugrunde legend noch Everling, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem europäischen Gerichtshof, 1986, S. 67, anders später Everling, FS Börner, 1992, S. 57, 58 f. Entschieden gegen diese Ansicht Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 93; Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 140 ff.; s.a. Müller, Die Begrenzung der zeitlichen Wirkungen von EuGH-Entscheidungen, 2009, S. 78 f. 50 Calliess/Ruffert-Cremer, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 264 Rn. 6; ebenso schon Louis, EuGRZ 1976, 178, 179 und Schwarze, EuR 1977, 43, 49. 51 Vgl. z.B. Riesenhuber-Neuner, Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 12 Rn. 27 ff. Kritisch zum Methodologem der Lücke als Kennzeichen der „objektiven“ Auslegungslehre z.B. Jestaedt, Richterliche Rechtssetzung statt richterlicher Rechtsfortbildung, 2012, S. 49, 60 f. m.w.N. 52 Sagan, JJZ 2010, 67, 93; Bydlinski, JBl 2001, 2, 24 f.; Wyatt, CMLRev 23 (1986), 703, 714 f.; auch BAG v. 26.4.2006 – 7 AZR 500/04, passim; ähnlich Hailbronner, NZA 2006, 811, 813 f.: „faktische Normverwerfungskompetenz“; Tillmanns, FS Buchner, 2009, S. 885, 887 und 895; Franzen, RIW 2010, 577, 578; Osterloh, FS Hassemer, 2010, S. 180; vgl. auch Basedow, AcP 210 (2010), 157, 162: „de facto-Überprüfung von nationalem Recht“ (Hervorhebung im Original). Die „faktische Ähnlichkeit zum Nichtigkeitsurteil“ bejaht auch Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 39, 44, der im Ergebnis aber

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stehendes nationales Recht, wie er in Unwirksamkeitsentscheidungen ein Urteil über rechtswidriges Unionsrecht fälle. Gegen die Vergleichbarkeit dieser Situationen spricht jedoch, dass die Auslegungsbeschränkung ein innerunionales Phänomen ist, bei dem der Gerichtshof gerade keine Aussagen über die Wirksamkeit des „niederrangigen“ Rechts, also des mitgliedstaatlichen Rechts, treffen kann.53 Während bei den Unwirksamkeitsverfahren die höherrangige und die niederrangige Norm vom EuGH ausgelegt und von ihm auch der Normkonflikt festgestellt und durch Anwendung einer Kollisionsnorm aufgelöst wird, kann der EuGH im Verfahren nach Art. 267 Abs. 1 lit. a), b) AEUV nur das „höherrangige“ Unionsrecht auslegen. Alle weiteren Schritte sind den Mitgliedstaaten vorbehalten. Im Auslegungsverfahren lässt sich also eine Norm wie Art. 264 Abs. 2 AEUV, die die allgemeinen Kollisionsregeln (Rechtswidrigkeit führt zur Nichtigkeit/Ungültigkeit/Unanwendbarkeit) modifiziert, nicht anwenden. Damit ist freilich noch nicht geklärt, ob die allgemeinen Kollisionsnormen der Auslegungsentscheidungen modifiziert werden müssen; das soll später behandelt werden.54 „ 2. Sonderfall der Unanwendbarkeit von Unionsrecht unergiebig Auch die Rechtsprechung zur (partiellen) Unanwendbarkeit von Unionsrecht kann eine Analogie zu Art. 264 Abs. 2 AEUV für die Auslegungsentscheidungen nicht stützen. Die partielle Unanwendbarkeit von Unionssekundärrecht ist zuerst in der Rechtssache Skoma-Lux aufgetaucht.55 Sie ist eine besondere Konstellation, die daraus folgte, dass das fragliche Unionssekundärrecht in den alten und den neuen Mitgliedstaaten nur unterschiedliche Geltung beanspruchen konnte. In den alten Mitgliedstaaten konnten die Vorschriften sämtliche Adressaten, also Hoheitsträger und Private, verpflichten. In den neu beigetretenen Mitgliedstaaten durften Unionsbürger durch das fragliche Unionsrecht mangels dessen ordnungsgemäßer Veröffentlichung nur begünstigt, nicht aber belastet werden,56 während die mitgliedstaatlichen Hoheitsträger in vollem Umfang an das unveröffentlichte Recht gebunden waren57. „Partielle Unanwendbarkeit“ meint demnach die sachlich uneinheit-

die Analogie ablehnt. Im Ergebnis wie hier Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 97. 53 Gegen die „faktische Unanwendbarkeit nationalen Rechts“ z.B. Höpfner, ZfA 2010, 449, 483 f.; Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 119 f. 54 Siehe unten 5. Teil, S. 450 ff. 55 Zur Frage der Ableitung aus früheren Entscheidungen, siehe die Nachweise oben § 3 Fn. 398. 56 EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-161/06 Skoma-Lux, Slg. 2007, I-10841 Tenor 1. 57 EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-161/06 Skoma-Lux, Slg. 2007, I-10841 Rn. 59.

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liche Verbindlichkeit eines Rechtsakts für die eigentlichen Adressaten. Diese Unterscheidung kommt auch in der Rechtssache Heinrich zum Tragen.58 Die Unanwendbarkeit von Unionsrecht zu Lasten von Einzelnen kann nur vom EuGH selbst festgestellt werden, denn sie ergibt sich aus der Auslegung des Unionsprimärrechts in Verbindung mit dem Beitrittsrecht und berührt die (Art und Weise der) Geltung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten, die einheitlich bestimmt werden muss. Der Gerichtshof bezeichnet die Feststellung der Unanwendbarkeit deshalb ausdrücklich als Auslegung im Sinne von Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV.59 Dennoch behandelt der EuGH die zeitlichen Wirkungen der partiellen Unanwendbarkeit nicht nach den Grundsätzen der Auslegungsentscheidungen. Dies wird deutlich, wenn er Auslegung und Unanwendbarkeitsfeststellung deutlich voneinander abgrenzt.60 Der Gerichtshof scheint vielmehr einer Anwendung der Grundsätze der Unwirksamkeitsentscheidungen zuzuneigen, wenn er in Skoma-Lux aus Gründen der Rechtssicherheit entsprechend verfahren will.61 Dennoch dient die Rechtsprechung zur Rückwirkungsbeschränkung dem Gerichtshof in Skoma-Lux nur als Ausgangspunkt für die Bestimmung der Grenzen der Bestandskraft nationaler Verwaltungs- und Gerichtsentscheidungen.62 Eine Beschränkung der zeitlichen Wirkungen erfolgt nicht,63 weshalb auch die dogmatische Fundierung letztlich im Dunkeln bleibt. In der Rechtssache Heinrich wiederum verneint der EuGH die auf Art. 264 Abs. 2 AEUV gestützten Anträge der Mitgliedstaaten nicht ebenso pauschal wie in Skoma-Lux das auf Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV rekurrierende Vorbringen. Er verwendet es vielmehr als Ausgangspunkt für eine ablehnende Argumentation, die sich auf andere Sachargumente stützt und die dogmatischen Grundlagen offenlässt.64 Selbst wenn man hieraus schließt, dass der EuGH auf die Unanwendbarerklärung die Grundsätze des Art. 264 Abs. 2 AEUV anwendet, folgt daraus nichts für andere Auslegungsvorgänge. Unanwendbarkeit und (sonstige) Auslegung sind abzugrenzen und zu unterscheiden. Geht man wie hier davon aus, dass jede gerichtliche Tätigkeit des EuGH auf einer Auslegung beruht, und behandelt man dennoch wie der EuGH die Unwirksamkeitsaussprüche 58

EuGH v. 10.3.2009 – Rs. C-345/06 Heinrich, Slg. 2009, I-1659 Rn. 62 f. EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-161/06 Skoma-Lux, Slg. 2007, I-10841 Rn. 61 und Tenor 2. 60 EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-161/06 Skoma-Lux, Slg. 2007, I-10841 Rn. 68. 61 EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-161/06 Skoma-Lux, Slg. 2007, I-10841 Rn. 71. 62 Küpper, JOR 2008, 147, 156. 63 Küpper, JOR 2008, 147, 156; Broberg/Fenger, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union, 2014, S. 403 Fn. 88; a.A. Lasiński-Sulecki, Intertax 37 (2009), 414, 418 f.; Lasiński-Sulecki/Morawski, CMLRev 45 (2008), 705, 716 ff. 64 EuGH v. 10.3.2009 – Rs. C-345/06 Heinrich, Slg. 2009, I-1659 Rn. 64 ff. 59

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anders als die Auslegung, ist die Übertragung der Unwirksamkeitsgrundsätze auf die Unanwendbarkeit konsequent. Letztere stellt sich – obwohl als Auslegungsvorgang bezeichnet – als eine besondere Form der Nicht-Geltung von Unionsrecht in den Mitgliedstaaten dar. Ihre Feststellung setzt den mit der Gültigkeitsvermutung einhergehenden Anwendungsbefehl teilweise außer Kraft und macht sie daher den Unwirksamkeitserklärungen vergleichbar. Als Kompetenzgrundlage für eine Aufrechterhaltung einzelner Wirkungen kann dort deshalb Art. 264 Abs. 2 AEUV analog herangezogen werden, während dies nicht für die anderen Auslegungen gilt. 3. Suspendierung des höherrangigen Rechts Zuletzt folgt die Analogie nicht daraus, dass es bei der Rückwirkungsbeschränkung in allen Verfahren auch um den Geltungsanspruch des höherrangigen Unionsrechts geht.65 Dabei ist zuzugeben – und wurde schon mehrfach betont –, dass sowohl im Auslegungsverfahren als auch in den Unwirksamkeitsverfahren das Unionsrecht ausgelegt wird. Durch die Rückwirkungsbeschränkung wird im Auslegungsverfahren die ausgelegte Unionsnorm, in den Ungültigkeitsverfahren die ausgelegte höherrangige Unionsnorm in ihrer Wirkung (zeitweilig) suspendiert. Diese Gemeinsamkeit würde jedoch nicht zur Anwendung von Art. 264 Abs. 2 AEUV führen können, sondern allenfalls die einheitliche Geltung der Grundsätze der Auslegungsvorlage für alle Verfahrensarten nach sich ziehen.66 Art. 264 Abs. 2 AEUV soll eine Einschränkung des gestaltenden Tenors gemäß Art. 264 Abs. 1 AEUV ermöglichen. Die Vorschrift bezieht sich auf den aufgehobenen Rechtsakt. Diese Möglichkeit besteht bei der Auslegungsvorlage gerade nicht, ohne die Entscheidungskompetenz der mitgliedstaatlichen Gerichte zu verletzen. III. Schweigende Anerkennung der Kompetenz zur Rückwirkungsbeschränkung Schließlich ist davon auszugehen, dass der Vertragsgesetzgeber die vom Gerichtshof für sich in Anspruch genommene Kompetenz im Grundsatz längst gebilligt und anerkannt hat. Dafür lässt sich zwar nicht anführen, dass die jahrzehntelange Rechtsprechung in den Vertragsrevisionen nicht abgeschafft wurde, denn die Untätigkeit des Vertragsgebers bietet keinen Anhaltspunkt für die Frage der Akzeptanz einer Rechtsprechung.67 Hingegen ging es über eine Untätigkeit hinaus, das im Range des Primärrechts stehende Barber-Protokoll zu schaffen. Dieses wurde gezielt in Bezug auf eine vom EuGH vorgenommene Rückwirkungsbeschränkung verabschiedet. Es ist 65

Darauf weist zu Recht hin Osterloh, FS Hassemer, 2010, S. 173, 180. Vgl. unten § 6 D., S. 287 ff. 67 Hartley, Constitutional Problems of the European Union, 1999, S. 57. 66

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naheliegend, daraus zu schließen, dass nur Einzelfragen nicht aber die grundsätzliche Kompetenz kritisiert wird. E. Weitere Verfahrensarten In den übrigen Verfahrensarten kann sich in gleichem Maße die Frage nach einer Kompetenz zur Beschränkung der Rückwirkung stellen. I. Vertragsverletzungsverfahren, Art. 258 ff. AEUV, und Untätigkeitsklage, Art. 265 f. AEUV Die wichtigste Verfahrensart, in der der Gerichtshof bisher noch unentschlossen über die Möglichkeit der Rückwirkungsbeschränkung ist, ist das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 ff. AEUV. 1. Äußerungen des Gerichtshofs Dort wurde in einzelnen Verfahren die Beschränkung der Rückwirkung eines Urteils angesprochen, sie jedoch stets entweder mangels guten Glaubens oder schwerwiegender wirtschaftlicher Folgen abgelehnt. Dabei wandte der Gerichtshof zuerst die Dogmatik der Auslegungsrückwirkungsbeschränkung an, ohne deren Anwendbarkeit zu problematisieren.68 Kurze Zeit später wählte er zwar eine Abschnittsüberschrift wie in den Auslegungsverfahren, ließ aber ausdrücklich offen, ob eine Übertragung der Grundsätze zur Auslegungsvorlage möglich ist.69 In einem dritten Urteil lehnte er die Rückwirkungsbeschränkung wiederum ab, ohne sich zur Anwendbarkeit seiner Rechtsprechung überhaupt zu äußern.70 In allen folgenden Urteilen wollte der Gerichtshof ausdrücklich keine Stellungnahme zu einer möglichen Rückwirkungsbeschränkung abgeben.71 Der Eventualprüfung legte er jedes Mal die Obersätze 68

EuGH v. 24.9.1998 – Rs. C-35/97 Kommission ./. Frankreich, Slg. 1998, I- 5325 Rn. 47 ff. 69 EuGH v. 12.9.2000 – Rs. C-359/97 Kommission ./. Großbritannien und Nordirland, Slg. 2000, I-6355 Rn. 88 ff. 70 EuGH v. 19.3.2002 – Rs. C-426/98 Kommission ./. Griechenland, Slg. 2002, I-2793 Rn. 40 ff. 71 EuGH v. 6.10.2005 – Rs. C-204/03 Kommission ./. Spanien, Slg. 2005, I-8389 29 f.; EuGH v. 7.6.2007 – Rs. C-178/05 Kommission ./. Griechenland, Slg. 2007, I-4185 Rn. 65 ff.; EuGH v. 12.2.2009 – Rs. C-475/07 Kommission ./. Polen, Slg. 2009, I-19 Rn. 60 ff. (abgekürzte Veröffentlichung); EuGH v. 26.3.2009 – Rs. C-559/07 Kommission ./. Griechenland, Slg. 2009, I-47 Rn. 75 ff. (abgekürzte Veröffentlichung); EuGH v. 15.12.2009 – Rs. C-239/06 Kommission ./. Italien, Slg. 2009, I-11913 Rn. 56 ff.; EuGH v. 15.12.2009 – Rs. C-387/06 Kommission ./. Italien, Slg. 2009, I-11831 Rn. 56 ff.; EuGH v. 15.12.2009 – Rs. C-284/06 Kommission ./. Finnland, Slg. 2009, I-11705 Rn. 55 ff.; EuGH v. 29.9.2011 – Rs. C-82/10 Kommission ./. Irland, Slg. 2011, I-140 (abgekürzte Veröffentlichung) Rn. 60 ff.; EuGH v. 25.10.2012 – Rs. C-387/11 Kommission ./. Belgien, ECLI:

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der Auslegungsrückwirkungsbeschränkung zugrunde und wandte deren materielle Maßstäbe an.72 2. Stellungnahmen der Generalanwälte Ebensolche Unsicherheiten enthalten die Stellungnahmen der Generalanwälte. Noch vor der ersten Aussage des EuGH hielt GA Slynn eine Rückwirkungsbeschränkung im Vertragsverletzungsverfahren analog Art. 267 AEUV für geboten, um die Verfahrensarten vor dem EuGH kongruent auszugestalten.73 Demgegenüber stellte GA Alber auf den feststellenden und nur ex nunc wirkenden Charakter des Vertragsverletzungsverfahrens ab und verneinte die Notwendigkeit einer Rückwirkungsbeschränkung.74 Darauf und auf „die Unterschiedlichkeit der Verfahrensarten des Vorabentscheidungsverfahrens und des Vertragsverletzungsverfahrens“ bezog sich GA Stix-Hackl als sie eine Rückwirkungsbeschränkung pauschal ausschloss.75 GA Kokott hielt wiederum eine Rückwirkungsbeschränkung jedenfalls so weit für möglich, wie das Urteil „über die reine Feststellung der Vertragsverletzung hinaus reichende Wirkung entfaltet“.76 Demgegenüber verneinte GA Sharpston eine Rückwirkung aufgrund „des Wesens [der] Feststellung, die sich auf einen bestimmten [in der Vergangenheit liegenden] Zeitpunkt bezieht“.77 Während GA Sharpston die Tatsache, dass vom Gerichtshof noch nie eine Beschränkung vorgenommen wurde, eher für den Ausschluss auch der Möglichkeit derselben heranzieht, betont GA Maduro, dass der EuGH dies noch nie ausdrücklich verneint habe78. Zuletzt enthielt sich GA Wathelet einer Stellungnahme und verneinte die Voraussetzungen einer Rückwirkungsbeschränkung unter Bezugnahme auf die Maßstäbe der Auslegungsvorabentscheidungen.79

EU: C:2012:670 Rn. 89 ff.; EuGH v. 8.4.2014 – Rs. C-288/12 Kommission ./. Ungarn, ECLI:EU:C:2014:237 Rn. 63 ff. 72 Simon, Europe 2009, Avril Comm. nº 150. 73 GA Slynn, SchlA v. 17.9.1987 – Rs. 293/85 Kommission ./. Belgien, Slg. 1988, 305, 342 f. 74 GA Alber, SchlA v. 27.1.2000 – Rs. C-359/97 Kommission ./. Großbritannien, Slg. 2000, I-6355 Rn. 100. 75 GA Stix-Hackl, SchlA v. 7.6.2001 – Rs. C-426/98 Kommission ./. Griechenland, Slg. 2002, I-2793 Rn. 62. 76 GA Kokott, SchlA v. 15.2.2007 – Rs. C-178/05 Kommission ./. Griechenland, Slg. 2007, I-4185 Rn. 84. 77 GA Sharpston, SchlA v. 21.7.2011 – Rs. C-250/08 Kommission ./. Belgien, Slg. 2011, I-12341 Rn. 94. 78 GA Maduro, SchlA v. 10.3.2005 – Rs. C-204/03 Kommission ./. Spanien, Slg. 2005, I-8389 Rn. 23. 79 GA Wathelet, SchlA v. 10.12.2013 – Rs. C-288/12 Kommission ./. Ungarn, ECLI: EU:C:2013:816 Rn. 87 f.

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3. Anwendbarkeit der Auslegungsrückwirkungsbeschränkung Auf das Vertragsverletzungsverfahren findet die Rückwirkungsbeschränkung nach den Grundsätzen der Auslegungsvorlage Anwendung. Es gelten die gleichen strengen Maßstäbe; eine Lockerung ist mit der Übertragung nicht verbunden.80 Die bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Verfahren nach Art. 258 ff. AEUV lässt sich jedoch nicht als Begründung fruchtbar machen.81 Die eine Anwendbarkeit ausdrücklich offenlassende Formulierung ist eindeutig in ihrer Intention, sich noch nicht festlegen zu wollen. Wie die Inbezugnahme durch beide Lager der Generalanwälte zeigt, ist auch eine „Neigung“ des EuGH zu der einen oder der anderen Seite nicht auszumachen.82 Die Anwendung der Grundsätze über die Auslegungsrückwirkungsbeschränkung ist geboten, weil die Auslegung des Unionsrechts die gleichen Wirkungen erzeugt unabhängig von der Verfahrensart, in der sie vorgenommen wurde. In welcher Verfahrensart ein nationaler Sachverhalt vom EuGH beurteilt wird, ist weitgehend von Zufälligkeiten abhängig. Alle Sachverhalte der Vertragsverletzungsverfahren könnten sich in ähnlicher oder gleicher Weise auch in einer Auslegungsvorabentscheidung stellen und umgekehrt. Daher bedarf es hier einer Konvergenz der anzuwendenden Dogmatik.83 Gleichzeitig geht das Vertragsverletzungsverfahren nur unwesentlich über das Auslegungsverfahren hinaus, wenn der Gerichtshof selbst die Unvereinbarkeit des angeklagten nationalen Verhaltens mit dem Unionsrecht ausspricht. Weder der deklaratorische Feststellungstenor des Vertragsverletzungsverfahrens noch die (umstrittene) Folgenbeseitigungspflicht sind nämlich Anknüpfungspunkt der Rückwirkungsbeschränkung. Bezugspunkt ist vielmehr die ausgelegte Unionsnorm selbst. Nur auf diese berufen sich die Rechtsunterworfenen auch in anderen Folgekonstellationen wie beispielsweise Schadensersatzprozessen. Die Folgenbeseitigungspflicht würde dann lediglich mittelbar zeitlich beschränkt.84 Deshalb kann die Francovich80 So auch die Forderung von Prete/Smulders, CMLRev 47 (2010), 9, 49; ohne Stellungnahme Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 61 f. 81 Anders Grabitz/Hilf/Nettesheim-Karpenstein, Das Recht der Europäischen Union, 51. EL 2013, Art. 260 AEUV Rn. 21 unter Verweis auf EuGH v. 19.3.2002 – Rs. C-426/98 Kommission ./. Griechenland, Slg. 2002, I-2793 Rn. 42. 82 Anders wohl Prete/Smulders, CMLRev 47 (2010), 9, 48, die darauf abstellen, dass der EuGH die Rückwirkungsbeschränkung nicht per se ausgeschlossen hat; ähnlich Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 62. 83 Vgl. GA Slynn, SchlA v. 17.9.1987 – Rs. 293/85 Kommission ./. Belgien, Slg. 1988, 305, 342 f.; in diesem Sinne, aber mit anderen Schlussfolgerungen Nicolai, ZfA 1996, 481, 489. 84 Anders Dörr/Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, 2006, Rn. 76.

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

Rechtsprechung nicht für die Gegenansicht in Anspruch genommen werden.85 Der Staatshaftungsanspruch oder die Judikatur zum unionalen Erstattungsanspruch knüpfen nicht an den Tenor des Vertragsverletzungsverfahrens an, sondern an die inzident festgestellte Unionsrechtswidrigkeit des nationalen Rechts. Der im Vertragsverfahren vorgenommenen Auslegung kommt eigenständige Bedeutung zu. Die Wirkungen des Verfahrens nach Art. 258 ff. AEUV erschöpfen sich nicht in dem in seinen Rechtsfolgen begrenzten Tenor nach Art. 260 AEUV. Als maßgeblicher Unterschied zwischen Auslegungsvorlage und Vertragsverletzungsverfahren wird weiterhin angeführt, dass bei letzterem keine subjektiven Rechte berührt werden.86 Jedoch begründet auch das Auslegungsvorabentscheidungsverfahren keine Rechte des Einzelnen, es ist nur ein interjudzielles Zwischenverfahren. Die anerkannte individualschützende Funktion des Vorlageverfahrens hat auf die Anwendung objektiver Rechtssicherheitserwägungen keinen Einfluss. Deshalb würde durch eine Rückwirkungsbeschränkung das Vertragsverletzungsverfahren auch nicht systemwidrig subjektiviert.87 Die Auslegungsvorlage verliert durch die Möglichkeit der Beschränkung der zeitlichen Wirkung ebenso nicht ihren Charakter als (primär) objektives Verfahren. Die Rückwirkungsbeschränkung kann sich schließlich nicht nach den Grundsätzen zu den Unwirksamkeitsverfahren richten. Im Gegensatz zu jenen steht im Vertragsverletzungsverfahren keine niedrigerrangige Unionsvorschrift auf dem Prüfstand. Eine vergleichbare innerunionale Gestaltungswirkung kommt dem Tenor nicht zu. II. Gutachtenverfahren, Art. 218 Abs. 11 AEUV Das Gutachten nach Art. 218 Abs. 11 AEUV dient der präventiven Rechtmäßigkeitskontrolle durch den Gerichtshof. Dem Gutachten kommt keine Rechtskraft zu, d.h. der Gerichtshof kann in einem späteren Verfahren zu einem anderen Ergebnis kommen.88 Wegen der Sperrwirkung eines ablehnenden Gutachtens gemäß Art. 218 Abs. 11 S. 2 AEUV kann eine spätere Abweichung nur zur Rechtswidrigkeit eines völkerrechtlichen Vertrages führen. 85

A.A. z.B. Waldhoff, EuR 2006, 615, 626; in diesem Sinne auch Streinz-Ehricke, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2011, Art. 260 Rn. 8. 86 So aber neben GA Sharpston, SchlA v. 21.7.2011 – Rs. C-250/08 Kommission ./. Belgien, Slg. 2011, I-12341 Rn. 94 und GA Stix-Hackl, SchlA v. 7.6.2001 – Rs. C-426/98 Kommission ./. Griechenland, Slg. 2002, I-2793 Rn. 59 auch Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 40; Hufen/Nörr, Beschränkung von Urteilswirkungen im Falle der Feststellung der Verfassungswidrigkeit von Rechtsnormen, 2008, Teil 1, S. 37 f. 87 So aber Waldhoff, EuR 2006, 615, 626. 88 Thewes, Bindung und Durchsetzung der gerichtlichen Entscheidungen in der EU, 2003, S. 179.

§ 5 Kompetenzgrundlagen

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Im Übrigen kommt dem Gutachten die gleiche Wirkung zu wie den Auslegungsvorabentscheidungen,89 so dass auch hier Rückwirkungsbeschränkungen über Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV möglich wären. III. Einstweilige Anordnungen und Eilverfahren Im Verfahren einstweiliger Anordnungen treffen die Unionsgerichte vorläufige Regelungen über den Streitgegenstand unter Berücksichtigung von Dringlichkeit und Notwendigkeit. Dringlichkeit verlangt, dass die einstweilige Maßnahme zur Abwendung eines schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens erforderlich ist.90 Dabei sind vor allem die gegenüberstehenden Rechts- und Schutzgüter maßgeblich.91 Notwendig ist die einstweilige Anordnung, wenn sich nach einer summarischen Prüfung ergibt, dass das Vorbringen des Antragstellers nicht offensichtlich unbegründet ist.92 Inhalt der einstweiligen Anordnung ist nicht die Aufhebung eines angegriffenen Rechtsakts, sondern höchstens die (vorläufige) Aussetzung desselben, da die Hauptsache nicht vorweggenommen werden darf (Art. 39 Abs. 3 EuGHSatzung, Art. 162 Abs. 4 EuGH-VerfO [Art. 86 § 4 EuGH-VerfO a.F.], Art. 107 § 4 EuG-VerfO). Eine Rückwirkungsbeschränkung nach Art. 264 Abs. 2 AEUV (analog) kommt demnach nicht in Betracht, wenn es sich um eine einstweilige Anordnung nach Art. 278 S. 2 AEUV handelt. Zuerst wird der angefochtene Rechtsakt nicht konstitutiv beseitigt. Zweitens richten sich der einstweilige Rechtsschutz und die Rückwirkungsbeschränkung auf genau entgegengesetzte Ziele. Während die vorläufige Regelung die Wirkungen der erstrebten Aufhebung vorverlagern soll, dient die Rückwirkungsbeschränkung gerade der Verzögerung ihres Eintretens. Soweit es sich um einstweiligen Rechtsschutz nach Art. 279 AEUV handelt, spricht die nur summarische Prüfung der rechtlichen Fragen des Sachverhalts deutlich gegen die Möglichkeit, die Rückwirkung einer Auslegung zu beschränken. Die Entscheidung über die Beschränkung der Auslegungswirkung sollte daher nur im Ausnahmefall ergehen, weil sie weitreichende Folgen hat, die nicht auf einer unsicheren Basis angeordnet werden sollten. Darüber hinaus entstehen keine Nachteile, wenn die Rückwirkungsbeschränkung erst mit der Entscheidung über die Hauptsache vorgenommen wird.

89

Thewes, Bindung und Durchsetzung der gerichtlichen Entscheidungen in der EU, 2003, S. 179, der freilich von einer anderen Bindungswirkung der Auslegungsentscheidungen ausgeht. 90 EuGH v. 23.6.2003 – verb. Rs. C-182/03 R und C-217/03 R Belgien und Forum 187, Slg. 2003, I-6887 Rn. 130. 91 Streinz-Ehricke, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2011, Art. 279 AEUV Rn. 25. 92 Streinz-Ehricke, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2011, Art. 279 AEUV Rn. 39.

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

Im beschleunigten Verfahren nach Art. 105 f. EuGH-VerfO (Art. 104a EuGH-VerfO a.F.) und dem Eilverfahren nach Art. 107 ff. EuGH-VerfO (Art. 104b EuGH-VerfO a.F.) wird hingegen keine summarische Prüfung des Rechtsstreits vorgenommen, sondern nur die Verfahrensdauer verkürzt. Dort bestehen daher keine Einwände gegen die Anwendung der allgemeinen Grundsätze über die Rückwirkungsbeschränkung. F. Zusammenfassung Insgesamt ergibt sich somit, dass Art. 264 Abs. 2 AEUV immer dann direkt oder analog angewendet werden kann, wenn das Urteil einen auf einen Unionsrechtsakt bezogenen gestaltenden Rechtsausspruch enthält. Damit sind die Nichtigkeitsklage, die Ungültigkeitsvorlage und die Inzidentrüge erfasst. In der Auslegungsvorlage und dem Vertragsverletzungsverfahren kann nur über Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV ein Ausgleich der Rechtmäßigkeit mit der Rechtssicherheit herbeigeführt werden.

§ 6 Der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung Der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung Nach der für Auslegungs- und Unwirksamkeitsverfahren einheitlichen Formulierung des Europäischen Gerichtshofs sind für eine Rückwirkungsbeschränkung „zwingende Erwägungen der Rechtssicherheit, die mit allen betroffenen öffentlichen wie privaten Interessen zusammenhängen“,93 nötig. Daraus lässt sich dreierlei ableiten: Zuerst ist – wie oben festgestellt – Grund für die Rückwirkungsbeschränkung das Prinzip der Rechtssicherheit. Dieses soll daher sogleich näher vorgestellt werden. Zweitens können nur zwingende Erwägungen eine Beschränkung rechtfertigen; die Rechtssicherheitserwägungen dürfen nicht so weit führen, dass „die Objektivität des Rechts gebeugt wird“94. Dahinter steht der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit, der im Anschluss erläutert werden soll. Drittens bedarf es einer umfassenden Interessenabwägung. Dabei sind alle beteiligten Interessen zu berücksichtigen, gleich ob öffentlicher oder privater Natur.95 Diese Abwägung ist eine Einzelfallent93

EuGH v. 15.1.1986 – Rs. 41/84 Pinna, Slg. 1986, 1 Rn. 28; EuGH v. 8.11.2001 – Rs. C-228/99 Silos e Mangimi Martini, Slg. 2001, I-8401 Rn. 36; EuGH v. 22.12.2008 – Rs. C-333/07 Régie Networks, Slg. 2008, I-10807 Rn. 121; EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne II, Slg. 1976, 455 Rn. 74/75; EuGH v. 11.3.1981 – Rs. 69/80 Worringham, Slg. 1981, 767 Rn. 32; ähnlich EuGH v. 6.11.2008 – Rs. C-155/07 Parlament ./. Rat, Slg. 2008, I-8103 Rn. 87. 94 EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne II, Slg. 1976, 455 Rn. 71/73; EuGH v. 16.7.1992 – Rs. C-163/90 Legros u.a., Slg. 1992, I-4625 Rn. 30. 95 Schermers/Waelbroeck, Judicial Protection in the European Union, 6. Aufl. 2001, § 152. Das konstatiert auch Busby, MLR 2001, 489, 495.

§ 6 Der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung

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scheidung, die auf die Umstände des konkreten Falles Rücksicht nehmen muss.96 Dem Gerichtshof kommt hier ein Ermessensspielraum zu.97 Dieser ermöglicht ihm pragmatische und flexible Lösungen.98 Dennoch muss es Aufgabe des EuGH und der Rechtswissenschaft sein, soweit möglich handhabbare und vorhersehbare Kriterien zu entwickeln.99 Die Darstellung soll sich an der Rechtsprechung des Gerichtshofs orientieren, die trotz des gleichen Obersatzes in der konkreten Prüfung zwischen den Unwirksamkeits- und Auslegungsverfahren trennt. Im Folgenden werden zuerst die Einzelheiten der Auslegungsverfahren, dann die Unwirksamkeitsverfahren behandelt. Den Schluss bilden Überlegungen zur Konvergenz der verschiedenen Prüfungen. A. Die Abwägung von Rechtssicherheit und „Objektivität des Rechts“ Die Grundsätze von Rechtssicherheit und Objektivität des Rechts sind im Ausgangspunkt zwar Gegensätze. Sie dienen jedoch auch den abstrakten Zielen. Der Ausgleich auf Ebene der Rechtsgrundsätze lässt sich als Herbeiführung einer Konkordanz beschreiben. Die Rückwirkungsbeschränkung sucht einen teleologischen Ausgleich.100 Sobald die Objektivität des Rechts nicht mehr zur Rechtssicherheit, sondern zu ihrer Verletzung beiträgt, muss die Rückwirkung beschränkt werden. Die Bindung an die der Gerechtigkeit zustrebenden Unionsnorm lockert sich, wenn dadurch ungerechte Ergebnisse erzielt würden.101 I.

Der Grundsatz der Rechtssicherheit

Da das Prinzip der Rechtssicherheit als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts schon oben vorgestellt wurde,102 muss hier nur auf seine spezifische Bedeutung für die Rechtsprechungsrückwirkung eingegangen werden. 96

GA Stix-Hackl, SchlA v. 14.3.2006 – Rs. C-475/03 Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373 Rn. 150; Huep, Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf ältere Sachverhalte, 2001, S. 107; Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, 1996, S. 111; Lenaerts/Maselis/ Gutman, EU Procedural Law, 2014, 6.34 (S. 247). 97 Frenz/Kühl, DStZ 2009, 432, 435; wortgleich Frenz, Handbuch Europarecht, Band 5, 2010, Rn. 3415; Keppert, ÖStZ 1997, 165, 169; Thiele, Europäisches Prozessrecht, 2. Aufl. 2014, § 9 Rn. 116; Daig, Nichtigkeits- und Untätigkeitsklagen im Recht der Europäischen Gemeinschaften, 1985, S. 199. 98 Hyland, IJEL 2 (1995), 208, 232; Heß, ZZP 108 (1995), 59, 70; Hager, Rechtsmethoden in Europa, 2009, 6. Kap. Rn. 35 (S. 261); Beck, The Legal Reasoning of the Court of Justice of the EU, 2012, S. 230. 99 Vgl. Bydlinski, JBl 2001, 2, 11 f. 100 Raitio, The Principle of Legal Certainty in EC Law, 2003, S. 199. 101 Ähnlich Schwarze, EuR 1977, 43, 49. 102 § 3 G., S. 93 ff.

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

Die Rechtssicherheit steht sowohl hinter der Regelung des Art. 264 Abs. 2 AEUV als auch der Beschränkung bei Auslegungsentscheidungen. Soweit dieser Rechtsgrundsatz über seine Unterprinzipien hinaus verallgemeinert werden kann, dient er der Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit von Unionsrecht.103 Dem Rechtsunterworfenen soll ermöglicht werden, sein Verhalten an einer vorhersehbaren Rechtslage auszurichten. Außerdem zielt er auf die einheitliche Anwendung des Unionsrechts.104 II. Der Grundsatz der „Objektivität des Rechts“ im Unionsrecht In der anderen Waagschale liegt der Grundsatz der „Objektivität des Rechts„. Der Gerichtshof geht davon aus, dass „bei allen gerichtlichen Entscheidungen deren praktische Auswirkungen sorgfältig zu erwägen sind, dass dies aber nicht so weit gehen darf, dass die Objektivität des Rechts gebeugt und seine zukünftige Anwendung unterbunden wird, nur weil eine Gerichtsentscheidung für die Vergangenheit gewisse Auswirkungen haben kann“.105 Dieser Grundsatz ist in Abgrenzung zur subjektiven Beliebigkeit im Recht zu verstehen. Objektivität bedeutet Gesetzesbindung; abzuwägen ist also mit dem Legalitätsprinzip.106 Angesprochen ist damit zweierlei: einerseits die einheitliche Geltung des Unionsrechts unabhängig von den Auswirkungen auf den Einzelfall107 oder mitgliedstaatliche Besonderheiten und andererseits die Vorhersehbarkeit des Unionsrechts aufgrund der Anwendung von objektiven und transparenten Auslegungsmethoden, die jeder Betroffene selbst vornehmen könnte. Die Rückwirkungsbeschränkung berührt die Gesetzesbindung in mehrerer Hinsicht. Zuerst setzt sie den Normbefehl (zeitweise) außer Kraft und führt damit zur Beibehaltung „alten“ oder „falschen“ Rechts.108 Die Effektivität des

103

v. Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, S. 498. EuGH v. 27.2.1985 – Rs. 112/83 Produits de Maïs, Slg. 1985, 719 Rn. 17. 105 EuGH v. 9.3.2000 – Rs. C-437/97 Evangelischer Krankenhausverein Wien u.a., Slg. 2000, I-1157 Rn. 57; EuGH v. 19.9.2000 – verb. Rs. C-177/99 und C-181/99 Ampafrance und Sanofi, Slg. 2000, I-7013 Rn. 66; EuGH v. 2.2.1988 – Rs. 24/86 Blaizot, Slg. 1988, 379 Rn. 30; EuGH v. 17.7.1992 – Rs. C-163/90 Legros u.a., Slg. 1992, I-4625 Rn. 30; EuGH v. 14.9.2006 – Rs. C-228/05 Stradasfalti, Slg. 2006, I-8391 Rn. 72. 106 Vedder/Heintschel v. Heinegg-Pache, EUV/AEUV/GrRCh, 2012, Art. 264 AEUV Rn. 6; Borchardt, Der Grundsatz des Vertrauensschutzes im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1988, S. 136. 107 Die Bedeutung der Einzelfallgerechtigkeit betont Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 20, 122 f., 244. 108 Tur, JudRev 1978, 33, 36; Kokott/Henze, BB 2007, 913, 917; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 434 f.; Seer/Müller, IWB 2008, 255, 263 104

§ 6 Der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung

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Unionsrechts und seine einheitliche Geltung werden begrenzt.109 Dies gilt sowohl für die Auslegung als auch für die Unwirksamkeit, bei der die höherrangige Norm suspendiert wird. Darüber hinaus wird auch die subjektivrechtliche Seite beeinträchtigt. Beschränkt der Gerichtshof die Rückwirkung seiner Rechtsprechung, beschränkt er (direkt oder indirekt) auch die Möglichkeit der Rechtsadressaten, sich auf diese Norm zu berufen. Mit der eingeschränkten Normgeltung ist daher auch der Rechtsschutz des Einzelnen gegen Verletzungen des Unionsrechts betroffen.110 „Fairness cuts both ways“,111 besonders in gleichrangigen Rechtsbeziehungen. Dieser Effekt kann auch durch das gegenläufige Ziel der Rechtssicherheit nicht beseitigt werden.112 Es wird deutlich, dass auch die „Objektivität des Rechts“ den Zielen der Rechtssicherheit dient und selbst nur eine Spielart der Rechtsstaatlichkeit im weiten Sinne ist.113 Die Verbindlichkeit einer Rechtsordnung basiert letztlich auch auf Rechtssicherheitserwägungen.114 Beide abzuwägenden Grundsätze zielen auf den Schutz derselben Rechtsgüter. B. Auslegungsentscheidungen Die zwingenden Erfordernisse der Rechtssicherheit konkretisieren sich bei der Rückwirkungsbeschränkung einer Auslegung zu drei Prüfungsmerkmalen. Zuerst darf die Möglichkeit der Rückwirkungsbeschränkung nicht präkludiert sein. Die Präklusion lässt sich daher als negatives Tatbestandsmerkmal einordnen. Ob Präklusion vorliegt, wird anhand des Konnexitätsmerkmals bestimmt. Darüber hinaus sind ein „guter Glaube“ der Rechtsadressaten und „schwerwiegende wirtschaftliche Auswirkungen“ erforderlich. Die Tatbestandsmerkmale des guten Glaubens und der schwerwiegenden wirtschaftlichen Auswirkungen müssen stets kumulativ gegeben sein.115 Beide Merk109

Hyland, IJEL 2 (1995), 208, 233. Haltern, Eine Lanze für Mangold, 2012, S. 25, 67 macht im Kontext der Rs. C-555/07 Kücükdevici eine klare Präferenz des Gerichtshofs dieser Grundsätze gegenüber Vertrauensschutzerwägungen aus. 110 Wiedmann, EuZW 2007, 692; Drüen/Kahler, StuW 2005, 171, 181. 111 Tur, OJLS 22 (2002), 463, 473; ähnlich Griebeling, FS Gnade, 1992, S. 597, 607. 112 Anders wohl Ellis, ELRev 2000, 564, 567 am Beispiel der Rs. Defrenne II: „The [temporal] limitation had been intended to preserve legal certainty, not to deprive workers of the right to enforce the principle of equal treatment.” 113 Vgl. Vedder/Heintschel v. Heinegg-Heintschel v. Heinegg, EUV/AEUV/GrRCh, 2012, Art. 2 EUV Rn. 10; Trstenjak, ZEuP 2007, 145, 148. 114 GA Darmon, SchlA v. 27.10.1993 – Rs. C-228/92 Roquette Frères ./. Hauptzollamt Geldern, Slg. 1994, I-1445 Rn. 26; Bydlinski, JBl 2001, 2, 11. 115 Anders z.B. der Vorschlag des Memorandum des Vereinigten Königreichs über den Europäischen Gerichtshof vom 23. Juli 1996, CONF 3883/96, Anlage, S. 20 (zitiert nach Hummer/Obwexer, EuZW 1997, 295, 302); einen Verzicht auf das Gutglaubenserfordernis erwägend aber verneinend GA Wahl, SchlA v. 24.10.2013 – Rs. C-82/12 Transportes Jordi Besora, ECLI:EU:C:2013:694 Rn. 58 (bestätigt durch EuGH v. 27.2.2014 – Rs. C-82/12 Transportes Jordi Besora, ECLI:EU:C:2014:108 Rn. 48 f.).

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

male sind auch nicht logisch miteinander verknüpft. Der Gerichtshof kann daher bei einer Verneinung der Rückwirkungsbeschränkung nur das jeweils nicht vorliegende Merkmal herausgreifen und Ausführungen zu dem anderen Merkmal weglassen.116 Die Ableitung aus dem Grundsatz der Rechtssicherheit gebietet, dass die finanziellen Auswirkungen eines Urteils allein für eine Beschränkung der Rückwirkung nicht ausreichen.117 Dabei ist es unerheblich, ob die Auswirkungen Privatpersonen oder mitgliedstaatliche Haushalte treffen.118 Anderenfalls würden tendenziell die schwereren Verstöße begünstigt119 und der Rechtsschutz des Einzelnen zu stark eingeschränkt.120 Das Erfordernis der 116 Vgl. z.B. EuGH v. 21.10.2010 – Rs. C-242/09 Albron Catering, Slg. 2010, I-10309 Rn. 39 nur mit Ausführungen zu den wirtschaftlichen Auswirkungen und EuGH v. 29.7.2010 – Rs. C-577/08 Brouwer, Slg. 2010, I-7485 Rn. 40 nur mit Ausführungen zum guten Glauben. 117 So denn auch der EuGH in ständiger Rechtsprechung: EuGH v. 11.8.1995 – verb. Rs. C-367/93 bis C-377/93 Roders B.V. u.a., Slg. 1995, I-2229 Rn. 48; EuGH v. 19.10.1995 – Rs. C-137/94 Richardson, Slg. 1995, I-3407 Rn. 37; EuGH v. 13.2.1996 – verb. Rs. C-197/94 und C-252/94 Bautiaa u.a., Slg. 1996, I-505 Rn. 55; EuGH v. 24.9.1998 – Rs. C-35/97 Kommission ./. Frankreich, Slg. 1998, I- 5325 Rn. 52; EuGH v. 23.5.2000 – Rs. C-104/98 Buchner u.a., Slg. 2000, I-3625 Rn. 41; EuGH v. 20.9.2001 – Rs. C-184/99 Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193 Rn. 52; EuGH v. 29.11.2001 – Rs. C-366/99 Griesmar, Slg. 2001, I-9383 Rn. 75; EuGH v. 19.3.2002 – Rs. C-426/98 Kommission ./. Griechenland, Slg. 2002, I-2793 Rn. 42; EuGH v. 17.2.2005 – verb. Rs. C-453/02 und C-462/02 Linneweber und Akritidis, Slg. 2005, I-1131 Rn. 44; EuGH v. 27.4.2006 – Rs. C-423/04 Richards, Slg. 2006, I-3585 Rn. 41; EuGH v. 18.1.2007 – Rs. C-313/05 Brzezinski, Slg. 2007, I-513 Rn. 58; EuGH v. 13.4.2010 – Rs. C-73/08 Bressol u.a., Slg. 2010, I-2735 Rn. 92; EuGH v. 3.6.2010 – Rs. C-2/09 Kalinchev, Slg. 2010, I-4939 Rn. 52; EuGH v. 29.7.2010 – Rs. C-577/08 Brouwer, Slg. 2010, I-7485 Rn. 34; EuGH v. 7.7.2011 – Rs. C-263/10 Nisipeanu, Slg. 2011, I-97 Rn. 34 (abgekürzte Veröffentlichung); EuGH v. 19.7.2012 – Rs. C-263/11 Rēdlihs, ECLI:EU:C:2012:497 Rn. 61; EuGH v. 19.12.2013 – Rs. C-262/12 Vent De Colère u.a., ECLI:EU:C:2013:851 Rn. 42. Kritisch aber Grabitz/Hilf/Nettesheim-Karpenstein, Das Recht der Europäischen Union, 51. EL 2013, Art. 267 AEUV Rn. 114; eine Ausnahme bei besonderer Unverhältnismäßigkeit der wirtschaftlichen Auswirkungen zu einem nur fahrlässigen Verhalten der Rechtsunterworfenen erwägend auch GA Wahl, SchlA v. 24.10.2013 – Rs. C-82/12 Transportes Jordi Besora, ECLI:EU:C:2013:694 Rn. 58. 118 Hyland, IJEL 2 (1995), 208, 223. 119 EuGH v. 11.8.1995 – verb. Rs. C-367/93 bis C-377/93 Roders B.V. u.a., Slg. 1995, I-2229 Rn. 48; EuGH v. 27.2.2014 – Rs. C-82/12 Transportes Jordi Besora, ECLI:EU: C:2014:108 Rn. 48; Schlachter, ZfA 2007, 249, 266 f.; Dörr, Der Konzern 2006, 59, 64; Saßenroth, Die Bestandskraft deutscher Steuerbescheide im Licht der Rechtsprechung des EuGH, 2009, S. 52. 120 EuGH v. 11.8.1995 – verb. Rs. C-367/93 bis C-377/93 Roders B.V. u.a., Slg. 1995, I-2229 Rn. 48; EuGH v. 13.2.1996 – verb. Rs. C-197/94 und C-252/94 Bautiaa u.a., Slg. 1996, I-505 Rn. 55; EuGH v. 24.9.1998 – Rs. C-35/97 Kommission ./. Frankreich, Slg. 1998, I- 5325 Rn. 52; EuGH v. 19.3.2002 – Rs. C-426/98 Kommission ./. Griechenland,

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Kumulativität greift damit zwei wesentliche Kritikpunkte auf. Zum einen die durch eine Rückwirkungsbeschränkung entstehende Anreizstruktur und zum anderen die Beeinträchtigung des Individualrechtsschutzes. Ohne die Voraussetzung eines guten Glaubens würden Rückwirkungsbeschränkungen den Rechtsunterworfenen den Anreiz zu unionsrechtskonformem Verhalten nehmen.121 Insbesondere die Mitgliedstaaten würden so geradezu herausgefordert, unionsrechtswidrige Regelungen bis zur Beanstandung durch den EuGH beizubehalten, da sie dann nichts verlieren, sondern nur gewinnen können.122 Durch die notwendige Voraussetzung eines guten Glaubens wird verhindert, dass allein faktische fiskalische Argumente die Vorgaben des Unionsrechts bestimmen.123 Zum anderen geht eine Rückwirkungsbeschränkung stets und notwendig mit einer Verkürzung des Individualrechtsschutzes124 einher, selbst wenn das nicht beabsichtigt sein mag.125 Dadurch wird eine Rückwirkung der Rechtsprechung zwar nicht zwingend,126 weil nicht allein die Interessen der Betroffenen maßgeblich sind. Sie finden jedoch im KumulativiSlg. 2002, I-2793 Rn. 42; EuGH v. 29.7.2010 – Rs. C-577/08 Brouwer, Slg. 2010, I-7485 Rn. 35. 121 Leonard/Szczekalla, UR 2005, 420, 423; Lüdecke, Bull.Int.Tax. 2008, 8, 12; Vogel, StuW 2005, 373, 377; ausführlich Vording/Lubbers, BTR 2006, 91, 98 ff. 122 Kokott/Henze, NJW 2006, 177, 180; Kokott/Henze, BB 2007, 913, 917; Thömmes, Intertax 35 (2007), 2; Nanetti/Mazzotti, EC Tax Review 2006, 166, 170; Seer/Müller, IWB 2008, 255, 263; Kaminski, Stbg 2005, 230, 232; Woods/Watson, Steiner & Woods EU Law, 11. Aufl. 2012, S. 238; Kotschnigg, SWI 1998, 83, 85; auch Dautzenberg, RIW 2005, 959, 960; Müller-Gatermann, StbJb 2007/2008, 151, 172. 123 Vgl. die Kritik von Vording/Lubbers, BTR 2006, 91, 105; Seer, ECFR 2006, 237, 246; ders., ET 46 (2006), 470, 475. Ob hier das angeführte Argument durchgreifend ist, dass finanzielle Auswirkungen keine Grundrechtsverstöße rechtfertigen können, aber bei der Rückwirkungsbeschränkung über die Hintertür vergleichbar wirken, ist fraglich. Zum einen gilt dieser Grundsatz nicht ausnahmslos, wenn beispielsweise bei sozialen Leistungen die Gewährleistung der Grundfreiheiten zu erheblichen Gefährdungen des finanziellen Gleichgewichts des sozialen Systems führen würde (vgl. Hilpold, FS G.H. Roth, 2011, S. 247, 251 f.; ebenso schon Waldhoff, EuR 2006, 615, 635) und zum anderen wirkt die Rechtfertigung eines Grundfreiheitenverstoßes auch in die Zukunft und perpetuiert den Verstoß daher auf Dauer. 124 Auch das Vorabentscheidungsverfahren dient dem Individualrechtsschutz, Poelzig, JJZ 2009, 210, 212 f.; Klappstein, JJZ 2009, 233, 238 f.; Brück, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof als Bestandteil des deutschen Zivilprozesses, 2001, S. 31 ff.; v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und Europäische Integration, 1996, S. 128; Köber, Kooperations- und Beschleunigungsmechanismen im Vorabentscheidungsverfahren, 2013, S. 11 ff. jeweils m.w.N. 125 Wiedmann, EuZW 2007, 692; deswegen kritisch Peers, ELRev 1999, 627, 632 f. Dies übersieht Ellis, ELRev 2000, 564, 567. Zu Recht in aller Deutlichkeit Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 105 f. 126 A.A. z.B. Schima, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH, 2. Aufl. 2004, S. 109; wohl auch Drüen/Kahler, StuW 2005, 171, 181.

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

tätserfordernis Ausdruck. Teilweise wird noch vorgebracht, dass die strikte Forderung eines Gutglaubenselements kohärent mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs sei, wonach der Ausfall von Steuereinnahmen keine Rechtfertigung für einen Grundfreiheitenverstoß ist.127 Auch im Antidiskriminierungsrecht werden wirtschaftliche Rechtsfertigungsgründe bisher nicht anerkannt.128 Zwar dürften dann finanzielle Auswirkungen gar keine Berücksichtigung finden dürfen. Da die Rückwirkungsbeschränkung aber anders als eine Rechtfertigung nicht für die Zukunft wirkt, ist diese Unterscheidung nachvollziehbar. Die folgende Darstellung der Auslegungsentscheidungen bezieht auch die in Vertragsverletzungsverfahren ergangenen Urteile mit ein. Soweit der Gerichtshof dort die Frage der Anwendbarkeit durch hilfsweises Verneinen einzelner Tatbestandsvoraussetzungen umgangen hat, lässt sich auf sein Verständnis von der zeitlichen Beschränkung der Auslegungsentscheidungen rückschließen. I.

Das Konnexitätsmerkmal

Das Konnexitätsmerkmal hat in der Prüfung des EuGH eine eigenständige Bedeutung.129 Der Begriff der Konnexität drückt dabei aus, dass die Rechtsfragen des vorgelegten Falles mit denen eines früheren Falles verknüpft sind.130 Aufgrund seiner vielseitigen Wirkung (unten 3.) wird das Konnexitätsmerkmal hier als selbstständiges Merkmal abgelehnt (unten 4.). Zuvor sind jedoch Inhalt und Maßstab zu erläutern (sogleich 1. und 2.). 1. Inhalt und Begrifflichkeiten Der Gerichtshof verlangt in ständiger Rechtsprechung, dass die Rückwirkungsbeschränkung in dem Urteil vorgenommen werden muss, in dem das erste Mal über die begehrte Auslegung entschieden wurde. Findet also eine Auslegung nicht nur auf den spezifischen Sachverhalt eines Mitgliedstaats, 127

Dörr, Der Konzern 2006, 59, 64; Wunderlich/Albath, DStZ 2005, 547, 552 m.N. aus der Rechtsprechung. Genau in die andere Richtung argumentieren GA Tizzano, SchlA v. 10.11.2005 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Rn. 42 und Steinberg/Bark, EuZW 2007, 245, 246, die meinen, dass es „systemkohärent […] ist, negative [finanzielle] Auswirkungen für die Mitgliedstaaten zu vermeiden, wo sie nicht unbedingt erforderlich sind“ und damit die Rückwirkungsbeschränkung zum Grundsatz und die Rückwirkung zur Ausnahme machen; ähnlich Waldhoff, EuR 2006, 615 f., 634 ff. und Lange, Der Anspruch auf Erstattung gemeinschaftsrechtswidrig erhobener Steuern, 2008, S. 173 ff. 128 Ausführlich zur entsprechenden Rechtslage im Bereich der Studierendenfreizügigkeit Balthasar, ZÖR 66 (2011), 41. 129 Vgl. Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 81. 130 Der Begriff geht wohl zurück auf Wiedmann, EuZW 2007, 692, 693.

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sondern auch auf ähnlich gelagerte Fälle anderer Mitgliedstaaten Anwendung – das ist freilich der Regelfall –, können letztere in späteren Verfahren nicht auf eine erstmalige Rückwirkungsbeschränkung hoffen. Das Konnexitätsmerkmal verhindert daher die Rückwirkungsbeschränkung in den oben sogenannten Fällen der „bestätigenden Zweitauslegung„131. Sein Zweck ist es, die Einheitlichkeit der Anwendung des Unionsrechts gegenüber den Mitgliedstaaten und den Einzelnen sicherstellen.132 Die Rechtsfolge lässt sich als Präklusion der Berufung auf die Rückwirkungsbeschränkung beschreiben.133 Der Gerichtshof benennt nicht nur in den häufig anzutreffenden Zusammenfassungen seiner bisherigen Rechtsprechung das Merkmal der Konnexität.134 Er hat mehrfach im Ergebnis eine Präklusion des Begehrens der Rückwirkungsbeschränkung angenommen.135 Zum Beispiel verwies der EuGH in der Rechtssache Meilicke nicht nur die Generalanwälte, sondern ebenso den die Limitierung beantragenden Verfahrensbeteiligten Deutschland knapp aber bestimmt auf seine seit gut sieben Jahren bestehende Rechtsprechung beginnend mit dem Urteil Verkooijen136, in dem die Rückwirkung nicht beschränkt wurde.137 2. Maßstab des EuGH und Möglichkeiten zu dessen Konkretisierung Zur Prüfung der Konnexität untersucht der EuGH, ob die im Sachverhalt aufgeworfene Rechtsfrage von ihm schon beantwortet wurde. Leicht zu beurteilen sind Fälle, in denen der Gerichtshof (konkludent oder ausdrücklich)

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§ 3 D.I.2.c), S. 62. Z.B. EuGH v. 23.10.2012 – verb. Rs. C-581/10 und C-629/10 Nelson u.a., ECLI:EU: C:2012:657 Rn. 91. 133 Die Bezeichnung als Präklusion stammt wohl von Stix-Hackl, DB-SR 2007, 118. 134 Siehe EuGH v. 27.3.1980 – Rs. 61/79 Denkavit italiana, Slg. 1980, 1205 Rn. 17 f.; EuGH v. 27.3.1980 – verb. Rs. 66/79, 127/79 und 128/79 Salumi u.a., Slg. 1980, 1237 Rn. 10 f.; EuGH v. 5.10.1988 – Rs. 210/87 Padovani u.a., Slg. 1988, 6177 Rn. 13; EuGH v. 16.7.1992 – Rs. C-163/90 Legros u.a., Slg. 1992, I-4625 Rn. 30; EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-57/93 Vroege, Slg. 1994, I-4541 Rn. 31; EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, Slg. 1995, I-4921 Rn. 142; EuGH v. 19.9.2000 – verb. Rs. C-177/99 und C-181/99 Ampafrance und Sanofi, Slg. 2000, I-7013 Rn. 66; EuGH v. 3.10.2002 – Rs. C-347/00 Barreira Pérez, Slg. 2002, I-8191 Rn. 46; EuGH v. 1.4.2008 – Rs. C-267/06 Maruko, Slg. 2008, I-1757 Rn. 77. 135 EuGH v. 6.3.2007 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Rn. 38 ff.; EuGH v. 17.7.2008 – Rs. C-426/07 Krawczyński, Slg. 2008, I-6021 Rn. 45 ff.; EuGH v. 23.10.2012 – verb. Rs. C-581/10 und C-629/10 Nelson u.a., ECLI:EU:C:2012:657 Rn. 90 ff. 136 Vgl. EuGH v. 6.6.2000 – Rs. C-35/98 Verkooijen, Slg. 2000, I-4071; bestätigt durch EuGH v. 15.7.2004 – Rs. C-315/02 Lenz, Slg. 2004, I-7063 und EuGH v. 7.9.2004 – Rs. C-319/02 Manninen, Slg. 2004, I-7477. 137 EuGH v. 6.3.2007 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Rn. 38 ff. 132

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gefragt wird, ob er an einer bestehenden Rechtsprechung festhält.138 In allen anderen Fällen ist der gerichtliche Einschätzungsspielraum von großer Bedeutung, denn schon ein unterschiedliches Abstraktionsniveau der Rechtsfrage kehrt das Ergebnis der Konnexitätsprüfung um.139 So verneinte der Gerichtshof in Barra eine Rückwirkungsbeschränkung,140 weil es sich dort wie in Gravier um den Zugang zu einem Fachhochschulstudium drehte,141 während er in Blaizot die Rückwirkungsbeschränkung seiner Auslegung für möglich hielt,142 weil dort der Zugang zu einem Universitätsstudium in Frage stand.143 Für relevant erachtete er weiterhin die Unterscheidung zwischen dem (diskriminierungsfreien) Zugang zu einem Betriebsrentensystem144 und dessen (diskriminierungsfreier) Ausgestaltung145.146 Demgegenüber gingen die Gewährung einer Betriebsrente und die Gewährung einer betrieblichen Witwenrente im Hinblick auf ihren Entgeltcharakter im Sinne von Art. 157 Abs. 1 AEUV auf dieselbe Auslegung zurück.147 Ferner stützte der Gerichtshof die Ablehnung einer eigenständigen Rückwirkungsbeschränkung in Lancry nicht auf das Konnexitätsmerkmal,148 obwohl der Sachverhalt mit dem von Legros149 identisch war, aber die Rechtsfrage nicht nur durch Primärrecht (wie in Legros), sondern auch durch einen Sekundärrechtsakt bestimmt wurde. Die gleiche Rechtsfrage und damit Grund für eine Präklusion war demgegenüber, welche „steuerliche Behandlung […] ein Mitgliedstaat im Rahmen eines nationalen Systems zur Verhinderung oder Abmilderung der wirtschaft-

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Z.B. EuGH v. 23.10.2012 – verb. Rs. C-581/10 und C-629/10 Nelson u.a., ECLI:EU: C:2012:657 Rn. 86 ff. 139 Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 82; Lang, IStR 2007, 235, 239. 140 EuGH v. 2.2.1988 – Rs. 309/85 Barra, Slg. 1988, 355 Rn. 14. 141 Vgl. EuGH v. 13.2.1985 – Rs. 293/83 Gravier, Slg. 1985, 593. 142 EuGH v. 2.2.1988 – Rs. 24/86 Blaizot, Slg. 1988, 379 Rn. 29. 143 Vgl. auch Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 89 ff.; ablehnend Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 185. 144 Erstmals in EuGH v. 13.5.1986 – Rs. 170/84 Bilka, Slg. 1986, 1607. 145 Erstmals in EuGH v. 17.5.1990 – Rs. C-262/88 Barber, Slg. 1990, I-1889. 146 Eingehend Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 82 ff.; Fitzpatrick, ILJ 1994, 155 ff. 147 EuGH v. 6.10.1993 – Rs. C-109/91 Ten Oever, Slg. 1993, I-4879 Rn. 15 ff. im Gegensatz zu GA van Gerven, verb. SchlA v. 28.4.1993 – Rs. C-109/91, C-110/91, C-152/91 und C-200/91 Ten Oever, Moroni, Neath und Coloroll Pension Trustees, Slg. 1993, I-4879 Rn. 51. Borchardt, DB 1993, 2133 geht von einer Vertrauenserschütterung aus. 148 EuGH v. 8.9.1994 – verb. Rs. C-363/93, C-407/93 bis C-411/93 Lancry u.a., Slg. 1994, I-3957 Rn. 40 ff. 149 EuGH v. 16.7.1992 – Rs. C-163/90 Legros u.a., Slg. 1992, I-4625.

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lichen Doppelbesteuerung für Dividenden gewähren muss, die von einer Gesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat ausgeschüttet werden“.150 Der Vergleichsmaßstab des EuGH orientiert sich demnach zuerst an den zu entscheidenden Sachverhalten.151 Diese müssen zwar nicht identisch, aber im Wesentlichen vergleichbar sein. Das ist auch bei Vorlagen aus verschiedenen Mitgliedstaaten möglich.152 Es ist zu beachten, dass die Abstraktionshöhe der Rechtsfrage den entsprechenden Sachverhalt mitbestimmt. Dass dieser Maßstab in der Meilicke-Entscheidung verschärft wurde und nun statt „Vergleichbarkeit“ der (nationalen) Sachverhalte schon deren „Ähnlichkeit“ genügt,153 lässt sich dem Meilicke-Urteil nicht entnehmen, denn dort war die Präklusion im Ergebnis nahezu unstreitig. Die Rechtsähnlichkeit kann nicht losgelöst vom maßgeblichen Unionsrecht formuliert werden. Die Abgrenzung ist demgemäß einfach, wenn eine entscheidungserhebliche Norm überhaupt noch nicht Gegenstand eines EuGHUrteils war.154 Dann kommt es auf die genaue Formulierung der Rechtsfrage nicht an. Hervorzuheben ist, dass auf die unionsrechtliche Rechtsfrage und deshalb die Unionsnorm(en) abzustellen ist. Unerheblich ist daher, ob bei zwei Sachverhalten dieselbe nationale Norm betroffen ist.155 Jedoch muss berücksichtigt werden, dass der Gerichtshof das Unionsrecht immer auch im Lichte des nationalen Vorlagesachverhalts interpretiert.156 Schwieriger ist es, wenn die Reichweite bestehender Rechtsprechung zu interpretieren ist. So formte sich die Unterscheidung in Barra und Blaizot im Hinblick auf den Wortlaut von Art. 128 Abs. 1 EGV (jetzt Art. 166 Abs. 1 AEUV, davor Art. 150 Abs. 1 EG), der auf die „berufliche Bildung“ abstellte und durchaus eine Unterscheidung zur akademischen Ausbildung an der Universität enthalten konnte.157 Dementsprechend ist die gleiche Rechtsfrage aufgeworfen, wenn ein Verstoß gegen Art. 90 EG (jetzt Art. 110 AEUV) durch zwei nationale Steuerregelungen im Raum steht, die die Zulassung von in anderen Mitgliedstaaten erworbenen Fahrzeugen im Inland einmal von einer besonderen Akzise und einmal von einer besonderen Verbrauchssteuer 150

EuGH v. 6.3.2007 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Rn. 35 Rn. 38 mit Verweis auf EuGH v. 6.6.2000 – Rs. C-35/98 Verkooijen, Slg. 2000, I-4071 Rn. 62. 151 Finke, IStR 2006, 212, 215. 152 Kokott/Henze, NJW 2006, 177, 181 f. 153 Kokott/Henze, BB 2007, 913, 917; Lang, IStR 2007, 235, 239 f.; im Anschluss daran Hufen/Nörr, Beschränkung von Urteilswirkungen im Falle der Feststellung der Verfassungswidrigkeit von Rechtsnormen, 2008, Teil 1, S. 52; Schmitz/Stammler, AöR 2011, 479, 493. 154 Vgl. GA Léger, SchlA v. 11.5.2000 – Rs. C-372/98 Cooke, Slg. 2000, I-8683 Fn. 36. 155 Auf diesen Umstand weist ausdrücklich auch GA Stix-Hackl, SchlA v. 5.10.2006 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Rn. 21 hin. 156 Lang, Limitation of Temporal Effects of CJEU Judgments, 2014, S. 245, 257. 157 Mead, MR 1988, 260, 262.

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abhängig machen.158 Besonders kompliziert ist die richtige Bestimmung des Vergleichsmaßstabs, wenn mehrere Abgrenzungskriterien in Betracht kommen, deren rechtliche Ausgestaltung unterschiedlich weit fortgeschritten ist. Beispielsweise hätten die Urteile Barber und Bilka auch anhand des Merkmals der Teilzeitarbeit (im Gegensatz zum Merkmal des Renteneintrittsalters) unterschieden werden können, selbst wenn man schon Bilka die Bedeutung beigelegt hätte, dass Art. 157 Abs. 1 AEUV auf alle Fragen der Betriebsrentensysteme Anwendung findet.159 Die Konnexitätsprüfung enthält wie jeder Vergleichsmaßstab eine Wertungsentscheidung.160 Wegen der strengen Rechtsfolge sind Zweifelsfragen jedoch sehr misslich.161 Gleichzeitig sind sie nichts Ungewöhnliches und geben der Wissenschaft Anlass, eigene Konkretisierungsvorschläge zu machen. Dabei gilt es, den Konflikt von Rechtssicherheit und Flexibilität aufzulösen. Der EuGH verlangt eine objektive Übereinstimmung der vorliegenden Rechtsfrage mit der Rechtsfrage des früheren Verfahrens. Er verzichtet gänzlich auf ein subjektives Element. Die Perspektive der Rechtsadressaten hat daher keinen Einfluss auf die Frage der Konnexität. Die Literatur versucht vereinzelt, den Streitgegenstandsbegriff fruchtbar zu machen. Eine vorgelegte Rechtsfrage ist danach konnex, wenn derselbe Streitgegenstand eines früheren Verfahrens von der Auslegungsfrage berührt wird.162 Der Streitgegenstand der Auslegungsvorlage bestimmt sich aus dem Auslegungsbegehren und dessen rechtlichen Fundament.163 Der Schwerpunkt 158 EuGH v. 17.7.2008 – Rs. C-426/07 Krawczyński, Slg. 2008, I-6021 im Hinblick auf EuGH v. 18.1.2007 – Rs. C-313/05 Brzezinski, Slg. 2007, I-513. 159 GA van Gerven, verb. SchlA v. 28.4.1993 – Rs. C-109/91, C-110/91, C-152/91 und C-200/91 Ten Oever, Moroni, Neath und Coloroll Pension Trustees, Slg. 1993, I-4879 Rn. 26; GA Cosmas, SchlA v. 13.7.1995 – Rs. C-435/93 Dietz, Slg. 1996, I-5223 Rn. 21 ff.; kritisch daher Ellis, CMLRev 35 (1998), 379, 388; Huep, RdA 2001, 325, 327. 160 Forsthoff, DStR 2005, 1840, 1842. Ebenso im Ergebnis Hufen/Nörr, Beschränkung von Urteilswirkungen im Falle der Feststellung der Verfassungswidrigkeit von Rechtsnormen, 2008, Teil 1, S. 52 und Schmitz/Stammler, AöR 2011, 479, 493, nach denen es darauf ankommen soll, „ob die zugrunde liegenden Sachverhalte vergleichbar sind, so dass eine einheitliche rechtliche Beurteilung in diesen Fällen als geboten erscheint“. 161 Kritisch daher Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 96 f.; Schnitger, Die Grenzen der Einwirkung der Grundfreiheiten des EG-Vertrages auf das Ertragsteuerrecht, 2006, S. 142; Schmitz/Stammler, AöR 2011, 479, 498. 162 Frenz/Kühl, DStZ 2009, 432, 438; wortgleich Frenz, Handbuch Europarecht, Band 5, 2010, Rn. 3428; ähnlich Steinberg/Bark, EuZW 2007, 245, 246; vgl. auch Germelmann, Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen in der Europäischen Union, 2009, S. 379 Fn. 234, der von der Konnexität auf den Streitgegenstand der Rechtskraft rückschließen will. 163 Germelmann, Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen in der Europäischen Union, 2009, S. 373 ff., 379.

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der Beurteilung liegt dabei auf Letzterem.164 Das rechtliche Fundament besteht aus der „Gesamtheit der der Auslegungsantwort zugrunde liegenden rechtlichen Argumentationsbündel“.165 Aufgrund der objektiven Funktion des Vorabentscheidungsverfahrens soll ein strenger Maßstab gelten.166 Der Streitgegenstandsbegriff eignet sich dennoch nicht zur Beurteilung der Konnexität. Richtig ist zwar, dass sowohl der Streitgegenstandsbegriff der Rechtskraftlehre als auch die Konnexität dazu dienen, bereits entschiedene Rechtsfragen zu ermitteln und die Endgültigkeit der ergangenen Entscheidung (sachliche Auslegung bzw. zeitliche Wirkung) zu sichern.167 Weiterhin deckt sich, dass Schwerpunkt der Prüfung die Rechtsfrage und weniger der Vorlagesachverhalt ist. Dennoch liegt nach dem Maßstab der Konnexität eher ein vergleichbarer Sachverhalt vor als nach dem Streitgegenstandsbegriff. Eine Rechtsfrage ist schon konnex, wenn die frühere Auslegungsantwort auf einen ähnlichen Sachverhalt übertragen wird. Sachverhalte und Rechtsfragen der zwei Verfahren sind dann zwar vergleichbar, weisen aber eben doch Unterschiede auf.168 Beispielsweise würde eine Vorlagefrage nicht als bereits in Barber entschieden gelten, wenn der nationale Sachverhalt ein anderes Rentensystem oder einen anderen Rechtsanspruch betrifft.169 Dennoch käme eine vom Ausspruch in Barber verschiedene zeitliche Wirkung nicht in Betracht. Die Konnexität betrachtet also noch stärker die rechtlichen Grundlagen der Vorlagefrage und führt eher zu einer Bindung an die einmal getroffene Einschätzung. Zur Bestimmung eines Maßstabs unpraktikabel ist weiterhin der Verweis auf das weitreichende Recht der nationalen Gerichte, Auslegungsfragen vor164 Germelmann, Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen in der Europäischen Union, 2009, S. 391. 165 Germelmann, Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen in der Europäischen Union, 2009, S. 392. 166 Germelmann, Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen in der Europäischen Union, 2009, S. 379; Frenz/Kühl, DStZ 2009, 432, 438. Unklar bleibt allerdings, welche Auswirkungen dies bei den Auslegungsvorlagen hat, denn aus der Streitgegenstandsidentität werden keine Rechtsfolgen gezogen, wenn Germelmann, Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen in der Europäischen Union, 2009, S. 417 ff. anerkennt, dass die (negativen) Rechtskraftwirkungen hier – ebenfalls aufgrund der objektiven Zielrichtung des Vorlageverfahrens – weitgehend aufgehoben sind. Ohne Rechtsfolgen ist der tatbestandliche Maßstab irrelevant. Gutsche, Die Bindungswirkung der Urteile des Europäischen Gerichtshofes, 1967, S. 169 ff. verneint daher eine Rechtskraft bei Auslegungsvorlagen. Siehe auch schon oben § 3 C.IV.1., S. 26. 167 Zu den Zielen der Rechtskraft nur Germelmann, Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen in der Europäischen Union, 2009, S. 336 ff. 168 Zumeist sind gerade diese Unterschiede der Grund für die Vorlage. 169 Siehe bei Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 82 ff. die auf Barber folgende Rechtsprechung.

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

zulegen.170 Dort besteht im Ergebnis fast keine Bindung an frühere Verfahren und ist eine erneute Vorlage stets möglich.171 Jedes zulässige Vorlageverfahren wäre dann auch nicht konnex, wodurch das Merkmal hinfällig würde. Näher liegt es, eine Rechtsfrage als konnex anzusehen, wenn die frühere Rechtsprechung als Präjudiz einschlägig ist. Denn beide Male ist zu untersuchen, ob die gestellte Rechtsfrage schon beantwortet wurde. Das ist der Fall, wenn sich die vorliegende Rechtsfrage nicht von der früheren Rechtsfrage im Sinne eines distinguishing unterscheiden lässt. Bei der Präjudizwirkung dient dies der Ermittlung des Inhalts der Auslegung und bei der Konnexität der Bestimmung der zeitlichen Wirkung der Auslegung. Anders als bei einer Rechtsprechungsänderung will der Gerichtshof hier jedoch nicht von der früheren Judikatur abweichen, sondern in ihrem Sinne entscheiden. Die Erkenntnis der Identität von Präjudizeignung und Konnexität beseitigt freilich nicht die Schwierigkeiten, vergleichbare von nicht-vergleichbaren Rechtsfragen zu trennen. Ob eine Rechtsprechung einschlägig ist, ist selten leicht festzustellen.172 Der Gewinn liegt hier vor allem darin, auf das bereits entwickelte methodische Werkzeug zugreifen zu können.173 Ungeklärt ist bislang, ob sich die konnexe frühere Auslegung auch aus anderen Verfahren als Auslegungsvorabentscheidungen ergeben kann. Im Rahmen des guten Glaubens bezieht sich der Gerichtshof in den Auslegungsvorlagen zumeist auf andere Auslegungsentscheidungen.174 Nur einmal war eine 170

A.A. GA Stix-Hackl, SchlA v. 5.10.2006 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Rn. 24; Müller, Die Begrenzung der zeitlichen Wirkungen von EuGHEntscheidungen, 2009, S. 84. 171 Vgl. Pechstein, EU-Prozessrecht, 4. Aufl. 2011, Rn. 833 (Ausnahmen zur Vorlagepflicht hindern nicht das Vorlagerecht); aus dem Blickwinkel der negativen Rechtskraftwirkung Germelmann, Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen in der Europäischen Union, 2009, S. 417 ff. 172 Hakenberg, Befolgung und Durchsetzung der Urteile der Gemeinschaftsgerichte, 2008, S. 163, 172; Arnull, The European Union and its Court of Justice, 2. Aufl. 2006, S. 631. 173 Siehe oben § 3 C.V., S. 37 f., insb. Fn. 147. 174 EuGH v. 31.3.1992 – Rs. C-200/90 Dansk Denkavit und Poulsen Trading, Slg. 1992, I-2217 Rn. 21; EuGH v. 14.9.1995 – verb. Rs. C-485/93 und C-486/93 Simitzi, Slg. 1995, I-2655 Rn. 33; EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-57/93 Vroege, Slg. 1994, I-4541 Rn. 28 f.; EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-128/93 Fisscher, Slg. 1994, I-4583 Rn. 25 f.; EuGH v. 24.10.1996 – Rs. C-435/93 Dietz, Slg. 1996, I-5223 Rn. 24 f.; EuGH v. 3.10.2002 – Rs. C-347/00 Barreira Pérez, Slg. 2002, I-8191 Rn. 46; EuGH v. 9.9.2004 – Rs. C-72/03 Carbonati Apuani, Slg. 2004, I-8027 Rn. 38 ff.; EuGH v. 27.3.1980 – Rs. 61/79 Denkavit italiana, Slg. 1980, 1205 Rn. 21; EuGH v. 27.5.1981 – verb. Rs. 142/80 und 143/80 Essevi und Salengo, Slg. 1981, 1413 Rn. 33; EuGH v. 11.8.1995 – verb. Rs. C-367/93 bis C377/93 Roders B.V. u.a., Slg. 1995, I-2229 Rn. 45; EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, Slg. 1995, I-4921 Rn. 146; EuGH v. 3.10.1996 – Rs. C-126/95 Hallouzi-Choho, Slg. 1996, 1996, I-4807 Rn. 44; EuGH v. 23.5.2000 – Rs. C-104/98 Buchner u.a., Slg. 2000, I-3625 Rn. 40; EuGH v. 10.5.2012 – verb. Rs. C-338/11 bis C-347/11 Santander

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auf ein Vertragsverletzungsverfahren zurückgehende Rechtsprechungslinie vertrauenszerstörend.175 Ausgehend von der oben erläuterten Gleichwertigkeit aller Auslegungsvorgänge, die unabhängig von der konkreten Verfahrensart ist,176 müssten alle Auslegungen herangezogen werden.177 3. Auswirkungen der Konnexität Das Konnexitätsmerkmal in seiner jetzigen Ausformung ist von großer Bedeutung.178 Trotz seiner eigenständigen Ausgestaltung nimmt es die Antworten auf eine Reihe von Einzelfragen vorweg. Vorentschieden ist, dass die Rückwirkungsbeschränkung territorial nicht auf einzelne Mitgliedstaaten beschränkt werden kann,179 was auch bei der „Antragsbefugnis“ zu berücksichtigen ist180. Weiterhin folgt aus dem Merkmal, dass der Zeitpunkt des erstauslegenden Urteils für die Rückwirkungsbeschränkung maßgeblich ist181. Insbesondere kann deshalb eine einmal bestimmte zeitliche Wirkung nicht geändert und eine Rückwirkungsbeschränkung nicht nachgeholt werden. Außerdem überschneidet sich das Präklusionsmerkmal mit dem Maßstab des guten Glaubens, weil es vorgibt, wann eine Rechtslage als geklärt gilt und dass insoweit eine objektive Prüfung zu erfolgen hat.182 Gleichzeitig müsste sich die als Tatbestandsvoraussetzung propagierte „Neuheit der Rechtsprechung“ von der Konnexität unterscheiden. 4. Ablehnung eines eigenständigen Tatbestandsmerkmals All das ist gleichzeitig Ansatzpunkt für grundsätzliche Kritik. Das Konnexitätsmerkmal vermengt eine Vielzahl von Sachproblemen der Rückwirkungsbeschränkung. Als Konsequenz aus der sehr rigiden Rechtsfolge – nämlich der Verweigerung jeglicher Rückwirkungsbeschränkungen – und dem strengen Maßstab versperrt sich der Gerichtshof den Weg zu flexiblen Lösungen.183 Diese müssen nicht zwangsläufig zu der befürchteten uneinheitlichen Geltung des Unionsrechts führen. Insbesondere kann die Nachholung einer Asset Management u.a., ECLI:EU:C:2012:286 Rn. 61; GA Fennelly, SchlA v. 16.3.2000 – verb. Rs. C-441/98 und C-442/98 Kapniki Michaïlidis, Slg. 2000, I-7145 Rn. 44. 175 EuGH v. 27.5.1981 – verb. Rs. 142/80 und 143/80 Essevi und Salengo, Slg. 1981, 1413 Rn. 33. 176 Siehe oben § 3 D. I.2.a), S. 46. 177 Eingehend unten § 6 D., S. 287 ff. 178 Ähnlich Wißmann, FS Bauer, 2010, S. 1161, 1163; Forsthoff, DStR 2005, 1840, 1842. 179 Siehe noch unten § 7 E., S. 377 ff. 180 Siehe noch unten § 11 B., S. 410 ff. 181 Siehe noch unten § 7 C., S. 328 ff. 182 Ähnlich Forsthoff, DStR 2005, 1840, 1842 „eng mit dem materiellen Erfordernis eines Vertrauenstatbestandes verwoben“; siehe noch unten § 6 B III.4.a), S. 203 ff. 183 Osterloh, FS Hassemer, 2010, S. 173, 177; Alexander, YbEL 8 (1988), 11, 25.

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Rückwirkungsbeschränkung durchaus Mittel eines angemessenen Interessenausgleichs sein.184 Darüber hinaus führt das Konnexitätsmerkmal zu Redundanzen, wenn es einzelne Aspekte von anderen Sachfragen vorwegnimmt. So trennt der Gerichtshof das objektive Merkmal der Konnexität nicht klar von der Prüfung des guten Glaubens und stellt ähnliche Erwägungen an beiden Punkten an.185 Dabei ist freilich nicht problematisch, beide Merkmale in Beziehung zu setzen: Eine einschlägige Rechtslage schließt einen abweichenden guten Glauben aus.186 Mindestens unglücklich ist diese Vermischung jedoch, weil der Gerichtshof so nicht offenlegt, dass die Konnexität einem anderen Maßstab folgt als der gute Glaube. Ist erstere ein rein objektiv zu bestimmendes Merkmal, stellt letzterer auf die (verobjektivierte) Sicht der Rechtsunterworfenen ab. Dadurch – und das wiegt besonders schwer – führt das eigenständige Konnexitätsmerkmal zu Wertungswidersprüchen. Beispielhaft ist folgende Situation: Es erging ein Urteil des Gerichtshofs, dessen Formulierungen so missverständlich waren, dass alle Unionsbeteiligten davon überzeugt waren, es würde einen bestimmten Sachverhalt nicht erfassen, während dies objektiv doch der Fall war.187 Der EuGH müsste hier unter Anwendung eines objektiven Konnexitätsmerkmals eine Rückwirkungsbeschränkung schon an der Präklusion scheitern lassen. Problematisch ist dies im Vergleich zu einer Erstauslegungssituation, in der die Reichweite einer Rechtsnorm unklar ist, aber aufgrund von Unionsverhalten ein fehlgeleiteter guter Glaube geschaffen wurde. Dort kommt eine Beschränkung des „objektiven“ Inhalts der Norm in Betracht, weil sich der gute Glaube von einem objektivierten Standpunkt der Rechtsadressaten aus bestimmt (anderenfalls würde es nie eine Rückwirkungsbeschränkung geben können). Entsprechend der Feststellung im SürülUrteil kann auch Rechtsprechung des Gerichtshofs guten Glauben in die Anwendbarkeit einer Rechtsprechungslinie begründen. Nicht einschlägige Urteile können somit irrtümlicherweise in ihrem Anwendungsbereich ausgedehnt werden und guten Glauben begründen. Einschlägige Urteile des EuGH sind 184

Eingehend unten § 7 C.I.3.a), S. 331 ff. Vgl. statt aller EuGH v. 9.3.2000 – Rs. C-437/97 Evangelischer Krankenhausverein Wien u.a., Slg. 2000, I-1157 Rn. 58; GA Stix-Hackl, SchlA v. 5.10.2006 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Rn. 34 a.E. 186 Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 81. Eingehend unten § 6 B.II.4.a), S. 203 ff. m.N. aus der Rechtsprechung. 187 Dieser Fall beruht auf Wiedmann, EuZW 2007, 692, 695; aufgegriffen auch von Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 82. Für den umgekehrten Fall, dass ein missverständliches Urteil anders als erwartet einen bestimmten Sachverhalt nicht erfasst siehe EuGH v. 4.5.1999 – Rs. C-262/96 Sürül, Slg. 1999, I-2685. 185

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hingegen stets in ihrem „objektiven“ Gehalt anzuwenden, ohne dass es auf die Sicht der Rechtsadressaten ankommt. Der Gerichtshof gesteht seinen Urteilen also mehr Bindungskraft als einschlägigen Rechtsnormen zu und behandelt außerdem einschlägige und nicht einschlägige Urteile unterschiedlich. Diese Widersprüche und Redundanzen lassen sich vermeiden, wenn die einzelnen Auswirkungen dort berücksichtigt werden, wo sie sachlich hingehören. So wird verhindert, dass Erwägungen des guten Glaubens, die von einer geklärten Rechtslage ausgehen, nur Auswirkungen auf vertrauensrelevante Fragen haben, nicht aber beispielsweise auf die Nachholung einer Rückwirkungsbeschränkung. Die richtige Verortung der Sachfragen, die sich im Konnexitätsmerkmal verbergen, stärkt außerdem Transparenz und Methodenehrlichkeit der Rechtsanwendung durch den Europäischen Gerichtshof. II. Der gute Glaube In Konkretisierung der Anforderungen an den guten Glauben verlangt der Gerichtshof, „dass die Einzelnen und die nationalen Behörden zu einem mit der Unionsregelung unvereinbaren Verhalten veranlasst worden waren, weil eine objektive und bedeutende Unsicherheit hinsichtlich der Tragweite der Unionsbestimmungen bestand, zu der eventuell auch das Verhalten anderer Mitgliedstaaten oder der Kommission beigetragen hatte“.188 1. Bezugspunkt und Inhalt des guten Glaubens a) Bezugspunkt: „Unionsbestimmungen“ Schon aus dem Wort „Unionsbestimmungen“ ergibt sich, dass Bezugspunkt des guten Glaubens ausschließlich die Unionsrechtslage ist.189 Vertrauen der 188

Z.B. EuGH v. 11.8.1995 – verb. Rs. C-367/93 bis C-377/93 Roders B.V. u.a., Slg. 1995, I-2229 Rn. 43; EuGH v. 20.9.2001 – Rs. C-184/99 Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193 Rn. 53; EuGH v. 4.10.2001 – Rs. C-294/99 Athinaïki Zythopoiia AE, Slg. 2001, I-6797 Rn. 36; EuGH v. 29.11.2001 – Rs. C-366/99 Griesmar, Slg. 2001, I-9383 Rn. 76; EuGH v. 15.3.2005 – Rs. C-209/03 Bidar, Slg. 2005, I-2119 Rn. 69; EuGH v. 27.4.2006 – Rs. C-423/04 Richards, Slg. 2006, I-3585 Rn. 42; EuGH v. 18.1.2007 – Rs. C-313/05 Brzezinski, Slg. 2007, I-513 Rn. 54; EuGH v. 21.10.2010 – Rs. C-242/09 Albron Catering, Slg. 2010, I-10309 Rn. 37; EuGH v. 10.5.2012 – verb. Rs. C-338/11 bis C-347/11 Santander Asset Management u.a., ECLI:EU:C:2012:286 Rn. 60; EuGH v. 19.7.2012 – Rs. C-263/11 Rēdlihs, ECLI:EU:C:2012:497 Rn. 60; EuGH v. 19.12.2013 – Rs. C-209/12 Endress, ECLI:EU:C:2013:864 Rn. 36. Zur Gleichsetzung des „guten Glaubens“ mit dieser Formulierung ausführlich Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 144 ff. 189 St.Rspr. EuGH v. 20.9.2001 – Rs. C-184/99 Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193 Rn. 53; EuGH v. 15.3.2005 – Rs. C-209/03 Bidar, Slg. 2005, I-2119 Rn. 69; Franzen, RIW 2010, 577, 578; ausdrücklich jetzt auch GA Wathelet, SchlA v. 4.9.2014 – verb. Rs. C-401/13

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Rechtssubjekte in die nationalen Rechtsordnungen oder anderes Recht, z.B. Völkerrecht, ist nur dann relevant, wenn gleichzeitig an die Unionskonformität dieses Rechts geglaubt wird.190 Dies wird durch weitere Gründe gestützt. Zuerst könnte der Gerichtshof das Ausmaß und die Berechtigung von Vertrauen in eine nationale Rechtslage nicht selbst ermitteln, da dazu deren Auslegung notwendig wäre, wozu er nicht befugt ist. Würde der Gerichtshof sich hier allein auf die Angaben der Mitgliedstaaten verlassen, so wäre die gleichförmige Anwendung dieses Kriteriums gefährdet. Dem wäre zwar abgeholfen, wenn der EuGH die Erläuterungen zu den nationalen Vertrauenstatbeständen einer Plausibilitätsprüfung unterziehen würde. Dennoch wäre das Verständnis des Unionsrechts zumindest zeitweise von mitgliedstaatlicher Rechtssetzung (oder von deren Konformität) abhängig.191 Die Auslegung des Unionsrechts muss jedoch autonom und von nationalem Recht unabhängig sein. Bedeutung hat das mitgliedstaatliche Recht allenfalls mittelbar bei der Bestimmung der relevanten Rechtsfrage und der entsprechenden Unionsrechtslage; je unübersichtlicher die zu beurteilenden nationalen Regelungen, desto unklarer dürfte die Antwort des Unionsrechts sein.192 Zudem stünde der Gerichtshof vor der misslichen Alternative, entweder die Geltung des Unionsrechts in räumlicher Hinsicht auf genau die Mitgliedstaaten zu beschränken, bei denen die Rechtslage Vertrauen hervorgerufen hat, oder sich bei der Bestimmung des guten Glaubens an dem Mitgliedstaat zu orientieren, der eine Rückwirkungsbeschränkung nötig machen würde. Die erste Alternative führt zu einer uneinheitlichen Geltung des Unionsrechts und ist schon deshalb zu vermeiden. Die hinter dem Konnexitätsmerkmal stehenden Wertungen strahlen hier aus. Außerdem könnten die Mitgliedstaaten wieder – gleichsam in eigener Sache – Ausnahmen für sich schaffen. Die zweite Alternative würde die Rückwirkungsbeschränkung wahrscheinlich zum Regelfall machen, denn bei 28 Mitgliedstaaten ist es sehr wahrschein-

und C-432/13 Balazs, ECLI:EU:C:2014:2161 Rn. 93; Müller, Die Begrenzung der zeitlichen Wirkungen von EuGH-Entscheidungen, 2009, S. 121 f.; etwas offener Wißmann, FS Bauer, 2010, S. 1161, 1163 „aus grenzüberschreitenden Bezügen […], insbesondere aus dem Gemeinschaftsrecht selbst“. 190 Wie hier Huep, Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf ältere Sachverhalte, 2001, S. 90 f.; a.A. z.B. Wank, EuZA 2011, 286, 287; LangohrPlato, MDR 1992, 838, 840; Hufen/Nörr, Beschränkung von Urteilswirkungen im Falle der Feststellung der Verfassungswidrigkeit von Rechtsnormen, 2008, Teil 1, S. 47; unklar Herresthal, ZEuP 2009, 598, 611 f. 191 Ähnlich Wißmann, FS Bauer, 2010, S. 1161, 1163, der aber auf die Geltung und Anwendbarkeit des Unionsrechts abstellt. 192 Daher lässt sich EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, Slg. 1995, I-4921 Rn. 143 entgegen Egger, öAnwBl 2001, 528, 531 nicht so verstehen, dass dort die Komplexität des Verbandsrechts als Bezugspunkt des guten Glaubens gedient hat; siehe noch unten § 6 B.II.3.i), S. 211.

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lich, dass zumindest eine nationale Rechtsordnung abweichende Vorschriften enthält, die Vertrauen begründet haben. Irrelevant ist daher, ob die mitgliedstaatliche Regelung, die Anlass für die Vorlagefrage gab, schon aufgehoben wurde oder noch fortgilt.193 Die vermutete Unionsrechtslage muss auch nicht schon praktiziert worden sein. Maßgeblich ist nicht eine irgendwie geartete Vertrautheit mit dem Recht, sondern allein die Erwartung der Rechtsunterworfenen, dass und mit welchem Inhalt es angewendet werden wird.194 Der gute Glaube kann sich auf einzelne Merkmale oder Teile eines mehrgliedrigen Tatbestands bzw. Rechtsbegriffs beziehen. Steht beispielsweise im Rahmen des Begriffs der Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV nur das Merkmal der „staatlichen Maßnahme oder der Maßnahme unter Inanspruchnahme staatlicher Mittel“ im Streit, so wird die Annahme guten Glaubens nicht ausgeschlossen, wenn der Gerichtshof weitere Merkmale des Beihilfebegriffs nicht selbst prüft, sondern diese sich aus der bestehenden Rechtsprechung des Gerichtshofs ergeben.195 Freilich ist bei der weiteren Prüfung der Rückwirkungbeschränkung darauf zu achten, dass die wirtschaftlichen Auswirkungen auf der Auslegung des fraglichen Merkmals beruhen. b) Inhalt: „objektive und bedeutende Unsicherheit“ Notwendig zur Annahme des guten Glaubens der Rechtsunterworfenen ist nach dem Obersatz des EuGH eine „objektive und bedeutende Unsicherheit“.196 aa) Normative Unbestimmtheit? Mit dieser Formulierung könnte gemeint sein, dass die Auslegung des Unionsrechts unklar ist, weil die Vorschriften unbestimmt sind. Eine „objektive Unsicherheit“ läge dann vor, wenn objektiv mehrere Auslegungsvarianten 193 Vgl. EuGH v. 2.2.1988 – Rs. 24/86 Blaizot, Slg. 1988, 379. Unbegründet sind deshalb die Sorgen von Forsthoff, DStR 2005, 1840, 1842, solche Mitgliedstaaten würden benachteiligt. 194 Anders zum deutschen Recht Kirchhof, Brauchen wir eine neue Verfassung?, 1995, S. 217, 224 f. 195 A.A. GA Jääskinen, SchlA v. 11.7.2013 – Rs. C-262/12 Vent De Colère u.a., ECLI: EU:C:2013:469 Rn. 60 ff. 196 Z.B. EuGH v. 20.9.2001 – Rs. C-184/99 Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193 Rn. 53; EuGH v. 4.10.2001 – Rs. C-294/99 Athinaïki Zythopoiia AE, Slg. 2001, I-6797 Rn. 36; EuGH v. 29.11.2001 – Rs. C-366/99 Griesmar, Slg. 2001, I-9383 Rn. 76; EuGH v. 15.3.2005 – Rs. C-209/03 Bidar, Slg. 2005, I-2119 Rn. 69; EuGH v. 27.4.2006 – Rs. C-423/04 Richards, Slg. 2006, I-3585 Rn. 42; EuGH v. 18.1.2007 – Rs. C-313/05 Brzezinski, Slg. 2007, I-513 Rn. 54; EuGH v. 21.10.2010 – Rs. C-242/09 Albron Catering, Slg. 2010, I-10309 Rn. 37.

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vertretbar sind. „Bedeutend“ wäre diese Unsicherheit, wenn die Wertungsoffenheit der Vorschrift besonders deutlich zutage tritt. Gegen ein solches Verständnis spricht zuerst, dass Unklarheiten nicht nur bei unbestimmten Rechtsbegriffen bis zu einer ersten verbindlichen EuGHEntscheidung vorprogrammiert sind. Sie sind gleichsam Strukturmerkmale abstrakt-genereller Regelungen und müssen daher schon im Gesetzgebungsprozess hingenommen werden.197 Zweifel über den genauen Inhalt einer Bestimmung sind zuerst von den Rechtsadressaten zu tragen, die sich darauf ein- und ihr Verhalten daran auszurichten haben.198 Sie führen deshalb nicht zur Schutzwürdigkeit der Adressaten. Diese Überlegung wird gestützt durch den zweiten Halbsatz des Obersatzes. Dieser bezieht sich in der deutschen wie auch der englischen und französischen Fassung auf den Terminus „Unsicherheit“.199 Es ist aber nicht möglich, dass die Unionsorgane (oder die Mitgliedstaaten) zur Unbestimmtheit einer Unionsvorschrift nachträglich beitragen. Sie können allenfalls das Verständnis dieser Norm beeinflussen, nicht jedoch deren Wertungsoffenheit. Daher kann es für die „Unsicherheit“ nicht auf die normative Unbestimmtheit, sondern nur auf den Inhalt der vermuteten Unionsrechtslage ankommen. Deren (vermeintliche) Vorgaben müssen in einer objektiven und bedeutenden Weise unklar sein. bb) Bestehen einer bestimmten Rechtslage Das Wort „Unsicherheit“ ist in einer weiteren Hinsicht fehlleitend und gibt den vom Gerichtshof tatsächlich angewendeten Maßstab nicht richtig wieder.200 Maßgeblich ist nicht eine Unsicherheit im Sinne einer Unklarheit über die geltende Rechtslage, sondern die Überzeugung der Rechtsunterworfenen, vom Bestehen einer bestimmten Rechtslage (zu der sie sich dann regelmäßig 197

Statt aller Hartley, Constitutional Problems of the European Union, 1999, S. 66 ff.; zum deutschen Recht z.B. Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, S. 653 f. 198 Siehe auch die Kritik bei GA Sharpston, SchlA v. 22.6.2006 – Rs. C-228/05 Stradasfalti, Slg. 2006, I-8391 Rn. 87-89. A.A. wohl GA Villalón, SchlA v. 31.1.2013 – Rs. C-414/11 Daiichi Sankyo und Sanofi-Aventis, ECLI:EU:C:2013:49 Rn. 121; GA Wahl, SchlA v. 8.5.2014 – verb. Rs. C-359/11 und C-400/11 Schulz und Egbringhoff, ECLI:EU: C:2014:2317 Rn. 76. 199 Besonders deutlich kommt dies in der französischen Fassung zum Ausdruck: „… en raison d’une incertitude objective et importante quant à la portée des dispositions de l’Union, incertitude à laquelle avaient éventuellement contribué les comportements mêmes adoptés par d’autres États membres ou par la Commission.“ 200 Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 46 f.; Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 161. Unscharf auch Franzen, RIW 2010, 577, 578 „unionsrechtliche Rechtslage unsicher“; Langenfeld, Die Gleichbehandlung von Mann und Frau im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1990, S. 95 oder Jann, EuGRZ 2006, 523, 524 „wirklich unklar“.

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konform verhalten).201 Unklarheiten über den Inhalt der Rechtslage gehen mit der strukturellen Unbestimmtheit von Normen meist einher. Normative Ungewissheit muss daher grundsätzlich zu Lasten der Rechtsunterworfenen gehen. Es genügt gerade nicht, dass das Auslegungsergebnis des Gerichtshofs „nicht zu erwarten war“.202 Damit werden keine überspannten Anforderungen an die Mitgliedstaaten gestellt, die ihre Rechtsordnung schon auf einen „bloß vagen Verdacht“ hin ändern müssten.203 Als Adressaten des Unionsrechts sind die Mitgliedstaaten ebenso zu behandeln wie die Unionsbürger. Von letzteren verlangt man, auf Zweifelslagen zu reagieren und Vorsorge zu treffen. Diese Maßstäbe gelten erst recht, wenn schwierige Grenzfälle betroffen sind, denn dann handelt es sich schon begrifflich nur um eine Unklarheit der Rechtslage.204 Ebenso genügt es nicht, dass eine bestehende Rechtsprechung widersprüchlich ist,205 sie muss vielmehr gerade in eine bestimmte (falsche) Richtung weisen. Weiterhin besteht eine bloße Unsicherheit, wenn die Kommission mit den Mitgliedstaaten noch einen Dialog über die Umsetzung bestimmter Unionsvorschriften führt206 oder mehrere Vorlageverfahren zu Einzelfragen der geltenden EuGH-Rechtsprechung anhängig sind207. Der Gerichtshof folgt dem denn in der Sache auch.208 Schon in der Rechtssache Essevi und Salengo hielt er ausdrücklich bloße Unsicherheiten über die Vereinbarkeit der nationalen Vorschriften mit dem Gemeinschaftsrecht für hinderlich im Hinblick auf die Gewährung von Vertrauensschutz.209 Darüber hinaus verlangt er seit seiner Leitentscheidung Defrenne II, dass die Betroffenen zu dem unionsrechtswidrigen Verhalten „veranlasst“ worden sein

201

Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 130; ähnlich Borchardt, GS Grabitz, S. 29, 42, der verlangt, dass „eine Gemeinschaftsrechtsregelung in einer von dem bisherigen Verständnis und der bisherigen Praxis abweichenden Weise ausgelegt oder fortgebildet wird“; Säcker/Mengering, BB 2013, 1859, 1865; Leible/Terhechte-Karpenstein, EnzEuR Bd. 3, 2014, § 8 Rn. 124; i.Erg. ebenso Seer, ET 46 (2006), 470, 475. 202 So z.B. Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EUGH, 1995, S. 305. 203 So aber Kokott/Henze, NJW 2006, 177, 180; für einen lockereren Maßstab auch Albarth/Wunderlich, EWS 2006, 205, 210. 204 A.A. Schwarze, NJW 2005, 3459, 3465. 205 So aber Lang, Intertax 35 (2007), 230, 233. 206 Cloer, EWS 2005, 213, 215. 207 A.A. Ciszewski, Glücksspielregulierung aus nationaler und gemeinschaftsrechtlicher Sicht, 2009, S. 176 f. 208 Seer, Rechtsprechung des EuGH: Rechtsfolgen- oder Grundfreiheitenbeschränkung?, 2006, S. 9, 24 f. 209 EuGH v. 27.5.1981 – verb. Rs. 142/80 und 143/80 Essevi und Salengo, Slg. 1981, 1413 Rn. 34.

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müssen.210 Eine „Veranlassung“ kann für die Rechtsunterworfenen aber nur dort entstehen, wo sie sich durch das Unionsrecht gezwungen sehen, also genau das fragliche Verhalten als rechtlich geboten (oder zumindest freigestellt) erachten. Erforderlich ist demnach, dass die Rechtsunterworfenen von der Vereinbarkeit ihres Verhaltens mit dem Unionsrecht überzeugt sind. Die Überzeugung kann sich auf jeden Teil der Normstruktur oder des Prüfungsschemas beziehen. Die Rechtsunterworfenen können daher beispielsweise von der Rechtfertigungsfähigkeit einer ungleichbehandelnden nationalen Regelung ausgehen.211 Hingegen ist nicht notwendig, dass die Rechtsunterworfenen diese Rechtslage auch für die rechtspolitisch richtige/beste Lösung halten. Sie haben sich lediglich am zu erwartenden Ergebnis des Gerichtshofs auszurichten.212 Dieses kann von ihren eigenen Richtigkeitsvorstellungen abweichen. Bei stärkeren Zweifeln an der Sinnhaftigkeit einer Rechtslage müssen sie jedoch wiederum mit einem anderen Ergebnis oder einer Änderung der Rechtslage rechnen. Dieser Maßstab sollte auch nicht in der Weise umgekehrt werden, dass es schon genügt, wenn die Mitgliedstaaten keinen begründeten Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer bestimmten nationalen Regelung hatten.213 Worauf eine solche Vermutung der Unionskonformität nationalen Rechts basieren sollte, ist nicht zu erkennen. Sie würde wohl auch nur den Mitgliedstaaten, nicht jedoch privaten Adressaten des Unionsrechts bei privat-autonom gesetztem Recht gewährt werden. Es existiert kein erster Anschein, dass alle Mitgliedstaaten bei jedem neu gesetztem Recht das gesamte Unionsrecht richtig überblicken und Anstrengungen unternehmen, sich entsprechend zu verhalten. Dies gilt insbesondere für Auswirkungen auf schon bestehendes nationales Recht. Ein solcher Maßstab ließe sich auch nicht aus einem Vergleich mit der unionalen Gültigkeitsvermutung rechtfertigen. Nach dieser Rechtsfigur muss eine Unions(sekundär)norm angewandt und befolgt werden, solange sie nicht

210

EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne II, Slg. 1976, 455 Rn. 71/73. Ähnlich z.B. EuGH v. 11.3.1981 – Rs. 69/80 Worringham, Slg. 1981, 767 Rn. 32; EuGH v. 2.2.1988 – Rs. 24/86 Blaizot, Slg. 1988, 379 Rn. 33. 211 Dem steht nicht EuGH v. 19.10.1995 – Rs. C-137/94 Richardson, Slg. 1995, I-3407 Rn. 34 entgegen, denn dort verneinte der EuGH die Rückwirkungsbeschränkung nur, weil der verfahrensbeteiligte Mitgliedstaat sich vor dem EuGH auf einen Irrtum hinsichtlich der Tatbestandsmäßigkeit berief, während er gegenüber der Kommission von deren Rechtfertigung ausgegangen war. Vgl. auch den Vortrag des beteiligten Mitgliedstaats in EuGH v. 29.7.2010 – Rs. C-577/08 Brouwer, Slg. 2010, I-7485 Rn. 25. 212 Broberg/Fenger, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union, 2014, S. 395. 213 Seer, Rechtsprechung des EuGH: Rechtsfolgen- oder Grundfreiheitenbeschränkung?, 2006, S. 9, 24 f.; a.A. Schmitz/Stammler, AöR 2011, 479, 497.

§ 6 Der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung

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aufgehoben ist, auch wenn Zweifel an ihrer Gültigkeit bestehen.214 Die Gültigkeitsvermutung vermeidet eine uneinheitliche Anwendung des Unionsrechts, indem sie zusammen mit dem Vorranganspruch die Kollision unterschiedlicher normativer Befehle einer Rechtsordnung zeitweilig auflöst. Eine nationale Gültigkeitsvermutung würde hingegen die Geltung des Unionsrechts von den Mitgliedstaaten abhängig machen. Da der EuGH die nationale Rechtslage nicht beurteilen darf, könnte er ihre richtige Anwendung nur schwer kontrollieren. cc) „Neuheit“ der Rechtsprechung? Es ist in der Literatur und bei den Generalanwälten weit verbreitet, einen guten Glauben und damit eine Rückwirkungsbeschränkung nur zuzulassen, wenn eine irgendwie geartete „Neuheit“ in der Rechtsprechung liegt. Die Formulierungen reichen von einer „neugeschaffenen Rechtslage/Vorschrift“215 über „neue gemeinschaftsrechtliche Entwicklungen“216 bis zu „Neuauslegung“217 durch den EuGH. Dadurch wird eine positive Anforderung an die Rückwirkungsbeschränkung formuliert und die Neuheit als Mindestkriterium verwendet. Wäre es eine hinreichende Voraussetzung müssten alle Rechtsprechungsänderungen und -fortentwicklungen in der Rückwirkung 214

EuGH v. 12.2.2008 – Rs. C-199/06 CELF, Slg. 2008, I-469 Rn. 60; EuGH v. 15.6.1994 – Rs. C-137/92 P Kommission ./. BASF, Slg. 1994, I-2555 Rn. 48; EuGH v. 13.2.1979 – Rs. 101/78 Granaria, Slg. 1979, 623 Rn. 4 f.; Schwarze-Schwarze, EUKommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 264 AEUV Rn. 3; Bülow, Die Relativierung von Verfahrensfehlern im Europäischen Verwaltungsverfahren und nach §§ 45, 46 VwVfG, 2007, S. 27 ff.; Annacker, Der fehlerhafte Rechtsakt im Gemeinschafts- und Unionsrecht, 1998, S. 79 ff. 215 Wyatt, ELRev 1976, 399, 401; Tillmanns, FS Buchner, 2009, S. 885, 887; GA Maduro, SchlA v. 6.5.2004 – Rs. C-72/03 Carbonati Apuani, Slg. 2004, I-8027 Rn. 76; GA Jääskinen, SchlA v. 2.12.2010 – Rs. C-148/09 P Belgien ./. Deutsche Post u.a., Slg. 2011, I-8573 Rn. 116; ähnlich Höfer, BB 1994, 2139, 2140 „neues Recht“ im Sinne der Besitzstandswahrung. 216 Ausführlich Weiß, EuR 1995, 377, 386 ff.; i.Erg. ebenso Klappstein, Die Rechtsprechungsänderung mit Wirkung für die Zukunft, 2009, S. 202; Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 128 f., 153 ff.; Schlachter, ZfA 2007, 249, 267 f.; Höpfner, JJZ 2009, 73, 87; ders., ZfA 2010, 449, 482; Woods/Watson, Steiner & Woods EU Law, 11. Aufl. 2012, S. 237; Steinberg/Bark, EuZW 2007, 245, 246; Vath, Die fremdenrechtlichen Regelungen des deutschen Urheberrechts und das EG-Diskriminierungsverbot nach der „Phil Collins-Entscheidung“ des Europäischen Gerichtshofes vom 20. Oktober 1993, 1998, S. 113; ähnlich Schiek, AuR 2006, 41, 44; Rühmann, BetrAV 1993, 107, 108 f.; zurückhaltender Riesenhuber-Neuner, Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 12 Rn. 25. 217 Waelbroeck, YbEL 1 (1981), 115, 115; Koopmans, CamLJ 39 (1980), 287, 288 et passim; Kilches, ecolex 2001, 469, 470; GA Sharpston, SchlA v. 21.7.2011 – Rs. C-250/08 Kommission ./. Belgien, Slg. 2011, I-12341 Rn. 93; ähnlich auch GA Tesauro, SchlA v. 18.5.1994 – verb. Rs. C-485/93 und C-486/93 Simitzi, Slg. 1995, I-2655 Rn. 19.

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beschränkt werden. Dafür lassen sich Gegenbeispiele in der Rechtsprechung finden.218 Gleichwohl hat der Gerichtshof zu dieser Diskussion durchaus seinen Beitrag geleistet. So führte er aus, er habe „[in der Rechtssache Barber] erstmals die Frage behandelt […], wie eine auf der Festsetzung je nach Geschlecht unterschiedlicher Rentenalter beruhende Ungleichbehandlung nach Artikel 119 [EWG] zu beurteilen ist“.219 Dass damit kein Neuheitskriterium angesprochen ist, ergibt sich wohl nur aus der lediglich zusammenfassend-referierenden Verwendung. Von einem theoretischen Ausgangspunkt ist ein Neuheitskriterium hier genauso unbrauchbar wie (oben) als Abgrenzungsmerkmal der „deklaratorischen Gesetze“. Nach der deklaratorischen Theorie ist keine Rechtsprechung wirklich neues Recht und nach der dezisionistischen Theorie alles Recht tendenziell neu. Selbst Mittelwege müssten auf weitere Kriterien zurückgreifen, um eine handhabbare Abgrenzung zu ermöglichen. Diese Probleme ließen sich zwar umgehen, indem man die Neuheit als faktisches Kriterium begreift. Neu wäre danach alles, was bisher noch nicht so vom EuGH gesagt wurde oder sich nicht zwanglos aus bisheriger Rechtsprechung ableiten lässt. Für eine Beschränkung kämen also die Fälle in Betracht, die nicht bereits entschieden wurden. Bereits entschiedene Fälle sortiert der Gerichtshof aber mit dem Konnexitätsmerkmal aus.220 Erforderlich ist demnach eine materielle Unterscheidung zwischen „neuen“ und „alten“ Rechtsfragen.221 Dabei besteht die Gefahr, sich in nicht handhabbaren Leerformeln zu verlieren. Beispielhaft geht Alexander davon aus, 218

Vgl. Woods/Watson, Steiner & Woods EU Law, 11. Aufl. 2012, S. 237, die hinweisen auf EuGH v. 19.11.1991 – Rs. C-6/90 Francovich und Bonifaci, Slg. 1991, I- 5357 und EuGH v. 2.8.1993 – Rs. C-271/91 Marshall ./. Southampton and South West Hampshire Area Health Authority, Slg. 1993, I-4367; siehe auch die Beispiele für Rechtsprechungsänderungen durch den EuGH oben § 3 Fn. 298 f. 219 EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-57/93 Vroege, Slg. 1994, I-4541 Rn. 24; EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-128/93 Fisscher, Slg. 1994, I-4583 Rn. 21 (Hervorhebung vom Verfasser). 220 In diesem eingeschränkten Sinne scheint übrigens auch das Erfordernis einer new rule im Rahmen der anglo-amerikanischen prospective adjudication zu verstehen zu sein. Dieses Merkmal ist nämlich schon erfüllt, wenn das Gericht entweder eindeutige frühere Rechtsprechung ändert oder bei einer ersten Auslegung einen nicht deutlich vorhersehbaren Weg einschlägt, vgl. U.S. Supreme Court, Chevron Oil Co. v. Huson, 404 U.S. 97, 107 (1971): „the decision to be applied nonretroactively must establish a new principle of law, either by overruling clear past precedent on which litigants may have relied, or by deciding an issue of first impression whose resolution was not clearly foreshadowed” (Nachweise weggelassen). Inwieweit Chevron Oil heute noch gilt, ist unklar, i.Erg. bejahend Klappstein, Die Rechtsprechungsänderung mit Wirkung für die Zukunft, 2009, S. 107 ff.; eher verneinend Sampford, Retrospectivity and the Rule of Law, 2006, S. 211 f. 221 Vgl. Kokott/Henze, NJW 2006, 177, 180: „neues Rechtsgebiet mit ungeklärten Rechtsfragen“.

§ 6 Der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung

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dass ein „complete surprise“ notwendig sei, aber der Grad von „surprise“, wie er in Blaizot vorgelegen habe, nicht genüge.222 Mehr als eine bildliche Beschreibung der Vertrauenssituation lässt sich einer solchen Aussage nicht entnehmen.223 Nicht genügen kann, dass eine Norm zum ersten Mal ausgelegt wird.224 Dann würde beinahe jedes Urteil in der Rückwirkung begrenzt werden müssen. Wenig gewonnen ist auch durch die weit verbreitete Formulierung von einer Fort- oder Weiterentwicklung des Unionsrechts.225 Bei jeder lebendigen Rechtsordnung kommt es regelmäßig zu Entwicklungen, weil auf sich ständig ändernde Umstände Rücksicht genommen werden muss. Um über eine Leerformel hinauszukommen, müssten also qualifizierende Zusätze gefunden werden. Diese ermöglichen aber ebensowenig – wie das Beispiel von Alexander zeigt – eine vorhersehbare Abgrenzung. Nun ließe sich erwägen, dass die Trennlinie zwischen Rechtsfortbildung und Auslegung verläuft.226 Jedoch nimmt der Gerichtshof eine solche Unterscheidung jedenfalls begrifflich nicht vor. Gegen die Verwendung dieser Grenze spricht vor allem, dass sich ein Bedürfnis nach einer Beschränkung der Rückwirkung auch bei einer einfachen Auslegung zeigen kann. Die Urteile Legros, Evangelischer Krankenhausverein Wien und Sürül, in denen der EuGH die Rückwirkung begrenzt hat, lassen sich zweifelsohne nicht als Rechtsfortbildungen ansehen. Dort ging es lediglich um eine Auslegung von Unionsbestimmungen. Diese Fälle machen aber immerhin drei der acht rückwirkungsbeschränkenden Urteile im Auslegungsvorabentscheidungsverfahren aus. Die Unterscheidung zwischen (quasi-)gesetzgeberischer und rein rechtsprechender Tätigkeit wird weiter als mögliches Unterscheidungsmerkmal angeführt.227 Der damit angesprochene Maßstab ist angesichts der anerkann222

Alexander, YbEL 8 (1988), 11, 16. Vgl. auch GA Villalón, SchlA v. 31.1.2013 – Rs. C- 414/11 Daiichi Sankyo und Sanofi-Aventis, ECLI:EU:C:2013:49 Rn. 121 “in gewisser Weise überraschenderweise“. 224 Widersprüchlich Lang, Intertax 35 (2007), 230, 233 bzw. 234, der aber den Hinweis des EuGH auf die Präklusion missversteht. 225 GA Geelhoed, SchlA v. 11.11.2004 – Rs. C-209/03 Bidar, Slg. 2005, I-2119 Rn. 72; GA Elmer, SchlA v. 13.7.1995 – Rs. C-137/94 Richardson, Slg. 1995, I-3407 Rn. 34; Schima, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH, 2. Aufl. 2004, S. 104; O’Keeffe/Osborne, IJCL 1996, 111, 120 und die Nachweise in § 6 Fn. 216; vgl. auch GA Reischl, SchlA v. 9.1.1980 – verb. Rs. 66/79, 127/79 und 128/79 Salumi u.a., Slg. 1980, 1237, 1269. 226 Huep, Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf ältere Sachverhalte, 2001, S. 70 f.; Heß, ZZP 108 (1995), 59, 70; Mohr, Schutz vor Diskriminierungen im Europäischen Arbeitsrecht, 2003, S. 315; Balthasar, JJZ 2010, 39, 64; wohl auch Gaster, ZUM 1996, 261, 266. 227 Hartley, Constitutional Problems of the European Union, 1999, S. 41 und dort Fn. 70; X, EBL 1976, 296, 298; Brown, CMLRev 18 (1981), 509, 518 bezogen auf die 223

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ten Rechtsfortbildungskompetenz des EuGH also noch strenger. Bis auf die Rechtssachen Defrenne II und wohl Bosman wäre dann eine Rückwirkungsbeschränkung ausgeschieden. Gleichzeitig müsste der Gerichtshof inzident anerkennen, seine Kompetenzen überschritten zu haben. Jedenfalls verträgt sich diese Abgrenzung nicht mit seinem der deklaratorischen Theorie zuneigenden Selbstverständnis. Insgesamt erweist sich das Merkmal der „Neuheit“ damit als unbrauchbar. Entweder ist es nichtssagend oder mit der Konnexität identisch oder nur eine Umschreibung für Teilaspekte des guten Glaubens, insbesondere die Frage, ob und wann frühere Rechtsprechung einen guten Glauben ausschließt. Einige der Differenzierungen könnten aber als Abstufungen für das Maß des Vertrauensschutzes in Betracht kommen. dd) Dogmatisch: Rechtliche Akzeptanz eines tatsächlichen Irrtums wegen Verhaltensverantwortlichkeit der Union In der Diskussion um Gesetzesrückwirkung und Rückwirkung der Rechtsprechungsänderung liegt der Schwerpunkt der Argumentation regelmäßig auf der Enttäuschung von Vertrauen durch eine Änderung der Rechtslage.228 Gleiches betrifft die Ableitung aus dem Grundsatz des Vertrauensschutzes.229 Will man auf dieser Basis der Rückwirkungsbeschränkung in der Rechtsprechung das Wort reden, so stößt dies entweder an die Grenzen der deklaratorischen Theorie230 oder man muss selbst für methodisch vergleichsweise unspektakuläre Auslegungen einen sehr stark dezisionistischen Ansatz vertreten. Ebenso unbefriedigend ist die Begründung Bydlinskis, die Auslegung des EuGH (im Vorabentscheidungsverfahren) sei abstrakt-genereller Natur ohne Abweichungs- und damit Kontrollmöglichkeit anderer unionaler oder mitgliedstaatlicher Gerichte.231 Daher löse die Rückwirkungsbeschränkung einen Konflikt abstrakt-genereller Normen unionsrechtlicher und nationaler Provinienz.232 Wie oben schon ausgeführt, wäre die Rückwirkungsbeschränkung dann eine Ausnahme zu den Durchsetzungsmechanismen des Unionsrechts, insbesondere dem Anwendungsvorrang.233 Nach geltendem Recht ist sie jedoch unionsrechtsbezogen.234 Bezeichnenderweise kennt der EuGH deshalb Rechtssache Defrenne II; vgl. auch Bydlinski, JBl 2001, 2, 21; zum deutschen Recht z.B. Pieroth/Hartmann, ZIP 2010, 753, 758. 228 Symptomatisch Schlachter, ZfA 2007, 249, 265. 229 v. Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, S. 150. 230 Hartley, LQR 112 (1996), 95, 97: „Such a doctrine cannot be reconciled with legal principle: it would be justifiable only if a ruling by the European Court […] were constitutive rather than declaratory […].” 231 Bydlinski, JBl 2001, 2, 25 f. 232 Bydlinski, JBl 2001, 2, 25 f. 233 Zu diesem Problem unten 5. Teil, S. 428 ff. 234 Siehe oben 1. a), S 145.

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auch eine Rückwirkungsbeschränkung bei Rechtsprechungsänderungen;235 eine Konstellation, die Bydlinski auf Basis seiner Ansicht ausdrücklich für ausgeschlossen hält236. Der Gerichtshof folgt zwar bekanntermaßen einem deklaratorischen Ansatz, hält aber dennoch die Begrenzung der Rückwirkung seiner gesamten Rechtsprechung und nicht nur der Rechtsprechungsänderung oder Rechtsfortbildung für möglich. Der EuGH wählt dabei einen sehr geschickten Ausgangspunkt, mit dem er die Untiefen der Rechtstheorie elegant umschifft. Wie gerade erläutert, ist Voraussetzung des Vertrauenstatbestandes, dass die Rechtsunterworfenen der Überzeugung waren, sich rechtskonform zu verhalten. Der Gerichtshof stellt also entscheidend auf einen Irrtum der Betroffenen über die Rechtslage ab.237 Rückwirkungsbegrenzung ist also Irrtumsschutz.238 Der Irrtum ist hier eine (faktische) Fehlvorstellung über den Inhalt des geltenden Rechts, ein Rechtsirrtum. Das Erfordernis des Irrtums ist strenger als „Nichtvorhersehbarkeit“239. Nicht vorhersehbar war ein von der Rechtsprechung gefundenes Ergebnis schon, wenn die Rechtslage unklar oder unsicher war, denn dann konnte der Inhalt des Unionsrechts nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit vorhergesagt werden. Der Irrtum verlangt darüber hinaus, dass die Rechtsadressaten sich darauf verlassen konnten, dass ein bestimmtes Ergebnis gefunden würde und nicht ein anderes. Daher ist bei einem Irrtum die Nichtvorhersehbarkeit stets gegeben, während bei Nichtvorhersehbarkeit es an einem Irrtum noch fehlen kann. Schutzbedürftig sind die Betroffenen aber nur, wenn und soweit der Irrtum durch ein Verhalten der Union hervorgerufen wurde, denn nur dann ist der 235 EuGH v. 30.4.1996 – Rs. C-308/93 Cabanis-Issarte, Slg. 1996, I-2097 Rn. 46 ff. Eingehend unten § 6 B.II.3.c)aa)(2), S. 179. 236 Bydlinski, JBl 2001, 2, 26 f. 237 Siehe z.B. EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-57/93 Vroege, Slg. 1994, I-4541 Rn. 28; EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-128/93 Fisscher, Slg. 1994, I-4583 Rn. 25; EuGH v. 19.10.1995 – Rs. C-137/94 Richardson, Slg. 1995, I-3407 Rn. 34; EuGH v. 24.10.1996 – Rs. C-435/93 Dietz, Slg. 1996, I-5223 Rn. 20; EuGH v. 11.12.1997 – Rs. C-246/96 Magorrian und Cunningham, Slg. 1997, I-7153 Rn. 28; EuGH v. 3.10.2002 – Rs. C-347/00 Barreira Pérez, Slg. 2002, I-8191 Rn. 46; sowie GA Cosmas, verb. SchlA v. 8.10.1998 – Rs. C-50/96 Schröder, verb. Rs. C-234/97 und C-235/97 Vick und Conze, Rs. C-270/97 und C-271/97 Sievers und Schrage, Slg. 2000, I-743 Rn. 61 „entschuldbarer Rechtsirrtum“; GA Léger, SchlA v. 11.5.2000 – Rs. C-372/98 Cooke, Slg. 2000, I-8683 Rn. 49 „sich die beteiligten Kreise […] irren konnten“; GA Léger, SchlA v. 12.7.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, Slg. 2001, I-9945 Rn. 70 „sich täuschen konnten“. 238 Griebeling, RdA 1992, 373, 376; ders., FS Gnade, 1992, S. 597, 604; im Ergebnis ähnlich Seer, Rechtsprechung des EuGH: Rechtsfolgen- oder Grundfreiheitenbeschränkung?, 2006, S. 9, 26 „Überraschungsentscheidung“; vgl. auch Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 146 ff. 239 Vgl. Raitio, The Principle of Legal Certainty in EC Law, 2003, S. 354 f.; ders., The Principle of Legal Certainty as a General Principle of EU Law, 2008, S. 47, 61 f.

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

Irrtum aus unionaler Sicht nachvollziehbar. Erforderlich ist demnach eine Art Verhaltensverantwortlichkeit der Europäischen Union, eine unionsbezogene Selbstbindung auf Grundlage des Verbots selbstwidersprüchlichen Verhaltens240. Nur diese berechtigt den EuGH, einzelne Rechtsadressaten auf Kosten der anderen zu schützen. Der Gerichtshof begrenzt die Rechtsprechung, wenn und weil die Union – als einheitliches Zurechnungsendsubjekt – die Erwartung an das (zukünftig) geltende Recht in eine bestimmte Richtung gelenkt hat, und dies doch nicht eintrat. Deshalb lässt sich die Einordnung als Anwendungsfall der Rechtssicherheit aufrechterhalten.241 Auf die Einschätzung der Unionsorgane dürfen sich die Betroffenen (unter Umständen) verlassen. Zur Verstärkung dieser Begründung wird teilweise der Grundsatz der Unionstreue aus Art. 4 Abs. 3 EUV in Stellung gebracht. Dieser gebiete es, „negative Auswirkungen für die Mitgliedstaaten zu vermeiden, wo sie nicht unbedingt erforderlich sind“.242 Allgemeiner lässt sich danach Rücksichtnahme auf die Mitgliedstaaten einfordern, insbesondere wenn diese für ihren Irrtum nichts können. Eine Dimension der Unionstreue ist in der Tat eine Verpflichtung der Union gegenüber den Mitgliedstaaten. Art. 4 Abs. 3 EUV ist jedoch eine Vorschrift, die allein das Verhältnis zwischen der Union und den Mitgliedstaaten regelt, die also sämtliche andere Rechtsunterworfene unberücksichtigt lässt. Damit würde die Anwendung des Unionstreuegrundsatzes zu einer nicht erwünschten Privilegierung der nationalen Hoheitsträger führen. Der Gerichtshof gewährt folglich dem faktischen Irrtum eine rechtliche Anerkennung auch über das Erfordernis einer unvorhergesehenen Änderung der Rechtslage hinaus.243 Der Bezug auf die faktische Vorstellung244 der Rechtsunterworfenen führt dazu, dass das theoretische Fundament beliebig ist.245 So berührt die Fiktion der deklaratorischen Theorie diese Anknüpfung nicht. Auch ein dezisionistischer oder ein vermittelnder Ansatz können diese Anerkennung leisten, ihr aber auch nicht widersprechen. Die Berufung auf das abstrakt-objektivierte, tatsächliche Vertrauen ermöglicht darüber hinaus 240 Im Unterschied zur Selbstbindung einzelner Unionsorgane, bei der diese nur sich selbst binden, bindet hier ein Unionsorgan (z.B. die Kommission) ein anderes (den Gerichtshof); zur Selbstbindung der Unionsorgane v. Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, S. 525 ff. 241 Ähnlich Langenfeld, Die Gleichbehandlung von Mann und Frau im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1990, S. 91. 242 GA Tizzano, SchlA v. 10.11.2005 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Rn. 42; unter Berufung auf ihn auch Steinberg/Bark, EuZW 2007, 245, 246. 243 Piekenbrock, ZZP 119 (2006), 3, 12 hält genau dies für auch mit der deklaratorischen Theorie vereinbar. 244 Finnis, LQR 115 (1999), 170 ff. bezeichnet dies als „historische“ Dimension des Rechts. 245 Juratowitch, Retroactivity and the Common Law, 2008, S. 120 f. nennt dies „retroactive effect” (Hervorhebung im Original) oder „retroactive consequences“.

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eine einheitliche Dogmatik für die Fälle der ersten Auslegung und der Rechtsprechungsänderung. Während ohne bestehende Rechtsprechungslinie alle Begründungsansätze fehlgehen, die an Richterrecht als (Meta-)Norm anknüpfen, benötigt der Gerichtshof eine solche normative Wirkung seiner Entscheidungen nicht. ee) Objektivierter und abstrakter Maßstab Die Überzeugung von der Richtigkeit des eigenen Verhaltens ist dennoch kein subjektives Merkmal. Anerkennung findet sie nur, wenn sie aus Sicht der Rechtsunterworfenen objektiv berechtigt war.246 Auf diese Weise wird der faktische Irrtum einer weiteren normativen Kontrolle unterworfen. Nur so kann ein einheitlicher unionsrechtlicher Maßstab angelegt werden.247 Entscheidend ist, dass die Rechtsunterworfenen von der Unionskonformität ihres Verhaltens vernünftigerweise ausgehen durften.248 Ausdruck dieser Begrenzung ist, dass eine „offensichtliche“ oder „eindeutige“ Rechtslage keinen Irrtum hervorrufen kann.249 Gleichzeitig prüft der Gerichtshof nicht, ob alle oder eine überwiegende Zahl der Rechtsunterworfenen der Rechtsansicht gefolgt sind und sie tatsächlich vorherrschend war.250 Die „Gefahr der schweren wirtschaftlichen Auswirkungen“ dient insoweit als Korrektiv, da sie sich insbesondere nach der Anzahl der betroffenen Rechtsverhältnisse bestimmt. Die objektive Prüfung macht außerdem einen Verschuldensmaßstab entbehrlich. Auf subjektive

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Broberg/Fenger, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union, 2014, S. 397; auch Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 142; Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 145 f. 247 GA Stix-Hackl, SchlA v. 5.10.2006 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Rn. 41. 248 EuGH v. 9.3.2000 – Rs. C-437/97 Evangelischer Krankenhausverein Wien u.a., Slg. 2000, I-1157 Rn. 58; EuGH v. 12.10.2000 – Rs. C-372/98 Cooke, Slg. 2000, I-8683 Rn. 46; EuGH v. 31.3.1992 – Rs. C-200/90 Dansk Denkavit und Poulsen Trading, Slg. 1992, I-2217 Rn. 21; Sedemund, IStR 2005, 814, 815; Broberg/Fenger, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union, 2014, S. 395. Abzulehnen ist der teilweise verwendete Terminus „objektive Unsicherheit“, denn damit wird nur die oben beklagte sprachliche Unklarheit weitergetragen. 249 EuGH v. 13.12.2012 – Rs. C-465/11 Forposta und ABC Direct Contact, ECLI:EU: C:2012:801 Rn. 46; EuGH v. 19.12.2013 – Rs. C-209/12 Endress, ECLI:EU:C:2013:864 Rn. 38 f. Vgl. zum verwaltungsrechtlichen Vertrauensschutz EuGH v. 26.4.1988 – Rs. 316/86 Krücken, Slg. 1988, 2213 Rn. 24; EuGH v. 1.4.1993 – Rs. C-31/91 bis C-44/91 Lageder u.a., Slg. 1993, I-1761 Rn. 35; EuGH v. 16.3.2006 – Rs. C-94/05 Emsland-Stärke, Slg. 2006, I-2619 Rn. 31. 250 Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 163 nennt das Prüfung auf der „Makro-Ebene“.

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

Vorwerfbarkeit kommt es nicht an.251 Eine solche lässt sich daher auch nicht als Grund für die Verneinung einer Rückwirkungsbeschränkung ansehen.252 Dementsprechend erfolgt die Prüfung abstrakt durch Betrachtung der gesamten Rechtsadressaten und nicht beschränkt auf das von den Parteien des konkreten Rechtsstreits in Anspruch genommene Vertrauen. Die Prüfung stellt nicht nur auf die von der Auslegung nachteilig Betroffenen ab.253 Vertrauensschutz im engeren Sinne würde eine Einzelfallprüfung verlangen,254 was aus mehreren Gründen impraktikabel ist. Zuerst ist in Erinnerung zu rufen, dass der EuGH – anders als die nationalen Gerichte – nicht über jeden einzelnen Fall entscheiden und daher keine individuellen Prüfungen vornehmen kann.255 Allein bei sekundärem Vertrauensschutz könnten die aus einer konkreten Vertrauensprüfung abgeleiteten Folgeprobleme überhaupt beurteilt werden wie z.B. die Zurechnung des Wissens Dritter, der genaue Grad der Kenntnis der Rechtslage oder Beweisfragen.256 Durch die Rückausnahme für den Rechtsbehelfsführer wird die einzige konkrete Vertrauensposition (die des Gegners des Rechtsbehelfsführers), die vom Gerichtshof selbst geprüft werden könnte, ohnehin pauschal zu Gunsten des Rechtsbehelfsführers aufgegeben. Geht man weiterhin davon aus, dass die Rückwirkungsbeschränkung vor allem durch die Bindungswirkung der Entscheidung wirtschaftlich relevant wird, so muss das abstrakt mögliche Vertrauen aller Rechtsunterworfenen in die Abwägung mit einbezogen werden.257 Für eine Rückwirkungsbeschränkung kann daher nicht maßgeblich sein, ob der entschiedene Rechtsstreit künstlich herbeigeführt worden war, denn er ist nur einer von vielen zu berücksichtigenden Fällen.258 Hierdurch wird dem Bürger auch nicht unzulässigerweise aufgebürdet, klüger zu sein als Gerichte oder Behörden. Der objektivierte Maßstab verhindert zwar, dass sich die Rechtsunterworfenen blind auf Äußerungen öffentlicher Stellen verlassen dürfen. Insoweit fördert und betont er ihre Selbstverantwortung. Dies ist jedoch weder im sonstigen Unionsprivat- noch Unions251

A.A. Schmitz/Stammler, AöR 2011, 479, 497. Anders wohl Kokott/Henze, NJW 2006, 177, 180; Seer, Rechtsprechung des EuGH: Rechtsfolgen- oder Grundfreiheitenbeschränkung?, 2006, S. 9, 21. 253 A.A. Egger, öAnwBl 2001, 528, 530. Problematisch ist daher, dass EuGH v. 19.12.2013 – Rs. C-262/12 Vent De Colère u.a., ECLI:EU:C:2013:851 Rn. 41 allein auf die Perspektive der französischen Regierung abzustellen scheint. 254 Martens, JZ 2011, 348, 353; Borchardt, EuGRZ 1988, 309, 315. 255 Vgl. Kähler, Strukturen und Methoden der Rechtsprechungsänderung, 2. Auf. 2011, S. 348 f., der darauf hinweist, dass deshalb auch nationalen Revisionsgerichten die Endentscheidung entzogen ist. 256 Vgl. Bydlinski, JBl 2001, 2, 12 f.; Neumann, ZStW 103 (1991), 331, 347. 257 Medicus, NJW 1995, 2577, 2583. 258 Anders wohl Gerken/Rieble/Roth/Stein/Streinz, „Mangold“ als ausbrechender Rechtsakt, 2009, S. 6. Im Übrigen müsste der Gerichtshof dann wohl schon die Zulässigkeit einer Vorlage verneinen. 252

§ 6 Der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung

159

verwaltungsrecht ungewöhnlich. So werden beispielsweise auch unerkannt rechtswidrige Verwaltungsentscheidungen der Kommission bestandskräftig, wenn sie vom Adressaten nicht rechtzeitig angefochten werden. Die abstrakt-objektivierte Prüfung macht eine Bewertung durch den Gerichtshof notwendig, weshalb dafür ein Maßstab zu entwickeln ist. Ausgangspunkt kann nur ein unionsautonomes Begriffsverständnis sein; der Rückgriff auf nationale Sorgfaltsmaßstäbe (wie den des „ordentlichen Kaufmanns“) verbietet sich daher. Weiterhin genügt eine rein zahlenmäßige Mehrheit der einen über die andere Rechtsansicht nicht, denn so würde sich der Gerichtshof gänzlich dem Zufall und den nationalen Gegebenheiten ausliefern. Erforderlich ist eine „vernünftige Betrachtung“ unter Einbeziehung der Umstände des Einzelfalls259 und die Anwendung angemessener Sorgfalt.260 Damit ist jedoch nur ein unbestimmter Rechtsbegriff durch einen anderen ersetzt und an Klarheit nicht viel gewonnen. ff) Vergleich zum Maßstab der Staatshaftung Im Vergleich zum Maßstab, mit dem der hinreichend qualifizierte Verstoß im Rahmen des unionalen Staatshaftungsanspruchs bestimmt wird, ist derjenige des guten Glaubens strenger. Kann ein Mitgliedstaat im Rahmen der Staatshaftung auf die Richtigkeit seiner Umsetzungsmaßnahmen vertrauen, so stellt dies noch keinen hinreichenden Anlass für eine Rückwirkungsbeschränkung dar.261 Der Grund für diese Unterschiede liegt in den Auswirkungen auf die Effektivität des Unionsrechts begründet. Bei einer Rückwirkungsbeschränkung scheidet nicht nur eine Staatshaftung des Mitgliedstaats aus, sondern es werden mittelbar jegliche Mechanismen zur Durchsetzung der eigentlich zu bevorzugenden Rechtslage für die Vergangenheit blockiert. Der Geltungsanspruch des „objektiven richtigen“ Unionsrechts ist also in ungleich größerem Maße bedroht. c) Anforderungen an die Prognoseentscheidung Trotz der Unschärfen lassen sich Kernanforderungen formulieren. Diese leiten sich davon ab, dass im Grunde zu antizipieren ist, welches Recht der Gerichtshof später angewenden wird. Deshalb müssen sich die Rechtsadres259 GA Léger, SchlA v. 12.7.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, Slg. 2001, I-9945 Rn. 70; GA Léger, SchlA v. 6.6.2002 – Rs. C-347/00 Barreira Pérez, Slg. 2002, I-8191 Rn. 78. Koopmans, CamLJ 39 (1980), 287, 302 f. verneint gar die Möglichkeit fester Kriterien. 260 GA Léger, SchlA v. 11.5.2000 – Rs. C-372/98 Cooke, Slg. 2000, I-8683 Rn. 49. 261 Vgl. z.B. EuGH v. 25.1.2007 – Rs. C-278/05 Robins, Slg. 2007, I-1053 Rn. 63 ff. i.V.m. Rn. 83 ff. Die Zerstörung des guten Glaubens durch einschlägige Rechtsprechung kann hingegen zugleich einen qualifizierten Verstoß begründen, vgl. EuGH v. 19.6.2014 – verb. Rs. C-501/12 bis C-506/12, C-540/12 und C-541/12 Specht u.a., ECLI:EU: C:2014:2005 Rn. 105.

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saten zur Bestimmung dessen, was aus ihrer verobjektivierten Sicht als Inhalt der Rechtslage verstanden werden konnte, des gleichen Instrumentariums bedienen, das der EuGH benutzen würde. Maßgeblich ist demnach die europarechtliche Methodenlehre mit ihren Eigenarten und nicht etwa ein national geprägtes Verständnis des Unionsrechts. aa) Strenger Maßstab Der EuGH legt hierbei einen strengen Sorgfaltsmaßstab an.262 Dieser zeigt sich wohl schon darin, dass seit dem Jahr 2000 keine Rückwirkungsbeschränkung mehr vorgenommen wurde und insgesamt nur acht Mal die zeitliche Wirkung im Auslegungsvorabentscheidungsverfahren beschränkt wurde. Hingegen lässt sich nicht feststellen, dass sich der Maßstab zwischenzeitlich geändert hat.263 So ist der vom Gerichtshof geprüfte Obersatz stets gleich geblieben. Auch beruft sich der Gerichtshof zur Stärkung seiner Argumentation auf sämtliche früheren Entscheidungen und bildet so eine geschlossene Rechtsprechungslinie. Die Strenge benachteiligt die Bürger nicht gegenüber den Mitgliedstaaten.264 Letztere müssen ebenso wie Privatrechtssubjekte die Folgen einer Fehleinschätzung über den Inhalt des Unionsrechts grundsätzlich selbst tragen.265 Die Rückwirkung der Auslegung begünstigt nicht per se einen der Rechtsunterworfenen, sondern ist „rollenneutral“. Dem lässt sich auch nicht entgegenhalten, dass Bürger bei einem Irrtum des Mitgliedstaats zwei widersprechenden Normbefehlen ausgesetzt sind. Aufgrund des Vorrangs des Unionsrechts setzt sich immer nur ein Normbefehl durch und Betroffene können immer zumindest mittels des Vorabentscheidungsverfahrens eine Klärung der Rechtslage anstreben. bb) Relevanz der europarechtlichen Methodenlehre Es ist Ausdruck des objektivierten Maßstabs des guten Glaubens, dass die Rechtsunterworfenen das Unionsrecht unter Anwendung der europarechtli-

262

Anders offenbar Lang, Limitation of Temporal Effects of CJEU Judgments, 2014, S. 245, 252. 263 Beck, The Legal Reasoning of the Court of Justice of the EU, 2012, S. 230 will einen Rechtsprechungswandel an der Entscheidung C-367/93 Roders B.V. u.a. festmachen. Das wird hingegen schon statistisch nicht belegt, weil die Hälfte der Rückwirkungsbeschränkungen erst nach diesem Urteil erging. Die genannte Entscheidung wird auch in der Folgerechtsprechung nicht mehr als andere in Bezug genommen oder sonst herausgehoben. 264 Dies befürchtet GA Tizzano, SchlA v. 10.11.2005 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Rn. 54. 265 Zum deutschen Recht z.B. Grunsky, Grenzen der Rückwirkung bei einer Änderung der Rechtsprechung, 1970, S. 12 f.

§ 6 Der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung

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chen Methodenlehre zu antizipieren haben. In der Rückwirkungsjudikatur lassen sich hierfür einige besonders plastische Beispiele finden. So verneinte der EuGH ausdrücklich einen guten Glauben des Mitgliedstaats, weil eine (behauptete) Protokollerklärung zur Auslegung der vom Mitgliedstaat herangezogenen Ausnahmebestimmung nicht verwendet werden konnte, da sie jedenfalls im Wortlaut der Bestimmung keinen Ausdruck gefunden hatte.266 Dementsprechend maß auch GA Saggio Erklärungen zu vorbereitenden Arbeiten im Gesetzgebungsverfahren keine Bedeutung für die Rückwirkungsbeschränkung bei, weil sie sich in der fraglichen Richtlinie nicht widerspiegelten.267 Besonders wichtig ist, dass sich die Rechtsprechung des Gerichtshofs vor allem anlässlich von Einzelfällen fortentwickelt. Die Rechtsunterworfenen müssen sehr genau darauf achten, welchen Sachverhalt eine Rechtsfrage betraf und welche Einzelheiten eine abweichende Beurteilung rechtfertigen können.268 Deshalb darf die Rechtsprechung nicht nur anhand des Tenors, sondern muss unter Zuhilfenahme der Entscheidungsgründe analysiert werden. Verhalten der Unionsorgane im Hinblick auf ein Urteil des Gerichtshofs darf daher nicht beliebig über dessen konkreten Sachverhalt und die dort angesprochenen Rechtsfragen hinaus verallgemeinert werden.269 Weiterhin müssen die Betroffenen berücksichtigen, ob sich die tatsächlichen oder rechtlichen Umstände seit einer EuGH-Entscheidung oder einer geäußerten Rechtsansicht geändert haben.270 Dabei kann schon der Ablauf eines längeren Zeitraums für sich genommen einen guten Glauben beschädi266

EuGH v. 13.2.1996 – verb. Rs. C-197/94 und C-252/94 Bautiaa u.a., Slg. 1996, I-505 Rn. 50-53. 267 GA Saggio, SchlA v. 1.7.1999 – Rs. C-437/97 Evangelischer Krankenhausverein Wien u.a., Slg. 2000, I-1157 Rn. 64. Zur Bedeutung der Materialien für die Auslegung z.B. Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 246 ff.; Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 191 ff.; speziell zum Sekundärrecht Riesenhuber-ders., Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 10 Rn. 35 ff. 268 Ausdrücklich Timmermans, RabelsZ 77 (2013), 368, 376. Allgemein zur Fallmethode des EuGH z.B. Arnull, Interpretation and Precedent in European Community Law, 1998, S. 115 ff.; ders., CMLRev 30 (1993), 247 ff.; Riesenhuber-Stotz, Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 22 Rn. 54 ff.; Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EUGH, 1995, S. 172 ff.; Mangold, Gemeinschaftsrecht und deutsches Recht, 2011, S. 147 f. im Hinblick auf das politische Ziel des EuGH, sich den Zugriff auf die Sachfragen zu sichern. Aktuelleres Beispiel ist EuGH v. 22.11.2011 – Rs. C-214/10 KHS, Slg. 2011, I-11757 insb. Rn. 28 im Hinblick auf EuGH v. 20.1.2009 – verb. Rs. C-350/06 und C-520/06 Schultz-Hoff u.a., Slg. 2009, I-179. 269 Vgl. EuGH v. 17.2.2005 – verb. Rs. C-453/02 und C-462/02 Linneweber und Akritidis, Slg. 2005, I-1131 Rn. 43. 270 Lunk, FS Reuter, 2010, S. 689, 694; vgl. EuGH v. 20.9.2001 – Rs. C-184/99 Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193 Rn. 34 f.

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gen. Das Alter einer Rechtsprechung oder Rechtsansicht verheißt zwar einerseits Stabilität und schafft damit Vertrauen, andererseits sind ältere Urteile anfälliger für Wertewandel und -entwicklungen.271 Deshalb lässt sich Gerichtsurteilen auch kein abstraktes Verfallsdatum geben. Ihre Bedeutung hängt u.a. davon ab, ob es sich um Grundsatzurteile handelt, um Ansichten über die Struktur der Union oder schnellwandelnde Rechtsgebiete und wie sehr sie auf andere gesellschaftliche oder rechtliche Rahmenbedingungen Bezug nehmen. Das Gebot, die methodischen Vorgaben zu beachten, verengt die Reichweite möglicher Rückwirkungsbeschränkungen beträchtlich. Für eine Beschränkung kommen dann nur noch zweierlei Arten von Entscheidungen in Betracht. Zum einen solche, in denen der EuGH ein nicht methodengerechtes Ergebnis findet. Zum anderen solche, in denen die Methodenlehre dem Gerichtshof einen von ihm auszufüllenden Spielraum belässt. Da es wiederum unwahrscheinlich ist, dass der EuGH seine eigenen Entscheidungen mit dem Makel der Methodenwidrigkeit kennzeichnen würde, verbleiben letztlich nur methodische Spielräume als Anwendungsfälle der Rückwirkungsbeschränkung. Zeitliche Beschränkungen sind damit jedoch nicht ausgeschlossen, denn eine dem Irrtum zugrunde liegende Rechtsansicht muss lediglich vertretbar sein. Die potentielle Vielzahl der vertretbaren Rechtsansichten – die mit der strukturellen Unbestimmtheit von (Unions-)Normen einhergeht – wird dann durch das Verhalten der Unionsorgane auf eine bestimmte, letztlich doch „falsche“ Rechtsansicht reduziert. cc) Insbesondere die Bedeutung des Wortlauts Für die Bestimmung des guten Glaubens ist insbesondere der Wortlaut einer Vorschrift in mehrerer Hinsicht relevant. Zuerst kann der Überzeugung von der Unionsrechtskonformität ein von der Gesetzeslage „offensichtlich“ vorgegebenes Ergebnis entgegenstehen.272 Dieses kann sich insbesondere aus einem deutlich abgefassten Wortlaut ergeben.273

271

Höpfner, RdA 2006, 156, 159 f. Schermers/Waelbroeck, Judicial Protection in the European Union, 6. Aufl. 2001, § 150, 152; EuGH v. 13.12.2012 – Rs. C-465/11 Forposta und ABC Direct Contact, ECLI: EU:C:2012:801 Rn. 46. S.a. EuGH v. 19.12.2013 – Rs. C-209/12 Endress, ECLI:EU: C:2013:864 Rn. 38 f., in der der Gerichtshof sein über zehn Randnummern begründetes Auslegungsergebnis als „eindeutig“ ansieht und deshalb eine erheblich objektive Unsicherheit verneint; krit. daher Brand, VersR 2014, 269, 272 f.; weniger krit. z.B. Rehberg, EuZ 2014, 237, 238. 273 Vgl. z.B. EuGH v. 31.3.1992 – Rs. C-200/90 Dansk Denkavit und Poulsen Trading, Slg. 1992, I-2217 Rn. 21; EuGH v. 30.3.2006 – Rs. C-184/04 Uudenkaupungin kaupunki, Slg. 2006, I-3039 Rn. 58; EuGH v. 14.9.2006 – Rs. C-228/05 Stradasfalti, Slg. 2006, I-8391 Rn. 74; EuGH v. 29.7.2010 – Rs. C-577/08 Brouwer, Slg. 2010, I-7485 Rn. 38; 272

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Zweitens ist bei der Zerstörung sowie bei der Begründung von gutem Glauben zu beachten, dass der Gerichtshof alle Amtssprachen der Union als gleichwertig ansieht und sie mit gleichem Gewicht im Rahmen der Wortlautauslegung berücksichtigt.274 Es genügt nicht, sich auf die eigene Sprachfassung eines Rechtsakts zu verlassen.275 Dementsprechend können Unsicherheiten über die geltende Rechtslage nur durch Rechtsansichten beseitigt werden, die ihrerseits auf die Mehrsprachigkeit des Unionsrechts Rücksicht nehmen. Dies müssen die Rechtsunterworfenen prüfen und dürfen auch den Rechtsansichten der Unionsorgane nicht unkritisch folgen. Dadurch wird zwar eine erhebliche Anforderung an die Rechtsunterworfenen gestellt.276 Deren Bedeutung relativiert sich jedoch, wenn man bedenkt, dass die große Zahl an Amtssprachen in der Union tendenziell zu einem Verlust an Kontur und Schärfe im Wortlaut führt. Deshalb kommt dem Wortlaut insoweit keine herausragende vertrauensbezogene Bedeutung zu.277 Gleichzeitig werden die Rechtsunterworfenen genauso behandelt wie die Gerichte von Union und Mitgliedstaaten. Auch für diese genügt nicht die Prüfung nur einer oder ihrer eigenen Sprachversion. Rechtfertigung ist schon die dogmatische Erwägung, dass eine Antizipation der Entscheidung des Gerichtshofs verlangt wird. Diese ist nur um den Preis der Anwendung der europarechtlichen Methodenlehre zu bekommen. Außerdem würde die Berücksichtigung einzelner oder weniger Sprachfassungen die Rückwirkungsbeschränkung von der Zufälligkeit abhängig machen, aus welchem Mitgliedstaat der Vorlagesachverhalt stammt. Drittens stellt auch ein unter Berücksichtigung aller Sprachfassungen ermittelter Wortsinn keine unüberwindbare Grenze der von den Rechtsadressaten gerade noch zu erwartenden Rechtslage dar.278 Zum einen ist der Wortlaut nur Beginn jeglicher Auslegungsbemühungen279 und nicht deren wichtigstes auch Schermers/Waelbroeck, Judicial Protection in the European Union, 6. Aufl. 2001, § 150, 152. 274 EuGH v. 29.1.2009 – Rs. C-311/06 Consiglio Nazionale degli Ingegneri, Slg. 2009, I-415 Rn. 53. Zur Vielsprachigkeit als Methodenproblem z.B. Weiler, ZEuP 2010, 861 m.w.N. 275 Weiler, ZEuP 2010, 861, 880. 276 Weiler, ZEuP 2010, 861, 868 f. hält dies gar für unmöglich und daher nicht einforderbar. In diese Richtung auch schon Streil, Das Vorabentscheidungsverfahren als Bindeglied zwischen europäischer und nationaler Rechtsprechung, 1983, S. 69, 74. 277 GA Alber, SchlA v. 10.5.2001 – Rs. C-294/99 Athinaïki Zythopoiia AE, Slg. 2001, I-6797 Rn. 52; v. Danwitz, ZRP 2010, 143, 146. 278 So aber z.B. Cross/Bell/Engle, Statutory Interpretation, 3. Aufl. 1995, S. 29: „By giving effect to the meaning which the normal speaker of English would attribute to the words in their context, the judges are giving effect to the normal expectations of citizens and are upholding this conception of the rule of law.“ 279 Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 171; Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäi-

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Merkmal280. Zum anderen ist die Kompetenz des Gerichtshofs zur Rechtsfortbildung anerkannt und muss daher in der Bestimmung des möglichen Inhalts des Unionsrechts berücksichtigt werden. Eine pauschale Schutzwürdigkeit bei rechtsfortbildender Tätigkeit des EuGH würde dem nicht gerecht.281 Nicht rechnen müssten die Rechtsunterworfenen hingegen mit einer Rechtslage, die auf einer kompetenzwidrigen Entscheidung des Gerichtshofs beruht. Um dies vertrauensschützend zu berücksichtigen, müsste sich der Gerichtshof allerdings noch in dem fraglichen Urteil selbst eines Kompetenzverstoßes bezichtigen; das erscheint praktisch ausgeschlossen. Insgesamt bestätigt sich somit auf Unionsebene, was schon für die nationalen Rechtsordnungen gilt: Der Wortlaut einer Rechtsvorschrift hat unter Geltung der gegenwärtigen, mehrheitlich akzeptierten Methodenlehre für die Rechtsfindung nur noch untergeordnete Bedeutung. Konsequenterweise verliert er deshalb auch weitgehend seinen Stellenwert für die Bestimmung von Vertrauensschutz und Rechtssicherheit. Mit einem idealistischen Bild einer Rechtsordnung „für die Laien„ mag dieses Ergebnis nur schwer vereinbar sein. Es spiegelt jedoch die begrenzten Möglichkeiten sprachlicher Konkretisierung für den (modernen) Gesetzgeber wider. 2. Einzelne Abwägungskriterien Der Unbestimmtheit, die mit einer Einzelfallabwägung einhergeht, soll im Folgenden etwas abgeholfen werden, indem einzelne Kriterien, die Berücksichtigung finden können oder nicht, benannt werden. Anerkannter Ausgangspunkt ist, dass die Abwägung Art und Umfang der Folgen berücksichtigen muss.282 Sind die Auswirkungen auf bestimmte Wirtschaftsbereiche katastrophal, dann entsteht zumeist auch ein öffentliches Interesse, diese am Leben zu erhalten. Insbesondere bei im Privatrechtsverhältnis unmittelbar anwendbaren Vorschriften sind die zu berücksichtigenden Interessen jedoch vielschichtig. So berührt die Abschaffung einer diskrimischen Gemeinschaft, 1998, S. 152; speziell zum Sekundärrecht Riesenhuber-ders., Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 10 Rn. 13. 280 Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 168 ff.; unentschlossen Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 169 ff.; jeweils m.w.N. Anders Dederichs, Die Methodik des EuGH, 2004; dies, EuR 2004, 345, für die das Wortlautargument nach der Verweisung auf die eigene Rechtsprechung das zweitwichtigste Argumentationsmittel darstellt. Dederichs führt jedoch nur eine zahlenmäßige Analyse der EuGHUrteile des Jahres 1999 durch und lässt keine wertend-gewichtenden Elemente einfließen. Feststellungen zur Quantität der Auslegungsmittel auch bei Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 169. 281 Eingehend unten § 6 B.II.2.a), S. 165. 282 Klappstein, Die Rechtsprechungsänderung mit Wirkung für die Zukunft, 2009, S. 215.

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nierenden Regelung in Rentenversicherungssystemen direkt die Interessen der benachteiligten Arbeitnehmer und der Betreiber des Versicherungssystems. Indirekt werden durch eine drohende Insolvenz des Rentensystems auch alle anderen Arbeitnehmer und der Arbeitgeber (soweit vom Versicherungsbetreiber verschieden) betroffen.283 Das Diskriminierungsverbot schützt aber seinerseits die Interessen einer bestimmten Personengruppe. Dabei zielt es zwar nicht auf den Bankrott einer ganzen Branche,284 finanzielle Folgen und vereinzelte Insolvenzen können allerdings durchaus als Abschreckung dienen.285 Alle privaten Interessen haben zumeist eine institutionalisierte, in öffentlichem Interesse stehende Kehrseite. Da mit der Privatautonomie auch das Funktionieren des freien Marktes und der freiheitlichen Rechtsordnung sichergestellt werden soll, sind mittelbar ebenso öffentliche Interessen betroffen. Umgekehrt haben auch die meisten öffentlichen Interessen eine subjektive Komponente. Der Grundsatz der Gleichbehandlung der Rechtsadressaten ist nicht nur ein Ziel der Union, sondern ebenso ein Interesse des jeweiligen Betroffenen. Damit ist freilich nicht gesagt, dass alle Auswirkungen gleich behandelt werden müssen. So liegt es nahe, dass das Vertrauen der Wirtschaftsteilnehmer in den Fortbestand einer Regelung grundsätzlich schutzwürdig ist.286 Vertrauensschutz dient der Privatautonomie, denn Selbstverantwortung verlangt die Voraussehbarkeit der Rechtsfolgen des eigenen Handelns.287 Bei einer wirtschaftlichen Betätigung, die besondere Rechtssituationen ausnutzt, muss hingegen mit Anpassungen gerechnet werden. Das geht zu Lasten der Rückwirkungsbeschränkung.288 a) Rechtsfortbildung/Auslegung Als erster Regelfall ließe sich überlegen, ob ein erleichterter Maßstab für Rechtsfortbildungen im Gegensatz zur Auslegung anzuwenden ist. Dies ließe sich begründen, wenn eine Rechtsfortbildung „weniger vorhersehbar [wäre], weil es für sie weit weniger erkennbare Anknüpfungspunkte gibt“289 und sie

283

Busby, MLR 2001, 489, 493 f. Wyatt, ELRev 1976, 399, 402. 285 Henssler/Tillmanns, FS Birk, 2008, S. 179, 195. 286 GA Alber, SchlA v. 13.3.2003 – Rs. C-211/01 Kommission ./. Rat, Slg. 2003, I-8913 Rn. 88. 287 Medicus, NJW 1995, 2577, 2581. 288 GA Saggio, SchlA v. 16.7.1998 – Rs. C-159/96 Portugal ./. Kommission, Slg. 1998, I-7379 Rn. 83; GA Saggio, SchlA v. 25.2.1999 – Rs. C-89/96 Portugal ./. Kommission, Slg. 1999, I-8377 Rn. 16 f. 289 So Huep, Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf ältere Sachverhalte, 2001, S. 70. 284

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den Wortlaut übersteigt.290 Für die Rechtsprechung des EuGH wäre eine solche Unterscheidung besonders relevant, da ihm aufgrund des dynamischen Charakters des Unionsrechts ein weitreichender Spielraum für Rechtsfortbildung eingeräumt wurde291. In der geltenden Dogmatik der Rückwirkungsbeschränkung ist das hingegen nicht angelegt. Der Gerichtshof lässt dementsprechend keine besondere Rücksicht auf die zeitliche Dimension der Rechtsfortbildung erkennen.292 Ein Irrtum aufgrund Handelns der Unionsorgane liegt nämlich nicht schon vor, wenn eine Lücke identifiziert und geschlossen wird oder wenn allgemeine Rechtsgrundsätze zu einem Ergebnis führen, dass vorher nicht ausgesprochen worden war. Auch eine „freie Rechtsschöpfung“ ist erst dann überraschend, wenn die Rechtsunterworfenen davon ausgehen mussten, dass eine solche Rechtsfortbildung nicht vorgenommen werden würde. Dafür genügt gerade nicht nur der Erlass der fraglichen Norm(en) und erst recht nicht ihr bloßer Wortlaut. Maßgeblich ist, dass sein Urteil wie eine Rechtsprechungsänderung wirkt. Darüber hinaus ist auch Rechtsfortbildung ein Gebot der Rechtsordnung (insbesondere Gleichheitsgrundsatz und Gerechtigkeit) und nicht eine unvorhersehbare richterliche Freiheit.293 Anderenfalls würde eine auf die Rechtsfortbildung bezogene Methodenlehre jeglicher Grundlage entbehren. b) Erste Auslegung/Rechtsprechungsänderung Unter dieser Prämisse ist selbstverständlich, dass eine Rückwirkungsbeschränkung erst recht bei einer Rechtsprechungsänderung möglich sein muss, wenn jene schon bei einer ersten Auslegung erfolgt wäre.294 Da Maßstab der Rückwirkungsbeschränkung die Vergleichbarkeit zur Rechtsprechungsänderung ist,295 kommt dieser Feststellung freilich keine große Bedeutung zu. 290 Die Bedeutung des Wortlauts für die Rechtssicherheit betont auch Knauff, FS Scheuing, 2011, S. 127 f. 291 In diese Richtung Stein, FS Universität Heidelberg, 1986, 619, 620 f.; Everling, JZ 2000, 217, 220; Dänzer-Vanotti, FS Everling, 1995, S. 205; auch Hummer/Obwexer, EuZW 1997, 295, 297 f.; Ahmling, Analogiebildung durch den EuGH im Europäischen Privatrecht, 2012, S. 139; Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 213 ff.; Kerwer, Das europäische Gemeinschaftsrecht und die Rechtsprechung der deutschen Arbeitsgerichte, 2003, S. 666. 292 W.-H. Roth, RabelsZ 2011, 787, 820. 293 Z.B. Ahmling, Analogiebildung durch den EuGH im Europäischen Privatrecht, 2012, S. 161 f. m.w.N.; EuGH v. 19.11.2009 – Rs. C-402/07 Sturgeon, Slg. 2009, I-10923 Rn. 48 ff.; im deutschen Recht Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 381; Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Aufl. 1983, S. 57, 71 f.; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl. 2013, Rn. 889. 294 Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, 1996, S. 109. 295 Unten § 6 B.II.3.a), S. 174 ff.

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Deshalb findet sich dazu auch in der Rechtsprechung des Gerichtshofs keine Aussage.296 c) Charakter der ausgelegten Rechtsnorm Die Begründung von Vertrauen hängt weitgehend nicht vom Charakter der ausgelegten Rechtsnorm ab. Allein die Bedeutung der verletzten Vorschrift kann als Kriterium in die Abwägung einfließen. aa) Primärrecht/Sekundärrecht In der Rechtsprechung bisher nicht nachzuweisen ist eine Unterscheidung danach, ob die Rückwirkungsbeschränkung bei der Auslegung von Primäroder Sekundärrecht im Raum steht.297 Für eine Differenzierung ließe sich anführen, dass der Verstoß gegen Primärrecht tendenziell schwerer wiegt, weil primärrechtliche Rechte grundlegenderen Charakter besitzen, beispielsweise als „Grund-“ oder „Menschen“recht.298 In der Tat besteht ein besonderes privates und auch öffentliches Interesse an der Durchsetzung solcher Rechtspositionen. Die Folgen der rückwirkenden Rechtsprechung wären dann als Kehrseite der gewünschten Freiheitsposition hinzunehmen.299 Gegen eine pauschale Höherbewertung primären Unionsrechts spricht jedoch, dass auch Sekundärrecht der Konkretisierung und Durchsetzung sowie dem Ausgleich grundlegender Rechtspositionen dienen kann.300 Des Weiteren spiegeln die Interessen an der Durchsetzung von grundlegenden Rechten nur einen Teil der abzuwägenden Positionen wider; die Interessen der (Markt-) Gegenseite wurden dabei überhaupt noch nicht beachtet. Schließlich ist der methodische Vorgang der Auslegung unabhängig davon, welcher Rang dem interpretierten Recht zukommt. Im Ergebnis ist daher eine pauschale Unterscheidung nach dem Rang der Rechtsvorschrift abzulehnen. Im Rahmen der umfassenden Abwägung kann aber berücksichtigt werden, ob und inwieweit eine Vorschrift besonders wichtige Ziele verfolgt und dabei gegenläufige Interessen zurücktreten sollen. 296 Deswegen aber kritisch Huep, Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf ältere Sachverhalte, 2001, S. 104. 297 Ähnlich Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 123. A.A. wohl Wank, FS Birk, 2008, S. 929, 947, der betont, dass der EuGH bei Primärrecht regelmäßig von einer Rückwirkung ausgeht. 298 Sedemund, IStR 2005, 814, 815; Langenfeld, Die Gleichbehandlung von Mann und Frau im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1990, S. 96; in diese Richtung auch Schmitz/Stammler, AöR 2011, 479, 497. 299 Bernd Schulte als Diskussionsbeitrag zitiert nach Szczekalla/Caspari, Podiumsdiskussion, 1995, S. 131, 135. 300 Zur Konkretisierung von Primärrecht durch Sekundärrecht z.B. Grundmann, RabelsZ 2011, 882; W.-H. Roth, RabelsZ 2011, 787, 812 f.

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

bb) Zwingendes Recht/Dispositives Recht Wenig Bedeutung hat die theoretische Unterscheidung von zwingendem und dispositivem Recht. Zwar hat abdingbares Recht im Unionsrecht nur eingeschränkte Bedeutung, wo es vorkommt, bildet es jedoch den Rahmen der freiheitlichen Betätigung der Mitgliedstaaten oder Marktteilnehmer. Es hat deshalb auch eine Steuerungsfunktion,301 an die Vertrauen und wirtschaftliche Auswirkungen anknüpfen können. cc) Materielles Recht/Verfahrensrecht/Prozessrecht Nicht maßgeblich ist schließlich, ob materielles Recht oder Verfahrensrecht ausgelegt wird. Beide Male kann guter Glaube unter den allgemeinen Voraussetzungen vorliegen. So kann auch auf eine bestimmte Bedeutung von Unionsprozessrecht grundsätzlich vertraut werden, wenngleich es dort üblicherweise an den notwendigen wirtschaftlichen Auswirkungen fehlen wird. d) Unterscheidung nach einzelnen Rechtsgebieten? Der Gerichtshof kann von der Rückwirkungsbeschränkung grundsätzlich in allen Rechtsbereichen Gebrauch machen. Im Folgenden soll geklärt werden, ob in einigen Bereichen besondere Umstände bestehen, die im Rahmen der Interessenabwägung zu berücksichtigen sind. aa) Privatrecht Der Gerichtshof unterscheidet zu Recht nicht danach, ob eine Rückwirkungsbeschränkung Private oder Hoheitsträger unmittelbar benachteiligen würde.302 Auch eine ausschließliche Betroffenheit Privater würde eine Rückwirkungsbeschränkung nicht unmöglich machen.303 Gleichzeitig gelten die Grundsätze der Rechtsprechungsrückwirkung unabhängig davon, ob die Beschränkung belastend oder begünstigend wirkt oder ob Geldbeträge durch den Staat erhoben oder nicht erhoben wurden.304 Dies hat seinen guten Grund zum einen darin, dass die Rückwirkungsbeschränkung eine Abwägung aller beteiligten Interessen erfordert und daher auch im Privatrecht beide Seiten berücksichtigt. Zum anderen ist das Unionsrecht eine Querschnittsmaterie, bei der eine eindeutige Zuordnung zum privaten oder öffentlichen Recht nicht immer möglich ist.305 Beispielsweise stam301

Möslein, Dispositives Recht, 2011, S. 38 ff., 133; Kähler, Begriff und Rechtfertigung abdingbaren Rechts, 2012, S. 48 ff. 302 van der Stok/Thomson, Intertax 34 (2006), 552, 558. 303 Kotschnigg, SWI 1998, 83, 85. 304 EuGH v. 27.3.1980 – verb. Rs. 66/79, 127/79 und 128/79 Salumi u.a., Slg. 1980, 1237 Rn. 12. 305 Vgl. schon oben § 2 C., S. 14.

§ 6 Der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung

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men durch die Grundfreiheiten verdrängte nationale Regelungen aus allen erdenklichen Rechtsgebieten. Nicht einmal für das einzelne EuGH-Urteil ist absehbar, welche Rechtsbereiche es in den verschiedenen Mitgliedstaaten berühren kann. Denn die Union hat grundsätzlich keinen Einfluss darauf, mit welchen Mitteln die Mitgliedstaaten das Unionsrecht umsetzen oder anwenden. Eine Richtlinie kann z.B. privatrechtlich oder öffentlich-rechtlich implementiert werden.306 Diese Freiräume des Mitgliedstaats dürfen jedoch keine Auswirkungen auf die Kontrolldichte des Unionsrechts haben.307 Dagegen spricht nicht, dass Veranlasser eines Vertrauens im Privatrechtsverhältnis niemals die privatrechtliche Gegenseite war und diese dennoch mit der Rückwirkungsbeschränkung belastet wird.308 Der rein unionale Prüfungsmaßstab bei der Rückwirkungsbeschränkung führt dazu, dass auch die Mitgliedstaaten nicht selbst Vertrauensveranlasser waren. Guter Glaube wird durch der Union zurechenbares Verhalten ihrer Institutionen und Organe begründet. Mitgliedstaat und Private stehen sich folglich auf gleicher Subordinationsstufe gegenüber. Sie machen einen gegen die Union gerichteten Anspruch auf Beachtung ihres guten Glaubens geltend. Davon ist der gleichrangige Prozessgegner nur reflexartig betroffen.309 Der gute Glaube wird darüber hinaus anhand eines strengen, objektiven Maßstabs ermittelt, wodurch sichergestellt wird, dass zumeist beide Seiten von der gleichen Unionsrechtslage ausgegangen waren.310 Soweit dies nicht der Fall ist, spiegelt sich die Position des von der Rückwirkung Profitierenden in der Objektivität des Rechts wider und wird so mittelbar berücksichtigt. Außerdem führt auch die (oftmals bevorzugte) Lösung von Vertrauensschutz mittels privatrechtlicher Institute letztlich nicht zu einer Beseitigung der Benachteiligung des privaten Gegenübers, sondern nur zu einer anderen Begründung dieser Benachteiligung.311 Schließlich gibt es tripolare Rechtsverhältnisse auch im öffentlichen Recht, z.B. bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung. Ebensowenig kann die Privatautonomie als Grund für zu überwindendes Vertrauen der Privatrechtssubjekte in das Bestehen privatautonomer Rege306 Vgl. Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, 2003, S. 42 ff.; ders., Europäisches Arbeitsrecht, 2009, § 8 Rn. 56. 307 Vgl. Lenaerts/Gutiérrez-Fons, CMLRev 47 (2010), 1629, 1644 zur Direktwirkung von Richtlinien und primärrechtlichen Prinzipien. 308 Ein sehr häufiger Einwand in der privatrechtlichen Literatur; beispielsweise Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, 1996, S. 18; Blomeyer, FS Molitor, 1988, S. 41, 48: „Vertrauensschutz zulasten Dritter“. Siehe auch Broberg/Fenger, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union, 2014, S. 400. 309 Keil, Die Systematik privatrechtlicher Rechtsprechungsänderungen, 2007, S. 243 zum deutschen Recht. 310 Das betont zu Recht Herresthal, Rechtsfortbildung im europäischen Bezugsrahmen, 2006, S. 304. 311 Vonkilch, Das Intertemporale Privatrecht, 1999, S. 367.

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

lungsmacht angeführt werden. Die Privatautonomie füllt zwar den Raum zwischen den zwingenden Geboten. Die Rechtslage wird dadurch aber keineswegs klarer zu Gunsten der Bürger.312 Es ist immer noch offen und durch Auslegung der einschlägigen Vorschriften zu bestimmen, wo die zwingende Regelung aufhört und die Freiheit anfängt. Diese Grenzziehung teilt das Privatrecht außerdem mit dem Öffentlichen Recht und dem Strafrecht. Aufgrund des Grundrechts der allgemeinen Handlungsfreiheit ist auch dort grundsätzlich erlaubt, was nicht ausdrücklich verboten ist.313 Schließlich sind keine Unterschiede erkennbar, ob eine Norm im Privatrecht unmittelbar anwendbar ist.314 Freilich erreichen solche Vorschriften eine größere Wirkung, so dass auch die finanziellen Folgen ihrer Auslegung größer sind und daher eine Rückwirkungsbeschränkung näher liegen kann. bb) Geschlechtsdiskriminierung Zu Unrecht wurde kritisiert, dass die Rückwirkungsbeschränkung auch dann als Mittel der Folgenabschwächung eingesetzt wird, wenn es um die Gleichstellung der Geschlechter geht. Die Begrenzung zu Gunsten der finanziellen Autonomie der Arbeitgeber oder mitgliedstaatlicher Empfindlichkeiten wurde als mangelndes Interesse an der Durchsetzung des Anliegens der Gleichstellung empfunden.315 Die Rückwirkungsbeschränkung ist Ausdruck des allgemeinen Grundsatzes der Rechtssicherheit, der gegenüber allen anderen Sacherwägungen Berücksichtigung verlangt. Bisher lässt sich nicht erkennen, dass der Gerichtshof unterschiedliche Maßstäbe anlegen würde danach, welches Diskriminierungsmerkmal betroffen war. Nur zwei der acht Fälle betrafen Geschlechtsdiskriminierungen, während die meisten anderen Sachverhalte Ungleichbehandlungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit oder des Herkunftslandes betrafen. Auch betrafen je ein Fall die Diskriminierung von Frauen (Defrenne II) oder Männern (Barber) und es sind inhaltlich keine unterschiedlichen Maßstäbe erkennbar. Die Rückwirkungsbeschränkung ist neutral, weil sie immer den Diskriminierten benachteiligt.

312

So aber Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, 1996, S. 268. 313 Einschränkend zu diesem Grundrecht aber Grabitz/Hilf/Nettesheim-Mayer, Das Recht der Europäischen Union, 51. EL 2013, nach Art. 6 EUV Rn. 121 f. m.w.N. 314 Anders wohl Mure, JLSS 1995, 417, 420. 315 Fredman, ILJ 1996, 91, 103 f.; Shaw, Gender and the Court of Justice, 2001, S. 87, 122 ff.; dagegen Arnull, The European Union and its Court of Justice, 2. Aufl. 2006, S. 558. Wiederum anders Beck, The Legal Reasoning of the Court of Justice of the EU, 2012, S. 230, der zu erkennen meint, dass der EuGH in „dem politisch modernen“ („politically fashionable“) Bereich der Geschlechtsdiskriminierungen grundsätzlich keine Rückwirkungsbeschränkungen vornimmt.

§ 6 Der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung

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cc) Strafrecht Für strafrechtliche Vorschriften des Unionsrechts sind besondere Maßstäbe gerechtfertigt. Die Art. 49 Abs. 1 EuGRC und Art. 7 EMRK (in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1, 3 EUV) gebieten strengere Grundsätze zur Judikativrückwirkung. Art. 49 Abs. 1 EuGRC enthält ein Analogieverbot für die Rechtsprechung,316 welchem u.a. durch eine Zukunftswirkung einer Auslegung entsprochen werden könnte.317 Gleiches gilt für das Analogieverbot des Art. 7 EMRK.318 dd) Steuerrecht Vereinzelt wird eine besondere Rücksichtnahme des Gerichtshofs auf die mitgliedstaatlichen Steuersysteme gefordert. Zum einen verstärke sich das Vertrauen der Bürger, wenn mit der Regelung noch eine Steuerungswirkung erzielt werden sollte.319 Zum anderen sollen sich Lenkungswirkungen überhaupt nicht rückwirkend, sondern nur für die Zukunft beseitigen lassen.320 Weiterhin müssten die ausgefallenen Einnahmen durch andere Steuern ausgeglichen werden, weshalb der Bürger davon in keinem Fall profitiere.321 Deshalb überwiege das Bedürfnis nach einem Schutz der mitgliedstaatlichen Haushaltskassen und staatlichen Investitionen.322 Schließlich erforderten Maßnahmen im Steuerrecht gemäß Art. 114 Abs. 2, 115 AEUV Einstimmigkeit unter den Mitgliedstaaten, weshalb kurzfristige Reaktionen auf ein EuGH-Urteil unmöglich seien.323

316

Calliess/Ruffert-Blanke, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 49 EU-GRCharta Rn. 3. Unergiebig ist das Ungültigkeitsurteil EuGH v. 10.3.1992 – verb. Rs. C-38/90 und C-151/90 Lomas u.a., Slg. 1992, I-1781, in dem die strafrechtlichen Implikationen bei der Rückwirkungsbeschränkung unerwähnt blieben (a.a.O. Rn. 23 ff.). Dort war zum einen die Unionsnorm nicht spezifisch strafrechtlich, sondern aufgrund einer Wahl des Mitgliedstaats strafbewehrt worden. Zum anderen hatte die Rückwirkungsbeschränkung gar keine Auswirkungen auf das Bestehen der gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtung, an die die Strafbewehrung angeknüpft worden war. 318 Karpenstein/Mayer, EMRK, 2012, Art. 7 Rn. 11 ff. 319 HdStR-Maurer, 3. Aufl. 2006, § 79 Rn. 30 (zum deutschen Recht). 320 Osterloh, FS Hassemer, 2010, S. 173, 182. 321 GA Jacobs, SchlA v. 17.3.2005 – Rs. C-475/03 Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373 Rn. 85; ähnlich Vording/Lubbers, BTR 2006, 91, 107 f. 322 Khakzad, Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im Hinblick auf die ertragsteuerliche Organschaft in Deutschland, 2008, S. 45; dagegen Drüen/Kahler, StuW 2005, 171, 180. 323 Wunderlich/Albath, DStZ 2005, 547, 552. 317

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

Damit wird unterschlagen, dass im (Europäischen) Steuerrecht noch weitere Interessen maßgeblich sind, die für eine Rückwirkung streiten.324 Auch dort ist eine Abwägung vieler öffentlicher und privater Interessen erforderlich. Anderenfalls würde sich das Interesse der Union und der Steuerpflichtigen an der Wahrung des – die nationalen Freiheiten zur Steuererhebung begrenzenden – Unionsrechts nicht widerspiegeln. So können insbesondere im Steuerrecht Kompetenzabgrenzungen zwischen unionaler und mitgliedstaatlicher Ebene virulent werden. Zudem wird das Bestreben individueller Gerechtigkeit nicht ausreichend gewürdigt. Denn dass der Steuerausfall kompensiert werden muss, beantwortet nicht die Frage, wer die Mittel dafür aufgrund welchen Verhaltens aufbringen muss. Die zu Unrecht Belasteten müssen nicht zu Gunsten unbekannter Dritter auf ihre Rechte verzichten. Schließlich können und müssen sich die Mitgliedstaaten gegen unerwartete Steuerausfälle durch eine gewissenhafte Prüfung ihrer eigenen Rechtsordnung ebenso schützen wie alle anderen Rechtsunterworfenen.325 Dies gilt umso mehr, als das Steuerrecht nur im Umfang von Art. 113 AEUV in die Gesetzgebungskompetenz der Union fällt und die Mitgliedstaaten deshalb in weiten Teilen nicht auf eine einheitliche Unionsregelung angewiesen sind. Dem steht nicht entgegen, dass nicht immer leicht zu erkennen ist, wer von einer Abgabe tatsächlich belastet wurde. So wäre zu berücksichtigen, wenn eine Steuer abgewälzt wurde. Es lässt sich auch selten sicher feststellen, ob einzelne Wirtschaftsteilnehmer von der besteuerten Handlung überhaupt Abstand genommen haben.326 Gegenüber diesen Einwänden überwiegt nämlich die Gewissheit, dass die rechtswidrig erhobene Steuer jedenfalls nicht dem erhebenden Mitgliedstaat zusteht. ee) Beihilferecht Die Durchsetzung der Vorschriften über staatliche Unternehmensbeihilfen (Art. 107 f. AEUV) wird vor allem vom Grundsatz der Effektivität beherrscht. Die unionalen Vorgaben sollen nicht durch eine lasche Durchsetzungspraxis ausgehöhlt werden. Dennoch kommt auch in diesem Gebiet eine Rückwirkungsbeschränkung nach allgemeinen Grundsätzen in Betracht.327 Es ist notwendige Folge, und sogar Zweck der Rückwirkungsbeschränkung, dass die Durchsetzung der fraglichen Vorschrift zeitweilig ausgesetzt wird. Das 324

Gegen einen Sonderweg des Steuerrechts Kokott/Henze, BB 2007, 913, 918; wohl auch Schnitger, Die Grenzen der Einwirkung der Grundfreiheiten des EG-Vertrages auf das Ertragsteuerrecht, 2006, S. 140 ff. 325 Cordewener/Kofler/van Thiel, CMLRev 46 (2009), 1951, 1962. 326 Vording/Lubbers, BTR 2006, 91, 110 f.; siehe auch Osterloh, FS Hassemer, 2010, S. 173, 183 f. 327 Anders wohl GA Jääskinen, SchlA v. 11.7.2013 – Rs. C-262/12 Vent De Colère, ECLI:EU:C:2013:469 Rn. 60 ff.

§ 6 Der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung

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Bedürfnis der effektiven Anwendung der Beihilfevorschriften ist zwar im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen. Es kann jedoch nicht nur gegen eine Beschränkung sprechen, sondern die Zahl der betroffenen Rechtsverhältnisse erhöhen. ff) Sonstige berücksichtigungsfähige Interessen Im Übrigen sind in der Abwägung freilich die Besonderheiten des betreffenden Rechtsgebiets durchaus zu würdigen. Der EuGH kann daher berücksichtigen, dass ohne die Rückwirkungsbeschränkung Unternehmen aus einem alten Mitgliedstaat einen von der Union erhobenen Zoll zahlen müssen, während Unternehmen aus einem neuen Mitgliedstaat für dieselbe Tätigkeit zollbefreit sind, weil die Zollbestimmung dort als unanwendbar angesehen wurde.328 Solche Gleichbehandlungserwägungen haben nur in Bereichen Bedeutung, die bereits unionsweit vereinheitlicht wurden.329 Selbstverständlich sind Umstände eines Rechtsgebiets nur dann besonders, wenn sie sich von den Gegebenheiten anderer Bereiche abheben. Dass eine Auslegung eine Vielzahl von Versorgungssystemen und bereits erschöpfte Rechtsverhältnisse betrifft, rechtfertigt daher keine besondere Behandlung des Rentenversicherungsrechts.330 Auswirkungen auf zahlreiche Vertragssysteme und Einzelrechtsverhältnisse sind in vielen Rechtsgebieten anzutreffen. Entstammt eine Rechtsfrage einem Lebensbereich, der häufigen Entwicklungen ausgesetzt ist, so kann dies das Vertrauen in den Bestand einer Rechtslage schmälern.331 Um dem objektiven Maßstab zu genügen, muss der ständige Anpassungsbedarf für die betroffenen Marktteilnehmer (also nicht für jedermann) objektiv erkennbar sein. 3. Vertrauensbegründendes Verhalten Nach der schon oben zitierten Formulierung des EuGH muss eine „objektive und bedeutende Unsicherheit hinsichtlich der Tragweite der [Unions]bestimmungen bestanden [haben], zu der eventuell auch das Verhalten anderer Mitgliedstaaten oder der Kommission beigetragen hatte.“332 Bisher wurde erläutert, dass der Inhalt des Unionsrechts Bezugspunkt des Irrtums sein muss und welcher Maßstab anzulegen ist. Im Folgenden sollen nun die geeigneten Auslöser des Vertrauens näher untersucht werden.

328

Lasiński-Sulecki, Intertax 37 (2009), 414, 419. Lasiński-Sulecki, Intertax 37 (2009), 414, 419. 330 So aber GA Jacobs, verb. SchlA v. 28.1.1999 – Rs. C-67/97, C-115/97 bis C-117/97 und C-219/97 Albany International u.a., Slg. 1999, I-5751 Rn. 476. 331 Vgl. Pieroth/Hartmann, ZIP 2010, 753, 757, die Medizin, Medien und Informationstechnologie als Beispiele nennen. 332 St.Rspr.; siehe Nachweise in § 6 Fn. 188. 329

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

a) Rechtsansichten der Unionsstellen als Vertrauensauslöser Soweit Vertrauen in eine bestimmte Rechtslage überhaupt gebildet werden konnte, müssen die Rechtsunterworfenen durch geäußerte Rechtsansichten der Unionsorgane oder anderer Stellen nachvollziehbar zu dem Schluss verleitet worden sein, sich rechtskonform zu verhalten. Solche Rechtsansichten der Unionsorgane können sich aus all ihrem Handeln ergeben. Eine besondere Form ist nicht nötig, denn Beweisschwierigkeiten gehen zu Lasten desjenigen, der sich auf die Rückwirkungsbeschränkung beruft.333 Das Verhalten ihrer legitimierten Vertreter müssen sich die Unionsstellen dabei nach allgemeinen Grundsätzen zurechnen lassen. Eine Handlung ist Rechtsansicht, soweit sie nicht Interpretationsmittel im Hinblick auf die zu beantwortende Rechtsfrage ist. Sekundärrechtliche Normen des Unionsrechts sind demnach Interpretationsmittel, solange es um ihre eigene Auslegung oder um die Interpretation von nachrangigem Recht (im Rahmen der systematischen Auslegung) geht. Sie sind aber lediglich Rechtsansichten der gesetzgebenden Unionsorgane, soweit die Auslegung von höherrangigem Unionsprimärrecht betroffen ist.334 Damit hängt die Einordnung als Interpretationsmittel oder Rechtsansicht davon ab, welche konkrete Rechtsfrage beantwortet werden soll. Je hierarchisch tiefer diese angesiedelt ist, desto mehr Hierarchiestufen in der Unionsrechtsordnung werden zu verbindlichen Interpretationsmitteln und desto weniger Stufen eignen sich noch als Rechtsansicht. Deshalb lohnt auch eine rechtsquellenbezogene Kategorisierung nicht. Als Ausdruck von Rechtsansichten kommen daher unverbindliche Veröffentlichungen, wie Hinweise oder Pressemitteilungen, ebenso in Betracht wie Einzelrechtsakte, sogenanntes Soft Law335, Völkerrecht (auch ohne Transformationsnorm) oder Individualvereinbarungen. Nicht jede geäußerte Rechtsansicht kommt als tauglicher Vertrauensauslöser in Betracht. Ohne die Begrenzung auf bestimmte rechtliche Verhaltensweisen oder Handlungsformen könnte der gute Glaube zu einem konturlosen Merkmal verkommen und damit die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung beseitigen.336 Zieht man den Kreis der beachtlichen Rechtsansichten sehr weit, setzt man die Objektivität des Rechts einer großen Anzahl von möglichen Einwirkungen aus. Jede Anknüpfung an eigentlich unverbindliche Rechtsansichten verkürzt darüber hinaus die individuellen Rechtspositionen 333

Einzelheiten zu Beweis- und Darlegungslast unten § 12, S. 439 ff. Vgl. EuGH v. 17.5.1990 – Rs. C-262/88 Barber, Slg. 1990, I-1889 Rn. 42, wo die Richtlinien 79/7/EWG und 86/378/EWG des Rates als vertrauensbegründender Umstand gewertet wurden. Unberücksichtigt soll hier die Frage bleiben, ob und inwieweit Primärrecht durch Sekundärrecht verbindlich konkretisiert werden kann. 335 Dazu allgemein z.B. Schwarze, EuR 2011, 3; Müller-Graff, EuR 2012, 18; Senden, Soft Law in European Community Law, 2004. 336 v. Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, S. 155 m.w.N. 334

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der Marktgegenseite.337 Die Abwägung von Objektivität des Rechts und Rechtssicherheit findet hier Ausdruck. Dennoch darf der Maßstab nicht so streng sein, dass Vertrauensschutz gänzlich unmöglich wird. Dies wäre der Fall, wenn man sich darauf beriefe, dass Rechtsansichten nur Meinungsäußerungen sind. Dann könnte Vertrauensschutz allenfalls bei Rechtsprechungsänderungen in Betracht kommen. Welche Voraussetzungen die Vertrauensveranlasser erfüllen müssen, lässt sich aus dem Bezugspunkt des guten Glaubens (genauer: des Irrtums) ableiten. Vertrauen in den Inhalt des Rechts ist Vertrauen in das Verhalten der rechtsfindenden Hoheitsgewalt. Daher kann grundsätzlich der Irrtum nur durch solche Veranlasser hervorgerufen werden, die vergleichbar verbindlich und weitreichend agieren. Eine Rückwirkungsbeschränkung wird vorgenommen, wenn die Union unterschiedliche Signale über den Inhalt des Unionsrechts ausgesendet hat, weil die verbindliche positive Rechtslage unklar und offen war und weil aus dem sonstigen Verhalten ein bestimmtes, sich als falsch herausstellendes Verständnis abzuleiten war. Es wird deutlich, dass Verhalten des Gerichtshofs zur Rückwirkungsbeschränkung berechtigen muss. Als zur Auslegung berufenes Organ der Union sind gerade seine Stellungnahmen besonders geeignet, eine Vorhersage über seine zukünftigen Entscheidungen zu treffen. Alle anderen Unionsorgane oder -institutionen müssen danach beurteilt werden, inwieweit sie der Stellung des EuGH nahekommen. Dazu müssen sie eine besondere Sachkompetenz im Hinblick auf das Unionsrecht (oder einen Teilbereich) haben. Das verlangt vor allem eine gewisse Objektivität der Äußerungen. Die Rechtsansichten müssen außerdem im Zusammenhang mit der Tätigkeit als „unionsrechtlicher Schlüsselakteur“ geäußert werden und den Rechtsunterworfenen tatsächlich338 zugänglich sein. Nur so ist gewährleistet, dass die Rechtsansicht die nötige territoriale Wirkungsbreite erhält, um in der gesamten EU einen Irrtum hervorrufen zu können. Tauglicher Urheber einer Rechtsansicht kann nur eine Unionsinstitution sein, es ist jedoch nicht notwendig, dass ein Organ im Sinne von Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2 EUV gehandelt hat.339 Den Organen kommt gleichwohl eine besondere Stellung im Unionsgefüge zu, weshalb es nahe liegt, ihnen als Irrtumsauslöser größere Bedeutung beizumessen.340 337

GA Elmer, SchlA v. 13.7.1995 – Rs. C-137/94 Richardson, Slg. 1995, I-3407 Rn. 36; insgesamt kritisch daher Dörr, Der Konzern 2006, 59, 63. 338 Es kommt also nicht auf eine Veröffentlichungspflicht an. Zur früheren Praxis der Veröffentlichung von Richtlinien noch Craig/de Búrca, EU Law, 4. Aufl. 2008, S. 85. 339 A.A. Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 54, 61 f.; wohl auch Keppert, ÖStZ 1997, 165, 168. 340 Bydlinski, JBl 2001, 2, 24; Klappstein, Die Rechtsprechungsänderung mit Wirkung für die Zukunft, 2009, S. 215; Broberg/Fenger, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union, 2014, S. 397.

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Anhand dieser Maßstäbe ist beispielsweise die Entscheidung Evangelischer Krankenhausverein Wien zu kritisieren. Dort ließ der Gerichtshof Äußerungen der Kommission genügen, die in Beitrittsverhandlungen mit Österreich gefallen waren.341 Die Verhandlungen werden zwar formal vom Rat geführt, in der Praxis übernimmt die Kommission jedoch zahlreiche Aufgaben auf Sachebene, bei der sie Berichtspflichten gegenüber dem Rat und dem Parlament unterliegt.342 Dabei werden nicht sämtliche (mündlich) abgegebenen Stellungnahmen in der Folge veröffentlicht. Um ein unionsweites Vertrauen auslösen zu können, müssen aber auch alle Mitgliedstaaten und alle anderen Rechtunterworfenen davon Kenntnis erlangen können.343 Als Grundsatz lässt sich schließlich festhalten, dass die Bedeutung einer Rechtsansicht für die Schaffung von Vertrauen desto größer ist, je transparenter und nachvollziehbarer sie erläutert wird. Beruht ihre Begründung auf erkennbaren Fehlern, so kann die Rechtsansicht kein Vertrauen hervorrufen.344 Außerdem leidet die überzeugungsbildende Kraft einer Rechtsansicht, wenn der sie tragende Rechtsakt von den betroffenen Mitgliedstaaten entscheidend beeinflusst (und so gleichsam in eigenem Interesse erlassen) wird.345 b) Rechtmäßigkeit des vertrauensbegründenden Verhaltens/der Rechtslage? Für die Beschränkung der Rechtsprechungsrückwirkung spielt es naturgemäß keine Rolle, ob die vorgestellte Rechtslage rechtswidrig war. Das Vertrauen bezieht sich notwendigerweise auf eine falsche, also rechtswidrige, Rechtslage. War Auslöser des guten Glaubens hinsichtlich des Primärrechts (auch) ein anderslautender Sekundärrechtsakt, so ist dieser immer materiell primärrechtswidrig.346 Gegenstand der objektiven Prüfung des guten Glaubens ist, dass die vorgestellte Rechtslage jedenfalls nicht erkennbar rechtswidrig (falsch) war.

341 EuGH v. 9.3.2000 – Rs. C-437/97 Evangelischer Krankenhausverein Wien u.a., Slg. 2000, I-1157 Rn. 58 i.V.m. Rn. 56. 342 Grabitz/Hilf/Nettesheim-Ohler, Das Recht der Europäischen Union, 51. EL 2013, Art. 49 EUV Rn. 30; Schwarze-Herrnfeld, EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 49 EUV Rn. 7; von der Groeben/Schwarze-Meng, EUV/EGV, 6. Aufl. 2003, Art. 49 EU Rn. 94 ff. 343 Kritisch daher auch Lang, IStR 2007, 235, 238 und Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 163 f. 344 EuGH v. 19.9.2000 – verb. Rs. C-177/99 und C-181/99 Ampafrance und Sanofi, Slg. 2000, I-7013 Rn. 68. 345 Vgl. EuGH v. 19.9.2000 – verb. Rs. C-177/99 und C-181/99 Ampafrance und Sanofi, Slg. 2000, I-7013 Rn. 69, wo der EuGH aber vor allem auf die Kenntnis von der Primärrechtswidrigkeit abstellt. 346 Vgl. z.B. EuGH v. 17.5.1990 – Rs. C-262/88 Barber, Slg. 1990, I-1889; EuGH v. 8.9.1994 – verb. Rs. C-363/93, C-407/93 bis C-411/93 Lancry u.a., Slg. 1994, I-3957.

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Damit nicht beantwortet ist jedoch die Frage, ob das Verhalten oder die Handlungsform des Unionsorgans alle sonstigen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen erfüllen muss. Dann könnte beispielsweise eine verfahrensfehlerhaft zustande gekommene Richtlinie kein Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihren materiellen Regelungsgehalt begründen. Maßgeblich ist hier, ob der Rechtsmangel Auswirkungen auf den Inhalt der Rechtsansicht hat oder deren Zurechnung zur Union unterbricht. Der Inhalt einer Rechtsansicht dürfte vor allem bei der Verletzung von Beteiligungs- oder Anhörungsrechten betroffen sein. Es ist nicht auszuschließen, dass bei Beachtung des vorgeschriebenen Verfahrens ein anderes Ergebnis erzielt worden wäre. Dennoch kann sich die geäußerte Rechtsansicht dann immer noch als eine des erlassenden Organs allein darstellen. Gleiches gilt für den Zurechnungszusammenhang. Bei der Rückwirkungsbeschränkung geht es um Rechtsansichten, die keine rechtliche Verbindlichkeit gegenüber den Rechtsunterworfenen haben müssen. So bleiben auch kompetenz- oder verfahrenswidrig ausgedrückte Rechtsansichten solche des erlassenden Organs oder der erlassenden Institution. Freilich leidet die autoritative Überzeugungskraft einer Rechtsansicht, wenn sie sich beispielsweise nicht als Meinung des Unionsgesetzgebers, sondern lediglich der Kommission darstellt. Es ließe sich erwägen, die Rechtsunterworfenen gegen solche zurechnungsausschließenden Fehler zu schützen, indem diese nur zu beachten sind, wenn sie erkannt wurden oder erkannt werden mussten.347 Dagegen spricht zuerst, dass es sich bei der Rechtsprechungsrückwirkungsbeschränkung auch um eine Verhaltensverantwortlichkeit handelt und eine solche dann nur noch in dem Erwecken eines Anscheins der Zurechnung bestünde. Außerdem dürfte es sich um eine praktisch wenig relevante Fallgruppe handeln, da so schwere Verfahrensfehler schnell publik würden und sich dann kein Vertrauen mehr bilden kann. Schließlich geht es hier nicht – wie bei der Legislativrückwirkung348 – um die Wirksamkeit von Rechtsnormen, für die das Unionsrecht eine Gültigkeitsvermutung kennt, an die angeknüpft werden könnte. c) Verhalten des Gerichtshofs (Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2 SpS. 5 EUV) Als erster und besonders nahe liegender Anknüpfungspunkt kommt Verhalten des Gerichtshofs in Betracht. Dieses lässt sich zwar unterteilen in die (amtliche) Rechtsprechung des Gerichtshofs, sonstige öffentliche Verlautbarungen des Gerichtshofs und Äußerungen von gerichtsangehörigen Einzelpersonen. 347

So zur Gesetzesrückwirkung Heukels, Intertemporales Gemeinschaftsrecht, 1990, S. 184; Petersen, EG-Richtlinienumsetzung und Übergangsgerechtigkeit, 2008, S. 308 f.; allgemein Borchardt, Der Grundsatz des Vertrauensschutzes im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1988, S. 115 ff. 348 Vgl. Heukels, Intertemporales Gemeinschaftsrecht, 1990, S. 185 f.

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

Relevant ist jedoch nur die amtliche Rechtsprechung. Öffentliche Verlautbarungen scheiden aus, weil sie nur Sekundärquelle über die Rechtsprechung sind und keine eigenständigen Aussagen zum Inhalt des Unionsrechts treffen. (Wissenschaftliche) Äußerungen von gerichtsangehörigen Personen, wie Richtern, Generalanwälten und anderen Mitarbeitern, außerhalb der Gerichtsverfahren lassen sich weder dem Gerichtshof noch der Union zurechnen, sondern sind Privatmeinungen. aa) Rechtsprechung des Gerichtshofs (1) Allgemeine Erwägungen zum Vertrauen in Rechtsprechung Neben den schon oben behandelten, zumeist methodischen Einwänden gegen eine Beschränkung der zeitlichen Wirkungen (als primären Vertrauensschutz), wird vor allem auf nationaler Ebene diskutiert, ob sich Richterrecht als Basis für sekundären Vertrauensschutz eignet. Für das Unionsrecht wird zumeist begründungslos davon ausgegangen, dass frühere Urteile des Gerichtshofs dazu geeignet sind.349 Dies steht im Einklang mit der gefestigten Vorgehensweise des EuGH, der dies selbst ebenso bisher nicht hinterfragt hat. Zwar beziehen sich bisher nur zwei Entscheidungen des Gerichtshofs speziell auf seine eigene Rechtsprechung als Auslöser des zu schützenden Vertrauens,350 so dass es insoweit eigentlich an einer ständigen Rechtsprechung fehlt. Jedoch können alle anderen Entscheidungen zur Rückwirkungsbeschränkung bei Auslegungsurteilen mit einem Erst-Recht-Schluss herangezogen werden. Wenn sogar ungesetzförmiges Tun oder Unterlassen der anderen Unionsinstitutionen genügen kann, um Vertrauen zu begründen, dann muss dies erst recht für Verhalten des EuGH gelten.351 Dieser ist ja – im Gegensatz z.B. zur Kommission – gerade dafür zuständig, (verbindliche) Aussagen über den Inhalt des Unionsrechts zu treffen. Aus Sicht des EuGH ist die Einbeziehung seiner eigenen Rechtsprechung in den Kreis der möglichen Anknüpfungspunkte daher wenig problematisch, ja eigentlich schon vorentschieden. Grundlage des Vertrauens in Urteile des EuGH ist freilich die Ver349 Vgl. z.B. Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, passim; Huep, Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf ältere Sachverhalte, 2001, S. 232; Klappstein, Die Rechtsprechungsänderung mit Wirkung für die Zukunft, 2009, S. 159 ff. 350 Das sind EuGH v. 30.4.1996 – Rs. C-308/93 Cabanis-Issarte, Slg. 1996, I-2097 und EuGH v. 4.5.1999 – Rs. C-262/96 Sürül, Slg. 1999, I-2685. In der Entscheidung EuGH v. 15.3.2005 – Rs. C-209/03 Bidar, Slg. 2005, I-2119 wurde die Frage des guten Glaubens nicht relevant. Huep, Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf ältere Sachverhalte, 2001, S. 89 f. kritisiert den EuGH, bei seiner Barber-Entscheidung keinen guten Glauben aus seiner früheren Rechtsprechung abgeleitet zu haben. 351 Ähnlich Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 45.

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mutung, dass deren Entscheidungsgehalt in einem identischen oder vergleichbaren Fall wiederholt werden würde. Der EuGH kann seine Rechtsprechung zwar jederzeit ändern, sein Verhalten ist dennoch an einer gewissen Kontinuität ausgerichtet.352 Dies wird bestätigt, wenn man sich den Bezugspunkt des Vertrauens vor Augen führt. Geschützt wird der Glaube an eine so nicht bestehende Rechtslage. Solange der erforderliche Maßstab erreicht wird, ist es grundsätzlich irrelevant, wie dieser Irrtum hervorgerufen wurde. Vergleicht man die Handlungen der anderen Unionsorgane mit denen des Gerichtshofs im Hinblick auf ihre Eignung als Vertrauensgrundlage, so ist die Rechtsprechung geradezu prädestiniert, Vertrauensschutz notwendig zu machen. Maßstab des Vertrauens ist, wie oben ausgeführt,353 dass die Betroffenen davon ausgehen durften, ihr Verhalten sei unionsrechtsgemäß. Da der EuGH für die Konkretisierung des Unionsrechts zuständig ist, kommt seinen Aussagen dahingehend auch eine größere Autorität zu. Im Vergleich zu gesetzesförmig ergangenem Recht kommen der Rechtsprechung des Gerichtshofs hingegen eine geringere Bindungswirkung und damit eine geringere Vertrauensbasis zu. Dabei ist unerheblich, ob die vertrauensbildende Rechtsprechung eher der Auslegung oder der Rechtsfortbildung zuzuordnen ist. In beiden Fällen hat Rechtsprechung eine geringere Stabilität. Die Änderung von Rechtsprechung unterliegt keinen besonderen inhaltlichen Schranken.354 Gleichzeitig bedarf es dazu keines formalen Verfahrens.355 (2) Objektiv und subjektiv einschlägige Rechtsprechung – Rechtsprechungsänderung Als stärkster Anwendungsfall von Vertrauen in das Verhalten des EuGH kommt eine bestätigte Rechtsprechung zu einem konkreten Sachverhalt oder einer bestimmten Rechtsfrage in Betracht. Es handelt sich also um eine Rechtsprechungsänderung. In der Rechtssache Cabanis-Issarte356 hat der Gerichtshof eine solche zum Anlass für eine Rückwirkungsbeschränkung genommen. Objektiv einschlägige Rechtsprechung weckt in besonders hohem Maße Vertrauen der Rechtsunterworfenen.357 Aus deren Sicht erscheint ein 352

v. Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, S. 448; Grosche, Rechtsfortbildung im Unionsrecht, 2011, S. 257 f.; Riesenhuber-Neuner, Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 12 Rn. 24. 353 § 6 B. II.1., S. 145 ff. 354 Siehe oben § 3 D.II.1., S. 65. 355 Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, 1996, S. 204 f.; Höpfner, RdA 2006, 156, 159. 356 EuGH v. 30.4.1996 – Rs. C-308/93 Cabanis-Issarte, Slg. 1996, I-2097. 357 GA Fennelly, SchlA v. 6.6.1996 – verb. Rs. C-267/95 und C-268/95 Merck ./. Primecrown und Beecham ./. Europharm, Slg. 1996, I-6285 Rn. 169 Fn. 182.

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bestimmtes Rechtsproblem gelöst und die Verhaltensanweisung des Unionsrechts klar. Worauf sonst sollten sich Rechtssubjekte verlassen, wenn nicht auf eine gleichbleibende Gesetzeslage und die dazu ergangene Rechtsprechung. Ob ein Urteil des EuGH einschlägig ist, beurteilt sich danach, ob die gleiche Rechtsfrage erneut und diesmal anders entschieden wird.358 Das Kriterium ist ein materielles. Die bloße Bezeichnung als Rechtsprechungsänderung durch den Gerichtshof genügt nicht, wenngleich davon auszugehen ist, dass der Gerichtshof natürlich innerhalb eines Urteils eine einmal gewählte Einordnung nicht wieder aufgeben würde. Zur Beurteilung ist insbesondere erforderlich, die Reichweite der bisherigen Rechtsprechung im Hinblick auf Streitgegenstand und/oder Vorlagefragen genau abzugrenzen und dabei Einzelfälle nicht zu verallgemeinern und für allgemeine Aussagen die Existenz von Ausnahmen in Betracht zu ziehen.359 In der Literatur wird die Rechtsprechungsänderung häufig mit der Gesetzesänderung verglichen und betont, dass beide Male die Rechtslage geändert wird. Maßgeblich für die Berufung auf einschlägige Rechtsprechung als Basis von Vertrauen ist jedoch nicht, dass wie bei der Gesetzesänderung Vertrauensurheber und Vertrauensenttäuschender identisch sind. Die Rechtsprechungsänderung ist als ein Spezialfall der Gewährung von Vertrauensschutz durch die Rechtsprechung zu begreifen. Entscheidend ist nicht die „Verhaltensverantwortlichkeit„ des EuGH für die Änderung seiner Rechtsprechung, sondern die Verantwortlichkeit für das Hervorrufen eines Irrtums über den Inhalt des Unionsrechts. Die Besonderheit der Rechtsprechungsänderung liegt darin, dass im Vergleich zu den sonstigen Vertrauensurhebern der Gerichtshof eine besondere Stellung einnimmt. Allein der Gesetzgeber könnte durch eine verbindliche Interpretationsanordnung des geltenden Unionsrechts noch stärkeres Vertrauen schaffen. Die Grundsätze des Vertrauensschutzes bei erster Auslegung sind daher insoweit „Mindeststandards“360, als dass einschlägige Rechtsprechung besonders einfach den notwendigen Grad des guten Glaubens rechtfertigt und einmal begründetes schutzwürdiges Vertrauen schwerer beseitigt werden kann. Dennoch ist allein eine Rechtsprechungsänderung kein hinreichender Grund, den guten Glauben zu bejahen.361 Die besonders kurze Begründung 358

Lunk, FS Reuter, 2010, S. 689, 694; vgl. oben § 3 D.II., S. 63 f. Vgl. z.B. EuGH v. 3.10.2006 – Rs. C-17/05 Cadman, Slg. 2006, I-9583 Rn. 43 i.V.m. Rn. 37. 360 Der Ausdruck stammt von Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 45; siehe auch Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, 1996, S. 109. 361 Hyland, IJEL 2 (1995), 208, 230; a.A. z.B. Thewes, Bindung und Durchsetzung der gerichtlichen Entscheidungen in der EU, 2003, S. 159 f.; wohl auch Schima, Wirkungen 359

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der Rückwirkungsbeschränkung in der Rechtssache Cabanis-Issarte darf nicht so verstanden werden, dass dort von dem allgemeinen Prüfungsschema abgewichen worden wäre.362 Zwar hat der Gerichtshof seine einschlägige Rechtsprechung und die herkömmlichen Obersätze nicht zitiert.363 Jedoch referierte er zum einen die Angaben der Mitgliedstaaten zu den wirtschaftlichen und den Gutglaubensvoraussetzungen, welche eindeutig vorlagen.364 Zum anderen verhielt sich der EuGH in der Rechtssache Bidar klarer. Dort prüfte er ebenso anlässlich einer Rechtsprechungsänderung die Voraussetzungen einer Rückwirkungsbeschränkung und zitierte dabei die einschlägige Rechtsprechung zur Auslegungsrückwirkungsbeschränkung einschließlich der herkömmlichen Obersätze.365 Außerdem müsste sonst jede Rechtsprechungsänderung für eine Rückwirkungsbeschränkung unmittelbar in Betracht kommen und dennoch wurde eine solche bisher nicht häufiger problematisiert. Dies ließe sich vielleicht noch damit erklären, dass in den wenigen Fällen der Rechtsprechungsänderung eine zeitliche Beschränkung nicht zur Sprache kam. Überzeugender ist hingegen, dass auch bei der Änderung einer Rechtsprechung ein guter Glaube noch verneint werden kann, beispielsweise wenn jene konkret vorhersehbar oder wegen veränderter Umstände eine Fortgeltung sonst zweifelhaft war.366 Sowohl tatsächliche als auch rechtliche Umstände kommen insoweit in Betracht.367 Im Einklang damit ließ die Begründung in Bidar erkennen, dass das wirtschaftliche Tatbestandsmerkmal nicht allein zu prüfen gewesen wäre.368 Gegen eine Sonderstellung der Rechtsprechungsänderung spricht nicht, dass feste Kriterien dafür entwickelt werden müssen, wann eine solche vorliegt. Zum einen kann dies durch die Methodenlehre geleistet werden, wenngleich es unscharfe Randbereiche geben mag, und zum anderen erfordert auch das Konnexitätsmerkmal des EuGH (oder dessen oben vertretene Zuordnung zur Frage der geklärten Rechtslage) eine ähnliche Bestimmung, ob eine konkrete Rechtsfrage für einen konkreten Sachverhalt schon einmal beantwortet wurde. und Grenzen der Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 2007, S. 73, 75 Fn. 15. 362 Anders wohl Usher, General Principles of EC Law, 1998, S. 69. 363 Anders hingegen GA Tesauro, SchlA v. 29.2.1996 – Rs. C-308/93 Cabanis-Issarte, Slg. 1996, I-2097 Rn. 19. 364 So wohl auch GA Tesauro, SchlA v. 29.2.1996 – Rs. C-308/93 Cabanis-Issarte, Slg. 1996, I-2097 Rn. 19. 365 EuGH v. 15.3.2005 – Rs. C-209/03 Bidar, Slg. 2005, I-2119 Rn. 66 ff. 366 So auch Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, 2002, S. 489, der jedoch eine unvorhersehbare Änderung seiner Rechtsprechung durch den EuGH schon als „willkürlich“ ansieht. 367 Siehe im Einzelnen oben § 3 D.II.3.b), S. 73. 368 EuGH v. 15.3.2005 – Rs. C-209/03 Bidar, Slg. 2005, I-2119 Rn. 70: „genügt es“.

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Einschlägig im obigen Sinne kann nicht nur die ratio decidendi eines früheren Falles sein, sondern auch ein gewolltes obiter dictum.369 Dafür spricht schon, dass beide Begründungsbestandteile Präjudizwirkung entfalten können und daher als tauglicher Vertrauensgegenstand in Betracht kommen. Darüber hinaus trägt insoweit wieder der Erst-Recht-Schluss vom Verhalten der anderen Unionsorgane. Anerkennt man das tatsächliche Vertrauen der Rechtsunterworfenen auch in nicht gerichtlich bestätigte Rechtsansichten als rechtlich relevant, dann ist es zwingend, dass die Rechtsansichten des Gerichtshof beachtlich sein können. (3) Nicht objektiv aber subjektiv einschlägige Rechtsprechung Darüber hinaus hat der EuGH in der Entscheidung Sürül seine vorherige Rechtsprechung als Anknüpfungspunkt für Vertrauen zugelassen, obwohl diese den neuen Sachverhalt objektiv nicht erfasste, aber so verstanden werden konnte. Dann liegt methodisch keine Rechtsprechungsänderung vor, sondern es handelt sich um eine erste Auslegung. Beschreiben lässt sich die Vertrauenslage als subjektiv einschlägige Rechtsprechung. Für den EuGH genügte hier, dass sein Urteil in der Rechtssache TaflanMet „bei vernünftiger Betrachtung Ungewissheit darüber entstehen lassen“ konnte, ob das sozialrechtliche Diskriminierungsverbot aus Art. 3 des Assoziationsratsbeschlusses 3/80 im vorgelegten Sachverhalt unmittelbar anwendbar war oder nicht.370 Dies ist zumindest sprachlich unscharf. Denn auch bei vertrauensauslösender Rechtsprechung kann es nicht auf eine bloße Zweifelslage, eine Ungewissheit, ankommen. Erforderlich ist, dass von einem objektivierten Standpunkt die positive Vorstellung berechtigt ist, das Richtige zu tun. Es besteht kein Anlass, von dem allgemeinen Grundsatz abzuweichen.371 Die Rechtssache Sürül liegt bei genauerer Betrachtung auf der Grenze beider Maßstäbe. Die Formulierungen von EuGH und Generalanwalt sind sehr vorsichtig und wohl missverständlich. Ginge es nur darum, dass das Urteil Taflan-Met bestehende Zweifel nicht ausgeräumt hat,372 so kann dies nicht für die Schaffung von Vertrauen durch Rechtsprechung genügen. Verbindliche Aussagen vermag der Gerichtshof nur über den Streitgegenstand zu treffen 369

Z.B. Keil, Die Systematik privatrechtlicher Rechtsprechungsänderungen, 2007, S. 82 zum deutschen Recht; in diese Richtung auch Peers, ELRev 1999, 627, 632 f. A.A. beispielsweise Lunk, FS Reuter, 2010, S. 689, 694; zum deutschen Recht auch schon Schlüter, Das Obiter Dictum, 1973, S. 53 ff. m.N. v.a. auf Basis der Annahme einer eingeschränkten Richtigkeitsgewähr. 370 EuGH v. 4.5.1999 – Rs. C-262/96 Sürül, Slg. 1999, I-2685 Rn. 110. 371 Peers, ELRev 1999, 627, 633 befürchtet deshalb durch das Urteil Sürül eine Aufweichung des Grundsatzes, dass die Rückwirkungsbeschränkung nur „ausnahmsweise“ vorgenommen wird. 372 So GA La Pergola, SchlA v. 12.2.1998 – Rs. C-262/96 Sürül, Slg. 1998, I-2685 Rn. 67.

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und jenen kann er nicht beeinflussen. Eignet sich also ein Verfahren nicht, zu bestimmten Fragen Stellung zu nehmen, dann folgt daraus keine besondere Schutzwürdigkeit der Rechtsunterworfenen. Ebenso ist es grundsätzlich nicht Aufgabe des EuGH die Betroffenen vor Fehlinterpretationen seiner Urteile zu bewahren oder deren Folgen abzumildern. Gerade im stark fallbezogenen Europarecht zeigt sich, dass Rechtsentwicklung durch Rechtsprechung eher „evolutiv„ vonstattengeht und Urteile des Gerichtshofs eine Diskussion oft erst einleiten und nicht abschließen.373 In Taflan-Met wählte der EuGH demgegenüber nicht nur unklare, sondern deutlich missverständliche Formulierungen. Das vorlegende Gericht hatte zwar ausdrücklich nach der unmittelbaren Anwendbarkeit von Art. 12 und 13 des Assoziationsratsbeschlusses 3/80 gefragt („Ist die Regelung in den Artikeln 12 und 13 des Beschlusses Nr. 3/80 so hinreichend konkret und bestimmbar, daß sie sich für eine unmittelbare Anwendung eignet, ohne daß nähere Durchführungsmaßnahmen gemäß Artikel 32 des Beschlusses Nr. 3/80 erforderlich sind?“).374 Der Gerichtshof formulierte aber nicht nur diese Frage um („möchte das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen, ob die Bestimmungen des Beschlusses Nr. 3/80, insbesondere seine Artikel 12 und 13, in den Mitgliedstaaten unmittelbare Wirkung haben“),375 sondern bezog sich im Folgenden stets auf „den Beschluß 3/80“. Dies mündete in der Feststellung, dass sich „[a]us den vorstehenden Erwägungen ergibt […], daß der Beschluß Nr. 3/80, wenngleich einige seiner Bestimmungen eindeutig und bestimmt sind, nicht angewandt werden kann, solange der Rat keine ergänzenden Maßnahmen zu seiner Durchführung erlassen hat.“376 Dagegen fiel dann nicht sehr ins Gewicht, dass der Gerichtshof in Ergebnissatz und Tenor wieder auf die Einschränkungen des Streitgegenstands durch die Vorlagefrage zurückkam.377 373

v. Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, S. 448; Hummer/Obwexer, EuZW 1997, 295,

297.

374

Vgl. EuGH v. 10.9.1996 – Rs. C-277/94 Taflan-Met u.a., Slg. 1996, I-4085 Rn. 11. Vgl. EuGH v. 10.9.1996 – Rs. C-277/94 Taflan-Met u.a., Slg. 1996, I-4085 Rn. 23. 376 Vgl. EuGH v. 10.9.1996 – Rs. C-277/94 Taflan-Met u.a., Slg. 1996, I-4085 Rn. 37. Diese Formulierung hält auch Verschueren, EJML 1999, 371, 374 für „ambiguous“; Peers, ELRev 1997, 342, 348 Fn. 20: „clearly suggests that the entire Decision needs implementing measures” (Hervorhebung im Original); Hesse, ÖJZ 1997, 294, 298: „klargestellt, dass keine Bestimmung des Beschlusses Nr 3/80 in den Mitgliedstaaten unmittelbare Wirkung entfaltet”; Peers, ELRev 1999, 627, 631 hält das Urteil Sürül daher auch für eine Rechtsprechungsänderung u.a. mit Hinweis auf einen Aufsatz des in Taflan-Met berichterstattenden Richters Edward (siehe Edward, Direct Effect, the Separation of Powers and the Judicial Enforcement of Obligations, 1998, S. 423, 436 f.); auch Özcan, Erkrankung von Arbeitnehmern im Europäischen Ausland, 2000, S. 72 f. verstand und verteidigte das Urteil in diesem Sinne. 377 Anders z.B. Zuleeg, ZAR 1997, 170, 172, der hieraus ableitete, dass die Prüfung anderer Bestimmungen des Beschlusses 3/80 noch nicht vorweggenommen worden war. 375

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Der EuGH hatte hier demnach mehr getan als nur bestehende Unsicherheiten nicht beseitigt. Sein Urteil erweckte aktiv den Eindruck als würde es Aussagen treffen, die es letztlich genau so nicht treffen wollte. Es wäre ein Leichtes gewesen, die tatbestandlichen Beschränkungen in der Begründung deutlicher zum Ausdruck zu bringen. Würde man hingegen herausstellen, dass der Streitgegenstand des Verfahrens Taflan-Met durch Vorlagefrage und Tenor ausreichend bezeichnet wurde und der EuGH den sozialrechtlichen Diskriminierungsverboten aus den Abkommen mit Marokko und Algerien schon vorher unmittelbare Wirkung beigemessen hatte378, so ließe sich Vertrauen darin, dass der EuGH auch zu Art. 3 des Beschlusses 3/80 urteilen wollte, ablehnen. Lediglich subjektiv einschlägige Rechtsprechung entsteht immer dann, wenn dem früheren Urteil eine Reichweite beigemessen wird, die es nach Vorstellung des Gerichtshofs nicht haben sollte. Dies kann auf unterschiedliche Weise geschehen. Zuerst kann die Reichweite der ratio decidendi missverständlich sein. Möglich ist auch, dass das Urteil Erwartungen geweckt hat, welche anderen Sachverhalte mittels Analogieschluss von seiner Aussage präjudiziert werden (analogy) oder abzugrenzen sind (distinguishing). Häufigster Anwendungsfall dürfte hingegen wie in Taflan-Met sein, dass dem EuGH-Urteil ein obiter dictum entnommen wird, welches es nicht enthielt. Eine missverständliche Formulierung der ratio decidendi, ohne dass dadurch wiederum ein fehlleitendes obiter dictum entsteht, dürfte selten vorkommen und die Übertragung des ersten Urteils auf den objektiv nicht einschlägigen späteren Fall dürfte regelmäßig auf einer eigenständigen Fehleinschätzung der Rechtsadressaten oder dem Verhalten der anderen Unionsorgane beruhen. Die Berücksichtigung von missverständlicher Rechtsprechung als Vertrauensauslöser ist Ausdruck des vom EuGH grundsätzlich angelegten objektiviert-subjektiven Maßstabs. Dagegen lässt sich auch nicht empirisch anführen, dass es unwahrscheinlich ist, in den kurzen Begründungen des EuGH noch Ungewolltes zu finden und alles Gesagte auch eine Bedeutung haben muss. Schon die gerade erörterte Rechtssache Sürül ist ein Beispiel für unnötig weitgreifende Formulierungen, die später relativiert werden müssen. (4) Objektiv einschlägige aber subjektiv nicht einschlägige Rechtsprechung Vorstellbar ist schließlich die umgekehrte Situation. Das Urteil des Gerichtshofs ist zwar objektiv einschlägig, durfte aber so verstanden werden, dass es den Sachverhalt nicht erfasst. Auf diese Konstellation wurde schon oben bei der Ablehnung eines eigenständigen Konnexitätsmerkmals hingewiesen.379 Sie stellt keinen Fall der Vertrauensbegründung durch Rechtsprechung dar. Das Urteil des EuGH schafft keinen guten Glauben in eine den Sachverhalt 378

Gutmann, AuR 2000, 81; Peers, ELRev 1999, 627, 628 f. beide m.N. aus der Rechtsprechung. 379 Siehe oben § 6 B.I.4., S. 143.

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erfassende Rechtslage, welche von den Vorgaben des Urteils abweicht. Vertrauensbegründend können hier nur solche Rechtsansichten sein, die guten Glauben in eine Richtung lenken, die sich später als falsch erweist. Das Urteil entspricht objektiv der späteren Rechtslage, es steht lediglich nach dem Verständnis der Rechtsadressaten der Entwicklung von abweichendem gutem Glauben nicht entgegen. Das Vertrauen in die falsche Rechtslage muss durch Rechtsansichten anderer Organe begründet werden. Die Rolle des objektiv einschlägigen, aber subjektiv nicht einschlägigen Urteils ist daher unten bei der Frage des Ausschlusses von gutem Glauben zu klären.380 Würden die Rechtsunterworfenen hingegen davon ausgehen, sie könnten dem früheren Urteil ein obiter dictum darüber entnehmen, wie der spätere Sachverhalt zu lösen ist, läge ein Fall der subjektiven Einschlägigkeit eines Urteils vor. (5) Judikatives Unterlassen? Der allgemeine Maßstab zeigt zugleich, dass die bloße judikative Untätigkeit kein Vertrauen begründen kann.381 Zuerst fehlt es bei einem Unterlassen der Rechtsprechung regelmäßig an einer Pflicht zum Tätigwerden. Soweit einzelne Rechtsprobleme in den zu entscheidenden Sachverhalten nicht entscheidungserheblich sind, ist dies nicht den Gerichten anzulasten. Dem EuGH fehlt es bekanntermaßen an einem eigenen Initiativrecht. Die Untätigkeit kann daher kein Vertrauen in eine konkrete Rechtslage schaffen, sondern bestenfalls eine schon bestehende Unklarheit aufrecht erhalten.382 Die bloße Unklarheit genügt aber – wie oben ausgeführt – nicht. Doch selbst wenn man eine Pflichtwidrigkeit in Fällen erblicken mag, in denen dem Gericht „nicht verfahrensbedingte“, „einen fehlenden richterlichen Regelungswillen“ ausdrückende Untätigkeit anzulasten wäre,383 bliebe offen, auf welche Rechtsansicht die Betroffenen denn vertrauen könnten. Erforderlich wäre zumindest ein „beredtes Schweigen“. Die gerügte Untätigkeit bezöge sich dann auf die juristische Argumentation in einem Urteil. Aus dieser müsste sich ein Rückschluss auf eine konkrete Rechtsaussage ziehen lassen.384 Damit läge als Schwerpunkt der Anknüpfung jedoch ein Urteil vor, welches im Ganzen eine Tätigkeit des Gerichtshofs darstellt. 380

Siehe unten § 6 B.II.4., S. 203 ff. Wie hier Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 50; a.A. Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, 1996, S. 111. 382 Vgl. EuGH v. 8.9.1994 – verb. Rs. C-363/93, C-407/93 bis C-411/93 Lancry u.a., Slg. 1994, I-3957 Rn. 44. In diese Richtung auch Bezzina/Favi/Juarez/Pizzoni/Russo, Intertax 34 (2006), 199, 205. 383 Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, 1996, S. 262 zum deutschen Arbeitsrecht. 384 Das liegt denn auch bei Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, 1996, S. 262 ff. zugrunde. Die jahrzehntelange Duldung 381

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bb) Schlussanträge der Generalanwälte Die Generalanwälte sind überparteiliche und unabhängige Angehörige des Organs Gerichtshof (Art. 252 AEUV). Für die Begründung von gutem Glauben sind vor allem ihre Schlussanträge von Bedeutung, denn diese enthalten eigenständige und detaillierte Würdigungen des zu entscheidenden Falles. Die Schlussanträge sind jedoch für den Gerichtshof in keiner Weise verbindlich. Soweit ersichtlich wurden Schlussanträge bisher nur einmal im Rahmen des guten Glaubens herangezogen und zwar zur Verneinung des Vertrauens in eine bestimmte Rechtsansicht.385 Die Bedeutung der Generalanwälte als Vertrauensauslöser sollte dementsprechend nicht überschätzt werden. Da auf einen Schlussantrag regelmäßig ein Urteil des EuGH folgt und dieses dann einen stärkeren Vertrauenstatbestand darstellt, verbleibt für die Rechtsansichten der Generalanwälte nur ein kleiner Wirkungsbereich. Guter Glaube könnte lediglich von solchen Äußerungen hervorgerufen werden, die in einem früheren Fall nicht entscheidungserheblich waren. Schlussanträge desselben Verfahrens können kein Vertrauen mehr schaffen, denn die Rechtsansichten der Generalanwälte stehen jetzt erkennbar unter dem Vorbehalt einer Bestätigung durch den Gerichtshof. Schließlich lässt sich aus der – zweifelhaften – Behauptung, der EuGH folge zumeist der Ansicht der Generalanwälte,386 keine Prognose für den konkreten Einzelfall anstellen und so Vertrauen begründen.387 d) Verhalten der Kommission (Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2 SpS. 4 EUV) In zahlreichen Entscheidungen wurde das Verhalten der Kommission vom Gerichtshof irrtumsbegründend berücksichtigt. Es ist neben der Rechtsprechung des Gerichtshofs insoweit von entscheidender Bedeutung.388 Im Gegensatz zur Rechtsprechung des EuGH ist besonders begründungsbedürftig, dass Verhalten der Kommission überhaupt Vertrauen hervorrufen kann. Anders als der Gerichtshof hat die Kommission nicht die Aufgabe, Rechtsprechung verbindlich zu konkretisieren. Ein auf diese Kompetenz gestütztes Vertrauen kann demnach nicht entstehen, auch wenn es nicht ausgeschlossen ist, privater Vereinbarungen (a.a.O. S. 265 f.) durch ein Höchstgericht ist keine Untätigkeit, sondern Tätigkeit im hier verstandenen Sinne. 385 Vgl. EuGH v. 8.9.1994 – verb. Rs. C-363/93, C-407/93 bis C-411/93 Lancry u.a., Slg. 1994, I-3957 Rn. 44. 386 Statt vieler Rengeling/Middeke/Gellermann-Rengeling/Kotzur, EU-Rechtsschutz, 3. Aufl. 2014, § 3 Rn. 13; auch Köber, Kooperations- und Beschleunigungsmechanismen im Vorabentscheidungsverfahren, 2013, S. 241 f. 387 In diesem Sinne Everling, EuR 1994, 127, 138. 388 Lenaerts/Arts/Masels/Bray, Procedural Law of the European Union, 2. Aufl. 2006, Rn. 6-034.

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dass der Gerichtshof sich im Einzelfall von Rechtsansichten der Kommission beeinflussen lässt389. Der Grund für die Anerkennung der Schutzwürdigkeit solchen Vertrauens ist das Konzept der Verantwortlichkeit der Union, wie es oben erläutert wurde. Dass die Kommission darin eine besondere Rolle einnimmt, folgt aus ihrer zentralen Stellung im Gefüge der Unionsorgane. Die Kommission ist Organ der EU (Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2 SpS. 4 EUV) und am ordentlichen Gesetzgebungsverfahren mit einem Initiativrecht (Art. 294 Abs. 2 AEUV) beteiligt. Sie ist als Hüterin der Verträge zur Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren (Art. 258 Abs. 2 AEUV) und Gutachtenverfahren (Art. 218 Abs. 11 AEUV) berechtigt und für Nichtigkeitsklagen privilegiert klagebefugt (Art. 263 Abs. 1 AEUV). Ihr kommt eine besondere Stellung mit eigenen Ermessensspielräumen im Bereich des Wettbewerbs zu (Art. 103, 105 AEUV). Außerdem ist sie regelmäßig Verhandlungsführer bei internationalen Verträgen der Union (Art. 218 Abs. 3 AEUV). Aus diesen Kompetenzen leiten die Rechtsunterworfenen verständlicherweise einen besonderen Sachverstand und damit eine besondere Autorität im Hinblick auf Fragen des Unionsrechts ab. Daran wiederum knüpft die Anerkennung eines Irrtums an, unabhängig von der konkreten Ausgestaltung der Kommissionskompetenzen in dem fraglichen Rechtsgebiet390. aa) Tun Das relevante Verhalten der Kommission kann vorrangig in einem aktiven Tun bestehen. In der Rechtssache Blaizot maß der Gerichtshof einem wechselhaften und in der Sache unentschiedenen Verhalten der Kommission vertrauensbegründende Wirkung bei.391 Noch widersprüchlicher verhielt sich die Kommission im Hinblick auf den octroi de mer, wo sie ein bereits eingeleitetes Vertragsverletzungsverfahren nicht fortführte und später die streitige Abgabe sogar mittels eines Rechtsakts aufrechterhalten wollte, weil sie diese für einen „wichtige[n] Baustein der Autonomie und der lokalen Selbstverwaltung […] der überseeischen Departements“ hielt.392 Das begründete einen

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Diese Möglichkeit hebt hervor W.-H. Roth, RabelsZ 2011, 787, 814 f. So weist Crisham, CMLRev 14 (1977), 108, 115 zu Recht darauf hin, dass die Kommission im für das Defrenne II-Urteil maßgeblichen Bereich der Sozialpolitik nur eine beratende und koordinierende Funktion hatte. 391 EuGH v. 2.2.1988 – Rs. 24/86 Blaizot, Slg. 1988, 379 Rn. 32. 392 EuGH v. 17.7.1992 – Rs. C-163/90 Legros u.a., Slg. 1992, I-4625 Rn. 32. Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 152 will vor allem auf das Nichtweiterverfolgen des Vertragsverletzungsverfahrens und die sich anschließende Billigung des mitgliedstaatlichen Verhaltens abstellen. 390

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Rechtsirrtum ebenso wie die Anerkennung einer nationalen Steuerregelung in den Beitrittsverhandlungen mit zukünftigen Mitgliedstaaten.393 Die Handlungen müssen nicht in Form eines Rechtsakts ergehen. Vertrauensbegründende Rechtsansichten können sich aus jedem zurechenbaren Verhalten ergeben. Den Mitgliedstaaten steht daher die Möglichkeit offen, streitbare nationale Regelungen der Kommission zur Prüfung vorzulegen. Eine etwaige Antwort ist in besonderem Maße geeignet, Vertrauen zu schaffen.394 Dies spielte zum Beispiel in der Rechtssache Stradasfalti eine Rolle, in welcher sich der Mitgliedstaat im Ergebnis nur deshalb nicht auf einen Irrtum berufen konnte, weil andere Stellen der Union etwaiges Vertrauen wirksam zerstört hatten.395 Dem steht nicht entgegen, dass die Kommission grundsätzlich keine Garantien für die Unionsrechtmäßigkeit einer nationalen Maßnahme abgeben kann396. Stellungnahmen der Kommission – auch im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens – können die Rechte von Individuen weder begründen noch ausschließen, denn nur der Gerichtshof ist dazu berufen, eine unionsrechtliche Vorschrift auszulegen.397 Deshalb entfällt auch die Vorlagepflicht eines Gerichts nicht, wenn die Kommission ein gegen die streitentscheidende Norm gerichtetes Vertragsverletzungsverfahren einstellt.398 Damit ist jedoch nur verneint, dass Aussagen der Kommission als Interpretationsmittel heranzuziehen sind. Als vertrauensbegründende Rechtsansicht können und müssen sie Beachtung finden.399 Dieser Unterschied zeigt sich auch dort, wo die Kommission letztverbindliche Entscheidungskompetenzen hat oder sich selbst rechtlich binden und damit das Recht gestalten kann. Ersteres ist beispielsweise bei Ermessensentscheidungen oder Beurteilungsspielräumen der Kommission der Fall. Hier kann Vertrauen nicht durch den EuGH enttäuscht werden, weil und soweit 393 EuGH v. 9.3.2000 – Rs. C-437/97 Evangelischer Krankenhausverein Wien u.a., Slg. 2000, I-1157 Rn. 56. 394 GA Alber, SchlA v. 10.5.2001 – Rs. C-294/99 Athinaïki Zythopoiia AE, Slg. 2001, I-6797 Rn. 53; GA Jacobs, SchlA v. 17.3.2005 – Rs. C-475/03 Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373 Rn. 76. A.A. zum deutschen Recht Grunsky, Grenzen der Rückwirkung bei einer Änderung der Rechtsprechung, 1970, S. 13 „keine Unbedenklichkeitsbescheinigung“. 395 EuGH v. 14.9.2006 – Rs. C-228/05 Stradasfalti, Slg. 2006, I-8391 Rn. 73. 396 Schermers/Waelbroeck, Judicial Protection in the European Union, 6. Aufl. 2001, § 150. 397 EuGH v. 27.5.1981 – verb. Rs. 142/80 und 143/80 Essevi und Salengo, Slg. 1981, 1413 Rn. 16 f.; EuGH v. 22.2.2001 – Rs. C-393/98 Gomes Valente, Slg. 2001, I-1327 Rn. 18; Usher, ELRev 1981, 278, 279. 398 Kokott/Henze/Sobotta, JZ 2006, 633, 635. 399 Vorsichtig bejahend Balmes/Ribbrock, BB 2006, 17, 19; grundsätzlich ablehnend Müller, Die Begrenzung der zeitlichen Wirkungen von EuGH-Entscheidungen, 2009, S. 125 ff.

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ihm nur eine eingeschränkte Prüfungskompetenz zukommt.400 Die Ermessensausübung ist – in den für sie bestehenden Grenzen – nach hiesigen Kategorien Interpretationsmittel. Zweiteres spielt eine Rolle bei Zusagen durch die Kommission oder von ihr erstellten Leitlinien. Dort richtet sich der Vertrauensschutz konsequenterweise nach den vom EuGH entwickelten Grundsätzen für das Europäische Verwaltungsrecht.401 Soweit diese zu einer rechtlichen, inhaltlichen Bindung führen, zählen Zusagen und Leitlinien nicht zu den hier maßgeblichen Rechtsansichten. Soll eine geäußerte Rechtsansicht der Kommission Vertrauen begründen können, muss sie sich auf die konkret im Raum stehende Regelung beziehen. Es genügt daher nicht, dass die Kommission die Strukturprinzipien eines Normsystems gutheißt. Entscheidend ist, dass die Einzelregelungen des Systems und ihre Auswirkungen gebilligt wurden, denn der Teufel liegt allzu oft gerade im Detail.402 Ebenso dürfen sich die Rechtsunterworfenen nicht auf Aussagen zu (vergleichbaren) Regelungen anderer Mitgliedstaaten verlassen.403 Diese Strenge ließe sich durchaus noch rechtfertigen, wenn es nur darum geht, bei einer erkannt unzutreffenden Rechtsansicht der Kommission die „Gleichbehandlung im Unrecht„ auszuschließen. Die Möglichkeiten der Vertrauensbegründung werden jedoch auf inkohärente Weise begrenzt, wenn ablehnende Kommissionsentscheidungen zu vergleichbaren mitgliedstaatlichen Regelungen Vertrauen zwar zerstören, nicht aber begründen könnten. bb) Schweigen oder Untätigkeit Ob Schweigen der Kommission oder ihre Untätigkeit Vertrauen in eine bestimmte Rechtslage hervorrufen können, ist besonders umstritten. Ausgangspunkt der Diskussion ist das Urteil Defrenne II in dem der Gerichtshof den guten Glauben der Rechtsunterworfenen damit begründete, dass die Kommission entgegen ihrer Ankündigung keine Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hatte und auch sonst nur zögerlich bei der Durchsetzung von Art. 157 Abs. 1 AEUV (Art. 141 Abs. 1 EG/119 Abs. 1 EGV) agierte.404 Demgegenüber genügte es in der Rechtssache Essevi und Salengo nicht, dass die Kommission kein Vertragsverletzungsverfahren einleitete, weil sie in mehreren 400

Vgl. Fritzsche, CMLRev 47 (2010), 361, 367 ff. Eingehend Thomas, EuR 2009, 423, 426 ff.; v. Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, S. 525 ff.; zu Zusagen z.B. EuGH v. 24.3.2011 – Rs. C-369/09 P ISD Polska, Slg. 2011, I-2011 Rn. 123 m.w.N. aus der Rechtsprechung. 402 GA Geelhoed, SchlA v. 6.4.2006 – Rs. C-446/04 Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753 Rn. 146. 403 EuGH v. 27.2.2014 – Rs. C-82/12 Transportes Jordi Besora, ECLI:EU:C:2014:108 Rn. 46. 404 EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne II, Slg. 1976, 455 Rn. 71/73. 401

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Schreiben zumindest einen ständig wechselnden Standpunkt hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der im Streit stehenden Branntweinsteuer eingenommen hatte.405 Auch das Schweigen der Kommission auf eine Notation nach Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 79/7/EWG ließ der EuGH nicht ausreichen, da Notationspflichten grundsätzlich keine Pflicht zur Antwort auf die Erklärung oder Billigung der angezeigten Regelung enthielten und die Kommission ein Ermessen hinsichtlich der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens habe.406 In späteren Entscheidungen sah der Gerichtshof die Durchführung eines Vertragsverletzungsverfahrens lediglich als vertrauenszerstörend an.407 Auch Verzögerungen in einem bestehenden Vertragsverletzungsverfahren könnten dies nicht ändern, wenn die Kommission dabei nicht zum Ausdruck bringt, dass sie ihre Rechtsansicht geändert hat.408 Selbst ein Ruhen für mehr als 15 Jahre (!) genügt dann nicht.409 Ebenso sah der EuGH in der Rechtssache Cooke das Schweigen der Kommission auf schriftliche Anfragen des Mitgliedstaats nicht als vertrauensbildend an und kritische Äußerungen in bilateralen Sitzungen für schädlich.410 In einem neueren Urteil hat er sogar ausdrücklich festgestellt, dass die Nichteinleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens nicht als stillschweigende Billigung der streitgegenständlichen Vorschriften verstanden werden kann.411 Dieser Überblick zeigt, dass der Gerichtshof (mittlerweile) davon ausgeht, dass die bloße Untätigkeit nicht genügt, um Vertrauen zu begründen. Dies könnte man als Änderung oder Anpassung seiner Defrenne II-Rechtsprechung verstehen.412 Es liegt jedoch näher, die dortige Untätigkeit in Beziehung zu setzen zum übrigen, mehrdeutigen Verhalten der Kommission und ihrer ausdrücklichen Ankündigung413, gegen säumige Mitgliedstaaten dem-

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EuGH v. 27.5.1981 – verb. Rs. 142/80 und 143/80 Essevi und Salengo, Slg. 1981, 1413 Rn. 34. 406 EuGH v. 19.10.1995 – Rs. C-137/94 Richardson, Slg. 1995, I-3407 Rn. 35. 407 EuGH v. 12.9.2000 – Rs. C-359/97 Kommission ./. Großbritannien und Nordirland, Slg. 2000, I-6355 Rn. 93; vgl. auch GA Wahl, SchlA v. 24.10.2013 – Rs. C-82/12 Transportes Jordi Besora, ECLI:EU:C:2013:694 Rn. 57. 408 EuGH v. 12.9.2000 – Rs. C-359/97 Kommission ./. Großbritannien und Nordirland, Slg. 2000, I-6355 Rn. 94. 409 EuGH v. 15.12.2009 – Rs. C-239/06 Kommission ./. Italien, Slg. 2009, I-11913 Rn. 59; EuGH v. 15.12.2009 – Rs. C-387/05 Kommission ./. Italien, Slg. 2009, I-11831 Rn. 59. 410 EuGH v. 12.10.2000 – Rs. C-372/98 Cooke, Slg. 2000, I-8683 Rn. 44. 411 EuGH v. 29.7.2010 – Rs. C-577/08 Brouwer, Slg. 2010, I-7485 Rn. 25, 39. 412 So gefordert von Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 54. 413 Vgl. EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne II, Slg. 1976, 455 Rn. 51.

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nächst Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten.414 Es war dann vielmehr ausschlaggebend, dass die Warnung der Kommission (entsprechend dem Wortlaut von Art. 119 EGV [jetzt Art. 157 AEUV]) an die Mitgliedstaaten gerichtet war und nicht an die vom Urteil betroffenen privaten Arbeitgeber.415 Grundsätzlich darf dem bloßen Schweigen der Kommission keine Rechtsansicht entnommen werden.416 Soweit die Kommission nicht rechtlich zur Vornahme einer Handlung verpflichtet ist, hat deren Unterlassen keinen Erklärungswert. Anders ist dies nur bei beredtem Schweigen,417 welches sich wie in Defrenne II aus gegensätzlichem Verhalten ergeben kann. Der Kommission kommt hinsichtlich der Verfolgung von Vertragsverstößen ein Ermessen zu, welches sie auch im Hinblick auf verfügbare Ressourcen oder Kooperationsbereitschaft der Mitgliedstaaten ausüben kann.418 Eines besonderen Grundes für die Nichtweiterführung eines Verfahrens bedarf es nicht, wobei es behauptetem Vertrauen zusätzlich abträglich ist, wenn die Unterbrechung darauf beruht, dass der Mitgliedstaat angekündigt hat, dem Verlangen der Kommission nachzukommen.419 Auch auf Anfragen zur Rechtmäßigkeit von nationalen Vorschriften muss sie nicht sofort oder überhaupt reagieren420 und notifizierte Regelungen nicht prüfen und entsprechende Verfahren einleiten.421 Ausnahmen bestehen nur, soweit Fristen bestimmt sind; solche enthal-

414 Auf letzteres scheint auch GA Tizzano, SchlA v. 10.11.2005 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Rn. 37 abzustellen: „Somit hat die Kommission ihren Warnungen während eines beträchtlichen Zeitraums keine Taten folgen lassen.“. 415 van der Stok/Thomson, Intertax 34 (2006), 552, 555. 416 Wiedmann, EuZW 2007, 692, 693; kritisch auch Thömmes, IWB 2006, 375, 379; Vath, Die fremdenrechtlichen Regelungen des deutschen Urheberrechts und das EGDiskriminierungsverbot nach der „Phil Collins-Entscheidung“ des Europäischen Gerichtshofes vom 20. Oktober 1993, 1998, S. 114. 417 GA Sharpston, SchlA v. 22.6.2006 – Rs. C-228/05 Stradasfalti, Slg. 2006, I-8391 Rn. 93; Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 133 f.; Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 151. 418 GA Stix-Hackl, SchlA v. 5.10.2006 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Rn. 51 f.; Broberg/Fenger, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union, 2014, S. 398; Rengeling/Middecke/Gellermann-Burgi, EURechtsschutz, 3. Aufl. 2014, § 6 Rn. 25; Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 55 m.w.N.; auch schon Crisham, CMLRev 14 (1977), 108, 115 f. 419 Vgl. die Sachverhaltsschilderungen zur Rs. Meilicke bei Balmes/Ribbrock, BB 2006, 17, 19. 420 GA Sharpston, SchlA v. 21.9.2006 – Rs. C-313/05 Brzezinski, Slg. 2007, I-513 Rn. 86. 421 GA Elmer, SchlA v. 13.7.1995 – Rs. C-137/94 Richardson, Slg. 1995, I-3407 Rn. 36. Eine Ausnahme dazu besteht beispielsweise im Beihilferecht hinsichtlich der Rückforderung von ordentlich angemeldeten und lange Zeit unbeanstandet gebliebenen

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ten jedoch regelmäßig eine eigene Rechtsfolgenanordnung.422 Daher besteht spiegelbildlich auch keine Pflicht einzelner oder aller Mitgliedstaaten, auf eine Klärung der Rechtslage hinzuwirken, um in den Genuss einer Rückwirkungsbeschränkung zu kommen.423 Weiterhin würde die Berücksichtigung bloßer Untätigkeit die Mitgliedstaaten dazu veranlassen, Mahnungen der Kommission hinsichtlich Vertragsverletzungen zu ignorieren, um bei einer etwaigen Untätigkeit Vertrauensschutz geltend machen zu können.424 Die Mahnung der Kommission würde dann sogar vertrauensbegründend wirken.425 cc) Zusammenfassung Eindeutige Aussagen dazu, was vertrauensbegründendes Verhalten durch die Kommission sein kann, fallen schwer. Der Gerichtshof zieht hierbei alle Umstände des Einzelfalles heran und kommt nicht selten zu anderen Ergebnissen als die Generalanwälte. Festhalten lassen sich die folgenden Eckpunkte: Die bloße Untätigkeit der Kommission genügt nicht. Erforderlich ist regelmäßig ein positives Tun, dem eine Rechtsansicht zu entnehmen ist. Inhaltlich muss die Kommission zum Ausdruck bringen, dass sie die konkrete streitgegenständliche Regelung für unionskonform hält. Da ihr grundsätzlich keine Kompetenzen zur Gestaltung der Rechtslage zukommen (und dies auch allgemein bekannt ist), kann es nicht darauf ankommen, ob die Kommission in der Vergangenheit liegende Verstöße legitimieren wollte.426 Bei Änderungen in der Meinung der Kommission ist es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs unerheblich, dass die Kommission, die nationale Maßnahme erst als rechtswidrig und später als rechtmäßig ansah. Dies kann in Abhängigkeit der Umstände des Einzelfalls sowohl zu einer Rückwirkungsbeschränkung als auch deren Verneinung führen.427 Etwas anders liegt Beihilfen, vgl. Schermers/Waelbroeck, Judicial Protection in the European Union, 6. Aufl. 2001, § 150 Fn. 386 m.w.N. 422 Siehe z.B. Art. 10 Abs. 1 UAbs. 1, Abs. 5 VO Nr. 139/2004 (Fusionskontrollverordnung), ABl. L 24/1 v. 29.1.2004. 423 A.A. Seer/Müller, IWB 2008, 255, 261; Kokott/Henze, NJW 2006, 177, 180. Diese Ansicht verträgt sich auch nicht mit der Prämisse, dass die Rückwirkungsbeschränkung gegenüber allen Mitgliedstaaten wirkt und deshalb nicht vom Verhalten einzelner Mitgliedstaaten abhängig sein darf. 424 Klein, IStR 2006, 209, 210; Frenz/Kühl, DStZ 2009, 432, 436; wortgleich Frenz, Handbuch Europarecht, Band 5, 2010, Rn. 3420. 425 Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 55. 426 So aber wohl Balmes/Ribbrock, BB 2006, 17, 19. 427 EuGH v. 17.7.1992 – Rs. C-163/90 Legros u.a., Slg. 1992, I-4625 bzw. EuGH v. 27.5.1981 – verb. Rs. 142/80 und 143/80 Essevi und Salengo, Slg. 1981, 1413. A.A. Klappstein, Die Rechtsprechungsänderung mit Wirkung für die Zukunft, 2009, S. 201 f.

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es, wenn die Kommission erst von der Rechtmäßigkeit und später von der Rechtswidrigkeit ausging. Hier kam es immer zur Gewährung von Vertrauensschutz.428 Unabhängig von der Frage des Zeitpunkts der Rückwirkungsbeschränkung, die mit einer solchen Änderung der Rechtsansicht der Kommission einhergeht,429 erscheint es problematisch, eine anfängliche Ablehnung der Kommission noch in guten Glauben umwandeln zu können. Jedoch bliebe dann unberücksichtigt, dass die Kommission sich beispielsweise der Sachargumentation eines Mitgliedstaats angeschlossen haben könnte.430 e) Verhalten des Rates (Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2 SpS. 3 EUV) Verhalten des Rates kann ebenfalls vertrauensbegründend sein. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf seiner Tätigkeit als Gesetzgebungsorgan. Soweit Sekundärrecht nicht selbst Interpretationsgegenstand für die streitige Rechtsfrage ist, stellt es eine sehr starke Rechtsansicht bei der Auslegung von Primärrecht oder anderem (höherrangigen) Sekundärrecht dar. In der Rechtssache Barber hat der Gerichtshof ausschließlich mit der Berufung auf Ausnahmevorschriften in den Richtlinien des Rates 79/7/EWG und 86/378/EWG den guten Glauben in ein Art. 157 Abs. 1 AEUV widersprechendes Verhalten anerkannt.431 Genau diese Argumentation wendete er später auch in der Rechtssache Coloroll Pension Trustees an.432 Der Rat setzt sich aus Vertretern der Mitgliedstaaten zusammen und besteht damit gleichsam aus den „Herren der Verträge“. Es liegt die Vermutung nahe, dass die Mitgliedstaaten sich nicht in ihrer Tätigkeit im Rat in Widerspruch zu ihrer Tätigkeit als Vertragsgeber setzen werden. Gleichzeitig strahlt die jedem Rechtsakt zukommende Gültigkeitsvermutung auch auf die Relevanz als Rechtsansicht zur Auslegungsrückwirkungsbeschränkung aus. Denn die Rechtsadressaten sollen nicht belastet werden, wenn sie einer Unionsnorm gefolgt sind.433 Dies gilt umso mehr, wenn Sekundärrecht auch auf die Auslegung von Primärrecht ausstrahlen kann.434 428 EuGH v. 2.2.1988 – Rs. 24/86 Blaizot, Slg. 1988, 379 und EuGH v. 9.3.2000 – Rs. C-437/97 Evangelischer Krankenhausverein Wien u.a., Slg. 2000, I-1157. 429 Dazu unten § 6 B.II.6., S. 216 ff. 430 Das war der Fall in EuGH v. 17.7.1992 – Rs. C-163/90 Legros u.a., Slg. 1992, I-4625. 431 EuGH v. 17.5.1990 – Rs. C-262/88 Barber, Slg. 1990, I-1889 Rn. 42; Huep, Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf ältere Sachverhalte, 2001, S. 88. Vgl. auch EuGH v. 24.10.1996 – Rs. C-435/93 Dietz, Slg. 1996, I-5223 Rn. 19, wo der Gerichtshof noch einmal ausdrücklich bestätigt, dass die Bestimmung der RL 86/378/EWG maßgeblich war. 432 EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-200/91 Coloroll Pension Trustees, Slg. 1994, I-4389 Rn. 53. 433 Hyland, IJLS 2 (1995), 208, 219. 434 Vgl. die Nachweise oben § 6 Fn. 300.

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Dennoch kommt Rechtsakten keine absolute Vertrauensgrundlage zu, da schon die Existenz der Unwirksamkeitsverfahren voraussetzt, dass Widersprüche zwischen Sekundärrecht und Primärrecht vorkommen können.435 Soweit solche für die betroffenen Rechtsadressaten erkennbar sind, scheidet guter Glaube aus. So maß der Gerichtshof in der Rechtssache Defrenne II der zuvor erlassenen Richtlinie 75/117/EWG nicht ausdrücklich eine irrtumsbegründende Wirkung bei.436 Noch deutlicher zeigt sich in Legros und Lancry, bei denen er dem Erlass der Entscheidung 89/688/EWG keine Wirkung zukommen ließ,437 dass Ausnahmen bestehen können. Relevante Aussagen des Rates können sich nicht nur in Rechtsakten, sondern in jedem zurechenbaren Verhalten finden. In Betracht kommen Aussagen in bilateralen Gesprächen oder Verhandlungen438, öffentlichen Erklärungen oder Stellungnahmen439 sowie anlässlich von Vorarbeiten für Rechtsakte geäußerte Rechtsansichten. Aus dem Scheitern von Gesetzgebungsvorhaben im Rat lässt nur dann etwas für den guten Glauben entnehmen, wenn Rückschlüsse auf das Verständnis des sonstigen Rechts insbesondere des Primärrechts gezogen werden können. Dies ist z.B. nicht der Fall, wenn die Ablehnung eines Sekundärrechtsakts nicht aufgrund von Bedenken gegen dessen Primärrechtswidrigkeit erfolgt, sondern nur die Beibehaltung einer durch diesen verbotenen (Steuer-)Regelung bezweckt. f) Verhalten des Europäischen Parlaments (Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2 SpS. 1 EUV) Wegen seiner Funktion als gesetzgebendes Organ muss das Europäische Parlament hinsichtlich des Unionssekundärrechts wie der Rat behandelt werden. In Bezug auf den Inhalt des Primärrechts ist die Vertrauensgrundlage hingegen schwächer als bei jenem, denn das Parlament setzt sich nicht aus Vertretern der „Herren der Verträge“ zusammen. Wie bei Rat und Kommission können Rechtsansichten des Parlaments nicht nur in Rechtsakten oder entsprechenden Materialien, sondern in allen zurechenbaren Äußerungen enthalten sein. 435

Weitergehend Berenz, NZA 1994, 433, 436. Kritisch daher Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 49, der allerdings auf EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne II, Slg. 1976, 455 Rn. 67 verweist, wo der Gerichtshof jedoch nur Auswirkungen der Richtlinie auf die Auslegung von Art. 157 Abs. 1 AEUV verneint. 437 EuGH v. 17.7.1992 – Rs. C-163/90 Legros u.a., Slg. 1992, I-4625 Rn. 32; EuGH v. 8.9.1994 – verb. Rs. C-363/93, C-407/93 bis C-411/93 Lancry u.a., Slg. 1994, I-3957 Rn. 44. 438 Hierbei gelten freilich die oben (3.a), S. 174) genannten Einschränkungen zum Öffentlichkeitserfordernis. 439 Vgl. auch Herdegen, ZHR 155 (1991), 52, 62 ff. 436

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g) Verhalten anderer Organe oder Stellen der Union Ungeklärt ist, ob auch Verhalten anderer Organe oder Stellen der Union Vertrauen begründen kann. aa) Europäische Zentralbank (Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2 SpS. 6 EUV) Die Europäische Zentralbank soll die Preisstabilität gewährleisten, Art. 127 Abs. 1 S. 1 AEUV. Dazu dienen ihr Anhörungsrechte oder Stellungnahmen als Mittel, Art. 127 Abs. 4 AEUV. Die Europäische Zentralbank ist zentrales Organ der Währungspolitik440 der Union mit der Kompetenz, Verordnungen zu erlassen (Art. 132 Abs. 1 AEUV). Ihr besonderes Ansehen in diesem Bereich spricht dafür, ihren Rechtsansichten insoweit die Wirkung zuzusprechen, grundsätzlich guten Glauben hervorrufen zu können. Die primärrechtlich garantierte Weisungsfreiheit der Zentralbank und ihrer Organmitglieder, Art. 130 AEUV, stellt die notwendige Objektivität der Rechtsansichten sicher. Für deren erforderliche Verbreitung in der gesamten Union sorgt die von Art. 132 Abs. 2 AEUV ermöglichte Veröffentlichung der Stellungnahmen, Beschlüsse und Empfehlungen der Europäischen Zentralbank. bb) Rechnungshof (Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2 SpS. 7 EUV) Für eine Berücksichtigung des Rechnungshofs ließe sich anführen, dass dieser durch die Vertragsänderungen von Lissabon in die Reihe der primären oder Hauptorgane441 aufgestiegen ist. Diese stehen an der Spitze aller Unionseinrichtungen und sind einander gleichrangig.442 Auch sind die Mitglieder weisungsunabhängig vergleichbar der Europäischen Zentralbank, Art. 285 UAbs. 2 AEUV. Für die mit der Rechnungslegung in Verbindung stehenden Rechtsbereiche dürfte dem Rechnungshof eine ähnliche Expertise und Stellung zukommen wie der Europäischen Zentralbank hinsichtlich der Währungspolitik. cc) Europäischer Rat (Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2 SpS. 2 EUV) Auch der Europäische Rat ist zwar Organ nach Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2 SpS. 2 EUV, was für seine Berücksichtigung spricht. Da er jedoch nur ein politisches Organ ist, vgl. Art. 15 Abs. 1 EUV, dürfte es seinen Äußerungen re440

Grabitz/Hilf/Nettesheim-Palm, Das Recht der Europäischen Union, 51. EL 2013, Art. 282 AEUV Rn. 1. 441 Die Begrifflichkeiten beruhen auf Calliess/Ruffert-Calliess, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 13 EUV Rn. 4 ff.; jener im Anschluss an Hilf, Die Organisationsstruktur der europäischen Gemeinschaften, 1982, S. 13 ff. 442 Calliess/Ruffert-Calliess, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 13 EUV Rn. 4; Grabitz/Hilf/Nettesheim-Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 51. EL 2013, Art. 13 EUV Rn. 5.

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

gelmäßig an Objektivität fehlen. Des Weiteren fehlt ihm eine besondere Sachnähe zu Rechtsfragen des Unionsrechts oder entsprechende Sachkunde. Rechtsansichten des Europäischen Rates sind daher grundsätzlich ungeeignet, die Verantwortlichkeit der Union auszulösen. dd) Andere Einrichtungen der untergeordneten Organisationsstrukturen Unsicher ist weiterhin, ob die Organeigenschaft als Mindestvoraussetzung einer Zurechnung anzusehen ist. Dagegen könnte sprechen, dass der Gerichtshof anhaltende Kritik des Beratenden Ausschusses für die Mehrwertsteuer (Mehrwertsteuerausschuss)443 an einer mitgliedstaatlichen Steuerregelung als vertrauenszerstörend angesehen hat.444 Ein einheitliches Verhalten müsste dann in beiden Richtungen, also auch vertrauensbegründend – als effectus contrarius – zu berücksichtigen sein. (1) Beratender Ausschuss für die Mehrwertsteuer Der Mehrwertsteuerausschuss gehört zu den tertiären Verwaltungsinstitutionen, zeichnet sich aber durch eine der Kommission vergleichbare Stellung im Hinblick auf das Mehrwertsteuerrecht aus. Zum einen besteht er aus Vertretern der Mitgliedstaaten und der Kommission, Art. 398 Abs. 2 RL 2006/112/ EG. Zum anderen kommt ihm eine große Sachkompetenz im Hinblick auf das Mehrwertsteuerrecht zu. Seine vorrangige Aufgabe ist die Prüfung von Anwendungsfragen von unionsrechtlichem Mehrwertsteuerrecht auf Vorlage des Vorsitzenden oder eines Mitgliedstaates, Art. 398 Abs. 4 RL 2006/112/EG, oder im Rahmen der zwingenden Konsultationsverfahren nach Art. 398 Abs. 4 RL 2006/112/EG445. Seine einstimmigen Entscheidungen werden als Leitlinien des Mehrwertsteuerausschusses veröffentlicht.446 Obgleich auch ihnen keine rechtliche Bindung zukommt, sind sie mit hoher Autorität ausgestattet.447 Das Konsultationsverfahren dient nämlich gerade der Vermeidung von Rechtsstreitigkeiten und der gütlichen Einigung sowie der einheitlichen Anwendung des unionalen Mehrwertsteuerrechts.448 Der Mehrwertsteueraus-

443

Siehe Art. 398 RL 2006/112/EG (Mehrwertsteuersystemrichtlinie); früher Art. 29 RL 77/388/EWG (Sechste Umsatzsteuerrichtlinie). 444 EuGH v. 14.9.2006 – Rs. C-228/05 Stradasfalti, Slg. 2006, I-8391 Rn. 73. 445 I.V.m. Art. 11, 27, 155, 164, 177, 191, 238, 281, 318, 352 RL 2006/112/EG. 446 Zu finden unter ; mangelnde Transparenz wurde noch gerügt von Widmann, UR 2006, 709, 710 und GA Kokott, SchlA v. 12.5.2005 – Rs. C-41/04 Levob Verzekeringen und OV Bank, Slg. 2005, I-9433 Rn. 25 f. 447 GA Kokott, SchlA v. 31.1.2013 – Rs. C-155/12 RR Donnelly Global Turnkey Solutions, ECLI:EU:C:2013:57 Rn. 47 ff. 448 Vgl. BE 58 der RL 2006/112/EG.

§ 6 Der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung

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schuss kann daher guten Glauben begründen, soweit es um Fragen des Mehrwertsteuerrechts geht. (2) Sekundäre Organisationsstrukturen Ob diese Bewertung wiederum auf die Einrichtungen der sekundären Organisationsstruktur449 übertragbar ist, kann nicht pauschal entschieden werden. Dafür spricht, dass diese in der Hierarchie über dem Mehrwertsteuerausschuss stehen. Die Eignung des Ausschusses begründet sich hingegen entscheidend auf der spezifischen Funktion auch als Streitbeilegungsstelle. (3) Agenturen Auf derselben Stufe wie der Beratende Ausschuss für die Mehrwertsteuer stehen die sogenannten Agenturen der Europäischen Union. Gegen ihre Einbeziehung spricht schon, dass so der Kreis der Zurechnungssubjekte unabsehbar weit gezogen wird, da derzeit ca. 40450 solcher Einrichtungen bestehen. Anderenfalls verlöre das Kriterium der EuGH-Gleichheit komplett an Abgrenzungskraft. Den Agenturen fehlt es regelmäßig an der überparteilichen und streitschlichtenden Stellung, wie sie z.B. noch den Mehrwertsteuerausschuss kennzeichnete. Außerdem sind die meisten Agenturen reine Verwaltungseinrichtungen, die oft nur kleine Einzelbereiche des Unionsrechts abdecken.451 Eine Ausnahme könnte allenfalls hinsichtlich der sogenannten Regulierungsagenturen bestehen, soweit diese der Kommission vergleichbare Entscheidungsaufgaben wahrnehmen.452 h) Verhalten der Mitgliedstaaten Ein weiterer großer Streitpunkt ist die Frage, ob Verhalten der Mitgliedstaaten Vertrauen auslösen kann. Der Gerichtshof scheint sich hier darauf festgelegt zu haben, dass dies möglich ist. In seinem Obersatz für die Prüfung des guten Glaubens nimmt der EuGH auf die Mitgliedstaaten Bezug, wenn er ausführt, dass zu dem Rechtsirrtum „gegebenenfalls auch das Verhalten anderer Mitgliedstaaten oder der Kommission beigetragen hatte“453. Dem schließt sich die Literatur größtenteils an.454 Zur Begründung könnte man sich darauf 449

Zu Begriff und Beispielen Calliess/Ruffert-Calliess, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 13 EUV Rn. 6. 450 Görisch, JURA 2012, 42; Brenner, FS Rengeling, 2008, S. 193, 196. 451 Görisch, JURA 2012, 42. 452 Zu dieser Abgrenzung z.B. Groß, EuR 2005, 54, 56 ff.; Calliess, FS Europa-Institut, 2011, S. 67, 68 f.; jeweils m.w.N. 453 Siehe die Nachweise in § 6 Fn. 188. 454 Z.B. Wiedmann, EuZW 2007, 692, 695; Lenaerts/Arts/Masels/Bray, Procedural Law of the European Union, 2. Aufl. 2006, Rn. 6-034; Fraberger, Wirkung von EuGH-Urteilen und Rechtskraftdurchbrechung im Abgabenverfahren, 2000, S. 151, 155; Herresthal,

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

stützen, dass die Mitgliedstaaten Determinanten des Unionsrechts sind. Sie sind Schöpfer des Primärrechts und über ihre Vertreter im Rat mittelbar auch Schöpfer des Sekundärrechts, wenngleich diese Bedeutung mit der stärkeren Beteiligung des Europäischen Parlaments im Gesetzgebungsverfahren verwässert wurde. Danach käme die Äußerung einer Rechtsansicht aller Mitgliedstaaten in die Nähe der authentischen Interpretation. Die Aussage des EuGH ist jedoch in ihrer Bedeutung erst einmal zu relativieren. Im Rahmen der unionsrechtlichen Rückwirkungsbeschränkung bezieht sich das Vertrauen nicht auf den einzelnen Mitgliedstaat. Maßgeblich ist nicht, welche Rechtslage er hatte oder wie eindeutig diese war. Zu Recht überging der Gerichtshof daher den Vortrag eines Mitgliedstaats, vor seinen nationalen Gerichten seien keine ähnlichen Rechtsstreitigkeiten anhängig gewesen und er befinde sich daher im Irrtum.455 Entscheidend ist vielmehr, ob aus dem Verhalten mehrerer (idealerweise der überwiegenden Zahl der) Mitgliedstaaten eine Aussage über deren Verständnis des Unionsrechts abzuleiten war. Ansonsten würde der Mitgliedstaat allein durch seine eigene Fehlauslegung begünstigt werden.456 Die bloße Beibehaltung von schon bestehenden nationalen Regelungen, insbesondere Steuerregelungen, enthält eine solche Rechtsansicht jedenfalls noch nicht. Das Verhalten muss vielmehr auf unionsrechtlicher Ebene stattfinden und unionsbezogen institutionalisiert sein.457 Rechtsansichten, die von den nationalen Gerichten oder Verwaltungen geäußert werden, sind daher, selbst wenn sie sich auf Unionsrecht beziehen, irrelevant.458 Sie erreichen auch gar nicht die erforderliche territoriale Wirkung in der gesamten EU. Insofern ist die vielzitierte Defrenne II-Entscheidung ein sehr instruktives Beispiel. Dort hatten die Mitgliedstaaten nicht lediglich diskriminierende Regelungen beibehalten. Sie hatten vielmehr auf einer Konferenz der MitRechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, 2006, S. 293 f.; Sagan, JJZ 2010, 67, 71 ff.; wohl auch Wank, EuZA 2011, 286, 287; im Ergebnis a.A. Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 59; Müller, Die Begrenzung der zeitlichen Wirkungen von EuGHEntscheidungen, 2009, S. 141 f.; wohl auch Bieback, ZESAR 2008, 296, 300. Differenzierend Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 139 und Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 159, der insoweit darauf abstellt, dass der Gerichtshof auf das Verhalten der „anderen“ Mitgliedstaaten verweist. 455 EuGH v. 29.7.2010 – Rs. C-577/08 Brouwer, Slg. 2010, I-7485 Rn. 25. 456 Schlachter, ZfA 2007, 249, 267. 457 Das klingt an bei Hervey, Legal Issues concerning the Barber Protocol, 1994, S. 329, 333. 458 A.A. GA Trstenjak, SchlA v. 17.6.2010 – Rs. C-229/09 Hogan Lovells International, Slg. 2010, I-11335 Rn. 100 i.V.m. Rn. 96 und 84 in Bezug auf die Praxis der nationalen Patentstellen zur Anwendung der Richtlinie 91/414/EWG und der Verordnung Nr. 1610/96.

§ 6 Der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung

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gliedstaaten eine Entschließung über die Konkretisierung des Norminhalts und über eine Fristverlängerung gefasst459 und als Ratsmitglieder eine Richtlinie zur schrittweisen Umsetzung des Art. 157 Abs. 1 AEUV erlassen460. An diese Besonderheiten knüpfte der EuGH bei seiner Prüfung des guten Glaubens an. Dem steht auch die Formulierung in den Urteilsgründen nicht entgegen, wonach „dem Umstand Rechnung zu tragen [ist], dass die [b]etroffenen [Arbeitgeber] dazu veranlasst wurden, lange Zeit Praktiken beizubehalten, die (…) nach ihrem nationalen Recht nicht verboten waren“.461 Die Bezugnahme auf das nationale Recht ist in späteren Entscheidungen nicht wiederholt worden. Sie scheint – in der ersten Entscheidung zur Rückwirkungsbeschränkung bei Auslegungsvorabentscheidungen – vor allem noch die Interessenlage zu veranschaulichen. Der Umstand, dass das Verhalten der Rechtssubjekte nicht nach nationalem Recht verboten war, eignet sich überhaupt nicht zur Abgrenzung von besonders schutzwürdigem Vertrauen. Das Verhalten der Rechtsunterworfenen ist regelmäßig im Einklang mit dem nationalen Recht; anderenfalls könnte die nationale Rechtslage überhaupt nicht gegen die unionsrechtlichen Vorgaben angeführt werden. Deshalb genügt es nicht, wenn die Mitgliedstaaten (oder einzelne mitgliedstaatliche Gerichte) einer bestimmten Auslegung des Unionsrechts zu folgen scheinen. Es muss sich ein gemeinsames Verständnis nach außen artikulieren. Dies kann beispielsweise durch gemeinsame Protokollerklärungen zum Primär- oder Sekundärrecht erfolgen.462 Bezugspunkt muss das Unionsrecht und dessen Auslegung sein. Bedenklich ist daher die Begründung des EuGH in der Rechtssache C-359/97, wonach ein Irrtum u.a. nicht besteht, weil „die Mehrheit der Mitgliedstaaten, in denen es gebührenpflichtige Straßenanlagen gibt, die Maut für die Straßenbenutzung der Mehrwertsteuer [unterwirft]“463. Hier verneint der Gerichtshof zwar nur den guten Glauben, er erweckt aber auch den Eindruck, der Umkehrschluss vom einheitlichen Verhalten der Mitgliedstaaten auf das Vorliegen von gutem Glauben sei zulässig. Gemeint war nach hiesiger Lesart jedoch nur, dass sich dem Mitgliedstaat Zweifel an seinem eigenen Rechtsverständnis aufdrängen mussten. Und Zweifel stehen bekanntermaßen dem guten Glauben entgegen. Noch über diese Klarstellungen hinaus ist das Hervorrufen eines Irrtums durch Verhalten einzelner oder mehrerer Mitgliedstaaten mit dem hier erarbeiteten Konzept der Rückwirkungsbeschränkung unvereinbar. Die Vertrauensveranlassung korreliert mit den Maßstäben der Unionsverantwortlichkeit und der territorialen Reichweite der Rückwirkungsbeschränkung. Die uniona459

Vgl. EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne II, Slg. 1976, 455 Rn. 47/48. Vgl. EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne II, Slg. 1976, 455 Rn. 53/55. 461 A.A. Sagan, JJZ 2010, 67, 80. 462 Vgl. auch Herdegen, ZHR 155 (1991), 52, 57 ff. 463 EuGH v. 12.9.2000 – Rs. C-359/97 Kommission ./. Großbritannien und Nordirland, Slg. 2000, I-6355 Rn. 93. 460

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le Rückwirkungsbeschränkung erfasst alle Mitgliedstaaten in gleicher Weise, wofür insbesondere der Grundsatz der einheitlichen Geltung des Unionsrechts und das Bedürfnis der Gleichbehandlung der Mitgliedstaaten streiten. Irrtumsveranlassung durch die Mitgliedstaaten liefe entweder auf eine räumlich uneinheitliche Geltung hinaus oder würde die Anwendung des Unionsrechts von der jeweils unionsrechtsfeindlichsten Auslegung durch die Mitgliedstaaten abhängig machen. Zwar wird zu Recht eingewendet, dass die nationalen Gerichte funktionell auch Unionsgerichte sind, wenn sie Unionsrecht (inzident) auslegen und ihm zur Durchsetzung verhelfen, und die Mitgliedstaaten eigene Umsetzungsaufgaben erfüllen.464 Dennoch sind die Mitgliedstaaten als solche keine Organe, Institutionen oder Stellen der Union und ihr Verhalten kann der EU nicht ohne weiteres zugeordnet werden. Darüber hinaus kann keine Aussage eines nationalen Untergerichts einen unionsweiten Irrtum begründen; es fehlt ihr schon an der öffentlichen Wahrnehmbarkeit. Zudem würde anderenfalls das Unionsrecht mittelbar unter den Vorbehalt des Verständnisses jedes beliebigen Gerichts in der gesamten Europäischen Union gestellt. Wollte man dem entgehen und die Eignung zur Irrtumsveranlassung erst letztinstanzlichen oder Höchstgerichten zugestehen, käme es über die Vorlagepflicht aus Art. 267 Abs. 3 AEUV letztlich doch auf den EuGH an. Nur in Fällen eines acte clair würden die nationalen Gerichte dann überhaupt noch ohne Beteiligung des Gerichtshofs im unionsrechtlich determinierten Bereich entscheiden. Dass die für Ausnahmen von der Vorlagepflicht entwickelte Doktrin durch die Kombination mit Vertrauensschutzerwägungen zu einer ihn bindenden, permanenten unionsweiten Beschränkung der Geltung des Unionsrechts führt, dürfte der EuGH hingegen nicht beabsichtigt haben. Durch die Begrenzung auf Unionsstellen wird freilich der Raum für eine Rückwirkungsbeschränkung verengt.465 Die Vorteile für die einheitliche Geltung des Unionsrechts und die konzeptionelle Geschlossenheit überwiegen jedoch deutlich. Der Konflikt von nationalem Verständnis und tatsächlichem Inhalt des Unionsrechts wird nicht im Rahmen des guten Glaubens oder allgemein der Rückwirkungsbeschränkung relevant, sondern erst im Verhältnis zu den einzelnen Mitgliedstaaten auf der Ebene der Kollisionslösung. i) Sonstige Rechtsansichten (Private, Verbände, Wissenschaft, nationale Gerichte und Behörden) Sonstige Rechtsansichten können keine geschützte Überzeugung von der Unionsrechtskonformität veranlassen.

464 Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, 2006, S. 294; Sagan, JJZ 2010, 67, 71 f. 465 Kritisch daher Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, 2006, S. 294.

§ 6 Der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung

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Das betrifft zuerst alle Rechtsansichten, die sich nicht auf die Unionsrechtslage beziehen, sondern auf nationale Regelungen. Dabei ist es gleichgültig welche Autorität diesen Ansichten im nationalen Kontext zukommt. Sie können nur für eine nationale Rückwirkungsbeschränkung in Betracht kommen. Gleiches gilt aber auch, wenn sich die Äußerungen auf den Inhalt des Unionsrechts beziehen. Aufgrund des tragenden Grundsatzes der Verantwortlichkeit der Union können Rechtsansichten von Privaten, Wissenschaftlern oder auch nationalen Behörden oder Gerichten keinen guten Glauben begründen. Sie können der Union nicht zugerechnet werden. Daher kommt es z.B. auf kritische Stimmen zur Unionsrechtskonformität in der nationalen Literatur nicht an.466 Der Gerichtshof könnte diese auch gar nicht selbst ermitteln oder bewerten und wäre auf das Vorbringen der Mitgliedstaaten oder der Vorlageparteien angewiesen. Anderes ergibt sich nicht aus dem Urteil in der Rechtssache Bosman467. Dort hatte der Gerichtshof in seiner Begründung für die Rückwirkungsbeschränkung nicht die Rechtsansichten der (staatsfernen) Verbände als Auslöser des guten Glaubens angesehen.468 Vielmehr hielt er deren Regelungen für so kompliziert, dass ein Verstoß gegen Unionsrecht nicht vorhersehbar war oder auf der Hand lag.469 Das erfüllt zwar noch nicht das Merkmal der Überzeugung von einem bestimmten Inhalt des Unionsrechts, bezieht sich aber jedenfalls nicht auf die Rechtsansichten der Verbände. Fehl geht daher die Feststellung des Gerichtshofs in der Rechtssache Essevi und Salengo, dass „die Unsicherheiten, die seitdem sowohl auf der Ebene der Gemeinschaft als auch im innerstaatlichen Bereich hinsichtlich der Vereinbarkeit der betreffenden Maßnahmen mit dem Gemeinschaftsrecht aufgetreten sind,“ einer Rückwirkungsbeschränkung entgegenstehen.470 Soweit er damit auf Stellungnahmen abstellt, die nicht unionsrechtlich institutionalisiert waren, steht dies außerdem im Widerspruch zur Entscheidung Defrenne II. Dort gab es schon vor dem Urteil zahlreiche Stimmen in der Literatur, die eine unmittelbare Anwendbarkeit des Entgeltgleichheitsgrund-

466

Ebenso Ehrke, ÖStZ 2000, 255 Fn. 10. A.A. Cloer, EWS 2006, 36, 37; Schnitger, Die Grenzen der Einwirkung der Grundfreiheiten des EG-Vertrages auf das Ertragsteuerrecht, 2006, S. 142 f. 467 EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, Slg. 1995, I-4921 Rn. 143. 468 A.A. Lindemann/Hackemann, IStR 2005, 786, 788; wohl auch Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 140; ebenso (wenngleich ablehnend) Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 159 f. 469 Hilf/Pache, NJW 1996, 1169, 1173; siehe auch oben § 6 Fn. 192. 470 EuGH v. 27.5.1981 – verb. Rs. 142/80 und 143/80 Essevi und Salengo, Slg. 1981, 1413 Rn. 34.

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satzes bejahten,471 ohne dass dies vom Gerichtshof berücksichtigt worden wäre. Eine Aussage wie in Essevi und Salengo hat der Gerichtshof auch nicht wiederholt. j)

Rangordnung der Verursacher

Die Verursacher können in ihrer Bedeutung abgestuft werden. Dabei liegt es natürlich nahe, die Aussagen des zur Auslegung berufenen Gerichtshofs als wichtigste Auslöser guten Glaubens anzusehen. Dies ähnelt dem Konnexitätsmerkmal des EuGH, welches bei einschlägiger Rechtsprechung, die nicht geändert wird, ein Ausschlusskriterium für den guten Glauben aufstellt. Solange man das Konnexitätsmerkmal nicht abschafft oder durch eine subjektive Komponente aufweicht, kann es danach kein schutzwürdiges Vertrauen gegen ein bestehendes Auslegungsurteil z.B. wegen gegensätzlichen Verhaltens der Kommission geben.472 Wie oben ausgeführt kommt es nach dem hier vertretenen Verständnis jedoch auf einen objektiviert-subjektiven Standpunkt an.473 Auf zweiter Stufe steht einschlägiges Sekundärrecht, welches wegen seiner Geltung Vertrauen schafft. Gleichzeitig liegt die Vermutung nahe, dass sich die Handelnden auf primärrechtlicher und sekundärrechtlicher Ebene nicht widersprechen wollen. Alle anderen Vertrauensauslöser folgen dogmatisch auf einer Stufe. Ihre Äußerungen sind rechtlich unverbindliche Rechtsansichten, die erst aufgrund des Prinzips der Verhaltensverantwortlichkeit Rechtsfolgen zeitigen. Ihre Gleichrangigkeit wird weiterhin sichergestellt durch die Anwendung der Kriterien, die für die „EuGH-Ähnlichkeit“ aufgestellt wurden. Darüber hinaus ist die Abwägung durch den Gerichtshof stark einzelfallbezogen und berücksichtigt alle Umstände des Falles. Gleichzeitig müssten die widersprechenden Rechtsansichten der Verursacher nach ihrem Kontext und ihrer Überzeugungskraft gewichtet werden, was abstrakt und im Vorhinein unmöglich ist. In der Rechtsprechung des Gerichtshof spiegelt sich dies wider, wenn Äußerungen der Kommission angesichts von Stellungnahmen des Mehrwertsteuerausschusses irrelevant sind 474 oder wenn nicht einschlägige Rechtsprechung durch Verhalten der Kommission überlagert werden kann475. Es spricht schließlich einiges dafür, die Frage nach einer Rangfolge als Scheinproblem 471

Vgl. Meyer, Auswirkungen des EG-Diskriminierungsverbots von Mann und Frau auf die private und betriebliche Krankheits- und Altersvorsorge in Europa, 1994, S. 65 m.w.N. in Fn. 24. 472 Aus genau diesem Grund gegen das Konnexitätsmerkmal Wiedmann, EuZW 2007, 692, 695. 473 § 6 B.I.4., S. 143 ff. und § 6 B.II.4.a)dd), S. 210. 474 EuGH v. 14.9.2006 – Rs. C-228/05 Stradasfalti, Slg. 2006, I-8391 Rn. 73. 475 EuGH v. 2.2.1988 – Rs. 24/86 Blaizot, Slg. 1988, 379 Rn. 32 f.

§ 6 Der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung

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ansehen zu müssen: Guter Glaube sollte nicht möglich sein, wenn zwei Stellen der Union, die nach den Ähnlichkeitskriterien gleichwertig sind, unterschiedliche Rechtsansichten vertreten. Die Betroffenen dürfen sich dann nicht einfach auf die für sie günstigere Ansicht verlassen. 4. Ausschluss des Vertrauens Den vertrauensbegründenden Umständen stehen solche gegenüber, die der Entstehung von gutem Glauben entgegenwirken. a) Geklärte Rechtslage aa) Grundsätze Zuerst kommt dafür eine geklärte Rechtslage in Betracht.476 Für abweichenden guten Glauben unzugänglich ist eine Rechtslage, wenn einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs ein bestimmtes Ergebnis vorhersehbar macht.477 Dazu genügt ein einziges Urteil,478 obschon eine ständige oder gefestigte Rechtsprechung natürlich ein stärkeres Anzeichen darstellt479. Die bestehende EuGH-Rechtsprechung kann daher nicht nur Auslöser von Vertrauen sein, sondern auch dessen Grenze; auf Rechtsprechung können sich die 476 Saßenroth, Die Bestandskraft deutscher Steuerbescheide im Licht der Rechtsprechung des EuGH, 2009, S. 53; Altmeyer, Vertrauensschutz im Recht der Europäischen Union und im deutschen Recht, 2003, S. 116. 477 Vgl. Lenaerts/Arts/Masels/Bray, Procedural Law of the European Union, 2. Aufl. 2006, Rn. 6-034. 478 Z.B. EuGH v. 31.3.1992 – Rs. C-200/90 Dansk Denkavit und Poulsen Trading, Slg. 1992, I-2217 Rn. 21; EuGH v. 14.9.1995 – verb. Rs. C-485/93 und C-486/93 Simitzi, Slg. 1995, I-2655 Rn. 33; EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-57/93 Vroege, Slg. 1994, I-4541 Rn. 28 f.; EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-128/93 Fisscher, Slg. 1994, I-4583 Rn. 25 f.; EuGH v. 24.10.1996 – Rs. C-435/93 Dietz, Slg. 1996, I-5223 Rn. 24 f.; EuGH v. 3.10.2002 – Rs. C-347/00 Barreira Pérez, Slg. 2002, I-8191 Rn. 46; EuGH v. 9.9.2004 – Rs. C-72/03 Carbonati Apuani, Slg. 2004, I-8027 Rn. 38 ff.; EuGH v. 8.4.2014 – Rs. C-288/12 Kommission ./. Ungarn, ECLI:EU:C:2014:237 Rn. 64. 479 Z.B. EuGH v. 27.3.1980 – Rs. 61/79 Denkavit italiana, Slg. 1980, 1205 Rn. 21; EuGH v. 27.5.1981 – verb. Rs. 142/80 und 143/80 Essevi und Salengo, Slg. 1981, 1413 Rn. 33; EuGH v. 11.8.1995 – verb. Rs. C-367/93 bis C-377/93 Roders B.V. u.a., Slg. 1995, I-2229 Rn. 45; EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, Slg. 1995, I-4921 Rn. 146; EuGH v. 3.10.1996 – Rs. C-126/95 Hallouzi-Choho, Slg. 1996, 1996, I-4807 Rn. 44; EuGH v. 23.5.2000 – Rs. C-104/98 Buchner u.a., Slg. 2000, I-3625 Rn. 40; EuGH v. 10.5.2012 – verb. Rs. C-338/11 bis C-347/11 Santander Asset Management u.a., ECLI:EU: C:2012:286 Rn. 61; EuGH v. 18.10.2012 – Rs. C-525/11 Mednis, ECLI:EU:C:2012:652 Rn. 46; EuGH v. 13.12.2012 – Rs. C-465/11 Forposta und ABC Direct Contact, ECLI:EU:C:2012:801 Rn. 46; EuGH v. 27.2.2014 – Rs. C-82/12 Transportes Jordi Besora, ECLI:EU:C:2014:108 Rn. 43; GA Fennelly, SchlA v. 16.3.2000 – verb. Rs. C-441/98 und C-442/98 Kapniki Michaïlidis, Slg. 2000, I-7145 Rn. 44.

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

Rechtsadressaten nicht nur verlassen, sie müssen sich auch darauf einstellen. Damit wird zugleich deutlich, dass Methodenehrlichkeit und Transparenz bei der Entscheidungsfindung der Rechtssicherheit dienen, indem sie das Verständnis einzelner Entscheidungen verbessern und die Vorhersehbarkeit des Rechts erhöhen.480 Den Rechtsunterworfenen kommt hierbei zugute, dass alle Entscheidungen des EuGH zumindest elektronisch zugänglich sind 481 und in der juristischen Fachpresse aufbereitet werden. Die teilweise sehr knappen Urteilsbegründungen erschweren freilich die Analyse der bestehenden Rechtsprechung. Ein ähnlicher Gedanke liegt Art. 99 EuGH-VerfO (Art. 104 § 3 EuGHVerfO a.F.) zugrunde. Danach kann eine Vorlagefrage durch mit Gründen versehenen Beschluss (ohne mündliche Verhandlung) entschieden werden, wenn die aufgeworfene Rechtsfrage bereits entschieden wurde oder die Antwort sich klar aus der Rechtsprechung ableiten lässt. Der dortige Maßstab ist strenger als bei der Verneinung des guten Glaubens, da Prozessökonomie und Verfahrensentlastung die Einschränkung des rechtlichen Gehörs nur in offenkundigen Fällen ermöglichen können. Daraus folgt aber auch, dass bei einer Anwendung von Art. 99 EuGH-VerfO (Art. 104 § 3 EuGH-VerfO a.F.) eine Rückwirkungsbeschränkung stets mangels guten Glaubens ausgeschlossen ist. bb) Problemidentität mit Konnexität und Neuheit Die Prüfung einer geklärten Rechtslage nimmt einen Aspekt des oben angesprochenen Kriteriums der Konnexität in sich auf. Die Konnexität wird vom Gerichtshof als rein objektive Voraussetzung angesehen. Danach ist eine eigenständige Rückwirkungsbeschränkung ausgeschlossen, wenn bei vergleichbarem Sachverhalt die identische Rechtsfrage wie in einem früheren Urteil zu beantworten ist. Diese Sachfrage ist hier jedoch besser verortet. Schon aus den einschlägigen Urteilen lässt sich ersehen, dass nur Unterschiede in der Formulierung zwischen der Zuordnung zu Präklusion oder geklärter Rechtslage entscheiden.482 Außerdem anerkennt der Gerichtshof selbst, dass die geklärte Rechtslage und die Konnexität ähnliche Fragen ansprechen. So bezieht sich die Feststellung in der Rechtssache Blaizot, „dass das vorliegen480

Klausch, FS Reuter, 2010, S. 1279, 1291 f. Der Tenor ist im Amtsblatt zugänglich zu machen, Art. 92 EuGH-VerfO; in der amtlichen Sammlung – die der Kanzler betreut, Art. 20 Abs. 3 EuGH-VerfO (Art. 68 a.F.) – werden seit März 2004 nicht mehr sämtliche Entscheidungen veröffentlicht, diese finden sich aber (zumindest in Französisch und der Verfahrenssprache) auf , vgl. Pechstein, EU-Prozessrecht, 4. Aufl. 2011, Rn. 171 ff. 482 Siehe § 6 Fn. 478 und insbesondere EuGH v. 31.3.1992 – Rs. C-200/90 Dansk Denkavit und Poulsen Trading, Slg. 1992, I-2217 Rn. 21 sowie in gleicher Sache GA Tesauro, SchlA v. 30.1.1992 – Rs. C-200/90 Dansk Denkavit und Poulsen Trading, Slg. 1992, I-2217 Rn. 12. 481

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de Urteil zum ersten Mal die Frage entscheidet, ob der Universitätsunterricht als Berufsausbildung im Sinne des Artikels 128 EWG-Vertrag angesehen werden kann“483, auf das vom EuGH dort im Urteil zuvor erläuterte Konnexitätsmerkmal.484 Im Gegensatz dazu wird in den oben zur geklärten Rechtslage zitierten Urteilen485 auf den materiellen Maßstab des guten Glaubens Bezug genommen. Deutlich wird diese Überlappung der Prüfungsmerkmale auch in der Rechtssache Meilicke. Dort lehnt der Gerichtshof eine Beschränkung der Rückwirkung ab, weil sich diese schon in seinem vorherigen Urteil in der Rechtssache Verkooijen hätte finden müssen, weist dann aber „im Übrigen“ darauf hin, dass durch eben dieses Urteil die Anforderungen der Kapitalverkehrsfreiheit klargestellt wurden.486 Das Merkmal der vertrauensausschließenden geklärten Rechtslage spiegelt außerdem die Abgrenzungen wider, die sich in der Literatur unter dem oben genannten Begriff der „Neuheit“487 finden lassen. In jenem Sinne ist eine geklärte Rechtsprechung nicht neu und eine neue Rechtsfrage nicht geklärt. cc) Kritik am objektiven Maßstab Der rein objektive Prüfungsmaßstab des Konnexitätsmerkmals müsste demnach auch für die Frage gelten, ob eine Rechtslage geklärt ist oder nicht. So käme es zu einer Abweichung von den allgemeinen Voraussetzungen des guten Glaubens, welche auf eine objektiviert-subjektive Sicht abstellen. Eine geklärte Rechtslage stünde also einer Rückwirkungsbeschränkung auch dann entgegen, wenn ein Urteil des EuGH so missverständlich war, dass alle Beteiligten davon überzeugt waren, es würde einen bestimmten Sachverhalt nicht erfassen, während dies objektiv doch der Fall war.488 Diese Konstellation hat der Gerichtshof zwar bisher nicht entschieden. Er müsste aber unter Anwendung seines objektiven Konnexitätsmerkmals eine Rückwirkungsbeschränkung schon an der Präklusion scheitern lassen. Dies müsste selbst dann gelten, wenn weitere Rechtsansichten anderer Unionsorgane den Irrtum der Rechtsunterworfenen bestärkten. Der geschilderte Fall lässt sich als „umgekehrtes Sürül489„ ansehen, denn hier wie dort liegt ein missverständliches Urteil des EuGH als möglicher Vertrauenstatbestand vor. Die Präklusionsrechtsfolge kann jedoch nur bei einschlägiger Vorrechtsprechung Anwendung 483

EuGH v. 2.2.1988 – Rs. 24/86 Blaizot, Slg. 1988, 379 Rn. 29. Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 50. 485 § 6 Fn. 478 f. 486 EuGH v. 6.3.2007 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Rn. 38-40. 487 § 6 B.II.1.b)cc), S. 151 ff. 488 Dies ist das Beispiel oben bei § 6 Fn. 187. 489 EuGH v. 4.5.1999 – Rs. C-262/96 Sürül, Slg. 1999, I-2685; siehe schon oben § 6 B.II.3.c)aa)(3), S. 182. 484

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

finden. Da die Vorrechtsprechung in Sürül objektiv nicht einschlägig war, hat der Gerichtshof dort zu Recht keinen Bezug auf das Konnexitätsmerkmal genommen. Auch die vielzitierte Rechtssache Meilicke – in der sich der Gerichtshof auf die Präklusion berief – betraf einen anderen Fall. Dort fehlte es an einem unionsrechtsbezogenen Gutglaubenstatbestand, der zu einem falschen Verständnis der früheren Rechtsprechung hätte führen können. Durch den objektiven Maßstab kommt es also zu zwei weiteren Widersprüchen in der Dogmatik der Rückwirkungsbeschränkung. Zum einen können die betroffenen Verkehrskreise zwar nach dem Sürül-Urteil im Einzelfall darauf vertrauen, dass eine bestimmte Rechtsprechung einschlägig ist; sie können sich aber niemals darauf verlassen, dass sie nicht einschlägig ist. Zum anderen privilegiert der EuGH seine Rechtsprechung gegenüber den Unionsgesetzen. Letztere können nämlich durchaus bei gegenläufigem gutem Glauben in ihrer objektiven Bedeutung eingeschränkt werden.490 Folglich ist zu untersuchen, ob sich Gründe für diese unterschiedliche Behandlung finden lassen. Anderenfalls sollte zur Bestimmung der geklärte Rechtslage nicht vom objektiviert-subjektiven Maßstab abgewichen werden. (1) Gleichbehandlungsgrundsatz und Einheitlichkeit des Unionsrechts Hinter dem Konnexitätsmerkmal steht das Bedürfnis, die Einheitlichkeit der Anwendung des Unionsrechts sicherzustellen und den Grundsatz der Gleichbehandlung der Mitgliedstaaten zu schützen. Eine der Konsequenzen der ersatzlosen Aufgabe der Konnexität wäre die territoriale Zersplitterung der zeitlichen Geltung des Unionsrechts.491 Die Auslegung des Unionsrechts würde dann nicht mehr allgemein, sondern im Hinblick auf einen konkreten Mitgliedstaat vorgenommen.492 Damit würde aber nicht nur die objektive Geltung des Unionsrechts beseitigt, sondern auch die Mitgliedstaaten ungleich behandelt.493 Je weniger Rechtsfragen als konnex angesehen werden, desto mehr würde die zeitliche Geltung sich nach dem jeweiligen Mitgliedstaat richten. Die Union ist jedoch verpflichtet sicherzustellen, dass nicht 490

Das ist gerade der Sinn der Rückwirkungsbeschränkung. EuGH v. 2.2.1988 – Rs. 309/85 Barra, Slg. 1988, 355 Rn. 13 f.; EuGH v. 2.2.1988 – Rs. 24/86 Blaizot, Slg. 1988, 379 Rn. 28; Thömmes, IWB 2005, 1089, 1091; ders., Intertax 33 (2005), 560, 561. 492 Das ist genau das Ziel von GA Stix-Hackl, SchlA v. 5.10.2006 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Rn. 18 ff. 493 EuGH v. 6.3.2007 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Rn. 37; EuGH v. 17.7.2008 – Rs. C-426/07 Krawczyński, Slg. 2008, I-6021 Rn. 44; EuGH v. 23.10.2012 – verb. Rs. C-581/10 und C-629/10 Nelson u.a., ECLI:EU:C:2012:657 Rn. 90 f.; Vortrag der Kommission in EuGH v. 2.2.1988 – Rs. 309/85 Barra, Slg. 1988, 355, 364 (Sitzungsbericht); Kokott/Henze, BB 2007, 913, 917; Janssen, EuZW 2005, 257; Frenz/Kühl, DStZ 2009, 432, 438; wortgleich Frenz, Handbuch Europarecht, Band 5, 2010, Rn. 3427; wohl auch Balmes/Ribbrock, BB 2007, 647, 648. 491

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einzelne Mitgliedstaaten Vorteile gegenüber anderen erwerben können.494 Eine territoriale Zersplitterung wäre daher nicht nur unsachgemäß, sondern rechtswidrig. Darüber hinaus führt die Ungleichbehandlung der Mitgliedstaaten zu einer Ungleichbehandlung der Unionsbürger.495 Warum die Rechte des Einzelnen in Finnland anders ausgestaltet sein sollen als in Deutschland, bedarf einer Begründung, die durch die Bezugnahme auf bloße Unsicherheiten in der Reichweite eines Urteils nicht geleistet werden kann. Dies gilt besonders, weil es von Zufälligkeiten abhängt, in welcher Reihenfolge einschlägige Sachverhalte vorgelegt werden und aus welchen Mitgliedstaaten diese stammen. Weder die Bürger noch die Mitgliedstaaten oder der Gerichtshof haben darauf Einfluss. (2) Bindungswirkung als Basis der Ungleichbehandlung Die Ungleichbehandlung entsteht, weil die vom EuGH gefundene Auslegung grundsätzlich in allen Mitgliedstaaten gleichermaßen gilt. Versteht man die Auslegung als Konkretisierung einer Norm im Kontext eines bestimmten Sachverhalts, ist das Auslegungsergebnis im gesamten Anwendungsbereich der Norm gültig. Das Ergebnis beschränkt sich nicht auf einen Mitgliedstaat oder eine Vorlagefrage. Die Auslegung erfolgt vielmehr im Hinblick auf und einheitlich für die Europäische Union. Sie ist auf alle objektiv vergleichbaren Fälle ohne Verzögerung anzuwenden. (3) Vermeidung territorialer Zersplitterung trotz „mitgliedstaatsbezogener“ Auslegung Diese Grundsätze werden nicht durch den Einwand in Frage gestellt, der EuGH lege das Unionsrecht im Hinblick auf den nationalen Sachverhalt des Vorlageverfahrens aus, wodurch das Unionsrecht faktisch uneinheitlich interpretiert wird. Es ist zuzugeben, dass sich der Gerichtshof bei der Beantwortung einer Vorlagefrage an den nationalen Sachproblemen und Rechtsregeln orientiert. So kommt es durchaus zu einer schrittweisen Entwicklung des Unionsrechts, wenn verschiedene Mitgliedstaaten unterschiedliche Perspektiven und Problemstellungen nacheinander in die europäische Diskussion einbringen. Dennoch muss verhindert werden, dass gleiche Rechtserkenntnisse 494

Calliess/Ruffert-Puttler, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 4 EUV Rn. 12; in diese Richtung auch Thömmes, IWB 2005, 1089, 1091, der ein Interesse der Mitgliedstaaten an Gleichbehandlung anerkennt; einschränkend Grabitz/Hilf/Nettesheim-v. Bogdandy/Schill, Das Recht der Europäischen Union, 51. EL 2013, Art. 4 EUV Rn. 7: nur Anspruch auf formelle Statusgleichheit. 495 Meilicke, DB 2005, 2658, 2659; Thömmes, IWB 2006, 375, 380; Wiedmann, EuZW 2007, 692, 693; Hatje, Europäische Rechtseinheit durch einheitliche Rechtsdurchsetzung, 1998, S. 7.

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in den Mitgliedstaaten ungleich Anwendung finden. Eine Rückwirkungsbeschränkung soll nur eine zeitliche Zäsur im Unionsrecht schaffen, während alle Mitgliedstaaten demselben Recht unterworfen bleiben.496 Mag dieses Recht sich auch schrittweise weiterentwickeln und zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedliche Inhalte haben. Aus denselben Gründen handelt es sich bei der Auslegungsvorabentscheidung nicht um eine „faktische Unanwendbarkeitserklärung“ des nationalen Rechts durch den EuGH, die Unterschiede in der territorialen Reichweite rechtfertigen könnte.497 Einer solchen Ansicht steht zudem die Kompetenzverteilung des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 1 EUV entgegen, wonach der Gerichtshof das Unionsrecht auszulegen hat und keine Aussagen über das Verständnis des nationalen Rechts treffen darf. Die Unanwendbarkeit des nationalen Rechts ist Folge des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts. Der Anwendungsvorrang ist eine Kollisionsregel und von der Rückwirkungsbeschränkung zu unterscheiden. Die Unanwendbarkeit tritt anders als bei den rechtsgestaltenden Unwirksamkeitserklärungen ohne besonderen konstitutiven Erklärungsakt ex lege ein als Rechtsfolge der Unvereinbarkeit nationalen Rechts mit entgegenstehendem, unmittelbar anwendbarem Unionsrecht. Der Anwendungsvorrang zielt dabei gerade auf eine territoriale und zeitliche Einheitlichkeit der Rechtsfolgen von Verstößen gegen Unionsrecht. Der Gedanke der „faktischen Unanwendbarkeitserklärung“ ist gerade deshalb abzulehnen, weil er ein großes Potenzial für Ungleichbehandlungen zwischen den Rechtsunterworfenen verschiedener Mitgliedstaaten birgt. Darüber hinaus sollte er lediglich Anlass für den Gerichtshof sein, entschieden dem Eindruck entgegenzutreten, seine Urteile erstreckten sich nur auf einzelne Mitgliedstaaten. (4) Keine Ungleichbehandlung/Zersplitterung durch objektiviert-subjektiven Maßstab Das Interesse an der Gleichbehandlung der Mitgliedstaaten und an der Vermeidung einer territorialen Zersplitterung des Unionsrechts wäre ebenso ein hinreichender Grund, den objektiviert-subjektiven Maßstab abzulehnen. Indes sind Ungleichbehandlungen oder Uneinheitlichkeiten hier nicht zu befürchten. Zuerst liegt nämlich guter Glaube nach den allgemeinen Voraussetzungen nur vor, wenn der Irrtum über die Rechtslage unionsweit bestand. Das objektiv einschlägige Urteil muss also grundsätzlich in allen Mitgliedstaaten und von fast allen Rechtsunterworfenen so verstanden worden sein, dass es den später vorgelegten Sachverhalt nicht erfasst.

496

Vgl. unten§ 7 E., S. 377 ff. In diese Richtung aber z.B. Steinberg/Bark, EuZW 2007, 245, 246. Zur „faktischen Unanwendbarkeitserklärung“ siehe die Nachweise oben § 5 Fn. 52. 497

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Aus demselben Grund gebietet auch die Gefahr einer (schleichenden) Missachtung der EuGH-Urteile durch die Mitgliedstaaten keinen objektiven Maßstab. Eine schlichte Missachtung erfüllt den Gutglaubenstatbestand ebensowenig wie Zweifel über dessen Reichweite und kann daher die Geltung eines Urteils nicht beeinträchtigen. Hier zeigt sich erneut, dass es eigentlich Argumente zur fehlenden (subjektiven) Schutzwürdigkeit der Rechtsunterworfenen sind, die sich hinter dem objektiven Präklusionsmaßstab verstecken. Zuletzt lässt sich nicht begründen, dass EuGH-Rechtsprechung nicht wie Unionsrechtsnormen durch gegenläufiges Vertrauen abgeschwächt werden könnte. Auf einen niedrigeren Abstraktionsgrad von Urteilen im Gegensatz zu gesetztem Recht kann dabei nicht abgestellt werden, weil Entscheidungen des EuGH schnell einen vergleichbaren Abstraktionsgrad erreichen, wenn sie generelle Aussagen oder unfertige Konzepte enthalten oder die Rechtsnormen sehr konkrete Inhalte haben. Ebenso lässt sich nicht ein Vorrang der Rechtsprechung vor den anderen Unionsorganen anführen. Ein solcher Vorrang müsste den Schutz der Urteilsinhalte vor inhaltlichen Verfälschungen durch andere Unionsorgane enthalten. Dadurch würde jedoch immer noch nicht verständlich, warum dem Gerichtshof ein solches Primat zukommen soll, dem Unionsgesetzgeber hingegen nicht. Angesichts des vom Gerichtshof befürworteten deklaratorischen Charakters der Auslegung dürfte das Auslegungsergebnis von Rechtsnormen nicht weniger stark geschützt werden als das Auslegungsergebnis von auslegenden Urteilen. Selbst bei einer Einordnung von Rechtsprechung als Rechtsquelle im engeren Sinne, würde die Verbindlichkeit von Rechtsprechung über die Verbindlichkeit von Rechtsakten gestellt. dd) Anwendung des allgemeinen Gutglaubensmaßstabs Um diese Widersprüche zu vermeiden, muss der Prüfungsmaßstab der geklärten Rechtslage im Einklang mit dem allgemeinen Maßstab des guten Glaubens bestimmt werden. (Objektiv) Einschlägige Rechtsprechung schließt Vertrauensschutz also dann nicht aus, wenn die Rechtsunterworfenen davon ausgehen durften, dass die frühere Rechtsprechung nicht einschlägig war. Die Prüfung erfolgt demnach in zwei Stufen. Zuerst muss bestimmt werden, ob die Rechtsprechung objektiv einschlägig und die Antwort auf die Rechtsfrage daher vorbestimmt ist. Dann ist die Perspektive zu wechseln und aus verobjektivierter Sicht der Rechtsunterworfenen zu prüfen, dass diese dennoch nicht vernünftigerweise von einer anderen Rechtslage ausgehen mussten (die Rechtsprechung also subjektiv nicht einschlägig war). Ansatzpunkt für Vertrauensschutz und Gegenstand des guten Glaubens ist der kreative Teil der Zweitauslegung: Die Übertragung der Rechtsprechung von einem Sachverhalt auf den anderen enthält eine Bewertung der Vergleichbarkeit der Fallkonstel-

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lationen, bei der Unklarheiten in der Weite des Anwendungsbereichs einer bestehenden Rechtsprechung relevant werden. Dabei ist nicht zu befürchten, dass die notwendige zeitliche und territoriale Einheit des Unionsrechts ausgehöhlt wird. Durch den strengen und objektivierten Maßstab des guten Glaubens würden nur solche Fälle erfasst, in denen das einschlägige Urteil in der nun fraglichen Konstellation innerhalb der gesamten Union in der Praxis noch nicht angewendet wurde. Im Zweifel ist eine objektiv einschlägige Rechtsprechung als solche zu erkennen gewesen. Im Ergebnis dürfte die hier vertretene Lösung nur selten von der des Konnexitätsmerkmals des EuGH abweichen. Subjektiv nicht einschlägig kann eine bestehende Rechtsprechung im Regelfall nur sein, wenn die Sachverhalte (kleinere) Unterschiede aufweisen. Dann würde auch das Konnexitätsmerkmal einer Rückwirkungsbeschränkung zumeist nicht entgegenstehen. Nach hiesigem Verständnis kommt eine Nachholung der Rückwirkungsbeschränkung des ersten Urteils in Betracht, wenn bei einer objektiv einschlägigen früheren Rechtsprechung eine (eigenständige) Rückwirkungsbeschränkung in dem späteren Urteil ausscheidet.498 b) Weitere Umstände Neben einschlägiger Rechtsprechung können weitere Umstände zum Ausschluss von Vertrauen führen. Es ist nicht notwendig, dass die Rechtslage klar und eindeutig ist. Vielmehr genügt es, wenn Zweifel über den Inhalt des Unionsrechts hervorgerufen werden; Unsicherheit begründet keinen guten Glauben.499 Vertrauenszerstörend wirken daher alle zur Auslegung der streitigen Vorschrift herangezogenen, öffentlich erkennbaren Interpretationsmittel.500 Hinzu kommen sämtliche inhaltlich gegensätzlichen Rechtsansichten von Unionsorganen. Was insoweit taugliche Rechtsansichten sind, bestimmt sich nach denselben Maßstäben wie bei den vertrauensveranlassenden Handlungen. Geeignet sind vor allem Schlussanträge der Generalanwälte aus früheren Verfahren.501 Die vertrauenszerstörenden Aussagen dürften dort in der Regel nicht entscheidungserheblich gewesen sein, denn anderenfalls wäre die vom Gerichtshof geäußerte Rechtsansicht maßgeblich. Die vom Generalanwalt geäußerte Meinung muss darüber hinaus inhaltlich und methodisch überzeugend sein. Aus der verbreiteten Ansicht, der EuGH würde den Generalanwäl498

Dazu dann unten § 7 C.I.3.a), S. 331 ff. Strenger offenbar Müller-Gatermann, StbJb 2007/2008, 151, 164. 500 Vgl. GA Mengozzi, SchlA v. 12.9.2012 – Rs. C-395/11 BLV Wohn- und Gewerbebau, ECLI:EU:C:2012:564 Rn. 106 f. i.V.m. Rn. 75 ff.; GA Jääskinen, SchlA v. 11.7.2013 – Rs. C-262/12 Vent De Colère u.a., ECLI:EU:C:2013:469 Rn. 71 i.V.m. Fn. 67. 501 Z.B. EuGH v. 8.9.1994 – verb. Rs. C-363/93, C-407/93 bis C-411/93 Lancry u.a., Slg. 1994, I-3957 Rn. 44. 499

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ten zumeist folgen,502 lässt sich – abseits aller Zweifel an dieser These – schon nichts ableiten. Es ist nicht vorhersehbar, ob genau die konkrete Rechtsfrage vom EuGH im Einklang mit den Generalanwälten beantwortet werden wird. Trotz der unbestrittenen Expertise der Generalanwälte, bleiben die Schlussanträge Rechtsansichten einer einzelnen Person ohne Bindungswirkung für den Gerichtshof oder die Rechtsunterworfenen. Daneben kann vor allem die Kommission Vertrauen zerstören. So beseitigen Hinweise auf Rechtsprobleme einer der Kommission angezeigten nationalen Regelung503 ebenso den guten Glauben wie veröffentlichte Arbeitsdokumente504 oder die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens505. Besondere Auswirkungen hat letzteres auf die Frage, ob in Vertragsverletzungsverfahren selbst die Rückwirkung beschränkt werden kann. Geht man von einem einheitlichen Zeitraum zur Beurteilung des guten Glaubens aus und bezieht insoweit auch Handlungen in demselben Verfahren mit ein, scheidet eine Rückwirkungsbeschränkung stets aus.506 Ungeeignet ist dagegen der Verweis auf eine (eindeutige) nationale Rechtslage. Für die Bestimmung des guten Glaubens kommt es auf die Unionsrechtslage an, so dass Äußerungen zum nationalen Recht Vertrauen nicht zerstören können. Ob Äußerungen im nationalen Schrifttum oder von nationalen Gerichten über den Inhalt des Unionsrechts gutem Glauben entgegenstehen können, ist schwieriger zu beurteilen.507 Dagegen spricht zuerst, dass man solche nicht europaweit zur Kenntnis nehmen kann. Das liegt zum einen an der eingeschränkten tatsächlichen Verbreitung nationaler Meinungen, zum anderen an der Sprachbarriere. Die Berücksichtigung unterschiedlichster nationaler Rechtsansichten würde so letztlich zur Zersplitterung des Vertrauenstatbestandes führen und den einheitlichen, unionsweiten guten Glauben konterkarieren. Denn entweder erlegt man Rechtsunterworfenen die Pflicht auf, alle Publikationen in der EU zu verfolgen, um Kritik aufzuspüren, noch 502

Z.B. Rengeling/Middeke/Gellermann-Rengeling/Kotzur, EU-Rechtsschutz, 3. Aufl. 2014, § 3 Rn. 13; anders aber Streinz-Huber, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 252 AEUV Rn. 9 m.w.N. in Fn. 24. 503 EuGH v. 31.3.1992 – Rs. C-200/90 Dansk Denkavit und Poulsen Trading, Slg. 1992, I-2217 Rn. 22; EuGH v. 27.2.2014 – Rs. C-82/12 Transportes Jordi Besora, ECLI:EU: C:2014:108 Rn. 44 f. 504 GA Mengozzi, SchlA v. 12.9.2012 – Rs. C-395/11 BLV Wohn- und Gewerbebau, ECLI:EU:C:2012:564 Rn. 107. 505 EuGH v. 11.8.1995 – verb. Rs. C-367/93 bis C-377/93 Roders B.V. u.a., Slg. 1995, I-2229 Rn. 45; EuGH v. 27.2.2014 – Rs. C-82/12 Transportes Jordi Besora, ECLI:EU: C:2014:108 Rn. 44; Hyland, IJEL 2 (1995), 208, 222. 506 Vgl. unten § 6 B.II.6.a), S. 216. 507 Bejahend Moritz, RdW 2000, 254, 255; wohl auch GA Slynn, SchlA v. 17.9.1987 – Rs. 293/85 Kommission ./. Belgien, Slg. 1988, 305, 344: „Durch das Urteil Gravier war Belgien aufgeklärt worden, und es steht fest, daß einige Abgeordnete und zwei Minister der Auffassung waren, daß Universitätsausbildung zur Berufsausbildung gehören könne.“

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bevor sie den (durchaus langen) Weg in den eigenen nationalen Diskurs zurückgelegt hat. Oder man verneint die Gutgläubigkeit nur aufgrund inländischer Kritik und schafft so unterschiedliche Vertrauenslagen und begünstigt obendrein noch die Mitgliedstaaten und Rechtsbereiche, in denen eine weniger breite oder vertiefte Diskussion stattfindet. Weiterhin müsste man die Rechtsansichten dann einer Bewertung hinsichtlich ihrer Eignung zur Vertrauenszerstörung unterziehen. Nicht jede beliebige Rechtsansicht dürfte einen durch Unionsorgane geschaffenen Gutglaubenstatbestand beseitigen können. Also müssten Äußerungen nationaler Höchst-, Ober- und Untergerichte, und nationaler Behörden sowie wissenschaftliche und private, berufliche und beruflich indizierte Stellungnahmen von Einzelpersonen oder Verbänden in ihrer Qualität und juristischen Überzeugungskraft bewertet und abgewogen werden. Das ist schon im nationalen Kontext undurchführbar508 und erst recht auf Ebene der EU nicht erstrebenswert. Insofern ist das Urteil in der Rechtssache Essevi und Salengo zu kritisieren. Dort hatte der EuGH festgestellt, dass Unsicherheiten auf Unions- und nationaler Ebene hinsichtlich der Vereinbarkeit einer nationalen Regelung mit Unionsrecht den guten Glauben eines Mitgliedstaates ausschließen können.509 Auf die nationalen Kritiken durfte der Gerichtshof hier nicht abstellen. Soweit ersichtlich hat er dies auch später nicht wieder getan. Ein Zeugnis dafür liefert die Rechtssache Sürül, in der der EuGH eine Beschränkung der Rückwirkung vornahm, weil er vorher ein missverständliches Urteil (Rechtssache Taflan-Met510) erlassen hatte.511 Er ging in Sürül jedoch mit keinem Wort auf die Kritik ein, die die Entscheidung Taflan-Met in der Literatur hervorgerufen hatte.512 5. Die Vertrauenden Der Standardobersatz des EuGH kann auch als Ausgangspunkt für die Bestimmung dienen, wer guten Glauben in eine bestimmte Unionsrechtslage gehabt haben muss. Insoweit verlangt der EuGH, dass „die Einzelnen und die nationalen Behörden zu einem mit der Unionsregelung unvereinbaren Verhalten veranlasst worden waren“.513 Etwas abstrahierend wird gelegentlich

508

Höpfner, RdA 2006, 156, 160. EuGH v. 27.5.1981 – verb. Rs. 142/80 und 143/80 Essevi und Salengo, Slg. 1981, 1413 Rn. 34. 510 EuGH v. 10.9.1996 – Rs. C-277/94 Taflan-Met u.a., Slg. 1996, I-4085. 511 EuGH v. 4.5.1999 – Rs. C-262/96 Sürül, Slg. 1999, I-2685 Rn. 106 ff. 512 Kritisch zu Taflan-Met z.B. Bulterman, CMLRev 34 (1997), 1497, 1500 ff. und 1504 ff.; Peers, ELRev 1997, 342, 350 f.; Gutmann, EuZW 1997, 181, 182; Zuleeg, ZAR 1997, 170 ff. 513 EuGH v. 20.9.2001 – Rs. C-184/99 Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193 Rn. 53; EuGH v. 4.10.2001 – Rs. C-294/99 Athinaïki Zythopoiia AE, Slg. 2001, I-6797 Rn. 36; EuGH v. 29.11.2001 – Rs. C-366/99 Griesmar, Slg. 2001, I-9383 Rn. 76; EuGH v. 18.1.2007 – 509

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auch die Formulierung verwendet, dass die „betroffenen Verkehrskreise“ von der Unionsrechtskonformität ihres Handelns ausgegangen sein müssen.514 a) Die betroffenen Verkehrskreise Da die Rückwirkungsbeschränkung vor allem durch die allgemeine Bindungswirkung der EuGH-Urteile veranlasst ist, kommt es nicht auf die unmittelbare Betroffenheit durch das Urteil an. Denn durch das Urteil oder die Auslegung unmittelbar betroffen sind nur die Parteien des Ausgangsverfahrens. Zu berücksichtigen sind daher alle Rechtssubjekte, deren Rechtsangelegenheiten von der ausgelegte Norm im Hinblick auf den konkreten Sachverhalt berührt werden können. Insoweit ergibt sich hier kein Unterschied, wenn man als Bezugspunkt nicht die ausgelegte Norm, sondern die Entscheidung des EuGH ansieht.515 Die Betroffenheit muss eine rechtliche sein, was sich jedoch regelmäßig mit wirtschaftlicher Betroffenheit decken dürfte. Wer Betroffener ist, richtet sich daher zuerst nach dem allgemeinen Adressatenkreis der Norm. Bei unmittelbar anwendbaren Normen sind neben den Mitgliedstaaten auch die Unionsbürger Adressaten. Bei mittelbar anwendbaren Normen, wie Richtlinien, erlangt das Unionsrecht durch das Gebot der Konformauslegung ebenso für die Unionsbürger Bedeutung. Durch den konkreten Sachverhalt können sich die Relevanz der Auslegung und damit der Kreis der Betroffenen beschränken. Beispielsweise ist vor allem auf die Sozialpartner abzustellen, wenn es um tarifrechtliche Vorschriften geht,516 oder auf die örtlichen Körperschaften der französischen Überseeischen Gebiete, wenn ihnen die streitige Steuer zufließt517. Die Bedeutung der Bestimmung des Betroffenen und entsprechender Abgrenzungen relativiert sich, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass der EuGH einen objektivierten Maßstab zur Prüfung des guten Glaubens anlegt. Die Betroffenheit drückt dabei vor allem aus, welche (Er-)Kenntnismöglichkeiten der berührten Rechtskreise zu berücksichtigen sind. Aufgrund des objektivierten Maßstabs bezieht sich der Gerichtshof nicht auf eine konkrete Anzahl

Rs. C-313/05 Brzezinski, Slg. 2007, I-513 Rn. 57; EuGH v. 13.4.2010 – Rs. C-73/08 Bressol u.a., Slg. 2010, I-2735 Rn. 93 (Hervorhebung vom Verfasser). 514 EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-57/93 Vroege, Slg. 1994, I-4541 Rn. 28 f.; EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-128/93 Fisscher, Slg. 1994, I-4583 Rn. 25 f.; EuGH v. 24.10.1996 – Rs. C-435/93 Dietz, Slg. 1996, I-5223 Rn. 24 f.; EuGH v. 11.12.1997 – Rs. C-246/96 Magorrian und Cunningham, Slg. 1997, I-7153 Rn. 28; ähnlich EuGH v. 17.5.1990 – Rs. C-262/88 Barber, Slg. 1990, I-1889 Rn. 43. 515 So z.B. GA Jacobs, SchlA v. 21.11.1991 – Rs. C-163/90 Legros u.a., Slg. 1992, I-4625 Rn. 36; Schlachter, ZfA 2007, 249, 266. 516 Vgl. GA Kokott, SchlA v. 11.11.2010 – Rs. C-379/09 Casteels, Slg. 2011, I-1379 Rn. 88. 517 EuGH v. 16.7.1992 – Rs. C-163/90 Legros u.a., Slg. 1992, I-4625 Rn. 33.

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

an Betroffenen oder eine relative Mindestgröße im Verhältnis zur Gesamtzahl der Adressaten. b) Mitgliedstaaten als Betroffene Die Mitgliedstaaten können Betroffene in diesem Sinne sein.518 Die Mitgliedstaaten sind im Regelfall die (primären) Adressaten des Unionsrechts. In der supranational organisierten EU sind sie Rechtssubjekte und nicht EUHoheitsträger, wenn sie nicht als „Herren der Verträge“ oder EU-Gesetzgeber tätig sind.519 Auch die Mitgliedstaaten müssen sich auf Regelungen einer ihnen rangmäßig übergeordneten Hoheitsmacht einstellen können. Deshalb lässt sich nicht behaupten, dass die Mitgliedstaaten kein eigenes Interesse am Schutz vor (überraschendem) Unionsrecht haben und dieses nur als verlängerter Arm der Union durchsetzen. In der supranationalen Union sind die Mitgliedstaaten vielmehr mit eigenen „subjektiven“ Rechtspositionen ausgestattet, wie sie z.B. in den Prinzipien der begrenzten Einzelermächtigung und der Subsidiarität zum Ausdruck kommen. Dem steht nicht entgegen, dass die Mitgliedstaaten dann sowohl Vertrauende, als auch Vertrauensauslöser sein können. Natürlich kann sich das Vertrauen der Mitgliedstaaten grundsätzlich nicht auf einen Umstand beziehen, den sie selbst hervorgerufen haben. Es sind aber viele Konstellationen vorstellbar, bei denen die Mitgliedstaaten nur auf jeweils einer Seite stehen. Gegenteiliges lässt sich nicht aus dem Urteil in der Rechtssache Ampafrance und Sanofi ableiten.520 Zuerst erging dieses Urteil in einem Ungültigkeitsvorlageverfahren und ausdrücklich nur zur zeitlichen Beschränkung von Ungültigkeitsfeststellungen.521 Zweitens bezieht es sich auf den Grund518

v. Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, S. 140; Borchardt, Der Grundsatz des Vertrauensschutzes im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1988, S. 77 ff.; Bleckmann, Europarecht, 6. Aufl. 1997, Rn. 598 (deutlicher noch ders., Europarecht, 5. Aufl. 1990, Rn. 416); i.Erg. auch Nicolai, ZfA 1996, 481, 497 f.; a.A. Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 37; Balthasar, JJZ 2010, 39, 65; Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EUGH, 1995, S. 306. Siehe auch GA Trstenjak, SchlA v. 11.5.2010 – Rs. C-162/09 Lassal, Slg. 2010, I-9217 Rn. 102 ff., die mitgliedstaatliches Vertrauen gegen eine Rechtsaktrückwirkung prüft und es nicht pauschal verneint; ebenso zur Berufung auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes gegenüber einer Rechtsänderung z.B. EuGH v. 26.6.2012 – Rs. C-335/09 P Polen ./. Kommission, ECLI:EU:C:2012:385 Rn. 180 f. 519 v. Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, S. 139 f.; Borchardt, Der Grundsatz des Vertrauensschutzes im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1988, S. 79. 520 A.A. Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 37; wohl auch Nicolaysen, Europarecht I, 2. Aufl. 2002, S. 145. 521 Vgl. EuGH v. 19.9.2000 – verb. Rs. C-177/99 und C-181/99 Ampafrance und Sanofi, Slg. 2000, I-7013 Rn. 67; siehe auch GA Cosmas, SchlA v. 23.3.2000 – verb. Rs. C-177/99 und C-181/99 Ampafrance und Sanofi, Slg. 2000, I-7013 Rn. 83.

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satz des „Vertrauensschutzes“, wobei in der englischen Fassung die „legitimate expectations“ und in der französischen die „confiance légitime“, also die berechtigten Erwartungen, angesprochen waren. Dieser Grundsatz wird freilich vom EuGH als Individualrechtsposition angesehen. Die Rückwirkungsbeschränkung beruht jedoch auf dem Grundsatz der Rechtssicherheit. Zuletzt stünde ein solches Verständnis auch im deutlichen Gegensatz zu etablierten Entscheidungen des EuGH. Sowohl in der Rechtssache Legros als auch in Evangelischer Krankenhausverein Wien stellte der Gerichtshof ausdrücklich auf den guten Glauben von Mitgliedstaaten ab.522 In steuerrechtlichen oder anderen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten würden anderenfalls die vom EuGH aufgestellten Tatbestandsvoraussetzungen gar keinen Sinn ergeben.523 Abgeschwächt wird diese Auseinandersetzung durch den objektivierten Maßstab der Gutglaubensprüfung. Der EuGH beruft sich, sprachlich missverständlich, zwar scheinbar auf die Vertrauenspositionen der einzelnen Mitgliedstaaten.524 Maßgeblich ist und von ihm geprüft wird hingegen, ob jeder objektive Dritte, insbesondere die anderen Mitgliedstaaten, in der konkreten Situation des betroffenen Mitgliedstaats davon ausgehen durften, dass ihr Verhalten unionsrechtskonform ist. Dieser Maßstab ist unionsweit gültig und nur soweit an den konkreten Mitgliedstaat angeknüpft, als dass regelmäßig die anderen Mitgliedstaaten keine identischen oder vergleichbaren Bestimmungen haben, wie die im Streit stehende. Die insoweit missverständlichen Formulierungen beruhten vor allem auf dem vorgetragenen Tatsachenmaterial, welches sich nur auf die konkreten Mitgliedstaaten bezog. Dieser Maßstab ist erneut eine Kehrseite des Erfordernisses der Einheitlichkeit des Unionsrechts, welches vom EuGH im Rahmen des Konnexitätsmerkmals und hier im Rahmen einer Ausnahme vom guten Glauben durchgesetzt wird. Der Mitgliedstaat, der durch ein späteres Urteil seine Betroffenheit erfährt, wird auf den früheren Rechtsstreit verwiesen. Als Konsequenz muss in diesem früheren Rechtsstreit die Rückwirkungsbegrenzung anhand von möglichst objektiven Kriterien und unionsweit möglicher Betroffenheit geprüft werden.

522

EuGH v. 17.5.1990 – Rs. C-262/88 Barber, Slg. 1990, I-1889 Rn. 43; EuGH v. 16.7.1992 – Rs. C-163/90 Legros u.a., Slg. 1992, I-4625 Rn. 33; EuGH v. 9.3.2000 – Rs. C-437/97 Evangelischer Krankenhausverein Wien u.a., Slg. 2000, I-1157 Rn. 58. 523 Broberg/Fenger, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union, 2014, S. 401. 524 EuGH v. 16.7.1992 – Rs. C-163/90 Legros u.a., Slg. 1992, I-4625 Rn. 33; EuGH v. 9.3.2000 – Rs. C-437/97 Evangelischer Krankenhausverein Wien u.a., Slg. 2000, I-1157 Rn. 58.

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c) Kommission und Nicht-EU-Angehörige Die Kommission hingegen kann nicht betroffen sein. Ihr Glaube an eine bestimmte Rechtslage ist nicht geschützt. Sie steht den Rechtssubjekten als Unionsorgan und damit als Teil der Europäischen Union gegenüber. Die Kommission hat das Unionsrecht objektiv anzuwenden und selbst kein anderes Interesse als die Wahrung der Rechtmäßigkeit des Unionsrechts.525 Anders verhält es bei nicht-EU-angehörigen Dritten. Diese profitieren von dem Grundsatz der Rechtssicherheit, wenn die fraglichen Vorschriften gerade sie begünstigen sollen und sie Subjekte der Regelung sind.526 Bei individualbegünstigenden Bestimmungen eines Assoziationsabkommens, ist demnach auch der (objektivierte) gute Glaube von EU-Ausländern in die Abwägung einzubeziehen. 6. Zeitpunkt des guten Glaubens und des vertrauensrelevanten Verhaltens der Unionsorgane a) Ein Zeitraum bis zum Urteil Der Gerichtshof stellt bei der Bestimmung des guten Glaubens auf den Zeitpunkt des Erlasses seines Urteils ab. Am Urteilstag muss der gute Glaube gegeben sein. Um dies zu beurteilen, behandelt der Gerichtshof den gesamten Zeitraum vom Inkrafttreten der ausgelegten Norm bis zu seinem Urteil als Einheit und zwar unabhängig davon, wann eine vertrauensbegründende oder vertrauenszerstörende Handlung vorgenommen wurde. Es ist also gerade nicht so, dass der Zeitpunkt des einzelnen Rechtsverhältnisses, welches den Anlass der Vorlage und des EuGH-Urteils gab, für die Beurteilung maßgeblich ist.527 Dieser Zeitpunkt ist nämlich nur durch Zufall Gegenstand der EuGH-Entscheidung geworden und es ist nicht ersichtlich, warum eine singuläre Betrachtung die Rückwirkungsbeschränkung für alle anderen Sachverhalte bis zum Urteilstag ermöglichen sollte. Eine solche Annahme würde dazu zwingen, die Gutgläubigkeit nicht abstrakt, sondern für jeden Betroffenen separat zu bestimmen.

525

GA Jääskinen, SchlA v. 2.12.2010 – Rs. C-148/09 P Belgien ./. Deutsche Post u.a., Slg. 2011, I-8573 Rn. 117. A.A wohl EuG v. 10.2.2009 – Rs. T-388/03 Deutsche Post und DHL International ./. Kommission, Slg. 2009, II-199 Rn. 111 ff., wo das EuG die Rückwirkung der Neuinterpretation einer die Kommission bindenden Verfahrensvorschrift offenbar nur deshalb annahm, weil der EuGH die zeitlichen Wirkungen des entsprechenden Urteils nicht beschränkt hatte und daher die Kommission diese Anforderungen vorher „nicht kennen konnte“. 526 Ebenso Halford, ELRev 1996, 478, 484 zur zeitlichen Beschränkung bei einer Nichtigerklärung. 527 So aber Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 143.

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Diese punktuelle Betrachtungsweise des EuGH ist unproblematisch bei einem Sachverhalt wie in Defrenne II, wo der gute Glaube während des gesamten Geltungszeitraums der Norm gleich war, weil alle Beteiligten stets davon ausgegangen sind, dass Art. 157 AEUV nicht unmittelbar anwendbar ist. Schwierig wird es, wenn die Vertrauensverursacher wechselndes Verhalten an den Tag legen. In Essevi und Salengo ging die Kommission erst von der richtigen, dann von der falschen und dann wieder von der richtigen Rechtslage aus, weswegen der Gerichtshof eine Rückwirkungsbeschränkung verneinte. In Blaizot hingegen beschränkte er die Rückwirkung, weil die Kommission erst einen falschen und dann den richtigen und zuletzt einen unentschiedenen Standpunkt einnahm. Erst die richtige und dann die falsche Vorstellung vom Inhalt des Unionsrechts hatte die Kommission auch in Legros, was für eine Beschränkung genügte. Ohne Auswirkungen blieb in Evangelischer Krankenhausverein Wien, dass die Kommission noch vor Urteilsverkündung, aber nach den Schlussanträgen ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hatte; der EuGH stellte allein auf ihre frühere Billigung der österreichischen Rechtslage ab, als er die Rückwirkung beschränkte528. Für den Gerichtshof ist es offenbar unerheblich, ob die Unionsorgane zuerst von der falschen oder der richtigen Rechtslage ausgegangen sind und ihre Ansicht dann änderten. b) Trittbrettfahrerproblematik Das Bedürfnis nach einer differenzierenden Lösung steht unausgesprochen auch hinter dem Vorschlag, alternative Zeitpunkte für den Beginn der Geltung der neuen Auslegung zu erwägen, um die sogenannte „Trittbrettfahrerproblematik“ zu lösen.529 Dieses Problem wurde in seiner vollen Bedeutung erstmals mit der Rechtssache Banca Popolare di Cremona aufgeworfen.530 Dort hatte die Vorlage des italienischen Gerichts zur Vereinbarkeit einer nationalen Steuer mit dem Unionsrecht zahlreiche Steuerpflichtige dazu animiert, noch vor dem Urteil des EuGH Rechtsbehelfe einzulegen, um bei einer eventuellen Rückwirkungsbeschränkung in den Genuss der personellen Rückausnahme zu kommen und die gezahlten Steuern zurückverlangen zu 528

Kritisch daher Moritz, RdW 2000, 254, 255. Z.B. Wiedmann, EuZW 2007, 692, 694 f.; Düsterhaus, EuZW 2006, 393, 394; Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 102 ff.; GA Stix-Hackl, SchlA v. 14.3.2006 – Rs. C-475/03 Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373 Rn. 165 ff.; GA Tizzano, SchlA v. 10.11.2005 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Rn. 56 ff. (dessen Überlegen ihn aber dazu führen, dass die sachliche Rückwirkung auf den Zeitpunkt eines früheren Urteils zu beschränken ist); davor schon Anderson/Demetriou, References to the European Court, 2. Aufl. 2002, Rn. 14-076 ff., die auch Zahlen zu der Rechtssache Coloroll Pension Trustees liefern. 530 Siehe aber schon GA Slynn, SchlA v. 17.9.1987 – Rs. 293/85 Kommission ./. Belgien, Slg. 1988, 305, 344. 529

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können. Durch die – vom EuGH regelmäßig gewährte – personelle Rückausnahme wäre der Zweck der Rückwirkungsbeschränkung konterkariert worden. Auf den ersten Blick liegt es denn auch nahe, die Lösung in einer Schranke zur personellen Rückausnahme zu suchen.531 Der eigentliche Grund für den Ausschluss der Rechtsbehelfsführer ist jedoch, dass diese mangels eigenen guten Glaubens nicht als schutzwürdig angesehen werden. „Freerider“ sind solche Kläger, die ohne besonderes Prozessrisiko von den Früchten des Rechtsstreits anderer profitieren.532 Prozessrisiko bezeichnet dabei das Verhältnis von Kosten (eines Rechtsbehelfs und Rechtsstreits) und Nutzen (des Obsiegens im Verfahren) unter Berücksichtigung der Wahrscheinlichkeit des Obsiegens. Die Wahrscheinlichkeit des Obsiegens ist jedoch nur eine Umschreibung für die Klarheit der vor dem EuGH-Urteil ex ante absehbaren Rechtslage.533 Das wird deutlich, wenn zur Abgrenzung darauf abgestellt wird, dass der Inhalt des Urteils mit „einer echten Wahrscheinlichkeit“ vorhergesehen werden konnte.534 Besonders ist offenbar nur, dass kein objektivierter Maßstab verwendet, sondern auf die konkrete Situation der Rechtsbehelfsführer abgestellt werden soll. Gleichzeitig soll die genau entgegengesetzte Vertrauensposition zum Ausschluss einzelner Kläger führen. Für einen solchen unterschiedlichen Maßstab könnte sprechen, dass so die gröbere Prüfung im Rahmen des guten Glaubens bei unerwünschten Ergebnissen noch im Rahmen der personellen Rückausnahme feinjustiert wird. Jedoch führt die Wahl eines vor dem Urteilstag liegenden Zeitpunkts für die Rechtsbehelfseinlegung zu einem Wertungswiderspruch und einer unangemessenen Schlechterstellung der Rechtsbehelfsführer im Vergleich zu ihren

531 So z.B. Kokott, The jurisprudence of the Court of Justice of the European Communities in the area of tax law, 2006, S. 8; ausdrücklich Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 192; i.Erg. auch Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 98 f. 532 Sperlich, FS Ruppe, 2007, 2007, S. 551, 571. 533 In der Sache nichts anderes ist die Bezugnahme von GA Tizzano, SchlA v. 10.11.2005 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Rn. 60 auf den Sorgfaltsmaßstab der Bürger, wie sich aus Rn. 61 ergibt: „Nach diesem Kriterium sollte meiner Meinung nach denjenigen Steuerpflichtigen das zu erlassende Urteil nicht zugute kommen, die lange Jahre nichts unternommen haben, um die Steuergutschrift zu beanspruchen oder einen entsprechenden Ablehnungsbescheid anzufechten, und die sich nun, geleitet von der Aussicht auf das Urteil in der vorliegenden Rechtssache, plötzlich der lange unbeachteten Ansprüche wieder neu besinnen.“ 534 GA Stix-Hackl, SchlA v. 14.3.2006 – Rs. C-475/03 Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373 Rn. 172; Sperlich, FS Ruppe, 2007, S. 551, 569; Düsterhaus, EuZW 2006, 393, 394.

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Gegnern und ist deshalb abzulehnen:535 Den Rechtsbehelfsführern wird die Berufung auf die „richtige“ Rechtslage versagt, weil diese für sie nicht mehr überraschend, ja sogar vorhersehbar gewesen sein soll. Der gegenüberstehende Rechtsunterworfene (Mitgliedstaat oder Privatperson) darf hingegen noch bis zum Urteilstag sein rechtswidriges Verhalten fortsetzen und davon profitieren, obwohl sein „guter Glaube“ auf denselben objektiven Umständen beruht. Auch das Ziel, Mitnahmeeffekte zu verhindern, kann diesen Wertungswiderspruch nicht rechtfertigen.536 Es ist nicht dem Unionsrecht anzulasten, wenn die Mitgliedstaaten ihren Bürgern ermöglichen, ohne eigenes Kostenrisiko (Finanz-)Verwaltungsakte anzugreifen. Die Mitgliedstaaten können in den Grenzen von Effektivität und Äquivalenz durchaus Kostenlasten oder risiken für Rechtsbehelfsführer vorsehen. Es obliegt nicht dem Unionsrecht, diese Defizite – so man sie denn als solche empfindet – auszugleichen. Zudem ist es nicht Aufgabe des Unionsrechts, die Mitgliedstaaten vor besonders langandauernden Steuerveranlagungsverfahren zu schützen.537 Solange die Mitgliedstaaten ihr Verfahrensrecht selbst regeln, können sie dessen Schwächen nicht auf Ebene des Unionsrechts in die Waagschale werfen. Eine unionsrechtliche Anerkennung würde sogar zu Ungleichbehandlungen führen, wenn in anderen Mitgliedstaaten die Kostenrisiken viel strenger sind und die Rechtsbehelfsführer dennoch von ihrem Prozesserfolg nicht profitieren können. Die Rückwirkungsbeschränkung gilt in allen Mitgliedstaaten, ebenso wie die Rückausnahme zu Gunsten der Rechtsbehelfsführer,538 und muss daher auch die Auswirkungen auf alle Mitgliedstaaten beachten. Die Kritik der Generalanwälte und der Literatur zielt demnach eigentlich gegen die starre Anknüpfung des Beginns der Geltung der gefundenen Auslegung an den Tag des Urteils. Die Generalanwälte hielten den guten Glauben durch Vorlagebeschluss oder Schlussanträge für erschüttert, sahen sich aber außerstande, die Rückwirkung nur bis dahin zu beschränken. Die praktische Bedeutung dieser Problematik ist in den letzten Jahren gewachsen, da die Schlussanträge der Generalanwälte und die Vorlagebeschlüsse der nationalen Gerichte in den Mitgliedstaaten immer mehr Beachtung finden.539

535

In diese Richtung auch Meilicke, DB 2005, 2658, 2660; Sedemund, IStR 2005, 814, 815; Frischmuth, StuB 2006, 149, 152; Thömmes, IWB 2005, 1089, 1093 f. 536 Wiedmann, EuZW 2007, 692, 694; Düsterhaus, EuZW 2006, 393, 394. 537 So aber GA Tizzano, SchlA v. 10.11.2005 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Rn. 57; wie hier Kokott/Henze, NJW 2006, 177, 179; Kokott/Henze, BB 2007, 913, 918. Die Verantwortung des Mitgliedstaats für sein Verfahrensrecht anerkennen auch Steinberg/Bark, EuZW 2007, 245, 247. 538 Dazu ausführlich unten § 7 E., S. 377 ff. A.A. ohne Begründung Wiedmann, EuZW 2007, 692, 693. 539 Düsterhaus, EuZW 2006, 393, 394 f.

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c) Mehrere Phasen des guten Glaubens? Abhilfe könnte schaffen, die Rückwirkungsbeschränkung bezogen auf einzelne Phasen vor dem Erlass des Urteils vorzunehmen.540 Zu beurteilen wäre dann jeder frühere Zeitpunkt für sich. Schwierig, aber durchführbar, dürfte dabei die Bestimmung der Zeitpunkte sein, die den Wechsel von einer auf eine andere Phase markieren.541 Es darf dem Gerichtshof zugemutet werden, dass er genau ermittelt, welche Umstände den Vertrauenstatbestand begründet oder vernichtet haben. Durch einen einheitlichen Rückwirkungszeitraum (wie ihn der EuGH zugrunde legt) wird die Vertrauenssituation eines Zeitpunkts auf den gesamten Zeitraum davor übertragen, was nicht der Realität des guten Glaubens zu den früheren Zeitpunkten entsprechen muss. Änderungen der Rechtsansichten der Unionsorgane werden so entweder ignoriert oder bestimmen auch für die Zeit vor ihrer Änderung den guten Glauben. Später auftretendes vertrauensbegründendes Verhalten kann so zu einer Heilung des früheren Mangels an gutem Glauben führen. Mit dem Konzept der Vertrauens“veranlassung“ dürfte dies schwer zu vereinen sein. Durch die punktuelle Betrachtung des EuGH bleibt weiterhin unberücksichtigt, welche Dauer eine bestimmte Rechtsansicht hatte. Wenn eine jahrzehntelang in Kraft befindliche Regelung (nur) von Unsicherheiten über ihre konkrete Bedeutung begleitet wurde und die Kommission erst wenige Monate vor Einleitung des Vorlageverfahrens eine falsche Rechtsansicht in einer Weise äußert, die grundsätzlich geeignet wäre, einen guten Glauben zu begründen, sollte sich der gute Glaube nicht auf den gesamten früheren Zeitraum erstrecken. Dem steht auch nicht entgegen, dass durch die Lösung des EuGH ein ständiges Hin und Her des Inhalts des Unionsrechts verhindert wird. Dem lässt sich zum einen dadurch Rechnung tragen, dass ein einmal zerstörter guter Glaube nicht wieder neu begründet werden kann. Zum anderen verlangt die Aufhebung des guten Glaubens von den Rechtsunterworfenen nicht zwingend eine Änderung ihrer Rechtslage, sondern nur eine (Vorsorge-)Reaktion auf die nunmehr bestehende Unsicherheit über die unionalen Vorgaben.542 Die Anforderungen sind also nicht strenger als bei dem Inkrafttreten einer neuen, inhaltlich unklaren Unionsnorm.

540 Dies befürwortet z.B. Forsthoff, DStR 2005, 1840, 1842, der jedoch auf die Nachholung der in einem früheren Urteil unterbliebenen Rückwirkungsbeschränkung abzielt; diese Frage soll eingehend unten § 7 C.I.3.a), S. 331 ff. erörtert werden. 541 Kritisch hingegen HdStR-Maurer, 3. Aufl. 2006, § 79 Rn. 148. 542 Das übersieht wohl Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 193.

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d) Flexiblere Anknüpfung bei Beginn und Ende des guten Glaubens? Selbst dann bestünde immer noch die Möglichkeit, dass sich der Inhalt des Unionsrechts zweimal ändert, wenn der Anfangszeitpunkt des guten Glaubens nicht mit dem Inkrafttreten der Norm zusammenfällt. Vom Inkrafttreten bis zur Begründung guten Glaubens würde dann die „richtige“ Rechtslage gelten müssen, danach bis zum Urteil oder zur Zerstörung des guten Glaubens die „falsche“ und ab dann wiederum die „richtige“. Die Ungleichbehandlung dieser drei Zeiträume lässt sich mit dem guten Glauben durchaus rechtfertigen, erscheint allerdings nicht praktikabel. Entgegenwirken kann man dem nur, indem man in Einzelfällen die Rechtsfolgen des guten Glaubens auf die Unsicherheit zwischen Inkrafttreten der Norm und vertrauensveranlassendem Verhalten erstreckt. Dann bleibt nur zu begründen, dass das Ende des guten Glaubens flexibler bestimmt werden sollte. Ein Bedürfnis danach lässt schon die Trittbrettfahrerproblematik erkennen.543 Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass der Rückwirkungszeitpunkt die abgrenzende Zäsur zwischen den ungleich behandelten Sachverhalten darstellt.544 Die Fälle, die davor liegen, werden nach der irrtümlichen, die Fälle danach nach der „richtigen“ Auslegung behandelt. Die Grenzlinie sollte sich daher auch am tatsächlichen Gutglaubenstatbestand ausrichten, denn nur dieser rechtfertigt die Ungleichbehandlung.545 Außerdem gibt es eine Fallkonstellation, in der der Gerichtshof einen früheren Zeitpunkt als Bezugspunkt akzeptiert: Wenn ein früheres Urteil eine Rückwirkungsbeschränkung enthält, zerstört es zwar darüber hinaus gehenden guten Glauben, gleichzeitig wird in späteren Urteilen die Rückwirkungsbeschränkung übertragen.546 Zu beachten ist, dass sich durch den kürzeren Zeitraum der strenge Gutglaubensmaßstab nicht verändert und dass dann die schweren wirtschaftlichen Auswirkungen schon für ein kürzeres Intervall drohen müssen. Als Anknüpfungspunkte kommen vor allem die Veröffentlichung der Einleitung des unionalen Verfahrens im Amtsblatt und die Präsentation der Schlussanträge in Betracht.547 Maßgeblich ist deren Relevanz für den unionsbezogenen Gutglaubenstatbestand.548 Besonders bedeutsam ist hierbei die 543 Vgl. Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 104. 544 Pohl, Rechtsprechungsänderung und Rückanknüpfung, 2005, S. 192. 545 Vgl. Pohl, Rechtsprechungsänderung und Rückanknüpfung, 2005, S. 193 ff. 546 Dazu im Einzelnen unten § 7 C.I.3.b), S. 339 ff. 547 Ausführliche Überlegungen auch bei Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 104 f.; Wiedmann, EuZW 2007, 692, 694 f.; GA Stix-Hackl, SchlA v. 14.3.2006 – Rs. C-475/03 Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373 Rn. 169-172 (alle freilich mit dem Ziel einer Änderung des Bezugspunkts der personellen Rückausnahme). 548 Im Hinblick auf den geschaffenen Sorgfaltsmaßstab kritisch Seer, ET 46 (2006), 470, 474.

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Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens. Nach der Rechtsprechung des EuGH zerstörte diese zuletzt stets einen eventuellen guten Glauben. Folgerichtig muss dann spätestens die Klageerhebung auch den Zeitpunkt der Rückwirkungsbeschränkung markieren. Das liefe darauf hinaus, dass in Vertragsverletzungsverfahren eine Rückwirkungsbeschränkung niemals auf den Tag des Urteils abstellen dürfte, wenn man nicht Handlungen im selben Verfahren als unbeachtlich ansieht.549 Bei der Auslegungsvorlage hat die Verfahrenseinleitung grundsätzlich keine Auswirkung auf den guten Glauben, da sie auf das Betreiben der nationalen Gerichte erfolgt und daher der Union nicht zuzurechnen ist. Gerade wenn allein der (nationale) Vorlagebeschluss zu einer Vielzahl von vorsorglich eingelegten Rechtsbehelfen führt, muss man zweifeln, dass ein ernsthaftes Vertrauen in eine konkrete Unionsrechtslage bestanden hat. Die Schlussanträge desselben Verfahrens können den guten Glauben nur ausnahmsweise zerstören.550 Sie sind primär nur Äußerungen eines Einzelnen, die den Gerichtshof nicht binden551 und dessen Urteil auch statistisch nicht vorwegnehmen552. Sie stammen jedoch ebenso von einer unionalen Stelle, die objektiv über den Inhalt des Unionsrechts urteilt. Maßgeblich dürfte aber vor allem sein, dass hier eine Klärung der Rechtslage durch den EuGH kurz bevorsteht.553 Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass der Zeitraum von den Schlussanträgen bis zum Urteil so lang ist, dass er eine unterschiedliche Beurteilung der Gutglaubenssituation rechtfertigt.554 Schließlich können die von den Verfahrensbeteiligten vorgetragenen Rechtsmeinungen als Äußerungen mit nationaler oder mitgliedstaatlicher Herkunft kein unionsbezogenes Vertrauen vernichten; unbedeutend ist gleichfalls ein eventueller Antrag auf Beschränkung der Rückwirkung, der zur Ausnutzung aller Rechtsschutzmöglichkeiten gestellt werden kann und sollte.

549

Vgl. den Einwand von Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 144. Zur Frage, ob eine Rückwirkungsbeschränkung in Vertragsverletzungsverfahren in Betracht kommt, oben § 5 E.I., S. 125 ff. 550 Vgl. EuGH v. 8.9.1994 – verb. Rs. C-363/93, C-407/93 bis C-411/93 Lancry u.a., Slg. 1994, I-3957 Rn. 44 für die Berücksichtigung in einem anderen Verfahren ergangener Schlussanträge. 551 Das betont auch Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 105. 552 Problematisch daher Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 193, der einerseits eine Erfolgsquote der Generalanwälte von 90% zugrunde legt, andererseits deren Rechtsansichten trotzdem nur für „eine unter vielen“ hält. 553 Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 193. 554 Z.B. bei Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung.

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7. Kein Kausalitätserfordernis Anders als bei der unechten Gesetzesrückwirkung555 oder dem Vertrauensschutzprinzip bei unionalem Verwaltungshandeln556 ist es nicht erforderlich, dass die Vertrauensgrundlage für die Vertrauensbetätigung kausal war. Der Obersatz des Gerichtshofs scheint zwar die Prüfung der Abhängigkeit von gutem Glauben und Unionsrechtsverstoßt nahezulegen: die Rechtsunterworfenen müssen zu dem „unvereinbaren Verhalten veranlasst worden [sein], weil eine objektive und bedeutende Unsicherheit […] bestand“.557 Der EuGH hat ein solches Merkmal jedoch bisher nicht geprüft. Da es sich um einen objektiven Gutglaubensmaßstab handelt, kann eine solche Abhängigkeit auch gar nicht ermittelt werden. Ein Zusammenhang mit dem Irrtum der Betroffenen wird insoweit durch die schwerwiegenden wirtschaftlichen Auswirkungen unwiderleglich vermutet. 8. Abschließendes Beispiel und Zwischenfazit – Die Rechtssache Mangold Abschließend soll die Anwendung dieser Ergebnisse am Beispiel der Rechtssache Mangold erläutert werden. Dort entwickelte der Gerichtshof ein primärrechtliches Verbot der Altersdiskriminierung und hielt eine nationale Gesetzesregelung, die Befristungen allein aufgrund des fortgeschrittenen Alters des Arbeitnehmers zuließ, für mit dem Verbot unvereinbar. Eine Beschränkung der Rückwirkung nahm der Gerichtshof nicht vor. Zu Recht hielt der Gerichtshof zuerst möglicherweise bestehendes Vertrauen in die klare nationale Gesetzeslage für unerheblich. Insoweit war auch nicht maßgeblich, aus welchem Grund die nationale Regelung eingeführt oder aufrechterhalten wurde. Zu prüfen war „lediglich“, ob die Rechtsunterworfenen Grund hatten davon auszugehen, dass das Unionsrecht die nationale Regelung nicht verbieten würde. Dabei gehen Unsicherheiten über den Inhalt des Unionsrechts zu Lasten der Rechtsunterworfenen. Dass es sich bei der Entwicklung des Altersdiskriminierungsverbots um Rechtsfortbildung handelte, spielt nur in geringem Maße eine Rolle. Die Frage des guten Glaubens hängt vom richtigen Bezugspunkt ab. Ein unionales, primärrechtliches Verbot der Altersdiskriminierung war zwar nicht konkret vorherzusehen. Darauf kommt es jedoch nicht an. Entscheidend war, dass sich die Rechtsunterworfenen nicht sicher sein konnten, dass ein solcher Grundsatz jedenfalls nicht besteht. Vorgegebener Ausgangspunkt für die Frage der Rückwirkungsbeschränkung ist dabei, dass die Herleitung des pri555

Heukels, Intertemporales Gemeinschaftsrecht, 1990, S. 173 ff. Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, 2002, S. 503. 557 Z.B. EuGH v. 11.8.1995 – verb. Rs. C-367/93 bis C-377/93 Roders B.V. u.a., Slg. 1995, I-2229 Rn. 43; EuGH v. 20.9.2001 – Rs. C-184/99 Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193 Rn. 53; weitere Nachweise siehe § 6 Fn. 188 (Hervorhebung vom Verfasser). 556

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märrechtlichen Altersdiskriminierungsverbots methodengerecht erfolgt ist; entsprechende Zweifel spielen hier keine Rolle mehr. Erforderlich wäre ein der Union zurechenbares Verhalten gewesen, welches guten Glauben für eine andere Rechtsansicht begründet haben musste. Die hierfür allein in Betracht kommende Richtlinie 2000/78/EG ließ sich aber (nach insofern maßgeblicher Ansicht des Gerichtshofs) gerade nicht in diesem Sinne interpretieren. Eine Bestätigung der Rechtmäßigkeit der nationalen Befristungsregelung war dem Verhalten der Unionsorgane nicht zu entnehmen. Die Kriterien des Gerichtshofs erweisen sich damit im Ergebnis als ausgesprochen streng, weshalb es nur selten zu einer Beschränkung der Rückwirkung kommt. Für die Mitgliedstaaten liegt deshalb ein wesentlicher Fokus auf der Frage, inwieweit nationaler Vertrauensschutz möglich ist.558 Gleichzeitig lassen sich nur schwer Voraussagen treffen, da die Feststellung des guten Glaubens eine Einzelfallabwägung ist.559 III. „Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Auswirkungen“ Als letzte Voraussetzung einer Beschränkung der Rückwirkung seiner Auslegungsentscheidungen verlangt der EuGH eine „Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Auswirkungen […], die insbesondere mit der großen Zahl von Rechtsverhältnissen zusammenhingen, die gutgläubig auf der Grundlage der als gültig betrachteten Regelung eingegangen worden waren“560. Ebenso ist die Formulierung „Gefahr schwerwiegender Störungen“561 gebräuchlich. Der Gerichtshof verwendete früher und insbesondere in seinen eine Rückwirkungsbeschränkung bejahenden Entscheidungen wechselnde Formulierungen,562 scheint sich jedoch zuletzt auf den genannten Obersatz konsolidiert zu haben. Dieser soll daher auch hier im Folgenden verwendet werden.563

558

Dazu unten 5. Teil, S. 449 ff. Raitio, The Principle of Legal Certainty in EC Law, 2003, S. 199. 560 EuGH v. 20.9.2001 – Rs. C-184/99 Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193 Rn. 53; EuGH v. 4.10.2001 – Rs. C-294/99 Athinaïki Zythopoiia AE, Slg. 2001, I-6797 Rn. 36; EuGH v. 29.11.2001 – Rs. C-366/99 Griesmar, Slg. 2001, I-9383 Rn. 76; EuGH v. 15.3.2005 – Rs. C-209/03 Bidar, Slg. 2005, I-2119 Rn. 69; EuGH v. 27.4.2006 – Rs. C-423/04 Richards, Slg. 2006, I-3585 Rn. 42; EuGH v. 18.1.2007 – Rs. C-313/05 Brzezinski, Slg. 2007, I-513 Rn. 57; EuGH v. 13.4.2010 – Rs. C-73/08 Bressol u.a., Slg. 2010, I-2735 Rn. 93; EuGH v. 3.6.2010 – Rs. C-2/09 Kalinchev, Slg. 2010, I-4939 Rn. 51. 561 EuGH v. 13.4.2010 – Rs. C-73/08 Bressol u.a., Slg. 2010, I-2735 Rn. 91; ähnlich EuGH v. 17.5.1990 – Rs. C-262/88 Barber, Slg. 1990, I-1889 Rn. 41. 562 Überblick bei Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 64 ff. 563 Mit guten Gründen bezeichnet Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 115 den Begriff der „Störungen“ als besonders treffend. 559

§ 6 Der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung

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1. Zweck des Merkmals Bedeutung und Reichweite des Merkmals können nur mit Blick auf seinen Zweck beurteilt werden. Der Gerichtshof und die Generalanwälte haben insoweit noch keine Aufklärung geleistet. Zuerst könnte es sich um ein Mittel handeln, um Fälle mit Bagatellauswirkungen auszuschließen. Dafür sind jedoch sowohl die Formulierung („schwerwiegend“) als auch die im Ergebnis vom EuGH aufgestellten Anforderungen deutlich zu streng. Weiter wurde hier schon angeführt, dass das Merkmal den „guten Glauben“ insoweit ergänzt, als es eine empirische Feststellung über die Reichweite des guten Glaubens ermöglicht. Der objektivierte Maßstab des guten Glaubens verlangt nämlich keine Aussage darüber, in wie vielen Fällen tatsächlich von der falschen Rechtslage ausgegangen wurde. Daher ist ein Korrektiv notwendig, denn die Rückwirkungsbeschränkung wirkt gegenüber allen Rechtsunterworfenen, auch denjenigen, die von der „richtigen“ Rechtslage ausgegangen sind. Soweit ihre Rechtsverhältnisse an die „falsche“ Rechtslage angepasst werden müssen, werden sie auf Kosten der Gegenseite schlechter gestellt. Um diese Auswirkungen in Grenzen zu halten, sollten möglichst wenige Rechtsverhältnisse unter Zugrundelegung der richtigen Rechtslage eingegangen worden sein. Das wirtschaftliche Tatbestandsmerkmal spiegelt außerdem die Verantwortung des Gerichtshofs für die Folgen seiner Urteile wider. Regelmäßig wird denn in diesem Zusammenhang auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Rückwirkung verwiesen.564 Dabei wird beispielsweise auf Art. 126 AEUV rekurriert, weil es inkonsequent sei, den Mitgliedstaaten die Verpflichtung eines ausgeglichenen Haushalts aufzuerlegen, aber bei der Anwendung des Unionsrechts auf die finanziellen Folgen keine Rücksicht zu nehmen.565 Im Gegensatz dazu begrenzt das finanzielle Merkmal den Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung jedoch noch zusätzlich, da es kumulativ zum guten Glauben vorliegen muss. Damit dient das Erfordernis als weitere Verkürzung der Rückwirkungsbeschränkung auf Ausnahmefälle. Das

564

Vgl. Arnull, The European Union and its Court of Justice, 2. Aufl. 2006, S. 551; Raitio, The Principle of Legal Certainty in EC Law, 2003, S. 355; Altmeyer, Vertrauensschutz im Recht der Europäischen Union und im deutschen Recht, 2003, S. 156; Saßenroth, Die Bestandskraft deutscher Steuerbescheide im Licht der Rechtsprechung des EuGH, 2009, S. 49. 565 Schnitger, Die Grenzen der Einwirkung der Grundfreiheiten des EG-Vertrages auf das Ertragsteuerrecht, 2006, S. 143, der jedoch auf Art. 101-103 EG verweist. Vgl. auch schon du Pré, SEW 1976, 578, 585 f. (zitiert nach Meyer, Auswirkungen des EGDiskriminierungsverbots, 1994, S. 210 f.), der auf das Vorbringen der irischen Regierung in Defrenne II verweist, wonach Art. 6 Abs. 2 EWGV die Organe der EG zur Rücksichtnahme auf die innere und äußere finanzielle Stabilität der Mitgliedstaaten verpflichtet.

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Merkmal ist daher gerade nicht integrations- oder markthemmend.566 Der Gerichtshof bewertet so nämlich die zeitbezogene Einheitlichkeit des Unionsrechts im Normalfall auch gegenüber einem unverschuldeten Irrtum der Rechtsunterworfenen als vorrangig. 2. Doppelte Verknüpfung mit dem „Gutglaubensmerkmal“ Der Zweck des wirtschaftlichen Merkmals spiegelt auf diese Weise deutlich die doppelte Verknüpfung mit dem Erfordernis eines „guten Glaubens“ wider: Zum einen kann die Rückwirkung nur beschränkt werden, wenn Rechtssicherheit und finanzielle Folgenverantwortung es gebieten. Es müssen beide Merkmale kumulativ vorliegen.567 Zum anderen sind die wirtschaftlichen Auswirkungen in Abhängigkeit vom Gutglaubensmerkmal zu bestimmen. Berücksichtigt werden nur die finanziellen Störungen, die auf dem Irrtum über den Inhalt des Unionsrechts beruhen. Denn es sind gerade die von den Rechtsunterworfenen im Hinblick auf den Vertrauenstatbestand getroffenen Dispositionen, die sie schutzwürdig machen.568 So ist auch ausgeschlossen, dass das tatsächliche Ausmaß der wirtschaftlichen Folgen von den Rechtsunterworfenen manipuliert werden kann. Versuchen diese die Störungen künstlich zu verschlimmern, scheitert eine Rückwirkungsbeschränkung insofern schon am guten Glauben.569 Nicht ausgeschlossen ist hingegen, dass nachträglich – also nach Bekanntwerden (der Möglichkeit) eines Irrtums – die finanziellen Auswirkungen überhöht dargestellt werden.570 3. Beachtung der Auswirkungen auf alle Mitgliedstaaten Die wirtschaftlichen Auswirkungen müssen grundsätzlich mit Blick auf alle Mitgliedstaaten und alle Rechtsunterworfenen ermittelt werden.571 Dies folgt zum einen aus der dogmatischen Anknüpfung an die Auslegung einer Unionsnorm, die nur unionseinheitlich erfolgen kann, und deren allgemeinen Bindungswirkung. Zum anderen machen sowohl das Konnexitätsmerkmal des EuGH als auch die hier vertretene Berücksichtigung dieses Einheitlichkeits-

566

A.A. Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 178 f. m.w.N. 567 Siehe oben sub § 6 B., S. 133 ff. 568 Huep, Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf ältere Sachverhalte, 2001, S. 238 f. 569 Vording/Lubbers, BTR 2006, 91, 112 und dies., How to limit the budgetary impact of the European Court's tax decisions?, 2005, S. 20. 570 Dazu unten § 6 B.III.4.c), S. 233 f. 571 Wie hier BSG v. 18.2.2004 – B 10 EG 10/03 R, Rn. 23; a.A. Lang, Intertax 35 (2007), 230, 237; Schnitger, Die Grenzen der Einwirkung der Grundfreiheiten des EGVertrages auf das Ertragsteuerrecht, 2006, S. 143 f.

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bestrebens im guten Glauben es notwendig, die Auswirkungen auf alle Mitgliedstaaten zu beachten. Daher müssen im jeweiligen Verfahren nicht nur Auswirkungen auf den Mitgliedstaat bewertet werden, dessen nationale Vorschrift Anlass für die EuGH-Entscheidung war. Die wirtschaftlichen Auswirkungen können sich in allen Mitgliedstaaten zeigen und müssen insoweit berücksichtigt werden.572 Erst recht darf der Blick nicht nur auf einzelne Parteien des Vorlageverfahrens gerichtet werden.573 Folglich können auch Mitgliedstaaten, deren nationale Vorschriften nicht Anlass für das Auslegungsverfahren sind, eine Rückwirkungsbeschränkung anregen und die notwendigen Voraussetzungen erfüllen.574 Abgesichert wird dies prozessual durch die Beteiligungsrechte der Mitgliedstaaten im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 23 EuGHSatzung in Verbindung mit Art. 96 Abs. 1 lit. b) EuGH-VerfO (Art. 104 § 1 EuGH-VerfO a.F.) und die Möglichkeit die mündliche Verhandlung nach Art. 83 EuGH-VerfO (Art. 61 VerfO a.F.)/Art. 62 EuG-VerfO wieder zu eröffnen. Bei letzterem kann der Gerichtshof auch gezielte Fragen nach den finanziellen Folgen eines Urteils an die Mitgliedstaaten richten.575 In vielen Urteilen wirkt sich die Auslegung nur auf wenige oder einzelne Mitgliedstaaten aus. Daraus folgt jedoch nicht, dass deswegen die Rückwirkungsbeschränkung nur räumlich begrenzt gelten sollte, sondern dass dann nur die Auswirkungen auf diese Mitgliedstaaten erwogen werden müssen.576 572

GA Jacobs, SchlA v. 15.12.2005 – Rs. C-423/04 Richards, Slg. 2006, I-3585 Rn. 63; wohl auch EuGH v. 21.10.2010 – Rs. C-242/09 Albron Catering, Slg. 2010, I-10309 Rn. 38. Richtig daher insoweit der Vortrag der Verfahrensbeteiligten in EuGH v. 9.4.2014 – Rs. C-616/11 T-Mobile Austria, ECLI:EU:C:2014:242 Rn. 53. 573 So aber GA Trstenjak, SchlA v. 13.9.2012 – Rs. C-92/11 RWE Vertrieb, ECLI:EU: C:2012:566 Rn. 100; individuelle Betroffene betrachtend auch Säcker/Mengering, BB 2013, 1859, 1865. 574 Vgl. GA Kokott, SchlA v. 15.2.2007 – Rs. C-178/05 Kommission ./. Griechenland, Slg. 2007, I-4185 Rn. 86 zum Vortrag eines Streithelfers; a.A. GA Sharpston, SchlA v. 13.7.2006 – Rs. C-290/05 Nádasdi, Slg. 2006, I-10115 Rn. 81; dem zustimmend Domahidi, EuZW 2007, 127, 128. Zumindest in den Formulierungen zu eng daher auch GA Jääskinen, SchlA v. 15.7.2010 – Rs. C-147/08 Römer, Slg. 2011, I-3591 Rn. 159 ff., der nur die Auswirkungen auf Deutschland und dazu noch auf das im Ausgangsverfahren beklagte Bundesland Hamburg untersucht. Zu Einzelheiten hinsichtlich der „Antragsbefugnis“ unten § 11 B., S. 410 ff. 575 Vgl. Moore, CMLRev 34 (1997), 727, 730; GA Tesauro, SchlA v. 29.2.1996 – Rs. C-308/93 Cabanis-Issarte, Slg. 1996, I-2097 Rn. 17; GA Colomer, SchlA v. 6.9.2007 – Rs. C-267/06 Maruko, Slg. 2008, I-1757 Rn. 110 Fn. 104. 576 A.A. GA Stix-Hackl, SchlA v. 14.3.2006 – Rs. C-475/03 Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373 Rn. 180-186; wohl auch Lasiński-Sulecki/Morawski, CMLRev 45 (2008), 705, 720 f. Kritisch ebenso Arnull, The European Union and its Court of Justice, 2. Aufl. 2006, S. 539; Lang, IStR 2007, 235, 238; Lang, Intertax 35 (2007), 230, 238; Müller, Die Begrenzung der zeitlichen Wirkungen von EuGH-Entscheidungen, 2009, S. 83.

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Wenn eine Auslegung keine Folgen für einen Mitgliedstaat hat, besteht kein Anlass, den Schutz zu Gunsten eines anderen Mitgliedstaats deswegen zu schmälern. Problematisch ist hierbei lediglich, die Betroffenheit der anderen Mitgliedstaaten zu bestimmen. Beispielsweise könnte eine Auslegung des Unionsrechts ergeben, dass eine Steuerbestimmung wie die des Mitgliedstaats X unionsrechtswidrig ist, und dass dies auf X große finanzielle Auswirkungen hat. Wenn kein anderer Mitgliedstaat eine vergleichbare Regelung hat, könnte man annehmen, nur die Auswirkungen auf X seien maßgeblich, da keine anderen Mitgliedstaaten Einbußen hinzunehmen haben. Wurde aber in einem anderen Mitgliedstaat Y eine vergleichbare Steuerregelung im Hinblick auf die Unionsvorschrift abgeschafft oder im Mitgliedstaat Z nicht eingeführt, so hätten Y und Z ihre finanziellen Einbußen nur vorausschauend vermieden. Diese mittelbare Betroffenheit wird jedoch schon durch den Vertrauenstatbestand aufgefangen. In einer Situation wie der geschilderten, darf der Gerichtshof nicht mehr vom guten Glauben des Mitgliedstaats X in die Unionsrechtslage ausgehen. Anderenfalls würden die Mitgliedstaaten ungerechtfertigt ungleich behandelt. Daher kann die Betroffenheit von anderen Mitgliedstaaten das Merkmal der wirtschaftlichen Auswirkungen nur begründen, deren Nichtbetroffenheit das Merkmal jedoch nicht verneinen. Wollen die mittelbar betroffenen Mitgliedstaaten eine Ungleichbehandlung verhindern, so müssen sie im Rahmen der Prüfung des guten Glaubens intervenieren. 4. „Wirtschaftliche Auswirkungen“ Der Begriff der „wirtschaftlichen“ oder „finanziellen Auswirkungen“ ist weit zu verstehen.577 Er erfasst alle in Geld messbaren direkten und indirekten Folgen, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs für die Vergangenheit ergeben würden. Da die Sachverhalte aus allen Rechtsgebieten stammen, können sich die Auswirkungen sowohl in Staatshaushalten (z.B. bei Abgabenangelegenheiten) als auch vorrangig bei Privatrechtssubjekten (z.B. im Versicherungswesen) oder öffentlich-rechtlichen Rechtssubjekten (z.B. bei Universitätsausbildung) zeigen.578 Die wirtschaftlichen Auswirkungen sind die finanzielle Kehrseite des Vertrauens in die unionale Rechtslage. Der gute Glaube bezieht sich (mittelbar) auf den Bestand oder Nichtbestand eines konkreten Rechtsverhältnisses. Die (finanziellen) Lasten aus diesem Rechtsverhältnis konstituieren die wirt577 In diesem Sinne wohl Egger, öAnwBl 2001, 528, 531, der auch andere als finanzielle Konsequenzen nicht ausschließen möchte; ebenso Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 117 f. 578 Anders noch GA Warner, SchlA v. 30.11.1976 – Rs. 33/76 Rewe ./. Landwirtschaftskammer Saarland, Slg. 1976, 2000, 2006, der Belastungen der Staatshaushalte nicht als ausreichend ansah.

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schaftlichen Auswirkungen. Der Kreis der Betroffenheit ist weit zu ziehen. Er erfasst auch die Werthaltigkeit der Ansprüche von Fondsmitgliedern gegen ihren Fonds, wenn sich die Auslegung auf die Finanzierungsgrundlage und damit auf die finanzielle Leistungsfähigkeit des Fonds auswirkt.579 Die wirtschaftliche Auswirkung fehlt einer Auslegung jedoch, wenn sie das Unionsprozessrecht betrifft und zu einem abweisenden Prozessurteil im Vertragsverletzungsverfahren führt.580 Dann ist nur das Prozessrechtsverhältnis betroffen. Die Kosten müssen für vergangene Rechtsverhältnisse entstehen. Solange der Gerichtshof eine Beschränkung auf einen Zeitpunkt in der Zukunft nicht in Betracht zieht, fallen Belastungen in der Zukunft in jedem Fall an, weil sie durch die Rückwirkungsbeschränkung nicht beseitigt werden können. Daher sind sie für die Frage der Rückwirkungsbeschränkung irrelevant. Außerdem hängen die zukünftigen Belastungen vor allem davon ab, wie schnell eine Neuregelung durch die Mitgliedstaaten oder Privatrechtssubjekte erlassen wird, also von deren eigenem Verhalten.581 a) Tatsächliche Reichweite der Auswirkungen Um die wirtschaftlichen Auswirkungen zu bestimmen, muss der Gerichtshof ermitteln, wie viele Rechtsverhältnisse aufgrund bestehender (nationaler) Verjährungs- und Ausschlussfristen oder aufgrund von Rechts- oder Bestandskraft überhaupt noch betroffen sein können.582 Maßgeblich ist die „tatsächlich realisierte Bindungswirkung“ seines Urteils.583 Bei Abgabensachverhalten sind nur solche Beträge beachtlich, die zurückgezahlt werden müssen und die über das hinausgehen, was für eine an die Stelle der rechtswidrigen 579 EuGH v. 19.3.2002 – Rs. C-426/98 Kommission ./. Griechenland, Slg. 2002, I-2793 Rn. 41. 580 Vgl. GA Cosmas, SchlA v. 17.2.1998 – Rs. C-191/95 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1998, I-5449 Rn. 42 ff. Der GA hielt die Stellungnahme nach Art. 258 Abs. 1 AEUV aus formellen Gründen für unwirksam und empfahl die Vertragsverletzungsklage als unzulässig abzuweisen. Für diesen Fall hatte die Kommission die Rückwirkungsbeschränkung beantragt. 581 GA van Gerven, SchlA v. 4.5.1994 – Rs. C-408/92 und C-28/93 Smith und van den Akker u.a., Slg.1994, I-4435 Rn. 17. 582 Heß, ZZP 108 (1995), 59, 69 f.; Schwarze, EuR 1977, 43, 50; Huep, Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf ältere Sachverhalte, 2001, S. 106 „detaillierte Betrachtung […] im jedem Einzelfall“; Langenfeld, Die Gleichbehandlung von Mann und Frau im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1990, S. 95; vgl. auch GA Trabucchi, SchlA v. 10.3.1976 – Rs. 43/75 Defrenne II, Slg. 1976, 482, 493; GA Cosmas, SchlA v. 17.2.1998 – Rs. C-191/95 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1998, I-5449 Rn. 43; GA Colomer, SchlA v. 26.3.1998 – Rs. C-231/96 Edilizia Industriale Siderurgica Srl (Edis), Slg. 1998, I-4951 Rn. 29; GA Wahl, SchlA v. 24.10.2013 – Rs. C-82/12 Transportes Jordi Besora, ECLI:EU:C:2013:694 Rn. 51 f. 583 Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, 1996, S. 111, 121.

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Abgabe tretende zulässige Abgabe zu entrichten wäre.584 Unbeachtlich sind solche finanziellen Lasten, die nur in Einzelfällen (z.B. bei den Parteien des Ausgangsverfahrens) angefallen sind und nicht (auf die anderen Rechtsunterworfenen) verallgemeinert werden können.585 Die aus der Akkumulation geschuldeter Beträge und Zinsen entstehenden zusätzlichen Belastungen hielt der Gerichtshof für unbeachtlich, wenn diese durch eine Zahlung unter Vorbehalt hätten abgewendet werden können.586 Kann eine in der Zwischenzeit in Kraft getretene nationale Regelung die Folgen des EuGH-Urteils abschwächen, verringern sich entsprechend die wirtschaftlichen Auswirkungen.587 aa) Mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie Dem scheint es zu widersprechen, wenn der Gerichtshof in der Rechtssache Legros die wirtschaftlichen Auswirkungen wohl insbesondere deshalb als schwerwiegend einschätzt, weil durch die französische dreißigjährige Verjährungsfrist eine Vielzahl von Rechtsverhältnissen noch nicht bestandskräftig war.588 Einerseits ließe sich überlegen, das Risiko von Auswirkungen von Fristen, die länger sind als gerade noch unionsrechtlich zulässig, den Mitgliedstaaten zuzuschreiben. Dann wären finanzielle Folgen aus dieser Verjährungsfrist auf ein geringeres Maß zu kürzen. Andererseits würde dadurch ein faktischer Anreiz für die Mitgliedstaaten gesetzt, ihre Regelungen auf dem niedrigsten möglichen Niveau des Individualrechtsschutzes zu vereinheitlichen. Der Gerichtshof sollte daher nur die schon geltenden Rechtsnormen berücksichtigen, nicht aber solche, die erst noch geschaffen werden müssten. Zu weit geht es deshalb, wenn die Mitgliedstaaten in der Rechtssache Brasserie du Pêcheur und Factortame pauschal darauf verwiesen werden, dass das nationale Verfahrensrecht, „rückwirkende“ Schadensersatzansprüche aus Gründen der Rechtssicherheit unter Beachtung von Äquivalenz und Effektivi-

584 EuGH v. 18.1.2007 – Rs. C-313/05 Brzezinski, Slg. 2007, I-513 Rn. 59; EuGH v. 3.6.2010 – Rs. C-2/09 Kalinchev, Slg. 2010, I-4939 Rn. 54 f.; EuGH v. 19.7.2012 – Rs. C-263/11 Rēdlihs, ECLI:EU:C:2012:497 Rn. 62. 585 EuGH v. 21.10.2010 – Rs. C-242/09 Albron Catering, Slg. 2010, I-10309 Rn. 38. 586 EuGH v. 12.9.2000 – Rs. C-359/97 Kommission ./. Großbritannien und Nordirland, Slg. 2000, I-6355 Rn. 95 i.V.m. EuGH v. 16.5.1991 – Rs. C-96/89 Kommission ./. Niederlande, Slg. 1991, I-2461 Rn. 39 i.V.m. Rn. 17. Dieser Fall dürfte jedoch nur dann eine Rolle spielen, wenn eine Zahlungspflicht schon im Raum steht oder angemahnt wurde. Dann wiederum dürfte es schon am guten Glauben in das Nichtbestehen dieser Zahlungspflicht fehlen. 587 EuGH v. 27.4.2006 – Rs. C-423/04 Richards, Slg. 2006, I-3585 Rn. 43; ausführlich GA Jacobs, SchlA v. 15.12.2005 – Rs. C-423/04 Richards, Slg. 2006, I-3585 Rn. 63. 588 EuGH v. 16.7.1992 – Rs. C-163/90 Legros u.a., Slg. 1992, I-4625 Rn. 34 i.V.m. Rn. 29.

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tät auch zeitlich beschränken kann.589 Dieser Einwand ließe sich bei nahezu jedem Sachverhalt vorbringen, denn mangels unionsrechtlicher Bestimmungen kommt den Mitgliedstaaten in weiten Teilen der Anwendung des Unionsrechts Verfahrensautonomie zu. Zudem geht diese Überlegung sachlich fehl, denn die Rückwirkungsbeschränkung zielt gerade auf den Ausschluss noch nicht bestandskräftiger Rechtsverhältnisse, weil die bestandskräftigen regelmäßig sowieso nicht von einem späteren Urteil berührt werden. Der Gerichtshof hat daher zu Recht diese Argumentation nicht wiederholt. Umgekehrt kann die bloße Tatsache, dass in den Mitgliedstaaten unterschiedliche Rückzahlungs- oder Verjährungsfristen bestehen, eine Rückwirkungsbeschränkung nicht begründen, da die Mitgliedstaaten für ihr Verfahrensrecht selbst verantwortlich sind.590 bb) Abwälzung der Lasten Abzuziehen sind ferner solche finanziellen Lasten, die von den Betroffenen auf andere Marktteilnehmer abgewälzt worden sind.591 Das betrifft insbesondere unionswidrige Abgaben, die entlang der Warenverkaufskette weitergereicht werden. Solche – nachweisbar – abgewälzten Abgaben müssen von den Mitgliedstaaten nicht erstattet werden.592 Da sie aber nur im Verhältnis von Abgabenschuldner gegenüber Mitgliedstaat zurückverlangt werden könnten, scheidet dann eine Erstattung gänzlich aus. Deshalb rufen diese Fälle keine Belastung des Mitgliedstaats hervor und können dessen wirtschaftliche Stabilität nicht stören. Relevante wirtschaftliche Störungen liegen hingegen vor, wenn im Privatrechtsverhältnis eine neue finanzielle Belastung eines Rechtsunterworfenen entsteht, die jedoch auf Dritte abgewälzt werden kann. Im Privatrecht ist es nicht maßgeblich, wer letztlich die wirtschaftlichen Folgen tragen muss, sondern nur dass solche entstehen. Wirtschaftliche Auswirkung hat deshalb auch die Verlagerung des Insolvenzrisikos eines Schuldners, z.B. durch die Schaffung eines weiteren, zusätzlichen Haftungsgegners, der jedoch bei dem bishe-

589

So aber EuGH v. 5.3.1996 – verb. Rs. C-46/93 und C-48/93 Brasserie du Pêcheur und Factortame, Slg. 1996, I-1029 Rn. 98 ff. 590 So noch das Vorbringen der Republik Italien in Rs. 61/79 Denkavit italiana, Slg. 1980, 1205, 1210. 591 EuGH v. 11.8.1995 – verb. Rs. C-367/93 bis C-377/93 Roders B.V. u.a., Slg. 1995, I-2229 Rn. 49; GA Jacobs, SchlA v. 21.11.1991 – Rs. C-163/90 Legros u.a., Slg. 1992, I-4625 Rn. 37; Hyland, IJEL 2 (1995), 208, 224 f.; wohl auch EuGH v. 27.5.1981 – verb. Rs. 142/80 und 143/80 Essevi und Salengo, Slg. 1981, 1413 Rn. 35. 592 EuGH v. 2.10.2003 – Rs. C-147/01 Weber’s Wine World, Slg. 2003, I-11365 Rn. 94; EuGH v. 14.1.1997 – verb. Rs. C-192/95 bis C-218/95 Comateb u.a., Slg. 1997, I-165 Rn. 20 ff. m.w.N.

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

rigen Verantwortlichen Regress nehmen kann.593 Anderes gilt nur dann, wenn gerade die Auswirkungen auf bestimmte Branchen oder Wirtschaftsbereiche die Rückwirkungsbeschränkung begründen sollen. Selbstverständlich können den Lasten der einen Seite nicht die Vorteile der anderen Seite gegenüber gestellt werden. Im Privatrecht würden sich diese Beträge zumeist aufheben, da regelmäßig gegenseitig verpflichtende Rechtsverhältnisse zu marktmäßigen Preisen betroffen sind. Eine Ausnahme besteht dort, wo die Belastung (teilweise) auf den eigentlich Begünstigten abgewälzt und gleichsam verrechnet wird, der Vorteil aus dem EuGH-Urteil also nur bei einer Gegenleistung gewährt wird. Dazu kommt es beispielsweise im Bereich der Rentenversicherungen, wenn der Gerichtshof zwar einen Gleichbehandlungsanspruch für die Vergangenheit postuliert, diesen aber von der Nachzahlung aller nicht erhobenen Beiträge abhängig macht.594 Hier fällt nur die Differenz beider Beträge als effektive Belastung der Rentenversicherungen an. b) Keine administrativen oder praktischen Schwierigkeiten Administrative oder praktische Schwierigkeiten bei der Herstellung eines rechtmäßigen Zustands in den Mitgliedstaaten sind hingegen unbeachtlich.595 Das umfasst die Anstrengungen, die den Mitgliedstaaten zur Last fallen, weil eine größere Zahl an Verwaltungsverfahren identifiziert oder neu bearbeitet werden muss.596 Da Rückforderungsansprüche im regulären Verwaltungsverfahren bearbeitet werden und der Rückfordernde üblicherweise die Beweislast für die Tatbestandsvoraussetzung trägt, erwachsen den Mitgliedstaaten hieraus keine ungewöhnlichen Belastungen.597 Dies ist im Übrigen konsistent mit der ständigen Unionsrechtsprechung zu Verstößen gegen die Grundfreiheiten, wo Verwaltungsschwierigkeiten keine Rechtfertigung liefern können, 593

EuGH v. 10.1.2006 – Rs. C-402/03 Skov und Bilka, Slg. 2006, I-199 Rn. 52 f., wo der EuGH jedoch die Auswirkungen nicht als „schwerwiegend“ ansieht. 594 Ein weiteres Beispiel ist, wenn bei der rückwirkenden Unwirksamkeit eines Versicherungsvertrags der (objektive) Wert des gewährten Versicherungsschutzes unabhängig von einer Verwirklichung des Risikos beim Versicherungsnehmer als Abrechnungsposten in der Rückabwicklung berücksichtigt wird. 595 EuGH v. 30.3.2006 – Rs. C-184/04 Uudenkaupungin kaupunki, Slg. 2006, I-3039 Rn. 58; Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 66 f.; a.A. Bydlinski, JBl 2001, 2, 24; Klappstein, Die Rechtsprechungsänderung mit Wirkung für die Zukunft, 2009, S. 215; kritisch auch Schmitz/Stammler, AöR 2011, 479, 497 f. 596 EuGH v. 12.10.2000 – Rs. C-372/98 Cooke, Slg. 2000, I-8683 Rn. 43. Vgl. auch EuGH v. 31.3.1992 – Rs. C-200/90 Dansk Denkavit und Poulsen Trading, Slg. 1992, I-2217 Rn. 20 ff. wo die Gefahr eines Zusammenbruchs der dänischen Gerichtsbarkeit behauptet, aber dennoch die Rückwirkung nicht beschränkt wurde. 597 EuGH v. 5.10.2006 – verb. Rs. C-290/05 und C-333/05 Nádasdi und Németh, Slg. 2006, I-10115 Rn. 65, 69; GA Sharpston, SchlA v. 13.7.2006 – Rs. C-290/05 Nádasdi, Slg. 2006, I-10115 Rn. 78.

§ 6 Der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung

233

oder zur Rückforderung von rechtswidrigen Beihilfen, wo der Verwaltungsaufwand ebenso keine Rückforderungshindernisse begründen kann.598 Wegen der Beweisbelastung des Antragstellers können Schwierigkeiten bei der Ermittlung oder Nachprüfung von Tatsachen (zum Beispiel aufgrund von Zeitablauf) nicht zu Gunsten einer Rückwirkungsbeschränkung ins Feld geführt werden.599 Gleiches gilt im Privatrechtsverhältnis, wo der Anspruchsteller ebenso zumeist beweispflichtig ist. c) Prüfung der Zahlen durch den Gerichtshof Das Ausmaß der wirtschaftlichen Auswirkungen kann vom EuGH nicht selbst bestimmt werden. Dazu wäre die Anwendung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten nötig, wozu dem Gerichtshof jedoch die Kompetenz fehlt.600 Der EuGH ist daher auf die Mithilfe der Parteien des Ausgangsverfahrens, der Mitgliedstaaten oder der Unionsorgane angewiesen, welche die nötigen Daten in das Verfahren einzuführen haben.601 Dennoch nimmt der Gerichtshof die vorgelegten Zahlen nicht einfach hin.602 Er behält sich vor, die Angaben auf ihre Schlüssigkeit zu prüfen und irrelevante Beträge zurückzuweisen.603 Ermöglicht wird diese Prüfung dadurch, dass der Gerichtshof die konkrete Aufschlüsselung der Zahlen verlangt.604 Außerdem werden auf diese Weise weniger ernsthafte Forderungen nach der Rückwirkungsbeschränkung ausgesondert, denn es besteht die Ver598

Vgl. Cordewener/Kofler/van Thiel, CMLRev 46 (2009), 1951, 1963 ff.; Gundel, EWS 2009, 350, 357; jeweils m.w.N. 599 EuGH v. 19.10.1995 – Rs. C-137/94 Richardson, Slg. 1995, I-3407 Rn. 36 f. 600 Huep, Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf ältere Sachverhalte, 2001, S. 106; kritisch daher Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 74; kritisch ebenso Lang, IStR 2007, 235, 237. 601 Im Einzelnen unten § 12, S. 417 ff. 602 Colneric, EuZA 2008, 212, 227. 603 Z.B. EuGH v. 29.11.2001 – Rs. C-366/99 Griesmar, Slg. 2001, I-9383 Rn. 77; EuGH v. 15.3.2005 – Rs. C-209/03 Bidar, Slg. 2005, I-2119 Rn. 70; EuGH v. 12.12.2006 – Rs. C-446/04 Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753 Rn. 224; EuGH v. 10.1.2006 – Rs. C-402/03 Skov und Bilka, Slg. 2006, I-199 Rn. 52 f.; EuGH v. 30.3.2006 – Rs. C-184/04 Uudenkaupungin kaupunki, Slg. 2006, I-3039 Rn. 57; GA Geelhoed, SchlA v. 29.6.2006 – Rs. 524/04 Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, Slg. 2006, I-2107 Rn. 112; GA Mengozzi, SchlA v. 12.9.2012 – Rs. C-395/11 BLV Wohnund Gewerbebau, ECLI:EU:C:2012:564 Rn. 105; EuGH v. 19.12.2013 – Rs. C-209/12 Endress, ECLI:EU:C:2013:864 Rn. 37; GA Wahl, SchlA v. 21.11.2013 – Rs. C-482/12 Macinský, ECLI:EU:C:2013:765 Rn. 103 f. 604 EuGH v. 7.7.2011 – Rs. C-263/10 Nisipeanu, Slg. 2011, I-97 Rn. 36 (abgekürzte Veröffentlichung); EuGH v. 19.7.2012 – Rs. C-263/11 Rēdlihs, ECLI:EU:C:2012:497 Rn. 62; EuGH v. 10.4.2014 – Rs. C-190/12 Emerging Markets Series of DFA, ECLI:EU: C:2014:249 Rn. 112; Sagan, JJZ 2010, 67, 81.

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

mutung, dass bei besonders bedeutenden Auswirkungen die von der Beschränkung Begünstigten den notwendigen Aufwand auch betreiben würden. Zudem wird verhindert, dass die Beteiligten eine Rückwirkungsbeschränkung leichtfertig in das Verfahren einführen.605 Gleichzeitig muss der Gerichtshof berücksichtigen, dass es für die Mitgliedstaaten nicht immer einfach ist, die finanziellen Auswirkungen zu bestimmen.606 Nachsicht ist geboten, wenn im Verfahren mehrere Lösungswege diskutiert werden und die Folgen nicht für jede der Varianten separat bestimmt werden können. Ohne Urteilstenor und begründung lässt sich die Reichweite eines Urteils nicht abschließend vorhersagen.607 Unbeachtlich bleiben hierbei Schwierigkeiten, die auf Nachlässigkeiten der Mitgliedstaaten beruhen. 5.

„Schwerwiegend“

Die finanziellen Auswirkungen eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs rechtfertigen nur dann eine Rückwirkungsbeschränkung, wenn sie „schwerwiegend“ sind, also ein großes Ausmaß erreicht haben. Der Gerichtshof lässt hier eine einheitliche Formulierung vermissen.608 Darüber hinaus scheint er auch in der Sache keine einheitlichen Anforderungen aufzustellen.609 Die Urteile des Gerichtshofs, in denen eine Beschränkung der Auslegungsrückwirkung vorgenommen wird, geben keine genauen Hinweise auf das Ausmaß der wirtschaftlichen Folgen. Weiterhin beschränkte der Gerichtshof die Rückwirkung sogar dann, wenn konkrete Zahlen ausdrücklich nicht zu erlangen, größere Belastungen jedoch absehbar waren.610 Deutlich tritt hingegen hervor, dass die schweren wirtschaftlichen Auswirkungen nur durch eine Vielzahl von Betroffenen erreicht werden können. Der EuGH legt demnach seiner Bewertung zugrunde, dass sein Urteil nicht nur 605

Ähnlich Kingston, CMLRev 44 (2007), 1321, 1358. Kritisch zum Vorgehen der Mitgliedstaaten auch Lüdecke, Bull.Int.Tax. 2008, 8, 12. 606 Lang, IStR 2007, 235, 236; ders., Intertax 35 (2007), 230, 241; Cordewener/Kofler/van Thiel, CMLRev 46 (2009), 1951, 1961. 607 Lang, IStR 2007, 235, 236 f.; ders., Intertax 35 (2007), 230, 239 f. 608 Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 64 ff. 609 Huep, Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf ältere Sachverhalte, 2001, S. 106, 239; Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 118 f. Steinberg/Bark, EuZW 2007, 245, 246; Koch, JbArbR 44 (2007), 91, 99 f.; kritisch auch Ciszewski, Glücksspielregulierung aus nationaler und gemeinschaftsrechtlicher Sicht, 2009, S. 176; Schlücke, Die Umsetzung von EuGH-Entscheidungen in das deutsche Steuerrecht, 2014, S. 82. 610 Vgl. EuGH v. 17.5.1990 – Rs. C-262/88 Barber, Slg. 1990, I-1889; EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, Slg. 1995, I-4921; EuGH v. 30.4.1996 – Rs. C-308/93 Cabanis-Issarte, Slg. 1996, I-2097. Zum Fall Bosman ausdrücklich Hyland, IJEL 2 (1995), 208, 226 f.

§ 6 Der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung

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auf den Anlassfall anzuwenden ist, sondern ihm eine allgemeine Bindungswirkung zukommt. Damit ist freilich die Rechtsnatur der Bindungswirkung nicht geklärt. Das hat aber zur Folge, dass nicht der Anlassfall maßgeblich sein kann.611 Dass eine abstraktere Abwägung stattzufinden hat, drängt sich außerdem auf, wenn die Rückwirkungsbeschränkung – wie regelmäßig bei Auslegungsentscheidungen – mit einer personellen Rückausnahme für die Parteien des Ausgangsfalles einhergeht. a) Zahlen aus den einschlägigen Sachverhalten Aufschlussreicher sind einige Schlussanträge und Sekundärquellen sowie Urteile, in denen eine Rückwirkungsbeschränkung abgelehnt wird. Bei der ersten Rückwirkungsbeschränkung in Defrenne II schätzte Großbritannien, dass bei einer rückwirkenden Gleichbehandlung der Frauen ein Betrag von 3,5% aller Löhne und Gehälter über einen Zeitraum von fünf Jahren nachzuzahlen wäre, Irland ging sogar von 5% aus.612 In der Rechtssache Evangelischer Krankenhausverein Wien erwartete die österreichische Regierung, Steuerrückzahlungen in Höhe um 22 Milliarden Schilling (ungefähr 1,6 Milliarden Euro) für die in Frage kommenden Jahre 1995 bis 1998 leisten zu müssen, was rund 0,9% des österreichischen Bruttoinlandsprodukts entsprach.613 In der Rechtssache Sürül hatte die deutsche Regierung finanzielle Mehrbelastungen in Höhe von 150 Millionen Euro für jedes Jahr der nachträglichen Gleichbehandlung614 befürchtet.615 Bei Barber waren ca. 400.000 Rentensysteme betroffen und Kosten von 33 bis 45 Milliarden Britischen Pfund (ungefähr 46 bis 63 Milliarden Euro) bei einer vollen Rückwirkung des Urteils zu erwarten. Nicht ausreichend waren hingegen in der Rechtssache Worringham die Auswirkungen auf rund 14.000 Betroffene616 sowie Belastungen von weniger als insgesamt 116 Millionen Euro in Nádasdi und Németh617. 611

Anders Huep, Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf ältere Sachverhalte, 2001, S. 239 f., der gerade für eine stärkere Einzelfallprüfung eintritt. 612 EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne II, Slg. 1976, 455, 465 f. Kritisch zu den Zahlen GA Trabucchi, SchlA v. 10.3.1976 – Rs. 43/75 Defrenne II, Slg. 1976, 482, 493. 613 Vgl. GA Saggio, SchlA v. 1.7.1999 – Rs. C-437/97 Evangelischer Krankenhausverein Wien u.a., Slg. 2000, I-1157 Rn. 62. Huber, ÖStZ 2000, 286, 287 nannte 4,35 Milliarden Schilling pro Jahr. 614 Der Beschluss 3/80 des Assoziationsrats stammt vom 19.9.1980, der EuGH urteilte am 4.5.1999. 615 Hofmann, InfAuslR 2000, 265; Hofmann, InfAuslR 1999, 381, 383. 616 Vgl. EuGH v. 11.3.1981 – Rs. 69/80 Worringham, Slg. 1981, 767, 781 (sub „Tatbestand”). Ohne Berücksichtigung blieben offenbar die Auswirkungen auf andere Arbeitgeber. 617 EuGH v. 5.10.2006 – verb. Rs. C-290/05 und C-333/05 Nádasdi und Németh, Slg. 2006, I-10115 Rn. 64, 66, 68.

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

Diese Unsicherheiten strahlen auf die Generalanwälte aus. Während die behaupteten Steuerausfälle von 120 Milliarden Euro für die Italienische Republik in Banca Popolare di Cremona noch von zwei Generalanwälten für ausreichend erachtet wurden,618 schieden sich über vermutete Rückzahlungsansprüche von fünf Milliarden Euro für die Bundesrepublik Deutschland schon die Geister.619 Bei behaupteten 15 Milliarden Euro (ungefähr 1,5% des italienischen Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2004) hätte GA Sharpston die Grenze als erreicht angesehen.620 GA Wahl hielt Rückzahlungsansprüche in Höhe von weniger als 13 Milliarden Euro (weniger als 1,25 % des spanischen Bruttoinlandsprodukts des Jahres 2011) für besonders schwerwiegende wirtschaftliche Konsequenzen.621 Dieser ließ auch die betragsmäßig unbezifferten Auswirkungen der Unwirksamkeit von Preisanpassungsklauseln auf 18 bzw. vier Millionen Elektrizitäts- bzw. Gasversorgungsverträge genügen.622 b) Relativer Schwellenwert und Bezugspunkt Ausgangspunkt ist, dass das für eine Rückwirkungsbeschränkung notwendige Ausmaß trotz der damit verbundenen Rechtsunsicherheit durch eine abwägende Wertung zu ermitteln ist.623 Hierbei bleibt es nicht aus, Schwellenwerte zu benennen, deren Überschreiten die finanziellen Auswirkungen qualifiziert. Um die damit verbundenen Nachteile abzuschwächen, sollte zumindest nicht auf absolute, sondern allein auf relative Werte zurückgegriffen werden. Die Festlegung eines hohen Grenzwertes begünstigt zuerst tendenziell die gröberen Verstöße gegen das Unionsrecht; unabhängig davon, ob es sich um einen absoluten oder relativen Schwellenwert handelt. Dieses häufig ange618 GA Stix-Hackl, SchlA v. 14.3.2006 – Rs. C-475/03 Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373 Rn. 155; GA Jacobs, SchlA v. 17.3.2005 – Rs. C-475/03 Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373 Rn. 79 f. 619 Schwere Auswirkungen bejahend GA Tizzano, SchlA v. 10.11.2005 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Rn. 35; verneinend hingegen GA Stix-Hackl, SchlA v. 5.10.2006 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Rn. 57 ff. 620 GA Sharpston, SchlA v. 22.6.2006 – Rs. C-228/05 Stradasfalti, Slg. 2006, I-8391 Rn. 95. 621 GA Wahl, SchlA v. 24.10.2013 – Rs. C-82/12 Transportes Jordi Besora, ECLI:EU: C:2013:694 Rn. 50 ff., 58. 622 GA Wahl, SchlA v. 8.5.2014 – verb. Rs. C-359/11 und C-400/11 Schulz und Egbringhoff, ECLI:EU:C:2014:2317 Rn. 74; anders EuGH v. 23.10.2014 – verb. Rs. C-359/11 und C-400/11 Schulz und Egbringhoff, ECLI:EU:C:2014:2317 Rn. 59 f. 623 Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 67; Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 121 f.; GA Stix-Hackl, SchlA v. 5.10.2006 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Rn. 60; Huep, Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf ältere Sachverhalte, 2001, S. 105; Thömmes, IWB 2006, 997, 1000; Seer/Müller, IWB 2008, 255, 264.

§ 6 Der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung

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führte Argument624 muss jedoch relativiert werden, denn wegen des strengen Maßstabs hinsichtlich des guten Glaubens kann die Rückwirkung ohnehin nur beschränkt werden, wenn die Rechtsunterworfenen subjektiv „schuldlos“ gehandelt haben. Außerdem ist dieser Einwand auf Rechtsverhältnisse zwischen Staat und Bürger zugeschnitten. Im Bürger-Bürger-Verhältnis stellen sich jegliche Auswirkungen auch als Belastungen des Einzelnen dar. Darüber hinaus würde aber ein absoluter Schwellenwert die größeren, wirtschaftskräftigeren Mitgliedstaaten begünstigen und kleinere faktisch von der Möglichkeit der Rückwirkungsbeschränkung ausschließen.625 Finanzielle Auswirkungen eines Urteils im zweistelligen Milliardenbereich sind für Luxemburg, Lettland, Estland oder Zypern nicht zu erwarten. Dies kann ein relativer Schwellenwert berücksichtigen, wenn als Bezugspunkt nationale Kenngrößen verwendet werden. Ein absoluter Schwellenwert würde für die Prozessparteien zudem einen noch größeren Anreiz darstellen, die Folgen im Prozess überhöht darzustellen, um den Schwellenwert zu erreichen. Die Bestimmung des Schwellenwertes würde letzlich ständigen Streit um seine Anpassung an die wirtschaftliche Entwicklung und den Vorwurf der Willkür provozieren.626 Diese Schwierigkeiten kann freilich auch ein relativer Schwellenwert nicht restlos beseitigen. Ein relativer Schwellenwert setzt die finanziellen Auswirkungen ins Verhältnis zu bestimmten wirtschaftlichen Kennzahlen. In Betracht kommen Bruttoinlandsprodukt627, Bruttosozialprodukt, Gesamtsteueraufkommen, Gesamtstaatseinnahmen628 oder die Größe des mitgliedstaatlichen Haushaltsdefizits629. Um die Auswirkungen auf die betroffenen Finanzsysteme besser abbilden zu können, bieten sich auch branchenbezogene Kennzahlen an. Wenn der EuGH formuliert, dass eine Rückwirkung seiner Auslegung „das Finanzierungssystem der örtlichen Körperschaften der französischen DOM“630 oder „der österreichischen Gemeinden rückwirkend in seinen

624

Z.B. Klein, IStR 2006, 209, 210; Balmes/Ribbrock, BB 2006, 17, 19; Kokott/Henze, NJW 2006, 177, 180. 625 GA Stix-Hackl, SchlA v. 5.10.2006 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Rn. 60; Schnitger, Die Grenzen der Einwirkung der Grundfreiheiten des EG-Vertrages auf das Ertragsteuerrecht, 2006, S. 144. 626 GA Stix-Hackl, SchlA v. 5.10.2006 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Rn. 60; Dörr, Der Konzern 2006, 59, 63. 627 Vgl. GA Sharpston, SchlA v. 22.6.2006 – Rs. C-228/05 Stradasfalti, Slg. 2006, I-8391 Rn. 94 f. 628 Vgl. EuGH v. 31.3.1992 – Rs. C-200/90 Dansk Denkavit und Poulsen Trading, Slg. 1992, I-2217 Rn. 20. 629 Vgl. GA Stix-Hackl, SchlA v. 5.10.2006 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Rn. 62; GA Wathelet, SchlA v. 15.5.2014 – Rs. C-331/13 Nicula, ECLI:EU: C:2014:332 Rn. 69 f. 630 EuGH v. 16.7.1992 – Rs. C-163/90 Legros u.a., Slg. 1992, I-4625 Rn. 34.

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

Grundlagen erschüttern würde“631, ist dort offenbar ein Vergleich mit dem Gesamteinkommen der jeweiligen Körperschaften, denen die Steuer zufließt, maßgeblich.632 Entsprechend verlangt der EuGH in nichtsteuerrechtlichen Sachverhalten eine Störung des „finanzielle[n] Gleichgewicht[s] zahlreicher an die Stelle des gesetzlichen Systems getretener betrieblicher Versorgungssysteme“633 oder die rückwirkende Erschütterung der „Finanzierung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten“634. Zu berücksichtigen ist hierbei, dass die Möglichkeit eines Regresses den Bezugspunkt auf die ersatzpflichtige Körperschaft verschiebt,635 soweit dem keine (insbesondere politischen) Hindernisse im Weg stehen636. Um den Grundsatz der unionsweiten Betrachtung nicht zu konterkarieren, darf das Subsystem nicht zu klein gewählt werden. Es muss zumindest eine ganze Branche umfassen und nicht nur einzelne Unternehmungen, z.B. die Vorlageparteien.637 Erforderlich ist daher vorrangig eine relative Gewichtung der Auswirkungen im Verhältnis zum jeweiligen betroffenen wirtschaftlichen Subsystem (Körperschaften des öffentlichen Rechts, Sozial- oder Versicherungsträger).638 Dabei ist zu berücksichtigen, ob die finanziell Belasteten einen Ausgleich für ihre Kosten erlangen können. Dem steht schon nicht die Befürchtung entgegen, die Mitgliedstaaten könnten dies ausnutzen und zweifelhafte Projekte auf die wirt-

631 EuGH v. 9.3.2000 – Rs. C-437/97 Evangelischer Krankenhausverein Wien u.a., Slg. 2000, I-1157 Rn. 59. 632 Forsthoff, DStR 2005, 1840, 1842. Dementsprechend bezieht sich GA Jacobs, SchlA v. 17.3.2005 – Rs. C-475/03 Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373 Rn. 80 auf die italienischen Regionen, denen das Aufkommen aus der sog. IRAP zustand; ebenso GA Wahl, SchlA v. 24.10.2013 – Rs. C-82/12 Transportes Jordi Besora, ECLI:EU:C:2013:694 Rn. 52 im Hinblick auf die spanischen Autonomen Gemeinschaften, denen das Aufkommen aus der streitigen Steuer (der sog. IVMDH) zustand. 633 EuGH v. 17.5.1990 – Rs. C-262/88 Barber, Slg. 1990, I-1889 Rn. 44; EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-28-93 van den Akker u.a., Slg. 1994, I-4527 Rn. 13; vgl. auch GA Kokott, SchlA v. 11.11.2010 – Rs. C-379/09 Casteels, Slg. 2011, I-1379 Rn. 90. 634 EuGH v. 4.5.1999 – Rs. C-262/96 Sürül, Slg. 1999, I-2685 Rn. 111. 635 Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 75; das erwägt auch Lang, IStR 2007, 235, 239. 636 Vgl. GA Slynn, SchlA v. 17.9.1987 – Rs. 293/85 Kommission ./. Belgien, Slg. 1988, 305, 343. 637 Insoweit abzulehnen daher EuGH v. 1.4.2008 – Rs. C-267/06 Maruko, Slg. 2008, I-1757 Rn. 78; richtig hingegen EuGH v. 21.10.2010 – Rs. C-242/09 Albron Catering, Slg. 2010, I-10309 Rn. 38. 638 Kritisch Wiedmann, EuLF 2006, I-197, I-199, die nur auf den unionsrechtlich einheitlich verantwortlichen Mitgliedstaat abstellen will.

§ 6 Der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung

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schaftlich schwächste Ebene verlagern,639 denn dann würde es schon am Merkmal des guten Glaubens fehlen.640 c) Anzahl der betroffenen Fälle und Dauer des Verstoßes Wichtige Kriterien sind ferner die Anzahl der betroffenen Fälle (auch in Relation zur Gesamtzahl der einschlägigen Sachverhalte) und die Dauer des Verstoßes.641 Beide Merkmale sind gleichzeitig ein Korrektiv für den guten Glauben, denn der EuGH verwendet keinen empirischen Maßstab, um die tatsächliche Verbreitung des Irrtums über den Inhalt der Unionsrechtslage zu bestimmen. Dem EuGH genügen insoweit nicht jährlich rund 14.000 Arbeitsverhältnisse über einen Zeitraum von mehreren Jahren.642 Zu verlangen ist, dass die weit überwiegende Zahl der in dem jeweiligen Rechtsgebiet in Betracht kommenden Rechtsverhältnisse aufgrund des Urteils revidiert werden müssten, denn so ist sichergestellt, dass die Korrektur der auf einer „falschen“ Rechtslage beruhenden Sachverhalte mehr Schaden anrichten würde als die nun nötige Korrektur von auf der „richtigen“ Rechtslage beruhenden Konstellationen. Damit ist jedoch wieder keine feste, absolute Grenze benennbar. Die Rückwirkungsbeschränkung muss nämlich auch in solchen Bereichen möglich sein, wo das Urteil nur Auswirkung auf eine geringe Anzahl von Betroffenen haben kann, aber gleichzeitig große Beträge im Streit stehen.643 Das notwendige Ausmaß an wirtschaftlichen Auswirkungen kann auch erreicht werden, wenn die nationale Regelung schon abgelaufen ist oder aufgehoben wurde. Eine Rückwirkungsbeschränkung bleibt hier möglich, wenn trotzdem eine ausreichend große Zahl an Sachverhalten nachträglich geändert werden muss.644 d) Konkretisierungsversuch Diese Auswirkungen müssen das Subsystem in seinem Bestand ernsthaft gefährden. Es darf also nicht nur um kleinere oder größere Belastungen ge639

So Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 128. 640 Siehe schon oben § 6 B.III.2., S. 226. 641 Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 64; vgl. Lembke, NJW 2008, 1631, 1632. 642 EuGH v. 11.3.1981 – Rs. 69/80 Worringham, Slg. 1981, 767 Rn. 33. Ohne Berücksichtigung blieb offenbar die Wirkung der Auslegung auf andere Arbeitgeber. 643 Vording/Lubbers, How to limit the budgetary impact of the European Court's tax decisions?, 2005, S. 16 und Lang, Intertax 35 (2007), 230, 240 nennen als Beispiel die grenzüberschreitende Besteuerung multinationaler Unternehmen. 644 A.A. wohl GA Mengozzi, SchlA v. 22.12.2010 – Rs. C-310/09 Accor, Slg. 2011, I-8115 Rn. 16.

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hen, sondern um Auswirkungen von ungewöhnlichem Ausmaß.645 Damit sind und bleiben freilich Randbereiche des Begriffs „schwerwiegend“ unbestimmt.646 Einerseits zu spezifisch und andererseits unergiebig der von Huep im Kontext des Arbeitsrechts geäußerte Vorschlag, die ökonomischen Konsequenzen für die Arbeitgeber, die Entgeltansprüche der Arbeitnehmer und das Interesse an der Durchsetzung des Unionsrechts miteinander abzuwägen.647 Zum einen lassen sich die wirtschaftlichen Interessen der Arbeitnehmer nicht stets auf Entgeltansprüche reduzieren, es muss auf sämtliche wirtschaftliche Folgen abgestellt werden. Zum anderen dürften sich in Entgeltfällen die ökonomischen Vor- und Nachteile für die gegenüberstehenden Privatpersonen oft entsprechen. Und schließlich lässt sich das Interesse an der Durchsetzung des Unionsrechts nicht fruchtbar machen, da es als abstrakter Wert grundsätzlich stets gleich zu bewerten ist. Die Tatbestandsmerkmale der Rückwirkungsbeschränkung sollen gerade konkretisieren, wann ein Interesse an der strikten Durchsetzung ausnahmsweise nicht besteht. Will man eine systematische Konkretisierung unternehmen, sind andere wirtschaftliche Grenzziehungen im Unionsrecht zu suchen und deren Vergleichbarkeit zu erörtern. Als erster Anhaltspunkt könnte Art. 126 Abs. 1 AEUV dienen.648 Danach sollen die Mitgliedstaaten übermäßige öffentliche Defizite vermeiden. Ein solches Defizit liegt gemäß Art. 126 Abs. 2, 6 AEUV vor, wenn nach Betrachtung der Gesamtlage das Defizit des Mitgliedstaats im Haushaltsjahr mehr als 3% des Bruttoinlandsprodukts649 beträgt und das Verhältnis nicht rückläufig ist oder nur ausnahmsweise überschritten wird. Art. 126 Abs. 1 AEUV geht davon aus, dass ein übermäßiges Haushaltsdefizit nicht nur für den Mitgliedstaat, sondern auch für die Europäische Union negative Folgen haben kann. Die bewerteten Interessen sind dort also ähnlich wie bei der Rückwirkungsbeschränkung. Es ist aber zu beachten, dass der Wert von 3% des Bruttoinlandsprodukts nicht als absolute Grenze angesehen wird und einmalige Überschreitungen durchaus zulässig sein können.

645

Balmes/Ribbrock, BB 2006, 17, 19: „Staatsfinanzen in den Grundlagen zu erschüttern“, „bloß spürbar und schmerzlich genügt nicht“; Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 68: „in Grundlagen erschüttern“, „überfordern“, „zum Zusammenbruch führen“; Hey, GmbHR 2006, 113, 117: „Krise für den nationalen Haushalt“; Seer/Müller, IWB 2008, 255, 261: „existentielle Engpässe“, nicht nur „bloße Spürbarkeit“. 646 In diesem Sinne Waldhoff, EuR 2006, 615, 635. 647 Huep, Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf ältere Sachverhalte, 2001, S. 105. 648 Schnitger, Die Grenzen der Einwirkung der Grundfreiheiten des EG-Vertrages auf das Ertragsteuerrecht, 2006, S. 145 f. 649 Siehe Art. 1 Protokoll Nr. 12 über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit, erneut veröffentlicht in ABl. C 83/279 v. 30.3.2010.

§ 6 Der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung

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Durch den neuen Fiskalpakt sind automatische Strafzahlungen beim Verfehlen der Euro-Kriterien von 0,1% des Bruttoinlandsprodukts vorgesehen (Art. 8 Abs. 2 SKS-Vertrag), was für Deutschland ungefähr zweieinhalb Milliarden Euro ausmachen würde. Wenn solche Beträge als Strafzahlungen von den Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ sich selbst auferlegt werden, ist anzunehmen, dass sie einen mitgliedstaatlichen Gesamthaushalt nicht zum Kippen bringen können. Andererseits enthalten diese Zahlungen ein pönales Element, welches der Beurteilung der finanziellen Auswirkungen einer Rechtsprechungsrückwirkung fremd ist. Es steht jedenfalls zu erwarten, dass die letzte Finanzkrise und die in ihrer Folge von den Mitgliedstaaten zur Rettung des Finanzsektors und der gemeinsamen Europäischen Währung verwendeten Mittel auch den Maßstab für „schwerwiegende wirtschaftliche Auswirkungen“ verschoben haben. Zwar sollten nicht erst Folgen ausreichen, die die Zahlungsfähigkeit einzelner oder mehrerer Mitgliedstaaten in Frage stellen, denn das Merkmal dient nur der Bestimmung substantieller Auswirkungen, um zu erkennen, wann eine Rechtsprechung mehr Schaden als Nutzen bringt. Jedoch führt der Umstand, dass durch die Mitgliedstaaten vergleichsweise kurzfristig Beträge nahe der Billion-Euro-Grenze bereitgestellt (oder zumindest zugesagt) werden können, durchaus dazu, dass Steuerausfälle von 120 Milliarden Euro in vier Steuerjahren für Italien (wie in der Rechtssache Banca Popolare di Cremona) nicht mehr „sagenhaft“650 sind oder eine Rückzahlung von fünf Milliarden Euro für vier Steuerjahre (wie in der Rechtssache Meilicke) nicht das finanzielle Gleichgewicht von Deutschland stört. Denn gleichzeitig leisten sich die Mitgliedstaaten jährlich (offene oder versteckte) Beihilfen in Höhe von ungefähr 70 Milliarden Euro von denen 15 bis 20 Milliarden Euro in Form von Steuererleichterungen gewährt werden.651 Strafzahlungen einzelner Unternehmen im Kartellrecht können sogar bis zu 10% des weltweiten Jahresumsatzes des Gesamtkonzerns betragen (Art. 23 Abs. 2 VO 1/2003). Der Jahresumsatz entspräche bezogen auf die Mitgliedstaaten deren Bruttojahreseinnahmen. Jedoch erreicht selbst die jährliche Gesamtsumme der von der Kommission verhängten Bußgelder nicht die finanziellen Auswirkungen, wie sie oben diskutiert wurden.652 Hier kommt wiederum der Ahndung und der Abschreckung eine entscheidende Rolle 650

Forsthoff, DStR 2005, 1840. Cordewener/Kofler/van Thiel, CMLRev 46 (2009), 1951, 1962. 652 Insgesamt wurden zuletzt jährlich maximal drei Milliarden Euro an Bußgeldern verhängt, vgl. Europäische Kommission, Bericht über die Wettbewerbspolitik 2007, KOM(2008) 368 endg., S. 11; Europäische Kommission, Bericht über die Wettbewerbspolitik 2008, KOM(2009) 374 endg., S. 7; Europäische Kommission, Bericht über die Wettbewerbspolitik 2009, KOM(2010) 282 endg., S. 32; Europäische Kommission, Bericht über die Wettbewerbspolitik 2010, KOM(2011) 328 endg., S. 20; Europäische Kommission, Bericht über die Wettbewerbspolitik 2011, KOM(2012) 253 endg., S. 13; Europäische Kommission, Bericht über die Wettbewerbspolitik 2012, KOM(2013) 257 endg., S. 2. 651

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zu,653 sodass eine Orientierung daran schwerfällt. Gleichwohl geht das Unionsrecht davon aus, dass Strafzahlungen in dieser Höhe regelmäßig nicht zum Ruin der beteiligten Unternehmen führen.654 6. „Gefahr“ Zuletzt müssen die wirtschaftlichen Auswirkungen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit drohen. Der Gerichtshof verwendet zumeist den Begriff der „Gefahr“. Erforderlich ist danach nicht, dass die finanziellen Folgen in genau der Höhe mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eintreten oder schon eingetreten sind.655 Es ist jedoch nötig, dass die Auswirkungen auf den Großteil der geltend gemachten Rechtsverhältnisse absehbar sind.656 Sie müssen „bestehen“.657 Damit soll zum einen sichergestellt werden, dass die vorgebrachten Zahlen nicht künstlich überhöht werden können. Zum anderen steht den Mitgliedstaaten die Möglichkeit eines Irrtums über das Ausmaß der Auswirkungen zu. Nicht alle Folgen lassen sich genau absehen und beziffern. Soweit gewisse Folgen vorhersehbar sind, nur deren genaues Ausmaß noch unklar ist, kann dennoch eine Rückwirkungsbeschränkung gerechtfertigt sein. Die „Gefahr“ ist daher mit der Höhe der wirtschaftlichen Auswirkungen verknüpft. Sieht man in ihr eine Wahrscheinlichkeitsprognose, so kann der Wahrscheinlichkeitswert eines jeden Szenarios mit den jeweils drohenden Kosten multipliziert und so ein Erwartungswert für die gesamten Auswirkungen gebildet werden.658 Dieser Wert könnte darüber hinaus Ab- oder Zuschläge für die Umstände des Einzelfalles enthalten und sich anerkannter (versicherungs-)mathematischer Verteilungsmodelle bedienen.659

653

de Bronett, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 23 Rn. 7. Anderenfalls kann das Bußgeld herabgesetzt werden, vgl. Nr. 35 der Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 1/2003, Abl. 2006, C 201/2 v. 1.9.2006. 655 Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 77 f.; Lindemann/Hackemann, IStR 2005, 786, 788. 656 Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 124 ff. versucht insoweit eine Anlehnung an das (Europäische) Polizeirecht. 657 GA Sharpston, SchlA v. 13.7.2006 – Rs. C-290/05 Nádasdi, Slg. 2006, I-10115 Rn. 77. 658 Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 125. 659 Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 126. 654

§ 6 Der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung

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7. Kritik In der Literatur wird das Merkmal der „Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Auswirkungen“ aus mehreren Richtungen angegriffen. Zum einen empfindet man den Maßstab des EuGH als zu streng.660 Zum anderen wird gerügt, die Grenzziehung sei willkürlich, und das Merkmal als Ganzes verworfen.661 Schließlich steht im Raum, der Gerichtshof habe auf das Erfordernis bei einer Rechtsprechungsänderung bereits verzichtet. Gegen die grundsätzliche Abschaffung des Merkmals sind mehrere Punkte ins Feld zu führen, die allesamt schon angesprochen wurden. Zuerst ist ein Korrektiv für den objektiven Maßstab des guten Glaubens nötig, anhand dessen die tatsächliche Verbreitung des Irrtums gemessen werden kann. Zudem ist guter Glaube nur schutzwürdig, wenn er zu wirtschaftlich spürbaren Investitionen geführt hat, die anderenfalls verloren sind. Und zuletzt ist ein strengerer Maßstab der Rechtsprechungsrückwirkung im Vergleich zur Gesetzesrückwirkung notwendig, da Rechtsprechung grundsätzlich zurückwirkt.662 Dass sich wirtschaftliche Auswirkungen einmal auf den Staatshaushalt, ein anderes Mal auf einzelne Subsysteme beziehen, führt zwar zu der Frage, welche Subsysteme dafür in Betracht kommen und zur potentiell unterschiedlichen Behandlung verschiedener Steuersysteme663, ist aber nicht willkürlich. Der Gerichtshof nimmt vielmehr Rücksicht auf die Gestaltungen in den Mitgliedstaaten, wie sie vor seinem Urteil bestanden. Anderenfalls würde er sonst beispielsweise mittelbar Anordnungen über die Verteilung von Steuereinnahmen oder die Trägerschaft von Sozial- oder Versicherungssystemen treffen. Dazu berechtigt ihn das Prinzip der Rechtssicherheit nicht. Ungleichbehandlungen der Mitgliedstaaten werden außerdem durch die unionsweite räumliche Geltung der Rückwirkungsbeschränkung verringert. Schließlich hat der EuGH Unsicherheiten geweckt, ob er auch für Rückwirkungsbeschränkungen bei Rechtsprechungsänderungen an dem Erfordernis der Gefahr schwerwiegender Störungen festhält. So gab der Gerichtshof in der Rechtssache Cabanis-Issarte die schweren wirtschaftlichen Auswirkungen nur als Parteivortrag wieder. Bei der Beschränkung der zeitlichen Wirkungen bezog er sich dann lediglich auf das durch seine „frühere ständige Rechtsprechung“ begründete Vertrauen, ohne die Gefahr der Störung für die 660

Z.B. Schwarze, NJW 2005, 3459, 3464 f.; Waldhoff, EuR 2006, 615, 635 f.; Tiedtke/Mohr, EuZW 2008, 424, 427. 661 Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 74 f. 662 In diesem Sinne wohl Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, 2006, S. 294. 663 Deshalb kritisch Lang, Intertax 35 (2007), 230, 238; ihm folgend Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 128 und Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 177.

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nationalen Sozialsysteme festzustellen.664 Dies wurde in der Literatur als Verzicht auf dieses Merkmal verstanden.665 Letzteres erklärt sich vor allem aus den Schlussanträgen, in denen Generalanwalt Tesauro ausdrücklich davon ausging, dass das Urteil „wohl kaum bedeutende finanzielle Konsequenzen für die Sozialversicherungsträger der Mitgliedstaaten haben dürfte“ und dennoch für eine Rückwirkungsbeschränkung eintrat.666 Weiterhin zitiert der Gerichtshof in Cabanis-Issarte seine frühere Rechtsprechung zur Rückwirkungsbeschränkung nicht, so dass der Eindruck entstehen kann, hier werde eine eigenständige Begründungslinie aufgebaut. Dennoch bezieht er sich auf die Probleme der Mitgliedstaaten, die behaupteten Auswirkungen auf ihre Sozialsysteme mit Zahlen zu unterlegen. So versteht auch Generalanwalt La Pergola in Sürül diese Passage. Der Generalanwalt beruft sich auf CabanisIssarte, um das Fehlen von Belegen über die behaupteten wirtschaftlichen Auswirkungen auszugleichen, nicht aber um das Erfordernis ganz abzuschaffen.667 In der Tat hat der Gerichtshof mehrfach eine Rückwirkungsbeschränkung vorgenommen, wenn die Schwere der wirtschaftlichen Auswirkungen nicht wirklich im Streit stand, sondern nur konkrete Zahlen dazu nicht erlangt werden konnten. So enthalten die Urteilsbegründungen in Defrenne II, Blaizot, Legros und Sürül keine Zahlenangaben und dennoch die Feststellung, dass eine ausreichende Störung der mitgliedstaatlichen Haushalte zu befürchten ist.668 In Bosman fehlt es sogar an dieser Aussage.669 Das Vorgehen des EuGH in Cabanis-Issarte ist daher durchaus konsistent mit seiner sonstigen Rechtsprechung. Noch deutlicher spricht das Vorgehen in der Rechtssache Bidar gegen eine von der Auslegungsrückwirkungsbeschränkung abweichende Prüfung. Dort schloss sich die Prüfung der zeitlichen Wirkungen ebenfalls an eine Recht-

664

EuGH v. 30.4.1996 – Rs. C-308/93 Cabanis-Issarte, Slg. 1996, I-2097 Rn. 47. Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 73; Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 165 Fn. 572; weniger weitgehend Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 235, wonach sich beide Voraussetzungen nach dem Vorbild eines beweglichen Systems in einem gewissen Rahmen ausgleichen können. 666 GA Tesauro, SchlA v. 29.2.1996 – Rs. C-308/93 Cabanis-Issarte, Slg. 1996, I-2097 Rn. 19. 667 GA La Pergola, SchlA v. 12.2.1998 – Rs. C-262/96 Sürül, Slg. 1998, I-2685 Rn. 67 mit Fn. 82. 668 Vgl. EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/76 Defrenne II, Slg. 1976, 455; EuGH v. 2.2.1988 – Rs. 24/86 Blaizot u.a., Slg. 1988, 379; EuGH v. 16.7.1992 – Rs. C-163/90 Legros u.a., Slg. 1992, I-4625; EuGH v. 4.5.1999 – Rs. C-262/96 Sürül, Slg. 1999, I-2685. 669 Vgl. EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, Slg. 1995, I-4921 (nur als Parteivortrag in Rn. 139). 665

§ 6 Der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung

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sprechungsänderung an.670 Der Gerichtshof zitierte anders als in CabanisIssarte ausdrücklich die einschlägige Rechtsprechung zur Auslegungsrückwirkungsbeschränkung samt der bekannten Obersätze.671 Außerdem lehnte er den Beschränkungsantrag gerade mit der Begründung ab, die Gefahr erheblicher wirtschaftlicher Auswirkungen sei nicht ausreichend dargelegt worden.672 Ein unterschiedlicher Prüfungsmaßstab ist also weder zu erkennen, noch sollte er eingeführt werden. Die Rechtsprechungsänderung ist nur ein Sonderfall bei der Begründung von gutem Glauben und verwandelt die zugrunde liegenden objektiven Rechtssicherheitserwägungen nicht in subjektive Rechtspositionen.673 Das Erfordernis einer Gefahr schwerer wirtschaftlicher Folgen verliert daher hier nicht seinen Sinn. Die beiden Tatbestandsmerkmale stehen in einer wechselseitigen Beziehung, die auf den vom EuGH erkennbar angelegten Maßstab ausstrahlt. Sowohl der Irrtum über die Unionsrechtslage als auch die wirtschaftlichen Auswirkungen sind Determinanten der Beeinträchtigung der Rechtssicherheit durch eine unbeschränkte Rückwirkung. Eine Beschränkung ohne wirtschaftliche Auswirkungen ist praktisch nicht geboten, eine Beschränkung ohne Irrtum verlagert das Risiko von Fehlinvestitionen ohne Not auf die Marktgegenseite. C. Unwirksamkeitsentscheidungen Auch bei den Unwirksamkeitsentscheidungen bedroht eine zu freigiebige Anwendung der Rückwirkungsbeschränkung die Objektivität und einheitliche Anwendung des Unionsrechts.674 Für eine Beschränkung der zeitlichen Wirkungen der Nichtigerklärung verlangt der Gerichtshof daher „wichtige/gewichtige/schwerwiegende Gründe der Rechtssicherheit“.675 Diese Anforderungen werden nicht weiter konkretisiert,676 was im Ergebnis zu einer sehr flexiblen Anwendung des Art. 264 Abs. 2 AEUV führt – freilich auf Kosten der Vorhersehbarkeit. Letztendlich dürfte wie bei den Auslegungsentschei670

Siehe auch oben § 3 D.II.2.b), S. 70; vgl. GA Geelhoed, SchlA v. 11.11.2004 – Rs. C-209/03 Bidar, Slg. 2005, I-2119 Rn. 72. 671 EuGH v. 15.3.2005 – Rs. C-209/03 Bidar, Slg. 2005, I-2119 Rn. 66 ff. 672 EuGH v. 15.3.2005 – Rs. C-209/03 Bidar, Slg. 2005, I-2119 Rn. 70. 673 A.A. wohl GA Fennelly, SchlA v. 6.6.1996 – verb. Rs. C-267/95 und C-268/95 Merck ./. Primecrown und Beecham ./. Europharm, Slg. 1996, I-6285 Rn. 167. 674 Woods/Watson, Steiner & Woods EU Law, 11. Aufl. 2012, S. 238. 675 EuGH v. 3.7.1986 – Rs. 34/86 Rat ./. Parlament, Slg. 1986, 2155 Rn. 48; EuGH v. 7.3.1996 – Rs. C-360/93 Parlament ./. Rat, Slg. 1996, I-1195 Rn. 35; EuGH v. 28.5.1998 – Rs. C-22/96 Parlament ./. Rat, Slg. 1998, I-3231 Rn. 41; EuGH v. 18.6.2002 – Rs. C-314/99 Niederlande ./. Kommission, Slg. 2002, I-5521 Rn. 31; EuGH v. 5.9.2012 – Rs. C-355/10 Parlament ./. Rat, ECLI:EU:C:2012:516 Rn. 90. 676 Kritisch daher Hyland, IJEL 2 (1995), 208, 211.

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dungen eine Abwägung aller relevanten öffentlichen und privaten Interessen maßgeblich sein. Für die Gültigkeitsvorlage konkretisiert der EuGH die Voraussetzungen in ebendiesem Sinne: „zwingende Erwägungen der Rechtssicherheit, die mit allen betroffenen öffentlichen wie privaten Interessen zusammenhängen, [müssen] es geraten erscheinen [lassen], die Erhebung oder Zahlung von Geldbeträgen, die auf der Grundlage der ungültigen Regelung erfolgt waren, für den Zeitraum vor Verkündung des Urteils nicht in Frage zu stellen“.677

Die abzuwägenden Interessen unterscheiden sich nur wenig im Hinblick auf die Verfahrensart, in der der Rechtsakt angegriffen wird, oder die konkreten Verfahrensbeteiligten. Zwar werden die anerkannten öffentlichen Interessen vor allem von den privilegiert Klagebefugten (im Sinne von Art. 263 Abs. 2 AEUV) wahrgenommen. Da sich der Prüfungsumfang von Individualnichtigkeitsklagen und Gültigkeitsvorlagen im Vergleich zu den Nichtigkeitsklagen Privilegierter jedoch nicht unterscheidet, können dort dieselben Interessenkonflikte auftreten und sind demnach in der Abwägung zu berücksichtigen. Umgekehrt sind bei Nichtigkeitsklagen privilegiert Klagebefugter die Auswirkungen auf subjektive Rechte Einzelner mit einzubeziehen. Ebenso ist nicht pauschal zwischen belastenden und begünstigenden Rechtsakten zu differenzieren.678 Zwar liegt eine Rückwirkungsbeschränkung näher, wenn es sich um rein begünstigende Regelungen handelt. Solche sind jedoch nur schwer auszumachen, denn es sind die Auswirkungen auf alle Rechtsunterworfenen zu berücksichtigen: Erstens lassen sich in Privatrechtsoder tripolaren Verwaltungsverhältnissen selten nur-begünstigende Normen finden. Zweitens kann es beispielsweise sogar bei Maßnahmen der Leistungsverwaltung vermittelt durch den Gleichheitssatz zur Benachteiligung Einzelner durch Regelungen kommen, die eigentlich nicht „belastend“ sind. Wenn schließlich drittens auch unionale oder mitgliedstaatliche (Haushalts-)Interessen maßgeblich sein können, versagt die Unterscheidung nach der Eingriffsqualität einer Regelung vollends. Dessen ungeachtet bleibt es ein Abwägungskriterium, ob und welche subjektiven Rechte durch den angegriffenen Rechtsakt in welchem Maße verletzt wurden. Je schwerwiegender der Eingriff in individuelle Rechtspositionen ist, desto größer sind die Anforderungen an die überwiegenden Interessen der Rechtssicherheit.679

677

EuGH v. 15.1.1986 – Rs. 41/84 Pinna, Slg. 1986, 1 Rn. 28; EuGH v. 8.11.2001 – Rs. C-228/99 Silos e Mangimi Martini, Slg. 2001, I-8401 Rn. 36; EuGH v. 22.12.2008 – Rs. C-333/07 Régie Networks, Slg. 2008, I-10807 Rn. 122; ähnlich EuGH v. 10.3.1992 – verb. Rs. C-38/90 und C-151/90 Lomas u.a., Slg. 1992, I-1781 Rn. 24. 678 A.A. Weninger, ÖStZ 1996, 114, 123; Kotschnigg, SWI 1998, 83, 85. 679 So schon Bernhardt, Verfassungsprinzipien – Verfassungsgerichtsfunktionen – Verfassungsprozeßrecht im EWG-Vertrag, 1987, S. 163, jedoch mit Beschränkung auf Individualklagen; siehe insb. unten § 6 C.II.6.c)cc), S. 276.

§ 6 Der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung

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Im Folgenden sollen die bisherigen Entscheidungen einzelnen Fallgruppen zugeordnet werden, die sich an den Gründen für eine Rückwirkungsbeschränkung orientieren. In Betracht kommen Erwägungen der Rechtssicherheit, des Vertrauensschutzes, überragender öffentlicher Interessen und des Schutzes wohlerworbener Rechte Dritter.680 Die Entscheidungen des EuGH lassen sich dabei selten nur einer der Gruppen zuordnen, denn häufig werden mehrere Argumente für die Rückwirkungsbeschränkung angeführt. Außerdem können die Fallgruppen ineinander übergehen und die Argumente unterschiedlichen Erwägungen entspringen. Dabei kommen Anordnungen nach Art. 264 Abs. 2 AEUV grundsätzlich in allen Rechtsgebieten in Betracht. Verschiedene Maßstäbe im Hinblick auf einzelne Rechtsgebiete sind bisher nicht ersichtlich.681 Solche finden sich weder in den Begründungen der einschlägigen Urteile noch in den Schlussanträgen.682 Auch in der Sache lassen sich keine Abweichungen erkennen. Die Rückwirkungsbeschränkung kann sich immer zu Gunsten oder zu Lasten der Mitgliedstaaten oder Einzelner auswirken. I.

Wohlerworbene Rechte und Vertrauensschutz

Einer ersten Gruppe lassen sich Urteile zuordnen, in denen durch eine Rückwirkungsbeschränkung subjektive Rechtspositionen von Marktteilnehmern geschützt werden sollten.683 Zu schützen sind solche Personen, die Rechte in Anspruch genommen haben, die von der aufgehobenen Regelung oder von Durchführungsmaßnahmen eingeräumt wurden.684

680 Geiger/Khan/Kotzur-Kotzur, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2010, Art. 264 AEUV Rn. 7; Streinz-Ehricke, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2011, Art. 264 AEUV Rn. 10; Schwarze-Schwarze, EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 264 AEUV Rn. 9; Lenz/Borchardt-Borchardt, EUVerträge, 6. Aufl. 2013, Art. 264 AEUV Rn. 6; Müller, Die Begrenzung der zeitlichen Wirkungen von EuGH-Entscheidungen, 2009, S. 17; ähnlich Rengeling/Middeke/Gellermann-Dervisopoulos, Handbuch des Rechtsschutzes der Europäischen Union, 3. Aufl. 2014, § 7 Rn. 123; Dörr/Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, 2006, Rn. 196. 681 A.A. Brink/Wolff, JZ 2011, 206, 208, die die Rückwirkungsbeschränkung in EuGH v. 9.11.2010 – verb. Rs. C-92/09 und C-93/09 Schecke und Eifert, Slg. 2010, I-11063 Rn. 94 als Beleg für den „Baustellencharakter“ des europäischen Datenschutz- und Privatsphärenrechts ansehen. 682 Anders nur GA La Pergola, SchlA v. 20.3.1997 – Rs. C-259/95 Parlament ./. Rat, Slg. 1997, I-5303 sub Rn. 10, der sich ergänzend auf den verbraucherschützenden Zweck des betreffenden Rechtsakts beruft. 683 Weiß, EuR 1995, 377, 392 geht hingegen davon aus, dass bei den Unwirksamkeitsfällen nur öffentliche Interessen geschützt werden. 684 EuGH v. 7.3.1996 – Rs. C-360/93 Parlament ./. Rat, Slg. 1996, I-1195 Rn. 33.

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

1. Vertrauenssituation Im Gegensatz zur Auslegungsvorlage kommt es bei den Unwirksamkeitsverfahren zu einem Widerspruch zweier unterschiedlicher Normebenen des Unionsrechts. Der rechtswidrige Rechtsakt galt vollumfänglich und hat die Rechtslage bestimmt. Seine Unwirksamkeit und deren Rechtsfolgen dienen der Durchsetzung eines gegenläufigen Normbefehls des höherrangigen Unionsrechts. a) Bezugspunkt des Vertrauens Ausgangspunkt des Vertrauens der Rechtsunterworfenen ist die Gültigkeitsvermutung, die jedem Unionsrechtsakt zukommt. Sie wurde vom Gerichtshof zwar für die Abgrenzung seiner Kompetenzen von denen der mitgliedstaatlichen Gerichte und Behörden hinsichtlich der Unwirksamerklärung von Unionsrecht entwickelt.685 Ihr lässt sich jedoch noch eine weitere Facette geben. Die Gültigkeitsvermutung macht die Prüfung eines objektivierten Vertrauens der Rechtsunterworfenen in eine bestimmte Unionsrechtslage unnötig. Für die Rechtsunterworfenen besteht daher grundsätzlich keine Obliegenheit, die Wirksamkeit in Kraft getretener Normen in Frage zu stellen. Ebenso müssen sie sich nicht stets fragen, ob die Gültigkeitsvermutung angesichts des existierenden höherrangigen Unionsrechts tatsächlich gerechtfertigt ist.686 Der Unionsrechtsakt soll gerade nicht unter dem Vorbehalt jederzeitiger gerichtlicher Aufhebung stehen.687 Daher befreit die Gültigkeitsvermutung von dem Konflikt, einerseits den Rechtsakt wegen dessen Gültigkeit anwenden oder sich daran ausrichten zu müssen und andererseits sich gleichzeitig darauf einzustellen zu haben, dass der Rechtsakt möglicherweise rückwirkend aufgehoben wird.688 Die Rechtsunterworfenen haben also einen normativen unionalen Ansatzpunkt für ihr Vertrauen.689 Dies unterscheidet die Situation von der Auslegungsrückwirkung, bei der der Anknüpfungspunkt nur in Rechtsansichten der Unionsorgane besteht und die strukturtypische Unsicherheit über die endgültige Bedeutung der Norm die Rechtsunterworfenen zu eigenverantwortlicher Vorsorge zwingt. Deshalb muss im Gegensatz zu den Auslegungsentscheidungen der gute Glaube hinsichtlich der Unionsrechtslage 685

Vgl. EuGH v. 13.2.1979 – Rs. 101/78 Granaria, Slg. 1979, 623 Rn. 4 f. Gegen eine solche Vermutung des Einklangs von Primär- und Sekundärrecht z.B. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 222 f. 687 So zum deutschen Recht Grunsky, Grenzen der Rückwirkung bei einer Änderung der Rechtsprechung, 1970, S. 21. 688 Zu Recht weist Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 255 f. darauf hin, dass den Mitgliedstaaten nach Ablauf der Frist des Art. 263 Abs. 6 AEUV auch kein geeignetes Verfahren mehr zur Verfügung steht. 689 Ähnlich Woods/Watson, Steiner & Woods EU Law, 11. Aufl. 2012, S. 238. 686

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grundsätzlich nicht besonders begründet werden; die Gültigkeitsvermutung schafft abstraktes Vertrauen.690 Aus der Anknüpfung an die Gültigkeitsvermutung für den Gutglaubensschutz ergibt sich jedoch eine problematische Konsequenz. Da die Gültigkeitsvermutung bei jedem Unionsrechtsakt einschlägig ist, ist sie als begrenzendes Merkmal einer Rückwirkungsbeschränkung nahezu ungeeignet. Erst die Erschütterung oder Verstärkung des Vertrauens durch andere Umstände hebt einen Sachverhalt aus der Menge aller Unwirksamkeitsverfahren und einen Rechtsakt aus der Masse aller Rechtsakte hervor.691 Die Gewährung von Vertrauensschutz wird so eigentlich zur Regel, nicht zur Ausnahme. Dem kann nicht abgeholfen werden, indem man die nationale Rechtslage zum Bezugspunkt des Vertrauens bestimmt.692 Zum einen steht bei den Unwirksamkeitsverfahren regelmäßig unmittelbar anwendbares Unionssekundärrecht im Streit, so dass nationales Recht keine Rolle spielt. Zum anderen wäre widersprechendes nationales Recht ein Argument gegen eine Rückwirkungsbeschränkung, nicht aber dafür – es geht ja um die Aufrechterhaltung des unwirksamen Sekundärrechts. Gleichlaufendes nationales Recht würde wiederum dieselbe Vertrauensrichtung schaffen wie das unwirksame Sekundärrecht und damit die Gültigkeitsvermutung nur stärken. Darüber hinaus kann der Gerichtshof – wie bei den Auslegungsentscheidungen – die nationale Rechts- und Vertrauenslage nicht beurteilen und diese dürfte sich in den Mitgliedstaaten zumeist unterscheiden. Außerdem leuchtet nicht ein, warum der Mitgliedstaat aus dem von ihm selbst gesetzten Recht Vertrauen schöpfen können sollte; es bedürfte also zumindest einer Ausnahme zu Lasten mitgliedstaatlicher Hoheitsträger. Im Vergleich dazu spricht einiges dafür, das Verständnis des höherrangigen Unionsrechts als Anknüpfungspunkt anzusehen. Im Gleichlauf mit den Auslegungsentscheidungen würde die Konfliktlage der Rechtsunterworfenen ausgeblendet und allein Rechtsansichten zum höherrangigen (Primär-)Recht könnten guten Glauben erzeugen. Letztlich würde damit aber die Gültigkeitsvermutung im Ergebnis dann doch in Frage gestellt werden. Die Ableitung von Vertrauen aus der bloßen Geltung von abgeleitetem Unionsrecht ist Ausdruck einer unterschiedlich strengen Behandlung der Konflikte innerhalb des Unionsrechts im Vergleich mit Konflikten von Unionsrecht und nationalem Recht. Gerechtfertigt wird dieses Vorgehen durch das Ziel der einheitlichen Geltung des Unionsrechts, welches bei Konflikten innerhalb des Unionsrechts nicht beeinträchtigt wird. Die Wahl dieses Anknüpfungspunkts erklärt auch, dass die Rückwirkungsbeschränkung nur für die Unwirksamkeitserklärung, nicht aber für die Wirk690 Das entspricht auch der Rechtsprechung des EuGH, der in den meisten Fällen wohlerworbener Rechte keine Prüfung eines besonderen Vertrauenstatbestands vornimmt. 691 Dazu sogleich b) und d). 692 Vgl. die Differenzierung von Weiß, EuR 1995, 377, 381 f.

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samkeitsfeststellung relevant werden kann. Letztere weicht nämlich nicht von der ab initio bestehenden Wirksamkeitsvermutung ab.693 b) Verstärkung des Vertrauens durch zusätzliche Faktoren Obwohl es einer Begründung des Vertrauens in die Geltung des Rechtsakts grundsätzlich nicht bedarf, zieht der Gerichtshof vereinzelt zusätzliche Faktoren zur Begründung der Schutzwürdigkeit der Rechtsunterworfenen heran. Wie bei den Auslegungsvorlagen kommt Verhalten unterschiedlichster Organe in Betracht. Möglich ist beispielsweise, dass der Unionsgesetzgeber eine geforderte Klärung der Rechtslage nicht herbeigeführt hat694 oder dass eine rechtswidrige Beihilfe von der Kommission genehmigt und diese Genehmigung niemals angefochten worden war695. Schließlich kann im Einklang mit der Gültigkeitsvermutung stehende Rechtsprechung des Gerichtshofs zusätzliches Vertrauen begründen (vgl. unten e). c) Keine Präklusion Ein der Konnexität vergleichbares, formales Ausschlusskriterium existierte bis zuletzt bei den Unwirksamkeitsentscheidungen nicht.696 Wurden zwei inhaltlich vergleichbare Rechtsakte zu unterschiedlichen Zeitpunkten wegen desselben Verstoßes gegen höherrangiges Recht für unwirksam erklärt, so war eine Rückwirkungsbeschränkung im späteren Verfahren nicht ausgeschlossen. Der EuGH hätte zwar die Begründung für die Unwirksamkeit übertragen, daraus jedoch nicht dieselben Konsequenzen wie bei einer Auslegung gezogen. Grund für diese Ungleichbehandlung ist, dass der Gerichtshof nicht die zur Unwirksamkeit führende Auslegung, sondern die Wirkungen der Ungültigkeit beschränkt.697 In einem jüngeren Urteil im Bereich des Antidumpingrechts ist der Gerichtshof – soweit ersichtlich erstmals – jedoch genau entgegengesetzt verfahren. Er verneinte die Möglichkeit einer Rückwirkungsbeschränkung, weil die zur Unwirksamkeit führende Rechtsfrage schon in einem früheren Urteil entschieden worden war.698 Ob hierbei im Gleichklang mit den Auslegungsentscheidungen ein objektiver Maßstab zugrunde zu legen ist, lässt sich der Begründung nicht entnehmen. Unabhängig von der Frage, ob durch dieses Urteil die grundsätzliche Dogmatik der Rückwirkungsbeschränkung bei Un-

693

Anderson/Demetriou, References to the European Court, 2. Aufl. 2002, Rn. 14-082. EuGH v. 15.1.1986 – Rs. 41/84 Pinna, Slg. 1986, 1 Rn. 27. 695 EuGH v. 22.12.2008 – Rs. C-333/07 Régie Networks, Slg. 2008, I-10807 Rn. 123. 696 Ähnlich Woods/Watson, Steiner & Woods EU Law, 11. Aufl. 2012, S. 238. 697 Siehe unten § 7 A.III.1., S. 308. 698 EuGH v. 15.11.2012 – Rs. C-247/10 P Zhejiang Aokang Shoes, ECLI:EU: C:2012:710 Rn. 39 ff. 694

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wirksamkeitsentscheidungen fortentwickelt wurde,699 sollte wie bei den Auslegungsentscheidungen auf ein eigenständiges Präklusionsmerkmal verzichtet werden. Die Betroffenen sind ausschließlich im Rahmen der Erschütterung der Gültigkeitsvermutung auf vorbestehende Rechtsprechung und deren Anwendbarkeit im konkreten Rechtsstreit zu verweisen. d) Erschütterung der Gültigkeitsvermutung Vergleichbar der Auslegungsentscheidung (und entsprechend der oben vorgeschlagenen Einordnung des Konnexitätserfordernisses) kann die Gültigkeitsvermutung erschüttert werden. Dafür kommt vor allem eine geklärte, entgegenstehende Rechtslage in Betracht. In der Rechtssache Lancry ging der Gerichtshof davon aus, dass sich Frankreich nicht auf den Inhalt einer für es günstigen Ratsentscheidung verlassen durfte, da diese im Gegensatz zu einem einschlägigen EuGH-Urteil stand und schon im damaligen Verfahren vom Generalanwalt ausdrücklich als rechtswidrig angesehen wurde.700 Auch in einer neueren Entscheidung klingt an, dass es bei der Rückwirkungsbeschränkung darauf ankommen kann, ob die unionalen Vorschriften auch als gültig angesehen wurden.701 Schließlich diskutierte der Gerichtshof, ob die Rechtswidrigkeit einer sie begünstigenden Übergangsvorschrift für die Betroffenen vorhersehbar war und daher eine richterliche Übergangsfrist nicht benötigt würde.702 Problematisch könnte dabei sein, dass durch die Möglichkeit der Erschütterung der Wert der Gültigkeitsvermutung beeinträchtigt wird. Jedoch dient die Gültigkeitsvermutung keinem Selbstzweck. Zuerst soll sie die Kompetenzabgrenzung zwischen EuGH und mitgliedstaatlichen Gerichten festschreiben: Eine Norm darf nur vom EuGH für unwirksam erklärt werden. Diese Komponente wird durch eine Erschütterung im Rahmen der zeitlichen Wirkung der Unwirksamkeitserklärung nicht geschmälert. Die Kompetenz des EuGH über die Unwirksamkeit und deren Wirkungen exklusiv zu entscheiden, wird nicht in Frage gestellt. Darüber hinaus soll die Gültigkeitsvermutung die Rechtskraftwirkung auf die Parteien des Rechtsstreits begrenzen und die Rechtsmittelfristen sowie die Bestandskraft des Rechtsakts schüt-

699 Das ist fraglich, da ohne Schlussanträge entschieden wurde. Eingehend zur Rs. C-247/10 P unten § 6 D., S. 287. 700 EuGH v. 8.9.1994 – verb. Rs. C-363/93, C-407/93 bis C-411/93 Lancry u.a., Slg. 1994, I-3957 Rn. 42 ff.; vgl. auch EuGH v. 19.9.2000 – verb. Rs. C-177/99 und C-181/99 Ampafrance und Sanofi, Slg. 2000, I-7013 Rn. 68 f. 701 EuGH v. 9.11.2010 – verb. Rs. C-92/09 und C-93/09 Schecke und Eifert, Slg. 2010, I-11063 Rn. 94. 702 EuGH v. 1.4.2008 – verb. Rs. C-14/06 und C-295/06 Parlament und Dänemark ./. Kommission, Slg. 2008, I-1649 Rn. 86.

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zen.703 Dieses Ziel wird ebenso nicht beeinträchtigt, wenn aus einer eventuellen Aufhebung, die unbeschadet der Bestandskraft erfolgt, andere Rechtswirkungen als üblich abgeleitet werden. Soweit die Gültigkeitsvermutung als Anknüpfungspunkt abstrakten Vertrauens dient, kann sie durch diesbezügliche teleologische Erwägungen eingeschränkt werden. Soll sie von Unsicherheiten über die Geltung einer Rechtsnorm befreien, so muss man an ihr nicht festhalten, wenn (materiell) die Rechtswidrigkeit der Rechtsnorm klar ist und (prozessual) Aufhebungsmöglichkeiten gegeben sind. Zu Recht sind die Beispiele aus der Praxis vereinzelt geblieben und besteht hier ein strenger Maßstab. Im Einklang mit den Auslegungsentscheidungen ist auf den objektivierten Erkenntnishorizont der Betroffenen abzustellen. Anhand des objektiviert-subjektiven Maßstabs ist folglich zu bestimmen, ob höherrangiges Rechts dem fraglichen abgeleiteten Unionsrecht entgegensteht oder ob eine vorbestehende Rechtsprechung auch für den fraglichen Rechtsakt gilt. Die abstrakte Gültigkeitsvermutung wird nicht durch abstrakte oder objektive Vertrauensgesichtspunkte erschüttert: Solche können sich vergleichbar der Gültigkeitsvermutung allenfalls auf die Gültigkeit oder den Bestand des höherrangigen Rechts oder einer Rechtsprechung beziehen, nicht hingegen auf deren inhaltliche Reichweite. Eine Erschütterung der Gültigkeitsvermutung eines Unionsrechtsakts ist freilich nur dort relevant, wo die Anwendung von Art. 264 Abs. 2 AEUV auch auf Vertrauenserwägungen gestützt ist. Beruft sich der Gerichtshof allein auf öffentliche Interessen wie den Schutz vor zukünftigen Wettbewerbsverzerrungen, kommt einer geklärten Rechtslage für die Rückwirkungsbeschränkung keine Bedeutung zu.704 e) Rechtsprechungsänderung Von eingeschränkter Relevanz für die Unwirksamkeitsverfahren sind Rechtsprechungsänderungen.705 Dabei ist danach zu unterscheiden, ob derselbe Rechtsakt oder ein anderer vergleichbarer Rechtsakt Gegenstand einer früheren Entscheidung war. Wird derselbe Rechtsakt in einem früheren Verfahren nicht für ungültig erklärt jedoch in einem späteren, entfaltete das erste Urteil insoweit keine Präjudizwirkung. Daher wurde die Gültigkeitsvermutung weder beeinträch703

Vgl. EuGH v. 14.9.1999 – Rs. C-310/97 P Kommission ./. AssiDomän Kraft Products u.a., Slg. 1999, I-5363 Rn. 54 ff. 704 Richtig daher EuGH v. 26.4.1994 – Rs. C-228/92 Roquettes Frères ./. Hauptzollamt Geldern, Slg. 1994, I-1445 Rn. 22. Zur Fallgruppe der zukünftigen Wettbewerbsverzerrung unten § 6 C.III.4., S. 264. 705 Unklar Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, 2002, S. 489, der zwar von Unwirksamkeitssachverhalten ausgeht und sich auf Rechtsprechungsänderungen bezieht, aber nur Urteile im Auslegungsvorabentscheidungsverfahren zitiert.

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tigt noch bestärkt, so dass die diesbezügliche Rechtsprechung überhaupt keine Auswirkungen hat. Eine Konstellation wiederum, in der derselbe Rechtsakt erst für ungültig und dann für gültig erklärt wird, ist nicht vorstellbar, da ein ungültiger Rechtsakt kein tauglicher Streitgegenstand mehr sein kann. Als Verstärkung der Gültigkeitsvermutung wirkt die Rechtsprechung, wenn ein ähnlicher Rechtsakt zuerst nicht für ungültig erklärt wurde, der Gerichtshof aber in einem späteren Verfahren seine Rechtsmeinung ändert. Hier läuft die Rechtsprechung zwar nur mit der Gültigkeitsvermutung konform, sie tritt aber gleichzeitig als eigener Vertrauensgeber hinzu. Wurde ein früherer Rechtsakt für unwirksam erklärt, der jetzige aber nicht, ist fraglich, ob die Betroffenen aufgrund des früheren Urteils davon ausgehen durften, dass der jetzige Rechtsakt rechtswidrig ist, und sie in diesem Vertrauen zu schützen sind, wenn der Gerichtshof seine Rechtsprechung zum zugrunde liegenden, höherrangigen Unionsrecht ändert und den jetzigen Rechtsakt nicht aufhebt. Eine Rückwirkungsbeschränkung müsste hier der Gültigkeitsvermutung entgegenwirken und sich darauf richten, dass die Nichtaufhebung (also die Gültigkeitsfeststellung) beschränkt würde und außerdem der Rechtsakt für die Vergangenheit sehr wohl als aufgehoben gilt. Dies ist aber nicht möglich. Die Rechtsunterworfenen dürfen sich nicht nur auf die Gültigkeit inkraftgetretenen Unionsrechts verlassen, sie müssen sich auch bis zu seiner Aufhebung daran ausrichten. Die Gültigkeitsvermutung enthält also insoweit auch eine belastende Komponente. 2. Schützenswerte (Rechts-)Position Wegen der geringen Unterscheidungskraft der Vertrauenssituation, kommt der Prüfung der schützenswerten Rechtspositionen große Bedeutung zu. Je weniger vertrauensbezogene Besonderheiten der konkrete Einzelfall aufweist, desto stärker müssen die Rechtspositionen ausgestaltet sein, um eine zeitliche Beschränkung zu rechtfertigen. Es ist jedoch nicht erkennbar, dass der Gerichtshof dies beachtet oder hierfür gar einheitliche Anforderungen aufgestellt hat. Als schützenswerte Rechtspositionen wurden – wie bei der Legislativrückwirkung – vor allem solche anerkannt, deren Tatsachenbasis nachträglich nicht mehr geändert werden konnte. Dies betraf beispielsweise eingegangene Verträge und erhaltene oder geleistete Zahlungen706, durchgeführte Im- oder Exporte707, eine abgeschlossene Aussaat von Baumwollpflanzen708 sowie 706 EuGH v. 21.1.2003 – Rs. C-378/00 Kommission ./. Parlament und Rat, Slg. 2003, I-937 Rn. 74 i.V.m. GA Geelhoed, SchlA v. 3.10.2002 – Rs. C-378/00 Kommission ./. Parlament und Rat, Slg. 2003, I-937 Rn. 139; GA Mancini, SchlA v. 2.6.1986 – Rs. 34/86 Rat ./. Parlament, Slg. 1986, 2155, 2186. 707 EuGH v. 26.3.1987 – Rs. 45/86 Kommission ./. Rat, Slg. 1987, 1493 Rn. 23 i.V.m. GA Lenz, SchlA v. 29.1.1987 – Rs. 45/86 Kommission ./. Rat, Slg. 1987, 1493 Rn. 98;

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weitergegebene Flugpassagierdaten709. Rein finanzielle Interessen werden nicht erfasst. Der Schutz wirtschaftlicher Rechtsgüter ist nur ein Reflex des Schutzes der genannten Rechtspositionen.710 Nicht nur abgeschlossene Sachverhalte können eine Rückwirkungsbeschränkung rechtfertigen. Vertrauensschutz gewährte der Gerichtshof auch als Übergangsbestimmung gegen die sofortige Wirkung eines Verbots der Verwendung einer flammhemmenden Chemikalie in Elektronikgeräten.711 Die rückwirkende Aufhebung einer Ausnahmebestimmung, die die Verwendung dieser Chemikalie zuließ, wäre einem rückwirkenden Verbot gleichgekommen, weshalb die Interessen der Chemieproduzenten zu schützen waren. Ebenso sah der Gerichtshof die Aufrechterhaltung einer rechtswidrigen Übergangsfrist als notwendig an, wenn die sofortige Geltung des für die Stromproduktion geltenden unionsrechtlichen Besitzstands schwerwiegende Nachteile für energieintensive Industrien und Stromproduzenten eines neu beigetretenen Mitgliedstaats gehabt hätte.712 Die öffentlichen und privaten Vertrauensschutzinteressen überwogen die nur geringen Auswirkungen auf den europäischen Binnenmarkt. Die Rechtspositionen müssen nicht unmittelbar durch den Rechtsakt eingeräumt worden sein; eine mittelbare Betroffenheit der Marktteilnehmer ist ausreichend. Beachtlich sind daher Verträge, die aufgrund eines für nichtig erklären Haushaltsplans mit Dritten abgeschlossen oder an diese geleistet wurden.713 Ebenso genügt es, wenn die Nichtigkeit des Rechtsakts Auswirkungen auf die Rechtsmäßigkeit eines Förderprogrammes hat, unter dessen Geltung mit Dritten Verträge geschlossen wurden.714

EuGH v. 27.9.1988 – Rs. 51/87 Kommission ./. Rat, Slg. 1988, 3459 Rn. 22 i.V.m. GA Lenz, SchlA v. 29.6.1988 – Rs. 51/87 Kommission ./. Rat, Slg. 1988, 5459 Rn. 37; EuGH v. 19.11.1998 – Rs. C-159/96 Portugal ./. Kommission, Slg. 1998, I-7379 Rn. 52 f.; EuGH v. 10.1.2006 – Rs. C-178/03 Kommission ./. Parlament und Rat, Slg. 2006, I-107 Rn. 64 f.; EuG v. 30.5.2013 – verb. Rs. T-454/10 und T-482/11 Anicav und Agrucon, ECLI:EU: T:2013:282 Rn. 85; s.a. GA Geelhoed, SchlA v. 1.12.2005 – Rs. C-313/04 Franz Egenberger, Slg. 2006, 6331 Rn. 85. 708 EuGH v. 7.9.2006 – Rs. C-310/04 Spanien ./. Rat, Slg. 2006, I-7285 Rn. 139 f. 709 EuGH v. 30.5.2006 – verb. Rs. C-317/04 und C-318/04 Parlament ./. Rat und Kommission, Slg. 2006, I-4721 Rn. 73. 710 Weitergehend wohl Woods/Watson, Steiner & Woods EU Law, 11. Aufl. 2012, S. 238. 711 EuGH v. 1.4.2008 – verb. Rs. C-14/06 und C-295/06 Parlament und Dänemark ./. Kommission, Slg. 2008, I-1649 Rn. 86. 712 EuGH v. 28.11.2006 – Rs. C-414/04 Parlament ./. Rat, Slg. 2006, I-11279 Rn. 58 f. 713 GA Mancini, SchlA v. 2.6.1986 – Rs. 34/86 Rat ./. Parlament, Slg. 1986, 2155, 2186. 714 EuGH v. 12.5.1998 – Rs. C-106/96 Großbritannien und Nordirland ./. Kommission, Slg. 1998, I-2729.

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3. Abstrakte Betroffenheit Die Fallgruppe der wohlerworbenen Rechte ist schon dann einschlägig, wenn ein abstrakter Maßstab die Betroffenheit individueller Rechtspositionen nahelegt. Es wird nicht auf die konkret Betroffenen abgestellt, sondern eine generalisierende Prüfung vorgenommen. Es kommt also nicht auf individuelles Vertrauen der Marktteilnehmer an. Geschützt wird abstraktes Vertrauen auf den Bestand der eingeräumten Rechtspositionen. Im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit der Betroffenheit verfährt der Gerichtshof großzügig.715 Auch wenn undetailliertes Vorbringen zu Art und Umfang der Auswirkungen gelegentlich zurückgewiesen wurde,716 genügt doch schon die Möglichkeit von Beeinträchtigungen auf die genannten Rechtspositionen.717 Die Unwirksamkeit muss freilich überhaupt abstrakt Auswirkungen auf die Rechtsbeziehungen der Marktteilnehmer haben können. Daran fehlt es jedenfalls dann, wenn eine Vorschrift aufgehoben wird, die die interne Kostenverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten für Ankäufe von Rindfleisch regelt, wenn dadurch die Kaufverträge mit den Marktteilnehmern nicht berührt werden.718 4. Betroffene Träger der geschützten Rechtsposition können jedenfalls private Marktteilnehmer sein. Soweit die aufgehobene Vorschrift Drittstaatsangehörigen dienen sollte, sind deren Interessen ebenfalls zu berücksichtigen.719 Weiterhin hat das EuG eine Regelung aufrechterhalten, die Zahlungen an die Mitgliedstaaten zum Zwecke der Verteilung von Nahrungsmitteln aus Interventionsbeständen an Bedürftige vorsah, ohne auf eine mittelbare Betroffenheit der Empfänger der Gelder oder der Lebensmittel abzustellen.720 Richtigerweise 715 EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-93/00 Parlament ./. Rat, Slg. 2001, I-10119 Rn. 48: „könnte“ Entscheidungen in Frage stellen, die „möglicherweise“ von den Mitgliedstaaten erlassen worden sind. 716 EuGH v. 26.3.1996 – Rs. C-271/94 Parlament ./. Rat, Slg. 1996, I-1689 Rn. 39; EuGH v. 28.5.1998 – Rs. C-22/96 Parlament ./. Rat, Slg. 1998, I-3231 Rn. 41. 717 Vgl. EuGH v. 3.9.2009 – Rs. C-166/07 Parlament ./. Rat, Slg. 2009, I-7135 Rn. 74; EuGH v. 7.9.2006 – Rs. C-310/04 Spanien ./. Rat, Slg. 2006, I-7285 Rn. 140; EuGH v. 19.11.1998 – Rs. C-159/96 Portugal ./. Kommission, Slg. 1998, I-7379 Rn. 52; EuGH v. 7.3.1996 – Rs. C-360/93 Parlament ./. Rat, Slg. 1996, I-1195 Rn. 33. 718 EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-239/01 Deutschland ./. Kommission, Slg. 2003, I-10333 Rn. 78. 719 Halford, ELRev 1996, 478, 484. Vgl. EuGH v. 10.6.1997 – Rs. C-392/95 Parlament ./. Rat, Slg. 1997, I-3213 Rn. 26 i.V.m. GA Fennelly, SchlA v. 20.3.1997 – Rs. C-392/95 Parlament ./. Rat, Slg. 1997, I-3213 Rn. 40; GA Lenz, SchlA v. 29.6.1988 – Rs. 51/87 Kommission ./. Rat, Slg. 1988, 5459 Rn. 37. 720 EuG v. 13.4.2011 – Rs. T-576/08 Deutschland ./. Kommission, Slg. 2011, II-1578 Rn. 142.

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kann schon die Betroffenheit der Mitgliedstaaten ausreichen, soweit diese nicht als unionaler Hoheitsträger, sondern in Ausübung ihrer eigenen Kompetenzen berührt sind.721 Demgegenüber genügt es nicht, wenn die aufgehobene Norm nur Auswirkungen auf die Union und ihre Organe hat.722 Das abstrakte Vertrauen wird vom Unionsgesetzgeber durch das Inkraftsetzen des Rechtsakts und dessen Gültigkeitsvermutung erzeugt. Auf die Rechtmäßigkeit ihrer eigenen Handlungen kann die Union als Zurechnungsendsubjekt nicht vertrauen. 5. Anzahl der betroffenen Rechtsverhältnisse Weiterhin muss bei der Abwägung berücksichtigt werden, wie viele Rechtsverhältnisse von einer Unwirksamkeit betroffenen wären.723 Anders als bei der Auslegungsrückwirkungsbeschränkung ist die Anzahl der unmittelbar und mittelbar betroffenen Rechtsverhältnisse jedoch nur ein indirekt wirkender Indikator. Schwerer wiegt, welche Rechtsgüter und Interessen durch die Anwendung von Art. 264 Abs. 2 AEUV geschützt werden sollen. Insbesondere solche Rechtsakte, die ein Regelungssystem einrichten oder Förderprogramme aufstellen, betreffen zumeist eine Vielzahl von Adressaten. Hier soll es nicht zu einem Automatismus der Rückwirkungsbeschränkung kommen. Demgegenüber kann nur eine sehr große Zahl an Betroffenen eine Fortwirkungsanordnung aufgrund schwerwiegender wirtschaftlicher Folgen rechtfertigen. Bei anderen Interessen können schon vergleichsweise geringe Anzahlen genügen. So war die Entscheidung des Rates über Telematiknetze zwischen Behörden für die Statistiken über den Warenverkehr zwischen Mitgliedstaaten (Edicom) bis zum EuGH-Urteil Grundlage für 128 angelaufene oder durchgeführte Aktionen724 und hatte eine rechtswidrige Bindung von Haushaltsmitteln durch die Kommission zur Förderung von 86 Vorhaben zur Be721

Vgl. EuGH v. 15.1.1986 – Rs. 41/84 Pinna, Slg. 1986, 1 Rn. 27; EuGH v. 8.9.1994 – verb. Rs. C-363/93, C-407/93 bis C-411/93 Lancry u.a., Slg. 1994, I-3957 Rn. 44 f. A.A. bei Überspannung des Begriffs „Vertrauensschutz“ EuGH v. 19.9.2000 – verb. Rs. C-177/99 und C-181/99 Ampafrance und Sanofi, Slg. 2000, I-7013 Rn. 67; dem Urteil zustimmend hingegen Richter/Schulze, IStR 2000, 746, 748. 722 Vgl. EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-239/01 Deutschland ./. Kommission, Slg. 2003, I-10333 Rn. 78. 723 Z.B. GA Geelhoed, SchlA v. 3.10.2002 – Rs. C-378/00 Kommission ./. Parlament und Rat, Slg. 2003, I-937 Rn. 138 f.; GA Léger, SchlA v. 28.3.1995 – Rs. C-21/94 Parlament ./. Rat, Slg. 1995, I-1827 Rn. 65 i.V.m. EuGH v. 5.7.1995 – Rs. C-21/94 Parlament ./. Rat, Slg. 1995, I-1827 Rn. 31; EuGH v. 9.11.2010 – verb. Rs. C-92/09 und C-93/09 Schecke und Eifert, Slg. 2010, I-11063 Rn. 94; GA Kokott, SchlA v. 30.9.2010 – Rs. C-236/09 Association Belge des Consommateurs Test-Achats ASBL u.a., Slg. 2011, I-773 Rn. 77; EuGH v. 6.11.2014 – Rs. C-335/13 Feakins, ECLI:EU:C:2014:2343 Rn. 66. 724 EuGH v. 26.3.1996 – Rs. C-271/94 Parlament ./. Rat, Slg. 1996, I-1689 Rn. 36.

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kämpfung der sozialen Ausgrenzung geführt725. In beiden Fällen wurde eine Anordnung nach Art. 264 Abs. 2 AEUV getroffen. Für GA La Pergola hätte sogar die Zahlung von Zuschüssen zur Einrichtung eines Informationssystems an sieben ausgewählte Krankenhäuser genügt, um die zeitliche Wirkung der Nichtigkeit der entsprechenden Rechtsgrundlage zu beschränken726. Noch weitergehend kann der durch eine Rückwirkungsbeschränkung zu schützende Zweck des Rechtsakts schon durch eine einzelne Ausnahme vereitelt werden. Dann kommt eine Rückwirkungsbeschränkung auch bei einer nur individuell wirkenden Aufhebung in Betracht.727 Daher ist die Betroffenheit nur eines einzelnen Rechtsverhältnisses kein pauschaler Grund, Art. 264 Abs. 2 AEUV nicht anzuwenden.728 6. Geltungsdauer und -zeitraum der aufgehobenen Norm Die Geltungsdauer der aufgehobenen Norm kann von der Anzahl der betroffenen Rechtsverhältnisse nicht getrennt werden, weshalb auch ihr nur indizielle Bedeutung zukommt. Die Vielfalt der Fallgestaltungen steht einer pauschalen Aussage darüber entgegen, wann ein Zeitraum ausreichend lang oder zu kurz ist. Entscheidend ist das Zusammenspiel mit anderen Faktoren, auf die sich die Geltungsdauer verstärkend oder abschwächend auswirkt. Als Grundsatz lässt sich festhalten, dass je länger eine Regelung in Kraft war, desto zahlreicher und intensiver sind die Wirkungen ihrer Aufhebung und umgekehrt. Die Urteile des Gerichtshofs betrafen eine Geltung von über fünf Jahren einhergehend mit einer großen Zahl an geleisteten Beihilfen für eine Vielzahl von Wirtschaftsteilnehmern729 oder eine drei Jahre lang geltende Verordnung mit zahlreichen Durchführungsvorschriften730. In Bezug auf Vorschriften über den Unionshaushalt genügt es, wenn ein wesentlicher Teil des Haushaltsjahres731 abgelaufen ist.732 Bei einem Rechtsakt der für vier Jahre gelten soll, ist 725

EuGH v. 12.5.1998 – Rs. C-106/96 Großbritannien und Nordirland ./. Kommission, Slg. 1998, I-2729 Rn. 40 i.V.m. Rn. 14. 726 GA La Pergola, SchlA v. 20.3.1997 – Rs. C-259/95 Parlament ./. Rat, Slg. 1997, I-5303 sub Rn. 10. 727 Siehe EuGH v. 3.9.2008 – verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P Kadi und Al Barakaat International Foundation ./. Rat und Kommission, Slg. 2008, I-6351 Rn. 373. 728 A.A. wohl GA Darmon, SchlA v. 7.3.1990 – Rs. C-66/89 Powerex-Europe, Slg. 1990, I-1959 Rn. 24. 729 EuGH v. 22.12.2008 – Rs. C-333/07 Régie Networks, Slg. 2008, I-10807 Rn. 123. 730 EuGH v. 10.1.2006 – Rs. C-178/03 Kommission ./. Parlament und Rat, Slg. 2006, I-107 Rn. 64 f. 731 Haushaltsjahr ist das Kalenderjahr, Art. 313 AEUV (Art. 272 Abs. 1 EG/Art. 203 Nr. 1 EGV). 732 EuGH v. 3.7.1986 – Rs. 34/86 Rat ./. Parlament, Slg. 1986, 2155 Rn. 48 (mehr als sechs Monate); EuGH v. 7.12.1995 – Rs. C-41/95 Rat ./. Parlament, Slg. 1995, I-4411

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eine Fortwirkungsanordnung gerechtfertigt, wenn die Aufhebung nach mehr als zwei Jahren erfolgt und mindestens die Hälfte der geplanten Zahlungen bereits geleistet ist.733 Eine Geltungsdauer von neun Monaten kann genügen, wenn wirtschaftliche Investitionen unwiederbringlich verloren sind.734 In gleicher Weise präjudiziert das zwischenzeitliche Außerkrafttreten der nichtigen Norm nicht die Frage einer Rückwirkungsbeschränkung. Auch wenn der rechtswidrige Rechtsakt schon abgelaufen ist, kann ein Bedürfnis nach Rechtssicherheit für die während der Geltungsdauer erworbenen Rechtspositionen und eingegangenen Rechtsverhältnisse bestehen.735 Dies gilt nicht, wenn wegen des Ablaufs des Rechtsakts und einer unionalen Verjährungsfrist nur noch wenige Fälle vom EuGH-Urteil betroffen sein können.736 Spiegelbildlich dazu kann es für eine Aufrechterhaltung einer rechtswidrigen Vorschrift auch in der Zukunft sprechen, wenn diese aufgrund einer bald ablaufenden Befristung ohnehin nur noch kurze Zeit gegolten hätte.737 Hier kommt es nur zu einer geringen weiteren Beeinträchtigung des Rechtmäßigkeitsgrundsatzes, der deshalb die privaten und öffentlichen Anstrengungen zur Anpassung der Rechtslage nicht überwiegt. Ausgehend von der Feststellung, dass die Gültigkeitsdauer ein bestimmender Faktor ist, ließe sich überlegen, bei Nichtigkeitsklagen den Vertrauensschutz- und Rechtssicherheitserwägungen weniger Gewicht als bei Ungültigkeitsvorlagen zuzusprechen. Als Grund wird angeführt, dass die Nichtigkeitsklage schneller zu einer Aufhebung des Rechtsakts führt, weil dort gemäß Art. 263 Abs. 6 AEUV die Klage innerhalb von zwei Monaten erhoben werden muss, während es für die Ungültigkeitsvorlage keine entsprechende

Rn. 43 (mehr als elf Monate); EuGH v. 31.3.1992 – Rs. C-284/90 Rat ./. Parlament, Slg. 1992, I-2277 Rn. 37 (komplett abgelaufen). 733 EuGH v. 3.9.2009 – Rs. C-166/07 Parlament ./. Rat, Slg. 2009, I-7135 Rn. 73. 734 EuGH v. 7.9.2006 – Rs. C-310/04 Spanien ./. Rat, Slg. 2006, I-7285 Rn. 139 (Aussaat von Baumwollpflanzen). 735 EuGH v. 27.9.1988 – Rs. 51/87 Kommission ./. Rat, Slg. 1988, 3459 Rn. 22 i.V.m. GA Lenz, SchlA v. 29.6.1988 – Rs. 51/87 Kommission ./. Rat, Slg. 1988, 5459 Rn. 37; EuGH v. 7.7.1992 – Rs. C-295/90 Parlament ./. Rat, Slg. 1992, I-4193 Rn. 25; EuGH v. 7.3.1996 – Rs. C-360/93 Parlament ./. Rat, Slg. 1996, I-1195 Rn. 34; EuGH v. 28.5.1998 – Rs. C-22/96 Parlament ./. Rat, Slg. 1998, I-3231 Rn. 41; EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-93/00 Parlament ./. Rat, Slg. 2001, I-10119 Rn. 48. 736 EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-463/98 Cabletron Systems, Slg. 2001, I-3495 Rn. 26 i.V.m. GA Jacobs, SchlA v. 1.2.2001 – Rs. C-463/98 Cabletron Systems, Slg. 2001, I-3495 Rn. 115; EuGH v. 8.11.2001 – Rs. C-228/99 Silos e Mangimi Martini, Slg. 2001, I-8401 Rn. 37. 737 EuGH v. 16.7.1992 – Rs. C-65/90 Parlament ./. Rat, Slg. 1992, I-4593 Rn. 22 i.V.m. GA Darmon, SchlA v. 26.2.1992 – Rs. C-65/90 Parlament ./. Rat, Slg. 1992, I-4593 Rn. 65; GA Mischo, SchlA v. 13.2.2003 – Rs. C-445/00 Österreich ./. Rat, Slg. 2003, I-8549 Rn. 156.

§ 6 Der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung

259

Frist gibt.738 Dies übersieht jedoch, dass auch die Länge des gerichtlichen Verfahrens zu berücksichtigen ist. Die Verfahrenseinleitung beseitigt – entsprechend den Grundsätzen der Auslegungsvorlage – nicht die Gültigkeitsvermutung oder das daraus abzuleitende abstrakte Vertrauen. Tatsächlich kann, wie die Beispiele zeigten, auch eine Nichtigkeitsklage erst mehrere Jahre nach Erlass der streitigen Norm entschieden werden. Soweit eine Rechtsmittelinstanz besteht, kann sich die Verfahrensdauer noch verlängern. Darüber hinaus dürfen die Rechtsunterworfenen nach Ablauf der Anfechtungsfrist (Art. 263 Abs. 6 AEUV) nicht davon ausgehen, dass nun eine größere Wahrscheinlichkeit für die Rechtmäßigkeit des Rechtsakts besteht, denn die Ungültigkeitsvorlage kann aus denselben Gründen zu denselben Aufhebungswirkungen wie die Nichtigkeitsklage führen. Außerdem besteht das Fristerfordernis nur bei einer Direktklagemöglichkeit. Diese ist jedoch bei Verordnungen und Richtlinien für nicht-privilegierte Kläger nur ausnahmsweise gegeben. Damit ist die Verfahrensart kein taugliches Unterscheidungsmerkmal; es muss auf die Umstände des Einzelfalls und die konkrete Geltungsdauer abgestellt werden. II. Rechtssicherheitserwägungen im öffentlichen Interesse In einer zweiten Gruppe lassen sich Erwägungen der Rechtssicherheit im öffentlichen Interesse zusammenfassen. Der Begriff der Rechtssicherheit ist hier in einem sehr weiten Sinne zu verstehen. Bei einzelnen Fällen ist ein Bezug dazu fast gar nicht mehr zu erkennen, z.B. bei Wahrung der Gewaltenteilung (unten 2.) oder Schutz vor Wettbewerbsverzerrungen (unten 4.). Allen zugehörigen Fallgruppen ist jedoch gemeinsam, dass es nicht auf das Interesse der Adressaten des Rechtsakts ankommt, sondern vielmehr Interessen der Union, insbesondere des Unionsgesetzgebers, gewahrt werden sollen. Aus dessen Perspektive führt die Rückabwicklung der auf Grundlage der rechtswidrigen Regelung vorgenommenen Rechtsverhältnisse zu mehr Schaden als Nutzen. Deshalb ist es besser, einen rechtswidrigen Rechtsakt zu haben als gar keinen.739 Einen wesentlichen Gesichtspunkt der Abwägung stellt der Zweck der angegriffenen Regelung dar.740 Eine Aufrechterhaltung der Wirkungen ist zu738

Lenaerts/Arts/Masels/Bray, Procedural Law of the European Union, 2. Aufl. 2006, Rn. 10-018; Lenaerts/Maselis/Gutman, EU Procedural Law, 2014, 10.22 (S. 476); Brown, CMLRev 18 (1981), 509, 519; Bebr, CMLRev 22 (1985), 771, 783; Bebr, FS Stein, 1987, S. 91, 107; ähnlich auch ders., CMLRev 18 (1981), 475, 499 f.; in diese Richtung auch Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 92. 739 Schermers/Waelbroeck, Judicial Protection in the European Union, 6. Aufl. 2001, § 1023. 740 Ebenso Lenaerts/Maselis/Gutman, EU Procedural Law, 2014, 7.221 (S. 413). In diese Richtung auch Müller, Die Begrenzung der zeitlichen Wirkungen von EuGH-

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meist ausgeschlossen, wenn der Zweck die Rechtswidrigkeit (mit-)begründet hat. Daher wird die Rückwirkung nicht beschränkt, wenn gerade das gewählte Mittel an sich und nicht nur seine konkrete Ausgestaltung rechtswidrig ist. Das ist insbesondere der Fall, wenn sich die Zwecke der aufrechtzuerhaltenden und der höherrangigen Norm nicht in Einklang bringen lassen – also eine Zweckkollision vorliegt. Da es sich um eine umfassende Interessenabwägung handelt, treten neben die öffentlichen Interessen oftmals noch Erwägungen zu schützenswerten individuellen Rechtspositionen. 1. Stabilität des Haushaltsplans Ein augenfälliger Anlass für die Beschränkung der Rückwirkung ist der Schutz der Stabilität des Haushaltsplans. Der Haushaltsplan ist Grundlage der Finanzierung der Unionsorgane- und -stellen. Auf seiner Basis werden Finanzmittel bereitgestellt, die dann zu unterschiedlichsten Verträgen, Zahlungen oder Zusagen führen.741 Der Haushaltsplan ist notwendige Voraussetzung für das Funktionieren des Europäischen öffentlichen Dienstes. Fehlt es an einem geltenden Haushaltsplan, dürfen nicht nur an die Unionsangestellten keine Zahlungen geleistet werden, sondern auch jegliche Projekte nicht weiter unterhalten werden. Die Union würde handlungsunfähig.742 Die Kontinuität des Europäischen öffentlichen Dienstes überwiegt daher regelmäßig das Interesse an der rückwirkenden Aufhebung des Haushalts oder zugrunde liegender Beschlüsse.743 Übertragen lassen sich diese Überlegungen auf die Handlungsfähigkeit einzelner Organe oder Stellen der Union. Zu Recht aufrechterhalten hat der Gerichtshof daher einen Beschluss über Garantieleistungen der Gemeinschaft für etwaige Verluste der Europäischen Investitionsbank, der auf einer falschen Rechtsgrundlage erlassen wurde. Die Bonität der Europäischen Investitionsbank und damit das Vertrauen in ihre Leistungsfähigkeit waren gefährEntscheidungen, 2009, S. 23; vgl. GA Villalón, SchlA v. 12.12.2013 – Rs. C-293/12 Digital Rights Ireland, ECLI:EU:C:2013:845 Rn. 157, der auf „die Relevanz und sogar die Dringlichkeit der Endziele“ der unwirksamen Richtlinie abstellt. Vorbildlich z.B. EuG v. 3.7.2014 – Rs. T-155/13 Zanjani, ECLI:EU:T:2014:605 Rn. 83: „Consequently, the applicant’s interest in ensuring that this annulling judgment should take effect immediately must be weighed against the objective of general interest pursued by the European Union’s policy in relation to restrictive measures against the Islamic Republic of Iran.”. 741 Hier besteht ein deutlicher Berührungspunkt mit den Interessen mittelbar betroffener Marktteilnehmer. 742 So verwundert es nicht, dass das Europäische Parlament sein Verhalten im Gesetzgebungsverfahren bei Rechtsstreitigkeiten von Erwägungen zur Leistungsfähigkeit der Unionsverwaltung leiten lässt, vgl. Arnull, ELRev 1986, 431, 434 f. zur Rs. 34/86. 743 EuGH v. 3.7.1986 – Rs. 34/86 Rat ./. Parlament, Slg. 1986, 2155 Rn. 48; EuGH v. 31.3.1992 – Rs. C-284/90 Rat ./. Parlament, Slg. 1992, I-2277 Rn. 37; EuGH v. 7.12.1995 – Rs. C-41/95 Rat ./. Parlament, Slg. 1995, I-4411 Rn. 44.

§ 6 Der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung

261

det.744 Dadurch hätte die Bank ihre Funktionsfähigkeit in dem betroffenen Bereich eingebüßt. 2. Gewaltenteilung/Beurteilungsspielräume anderer Organe/Gleichheitsgrundsatz Ebenso von Art. 264 Abs. 2 AEUV geschützt werden Beurteilungsspielräume anderer Unionsorgane.745 Diese Kompetenzen können durch Primärrecht (z.B. bei Beihilfeentscheidungen) oder durch Sekundärrecht (z.B. die frühere Festsetzung von Währungsausgleichsbeträgen) zugewiesen worden sein. Fremde Beurteilungsspielräume sind berührt, wenn eine rechtmäßige Rechtslage nicht durch Kürzung einzelner Posten oder Streichung einzelner Vorschriften zu erreichen ist, sondern eine umfassende Neugestaltung des gesamten Regelungsbereichs erforderlich wäre.746 Nur das (horizontale) institutionelle Gleichgewicht innerhalb der Union wird berücksichtigt, da das Ziel der Schutz der Organkompetenzen ist. Die Frage der Verbandskompetenz der Union ist dem vorgelagert; Kompetenzabgrenzungen im Recht der Mitgliedstaaten sind unbeachtlich.747 Macht der Gerichtshof hier nicht von Art. 264 Abs. 2 AEUV Gebrauch, kann sich für die nationalen Verwaltungen eine Tätigkeitssperre ergeben. So kann in Bereichen wie dem einheitlichen Agrarmarkt eine durch die Unwirksamkeit entstehende Lücke nur durch eine unionale Regelung ausgefüllt werden, da die Union eine ausschließliche Kompetenz innehat. Dann sind die nationalen Behörden bis zur Neuregelung durch den Unionsgesetzgeber gehindert, das rudimentäre Rechtsregime auch übergangsweise anzuwenden.748 Der Gewaltenteilungsgrundsatz ist darüber hinaus einschlägig, wenn sich die Rechtswidrigkeit aus einem Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz ergibt. Dieser kann sowohl durch eine Angleichung auf dem höheren oder dem niedrigeren Niveau oder durch eine ganz andere Regelung abgestellt werden. Es obliegt dem Unionsgesetzgeber, den Interessenausgleich durch eine Neuregelung herbeizuführen. Anfangs stellte der Gerichtshof hier nur die Unvereinbarkeit der Regelung mit dem Gleichheitsgrundsatz fest (sog.

744

EuGH v. 6.11.2008 – Rs. C-155/07 Parlament ./. Rat, Slg. 2008, I-8103 Rn. 88. So zu Währungsausgleichsbeträgen EuGH v. 15.10.1980 – Rs. 4/79 Providence agricole de la Champagne, Slg. 1980, 2823 Rn. 45; EuGH v. 15.10.1980 – Rs. 109/79 Maieseries de Beauce, Slg. 1980, 2883 Rn. 45; EuGH v. 15.10.1980 – Rs. 145/79 Roquette Frères, Slg. 1980, 2917 Rn. 52 und zu Beihilfeentscheidungen EuGH v. 22.12.2008 – Rs. C-333/07 Régie Networks, Slg. 2008, I-10807 Rn. 125 f. Kritisch hingegen Müller, Die Begrenzung der zeitlichen Wirkungen von EuGH-Entscheidungen, 2009, S. 60. 746 GA Lenz, SchlA v. 28.2.1985 – Rs. 33/84 FRAGD, Slg. 1985, 1605, 1609. 747 In diese Richtung auch Krois, DB 2010, 1704, 1707. 748 EuGH v. 6.6.1996 – Rs. C-127/94 The Queen gegen Ministry of Agriculture, Fisheries and Food, Slg. 1996, I-2731 Rn. 58-60. 745

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

Appellentscheidung).749 Dabei handelte es sich dogmatisch nicht um eine Beschränkung der zeitlichen Wirkungen der Ungültigkeit, sondern um eine Beschränkung der Ungültigerklärung selbst.750 In einer späteren Entscheidung erklärte der EuGH eine diskriminierende Vorschrift für ungültig, ordnete aber nach Art. 264 Abs. 2 AEUV deren Fortgeltung an unter Einbeziehung der diskriminierten Gruppe.751 Dennoch sind es keine Rechtssicherheitserwägungen, die dazu führen, dass ein Gleichheitsverstoß bis zu einer Neuregelung durch den kompetenten Rechtssetzer durch eine „Angleichung nach oben„ abgestellt werden muss.752 Diese Rechtsfolge unionaler Diskriminierungsverbote, die vorrangig im Bereich der Entgeltgleichheit entwickelt wurde, gründet sich auf die mit dem Diskriminierungsverbot verfolgten Ziele.753 Mit ihr trifft der Gerichtshof eine eigene Übergangsregelung, stellt einen gleichheitsgemäßen Zustand her und zielt gerade nicht auf die Wahrung der Kompetenzen des Unionsgesetzgebers. Infolgedessen konfligiert die Fortgeltung der streitigen Norm nicht mit der „objektiven Rechtmäßigkeit“.754 Art. 264 Abs. 2 AEUV wird in den Dienst des Diskriminierungsverbots gestellt und soll dem Gerichtshof nur ermöglichen, seine Übergangsregelung an eine geltende Norm anzuknüpfen.755 Zu einer solchen inhaltlichen Regelung ermächtigt nämlich Art. 264 Abs. 2 AEUV allein nicht.756 Freilich stellt dieses Vorgehen 749

EuGH v. 19.10.1977 – verb. Rs. 124/76 und 20/77 Moulins Pont-á-Mousson u.a., Slg. 1977, 1795 Rn. 24; EuGH v. 19.10.1977 – verb. Rs. 117/76 und 16/77 Ruckdeschel u.a., Slg. 1977, 1753 Rn. 13. 750 Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995, S. 150 f. 751 EuGH v. 29.6.1988 – Rs. 300/86 van Landschoot, Slg. 1988, 3443 Rn. 23 f. 752 Dazu z.B. Krebber, EuZA 2009, 200, 202 ff.; Colneric, EuZA 2008, 212, 224; jeweils m.w.N. Zu den Grenzen dieses Grundsatzes kürzlich EuGH v. 19.6.2014 – verb. Rs. C-501/12 bis C-506/12, C-540/12 und C-541/12 Specht u.a., ECLI:EU:C:2014:2005 Rn. 87 ff. 753 Zu Art. 157 AEUV EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-28-93 van den Akker u.a., Slg. 1994, I-4527 Rn. 15; Kirschbaum, ZAS 1995, 37, 42. 754 In diesem Sinne Finke, IStR 2006, 212, 216. 755 A.A. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995, S. 150 f. und ihm folgend Keppert, ÖStZ 1997, 165, 169, die den Gleichheitsverstoß als „zweite Fallgestaltung“ neben den Rechtssicherheitserwägungen ansehen; Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 68 f., 251 f., 259 f.; ähnlich Bernhardt, Verfassungsprinzipien – Verfassungsgerichtsfunktionen – Verfassungsprozeßrecht im EWG-Vertrag, 1987, S. 162 f.: „eng verknüpft mit der Begrenzung der Urteilswirkungen in zeitlicher und sachlicher Hinsicht“; Kadelbach, Die Wirkung von im Vorabentscheidungsverfahren ergangenen Urteilen, 2000, S. 119, 127. 756 Beckmann, Probleme des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 177 EWGVertrag, 1988, S. 117; Müller, Die Begrenzung der zeitlichen Wirkungen von EuGHEntscheidungen, 2009, S. 60 f.; ähnlich Grabitz/Hilf/Nettesheim-Dörr, Das Recht der Europäischen Union, 51. EL 2013, Art. 264 AEUV Rn. 16.

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263

eine besondere Variante der aus der Rechtswidrigkeit zu ziehenden Folgen dar, wenngleich es keine zeitliche Modifizierung ist. Allenfalls kommt es daneben zu einer Rückwirkungsbeschränkung, wenn die Angleichung nach oben erst ab dem Urteilstag gelten soll. Dies beruht dann aber auf anderen Gründen und nicht dem Gleichheitsverstoß. In den bisher entschiedenen Fällen wirkte die Übergangsregelung aber gerade auch in die Vergangenheit.757 3. Klage ist auf ein sachliches Mehr gerichtet (Verpflichtungssituation) Naheliegend ist ebenfalls das Bedürfnis nach einer Beschränkung der Rückwirkung, wenn die Klage darauf gerichtet war, eine Regelung zu erreichen, die noch über das hinausgeht, was die streitige Vorschrift gewährt hat. Ist zum Beispiel ein (neuer) Antidumpingzoll zu niedrig angesetzt, so würde die Aufhebung des Rechtsakts – und damit des Antidumpingzolls – dem (erfolgreichen) Begehren, einen höheren Zollsatz einzuführen, glatt zuwiderlaufen.758 Die Rechtswidrigkeit beruht hier darauf, dass eine (ausreichende) Vorschrift fehlt, weswegen die Abschaffung des Rechtsakts keine Lösung bietet.759 Hierzu können auch Verstöße gegen den Gleichheitsgrundsatz gehören oder solche Fälle, in denen die Aufhebung des angegriffenen Rechtsakts die Rechtswidrigkeit noch vertiefen würde. Beruht das Mehr auf einem individuellen Anspruch des Klägers auf eine Leistung an ihn, ist dies als „Verpflichtungssituation“ aus dem nationalen Prozessrecht bekannt. Im Unionsrecht fehlt es an einem speziellen Rechtsbehelf für diese Prozesssituation.760 Dort kann sich eine solche Konstellation aber auch dann ergeben, wenn kein individueller Anspruch auf eine Leistung besteht, sondern die rechtmäßige Regelung aufgrund objektiv-rechtlicher Vorgaben noch über die streitige hinausgeht. Grund ist, dass auch bei Individualklagen die Prüfung nicht auf subjektive Rechte oder subjektiv-schützende Normen beschränkt ist.761 Das „materielle Mehr“ bestimmt sich durch einen Vergleich von rechtswidriger Rechtslage, hypothetischer, rechtmäßiger Rechtslage und Rechtslage ohne rechtswidrige Norm – gemessen am Klageziel. Es kann auch in der Verringerung eines Dritte begünstigenden Grenzwerts liegen. So kommt eine 757

Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 207 f. 758 EuGH v. 20.3.1985 – Rs. 264/82 Timex, Slg. 1985, 849 Rn. 32. Unter Berufung darauf EuG v. 29.6.2000 – Rs. T-7/99 Medici Grimm, Slg. 2000, II-2671 Rn. 94, dazu noch § 6 c) IV.3., S. 285. 759 Schermers/Waelbroeck, Judicial Protection in the European Union, 6. Aufl. 2001, § 1023. 760 Pechstein, EU-Prozessrecht, 4. Aufl. 2011, Rn. 563 i.V.m. Rn. 574; Classen, Die Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1996, S. 24 f., 177 f. 761 Vgl. Grabitz/Hilf/Nettesheim-Dörr, Das Recht der Europäischen Union, 51. EL 2013, Art. 263 AEUV Rn. 1 f.

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Rückwirkungsbeschränkung in Betracht, wenn Schwellenwerte für Lastkraftwagenemissionen in einem Transitland durch eine Verordnung nicht ausreichend abgesenkt werden.762 4. Neue Wettbewerbsverzerrungen durch Rückabwicklung Als überwiegendes Interesse kommt weiterhin das Ziel der Errichtung eines gemeinsamen Binnenmarktes in Betracht. Darauf berief sich beispielsweise der Gerichtshof, als die Rückabwicklung gezahlter oder erhaltener Währungsausgleichsbeträge in den Mitgliedstaaten aufgrund unterschiedlicher Erstattungsregeln zu neuen Wettbewerbsverzerrungen auf dem Gemeinsamen Agrarmarkt führen konnte.763 Die Währungsausgleichsbeträge dienten gerade der Verminderung von Wettbewerbsverzerrungen, welche auf der unterschiedlichen Bewertung der mitgliedstaatlichen Währungen beruhten. Die Aufhebung der streitigen Rechtsakte hätte also die Ungleichbehandlungen zwischen den Marktteilnehmern nicht beseitigt, sondern neue geschaffen. Dem steht nicht entgegen, dass bloße Unterschiede in nationalen Erstattungsvorschriften als Kehrseite der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie von der Unionsrechtsordnung grundsätzlich hinzunehmen sind,764 denn der Gemeinsame Agrarmarkt ist ein sehr weitgehend vereinheitlichter Markt, bei dem schon geringe mitgliedstaatliche Abweichungen große Auswirkungen haben können. Wie neu entstehende Wettbewerbsverzerrungen sind neue Ungleichbehandlungen zu vermeiden. Beide können sich ergeben, wenn die zurückzuzahlenden Beträge im Nachhinein nicht mehr eindeutig bestimmt werden können.765

762

EuGH v. 11.9.2003 – Rs. C-445/00 Österreich ./. Rat, Slg. 2003, I-8549 Rn. 104, 106; insoweit klarer GA Mischo, SchlA v. 13.2.2003 – Rs. C-445/00 Österreich ./. Rat, Slg. 2003, I-8549 Rn. 154 f. 763 EuGH v. 15.10.1980 – Rs. 4/79 Providence agricole de la Champagne, Slg. 1980, 2823 Rn. 45; EuGH v. 15.10.1980 – Rs. 109/79 Maieseries de Beauce, Slg. 1980, 2883 Rn. 45; EuGH v. 15.10.1980 – Rs. 145/79 Roquette Frères, Slg. 1980, 2917 Rn. 52; EuGH v. 26.4.1994 – Rs. C-228/92 Roquettes Frères ./. Hauptzollamt Geldern, Slg. 1994, I-1445 Rn. 22. Zustimmend Daig, Nichtigkeits- und Untätigkeitsklagen im Recht der Europäischen Gemeinschaften, 1985, S. 197 f., ablehnend Huthmacher, Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts bei indirekten Kollisionen, 1985, S. 23. Siehe aber jüngst im Zusammenhang mit Direktzahlungen an Landwirte EuGH v. 6.11.2014 – Rs. C-335/13 Feakins, ECLI:EU: C:2014:2343 Rn. 63 ff. 764 Siehe EuGH v. 27.3.1980 – Rs. 61/79 Denkavit italiana, Slg. 1980, 1205 Rn. 22 ff. 765 EuGH v. 10.3.1992 – verb. Rs. C-38/90 und C-151/90 Lomas u.a., Slg. 1992, I-1781 Rn. 27; erläuternd GA Tesauro, SchlA v. 13.12.1991 – verb. Rs. C-38/90 und C-151/90 Lomas u.a., Slg. 1992, I-1781 sub 7.

§ 6 Der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung

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5. Völkerrechtliche Bindung Eine andere Gruppe betrifft Fälle mit völkerrechtlichem Bezug. Hier kann die Trennung von innerunionalen Wirkungen und völkerrechtlichen Bindungen im Außenverhältnis zu Widersprüchen führen, die eine Fortgeltung der Rechtsaktswirkungen gemäß Art. 264 Abs. 2 AEUV nahelegen. Der Gerichtshof zeigt hier ein völkerrechtsfreundliches Verständnis seiner Kompetenzen zur Beschränkung der Rückwirkung. Beschlüsse, mit denen die Union einer völkerrechtlichen Übereinkunft beitritt (vgl. Art. 218 Abs. 6 AEUV), unterliegen wie alle anderen Maßnahmen der Unionsorgane der Rechtmäßigkeitskontrolle durch den Gerichtshof. Ist der Annahmebeschluss rechtswidrig und wird aufgehoben, verliert er innerhalb der Union an Rechtsgeltung. Im völkerrechtlichen Außenverhältnis ist die Rechtswidrigkeit jedoch – vorbehaltlich einer abweichenden Regelung im völkerrechtlichen Vertrag – gemäß Art. 27 WVK kein Grund für eine Nichterfüllung der völkervertraglichen Pflichten. Nach Art. 46 Abs. 1 WVK führen auch Mängel der Zuständigkeit für den Vertragsschluss nur dann zur Ungültigkeit (Anfechtbarkeit) des Vertrages, wenn sie offenkundig766 waren und eine innerstaatliche Rechtsvorschrift von grundlegender Bedeutung betrafen.767 Diese Grundsätze gelten unmittelbar nur für Verträge zwischen Staaten, bei Verträgen der Europäischen Union jedoch entsprechend (bzw. sinngemäß).768 In den allermeisten Fällen wird also die internationale Bindung nicht berührt. Damit ist freilich nicht entschieden, ob dieser Bindung – vor allem angesichts des Nichtigkeitsurteils – auch innerunional entsprochen werden muss, die völkerrechtlichen Pflichten also von den Unionsorganen zu erfüllen und dementsprechend von allen Rechtssubjekten zu beachten sind. Unter Zugrundelegung eines monistischen Verständnisses für das Verhältnis von Unions- und Völkerrecht wäre diese Frage zu bejahen.769 766

Nach der Legaldefinition des Art. 46 Abs. 2 WVK ist dies der Fall, wenn die Verletzung für jeden Staat, der sich hierbei im Einklang mit der allgemeinen Übung und nach Treu und Glauben verhält, objektiv erkennbar ist. 767 Sog. Evidenzfälle, Stein/v. Buttlar, Völkerrecht, 13. Aufl. 2012, Rn. 70. 768 Müller, Das Rechtsprechungsmonopol des EuGH im Kontext völkerrechtlicher Verträge, 2012, S. 137 f. 769 Das monistische Konzept wird wohl von der herrschenden Meinung vertreten, vgl. Grabitz/Hilf/Nettesheim-Vöneky/Beylage-Haarmann, Das Recht der Europäischen Union, 51. EL 2013, Art. 216 AEUV Rn. 27 ff.; Calliess/Ruffert-Schmalenbach, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 216 AEUV Rn. 28 ff.; jeweils m.w.N. Anknüpfungspunkt ist die Rechtsprechung des EuGH wonach völkerrechtliche Übereinkünfte mit ihrem Inkrafttreten „integraler Bestandteil der [Unions]rechtsordnung“ werden, vgl. EuGH v. 22.10.2009 – Rs. C-301/08 Bogiatzi, Slg. 2009, I-10185 Rn. 23 m.w.N. Inwieweit dieses Verständnis noch aktuell ist, steht nach EuGH v. 3.9.2008 – verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P Kadi und Al Barakaat International Foundation ./. Rat und Kommission, Slg. 2008, I-6351 im Streit, vgl. z.B. Isiksel, EurLJ 16 (2010), 551, 558 ff.

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

Um zu vermeiden, dass Unsicherheit über die innerunionale Geltung der völkerrechtlichen Pflichten aufkommt, kann die Wirkung des Annahmebeschlusses aufrechterhalten werden.770 Die Anwendung von Art. 264 Abs. 2 AEUV dient dem Gleichlauf sowohl zu Gunsten der Unionsorgane als auch zu Gunsten der Marktteilnehmer, die aus dem völkerrechtlichen Abkommen möglicherweise Rechte oder Pflichten ableiten können. Diesem Gleichlauf misst das Unionsrecht besondere Bedeutung bei, was durch die Existenz des Gutachtenverfahrens nach Art. 218 Abs. 11 AEUV bestätigt wird. Das Gutachtenverfahren ist ein weiteres Instrument, um rechtzeitig Komplikationen zu vermeiden, die sich aus einem Widerspruch zwischen Innen- und Außenverhältnis ergeben.771 Aus denselben Gründen können neben Annahmebeschlüssen auch solche Beschlüsse aufrechterhalten werden, die gemäß Art. 218 Abs. 9 AEUV ergehen, um das Abstimmungsverhalten in internationalen Gremien verbindlich festzulegen.772 Da kein weiterer Unionsrechtsakt nachfolgt und schon durch den Beschluss des Gremiums eine völkerrechtliche Bindung entsteht, würden die innerunionalen und die internationalen Vorgaben divergieren und Rechtsunsicherheit bei Organen, Mitgliedstaaten oder Unionsbürgern auslösen. Schließlich strahlt der Konflikt von Innen- und Außenverhältnis auf Rechtsakte aus, die zur Durchsetzung von völkerrechtlichen Abkommen also zur Erfüllung völkerrechtlicher Pflichten erlassen werden.773 Diese Maßnahmen entfalten selbst keine unmittelbaren völkerrechtlichen Außenwirkungen, die 770

EuGH v. 11.9.2003 – Rs. C-211/01 Kommission ./. Rat, Slg. 2003, I-8913 Rn. 57; EuGH v. 22.10.2013 – Rs. C-137/12 Kommission ./. Rat, ECLI:EU:C:2013:675 Rn. 80 f.; GA Kokott, SchlA v. 23.4.2009 – Rs. C-370/07 Kommission ./. Rat, Slg. 2009, I-8917 Rn. 88; siehe auch GA Lenz, SchlA v. 29.6.1988 – Rs. 165/87 Kommission ./ Rat, Slg. 1988, 5545 Rn. 35 f.; GA Mengozzi, SchlA v. 23.1.2014 – Rs. C-377/12 Kommission ./. Rat, ECLI:EU:C:2014:29 Rn. 78; Cremona, CMLRev 34 (1997), 389, 398; Gabel/Arhold, EWS 2006, 363, 364; Müller, Das Rechtsprechungsmonopol des EuGH im Kontext völkerrechtlicher Verträge, 2012, S. 140. GA Kokott, SchlA v. 27.6.2013 – Rs. C-137/12 Kommission ./. Rat, ECLI:EU:C:2013:441 Rn. 125 stellt ergänzend auf die Erkennbarkeit der Vertretungsverhältnisse auf internationaler Ebene ab. Anders hingegen GA Villalón, SchlA v. 29.4.2014 – Rs. C-399/12 Deutschland ./. Rat, ECLI:EU:C:2014:289 Rn. 121. 771 EuGH v. 30.11.2009 – Gutachten 1/08 GATS, Slg. 2009, I-11129; Streinz-Mögele, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 218 AEUV Rn. 35. 772 EuGH v. 1.10.2009 – Rs. C-370/07 Kommission ./. Rat, Slg. 2009, I-8917 Rn. 65, der vor allem auf das tatsächliche Abstimmungsverhalten abstellt; eindeutiger insoweit GA Kokott, SchlA v. 23.4.2009 – Rs. C-370/07 Kommission ./. Rat, Slg. 2009, I-8917 Rn. 88; GA Kokott, SchlA v. 26.3.2009 – Rs. C-13/07 Kommission ./. Rat, ECLI:EU:C:2009:190 Rn. 173. Ebenso dürften Beschlüsse nach Art. 218 Abs. 5, 7 AEUV erfasst aber weniger streitträchtig sein. 773 EuGH v. 30.5.2006 – verb. Rs. C-317/04 und C-318/04 Parlament ./. Rat und Kommission, Slg. 2006, I-4721 Rn. 73; EuGH v. 3.9.2008 – verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P Kadi und Al Barakaat International Foundation ./. Rat und Kommission, Slg. 2008, I-6351 Rn. 373.

§ 6 Der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung

267

von einer Aufhebung unberührt bleiben würden. Durch die Anwendung von Art. 264 Abs. 2 AEUV wird jedoch eine Verletzung der völkerrechtlichen Verpflichtungen vermieden. Dies gilt insbesondere, wenn das entsprechende internationale Abkommen und die Durchführungsmaßnahme in einem engen Zusammenhang stehen.774 Zu Recht wird in der Literatur kritisiert, dass der Gerichtshof nicht in allen Fällen der Nichtigkeit einer Unionshandlung, die auf den Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrages gerichtet ist, Art. 264 Abs. 2 AEUV angewendet hat.775 Die Unsicherheiten über die anhaltende Verbindlichkeit der völkerrechtlichen Übereinkunft sind nämlich strukturell bedingt, solange der Gerichtshof zum Geltungsgrund des Völkerrechts nicht klärend Stellung nimmt.776 Legt man ein monistisches Verständnis zugrunde, bedarf die innerunionale Geltung des Völkerrechts keines Transformationsaktes und die Aufrechterhaltung des Unionsrechtsakts ist insoweit bedeutungslos.777 Art. 264 Abs. 2 AEUV sollte hingegen nicht verwendet werden, um die Rechtlage klarzustellen. Die diesbezügliche Rechtsunsicherheit ist besser durch eindeutige Aussagen über das Verhältnis von Unions- und Völkerrecht oder zu den sich nach der Aufhebung des Zustimmungsaktes ergebenden Pflichten zu beseitigen. Als Anknüpfungspunkt für eine Fortwirkungsanordnung bleiben dann nur noch die unter Geltung des völkerrechtlichen Abkommens begründeten Rechtsverhältnisse und deren (subjektive) Rechtspositionen. 6. Vermeidung einer Regelungslücke Als häufigste Fallgruppe für die Anwendung von Art. 264 Abs. 2 AEUV erweist sich die Vermeidung von regelungsfreien Zuständen während eines Übergangszeitraums. Mittels der Fortwirkungsanordnung soll die Lücke geschlossen werden, die vom Urteil bis zum Inkrafttreten eines neuen, wirksamen Rechtsakts auftritt.778 Daher geht diese Fallgruppe regelmäßig mit einer Aufrechterhaltung der Wirkungen für einen begrenzten Zeitraum in der Zukunft einher.779

774

EuGH v. 30.5.2006 – verb. Rs. C-317/04 und C-318/04 Parlament ./. Rat und Kommission, Slg. 2006, I-4721 Rn. 72 f. 775 Mendez, EuConst 3 (2007), 127, 138 f. m.N. aus der Rechtsprechung. 776 Mendez, EuConst 3 (2007), 127, 138 f. 777 Zum monistischen Verständnis des EuGH die Nachweise oben § 6 Fn. 769. 778 EuGH v. 5.2.2004 – Rs. C-157/02 Rieser Internationale Transporte, Slg. 2004, I-1477 Rn. 60; ebenso Schmitz/Stammler, AöR 2011, 479, 495 (jedoch im Zusammenhang mit der Auslegungsvorlage); S. auch Schwartz, Die Wahl der Rechtsgrundlage im Recht der Europäischen Union, 2013, S. 140; Broberg/Fenger, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union, 2014, S. 403. 779 Vgl. unten § 7 C.II.1.c), S. 350 ff.

268

Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

Die Rechtsfolgen der Unwirksamerklärung sind dabei im Lichte des eigentlichen Klagezieles und der Rechtswidrigkeitsgründe zu bestimmen.780 In den meisten Fällen sollte der materielle Inhalt des Rechtsakts nämlich durch die Klage nicht in Frage gestellt werden.781 Die Kläger erstreben nicht die Beseitigung des Rechtsakts, sondern die Klärung von Rechtsfragen, die sich auf den Inhalt des Rechtsakts nicht ausgewirkt haben – zumeist Kompetenzoder Verfahrensfragen. Entscheidend für diese Fallgruppe ist daher, dass der Rechtsakt nach einer Aufhebung mit im Wesentlichen identischen Inhalt neu erlassen werden wird. Voraussetzung dafür ist wiederum, dass der hypothetische (spätere) Rechtsakt rechtmäßig sein kann und eine gewisse Wahrscheinlichkeit des Neuerlasses erkennbar ist. Es können auch nur einzelne Teile einer im Gesamten angegriffenen Regelung aufrechterhalten werden, wenn diese Voraussetzungen zwar nicht für die Gesamtregelung wohl aber für den einzelnen Bestandteil erfüllt sind.782 Schließlich scheint der Gerichtshof – ähnlich wie bei den wohlerworbenen Rechten (oben I.2.) – noch ein besonderes Interesse an der zu schützenden Regelung zu verlangen. a) Keine Rechtswidrigkeit des hypothetischen Rechtsakts Der Erlass eines identischen hypothetischen Rechtsakts wäre jedenfalls ausgeschlossen, wenn dieser an Rechtsfehlern leidet, die durch die bloße ordnungsgemäße Durchführung eines erneuten Gesetzgebungsverfahrens oder inhaltliche Anpassungen nicht ausgeräumt werden können. Dies ist insbesondere der Fall, wenn der Rechtsakt materiell rechtswidrig ist. Da es um den Erlasse eines weitgehend identischen Rechtsakts geht, darf der geprüfte Rechtsakt also nicht unbehebbar materiell rechtswidrig sein. Unbehebbar materiell rechtswidrig in diesem Sinne ist eine Regelung jedenfalls dann, 780 Lenaerts/Arts/Masels/Bray, Procedural Law of the European Union, 2. Aufl. 2006, Rn. 7-173. 781 EuGH v. 11.9.2003 – Rs. C-211/01 Kommission ./. Rat, Slg. 2003, I-8913 Rn. 56; EuGH v. 7.7.1992 – Rs. C-295/90 Parlament ./. Rat, Slg. 1992, I-4193 Rn. 24; EuGH v. 28.11.2006 – Rs. C-413/04 Parlament ./. Rat, Slg. 2006, I-11221 Rn. 90; EuGH v. 28.11.2006 – Rs. C-414/04 Parlament ./. Rat, Slg. 2006, I-11279 Rn. 57; EuGH v. 6.9.2012 – Rs. C-490/10 Parlament ./. Rat, ECLI:EU:C:2012:525 Rn. 91; auch GA Lenz, SchlA v. 29.1.1987 – Rs. 45/86 Kommission ./. Rat, Slg. 1987, 1493 Rn. 98; GA Kokott, SchlA v. 21.3.2013 – Rs. C-431/11 Großbritannien ./. Rat, ECLI:EU:C:2013:187 Rn. 82; ähnlich GA Geelhoed, SchlA v. 7.9.2004 – verb. Rs. C-434/02 und C-210/03 Arnold André u.a., Slg. 2004, I-11825 Rn. 149; siehe auch EuGH v. 3.9.2008 – verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P Kadi und Al Barakaat International Foundation ./. Rat und Kommission, Slg. 2008, I-6351 Rn. 374; GA Bot, SchlA v. 28.5.2013 – Rs. C-77/11 Rat ./. Parlament, ECLI:EU:C:2013:330 Rn. 38; GA Mengozzi, SchlA v. 23.1.2014 – Rs. C-377/12 Kommission ./. Rat, ECLI:EU:C:2014:29 Rn. 78 i.V.m. Rn. 13. 782 EuGH v. 18.10.2007 – Rs. C-299/05 Kommission ./. Parlament und Rat, Slg. 2007, I-8695 Rn. 74 f.

§ 6 Der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung

269

wenn ihr Ziel rechtswidrig ist und daher mit keinem Mittel legal erreicht werden kann.783 Jüngst hat der Gerichtshof selbst diese Voraussetzung umschrieben; danach ist erforderlich, dass „die unmittelbaren Auswirkungen ihrer Nichtigerklärung schwerwiegende negative Folgen für die Betroffenen hätten und die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Handlung nicht wegen ihres Ziels oder ihres Inhalts in Abrede gestellt wird, sondern aus Gründen der Unzuständigkeit ihres Urhebers oder der Verletzung wesentlicher Formvorschriften.“784

Dennoch ist nicht Voraussetzung, dass der Gerichtshof den gesamten existierenden Rechtsakt von Amts wegen auf materiellrechtliche Fehler prüft. Dass ein unerkannt materiell rechtswidriger Rechtsakt weitergilt, weil der Fehler nicht erkannt wurde, wird vom Unionsrecht ebenso hingenommen, wenn die Begründetheitsprüfung sich auf die vorgebrachten (und einige amtswegig zu prüfenden) Unwirksamkeitsgründe beschränkt. Die Fortwirkung eines erkannt formell rechtswidrigen und unerkannt materiell rechtswidrigen Rechtsakts geht darüber nicht hinaus. Die Rückwirkungsbeschränkung müsste in einem solchen Fall in dem späteren Urteil gegebenenfalls mit aufgehoben werden. Ist ein Rechtsakt formell rechtswidrig, darf die materielle Rechtswidrigkeit aber nicht offengelassen werden, wenn sie gerügt wurde.785 b) Wahrscheinlichkeit des Neuerlasses Weitere Voraussetzung ist, dass eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht, dass der Rechtsakt neu erlassen wird. Diese Prognose über das Verhalten der Gesetzgebungsorgane kann nur einzelfallbezogen erfolgen. Eine ausreichende Wahrscheinlichkeit für den Neuerlass besteht zuerst, wenn die Gesetzgebungsorgane zu einer Neuregelung verpflichtet sind. Eine solche Pflicht kann sich zum einen aus einer eingegangenen völkerrechtlichen Bindung ergeben (oben 5.). Es kann vermutet werden, dass die Union ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen nachkommt und erforderliche Umsetzungs- oder Durchführungsmaßnahmen erlässt, soweit nicht das Abkommen

783

Daher konnte EuGH v. 9.11.2010 – verb. Rs. C-92/09 und C-93/09 Schecke und Eifert, Slg. 2010, I-11063 Rn. 94 die Aufrechterhaltung einer materiell rechtswidrigen Richtlinie anordnen und GA Villalón, SchlA v. 12.12.2013 – Rs. C-293/12 Digital Rights Ireland, ECLI:EU:C:2013:845 Rn. 157 eine solche vorschlagen. 784 EuGH v. 26.11.2014 – verb. Rs. C-103/12 und C-165/12 Parlament und Kommission ./. Rat, ECLI:EU:C:2014:2400 Rn. 90. 785 Richtig GA Reischl, SchlA v. 18.9.1980 – Rs. 138/79 Roquette Frères ./. Rat, Slg. 1980, 3333, 3376; insoweit falsch daher EuG v. 8.6.2011 – Rs. T-86/11 Bamba ./. Rat, Slg. 2011, II-2749 Rn. 57; EuG v. 7.12.2011 – Rs. T-562/10 HTTS, Slg. 2011, II-8087 Rn. 40 f.; aus Gründen der Verfahrensökonomie verfährt wie das EuG Simon, Europe 2011, Août-Sept. Comm. nº 8-9.

270

Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

an sich rechtswidrig ist786. Eine Handlungspflicht kann zum anderen aus innerunionalen Vorschriften folgen. Beispielsweise können die Grundfreiheiten ein Tätigwerden des Gesetzgebers zum Zwecke der Harmonisierung des Binnenmarktes erfordern.787 Zweitens kann von einem Neuerlass aufgrund eines erkennbaren, entsprechenden politischen Willens ausgegangen werden. Größtes Indiz für den politischen Willen zum Neuerlass ist die Zustimmung aller Prozessbeteiligten zur Rückwirkungsbeschränkung. Regelmäßig gibt der Gerichtshof in solchen Fällen Erklärungen der Kläger wieder, keine Einwände gegen die Anwendung von Art. 264 Abs. 2 AEUV zu haben oder diese sogar selbst zu beantragen.788 Zu Recht verwendet der EuGH allerdings die Zustimmung nicht als eigenständiges Argument für eine Rückwirkungsbeschränkung,789 denn eine Fortwirkungsanordnung berührt nicht nur die Interessen der Prozessparteien, sondern die aller Adressaten des Rechtsakts. Die Prozessbeteiligten sind aber nicht verpflichtet, andere als ihre eigenen Interessen und Rechtsansichten zu vertreten; besonders deutlich zeigt sich dieser Konflikt, wenn Unionsorgane über die Geltung einzelner Rechtsakte streiten. Außerdem berührt Art. 264 Abs. 2 AEUV immer auch das öffentliche Interesse an der Gesetzmäßigkeit des Unionshandelns. Öffentliche Interessen können nicht zur Disposition der

786 Zu so einem Fall siehe EuGH v. 30.5.2006 – verb. Rs. C-317/04 und C-318/04 Parlament ./. Rat und Kommission, Slg. 2006, I-4721 Rn. 71 ff. 787 EuGH v. 1.6.1994 – Rs. C-388/92 Parlament ./. Rat, Slg. 1994, I-2067 Rn. 21; EuGH v. 5.7.1995 – Rs. C-21/94 Parlament ./. Rat, Slg. 1995, I-1827 Rn. 33; EuGH v. 10.6.1997 – Rs. C-392/95 Parlament ./. Rat, Slg. 1997, I-3213 Rn. 27. 788 EuGH v. 7.7.1992 – Rs. C-295/90 Parlament ./. Rat, Slg. 1992, I-4193 Rn. 22; EuGH v. 5.7.1995 – Rs. C-21/94 Parlament ./. Rat, Slg. 1995, I-1827 Rn. 30; EuGH v. 7.3.1996 – Rs. C-360/93 Parlament ./. Rat, Slg. 1996, I-1195 Rn. 32; EuGH v. 26.3.1996 – Rs. C-271/94 Parlament ./. Rat, Slg. 1996, I-1689 Rn. 37; EuGH v. 25.2.1999 – verb. Rs. C-164/97 und C-165/97 Parlament ./. Rat, Slg. 1999, I-1139 Rn. 21; EuGH v. 1.10.2009 – Rs. C-370/07 Kommission ./. Rat, Slg. 2009, I-8917 Rn. 63; EuGH v. 6.11.2008 – Rs. C-155/07 Parlament ./. Rat, Slg. 2008, I-8103 Rn. 86. Ebenso GA Geelhoed, SchlA v. 3.10.2002 – Rs. C-378/00 Kommission ./. Parlament und Rat, Slg. 2003, I-937 Rn. 138; GA Kokott, SchlA v. 22.9.2005 – Rs. C-217/04 Großbritannien und Nordirland ./. Parlament und Rat, Slg. 2006, I-3771 Rn. 47; EuGH v. 5.9.2012 – Rs. C-355/10 Parlament ./. Rat, ECLI:EU:C:2012:516 Rn. 86; EuGH v. 6.9.2012 – Rs. C-490/10 Parlament ./. Rat, ECLI:EU:C:2012:525 Rn. 88; EuGH v. 26.11.2014 – verb. Rs. C-103/12 und C-165/12 Parlament und Kommission ./. Rat, ECLI:EU:C:2014:2400 Rn. 88. 789 Anders GA Tesauro, SchlA v. 23.11.1995 – Rs. C-360/93 Parlament ./. Rat, Slg. 1996, I-1195 Rn. 20; wohl auch GA Villalón, SchlA v. 29.4.2014 – Rs. C-399/12 Deutschland ./. Rat, ECLI:EU:C:2014:289 Rn. 120; GA Stix-Hackl, SchlA v. 14.3.2006 – Rs. C-475/03 Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373 Rn. 154 (in einem Auslegungsvorabentscheidungsverfahren); Classen, Die Verwaltung 31 (1997), 307, 325 f.; Kment, Nationale Unbeachtlichkeits-, Heilungs- und Präklusionsvorschriften und Europäisches Recht, 2005, S. 93 f.

§ 6 Der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung

271

Unionsorgane oder Einzelner gestellt werden, selbst wenn der Rechtsakt nur einen Adressaten hat und dieser Prozesspartei ist. Drittes Anzeichen ist, dass nur formelle Mängel gerügt werden oder der sachliche Inhalt nach Abweisung materieller Rügen akzeptiert wird.790 Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass allein die Tatsache, dass eine Norm (ausschließlich) wegen formeller Fehler angegriffen wurde, nicht zweifelsfrei auf die Motivation hinter der Klage schließen lässt. So kann ein Kompetenzverstoß oder ein Begründungsmangel gerade geltend gemacht werden, weil eine bestimmte Regelung unerwünscht ist und beseitigt werden soll.791 Ebenso kann die Beachtung übergangener Verfahrensvorschriften zu einem anderen Inhalt des hypothetischen Rechtsakts führen und eben nicht nur „eine Formalie sein“. Hat sich ein Rechtsverstoß in dem erlassenen Rechtsakt nicht sachlich ausgewirkt, dürfte es regelmäßig aber schon an der Nichtigerklärung fehlen. Das Merkmal der „Wesentlichkeit“ im Sinne von Art. 263 Abs. 2 AEUV ist nämlich gerade in diesem Sinne zu verstehen.792 In diesen Fällen entfällt dann folglich das Bedürfnis nach einer Rückwirkungsbeschränkung.793 Als weitere Anhaltspunkte sind schließlich zu berücksichtigen, dass die Beteiligten „sich alle einig [sind], dass die Richtlinie ein wichtiger Rechtsakt und das fruchtbare Ergebnis jahrelanger Bemühungen war“794 oder dass zur Durchführung des aufgehobenen Rechtsakts zahlreiche unionale oder mitgliedstaatliche Maßnahmen erlassen wurden.795 Schwieriger ist der Wille zu beurteilen, wenn sich die personelle Zusammensetzung der Gesetzgebungsorgane zwischenzeitlich geändert hat. Während der Beitritt weiterer Staaten zur Union und Wahlen zum Europäischen Parlament gegen eine Vermutung des Willens zum Neuerlass sprechen, dürfte es zu weit gehen, sogar die Personal-

790

Vgl. GA Geelhoed, SchlA v. 7.9.2004 – verb. Rs. C-434/02 und C-210/03 Arnold André u.a., Slg. 2004, I-11825 Rn. 149 und die Nachweise oben § 6 Fn. 781; auch Chamon, CMLRev 50 (2013), 849, 855. 791 Auch aus diesem Grund ist die Abweichung von der allgemeinen Rückwirkungsdogmatik in EuG v. 14.5.1998 – Rs. T-334/94 Sarrió ./. Kommission, Slg. 1998, II-1439 Rn. 351 ff. fragwürdig; dazu schon oben § 3 D. II.2.c), S. 71. 792 Grabitz/Hilf/Nettesheim-Dörr, Das Recht der Europäischen Union, 51. EL 2013, Art. 263 AEUV Rn. 171; Bülow, Die Relativierung von Verfahrensfehlern im Europäischen Verwaltungsverfahren und nach §§ 45, 46 VwVfG, 2007, S. 65 ff. 793 Vgl. GA Kokott, SchlA v. 21.3.2013 – Rs. C-431/11 Großbritannien ./. Rat, ECLI: EU:C:2013:187 Rn. 82, die wegen des Gleichlaufs der Begründungen fast beiläufig die Aufrechterhaltung der Wirkungen gemäß Art. 264 Abs. 2 AEUV beantragt. 794 Röttinger, EuZW 1993, 117, 120. 795 GA Léger, SchlA v. 28.3.1995 – Rs. C-21/94 Parlament ./. Rat, Slg. 1995, I-1827 Rn. 65 i.V.m. EuGH v. 5.7.1995 – Rs. C-21/94 Parlament ./. Rat, Slg. 1995, I-1827 Rn. 31.

272

Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

struktur der Kommission bei dieser Prognose zu berücksichtigen.796 Denn trotz ihres Initiativrechts ist die Kommission kein echtes Gesetzgebungsorgan, da ihre Vorschläge von Parlament und Rat abgeändert werden können. c) Schützenswerte Regelungsziele Die Fortgeltungsanordnung soll Rechtsunsicherheiten vermeiden, die durch ein Hin und Her der Rechtslage für alle Beteiligten entstehen. Wichtiger ist noch die Wahrung des öffentlichen Interesses an konsistenten Regelungen. Letztere müssen jedoch besonderen Zielen der Union dienen, um als schutzwürdig anerkannt zu sein.797 Dazu genügt nicht der bloße Hinweis auf die leicht zu behebenden oder gering zu bewertenden Mängel des fraglichen Rechtsakts.798 Neben den schon oben genannten Bereichen, in denen eine Pflicht zum Erlass eines Rechtsakts besteht, kommen insbesondere zwei weitere Fallgruppen in Betracht. aa) Kontinuität von Harmonisierungsmaßnahmen und besonderen Projekten Zum einen sind Regelungslücken bei bereits angelaufenen und durchgeführten Harmonisierungsmaßnahmen zu vermeiden.799 Zur Illustration lässt sich GA Léger im Bereich des Verkehrsrechts zitieren: „Würden die Wirkungen der Richtlinie nicht aufrechterhalten, so würde im Ergebnis der Status quo ante wiederhergestellt und das aufgehoben, was immerhin eine Annäherung und einen – wenn auch begrenzten – Beginn einer Harmonisierung der Abgabensätze auf dem Gebiet des Verkehrs in der Gemeinschaft darstellt und zur Verwirklichung der autonomen Verkehrspolitik beiträgt.“800

796

So aber GA Kokott, SchlA v. 22.9.2005 – Rs. C-217/04 Großbritannien und Nordirland ./. Parlament und Rat, Slg. 2006, I-3771 Rn. 50 (dort aber nur zur zeitlichen Dimension der Rückwirkungsbeschränkung). 797 Ebenso Schwartz, Die Wahl der Rechtsgrundlage im Recht der Europäischen Union, 2013, S. 140. 798 So aber GA Villalón, SchlA v. 12.12.2013 – Rs. C-293/12 Digital Rights Ireland, ECLI:EU:C:2013:845 Rn. 157. 799 EuGH v. 10.1.2006 – Rs. C-178/03 Kommission ./. Parlament und Rat, Slg. 2006, I-107 Rn. 64 f. (Handel mit Chemikalien); EuGH v. 10.6.1997 – Rs. C-392/95 Parlament ./. Rat, Slg. 1997, I-3213 Rn. 26 i.V.m. GA Fennelly, SchlA v. 20.3.1997 – Rs. C-392/95 Parlament ./. Rat, Slg. 1997, I-3213 Rn. 40 (Visumspflicht für Drittstaatsangehörige); EuGH v. 1.6.1994 – Rs. C-388/92 Parlament ./. Rat, Slg. 1994, I-2067 Rn. 21 (Kabotage); EuGH v. 16.7.1992 – Rs. C-65/90 Parlament ./. Rat, Slg. 1992, I-4593 Rn. 22 ff. (Kabotage); EuGH v. 7.7.1992 – Rs. C-295/90 Parlament ./. Rat, Slg. 1992, I-4193 Rn. 23 (Aufenthaltsrecht bei Studium). Zustimmend Schermers/Slot, CMLRev 30 (1993), 1067, 1070. 800 GA Léger, SchlA v. 28.3.1995 – Rs. C-21/94 Parlament ./. Rat, Slg. 1995, I-1827 Rn. 64 i.V.m. EuGH v. 5.7.1995 – Rs. C-21/94 Parlament ./. Rat, Slg. 1995, I-1827 Rn. 31.

§ 6 Der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung

273

Die Rückwirkungsbeschränkung wird erneut in den Dienst der Marktordnungsziele der Union gestellt. Einmal erreichte Angleichungen sollen beibehalten werden können. Das Hauptaugenmerk richtet sich hierbei auf die Schaffung offener und freier Märkte entsprechend den Grundfreiheiten.801 Zum anderen hielt der Gerichtshof von der Union eingeleitete Projekte unterschiedlichster Art aufrecht. Diese betrafen die Gründung von Unionsbehörden oder die Einrichtung von technischen Verwaltungsvereinfachungen802 sowie Fördermaßnahmen für Initiativen gegen soziale Ausgrenzung803, bereits eingeleitete Umweltschutzaktionen804, die Bewältigung der BSE-Krise805, Finanzbeiträge der Europäischen Gemeinschaft zum Internationalen Fonds für Irland806, die Überwachung der Schengener Seegrenzen807, Investitionsvorhaben für die Energieinfrastruktur808, die Verkehrssicherheit809, den Kampf gegen Seeräuber810 oder den Schutz der in Französisch Guayana angesiedelten fischverarbeitenden Industrie811. Aufgrund der Einschränkung des Rechtmäßigkeitsgrundsatzes sollten schützenswerte Ziele der Union nur zurückhaltend angenommen werden, um Art. 264 Abs. 2 AEUV nicht uferlos werden zu lassen. Dies dürfte bei der Wahrung der Produktqualität von importierter neuseeländischer Butter nicht mehr gegeben sein.812 801

Z.B. EuGH v. 1.6.1994 – Rs. C-388/92 Parlament ./. Rat, Slg. 1994, I-2067 Rn. 21; EuGH v. 16.7.1992 – Rs. C-65/90 Parlament ./. Rat, Slg. 1992, I-4593 Rn. 23; EuGH v. 7.7.1992 – Rs. C-295/90 Parlament ./. Rat, Slg. 1992, I-4193 Rn. 23. 802 EuGH v. 26.3.1996 – Rs. C-271/94 Parlament ./. Rat, Slg. 1996, I-1689 Rn. 36 (dazu auch Barents, CMLRev 33 (1996), 1273, 1277); EuGH v. 28.5.1998 – Rs. C-22/96 Parlament ./. Rat, Slg. 1998, I-3231 Rn. 39; ebenso GA Kokott, SchlA v. 22.9.2005 – Rs. C-217/04 Großbritannien und Nordirland ./. Parlament und Rat, Slg. 2006, I-3771 Rn. 49. 803 EuGH v. 12.5.1998 – Rs. C-106/96 Großbritannien und Nordirland ./. Kommission, Slg. 1998, I-2729. 804 EuGH v. 25.2.1999 – verb. Rs. C-164/97 und C-165/97 Parlament ./. Rat, Slg. 1999, I-1139; EuGH v. 21.1.2003 – Rs. C-378/00 Kommission ./. Parlament und Rat, Slg. 2003, I-937. 805 EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-93/00 Parlament ./. Rat, Slg. 2001, I-10119. 806 EuGH v. 3.9.2009 – Rs. C-166/07 Parlament ./. Rat, Slg. 2009, I-7135. 807 EuGH v. 5.9.2012 – Rs. C-355/10 Parlament ./. Rat, ECLI:EU:C:2012:516 808 EuGH v. 6.9.2012 – Rs. C-490/10 Parlament ./. Rat, ECLI:EU:C:2012:525; ebenso GA Bot, SchlA v. 28.1.2014 – Rs. C-573/12 Ålands Vindkraft, ECLI:EU:C:2014:37 Rn. 120 im Hinblick auf den Ausbau der erneuerbaren Energien. 809 EuGH v. 6.5.2014 – Rs. C-43/12 Kommission ./. Parlament und Rat, ECLI:EU: C:2014:298 Rn. 54. 810 EuGH v. 24.6.2014 – Rs. C-658/11 Parlament ./. Rat, ECLI:EU:C:2014:2025 Rn. 90. 811 EuGH v. 26.11.2014 – verb. Rs. C-103/12 und C-165/12 Parlament und Kommission ./. Rat, ECLI:EU:C:2014:2400 Rn. 91. 812 Anders GA Geelhoed, SchlA v. 1.12.2005 – Rs. C-313/04 Franz Egenberger, Slg. 2006, 6331 Rn. 85.

274

Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

Die zur Durchführung der unionalen Ziele und Projekte erlassenen Maßnahmen dürfen auch nationaler Herkunft sein, solange sie dem einheitlichen Unionsprojekt dienen. Insofern zielt die Fortwirkungsanordnung auf die Beseitigung von Rechtsunsicherheit hinsichtlich Geltung und Status des nationalen Rechts.813 Diese Unklarheiten basieren letztlich auf den im Einzelfall ungeklärten Vorgaben des Unionsrechts und ihrem Verhältnis zum mitgliedstaatlichen Recht. Solche könnten zwar durch ausdrückliche Stellungnahmen des Gerichtshofs beseitigt werden, der Art. 264 Abs. 2 AEUV verwendet, um die Weitergeltung der abgeleiteten Maßnahmen inzident als mit dem Unionsrecht vereinbar zu erklären.814 Eine vollumfängliche Fortgeltung der unionalen Vorschrift erhält die Rechtsgrundlage aber darüber hinaus auch für weitere (neue) Durchsetzungsmaßnahmen aufrecht; daher bedarf es eines rechtmäßigen hypothetischen Rechtsakts. bb) Kontinuität der Besoldung von Unionsangestellten Als weitere Fallgruppe zur Vermeidung von Regelungslücken ist das Bedürfnis nach Kontinuität bei der Besoldung der Unionsangestellten anerkannt.815 Die Bedeutung eines geschlossenen Besoldungssystems ergibt sich schon aus Art. 336 AEUV [Art. 212 EGV/283 EG], wonach die Rechtsverhältnisse der Unionsangestellten mittels eines rechtsaktförmigen Statuts und nicht durch Individualverträge oder richterliche Anordnungen geregelt werden sollen.816 Die einschlägigen Fälle ließen sich von den Sachverhalten zumeist auch als „Verlangen nach einem Mehr“ verstehen. Den Angestellten der Union wurden zu gering bemessene Erhöhungen ihrer jährlichen Bezüge gewährt. Bei einer schlichten Aufhebung der entsprechenden Rechtsakte wäre ihnen sogar noch diese Erhöhung verloren gegangen. Ohne sich jedoch auf den oben zur Verpflichtungssituation genannten Widerspruch817 mit dem Zweck der Geltendmachung der Rechtswidrigkeitsprüfung zu berufen, ordnete der Gerichtshof die Weitergeltung der streitigen Bestimmungen an, um „die Kon-

813 Vgl. GA Jacobs, SchlA v. 20.5.1992 – Rs. C-295/90 Parlament ./. Rat, Slg. 1992, I-4193 Rn. 47. 814 Röttinger, EuZW 1993, 117, 120 merkt zu Recht an, dass die Natur als nationale Umsetzungsmaßnahme von der Aufhebung der zugrunde liegenden Richtlinie nicht berührt wird; vgl. auch Prokopf, Das gemeinschaftliche Rechtsinstrument der Richtlinie, 2007, S. 97 f. Zweifelhaft kann aber die Vereinbarkeit der Umsetzungsmaßnahme mit dem sonstigen Unionsrecht (d.h. ohne Berücksichtigung der Richtlinie) sein. 815 Daig, Nichtigkeits- und Untätigkeitsklagen im Recht der Europäischen Gemeinschaften, 1985, S. 200; Harding, YbEL 1 (1981), 93, 108; wohl auch Lindemann, Allgemeine Rechtsgrundsätze und europäischer öffentlicher Dienst, 1986, S. 131. 816 Gleiss/Kleinmann, NJW 1966, 1591, 1592. 817 § 6 C.I.3, S. 263.

§ 6 Der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung

275

tinuität der Besoldungsregelungen“ zu schützen.818 Dass es jedenfalls nicht um die Aufrechterhaltung eines Vorteils gegenüber der ursprünglichen Rechtslage geht, zeigt sich daran, dass der Gerichtshof auf die Kontinuität der Besoldungsregelungen auch dann rekurrierte, als die Weitergeltung der Besoldungsverordnung bei einzelnen Unionsangestellten zu einem geringeren Gehalt führte, sowohl im Vergleich zur ursprünglichen Rechtslage als zur hypothetischen rechtmäßigen Rechtslage.819 Der Gerichtshof scheint die Unionsangestellten auch nicht in ihrer Erwartung zu schützen, sie dürften jedenfalls nicht weniger erhalten als nach der geltenden Besoldungsordnung vorgesehen.820 Zwar war bislang noch kein Fall zu entscheiden, in dem die hypothetische rechtmäßige Rechtslage ungünstiger als die ursprüngliche und die rechtswidrige Rechtslage war. Solche Überlegungen bedürften jedoch nicht einer Berufung auf die Kontinuität der Besoldungsregelungen, da schon grundlegende Erwägungen des (subjektiven) Vertrauensschutzes herangezogen werden könnten. Ebenso lässt sich ausschließen, dass der EuGH die Finanzierungshoheit der anderen Unionsorgane und damit mittelbar auch der Mitgliedstaaten schützen will. Das stünde in Widerspruch zu seiner Rechtsprechung gegenüber den Mitgliedstaaten oder Privaten, denen der Gerichtshof – beispielsweise bei einem Gleichheitsverstoß – eine kostenintensive Mehrbelastung bis zur Neuregelung auferlegt. Bei betroffenen Mitgliedstaaten oder Privaten sind die finanziellen Folgen als solche kein Grund für eine Rückwirkungsbeschränkung. cc) Restriktive Maßnahmen in der GASP Als schützenswert hat der Gerichtshof in jüngerer Zeit auch restriktive Maßnahmen in der GASP angesehen. Gemeint sind Anordnungen über die Beschlagnahme oder das Einfrieren von Vermögen sowie Handelsbeschränkungen, Reisebeschränkungen oder ähnliche Beschneidungen der persönlichen Freiheit. Diese können wiederum verschiedenen Zwecken dienen wie der Terrorismusbekämpfung oder der Verhinderung nuklearer Proliferation. Angesichts der erheblichen Eingriffe in die persönlichen Freiheiten rechtfertigen nur schwere und irreversible Beeinträchtigungen der Restriktionen 818

EuGH v. 5.6.1973 – Rs. 81/72 Kommission ./. Rat, Slg. 1973, 575 Rn. 15; EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 59/81 Kommission ./. Rat, Slg. 1982, 3329 Rn. 39; EuGH v. 24.11.2010 – Rs. C-40/10 Kommission ./. Parlament, Slg. 2010, I-12043 Rn. 95. 819 EuGH v. 28.6.1988 – Rs. 7/87 Kommission ./. Rat, Slg. 1988, 3401 Rn. 29. Zu dem dortigen Verhältnis zwischen ursprünglicher Rechtslage, rechtswidriger Rechtslage und hypothetischer rechtmäßiger Rechtslage siehe Sitzungsbericht des EuGH v. 28.6.1988 – Rs. 7/87 Kommission ./. Rat, Slg. 1988, 3401, 3405 Rn. 21. 820 Zur Anerkennung solcher wohlerworbenen Rechte im Europäischen Dienstrecht Lindemann, Allgemeine Rechtsgrundsätze und europäischer öffentlicher Dienst, 1986, S. 136 ff.

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

eine Aufrechterhaltung von rechtsfehlerhaften Anordnungen.821 Es ist notwendig, dass schon ein kurzzeitiges Aufheben der Maßnahmen ihr späteres Wiederinkraftsetzen völlig wirkungslos machen würde. Beispielsweise würde selbst die kurzzeitige Freigabe eingefrorener Gelder genügen, dass die Betroffenen Vorkehrungen für ein drohendes erneutes Einfrieren treffen können.822 Die einmal verschobenen Vermögenswerte könnten dann bei einer – auch rückwirkenden – Sperre nicht mehr erfasst werden. Voraussetzung bleibt dabei freilich, dass ein Neuerlass des Rechtsakts nicht gänzlich ausgeschlossen ist;823 das ist ein weniger strenger Maßstab als bei den übrigen Fällen der Vermeidung einer Regelungslücke. Die Gefahr schwerer Beeinträchtigungen kann außerdem zu verneinen sein, wenn eine unionale Restriktion trotz deren erkennbarer Rechtswidrigkeit nicht in angemessener Zeit auf eine rechtmäßige Grundlage gestellt wird.824 Daher scheidet eine Aufrechterhaltung über die Zweimonatsfrist des Art. 60 Abs. 2 EuGH-Satzung hinaus regelmäßig aus.825 821 EuGH v. 3.9.2008 – verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P Kadi und Al Barakaat International Foundation ./. Rat und Kommission, Slg. 2008, I-6351 Rn. 373; EuG v. 11.6.2009 – Rs. T-318/01 Othman ./. Rat und Kommission, Slg. 2009, II-1627 Rn. 99; EuG v. 29.9.2010 – verb. Rs. T-135/06 bis 138/06 Al-Faqih u.a., Slg. 2010, II-208 Rn. 46; EuG v. 8.6.2011 – Rs. T-86/11 Bamba ./. Rat, Slg. 2011, II-2749 Rn. 58; EuG v. 16.9.2011 – T316/11 Kadio Morokro ./. Rat, Slg. 2011, II-293 (abgekürzte Veröffentlichung) Rn. 38 f.; EuG v. 7.12.2011 – Rs. T-562/10 HTTS, Slg. 2011, II-8087 Rn. 42; EuG v. 21.3.2012 – verb. Rs. T-439/10 and T-440/10 Fulmen und Fereydoun Mahmoudian ./. Rat, ECLI:EU: T:2012:142 Rn. 106 f.; EuG v. 11.12.2012 – Rs. T-15/11 Sina Bank, ECLI:EU:T:2012:661 Rn. 86; EuG v. 5.2.2013 – Rs. T-494/10 Bank Saderat Iran ./. Rat, ECLI:EU:T:2013:59 Rn. 125; die Bedeutung der persönlichen Freiheitsrechte betonen Tzanou/El Droubi, CMLRev 47 (2010), 1233, 1249. 822 Ausdrücklich EuG v. 28.5.2013 – Rs. T-187/11 Trabelsi u.a. ./. Rat, ECLI:EU: T:2013:273 Rn. 121; EuG v. 2.4.2014 – Rs. T-133/12 Ben Ali, ECLI:EU:T:2014:176 Rn. 87; EuG v. 3.7.2014 – Rs. T-155/13 Zanjani, ECLI:EU:T:2014:605 Rn. 84; EuG v. 3.7.2014 – Rs. T-565/12 National Iranian Tanker Company, ECLI:EU:T:2014:608 Rn. 77. 823 Vgl. EuGH v. 3.9.2008 – verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P Kadi und Al Barakaat International Foundation ./. Rat und Kommission, Slg. 2008, I-6351 Rn. 374; EuG v. 7.12.2011 – Rs. T-562/10 HTTS, Slg. 2011, II-8087 Rn. 41; EuG v. 28.5.2013 – Rs. T-187/11 Trabelsi u.a. ./. Rat, ECLI:EU:T:2013:273 Rn. 122; EuG v. 3.7.2014 – Rs. T-181/13 Sharif University of Technology, ECLI:EU:T:2014:607 Rn. 82. 824 EuG v. 11.6.2009 – Rs. T-318/01 Othman ./. Rat und Kommission, Slg. 2009, II-1627 Rn. 97; EuG v. 29.9.2010 – verb. Rs. T-135/06 bis 138/06 Al-Faqih u.a., Slg. 2010, II-208 Rn. 45. 825 EuG v. 16.9.2011 – T-316/11 Kadio Morokro ./. Rat, Slg. 2011, II-293 (abgekürzte Veröffentlichung) Rn. 38; EuG v. 21.3.2012 – verb. Rs. T-439/10 and T-440/10 Fulmen und Fereydoun Mahmoudian ./. Rat, ECLI:EU:T:2012:142 Rn. 106; EuG v. 6.9.2013 – Rs. T-24/11 Bank Refah Kargaran, ECLI:EU:T:2013:403 Rn. 88; EuG v. 16.9.2013 – Rs. T-489/10 Islamic Republic of Iran Shipping Lines, ECLI:EU:T:2013:453 Rn. 82. Zur Frist des Art. 60 Abs. 2 EuGH-Satzung siehe sogleich e).

§ 6 Der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung

277

Die Argumentation dieser Fallgruppe ist nicht auf Sachverhalte der GASP beschränkt. Die gleichen Interessenlagen können bei restriktiven Maßnahmen gegenüber Unionsbürgern in anderen Kompetenzbereichen der Union bestehen. Wo schon die kurzzeitige Aussetzung einer Maßnahme zu deren irreversibler Frustration führt, kommt eine Rückwirkungsbeschränkung auch bei sehr einschneidenden Restriktionen in Betracht. d) Verhältnis zur Gesetzesrückwirkung (Fallgruppe der Schließung einer Gesetzeslücke) Bisher ungeklärt ist die Frage, inwieweit sich die Legislativrückwirkung und die Judikativrückwirkung gegenseitig beeinflussen, wenn es darum geht, eine Regelungslücke zu schließen. Durch die Rückwirkungsbeschränkung wird die Rückwirkung des Neuerlasses des streitigen Rechtsakts antizipiert. Aufgrund der (übergangsweisen) Fortdauer der Wirkungen des Rechtsakts, weist die Rechtslage dieselbe Kontinuität auf, wie sie ein rückwirkender Neuerlass erreicht hätte. Dem Unionsgesetzgeber ist es zwar grundsätzlich untersagt, einen Rechtsakt rückwirkend in Kraft zu setzen, jedoch käme ihm hier eine Ausnahme zugute. Die Rückwirkung ist nämlich zulässig, wenn sie ein Rechtsvakuum verhindern soll, welches beispielsweise durch die gerichtliche Aufhebung eines Rechtsakts entstanden ist.826 Die Rückwirkung ist für die Marktteilnehmer vorhersehbar, wenn der frühere Rechtsakt wegen eines Verfahrensfehlers für nichtig erklärt worden ist.827 Darüber hinaus bestünde keine Notwendigkeit für eine judikative Rückwirkungsbeschränkung, wenn der Unionsgesetzgeber sogar verpflichtet wäre, die entstandene Lücke rückwirkend bis zum Inkrafttreten des alten Rechtsakts zu füllen.828 Dementsprechend müssen Bescheide, die auf einer nichtigen Unionsnorm beruhen, entgegen dem Grundsatz von Art. 266 AEUV nicht aufgehoben werden, wenn dadurch ein rechtliches Vakuum bis zum Neuerlass entsteht, welches die Lage der Marktteilnehmer aus dem Gleichgewicht bringt, und die Rechtswidrigkeit nur auf formellen Gründen beruht.829 Selbst wenn eine Rückwirkungsbeschränkung erwogen und abgelehnt wurde, steht das einem rückwirkenden Neuerlass nicht entgegen.830 Der Gesetzgeber kann ohne Verstoß gegen

826

Heukels, Die Rückwirkungsjudikatur des EuGH, 1992, S. 27 f.; Berger, Zulässigkeitsgrenzen der Rückwirkung von Gesetzen, 2002, S. 191 f. 827 EuGH v. 13.11.1990 – Rs. C-331/88 Fedesa, Slg. 1990, I-4023 Rn. 47. 828 So z.B. Daig, Nichtigkeits- und Untätigkeitsklagen im Recht der Europäischen Gemeinschaften, 1985, S. 200. 829 EuGH v. 30.9.1982 – Rs. 110/81 Roquette Frères ./. Rat, Slg. 1982, 3159 Rn. 19. 830 Heukels, Intertemporales Gemeinschaftsrecht, 1990, S. 271. Siehe auch unten § 9 B., S. 391 ff.

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

Kompetenzen des Gerichtshofs eine rückwirkende Regelung einführen, wenn die Voraussetzungen der Racke-Formel vorliegen.831 Aus Sicht des Gesetzgebers dienen beide Instrumente demselben Ziel. Sie sollen der „faktischen Steuerungswirkung des Rechtsakts“ gerecht werden und den „fiktionalen Gehalt der ex-tunc-Wirkung der Nichtigkeit“ kompensieren.832 Gerade deshalb ließe sich aber argumentieren, dass eine Fortgeltungsanordnung nach Art. 264 Abs. 2 AEUV den Spielraum des Gesetzgebers auch einengen kann.833 Will der Gesetzgeber den neuen Rechtsakt mit einem abgeänderten Inhalt erlassen, kollidiert dies nun mit der gerichtlich angeordneten Fortgeltung des alten Rechtsakts. Jener steht einer Rückwirkung des neuen Legislativakts aus Vertrauensschutzgründen regelmäßig entgegen. Die Bedeutung einer zurückhaltenden Prognose hinsichtlich des Neuerlasswillens kann deshalb nicht überbetont werden. Die Vorteile der judikativen Aufrechterhaltung von Wirkungen des nichtigen Rechtsakts liegen demgegenüber auf der Hand. Selbst wenn später eine rückwirkende Regelung erlassen werden dürfte, können im Zeitraum vom Urteil bis zum Neuerlass das fragliche Verhalten nicht verhindert und so Fakten geschaffen werden. Würde beispielsweise eine Vorschrift, die einen Drittstaat mit einem Handelsboykott belegt, aufgehoben, könnten in der Zwischenzeit Waren legal in diesen Staat eingeführt werden und später nicht mehr zurückerlangt werden.834 Die Anwendung von Art. 264 Abs. 2 AEUV dient hier weniger dem Vertrauen der Marktteilnehmer als dem Zweck der (formal rechtswidrigen) Regelungen. Durch die Rückwirkungsbeschränkung wird das Problem einer Rückwirkung der Ersatznorm umgangen; es stellt sich schlicht nicht mehr. Da eine andere Rechtslage nicht existiert, können die Marktteilnehmer kein abweichendes Vertrauen bilden. Zu beachten bleibt allein das abstrakte Vertrauen in die Gesetzmäßigkeit des unionalen Verhaltens wie es Bestandteil jeder Abwägung nach Art. 264 Abs. 2 AEUV ist. Deshalb ist die Rückwirkungsbeschränkung einem rückwirkenden Neuerlass vorzuziehen. Letztere bleibt da relevant, wo der politische Wille zum Neuerlass nicht klar hervortritt. In solchen Fällen scheitert auch nicht zwingend die Vorhersehbarkeit im Sinne der sog. Racke-Formel, was ein Rückwirkungsverbot begründen würde, denn zur Gestattung der Rückwirkung genügt schon eine Unsicherheit über die geltende und zukünftige Rechtslage. 831

EuGH v. 30.9.1982 – Rs. 108/81 Amylum ./. Rat, Slg. 1982, 3107 Rn. 17; EuGH v. 30.9.1982 – Rs. 114/81 Tunnel Refineries ./. Rat, Slg. 1982, 3189 Rn. 17; EuGH v. 30.9.1982 – Rs. 110/81 Roquette Frères ./. Rat, Slg. 1982, 3159 Rn. 19 f.; Heukels, Die Rückwirkungsjudikatur des EuGH, 1992, S. 28. 832 v. Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, S. 517 f. (zur Legislativrückwirkung). 833 Vgl. auch Riesenhuber-Neuner, Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 12 Rn. 44. 834 Vgl. EuG v. 7.12.2011 – Rs. T-562/10 HTTS, Slg. 2011, II-8087 Rn. 41 f.

§ 6 Der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung

279

e) Ausnahme bei Art. 60 Abs. 2 EuGH-Satzung Eine Aufrechterhaltung der Wirkungen gemäß Art. 264 Abs. 2 AEUV kann entbehrlich sein, wenn die Nichtigerklärung vom EuG vorgenommen wird, eine Verordnung betrifft und nur dazu dient, dem Gesetzgeber eine Frist zum Neuerlass zu gewähren. Wird eine Verordnung für nichtig erklärt, tritt gemäß Art. 60 Abs. 2 EuGH-Satzung die Urteilswirkung erst nach der zweimonatigen Rechtsmittelfrist (Art. 56 Abs. 1 EuGH-Satzung) oder der Zurückweisung eines eingelegten Rechtsmittels ein. Daher hat in solchen Fällen der Unionsgesetzgeber immer zwei Monate Zeit, die Rechtsmängel (rückwirkend) zu beseitigen. Für diesen Zeitraum, der sich noch um die zehntägige Entfernungsfrist835 verlängert, bedarf es daher keiner Aufrechterhaltung der Wirkungen.836 Art. 60 Abs. 2 EuGH-Satzung dient ebenso wie Art. 264 Abs. 2 AEUV der Rechtssicherheit837 und sperrt daher die Anwendung jener Vorschrift zur Bestimmung einer längeren Mindestfrist nicht838. Er ist eine Ausnahmevorschrift zu Art. 60 Abs. 1 EuGH-Satzung, der seinerseits verhindern soll, dass Rechtsmittel nur zur Verzögerung der Wirkungen eines EuGH-Urteils eingelegt werden.839 Dabei wird insoweit in Kauf genommen, dass der Beginn der Urteilswirkungen der Manipulation zugänglich ist. Da die Frist des Art. 60 Abs. 2 EuGH-Satzung den Eintritt der Nichtigkeit nur verzögert, nicht aber die dann eintretende Rückwirkungsfiktion ausschließt, besteht weiterhin Bedarf für die Anwendung von Art. 264 Abs. 2 AEUV, wenn der neuerlassene Rechtsakt nicht alle in der Vergangenheit liegenden Wirkungen des angegriffenen Rechtsakts umfassen kann. Außerhalb des auf Verordnungen beschränkten Anwendungsbereichs840 von Art. 60 835 Siehe Art. 45 Abs. 1 EuGH-Satzung i.V.m. Art. 51 EuGH-VerfO (Art. 81 § 2 EuGHVerfO a.F.) bzw. Art. 102 § 2 EuG-VerfO. 836 EuG v. 8.6.2011 – Rs. T-86/11 Bamba ./. Rat, Slg. 2011, II-2749 Rn. 58; EuG v. 21.3.2012 – verb. Rs. T-439/10 and T-440/10 Fulmen und Fereydoun Mahmoudian ./. Rat, ECLI:EU:T:2012:142 Rn. 106; EuG v. 16.9.2011 – T-316/11 Kadio Morokro ./. Rat, Slg. 2011, II-293 (abgekürzte Veröffentlichung) Rn. 38; EuG v. 25.4.2012 – Rs. T-509/10 Manufacturing Support & Procurement Kala Naft, ECLI:EU:T:2012:201 Rn. 129. Zum umgekehrten Fall eines Antrags auf sofortige Nichtigerklärung in Abweichung von Art. 60 Abs. 2 EuGH-Satzung EuG v. 26.10.2012 – Rs. T-53/12 CF Sharp Shipping Agencies, ECLI:EU:T:2012:578 Rn. 46 ff.; EuG v. 11.12.2012 – Rs. T-15/11 Sina Bank, ECLI:EU: T:2012:661 Rn. 86. 837 Langner, Der Europäische Gerichtshof als Rechtsmittelgericht, 2003, S. 31. 838 Vgl. EuG v. 16.10.2014 – verb. Rs. T-208/11 und T-508/11 Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE), ECLI:EU:T:2014:885 Rn. 227 ff.; EuG v. 17.12.2014 – Rs. T-400/10 Hamas, ECLI:EU:T:2014:1095 Rn. 144 f. (jeweils drei Monate). 839 Langner, Der Europäische Gerichtshof als Rechtsmittelgericht, 2003, S. 31 m.w.N.; Wägenbaur, EuGH VerfO, 2008, Art. 60 Satzung EuGH Rn. 1; ders., Court of Justice of the EU, 2013, Art. 60 Statute Rn. 1. 840 Vgl. Wägenbaur, EuGH VerfO, 2008, Art. 60 Satzung EuGH Rn. 3; ders., Court of Justice of the EU, 2013, Art. 60 Statute Rn. 3.

280

Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

Abs. 2 EuGH-Satzung bleibt die Rückwirkungsbeschränkung ebenso unverzichtbar. Dort kann sie zum einen dazu dienen, den Zeitpunkt der Nichtigerklärung zweier Rechtsakte mit einheitlichem Regelungsgehalt auf den von Art. 60 Abs. 2 EuGH-Satzung zu harmonisieren.841 Zum anderen kann das Gericht sich bei der Bestimmung des Zeitraums der Aufrechterhaltung des Rechtsakts, der keine Verordnung ist, unter Anwendung von Art. 264 Abs. 2 AEUV an der Regelung des Art. 60 Abs. 2 EuGH-Satzung orientieren.842 III. Abwägungsfeste Rechtsklarheit? Die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Aufrechterhaltung von Wirkungen von Rechtsakten, die als unanwendbar zu Lasten des Einzelnen angesehen wurden (partielle Unanwendbarkeit), lässt eine letzte Problemlage hervortreten. In der Rechtssache Heinrich erklärte der EuGH den Anhang einer (Luftsicherheits-)Verordnung für unanwendbar, weil dieser Pflichten für die Unionsbürger enthielt, aber nicht ordnungsgemäß im Amtsblatt bekannt gemacht worden war. Die Rechtsklarheit als Ausdruck der Rechtssicherheit gebiete, 841

EuG v. 8.6.2011 – Rs. T-86/11 Bamba ./. Rat, Slg. 2011, II-2749 Rn. 59; EuG v. 21.3.2012 – verb. Rs. T-439/10 and T-440/10 Fulmen und Fereydoun Mahmoudian ./. Rat, ECLI:EU:T:2012:142 Rn. 107; EuG v. 16.9.2011 – T-316/11 Kadio Morokro ./. Rat, Slg. 2011, II-293 (abgekürzte Veröffentlichung) Rn. 39; EuG v. 25.4.2012 – Rs. T-509/10 Manufacturing Support & Procurement Kala Naft, ECLI:EU:T:2012:201 Rn. 130; EuG v. 11.12.2012 – Rs. T-15/11 Sina Bank, ECLI:EU:T:2012:661 Rn. 88; EuG v. 5.2.2013 – Rs. T-494/10 Bank Saderat Iran ./. Rat, ECLI:EU:T:2013:59 Rn. 126; EuG v. 28.5.2013 – Rs. T-188/11 Chihoub, ECLI:EU:T:2013:274 Rn. 96; EuG v. 28.5.2013 – Rs. T-200/11 Al Matri, ECLI:EU:T:2013:275 Rn. 90; EuG v. 6.9.2013 – Rs. T-24/11 Bank Refah Kargaran, ECLI:EU:T:2013:403 Rn. 90; EuG v. 16.9.2013 – Rs. T-489/10 Islamic Republic of Iran Shipping Lines, ECLI:EU:T:2013:453 Rn. 83; EuG v. 12.12.2013 – Rs. T-58/12 Nabipour u.a., ECLI:EU:T:2013:640 Rn. 251; EuG v. 9.7.2014 – verb. Rs. T-329/12 und T-74/13 AlTabbaa, ECLI:EU:T:2014:622 Rn. 105. 842 Erstmals wohl EuG v. 28.5.2013 – Rs. T-187/11 Trabelsi u.a. ./. Rat, ECLI:EU:T:2013:273 Rn. 123, wo das Gericht noch eine Analogie zu Art. 60 Abs. 2 EuGH-Satzung präferiert. Später rekurriert das EuG auf „eine Analogie zu Art. 60 Abs. 2 EuGH-Satzung auf Grundlage von Art. 264 Abs. 2 AEUV“, S. EuG v. 2.4.2014 – Rs. T-133/12 Ben Ali, ECLI:EU:T:2014:176 Rn. 89. Zuletzt wurde ausdrücklich nicht Art. 60 Abs. 2 EuGH-Satzung angewendet bzw. blieb diese Vorschrift unerwähnt, S. EuG v. 3.7.2014 – Rs. T-565/12 National Iranian Tanker Company, ECLI:EU:T:2014:608 Rn. 73; EuG v. 10.7.2014 – Rs. T-182/13 Moallem Insurance, ECLI:EU:T:2014:624 Rn. 54; EuG v. 24.9.2014 – Rs. T-348/13 Kadhaf Al Dam, ECLI:EU:T:2014:565 Rn. 106 bzw. EuG v. 3.7.2014 – Rs. T-155/13 Zanjani, ECLI:EU:T:2014:605 Rn. 80 ff.; EuG v. 3.7.2014 Rs. T-157/13 Sorinet Commercial Trust Bankers, ECLI:EU:T:2014:606 Rn. 80 ff.; EuG v. 13.11.2014 – Rs. T-43/11 Hamcho, ECLI:EU:T:2014:946 Rn. 103 ff.; EuG v. 13.11.2014 – Rs. T-654/11 Kaddour, ECLI:EU:T:2014:947 Rn. 88 ff.; EuG v. 13.11.2014 – Rs. T-653/11 Jaber, ECLI:EU:T:2014:948 Rn. 88 ff.; auch EuG v. 3.7.2014 – Rs. T-181/13 Sharif University of Technology, ECLI:EU:T:2014:607 Rn. 77 ff. (dort aber mit einer anderen Frist).

§ 6 Der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung

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dem Bürger zu ermöglichen, von seinen Pflichten Kenntnis zu erlangen.843 Einen Antrag auf Aufrechterhaltung der Verordnung lehnte der EuGH ab, da die übrigen Unionsrechtsakte noch ausreichend waren, um den Schutz der Luftfahrt sicherzustellen.844 Außerdem „widerspräche es den Erfordernissen der Rechtssicherheit“, die Wirkungen aufrechtzuerhalten, bis die Kommission Maßnahmen ergriffen hat, um die volle Bindungswirkung herzustellen.845 Die Bedeutung dieser letzten Erwägung bleibt unklar. Gegen eine Interpretation in dem Sinne, dass Art. 264 Abs. 2 AEUV der Rechtssicherheit und dem Vertrauensschutz nur zum Schutze von Individualinteressen dient und daher nicht zum Nachteil der Unionsbürger angewendet werden darf,846 spricht schon, dass die Rückwirkungsbeschränkung bei Unwirksamkeitsentscheidungen in der Vergangenheit auch zu Lasten einzelner Betroffener ergangen ist.847 Ein solches Verständnis würde demnach einen deutlichen Bruch mit der bisherigen Rechtsprechungslinie darstellen und es wäre dann eine vertiefte Argumentation des Gerichtshofs zu erwarten. Art. 264 Abs. 2 AEUV dient zwar der Aufrechterhaltung von berechtigten Erwartungen, dem Schutz betätigten Vertrauens, aber ebenso der Stabilität von Märkten oder anderen öffentlichen Interessen. Der EuGH ließe sich auch in dem Sinne verstehen, dass die Rechtssicherheit in Ausprägung der Rechtsklarheit nicht mit der Rechtssicherheit in Ausprägung der Rückwirkungsbeschränkung abgewogen werden kann und insoweit immer die subjektiv-rechtliche Rechtsklarheit und Vorhersehbarkeit überwiegt.848 Dafür spricht zwar, dass eine Abwägung von Rechtssicherheit und Rechtssicherheit auf den ersten Blick paradox scheint. Jedoch ist es nicht ausgeschlossen, dass verschiedene Ausprägungen der Rechtssicherheit unterschiedliche Schutzrichtungen haben und daher auch miteinander in Zielkonflikt treten können. Dem EuGH ist zuzugestehen, dass mit der Aufrechterhaltung rechtswidriger Unionsrechtsakte nach Art. 264 Abs. 2 AEUV das Vertrauen der Unionsbürger oder der Hoheitsträger in den Bestand positiven Rechts geschützt 843

EuGH v. 10.3.2009 – Rs. C-345/06 Heinrich, Slg. 2009, I-1659 Rn. 43-46. EuGH v. 10.3.2009 – Rs. C-345/06 Heinrich, Slg. 2009, I-1659 Rn. 66 f. 845 EuGH v. 10.3.2009 – Rs. C-345/06 Heinrich, Slg. 2009, I-1659 Rn. 68. 846 So Frenz, DVBl 2009, 590, 591. 847 Siehe EuGH v. 15.10.1980 – Rs. 4/79 Providence agricole de la Champagne, Slg. 1980, 2823; EuGH v. 10.3.1992 – verb. Rs. C-38/90 und C-151/90 Lomas u.a., Slg. 1992, I-1781 Rn. 27; EuGH v. 26.4.1994 – Rs. C-228/92 Roquettes Frères ./. Hauptzollamt Geldern, Slg. 1994, I-1445; EuGH v. 3.9.2008 – verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P Kadi und Al Barakaat International Foundation ./. Rat und Kommission, Slg. 2008, I-6351; EuGH v. 9.11.2010 – verb. Rs. C-92/09 und C-93/09 Schecke und Eifert, Slg. 2010, I-11063; wohl auch EuGH v. 28.6.1988 – Rs. 7/87 Kommission ./. Rat, Slg. 1988, 3401. 848 Schima, Jahrbuch Europarecht 2010, 41, 62; So ist wohl auch GA Sharpston, SchlA v. 10.4.2008 – Rs. C-345/06 Heinrich, Slg. 2009, I-1659 Rn. 99 zu verstehen. 844

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

werden soll. Ein solches schutzwürdiges Vertrauen der Einzelnen konnte sich hier – auch abstrakt – nicht entwickeln, da ein (teilweise) unveröffentlichter Rechtsakt (insoweit) keinen Anschein einer bestimmten Rechtslage erzeugen kann. Auch die Hoheitsträger waren nicht schutzwürdig, da sie vergleichbare nationale Maßnahmen auch über andere, weiterbestehende Rechtsakte erlassen konnten und den öffentlichen Interessen so ausreichend gedient war.849 In einer solchen Situation besteht tatsächlich kein Bedarf an der Weitergeltung einer rechtswidrigen Norm. Die angestellten Überlegungen können über die Unanwendbarkeit hinaus verallgemeinert werden. Eine Rückwirkungsbeschränkung scheidet also aus, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind: Zuerst muss die Rechtswidrigkeit eines für unwirksam erklärten Rechtsakts auf einem Grund beruhen, der zugleich verhindert, dass ein Teil der oder sämtliche Adressaten sich auf die geschaffene Rechtslage einrichten konnten bzw. mussten. Zudem müssen die Interessen der übrigen Adressaten und die öffentlichen Interessen ausreichend gewahrt sein. Außer bei fehlender Bekanntmachung sind freilich nicht viele Konstellationen denkbar, in denen beide Bedingungen erfüllt sind. IV. Abgrenzung zur Teilunwirksamkeit und besonderen Tenorierungsformen In einigen Konstellationen kann es bei den Unwirksamkeitsentscheidungen schwierig sein, die Beschränkung der Rückwirkung von der Teilunwirksamkeit abzugrenzen. Anerkanntermaßen steht dem Gerichtshof die Kompetenz zu, die Nichtigkeit oder Ungültigkeit nur auf einzelne Vorschriften eines Rechtsakts zu erstrecken oder gar nur einzelne Teile einer Vorschrift für unwirksam zu erklären. Diese Teilunwirksamkeitserklärung kann sich auch auf einzelne Betroffene eines an mehrere Adressaten gerichteten Rechtsakts beziehen. Der Rechtsakt ist dann soweit unwirksam, wie der Tenor reicht und im Übrigen wirksam. Die Erklärung der Teilunwirksamkeit ist zulässig, wenn der unwirksame Teil abtrennbar ist, also wenn durch die Teilung der Regelungscharakter nicht verkehrt und so die gesetzgeberische Prärogative gewahrt wird.850 Den folgenden Sachverhalten ist gemeinsam, dass die inhaltliche Beschränkung der Nichtigkeit mit der zeitlichen Wirkung der Norm zusammenfällt. Die Ergebnisse sind insbesondere bei der ersten Gruppe identisch mit denen der Rückwirkungsbeschränkung. Sämtliche Konstellationen unterscheiden sich jedoch, weil die „echte“ Beschränkung der Rechtsprechungs849 Vgl. EuGH v. 10.3.2009 – Rs. C-345/06 Heinrich, Slg. 2009, I-1659 Rn. 66 f.; GA Sharpston, SchlA v. 10.4.2008 – Rs. C-345/06 Heinrich, Slg. 2009, I-1659 Rn. 96 f. 850 Calliess/Ruffert-Cremer, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 264 AEUV Rn. 3; von der Groeben/Schwarze-Gaitanides, EUV/EGV, 6. Aufl. 2003, Art. 231 EG Rn. 6; Grabitz/Hilf/Nettesheim-Dörr, Das Recht der Europäischen Union, 51. EL 2013, Art. 264 AEUV Rn. 5; jeweils m.w.N.

§ 6 Der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung

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rückwirkung die Wirkungen einer eigentlich rechtswidrigen und damit unwirksamen Vorschrift aufrechterhält, während bei der Teilunwirksamkeit diese Vorschrift insoweit gar nicht unwirksam ist. 1. Unwirksamkeit folgt aus der zeitlich unbegrenzten Geltung In einer ersten Fallgruppe erstreckt sich die Unwirksamkeitserklärung nur auf die Zukunft. Diese Unterart der Teilunwirksamkeit tritt auf, wenn sich die Unwirksamkeit gerade auf die zeitliche Geltung einer Unionsnorm bezieht. So erklärte der EuGH in der Rechtssache C-413/04 eine den Mitgliedstaat Estland betreffende Regelung insoweit für nichtig als diese eine Ausnahme unter anderem von den Regelungen des Elektrizitätsbinnenmarktes über den 31.12.2008 hinaus aufrechterhielt.851 Folgerichtig wurde ein entsprechender Antrag auf Beschränkung der Rückwirkung obsolet,852 denn die erst ab einem Zeitpunkt in der Zukunft eintretende Unwirksamkeit führt zu demselben Ergebnis wie eine Rückwirkungsbeschränkung. Dennoch lassen sich diese Fälle nicht der Rückwirkungsbeschränkungsrechtsprechung zuordnen. Die Teilunwirksamkeit beruhte nämlich nicht auf Erwägungen der Rechtssicherheit, wie sie vergleichbar Art. 264 Abs. 2 AEUV zugrunde liegen. Die streitigen Ausnahmevorschriften gingen inhaltlich über die Vorschriften der Beitrittsakte hinaus und durften daher nicht auf Basis der gewählten Rechtsgrundlage erlassen werden.853 Die mit der Abgrenzung einhergehenden Schwierigkeiten zeigen sich exemplarisch bei der Einordnung der Rechtssache C-236/09. Dort hielt der Gerichtshof die Ausnahme vom Verbot der Geschlechtsdiskriminierung im Versicherungswesen in Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/113/EG erst ab einem in der Zukunft liegenden Zeitpunkt (21.12.2012) für ungültig.854 Allerdings ist angesichts der kurzen Begründung einiger Klarstellungsaufwand erforderlich, fällt doch schon der deutlich andere Tenor auf. Außerdem enthielt Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/113/EG (im Gegensatz zu der oben genannten Rechtssache C-413/04) keine zu lang bemessene Übergangsfrist, sondern eine zeitlich unbegrenzte Ausnahme, die lediglich um einen weichen Überprüfungsmechanismus ergänzt war. Dennoch ist davon auszugehen, dass der Gerichtshof hier keine Rückwirkungsbeschränkung vorgenommen hat.855 851

EuGH v. 28.11.2006 – Rs. C-413/04 Parlament ./. Rat, Slg. 2006, I-11221 Rn. 88. EuGH v. 28.11.2006 – Rs. C-413/04 Parlament ./. Rat, Slg. 2006, I-11221 Rn. 92. 853 EuGH v. 28.11.2006 – Rs. C-413/04 Parlament ./. Rat, Slg. 2006, I-11221 Rn. 77. 854 EuGH v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 Association Belge des Consommateurs TestAchats ASBL u.a., Slg. 2011, I-773 Rn. 33. 855 Siehe die Nachweise unten in § 6 Fn. 857; a.A. Felix/Sangi, ZESAR 2011, 257, 262; Purnhagen, EuR 2011, 690, 691 f., 702 f.; wohl auch Paulus, NJW 2011, 3686, 3688; Bepler, FS Höfer, 2011, S. 1, 10 f.; Ballmaier/Häußler, EWS 2011, 280, 284; Riesenhuber, EU-Vertragsrecht, 2013, § 6 Fn. 21; Lenaerts/Maselis/Gutman, EU Procedural Law, 2014, 10.23 (S. 478 f.); unklar Watson, ELRev 2011, 896, 899 f. 852

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

Zuerst hat er im gleichen Atemzug Übergangsfristen für die Rechtsangleichung auch bei Diskriminierungsverboten ausdrücklich für zulässig erachtet,856 weshalb sich wie in C-413/04 die Rechtswidrigkeit der Vorschrift gerade aus ihrer zeitlich unbegrenzten Geltung ergab.857 Die zukünftige Ungültigkeitserklärung858 stellt sich vielmehr als eine primärrechtskonforme Reduktion des Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/113 zur Wahrung des gesetzgeberischen Entscheidungsspielraums dar. Zudem lässt sich die Einführung einer „angemessenen Übergangszeit“ nicht als Ausdruck der dem Art. 264 Abs. 2 AEUV zugrunde liegenden Rechtssicherheitserwägungen ansehen. Der Begriff der „Übergangszeit“ (transitional period, période de transition) ist hier derselbe Terminus, den der Gerichtshof zuvor benutzte, um die schrittweise Anpassung des geltenden Rechts an Diskriminierungsverbote im Grundsatz gutzuheißen.859 Schließlich stützte sich der EuGH weder ausdrücklich noch in anderer Weise auf Art. 264 Abs. 2 AEUV oder die diesbezüglich übliche Diktion oder die entsprechenden Stellen der Schlussanträge860. Ein solcher Begründungsausfall wäre trotz der sonst knappen Begründungen in den Unwirksamkeitsverfahren unüblich.861 Darüber hinaus sind Fallgestaltungen denkbar, in denen eine Änderung der Rechtslage durch den Gesetzgeber die Nichtigkeit erst ab einem bestimmten 856

EuGH v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 Association Belge des Consommateurs TestAchats ASBL u.a., Slg. 2011, I-773 Rn. 21, 23. 857 Tobler, CMLRev 48 (2011), 2041, 2056 ff., insb. 2058; Hoffmann, ZIP 2011, 1445, 1452; Temming, jurisPR-ArbR 14/2011 Anm. 5 sub C.; Höfer, DB 2011, 1334, 1335; Kahler, NJW 2011, 894, 896 mit eingehender Argumentation, dass es dem EuGH hier nur um einen „Kohärenzverstoß“ ging, der in der unbegrenzten Fortgeltung des Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/113/EG lag; dazu u.a. Temming, GLJ 13 (2012), 105, 115 ff.; Fuchs, DeLuxe 2011, Unisex S. 2 f.; kritisch zur vorgenommenen Kohärenzprüfung z.B. Armbrüster, Das Unisex-Urteil des EuGH (Test-Achats) und seine Auswirkungen, 2011, S. 9 ff. 858 Wegen Art. 5 Abs. 1 und BE 18 der Richtlinie 2004/113/EG dürfte Art. 5 Abs. 2 am 21.12.2012 ex nunc ungültig geworden sein; vgl. Kommission, Leitlinien zur Anwendung der Richtlinie 2004/113/EG des Rates auf das Versicherungswesen im Anschluss an das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union in der Rechtssache C-236/09 (TestAchats), ABl. C 11/1 v. 13.1.2012, S. 2; Armbrüster, Das Unisex-Urteil des EuGH (TestAchats) und seine Auswirkungen, 2011, S. 19; Raulf, NZA-Beilage 2012, 88, 89 f.; Reich, EJRR 2011, 283, 288; Hoffmann, ZIP 2011, 1445, 1452; Höfer, DB 2011, 1334, 1335; Mönnich, VersR 2011, 1092, 1097; für rückwirkende Unwirksamkeit Purnhagen, NJW 2013, 113, 115. 859 Vgl. EuGH v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 Association Belge des Consommateurs TestAchats ASBL u.a., Slg. 2011, I-773 Rn. 21, 23 und 33. 860 Vgl. GA Kokott, SchlA v. 30.9.2010 – Rs. C-236/09 Association Belge des Consommateurs Test-Achats ASBL u.a., Slg. 2011, I-773 Rn. 73 ff. Wegen der grundsätzlich abweichenden Entscheidungsbegründung scheidet eine konkludente Bezugnahme aus, Hoffmann, ZIP 2011, 1445, 1452. 861 Zur Begründungspraxis unten § 10 B., S. 400.

§ 6 Der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung

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Zeitpunkt in der Vergangenheit oder Zukunft herbeiführt und daher insoweit eine Teilunwirksamkeit vorliegt. 2. Unwirksamkeit ist auf die Vergangenheit beschränkt Als zweites kann die Teilunwirksamkeit genau umgekehrt die Unwirksamkeit nur für die Vergangenheit feststellen und für die Zukunft zur Wirksamkeit der Vorschrift führen. Dies war z.B. in der Rechtssache T-310/06 der Fall. Dort wurde die Nichtigkeit einer Änderungsverordnung über den Gemeinsamen Getreidemarkt auf die Maisernte 2006 beschränkt, da sich die Rechtswidrigkeit aus einem Verstoß gegen das Rückwirkungsgebot der am 1.11.2006 für das gesamte Wirtschaftsjahr 2006 in Kraft getretenen Verordnung ergab.862 Die Nichtigkeit erfasste also inhaltlich nur die in der Vergangenheit liegenden Ernten und nicht die in der Zukunft. 3. Unwirksamkeit beruht auf der Nichteinbeziehung vergangener Sachverhalte Drittens kann die Rechtswidrigkeit einer Regelung gerade darin liegen, dass sie vergangene Sachverhalte nicht erfasst. In der Rechtssache T-7/99 hielt das EuG die Änderung eines Antidumpingzolls für rechtswidrig, weil die Kommission von der Klägerin geleistete Zahlungen nicht berücksichtigte und deren Erstattung nicht ermöglichte.863 Die festgestellte Nichtigkeit wirkte sich daher nicht auf die Anwendung des neuen Zolltarifs in der Zukunft aus.864 4. Vertrauensschutz durch sachliche Beschränkung der Unwirksamkeit Viertens sind Fälle abzugrenzen, in denen die inhaltliche Beschränkung der Rechtswidrigkeit auf Erwägungen der Rechtssicherheit oder individueller Vertrauenspositionen beruht. Als Beispiel lässt sich die Rechtsprechung des EuGH zu Konkurrentenklagen anführen. Dort schlägt ein Fehler im Auswahlverfahren nur dann auch auf die Rechtsverhältnisse bereits eingestellter Bewerber durch, wenn diese Folge zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes für die Kläger notwendig ist.865 Ist es nicht nötig, das gesamte Einstellungsverfahren rückgängig zu machen, dann bleiben die bereits erfolgten Ernennungen mit Rücksicht auf die Vertrauenspositionen der Eingestellten bestehen. Hier wird Vertrauensschutz über eine inhaltliche, personelle Beschränkung der Nichtigkeit gewährt, nicht über eine zeitliche.

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EuG v. 15.11.2007 – Rs. T-310/06 Ungarn ./. Kommission, Slg. 2007, II-4619 Rn. 90 f. 863 EuG v. 20.9.2000 – Rs. T-7/99 Medici Grimm, Slg. 2000, II-2671 Rn. 93. 864 EuG v. 20.9.2000 – Rs. T-7/99 Medici Grimm, Slg. 2000, II-2671 Rn. 94. 865 Z.B. EuGH v. 6.7.1993 – Rs. C-242/90 P Albani, Slg. 1993, I-3839 Rn. 13 ff.

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Deshalb sind Konkurrentenklagen jedenfalls aus der vorliegenden Untersuchung auszuschließen, wenngleich ihre Einordnung als Teilunwirksamkeit oder Anwendungsfall von Art. 264 Abs. 2 AEUV unklar ist. Exemplarisch zeigt sich dies an der Rechtssache 92/78 (Simmenthal). Dort erklärte der Gerichtshof auf eine Individualklage hin eine an die Mitgliedstaaten gerichtete Entscheidung für nichtig. Gleichzeitig beschränkte er „aus Gründen der Rechtssicherheit und namentlich der Beachtung der Rechte“, die die anderen mittelbaren Adressaten erworben hatten, diese Nichtigkeit jedoch auf die Auswirkungen, die sie auf die Klägerin und den ihr gegenüber erlassenen nationalen Verwaltungsakt hatte.866 Der Gerichtshof stützte sich dabei nicht auf Art. 264 Abs. 2 AEUV und verwendete eine Formulierung, die nahelegt, dass die inhaltliche Reichweite der Nichtigkeit beschränkt werden sollte. Die Anordnung des EuGH lässt sich jedoch auch so verstehen, dass die Entscheidung insgesamt nichtig war, aber fortzugelten hatte, soweit Adressaten aus ihr Rechte abgeleitet und noch keine Rechtsbehelfe eingelegt hatten.867 So formuliert, steht die Anordnung im Einklang mit der üblichen Diktion und den herangezogenen Gründen einer Rückwirkungsbeschränkung nach Art. 264 Abs. 2 AEUV.868 5. Besondere Verfahrensarten und Tenorierungsformen Beinahe keine Unterschiede zur Rückwirkungsbeschränkung bestehen dort, wo der EuGH eine Regelung nicht für unwirksam erklärt, sondern nur die Rechtswidrigkeit eines Rechtsakts oder einer Maßnahme feststellt. Dies erfolgt zum einen bei Untätigkeitsklagen nach Art. 265 AEUV.869 Zum anderen ist das der Fall, wenn dem Gerichtshof die Kompetenz fehlt, auf die Unwirksamkeitsklage hin auch alle praktischen Folgen selbst zu beseitigen.870 Dann gilt die Norm in Gänze ohne Rückwirkungsbeschränkung weiter und der Unionsgesetzgeber ist gemäß Art. 266 AEUV aufgerufen, sie und ihre Wirkungen zu beseitigen. Da der Gesetzgeber hierbei ebenso die Anforderungen der Rechtssicherheit für vergangene Durchführungsmaßnahmen zu beachten 866

EuGH v. 6.3.1979 – Rs. 92/78 Simmenthal, Slg. 1979, 777 Rn. 106/110. Es kann unterstellt werden, dass der EuGH nicht nur die Klägerin des Ausgangsverfahrens von der Rechtswidrigkeit der Entscheidung profitieren lassen wollte, sondern auch jeden anderen benachteiligten Kläger einbezogen hätte. 868 Vgl. die Bezeichnung als „Beschränkung der Urteilswirkung“, wenngleich ohne Nennung von Art. 264 Abs. 2 AEUV in EuGH v. 27.11.2012 – Rs. C-566/10 P Italien ./. Kommission, ECLI:EU:C:2012:752 Rn. 103 i.V.m. GA Kokott, SchlA v. 21.6.2012 – Rs. C-566/10 P Italien ./. Kommission, ECLI:EU:C:2012:368 Rn. 114 ff. Grabitz/Hilf/Nettesheim-Dörr, Das Recht der Europäischen Union, 51. EL 2013, Art. 264 AEUV Rn. 8 und ders./Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, 2006, Rn. 196 sehen Simmenthal daher als „besondere Spielart“ des Art. 264 Abs. 2 AEUV an. 869 Vgl. EuG v. 21.3.2014 – Rs. T-306/10 Yusef, ECLI:EU:T:2014:141 Rn. 106 ff. 870 Vgl. EuGH v. 9.3.1977 – Rs. 54/75 De Dapper ./. Parlament, Slg. 1977, 471 Rn. 56. 867

§ 6 Der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung

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hat, führt dies zum selben Ergebnis wie eine Rückwirkungsbeschränkung, denn in beiden Fällen besteht eine rechtswidrige Regelung fort.871 Ein Unterschied ist, dass hier der Gesetzgeber zuerst die Anforderungen der Rechtssicherheit auf die Durchführungsmaßnahmen anwenden und eine eigene Regelung treffen muss, die freilich vom EuGH überprüft werden könnte, während bei der Rückwirkungsbeschränkung der Gerichtshof dies sofort selbst vornimmt. Zudem kann die rechtswidrige Vorschrift – anders als bei einer Befristung der Rückwirkungsbeschränkung872 – theoretisch auch ohne erneute Prüfung unbegrenzt weitergelten, wenn der Unionsgesetzgeber seiner Pflicht nicht nachkommt. D. Einheitlicher verfahrensübergreifender Maßstab? Vergleichend lässt sich feststellen, dass trotz eines ähnlichen Ausgangspunkts die Tatbestandsvoraussetzungen von Unwirksamkeits- und Auslegungsrückwirkungsbeschränkung deutlich verschieden sind.873 Dem entspricht es, dass der Gerichtshof bei der Ausarbeitung der Tatbestandsmerkmale bisher nicht auf Entscheidungen verweist, die in einer anderen Verfahrensart ergangen sind.874 Im scheinbaren Einklang mit dem leicht abweichenden Obersatz fehlt es sogar an Querverweisen innerhalb der Unwirksamkeitsverfahren. Darüber hinaus fällt auf, dass die Fallgruppen der öffentlichen Interessen bei den Unwirksamkeitsklagen überwiegend in Nichtigkeitsklagen entwickelt wurden und es dafür keine Entsprechung bei der Auslegungsvorlage gibt.

871

Für eine Einordnung als Rückwirkungsbeschränkung daher Harding, YbEL 1 (1981), 93, 109. 872 Siehe dazu unten § 7 C.II.1.c) (S. 350 ff.). 873 Für vergleichbare Anforderungen bei der Ungültigkeitsvorlage und der Auslegungsvorlage Anderson/Demetriou, References to the European Court, 2. Aufl. 2002, Rn. 14085; Broberg/Fenger, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union, 2014, S. 403; GA Kokott, SchlA v. 30.9.2010 – Rs. C-236/09 Association Belge des Consommateurs Test-Achats ASBL u.a., Slg. 2011, I-773 Rn. 76 i.V.m. Fn. 58; Wyatt, CMLRev 23 (1986), 703, 715; ähnlich wie hier Woods/Watson, Steiner & Woods EU Law, 11. Aufl. 2012, S. 238, die davon ausgehen, dass der EuGH bei Ungültigkeitsentscheidungen eher eine Beschränkung vornimmt; siehe auch Lenaerts/Maselis/Gutman, EU Procedural Law, 2014, 10.23 (S. 477) „diverges somewhat“. 874 Einzige ersichtliche Ausnahme ist EuGH v. 19.9.2000 – verb. Rs. C-177/99 und C-181/99 Ampafrance und Sanofi, Slg. 2000, I-7013 Rn. 66. Die Generalanwälte und die Kommentarliteratur trennen demgegenüber nicht so streng, jedoch ohne dies zu begründen, vgl. GA Villalón, SchlA v. 8.12.2011 – Rs. C-533/10 CIVAD, EU:C:2011:819 Rn. 41; Geiger/Khan/Kotzur-Kotzur, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2010, Art. 264 AEUV Rn. 7; StreinzEhricke, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2011, Art. 264 AEUV Rn. 7; Schwarze-Schwarze, EUKommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 267 AEUV Rn. 72; ebenso z.B. Everling, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem europäischen Gerichtshof, 1986, S. 67 ff.; Everling, FS Börner, 1992, S. 57 ff. (passim).

288

Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

Selbst die auf Vertrauensschutz basierenden Fallgruppen der Unwirksamkeitsverfahren beruhen dogmatisch auf einem anderen Anknüpfungspunkt als die Auslegungsrückwirkungsbeschränkung. Bei letzterer bedarf es eines bestimmbaren Irrtums über das Verständnis einer Unionsnorm. Bei der Unwirksamkeit ist nur abstraktes Vertrauen in die Gültigkeit einer abgeleiteten Unionsnorm notwendig, ohne dass die Rechtsunterworfenen sich über das maßgeblich höherrangige Recht überhaupt Gedanken gemacht haben müssen. Es wird also außer Acht gelassen, dass sich die Frage der Rechtswidrigkeit nicht aus der niedrigeren Norm selbst beurteilt, sondern dafür das Verständnis des höherrangigen Rechts maßgeblich ist.875 Angesichts dieser Unterschiede mag die Frage nach einem einheitlichen, verfahrensübergreifenden Maßstab irritieren. Deshalb muss zuerst erläutert werden, woraus das Bedürfnis für einen solchen entspringen kann. Systematische Einheitlichkeit dient keinem Selbstzweck, sondern ist nur gerechtfertigt, wenn dafür Sachgründe zu finden sind. Ein solcher Sachgrund besteht darin, dass die Gutglaubensprüfung bei der Auslegungsrückwirkungsbeschränkung im Rahmen der geklärten Rechtslage (oder der Konnexität) Urteile anderer Verfahrensarten nicht unbeachtet lassen kann, wenn sich die Klärung der Rechtslage aus diesen ergibt. Wie oben unter § 3 C.IV.2.a) (S. 27) erläutert, entfaltet nach der CILFIT-Rechtsprechung (und auch von einem rechtstheoretischen Standpunkt) jede Auslegung durch den EuGH die gleiche Bindungswirkung unabhängig davon, in welcher Verfahrensart sie vorgenommen wurde. Daher ist grundsätzlich jede Auslegung zur Erschütterung des guten Glaubens in gleichem Maße heranzuziehen. Gleichzeitig kann das Ob oder Wie einer Rückwirkungsbeschränkung nicht davon abhängen, ob eine Auslegungsfrage in einer Auslegungsvorlage gestellt wurde oder ob sie in einer anderen Verfahrensart an den EuGH herangetragen wurde. Identische Auslegungsergebnisse sollten keine unterschiedlichen zeitlichen Wirkungen haben. Dementsprechend weisen die durchgesehenen Urteile zur Rückwirkungsproblematik einige Fallkonstellationen auf, in denen die Auslegung einer Norm in unterschiedlichen Verfahren von Bedeutung war: In der Ungültigkeitsvorlage Lancry verneinte der Gerichtshof den guten Glauben aufgrund einer vorherigen Auslegungsvorlage (und wendete deren Rückwirkungszeitpunkt an)876; in den Auslegungsvorlagen bezieht er sich regelmäßig auf andere Auslegungsentscheidungen;877 in der Auslegungsvorlage Essevi und Salengo war eine auf ein Vertragsverletzungsverfahren zurückgehende Rechtspre875 Ähnlich Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, 1994, S. 575; vgl. auch Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 64 ff., 115 f. 876 EuGH v. 8.9.1994 – verb. Rs. C-363/93, C-407/93 bis C-411/93 Lancry u.a., Slg. 1994, I-3957 Rn. 44. 877 Siehe oben § 6 Fn. 478 f.

§ 6 Der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung

289

chungslinie vertrauenszerstörend;878 umgekehrt basierte beispielsweise das Vertragsverletzungsurteil in der Rechtssache C-559/07 auf der in Vorlageverfahren entwickelten Rechtsprechung zu Art. 157 AEUV;879 und in der Nichtigkeitsklage Othman wirkte sich eine frühere Nichtigkeitsentscheidung nur deshalb nicht aus, weil sich die Rückwirkungsbeschränkung aus öffentlichen Interessen ergeben hätte und daher Gesichtspunkte des guten Glaubens irrelevant waren880. Schließlich stellt der Gerichtshof in Skoma-Lux selbst fest, dass die partielle Unanwendbarkeit eine Auslegung des höherrangigen Rechts ist.881 Das Bedürfnis, das Verhältnis unterschiedlicher Verfahren zueinander zu klären und Unstimmigkeiten auszuräumen, besteht jedoch nur im Hinblick auf die Auslegung von Unionsrecht. Diese ist nämlich in allen Verfahrensarten Bestandteil der richterlichen Tätigkeit und muss deshalb einheitliche Wirkungen in Bezug auf entsprechenden guten Glauben haben. Es ist daher notwendig, die Auslegungsrückwirkungsbeschränkung auf die Wirkung der ausgelegten (höherrangigen) Unionsnorm bei den Unwirksamkeitsverfahren zu übertragen. Dabei ist es nicht geboten, Auslegung und Unwirksamkeit eine bis ins Detail einheitliche dogmatische Fundierung zu geben. Zum einen bestehen deutliche Unterschiede im Hinblick auf theoretische Ableitung und Tatbestand, wenngleich die Grundzüge durchaus Ähnlichkeiten aufweisen. Zum anderen ist lediglich erforderlich, dass die Auslegungsrückwirkungsbeschränkung in allen Verfahrensarten anwendbar ist. Eine solche ist immer dann vorzunehmen, wenn – gedacht der Fall stellte sich als Auslegungsvorlage – die Voraussetzungen einer Rückwirkungsbeschränkung vorliegen. Tatbestandvoraussetzung ist, dass ein Irrtum über das Verständnis einer höherrangigen Unionsnorm besteht und das „richtige“ Verständnis zur Unwirksamkeit einer niedrigeren Unionsnorm führt und schwere wirtschaftliche Folgen zu befürchten sind. Die Unwirksamkeitsrückwirkungsbeschränkung ist daneben kumulativ möglich, soweit Art. 264 Abs. 2 AEUV anwendbar ist. Voraussetzung dafür ist ein Konflikt zwischen höherrangigem Unionsrecht und abgeleitetem Unionsrecht, der zumeist nicht in der Auslegungsvorlage gegeben sein dürfte.882 Da die Fortwirkungsanordnung bei Unwirksamkeits878

EuGH v. 27.5.1981 – verb. Rs. 142/80 und 143/80 Essevi und Salengo, Slg. 1981, 1413 Rn. 33. 879 EuGH v. 26.3.2009 – Rs. C-559/07 Kommission ./. Griechenland, Slg. 2009, I-47 (abgekürzte Veröffentlichung). 880 EuG v. 11.6.2009 – Rs. T-318/01 Othman ./. Rat und Kommission, Slg. 2009, II-1627 Rn. 97; ebenso EuG v. 29.9.2010 – verb. Rs. T-135/06 bis 138/06 Al-Faqih u.a., Slg. 2010, II-208 Rn. 45. 881 EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-161/06 Skoma-Lux, Slg. 2007, I-10841 Tenor Nr. 2. 882 Zur entsprechenden Anwendung von Art. 264 Abs. 2 AEUV im Rahmen der Auslegungsvorlage mit dem Ziel der Suspendierung des Vorrangs unmittelbar anwendbaren Unionsrechts eingehend unten § 15 D., S. 456 ff.

290

Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

entscheidungen in vielen Fällen nicht auf Erwägungen des Vertrauensschutzes, sondern auf anderen öffentlichen Interessen beruht, dürfte sie weiterhin häufiger auftreten als eine Auslegungsrückwirkungsbeschränkung. Als Schritt in diese Richtung lässt sich das Urteil in der Rechtssache C-247/10 P verstehen. Dort wendete der Gerichtshof – soweit ersichtlich erstmals – auf dem Konnexitätsmerkmal der Auslegungsrückwirkungsbeschränkung basierende Überlegungen im Rahmen der Nichtigkeitsklage an. Dabei trennte er deutlich zwischen der Nichtigerklärung im zu entscheidenden Fall und der dieser Nichtigkeit zugrunde liegenden Auslegung.883 Diese Auslegung habe erstens Wirkung auch auf andere Verfahren, sei jedoch zweitens schon in einem früheren Urteil entwickelt worden.884 Eine Fortwirkungsanordnung gemäß Art. 264 Abs. 2 AEUV käme daher nicht in Betracht.885 Interessanterweise hatte die Kommission schon vergleichbar den Grundsätzen der Auslegungsentscheidungen mit den schwerwiegenden finanziellen Auswirkungen auf Union und Mitgliedstaaten argumentiert.886 Ob damit jedoch damit eine so signifikante Fortentwicklung der Dogmatik der Rückwirkungsbeschränkung eingeläutet werden sollte, kann bezweifelt werden, wurde doch unter Verzicht auf die Schlussanträge des Generalanwalts entschieden; ein solches Vorgehen sieht Art. 20 Abs. 5 EuGH-Satzung für Fälle vor, in denen eine Rechtssache keine neue Rechtsfrage aufwirft. Die Entscheidung zeigt aber jedenfalls plastisch das Bedürfnis nach einer verfahrensübergreifenden Beschränkung der Auslegungsrückwirkung. Das hier vorgeschlagene Vorgehen führt letztendlich dazu, dass eine pauschale Zuordnung einzelner Prüfungsschemata zu den Verfahrensarten nur soweit möglich ist, wie nicht Vertrauensgesichtspunkte den Ausschlag für eine Rückwirkungsbeschränkung geben. Als Konsequenz ist der Gerichtshof gezwungen, klar zu unterscheiden zwischen der Anknüpfung an die abstrakte Gültigkeitsvermutung (gegebenfalls im Zusammenspiel mit anderen Faktoren) bei der Aufhebung eines Rechtsakts oder der Anknüpfung an die Auslegung einer (höherrangigen) Norm und das diesbezüglich konkrete Vertrauen der Rechtsunterworfenen. Diese Differenzierung sollte sich auch im Tenor niederschlagen. Anderenfalls würde sie in der Begründung nur versteckt und es letztlich den Rechtsunterworfenen auferlegt, sie später herauszuarbeiten.

883

EuGH v. 15.11.2012 C:2012:710 Rn. 39. 884 EuGH v. 15.11.2012 C:2012:710 Rn. 39 f. 885 EuGH v. 15.11.2012 C:2012:710 Rn. 41. 886 EuGH v. 15.11.2012 C:2012:710 Rn. 38.

– Rs. C-247/10 P Zhejiang Aokang Shoes, ECLI:EU: – Rs. C-247/10 P Zhejiang Aokang Shoes, ECLI:EU: – Rs. C-247/10 P Zhejiang Aokang Shoes, ECLI:EU: – Rs. C-247/10 P Zhejiang Aokang Shoes, ECLI:EU:

§ 6 Der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung

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E. Die Ablehnung einer Rückwirkungsbeschränkung Eine Rückwirkungsbeschränkung muss vom Gerichtshof angeordnet werden, anderenfalls ist sie abgelehnt und es bleibt bei der grundsätzlichen Rückwirkung. Dabei müssen die Tatbestandsvoraussetzungen nicht ausdrücklich verneint werden. Schweigen des Gerichtshofs zu den zeitlichen Wirkungen genügt.887 Es ist insoweit unerheblich, ob eine Rückwirkungsbeschränkung im Verfahren beantragt oder diskutiert wurde;888 das Schweigen muss gerade nicht beredt sein.889 Mit der (konkludenten) Ablehnung einer Rückwirkungsbeschränkung gehen drei Sachfragen einher, die an anderer Stelle vertieft zu erörtern sind. Zuerst ist fraglich, ob die unterlassene Rückwirkungsbeschränkung durch den Gerichtshof nachgeholt werden kann.890 Aufgrund seines Entscheidungsmonopols können mitgliedstaatliche Gerichte nicht selbst eine Rückwirkungsbeschränkung anordnen oder nachholen.891 Damit ist jedoch die Möglichkeit nationalen Vertrauensschutzes nicht präjudiziert.892 F. Rückwirkungsbeschränkung als Rechtspolitik? Die Vornahme einer Rückwirkungsbeschränkung hat dem Gerichtshof nicht selten den Vorwurf eingebracht, nicht-justiziable politische Erwägungen zu verfolgen. So wurde insbesondere das wegweisende Urteil in der Rechtssache Defrenne II nicht nur kurz nach seinem Erlass, sondern noch kürzlich als politische Entscheidung zu Gunsten der betroffenen Mitgliedstaaten gebrandmarkt.893 Die Akzeptanz des Barber-Protokolls durch den EuGH in der Rechtssache Ten Oever wurde gar als Unterwerfung unter die Macht der

887

Vgl. z.B. Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EUGH, 1995, S. 306 m.w.N. 888 Anders wohl Thüsing, ZIP 2005, 2149, 2151. 889 So aber GA Colomer, SchlA v. 6.9.2007 – Rs. C-267/06 Maruko, Slg. 2008, I-1757 Rn. 110; Nirk/Hülsmann, FS Piper, 1996, S. 725, 741 f.; Flechsig/Klett, ZUM 1994, 685, 693; ebenso Valbert, Die Phil-Collins-Entscheidung des EuGH und ihre Auswirkungen auf das innergemeinschaftliche Urheber- und Leistungsschutzrecht, 2001, S. 90; vgl. auch Rhein, FS Piper, 1996, S. 755, 766; Schack, GRUR Int 1995, 310, 312. 890 Siehe unten § 7 C.I.3.a), S. 331 ff. und § 7 C.II.1.b)bb), S. 348 f. 891 Siehe unten § 13 A., S. 429 f. 892 Das meint wohl auch Sedlmeier, EuZA 2010, 88, 97; dazu unten 5. Teil, S. 449 ff. 893 Sharpston, The Shock Troops Arrive in Force, 2010, S. 251, 254: „conciliatory gesture towards Ireland and the United Kingdom”. Aus der älteren Literatur Louis, EuGRZ 1976, 178, 180; Crisham, CMLRev 14 (1977), 108, 117; Beck, IJ 1978, 112, 130; Preis, ZIP 1995, 891, 898; Shaw, Gender and the Court of Justice, 2001, S. 87, 122 f.; vgl. auch Pollicino, GLJ 2004, 283, 305 f.

292

Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

Politik bezeichnet.894 Ablehnung wird nicht nur im Hinblick auf einzelne Urteile,895 sondern auf die gesamte Rechtsprechungslinie geäußert.896 Soweit sich die Kritik gegen die Intransparenz im Abwägungsvorgang richtet, war sie in den Anfängen der Rückwirkungsrechtsprechung durchaus nachvollziehbar. Dazu trug sicherlich die regelmäßig beklagte Kürze der Urteilsbegründungen bei. Mittlerweile hatte der Gerichtshof hingegen Gelegenheit, seine Dogmatik zu verfeinern. Wie gezeigt hat er auf diesem Weg konkretere Maßstäbe für die Rückwirkungsbeschränkung entwickelt. Dass ein Abwägungsspielraum zu Gunsten des EuGH besteht, lässt dessen rechtliche Bindung nicht entfallen. Ein besonderer Einfluss politischer Erwägungen auf die Rechtsprechung zu den zeitlichen Wirkungen der EuGH-Urteile ist nicht zu erkennen.897 Die angewendeten Maßstäbe sind streng und die Rückwirkungsbeschränkung kann neben den Mitgliedstaaten auch die privaten Rechtsadressaten begünstigen. Ausnahmen zur Rückwirkung finden sich nicht nur in politisch sensiblen Bereichen, sondern in praktisch allen Rechtsgebieten. Sie ergingen nicht nur zu Gunsten bestimmter Mitgliedstaaten und sie betrafen Anlassfälle aus unterschiedlichsten Rechtsordnungen. Eine besondere Beeinflussung des Gerichtshofs durch finanzstarke oder politisch wichtige Mitgliedstaaten ist nicht zu besorgen. So wurde Deutschlands Vorbringen in der Rechtssache Meilicke kühl zurückgewiesen.898 Eine besondere budgetäre Rücksichtnahme ist auch in Zukunft nicht zu erwarten.899 Gleichwohl lässt sich nicht verkennen, dass die zahlenmäßige Verteilung der Entscheidungen mit einer vorgenommenen Rückwirkungsbeschränkung zu Spekulationen Anlass geben kann. Nach der ersten Entscheidung im Jahr 1976 folgten die weiteren sieben eigenständigen Beschränkungen zwischen 1988 und 2000. In den seitdem vergangenen 15 Jahren lehnte der Gerichtshof eine Beschränkung jedoch ausnahmslos ab. Dafür beruft er sich freilich auf

894

So Fitzpatrick, ILJ 1994, 155, 163. In Bezug auf das Nichtigkeitsverfahren EuGH v. 15.10.1980 – Rs. 4/79 Providence agricole de la Champagne, Slg. 1980, 2823 siehe Huthmacher, Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts bei indirekten Kollisionen, 1985, S. 23 f. 896 Lang, Intertax 35 (2007), 230, 245. 897 Wie hier allgemein zur Urteilspraxis des EuGH Everling, EuR 1994, 127, 137 f. Anders nur GA Mancini, SchlA v. 27.1.1988 – Rs. 190/84 Parti ecologiste „Les Verts“ ./. Parlament, Slg. 1988, 1017, 1032 unter Bezugnahme auf Constantinesco/Simon, Dalloz 1987, jur., 79, 82: „eine Klage auf Erstattung rechtsgrundlos gezahlter Beträge gegen politische Gruppen […] [wäre] ‚juristisch zweifelhaft und politisch wenig opportun‘“. 898 Ähnlich Janssen, EuZW 2005, 257. 899 Lenaerts und Kokott zitiert nach Drüen, FS Schaumburg, 2009, S. 609, 613 vor Fn. 29. 895

§ 7 Die Rechtsfolgenbestimmung der Rückwirkungsbeschränkung

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dieselben Entscheidungen und hat auch die Obersätze und Prüfungspunkte nicht geändert.900

§ 7 Die Rechtsfolgenbestimmung der Rückwirkungsbeschränkung Die Rechtsfolgenbestimmung der Rückwirkungsbeschränkung Auf der Rechtsfolgenebene nimmt der Gerichtshof einen weiten Spielraum in Anspruch. Dieser ermöglicht es ihm, nach den Erfordernissen des Einzelfalls zu bestimmen, welchen Inhalt die Rückwirkungsbeschränkung haben soll.901 Zuerst ist dabei die Frage aufgeworfen, welche Dogmatik der Rechtsfolgenbestimmung zugrunde liegt (dazu A.). Zweitens ist zu klären, welche Sachverhalte von der Rückwirkungsbeschränkung erfasst werden oder welche Vorschriften oder Wirkungen eines Rechtsakts nach Art. 264 Abs. 2 AEUV aufrechterhalten bleiben (dazu B.). Als drittes Problem kann der Zeitpunkt identifiziert werden, bis zu dem eine Rückwirkungsbeschränkung oder Aufrechterhaltung gelten soll (dazu C.) Das Ermessen erstreckt sich weiter auf die umstrittene Problematik, ob und inwieweit einzelne Betroffene von der Rückwirkungsbeschränkung auszunehmen sind (dazu D.). Wenig Spielraum besteht hingegen hinsichtlich des räumlichen Geltungsbereichs der Beschränkung; er ist von Dogmatik und Tatbestand weitgehend vorgegeben (dazu E.). Diese Elemente finden sich auch in einem typischen Tenor einer Auslegungsrückwirkungsbeschränkung. Beispielsweise urteilte der Gerichtshof in der Rechtssache Evangelischer Krankenhausverein Wien: „Niemand kann sich auf Artikel 3 Absatz 2 der Richtlinie 92/12 berufen, um Ansprüche betreffend Abgaben wie die Steuer auf alkoholische Getränke, die vor Erlaß dieses Urteils entrichtet wurden oder fällig geworden sind, geltend zu machen, es sei denn, er hätte vor diesem Zeitpunkt Klage erhoben oder einen entsprechenden Rechtsbehelf eingelegt.“902

Dabei spiegelt „kann sich auf [die ausgelegte Norm] berufen“ die Dogmatik wider, während „um [näher bezeichnete] Ansprüche geltend zu machen“ die sachliche Reichweite umreißt. Der „Erlass des Urteils“ markiert die zeitliche Grenze und „niemand […], es sei denn, er hätte vor diesem Zeitpunkt Klage erhoben oder einen entsprechenden Rechtsbehelf eingelegt“ die personelle Reichweite der Beschränkung. Lediglich die räumliche Geltung ergibt sich 900

Beck, The Legal Reasoning of the Court of Justice of the EU, 2012, S. 230, 382 f. will einen „change of approach“ seit der Entscheidung Roders aus September 1995 erkennen. Da dieser Entscheidung aber noch vier Beschränkungen (und damit die Hälfte der Fälle überhaupt) nachfolgten, dürfte dies unzutreffend sein. 901 EuGH v. 27.2.1985 – Rs. 112/83 Produits de Maïs, Slg. 1985, 719 Rn. 18; Nettesheim, EuR 2006, 737, 749; Gleiss/Kleinmann, NJW 1966, 1591, 1592 f. 902 EuGH v. 9.3.2000 – Rs. C-437/97 Evangelischer Krankenhausverein Wien u.a., Slg. 2000, I-1157 Tenor Nr. 3.

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

nicht unmittelbar aus dem Tenor, sondern muss anhand der Dogmatik der Auslegungsentscheidungen bestimmt werden. Die Entscheidung über die Rechtsfolgen ist trotz des gerichtlichen Ermessens keine „Rechtsfolgenlotterie“.903 Da die Rückwirkungsbeschränkung eine Ausnahme vom Prinzip der Gesetzmäßigkeit darstellt, müssen ihre Folgen auf das begrenzt werden, was zur Durchsetzung des die Gesetzmäßigkeit überwiegenden Interesses notwendig ist. Damit bestimmt der Tatbestand die Rechtsfolgenanordnung.904 Für die Auslegungsentscheidungen sind daher die Reichweite des guten Glaubens und die zu befürchtenden wirtschaftlichen Auswirkungen maßgeblich. Bei der auf objektiven Interessen beruhenden Anwendung von Art. 264 Abs. 2 AEUV bei Unwirksamkeitsentscheidungen bestimmt vor allem der Zweck der angegriffenen Maßnahme das Ausmaß der Fortwirkungsanordnung. Die verschiedenen Problembereiche der Rechtsfolgenanordnung sollten daher als Teile einer einheitlichen Bestimmung der zeitlichen Wirkungen verstanden werden. Die zahlreichen Varianten insbesondere bei Unwirksamkeitsverfahren lassen sich nicht beliebig kombinieren. Ihre Verwendung muss den Geboten der Logik folgen und sich am Grund der Rückwirkungsbeschränkung orientieren. Bestehen bei den Rechtsunterworfenen oder den Rechtsanwendern Unklarheiten über die Reichweite der Rückwirkungsbeschränkung und ist deshalb ungewiss, welche Fallgestaltungen erfasst werden sollten, kann vor allem mittels Vorlageverfahren eine Klärung herbeigeführt werden. Der Gerichtshof wurde denn auch in der Vergangenheit häufiger gebeten, seine Rückwirkungsrechtsprechung zu erläutern oder deren Anwendbarkeit auf weitere Sachverhalte darzulegen.905 A. Dogmatische Einordnung Erster zu untersuchender Punkt der Rechtsfolgenanordnung ist die Dogmatik, die der Gerichtshof mit der Rückwirkungsbeschränkung verfolgt. Hierbei stellt sich die Frage, was genau beschränkt wird und welche Gemeinsamkei903

Das befürchtet Seer, Rechtsprechung des EuGH: Rechtsfolgen- oder Grundfreiheitenbeschränkung?, 2006, S. 9, 23. 904 So auch Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 186. 905 Z.B. EuGH v. 13.11.1990 – Rs. C-99/89 Yanez-Campoy, Slg. 1990, I-4097; EuGH v. 6.10.1993 – Rs. C-109/91 Ten Oever, Slg. 1993, I-4879; EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-200/91 Coloroll Pension Trustees, Slg. 1994, 4389; EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-128/93 Fisscher, Slg. 1994, I-4583; EuGH v. 8.2.1996 – Rs. C-212/94 FMC, Slg. 1996, I-389; EuGH v. 11.12.1997 – Rs. C-246/96 Magorrian und Cunningham, Slg. 1997, I-7153; EuGH v. 10.2.2000 – Rs. C-50/96 Schröder, Slg. 2000, I-743; EuGH v. 10.2.2000 – verb. Rs. C-270/97 und C-271/97 Sievers und Schrage, Slg. 2000, I-929; EuGH v. 10.2.2000 – verb. Rs. C-234/96 und C-235/96 Vick und Conze, Slg. 2000, I-799; EuGH v. 5.2.2004 – Rs. C-157/02 Rieser Internationale Transporte, Slg. 2004, I-1477.

§ 7 Die Rechtsfolgenbestimmung der Rückwirkungsbeschränkung

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ten und Unterschiede in den Verfahrensarten zu erkennen sind. Mangels ausdrücklicher Stellungnahmen des Gerichtshofs ist das Ergebnis aus den normativen, theoretischen und sonstigen dogmatischen Grundlagen sowie dem Tenor der Rückwirkungsbeschränkung abzuleiten. I.

Nichtigkeitsklage: Aufrechterhalten materieller Wirkungen

Bei Nichtigkeitsklagen orientiert der Gerichtshof den Tenor der Rückwirkungsbeschränkung an dem für dieses Verfahren geltenden Art. 264 Abs. 2 AEUV (Art. 231 Abs. 2 EG, Art. 174 Abs. 2 EGV).906 Zwar übernimmt er nur selten den genauen Wortlaut „sind als fortgeltend zu betrachten“907, jedoch stellt die ganz überwiegend verwendete Wortwahl klar, dass Wirkungen der nichtig erklärten Handlung „aufrechterhalten bleiben“908 oder „fortgelten“909. 906

Müller, Die Begrenzung der zeitlichen Wirkungen von EuGH-Entscheidungen, 2009,

S. 15. 907

So EuGH v. 26.3.1987 – Rs. 45/86 Kommission ./. Rat, Slg. 1987, 1493; EuGH v. 27.9.1988 – Rs. 51/87 Kommission ./. Rat, Slg. 1988, 5459; EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-93/00 Parlament ./. Rat, Slg. 2001, I-10119; EuGH v. 11.9.2003 – Rs. C-445/00 Österreich ./. Rat, Slg. 2003, I-8549. 908 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 59/81 Kommission ./. Rat, Slg. 1982, 3329; EuGH v. 20.3.1985 – Rs. 264/82 Timex, Slg. 1985, 849; EuGH v. 7.7.1992 – Rs. C-295/90 Parlament ./. Rat, Slg. 1992, I-4193; EuGH v. 16.7.1992 – Rs. C-65/90 Parlament ./. Rat, Slg. 1992, I-4593; EuGH v. 1.6.1994 – Rs. C-388/92 Parlament ./. Rat, Slg. 1994, I-2067; EuGH v. 5.7.1995 – Rs. C-21/94 Parlament ./. Rat, Slg. 1995, I-1827; EuGH v. 7.12.1995 – Rs. C-41/95 Rat ./. Parlament, Slg. 1995, I-4411; EuGH v. 7.3.1996 – Rs. C-360/93 Parlament ./. Rat, Slg. 1996, I-1195; EuGH v. 26.3.1996 – Rs. C-271/94 Parlament ./. Rat, Slg. 1996, I-1689; EuGH v. 10.6.1997 – Rs. C-392/95 Parlament ./. Rat, Slg. 1997, I-3213; EuGH v. 28.5.1998 – Rs. C-22/96 Parlament ./. Rat, Slg. 1998, I-3231; EuGH v. 19.11.1998 – Rs. C-159/96 Portugal ./. Kommission, Slg. 1998, I-7379; EuGH v. 25.2.1999 – verb. Rs. C-164/97 und C-165/97 Parlament ./. Rat, Slg. 1999, I-1139; EuGH v. 21.1.2003 – Rs. C-378/00 Kommission ./. Parlament und Rat, Slg. 2003, I-937; EuGH v. 11.9.2003 – Rs. C-211/01 Kommission ./. Rat, Slg. 2003, I-8913; EuGH v. 10.1.2006 – Rs. C-178/03 Kommission ./. Parlament und Rat, Slg. 2006, I-107; EuGH v. 30.5.2006 – verb. Rs. C-317/04 und C-318/04 Parlament ./. Rat und Kommission, Slg. 2006, I-4721; EuGH v. 28.11.2006 – Rs. C-414/04 Parlament ./. Rat, Slg. 2006, I-11279; EuGH v. 18.10.2007 – Rs. C-299/05 Kommission ./. Parlament und Rat, Slg. 2007, I-8695; EuGH v. 1.4.2008 – verb. Rs. C-14/06 und C-295/06 Parlament und Dänemark ./. Kommission, Slg. 2008, I-1649; EuGH v. 3.9.2008 – verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P Kadi und Al Barakaat International Foundation ./. Rat und Kommission, Slg. 2008, I-6351; EuGH v. 6.11.2008 – Rs. C-155/07 Parlament ./. Rat, Slg. 2008, I-8103; EuGH v. 3.9.2009 – Rs. C-166/07 Parlament ./. Rat, Slg. 2009, I-7135; EuGH v. 1.10.2009 – Rs. C-370/07 Kommission ./. Rat, Slg. 2009, I-8917; EuGH v. 24.11.2010 – Rs. C-40/10 Kommission ./. Parlament, Slg. 2010, I-12043. 909 EuGH v. 28.6.1988 – Rs. 7/87 Kommission ./. Rat, Slg. 1988, 3401 (in der englischen und französisichen Sprachfassung lautet diese Entscheidung ebenso wie die der vorigen Fußnote).

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

Nur vereinzelt verwendet der Gerichtshof andere Formulierungen910 oder stellt überhaupt stellt nicht auf die Wirkungen der für nichtig erklärten Handlungen, sondern auf die Nichtigerklärung selbst911 oder deren Wirkungen ab912. Ein Grund dafür mag zuerst in den differierenden Übersetzungen zu finden sein. Schon die französische und die englische Sprachfassung weichen nicht in allen Fällen von der üblichen Formulierung ab.913 Darüber hinaus legen die verbleibenden Unterschiede nahe, dass der Gerichtshof alle Formulierungen inhaltlich als gleichbedeutend ansieht. Die sprachliche Flexibilität ist unnötig,914 aber unschädlich. Art. 264 Abs. 2 AEUV und die Rechtsprechungspraxis beschreiben die Rückwirkungsbeschränkung demnach als Aufrechterhalten einzelner oder aller Wirkungen des angegriffenen Rechtsakts bis zu einem bestimmten Zeitpunkt. Der Gerichtshof beschränkt also weder die von ihm vorgenommene Auslegung höherrangigen Rechts noch die Nichtigerklärung nach Art. 264 Abs. 1 AEUV selbst. Auslegung und Nichtigerklärung wirken weiterhin auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens der Norm zurück. Dogmatisch erfasst die Fortwirkungsanordnung also die Folgen, die aus der Nichtigkeit zu ziehen sind, und nicht die Norm selbst, deren Inhalt unverändert bleibt.915 Ohne Rückwirkungsbeschränkung würde der nichtige Rechtsakt keinerlei Rechtswirkungen mehr erzeugen, mit der Beschränkung bleiben einige oder alle Wirkungen bestehen. Dadurch wird freilich der Geltungs- und Anwendungsbefehl des höherrangigen Unionsrechts zeitweilig mittelbar außer Kraft gesetzt. 910

Vgl. die einmalig gebliebenen Formulierungen in EuGH v. 5.6.1973 – Rs. 81/72 Kommission ./. Rat, Slg. 1973, 575 „[nichtige Artikel der VO] erzeugen weiterhin ihre Wirkung…“; EuG v. 29.6.2000 – Rs. T-7/99 Medici Grimm, Slg. 2000, II-2671 „[die für nichtig erklärte] Änderung der Zollsätze bleibt solange in Kraft, bis…“ und EuGH v. 21.1.2003 – Rs. C-378/00 Kommission ./. Parlament und Rat, Slg. 2003, I-937 „Bereits angenommene Durchführungsmaßnahmen sind von diesem Urteil nicht betroffen.“. 911 EuGH v. 31.3.1992 – Rs. C-284/90 Rat ./. Parlament, Slg. 1992, I-2277; EuGH v. 12.5.1998 – Rs. C-106/96 Großbritannien und Nordirland ./. Kommission, Slg. 1998, I-2729; EuGH v. 3.9.2009 – Rs. C-166/07 Parlament ./. Rat, Slg. 2009, I-7135: „Die Nichtigerklärung dieser Handlungen berührt nicht die Gültigkeit der Zahlungen und der Mittelbindungen, zu denen es bisher gekommen ist“. 912 EuGH v. 7.9.2006 – Rs. C-310/04 Spanien ./. Rat, Slg. 2006, I-7285 „Die Wirkungen dieser Nichtigerklärung werden ausgesetzt“. 913 Siehe z.B. EuGH v. 28.6.1988 – Rs. 7/87 Kommission ./. Rat, Slg. 1988, 3401 im Vergleich mit EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 59/81 Kommission ./. Rat, Slg. 1982, 3329. 914 Das ergibt sich schon daraus, dass die überwiegende Mehrheit aller Fälle aus den unterschiedlichsten Rechtsgebieten einheitlich tenoriert werden, vgl. § 7 Fn. 908. 915 Streinz-Ehricke, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2011, Art. 264 AEUV Rn. 8; Rengeling/Middeke/Gellermann-Dervisopoulos, EU-Rechtsschutz, 3. Aufl. 2014, § 7 Rn. 123; Nicolaysen, Europarecht I, 2. Aufl. 2002, S. 381; in diesem Sinne wohl auch Karpenstein, FS Sellner, 2010, S. 125, 127.

§ 7 Die Rechtsfolgenbestimmung der Rückwirkungsbeschränkung

297

Die Rückwirkungsbeschränkung ist daher materiellrechtlicher Natur und wie der Hauptsachetenor rechtsgestaltend. Der Gerichtshof verändert die materiellen Wirkungen der Nichtigerklärung. Die Fortwirkungsanordnung hat dieselbe erga omnes-Wirkung wie der Nichtigkeitstenor, wobei maßgeblich ist, dass die Rechtslage konstitutiv gestaltet und nicht nur deklaratorisch beschrieben wird. Jedes Rechtssubjekt kann sich folglich in einem Rechtsstreit auf die aufrechterhaltenen Wirkungen berufen. Gleichzeitig können diese Wirkungen grundsätzlich jedem Rechtssubjekt entgegengehalten werden. Hinsichtlich der Normen und Rechtsverhältnisse, die von der für nichtig erklärten Vorschrift abgeleitet sind, würde auch eine deklaratorische Wirkung der Fortwirkungsanordnung genügen, wenn jene von der Nichtigkeit der Unionsnorm sowieso nicht berührt würden. Hier beseitigt die Rückwirkungsbeschränkung nur eventuelle Unsicherheiten über die Folgen, die nach allgemeinen Grundsätzen aus der Aufhebung zu ziehen sind. Gleiches gilt für nationales Umsetzungsrecht bei Nichtigerklärung einer Richtlinie, denn dessen Status wird von der Aufhebung der zugrunde liegenden Richtlinie nicht berührt.916 Insoweit lässt sich die Wirkung von Art. 264 Abs. 2 AEUV als eine Mischung aus deklaratorisch und konstitutiv beschreiben.917 II. Auslegung und Auslegungsvorabentscheidung Im Auslegungsvorabentscheidungsverfahren fehlt es an Vorgaben zu der vom EuGH zu treffenden Anordnung. Verträge, Satzung und Verfahrensordnung schweigen dazu. Darüber hinaus folgt der Gerichtshof hinsichtlich der Tenorierung keiner klaren Linie. 1. Wortlautanalyse teilweise unergiebig Eine Analyse des Wortlauts der vorgenommenen Rückwirkungsbeschränkungen hilft nicht weiter. Der Gerichtshof arbeitet zuerst nicht deutlich heraus, was die Rückwirkungsbeschränkung dogmatisch ausmacht. So untersagt er einmal, man könne sich nicht auf die Auslegung stützen, ein anderes Mal sagt er, man könne sich nicht auf sie berufen, und schließlich, man könne sie nicht geltend machen. Mit diesen sprachlichen Uneinheitlichkeiten dürften jedoch keine sachlichen Differenzierungen einhergehen. Der Gerichtshof zitiert Entscheidungen, die auf „geltend machen“ lauteten später mit „sich darauf berufen“918 oder solche, die das Verb „stützen“ verwenden, später mit „sich beru-

916

Röttinger, EuZW 1993, 117, 120. Insoweit ist Daig, Nichtigkeits- und Untätigkeitsklagen im Recht der Europäischen Gemeinschaften, 1985, S. 197 f. zuzustimmen. 918 Z.B. EuGH v. 6.10.1993 – Rs. C-109/91 Ten Oever, Slg. 1993, I-4879 Tenor Nr. 2, die EuGH v. 17.5.1990 – Rs. C-262/88 Barber, Slg. 1990, I-1889 Tenor Nr. 5 zitiert. 917

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

fen“919. Betrachtet man zusätzlich die englische und französische Sprachfassung, nivellieren sich diese Unterschiede vollends. In den englischen Versionen aller beschränkenden Urteile wird „to rely on/upon“ verwendet, in allen französischen Fassungen „ne peut être invoqué(es)“. So zeigt sich, dass der Gerichtshof mit den verschiedenen deutschen Formulierungen keine unterschiedlichen inhaltlichen Aussagen machen will. Im Folgenden wird daher einheitlich „sich berufen“ verwendet, weil dies die häufigste vom EuGH verwendete Formulierung ist. Unklar bleibt zudem – und das wiegt schwerer – der Bezugspunkt der Rückwirkungsbeschränkung. Einerseits untersagt der Gerichtshof die Berufung auf die von ihm vorgenommene Auslegung,920 andererseits soll die ausgelegte Norm Anknüpfungspunkt sein921. Vereinzelt geblieben ist die Formulierung, sich nicht „auf das Urteil stützen zu können“.922 Die die Prüfung einleitende Überschrift lautet demgegenüber zumeist auf „Beschränkung der zeitlichen Wirkungen des Urteils“.923 Die Sprachverwirrung wird noch verstärkt, wenn man eine Gruppe von Tenorierungen hinzunimmt, welche die Berufung auf die „unmittelbare Wirkung“ einer Norm untersagen.924 Solch 919 Z.B. EuGH v. 27.3.1980 – Rs. 61/79 Denkavit italiana, Slg. 1980, 1205, der EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne II, Slg. 1976, 455 zitiert. 920 EuGH v. 27.3.1980 – Rs. 61/79 Denkavit italiana, Slg. 1980, 1205; EuGH v. 27.3.1980 – verb. Rs. 66/79, 127/79 und 128/79 Salumi u.a., Slg. 1980, 1237; EuGH v. 10.7.1980 – Rs. 811/79 Ariete, Slg. 1980, 2545 Rn. 7; EuGH v. 10.7.1980 – Rs. 826/79 Mireco, Slg. 1980, 2559 Rn. 8; EuGH v. 5.10.2006 – verb. Rs. C-290/05 und C-333/05 Nádasdi und Németh, Slg. 2006, I-10115 Rn. 63; EuGH v. 18.1.2007 – Rs. C-313/05 Brzezinski, Slg. 2007, I-513 Rn. 56; EuGH v. 6.3.2007 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Rn. 35; EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-161/06 Skoma-Lux, Slg. 2007, I-10841 Rn. 67; EuGH v. 1.4.2008 – Rs. C-267/06 Maruko, Slg. 2008, I-1757 Rn. 77; EuGH v. 3.6.2010 – Rs. C-2/09 Kalinchev, Slg. 2010, I-4939 Rn. 50; EuGH v. 21.10.2010 – Rs. C-242/09 Albron Catering, Slg. 2010, I-10309 Rn. 36. 921 EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-57/93 Vroege, Slg. 1994, I-4541 Rn. 21 die Defrenne IIEntscheidung zitierend; EuGH v. 19.9.2000 – verb. Rs. C-177/99 und C-181/99 Ampafrance und Sanofi, Slg. 2000, I-7013; EuGH v. 14.9.1995 – verb. Rs. C-485/93 und C-486/93 Simitzi, Slg. 1995, I-2655; EuGH v. 7.11.1996 – Rs. C-126/94 Cadi Surgelés, Slg. 1996, I-5647; EuGH v. 9.3.2000 – Rs. C-437/97 Evangelischer Krankenhausverein Wien u.a., Slg. 2000, I-1157; EuGH v. 9.9.2004 – Rs. C-72/03 Carbonati Apuani, Slg. 2004, I-8027. 922 EuGH v. 30.4.1996 – Rs. C-308/93 Cabanis-Issarte, Slg. 1996, I-2097 Tenor Nr. 2 (ebenso in der englischen und französischen Sprachfassung). 923 Z.B. EuGH v. 25.1.2007 – Rs. C-278/05 Robins, Slg. 2007, I-1053; EuGH v. 13.3.2007 – Rs. C-524/04 Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, Slg. 2007, I-2107; ähnlich EuGH v. 6.3.2007 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835; EuGH v. 13.4.2010 – Rs. C-73/08 Bressol u.a. und Chaverot u.a., Slg. 2010, I-2735; EuGH v. 21.10.2010 – Rs. C-242/09 Albron Catering, Slg. 2010, I-10309. 924 EuGH v. 2.2.1988 – Rs. 24/86 Blaizot u.a., Slg. 1988, 379; EuGH v. 17.5.1990 – Rs. C-262/88 Barber, Slg. 1990, I-1889; EuGH v. 6.10.1993 – Rs. C-109/91 Ten Oever,

§ 7 Die Rechtsfolgenbestimmung der Rückwirkungsbeschränkung

299

eine Formulierung ließe sich noch nachvollziehen, wenn in dem entschiedenen Fall, die unmittelbare Wirkung einer Norm gerade in Frage gestanden hätte.925 Bei der Anwendung von Art. 7 Abs. 1 EGV (Art. 12 Abs. 1 EG/Art. 18 Abs. 1 AEUV) auf konkrete Berufsausbildungen926 oder von Art. 119 EGV (Art. 141 EG/157 AEUV) auf private Rentensysteme927 war die unmittelbare Wirkung jedoch grundsätzlich nicht umstritten, sondern allein die sachliche Reichweite der betreffenden Unionsnormen. Die Formulierungen bedeuten eher, dass die unmittelbare Anwendung der Norm auf einen vor einem bestimmten Tag liegenden bestimmten Sachverhalt nicht möglich sein soll. Der Wortlaut der Rückwirkungsbeschränkungen ist demnach für eine Analyse unbrauchbar. Schon in der deutschen Sprachfassung werden die unterschiedlichen Bezugspunkte miteinander vermischt. Das ist beispielsweise der Fall, wenn der Gerichtshof eine auf die unmittelbare Wirkung bezogene Entscheidung als „auf die ausgelegte Bestimmung zu berufen“ wiedergibt.928 Darüber hinaus kommt es vor, dass in demselben Urteil verschiedene Varianten verwendet werden.929 Vergleicht man die deutsche zusätzlich noch mit den englischen oder französischen Sprachfassungen, wird deutlich, dass der EuGH die deutschen Formulierungen nicht einheitlich verwendet.930 2. Klagbarkeitsbeschränkung Die Antwort auf die Fragen, worauf sich bei einer Rückwirkungsbeschränkung eines Auslegungsurteils die Rechtsunterworfenen nicht berufen können und wie dieses „Nichtberufenkönnen“ dogmatisch zu verstehen ist, muss daher in den theoretischen Grundlagen der Auslegung gesucht werden. Slg. 1993, I-4879; EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, Slg. 1995, I-4921; EuGH v. 4.5.1999 – Rs. C-262/96 Sürül, Slg. 1999, I-2685. Auch die englischen und französischen Fassungen bezogen sich auf „the direct effect“ bzw. „l'effet direct“. 925 Wie zum Beispiel in EuGH v. 4.5.1999 – Rs. C-262/96 Sürül, Slg. 1999, I-2685. 926 EuGH v. 2.2.1988 – Rs. 24/86 Blaizot u.a., Slg. 1988, 379. 927 EuGH v. 17.5.1990 – Rs. C-262/88 Barber, Slg. 1990, I-1889. 928 Vgl. nur EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-57/93 Vroege, Slg. 1994, I-4541 Rn. 21, der EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne II, Slg. 1976, 455 zitiert. 929 EuGH v. 16.7.1992 – Rs. C-163/90 Legros u.a., Slg. 1992, I-4625 Rn. 30 bzw. Rn. 35. Diese Unsicherheit scheint sich auch auf das Bundesverfassungsgericht übertragen zu haben, wenn in BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, Rn. 84 (Honeywell) in aufeinanderfolgenden Sätzen einmal von „Wirkung einer Vorabentscheidung zeitlich beschränken“ und einmal von „die Wirkung der in [den EuGH-] Entscheidungen vorgenommenen Auslegung zeitlich beschränken“ die Rede ist. 930 Vgl. z.B. EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-161/06 Skoma-Lux, Slg. 2007, I-10841 Rn. 67 und EuGH v. 21.10.2010 – Rs. C-242/09 Albron Catering, Slg. 2010, I-10309 Rn. 36, die beide in der deutschen Fassung auf „die Auslegung, die der Bestimmung gegeben wurde“ abstellen, während die englische Fassung „relying on a provision which it has interpreted“ und die französische Fassung „d’invoquer une disposition qu’elle a interprétée“ lauten.

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

Wie oben erläutert, hat die Auslegung einer Norm keine eigenständigen Wirkungen, die sich von der ausgelegten Norm unterscheiden oder gar ablösen ließen; Auslegungswirkung ist Normwirkung.931 Der Gerichtshof zieht aus der vorgenommenen Auslegung selbst keine weiteren Folgen. Das Urteil endet mit der begehrten Auslegung. Eine über die Auslegung hinausgehende Wirkung wird vom Gerichtshof weder tenoriert noch inzident festgestellt. Die Anwendung des Unionsrechts auf das nationale Recht obliegt nämlich dem vorlegenden, mitgliedstaatlichen Gericht. Deshalb wird hier weder die Auslegung mit zeitlich begrenzter Wirkung vorgenommen,932 noch der Auslegung ihre Wirkung bei bestimmten Rechtsbeziehungen abgesprochen933. Als Bezugspunkt der Rückwirkungsbeschränkung kommt weiterhin nicht das Urteil in Betracht.934 Weder der Auslegung noch dem Auslegungsurteil selbst kommt erga omnes-Wirkung zu. In einem späteren Prozess berufen sich die Parteien auf die ausgelegte Norm und behaupten deren Anwendbarkeit oder einen bestimmten Inhalt. Es handelt sich ebenso nicht um die Beschränkung der Wirkungen des Urteils.935 Es ist keine Voraussetzung für die Geltendmachung einer Norm, dass der Gerichtshof diese ausgelegt oder ihr einen bestimmten Inhalt gegeben hat. Die Möglichkeit der Berufung auf eine Norm ist eine Wirkung der Norm und nicht eines (auslegenden) Urteils; insbesondere stellt der Tenor eines EuGH-Urteils keine eigenständige (Meta-) Norm oder Rechtsquelle dar936. Daher stellt sich die Rückwirkungsbeschränkung als Beschränkung der Wirkungen der Norm anlässlich eines Urteils dar.937 Die Beschränkung der Auslegungsrückwirkung verhindert die Geltendmachung der Norm. Der Gerichtshof nimmt den Parteien und anderen betroffenen Rechtssubjekten das Recht, sich auf diese Norm in der ihr gegebenen Auslegung zu berufen. Er beseitigt die Klagbarkeit der aus der ausgelegten 931

Siehe oben § 3 D.I.2.a), S. 46. A.A. Schlachter, ZfA 2007, 249, 266. 933 A.A. GA Colomer, SchlA v. 26.3.1998 – Rs. C-231/96 Edilizia Industriale Siderurgica Srl (Edis), Slg. 1998, I-4951 Rn. 29. 934 In diese Richtung deutet aber EuGH v. 30.4.1996 – Rs. C-308/93 Cabanis-Issarte, Slg. 1996, I-2097; EuGH v. 15.9.1998 – Rs. C-231/96 Edilizia Industriale Siderurgica Srl (Edis), Slg. 1998, I-4951 Rn. 17. Wohl auch Lenaerts/Arts/Masels/Bray, Procedural Law of the European Union, 2. Aufl. 2006, Rn. 6-034. 935 So aber GA Cosmas, verb. SchlA v. 8.10.1998 – Rs. C-50/96 u.a. Schröder u.a., Slg. 2000, I-743 Rn. 62: „Dagegen besteht die Beschränkung der Wirkungen des Urteils darin, daß sie den Bürger lediglich die Möglichkeit nimmt, die Rechte geltend zu machen und auszuüben, die aus der wie oben angegeben ausgelegten und geltenden Bestimmung erwachsen.“ (Hervorhebung vom Verfasser); ebenso ausdrücklich Kokott/Henze, NJW 2006, 177, 178. 936 So aber Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, 2002, S. 316 f. 937 Im Ergebnis ebenso Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 43. 932

§ 7 Die Rechtsfolgenbestimmung der Rückwirkungsbeschränkung

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Norm folgenden Rechte.938 Der materielle Inhalt der Norm wird dabei nicht verändert. Der Norminhalt ist identisch für die Zeit vor und nach dem Urteil (oder des im Urteil gewählten Zeitpunkts).939 Legt man dieses Verständnis zugrunde, wird besonders der Konflikt mit dem Grundsatz des (Individual-) Rechtsschutzes deutlich. Die vorliegende Frage darf jedoch nicht mit der Diskussion um die Bedeutung der Durchsetzbarkeit für das materielle Bestehen eines subjektiven Rechts verwechselt werden.940 Hier geht es nur um eine temporäre Durchsetzungsschranke, nicht wie dort um den generellen Ausschluss der Rechtsverfolgung. Die Klagbarkeitsbeschränkung des Gerichtshofs stellt sich als Grenze der prozessualen Möglichkeiten des Einzelnen dar und nicht als materielle Beschränkung seiner Rechte. Bei der prozessualen Schranke steht dem Bürger der (geltend gemachte) Anspruch materiell zu oder ist die (angegriffene) Entscheidung der Verwaltung materiell rechtswidrig. Der Gerichtshof unterscheidet demnach zwischen dem Inhalt des materiellen Rechts und dem Ausgang eines Rechtsstreits. Letzterer kann aufgrund überpositiver Rechtssicherheitserwägungen von der materiellen Rechtslage abweichen.941 Die Klagbarkeitsbeschränkung stellt deshalb keine Rechtfertigung eines eventuellen Verstoßes gegen die Grundfreiheiten dar und ändert damit nicht die diesbezügliche Dogmatik.942 Der Ausschluss der Geltendmachung der Norm erfasst nicht nur die Begründung eines Anspruchs oder einer Klage. Der Rechtsunterworfene kann sich ebenso nicht auf die Norm berufen, um eine Einrede (im weitesten Sinne) zu stützen. Ein Berufen auf eine Richtlinie liegt ebenso vor, wenn für deren fehlerhafte Umsetzung Schadensersatz nach den Grundsätzen des unionalen Staatshaftungsanspruchs verlangt wird,943 oder wenn Erstat-

938

Ähnlich Langenfeld, Die Gleichbehandlung von Mann und Frau im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1990, S. 90: Beschränkung „der gerichtlichen Effektuierung der auf Art. 119 [EGV] gestützten Ansprüche“; ebenso Kruis, Der Anwendungsvorrang des EURechts in Theorie und Praxis, 2013, S. 206 f. „prozessuale Maßnahme, mit der dem Einzelnen die Möglichkeit genommen wird, sich auf die vom EuGH ausgelegte Bestimmung zu berufen, um seine Rechte geltend zu machen“; in diesem Sinne wohl auch Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, 2006, S. 293. 939 Insofern richtig GA Cosmas, verb. SchlA v. 8.10.1998 – Rs. C-50/96 u.a. Schröder u.a., Slg. 2000, I-743 Rn. 62. 940 Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 380 ff. 941 Insofern deckt sich die Klagbarkeitsbeschränkung mit dem dreistufigen Modell der Gesetzesanwendung, wonach Vertrauensschutzerwägungen keine Grenze der Auslegung, sondern nur der Anwendung des ausgelegten Rechts sind, vgl. Rüthers/Höpfner, JZ 2005, 21, 24 f.; Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 141 ff.; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl. 2013, Rn. 730b. 942 Dies wurde oftmals im steuerrechtlichen Schrifttum befürchtet, vgl. statt vieler Kaminski, Stbg 2005, 230. 943 Vgl. auch Magnus, GPR 2006, 121, 123 f.

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tungsansprüche im Streit stehen944. Die „prozessuale“ Geltendmachung beschränkt sich weiterhin nicht auf den Gerichtsprozess. Die Betroffenen können sich auch in außergerichtlichen privaten oder Verwaltungsstreitigkeiten nicht auf die Unionsnorm berufen. Eine Klage, die auf die rückwirkungsbeschränkte Norm gestützt ist, wäre jedoch auch hier als unbegründet abzuweisen. Die Berufensschranke lässt sich schließlich nicht als Beschränkung der Bindungswirkung des EuGH-Urteils verstehen. Zwar stellt bei Rechtsprechungsänderungen die Bindungswirkung des Präjudizes den Vertrauenstatbestand her.945 Es besteht dennoch kein Grund die Bindungswirkung des neuen Urteils für die Vergangenheit einzuschränken.946 Der EuGH enthält sich nämlich nicht einer Entscheidung über die in der Vergangenheit liegenden Fälle. Sein Urteil bindet in üblicher Weise, nur inhaltlich differenziert für vergangene und zukünftige Sachverhalte. 3. Der Unterschied zu einer materiellen Beschränkung des Anwendungsbereichs („Anwendbarkeitsbeschränkung“) Wäre die Beschränkung materiellrechtlicher Natur, würde der Inhalt der ausgelegten Norm verändert.947 Diese Modifikation müsste den sachlichen, personellen und/oder zeitlichen Anwendungsbereich der Norm umfassen. Die ausgelegte Vorschrift würde vor dem Urteilstag (oder einem anderen zu bestimmenden Zeitpunkt) einen bestimmten Sachverhalt (i.e. den abstrahierten Tatbestand) unter Beteiligung bestimmter Personen (i.e. alle, die noch keinen Rechtsbehelf eingelegt haben) nicht mehr regeln. Die ausgeschlossenen Personen könnten sich dann deshalb nicht auf die Norm berufen, weil sie gar nicht in deren Anwendungsbereich fallen. Ein privatrechtlicher Anspruch stünde den Rechtsunterworfenen nicht zu oder eine ihn betreffende Verwaltungsentscheidung wäre materiell rechtmäßig. Bei der Anwendbarkeitsbeschränkung träte der Konflikt mit dem Normanwendungsbefehl des Gesetzgebers besonders deutlich hervor. Die materielle Modifikation des Norminhalts käme einer temporären Normkassation sehr nahe. Die Klagbarkeitsbeschränkung hingegen setzt sich nicht über den Inhalt der Norm hinweg, sondern „nur“ über einzelne ihrer Wirkungen. Die944 Saßenroth, Die Bestandskraft deutscher Steuerbescheide im Licht der Rechtsprechung des EuGH, 2009, S. 51 f. 945 Vgl. nur Keil, Die Systematik privatrechtlicher Rechtsprechungsänderungen, 2007, S. 240 f. zum deutschen Recht. 946 In diesem Sinne wohl Vogel, StuW 2005, 373, 375; Germelmann, Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen in der Europäischen Union, 2009, S. 422 f. 947 So versteht die Rückwirkungsbeschränkung wohl Wißmann, FS Bauer, 2010, S. 1161, 1164 („anderer Inhalt“); ähnlich Buschhaus, JA 1992, 142, 147 („neuer Anspruch begründet“).

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ser Unterschied dürfte vom Blickwinkel der Gewaltenteilung jedoch keine große Bedeutung haben. In einem solchen Sinne ist die Rückwirkungsbeschränkung stets gestaltend oder „rechtssetzend“.948 4. Vor- und Nachteile der sui generis-Lösung des EuGH Die Lösung des Gerichtshofs mit einer Rückwirkungsbeschränkung sui generis hat einige Vorteile. Zuerst vermeidet sie einen Konflikt mit der theoretischen Rückwirkung und insbesondere mit der deklaratorischen Theorie, denn die ausgelegte Norm behält über die Zeit den gleichen Inhalt.949 Insoweit ist das theoretische Konzept des Gerichtshofs durchaus schlüssig. Aber auch wenn man der deklaratorischen Theorie nicht folgen will, vermeidet die prozessuale Lösung, dass der Inhalt der ausgelegten Norm je nach Auslegungszeitpunkt gespalten ist. Außerdem ist diese Form der Gestaltung von Ausnahmen nicht unbekannt. Im Unionsrecht liegt sie beispielsweise dem Grundsatz des Rechtsmissbrauchs zugrunde.950 Dort darf der bestehende Anspruch unter bestimmten Umständen nicht mehr geltend gemacht werden.951 Im deutschen Recht wirkt der § 242 BGB – wie viele andere Institute – als Schranke der Durchsetzbarkeit eines formal weiterbestehenden Rechts. Demgegenüber würde sich eine Begrenzung des materiellen Inhalts der Norm (sachlicher/personeller/zeitlicher Anwendungsbereich) besser in die sonstigen dogmatischen Strukturen einfügen. So ließe sich mit einer materiellen Rückwirkungsbeschränkung leichter erklären, warum die rückwirkungsbeschränkte Norm für den betreffenden Zeitraum nicht Maßstab einer Konformauslegung sein kann. Da sich nämlich der Anwendungsbereich der Norm nicht auf den streitigen, vor dem Rückwirkungszeitpunkt liegenden Sachverhalt erstrecken würde, könnte sie auch keine Vorgabe für das durch eine Konformauslegung zu erreichende Ergebnis machen. Die prozessuale Klagbarkeitsbeschränkung muss hier mit einer „mittelbaren Berufung“ auf die in

948 Saßenroth, Die Bestandskraft deutscher Steuerbescheide im Licht der Rechtsprechung des EuGH, 2009, S. 51 f.; Tanzer, Die Rückforderung gemeinschaftsrechtswidrig erhobener Abgaben, 2000, S. 207, 210. 949 Aus ebendiesem Grund sieht Schima, Zur Wirkung von Auslegungsentscheidungen des EuGH, 2000, S. 280, 302 die Rückwirkungsbeschränkungsrechtsprechung als Indiz dafür an, dass der EuGH nicht der deklaratorischen Theorie folgt. 950 Über die Anerkennung und Kontur des Grundsatzes besteht noch Streit, vgl. Reuß, „Forum Shopping“ in der Insolvenz, 2011, S. 231 ff. m.w.N.; Rybarz, Billigkeitserwägungen im Kontext des Europäischen Privatrechts, 2011, S. 166 ff. m.w.N.; Zimmermann, Das Rechtsmißbrauchsverbot im Recht der Europäischen Gemeinschaften, 2002. 951 Im Einzelnen ist streitig und wird vom EuGH nicht einheitlich behandelt, ob das geltend gemachte Recht nicht besteht (sog. Innentheorie) oder das bestehende Recht beschränkt wird (sog. Außentheorie), vgl. Reuß, „Forum Shopping“ in der Insolvenz, 2011, S. 248 ff. m.w.N.

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Frage stehende Norm arbeiten, jedenfalls aber den Begriff der „Berufung“ weit fassen. Im Übrigen liefert die Klagbarkeitslösung genauso ausdifferenzierte Ergebnisse wie eine materielle Beschränkung. Abgrenzungen im personellen, zeitlichen oder sachlichen Anwendungsbereich lassen sich mit der Klagbarkeitslösung ohne Weiteres durchführen. Man würde dann nur von „personeller Reichweite der Klagbarkeit“ sprechen und nicht vom „personellen Anwendungsbereich“ der Norm. Beide Lösungen können darüber hinaus nicht nur die komplette Unanwendbarkeit einer Norm sicherstellen, sondern auf einzelne Bereiche begrenzt werden. Erstreckt der Gerichtshof beispielsweise das bereits anerkannte Verständnis einer Norm auf einen ähnlichen Sachverhalt und bejaht er die Voraussetzungen einer Rückwirkungsbeschränkung, können beide Modelle diese sachliche Beschränkung abbilden.952 Bei der Klagbarkeitslösung würde die Nichtklagbarkeit auf den neuen Sachverhalt beschränkt und bei der materiellen Beschränkung der sachliche Anwendungsbereich der ausgelegten Norm. Ebenso könnten es beide Modelle darstellen, wenn einer nur mittelbar auf Privatrechtsverhältnisse anwendbaren Norm eines anerkannten Inhalts vom Gerichtshof nun eine unmittelbare Wirkung beigemessen würde. Die Klagbarkeitslösung beschränkt hier die unmittelbare Berufung auf die Norm, lässt aber die bisher schon anerkannte mittelbare Berufung weiterhin zu. Die Anwendbarkeitsbeschränkung tut sich schwerer, weil sie neben den materiellen noch prozessuale Kriterien für die Anwendbarkeit einer Norm einführen muss. Die Klagbarkeitslösung ermöglicht jedoch – anders herum besehen – auch keine besseren Ergebnisse als die materielle Beschränkung. Schließlich ist klarzustellen, dass der Gerichtshof durch die Anknüpfung an die Klagbarkeit keinen Begründungsaufwand spart. Die Klagbarkeitsbeschränkung hat die gleichen Anforderungen und führt zu den gleichen Ergebnissen wie eine materielle Rückwirkungsbeschränkung. Beide unterscheiden sich allein in ihrer dogmatischen Einordnung.953 5. Normativer Gehalt Die Rückwirkungsbeschränkung stellt sich – unabhängig von ihrer Einordnung als Klagbarkeitsbeschränkung oder Anwendbarkeitsbeschränkung – ausschließlich als temporäre und partielle Negation einer Norm oder eines bestimmten Norminhalts dar. Sie hat selbst keinen über diese Negation hinausgehenden normativen Gehalt. Sie ist weder Verbot oder Gebot, noch Er-

952 Zur sachlichen Reichweite der Rückwirkungsbeschränkung im Einzelnen unten § 7 B.I., S. 314 ff. 953 Deshalb ist auch die Einordnung im Prüfungsaufbau für beide Ansichten gleich. Die vom Gerichtshof ausgelegte Norm bestimmt die Stellung im Prüfungsschema.

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laubnis oder Freistellung.954 Sie ist nur eine Verneinung, eine Suspendierung, des normativen Befehls der rückwirkungsbeschränkten Norm. Die Rückwirkungsbeschränkung kehrt insbesondere nicht den Normbefehl um, macht also beispielsweise aus einem Gebot X nicht das Gebot Nicht-X.955 Darum stellt sich die Frage nach einer eigenständigen Vorrangwirkung der Rückwirkungsbeschränkung nicht.956 An die Stelle des temporär negierten Unionsrechts tritt nicht stets das nationale Recht.957 Der Gerichtshof begreift die Auslegungsrückwirkungsbeschränkung als ein ausschließlich innerunionales Rechtsproblem. Deshalb nimmt das übrige Unionsrecht die Stelle des verdrängten Unionsrechts ein.958 Da das sonstige Recht jedoch zumeist keine Regelungen für den fraglichen Sachverhalt enthält, kommt es zu einem faktischen Vorrang des mitgliedstaatlichen Rechts. Dennoch können selbst dann die mitgliedstaatlichen Gestaltungsspielräume eingeschränkt sein, insbesondere im vereinheitlichten Wettbewerbs- oder Agrarrecht und bei sonstigen Vollharmonisierungen. Im Bereich der Gleichbehandlung ist dies hingegen grundsätzlich nicht der Fall, da dort das Unionsrecht strengeren nationalen Vorschriften regelmäßig nicht entgegensteht. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass eine Ungleichbehandlung zweier Vergleichsgruppen zu einem Regelungskonzept gehört und daher fortgelten würde, wenn die Änderungsnorm zeitlich beschränkt wurde. Deutlich wird dies am Beispiel der Rechtssache Defrenne II: Ob das mitgliedstaatliche Recht auch für die Zeit vor der „neu entdeckten“ unmittelbaren Anwendbarkeit von Art. 119 Abs. 1 EGV (Art. 157 Abs. 1 AEUV) eine inhaltsgleiche Vorschrift aufrechterhalten konnte, beurteilte sich nach dem sonstigen anwendbaren Unionsrecht, welches unter Außerachtlassung des gefundenen Auslegungsergebnisses von Art. 119 Abs. 1 EGV [Art. 157 Abs. 1 AEUV] zu ermitteln war. Da in Defrenne II die Rückwirkung nur im Hinblick auf die unmittelbare Anwendbarkeit beschränkt wurde, waren die Mitgliedstaaten im Verhältnis zur Union auch vor dem Zeitpunkt des Urteils verpflichtet, geschlechtsbezogene Entgeltdiskriminierungen zu verhindern. Schon daraus folgte, dass eine entsprechende Regelung nicht gegen die

954

A.A. Besselink, CMLRev 38 (2001), 437, 451 für die Rückwirkungsbeschränkung in der Rs. 43/75 Defrenne II, der ihr freistellenden Charakter zuspricht. 955 In diesem Sinne Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, 2006, S. 295, 304 f.; Colneric, EuZW 1991, 75, 76; a.A. Prechal, Directives in EC Law, 2. Aufl. 2005, S. 229; offenbar auch Thannheiser, AiB 1997, 127, 128. 956 Das übersieht z.B. Wölker, EuR 2007, 32, 51. 957 A.A. Weiß, EuR 1995, 377, 382; Calliess/Ruffert-Krebber, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 157 AEUV Rn. 8. 958 Bei einer Rechtsprechungsänderung muss das übrige Unionsrecht entsprechend unter Berücksichtigung der alten statt der neuen Rechtsprechung ermittelt werden.

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Rückwirkungsbeschränkung verstoßen konnte.959 Hätte – hypothetisch – das Unionsrecht außerhalb der unmittelbaren Anwendung von Art. 119 EGV [Art. 157 AEUV] den Mitgliedstaaten freigestellt, wie sie mit entgeltbezogenen Geschlechtsdiskriminierungen verfahren, hätten die Mitgliedstaaten Regelungen aufrechterhalten können, die solche Diskriminierungen verbieten oder sie gestatten oder gar vorschreiben. Deshalb kam es nicht darauf an, ob das mitgliedstaatliche Recht das Ziel des rückwirkungsbeschränkten Art. 119 EGV (Art. 157 AEUV) gleichsam durch zeitliche Vorauseilung übererfüllte.960 Die Rückwirkungsbeschränkung selbst kann nicht einmal verbieten, dass eine nationale Regelung die Ziele einer rückwirkungsbeschränkten Norm konterkariert. Ein entsprechendes Verbot muss stets aus dem sonstigen Unionsrecht begründet werden. Denkbar wären beispielsweise eine ausschließliche Regelungskompetenz der Union für entgeltbezogene Diskriminierungen im Sinne von Art. 119 EGV (Art. 157 AEUV), weshalb von dessen Inhalt dann nicht abgewichen werden könnte, oder ein Abweichungsverbot aufgrund des wettbewerbsrechtlichen Normzwecks des Art. 119 EGV (Art. 157 AEUV)961.962

959

In diesem Sinne Huep, RdA 2001, 325, 331 f.; i.Erg. auch EuGH v. 10.2.2000 – verb. Rs. C-270/97 und C-271/97 Sievers und Schrage, Slg. 2000, I-929; ähnlich Boecken, EAS Teil C, Nr. 33 zu Art. 119 EG, S. 78. 960 A.A. GA Cosmas, verb. SchlA v. 8.10.1998 – Rs. C-50/96 u.a. Schröder u.a., Slg. 2000, I-743 Rn. 68; Huep, Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf ältere Sachverhalte, 2001, S. 104 f., der es als „eingeschränkte ‚Günstigkeitsbetrachtung‘„ ansieht (ihm folgend Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 168 f.); Besselink, CMLRev 38 (2001), 437, 451; Blomeyer, EWiR 2000, 389, 390; wohl auch EuGH v. 10.2.2000 – Rs. C-50/96 Schröder, Slg. 2000, I-743 Rn. 47; EuGH v. 10.2.2000 – verb. Rs. C-270/97 und C-271/97 Sievers und Schrage, Slg. 2000, I-929 Rn. 49; EuGH v. 10.2.2000 – verb. Rs. C-234/96 und C-235/96 Vick und Conze, Slg. 2000, I-799 Rn. 47; Ellis, ELRev 2000, 564, 568; Lörcher, AuR 2000, 168, 169 f.; Schlachter, ZfA 2007, 249, 269. I.Erg. wie hier Shaw, Gender and the Court of Justice, 2001, S. 87, 123 f., die aber davon ausgeht, der EuGH habe im Lichte der Auseinandersetzungen mit dem deutschen Bundesverfassungsgericht über den Grundrechtsschutz Rücksicht auf nationale Empfindlichkeiten nehmen wollen; s.a. Kirchner, Rückwirkungsproblematik bei der betrieblichen Altersversorgung nach europäischem und deutschem Recht, 2000, S. 187 ff. (unter Rückgriff auf den Subsidiaritätsgrundsatz). 961 Ausdrücklich abgelehnt von EuGH v. 10.2.2000 – Rs. C-50/96 Schröder, Slg. 2000, I-743 Rn. 53 ff.; EuGH v. 10.2.2000 – verb. Rs. C-270/97 und C-271/97 Sievers und Schrage, Slg. 2000, I-929 Rn. 53 ff.; deshalb kritisch Huep, RdA 2001, 325, 332 f.; zum Schutz der Chancengleichheit durch Art. 157 AEUV Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 8 Rn. 4 m.w.N. in Fn. 12. 962 Weiterhin kommen andere Frustrationsverbote in Betracht wie bei der Vorwirkung von Richtlinien, dazu z.B. Riesenhuber-Hofmann, Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 15.

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6. Auslegungsrückwirkungsbeschränkung in anderen Verfahrensarten Die soeben geschilderten Grundsätze gelten nicht nur für die Rückwirkungsbeschränkung im Auslegungsvorlageverfahren, sondern ebenso, wenn die Auslegungsrückwirkung in anderen Verfahrensarten beschränkt wird. Sie setzen sich auch durch, wenn in einem einzigen Fall die Tatbestandsvoraussetzungen von Auslegungs- und Unwirksamkeitsrückwirkungsbeschränkung erfüllt sind. Dazu muss man sich vergegenwärtigen, dass die Auslegungsbeschränkung aufgrund der Bindungswirkung der Auslegung inhaltlich weiter reicht. Die Beschränkung der Klagbarkeit einer Unionsnorm gilt nicht nur für den Anwendungsfall des konkreten Verfahrens (also beispielsweise die Unwirksamkeit der Verordnung X), sondern auch für alle weiteren Anwendungsfälle der ausgelegten Norm (also beispielsweise die Unwirksamkeit der gleichlautenden Verordnungen Y oder im Hinblick auf eine vergleichbare nationale Vorschrift Z). Eine materielle Rückwirkungsbeschränkung wäre von ihren Wirkungen auf die aufgehobene Norm begrenzt, weil der Unwirksamkeitstenor auf die konkrete Norm begrenzt ist und von der Unwirksamkeit der Verordnung X die Vorschriften Y und Z nicht berührt werden. Daher muss sich bei Überschneidungen die Auslegungsrückwirkung (und damit deren Rechtsfolgen) durchsetzen. Eine denkbare Alternative wäre, auch in diesem Fall eine Fortwirkungsanordnung nach Art. 264 Abs. 2 AEUV (analog) zu treffen und das Urteil bei späteren Sachverhalten wie eine Auslegungsrückwirkungsbeschränkung zu berücksichtigen. Es würde dann in gleichem Maße abweichenden guten Glauben zerstören oder als Anknüpfungspunkt für die Rückwirkungsbeschränkung eines späteren Urteils dienen können. Diese Lösung hätte jedoch einen erheblichen Nachteil. Nur durch eine genaue Analyse der Entscheidungsgründe würde sich ergeben, dass die Rückwirkungsbeschränkung nicht auf Besonderheiten des Rechtsakts oder seiner Ziele/Zwecke beruht, sondern auf einem Fehlverständnis des maßgeblichen höherrangigen Rechts. So würden das Verständnis der EuGH-Entscheidungen erschwert und dogmatische Unterschiede ohne Not verwischt. Für das Vertragsverletzungsverfahren folgt daraus, dass die Rückwirkungsbeschränkung die Rechtswidrigkeit des angeklagten nationalen Verhaltens nicht berührt. Aus der Feststellung der Vertragsverletzung können für die Betroffenen jedoch keine Folgerungen gezogen werden, da die Rückwirkungsbeschränkung gesamtwirtschaftlich relevante Vermögensverschiebungen verhindern will. Ähnliches gilt für die Unwirksamkeitsverfahren. Dort ist der angegriffene Rechtsakt rechtswidrig und ungültig beziehungweise nichtig. Auch daraus können die Rechtsunterworfenen jedoch kein Rückzahlungsverlangen ableiten. Die Auslegungsrückwirkungsbeschränkung hat in Bezug auf den einzelnen Rechtsakt die gleichen Ergebnisse wie eine Fortwirkungsanordnung nach Art. 264 Abs. 2 AEUV. Die abweichende Dogmatik der Ausle-

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gungsrückwirkungsbeschränkung stellt darüber hinaus sicher, dass neben der Rechtswidrigkeit der angegriffenen Norm auch weitere Sachverhalte von der Beschränkung erfasst werden. Die Unwirksamkeit der angegriffenen Norm ist nur hier eine Variante des Berufens auf die Auslegung der höherrangigen Unionsnorm. III. Ungültigkeitsvorabentscheidung Als erstaunlich uneinheitlich erweisen sich die Tenorierungen im Ungültigkeitsvorabentscheidungsverfahren. Nur eine von sechs unterschiedlichen Formulierungen hat der Gerichtshof mehrmals verwendet. Während die englischen Sprachfassungen sogar noch mehr unterschiedliche Versionen enthalten, beschränken sich die französischen Texte auf vier Formulierungen. Aufgrund der analogen Anwendung von Art. 264 Abs. 2 AEUV und seiner Vorgängerfassungen auf das Ungültigkeitsverfahren963 würde man erwarten, dass sich die Tenorierung an der der Nichtigkeitsklage orientiert. Jedoch verwendet der Gerichtshof hier eine Kombination aus den Formulierungen der Nichtigkeitsklage und denen der Auslegungsvorlage. Einerseits ist Bezugspunkt die „festgestellte Ungültigkeit“964 oder deren „Wirkungen“965, andererseits schließt er die „Berufung“966 auf die Ungültigkeit oder „Geltendmachung“967 der Ungültigkeit aus. 1. Grundsatz: Aufrechterhalten materieller Wirkungen Für eine der Nichtigkeitsklage vergleichbare Dogmatik lassen sich die Analogie zu Art. 264 Abs. 2 AEUV und die entsprechenden Argumente anführen. Die Ungültigerklärung ähnelt in ihren Voraussetzungen und Wirkungen deutlich mehr dem Nichtigkeitsverfahren als dem Auslegungsverfahren. Auch die personelle Ausnahme von der Rückwirkungsbeschränkung könnte der Gerichtshof bei der Nichtigkeitsklage einführen, so dass keine Notwendigkeit 963

Siehe oben § 5 B., S. 115 ff. EuGH v. 15.10.1980 – Rs. 4/79 Providence agricole de la Champagne, Slg. 1980, 2823; EuGH v. 15.10.1980 – Rs. 109/79 Maieseries de Beauce, Slg. 1980, 2883; EuGH v. 15.10.1980 – Rs. 145/79 Roquette Frères, Slg. 1980, 2917; EuGH v. 27.2.1985 – Rs. 112/83 Produits de Maïs, Slg. 1985, 719; EuGH v. 22.5.1985 – Rs. 33/84 FRAGD, Slg. 1985, 1605; EuGH v. 26.4.1994 – Rs. C-228/92 Roquettes Frères ./. Hauptzollamt Geldern, Slg. 1994, I-1445; EuGH v. 15.1.1986 – Rs. 41/84 Pinna, Slg. 1986, 1; EuGH v. 13.11.1990 – Rs. C-99/89 Yanez-Campoy, Slg. 1990, I-4097 (das Pinna-Urteil zitierend). 965 EuGH v. 22.12.2008 – Rs. C-333/07 Régie Networks, Slg. 2008, I-10807. Auf die Wirkungen des Ungültigkeitsurteils stellt ab GA Villalón, SchlA v. 8.12.2011 – Rs. C-533/10 CIVAD, EU:C:2011:819 Rn. 43. 966 EuGH v. 26.4.1994 – Rs. C-228/92 Roquettes Frères ./. Hauptzollamt Geldern, Slg. 1994, I-1445. Dort hatte schon das vorlegende Gericht diese Formulierung verwendet. 967 EuGH v. 10.3.1992 – verb. Rs. C-38/90 und C-151/90 Lomas u.a., Slg. 1992, I-1781. 964

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besteht, aus diesem Grund die Nähe zur Auslegungsvorlage zu suchen.968 Die Rückwirkungsbeschränkung im Ungültigkeitsverfahren ist daher materieller Natur. Sie erhält analog zu Art. 264 Abs. 2 AEUV einzelne oder alle Wirkungen einer rechtswidrigen Norm oder ganzen Handlung im Sinne von Art. 288 Abs. 1 AEUV für einen bestimmten Zeitraum aufrecht.969 2. Aussetzen der Wirkungen der Ungültigerklärung – Die Rechtssache Régie Networks Einen ungewöhnlichen Inhalt hatte demgegenüber die Rückwirkungsbeschränkung in der Rechtssache Régie Networks. Der Fall betraf eine französische Regelung, nach der Hörfunkunternehmen mit geringen Werbeeinnahmen zu fördern waren. Die erforderlichen Finanzmittel wurden durch eine Abgabe aufgebracht, die alle Unternehmen zu zahlen hatten, die Werbung im Hörfunk vermarkteten. Der Gerichtshof hielt die Entscheidung der Kommission über die Gestattung dieser Beihilfe wegen eines Ermessensfehlers für mit dem Unionsrecht unvereinbar, beschränkte aber die Rückwirkung seiner Ungültigkeitsentscheidung. Trotz Bezugnahme auf die etablierte Rechtsprechung zu Art. 264 Abs. 2 AEUV hielt er jedoch nicht die rechtswidrige Beihilfeentscheidung der Kommission aufrecht, sondern setzte die Wirkungen seiner Feststellung der Ungültigkeit bis zum Erlass einer neuen Entscheidung durch die Kommission aus.970 Im Gegensatz zur üblichen Wirkung einer Anordnung nach Art. 264 Abs. 2 AEUV wurden damit die Ungültigkeitswirkungen nicht auf die Zukunft beschränkt, sondern nur das Eintreten der rückwirkenden Ungültigkeit auf einen späteren Zeitpunkt verlegt.971 Das Eintreten aller Wirkungen der Ungültigkeit für die Vergangenheit wurde nicht aufgehoben, sondern aufgeschoben. Dieser Unterschied hat ganz erhebliche Bedeutung, denn in der Vergangenheit erhaltene Beihilfen sind damit nach Fristablauf zu erstatten. Der EuGH wollte nur verhindern, dass die fraglichen Beträge aufgrund des Urteils zurückgezahlt werden müssen und nach Erlass einer möglichen erneuten genehmigenden Beihilfeentscheidung der Kommission ein zweites Mal ausgezahlt werden.972 968

A.A. Düsterhaus, EuZW 2006, 393, 395. Eingehend dazu unten § 7 D.II., S. 368 ff. Anders Pietrek, Verbindlichkeit von Vorabentscheidungen nach Art. 177 EWGV, 1989, S. 44 f., 226, der von einer Berufensschranke ausgeht; ebenso Rengeling, FS Everling, 1995, S. 1187, 1194, der zwischen der Aufrechterhaltung der Wirkungen des unwirksamen Rechtsakts und der zeitlichen Begrenzung der Wirkungen des Urteils „überhaupt“ trennt. 970 EuGH v. 22.12.2008 – Rs. C-333/07 Régie Networks, Slg. 2008, I-10807 Rn. 128 und Tenor Nr. 2. 971 A.A. Gundel, EWS 2009, 350, 357, der die Rückwirkungsbeschränkung im Sinne der bekannten Rechtsprechungslinie versteht. 972 Erläuternd GA Kokott, SchlA v. 26.6.2008 – Rs. C-333/07 Régie Networks, Slg. 2008, I-10807 Rn. 134 ff. 969

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Ein solcher Inhalt der Rückwirkungsbeschränkung ist aus mehreren Gründen problematisch, aber letztlich nicht zu beanstanden. Zuerst entspricht diese Anordnung nicht dem Wortlaut des Art. 264 Abs. 2 AEUV, der die Aufrechterhaltung von Wirkungen des angefochtenen Rechtsakts gestattet. Gleichzeitig deckt sich dieses Urteil nicht mit der sonstigen Vorgehensweise des EuGH, nach der gerade an den Rechtsakt angeknüpft wird, nicht aber an die Gültigkeitserklärung. Dieser Unterschied spiegelt sich in der ungewöhnlichen Tenorierung wider.973 Gundel kritisierte darüber hinaus, dass durch die zeitweilige Aussetzung der Wirkungen der Ungültigkeit die Grenzen zu den Maßnahmen des einstweiligen Rechtsschutzes verwischt werden.974 Einstweilige Anordnungen können jedoch nur vor und bis zum Erlass einer Hauptsacheentscheidung vorgenommen werden, deren Wirksamkeit sie schützen sollen, und verlangen eine noch beim Gerichtshof anhängige Rechtssache. Die Aussetzung der Wirkungen einer Hauptsacheentscheidung kann davon nicht umfasst werden, weil sie dem Hauptsachetenor nachfolgt und dessen Wirkungen bestimmt. Die Berufung auf Art. 264 Abs. 2 AEUV entspricht somit durchaus der Systematik dieses Abschnitts des AEUV. Insgesamt ist entscheidend, dass die vorübergehende Aussetzung der Ungültigkeitserklärung ein Minus im Vergleich zur üblichen Fortwirkungsanordnung ist. Sie führt zu einem vorläufigen Aufrechterhalten eines Rechtsakts für den Zeitraum vom Urteilserlass bis zu einem Zeitpunkt in der Zukunft ansehen. Soweit ersichtlich ist die Entscheidung Régie Networks ein Einzelfall geblieben. In der Nichtigkeitsklage C-310/04 tenorierte der Gerichtshof zwar ebenso ein „Aussetzen“ der Nichtigerklärung,975 jedoch lassen weder seine Begründung noch die Schlussanträge erkennen, dass hiermit von der üblichen „Aufrechterhaltung“ abgewichen werden sollte.976 Es handelte sich demnach lediglich um eine ungenaue Formulierung. IV. Gemeinsamkeiten bei Unwirksamkeit und Auslegung Die dogmatischen Fragen der Rechtsfolgenbestimmung sollen abgeschlossen werden durch einen Blick auf die Gemeinsamkeiten von Auslegung und Unwirksamkeit. Dabei sind in einzelnen Punkten durchaus Übereinstimmungen 973

Der EuGH verwendet ausdrücklich das Wort „aussetzen“, auch in der englischen („effects of the declaration [of invalidity] are suspended“) und der französischen Fassung („Il y a lieu de tenir en suspens les effets du constat d’invalidité“) des Urteils. 974 Gundel, EWS 2009, 350, 357 Fn. 89. 975 EuGH v. 7.9.2006 – Rs. C-310/04 Spanien ./. Rat, Slg. 2006, I-7285 Rn. 141 und Tenor Nr. 2. 976 GA Sharpston, SchlA v. 16.3.2006 – Rs. C-310/04 Spanien ./. Rat, Slg. 2006, I-7285 Rn. 105 f. beantragte das übliche „Aufrechterhalten der Wirkungen der Verordnung”; Groussot, CMLRev 44 (2007), 761, 772 zieht Parallelen zur bekannten Rückwirkungsrechtsprechung.

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auszumachen. Am Ende steht die Erörterung einer möglichen einheitlichen Dogmatik auf Basis der Auslegungsentscheidungen. 1. Keine Veränderung des Hauptsachetenor Zuerst ließe sich überlegen, ob der Gerichtshof sich bei der Rückwirkungsbeschränkung einheitlich auf den Hauptsachetenor bezieht und diesen verändert. Für die Unwirksamkeitsentscheidungen müsste dann die Unwirksamkeit für die Vergangenheit nicht eintreten. Im Gegensatz dazu beschränkt jedoch der EuGH nur die Wirkungen, die aus dem Hauptsachetenor folgen. Ebenso wird bei der Auslegungsrückwirkungsbeschränkung nicht der Auslegungstenor für die Vergangenheit beschränkt, denn nicht diesem kommt eine (Bindungs-) Wirkung zu, sondern der ausgelegten Norm. Beschränkt wird das Berufen auf die Norm, nicht auf den Tenor oder das Urteil. Gemeinsamer Ansatzpunkt sind damit allenfalls die Wirkungen des Hauptsachetenors (im weitesten Sinne). Diese Gemeinsamkeit scheint jedoch auf zu abstrakter Ebene, als dass sich daraus Folgerungen ableiten ließen. 2. Negation einer Norm Die Rückwirkungsbeschränkung geht immer mit der Negation einer Unionsnorm einher. Bei der Auslegungsvorabentscheidung ist das die ausgelegte Norm selbst, deren Inhalt durch die Klagbarkeitsbeschränkung (teilweise) ausgesetzt wird. Bei den Unwirksamkeitsverfahren wird der Inhalt der höherrangigen Norm, der durch die Unwirksamkeitsfolge eines Verstoßes vermittelt wird, (teilweise) verdrängt. Diese Gemeinsamkeit beruht auf der Erkenntnis, dass ein materieller Auslegungsvorgang Basis aller Gerichtsverfahren ist. 3. Keine Veränderung der Präjudizregeln Die Rückwirkungsbeschränkung tastet wie bei der Auslegung auch bei der Unwirksamkeit die Bindungswirkung des Urteils nicht unmittelbar an. Beschränkt wird lediglich die inhaltliche Aussage des Urteils, dem dieselbe Präjudizwirkung zukommt wie anderen Entscheidungen. 4. Keine Veränderung der allgemeinen Regeln über die Kollision von Unionsrecht und mitgliedstaatlichem Recht Schließlich begreift der Gerichtshof die Rückwirkungsbeschränkung zu Recht als ein innerunionales Problem, das mit nur mit Mitteln des Unionsrechts gelöst werden kann. Für die Unwirksamkeitsverfahren wurde das bisher auch nicht kritisiert. Die Literatur geht einhellig davon aus, dass dort eine Kollision von höherrangigem Unionsrecht mit niedrigerem Unionsrecht vorliegt und

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nationales Recht keine Bedeutung für die Problemlösung hat.977 Art. 264 Abs. 2 AEUV trägt demnach durchaus Züge einer innerunionalen Kollisionsregel.978 Durch die Fortgeltungsanordnung wird nämlich der Konfliktlösungsmechanismus „Nichtigkeit“ modifiziert. Für einen Übergangszeitraum sollen dessen Folgen abgemildert werden, weil die Anwendung der Kollisionsregel zur Beeinträchtigung von anderem Primärrecht (i.e. die Rechtssicherheit) führt.979 Auf das Auslegungsverfahren können die Überlegungen zur Normkollision hingegen nicht übertragen werden. Zwar wird teilweise vertreten, dass es sich dort um eine Kollision von unionalem und nationalem Recht handele, die zu einem tripolaren Verhältnis von Einzelnem, Mitgliedstaat und Union führe.980 Dieses müsse unter Berücksichtigung nationaler Eigenheiten aufgelöst werden.981 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass das Auslegungsverfahren zwar auf einen möglichen Konflikt von nationalem und Unionsrecht zugeschnitten sein mag, ihn aber nicht voraussetzt.982 Ob eine Kollision von mitgliedstaatlichem Recht mit Unionsrecht überhaupt vorliegt, kann letztlich nur das nationale Gericht entscheiden, wenn es die nationale Rechtslage unter die vom Gerichtshof ausformulierten Vorgaben des Unionsrechts subsumiert. Weiterhin dient die Auslegung des Unionsrechts im Rahmen des Vorlageverfahrens nicht der Lösung eines eventuellen Konflikts zwischen Unionsrecht und nationalem Recht, sondern nur der Unterstützung des nationalen Gerichts bei der Feststellung eines solchen Konflikts. Die Auslegung ist nicht Kollisionslösung, sondern Teil der Kollisionsermittlung. Diese beiden Stufen sind voneinander zu trennen. Eine zeitliche Begrenzung der Auslegungswirkung vermeidet schon den Normkonflikt und macht eine Lösung des Konflikts damit überflüssig. Deckt das mitgliedstaatliche Gericht eine Kollision zwischen nationalem und Unionsrecht auf, so kommen die bekannten Kollisionslösungsmechanismen zur Anwendung, insbesondere der Vorrang des Unionsrechts. Erwägungen, die auf den nationalen Rechtslagen beruhen, können nicht bei der Feststellung des Konflikts, sondern bestenfalls bei dessen Bewältigung eine Rolle spielen. Ob und wie die Kollisionsregeln angepasst werden müssen, soll Gegenstand späterer Erörterungen sein.983 977

Statt aller Weiß, EuR 1995, 377, 379 f. So z.B. OVG Münster v. 28.6.2006 – 4 B 961/06, Rn. 36. 979 Terhechte, EuR 2006, 828, 836. 980 Waldhoff, Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, 2006, S. 37 f.; Calliess/RuffertCremer, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 264 AEUV Rn. 6. 981 Weiß, EuR 1995, 377, 384 f. 982 Das zeigt sich beispielsweise, wenn es um die Auswirkungen von unmittelbar anwendbaren Unionsnormen auf Privatrechtsverhältnisse geht. Dort kommt es auf den Inhalt des nationalen Rechts unter Umständen überhaupt nicht an. 983 Unten 5. Teil, S. 449 ff. 978

§ 7 Die Rechtsfolgenbestimmung der Rückwirkungsbeschränkung

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5. Möglichkeit einer einheitlichen Dogmatik? Bislang knüpft die Rückwirkungsbeschränkung nur bei der Auslegungsvorlage an die ausgelegte Norm an. In allen anderen Verfahrensarten kann der Gerichtshof die Folgen beschränken, die aus der Auslegung zu ziehen sind. Dort hat er einen zweiten, dem materiellen Auslegungsvorgang nachgelagerten Angriffspunkt, der sich im Hauptsachetenor äußert: Bei der Nichtigkeitsklage die (Wirkungen der) Nichtigerklärung, bei der Ungültigkeitsvorlage die (Wirkungen) der Ungültigkeitserklärung, beim Vertragsverletzungsverfahren die Feststellung der Vertragsverletzung und bei der Untätigkeitsklage die Feststellung des unionsrechtswidrigen Unterlassens. Wenn aber die Auslegung des maßgeblichen oder höherrangigen Unionsrechts verbindendes Merkmal aller Verfahrensarten ist und bei der Auslegungsvorabentscheidung, wo dieses das einzige Merkmal ist, dort mit der Rückwirkungsbeschränkung angeknüpft werden kann, dann ist die Anknüpfung an die Geltendmachung der ausgelegten Norm theoretisch auch bei allen anderen Verfahrensarten möglich. Damit würde man letztlich den prozessualen Unterschied der Verfahrensarten nivellieren und alle Rückwirkungsbeschränkungen letztlich dogmatisch als Auslegungsrückwirkungsbeschränkung begreifen. Dann wäre Art. 264 Abs. 2 AEUV nur Ausdruck eines dahinterstehenden Grundsatzes. Das würde den Fokus mehr auf die sachlichen Kriterien verschieben, also die Benennung der Betroffenen und der maßgeblichen Normzwecke. Die Rückwirkungsbeschränkung einer Nichtigkeitsklage könnte dann lauten: „Auf die Auslegung [des höherrangigen Rechts] kann sich niemand berufen, um die Nichtigkeit der [angegriffenen Norm] für Sachverhalte vor dem Tag dieses Urteils geltend zu machen.“ Gegebenenfalls könnten weitere Zusätze die Aufrechterhaltung sachlich und personell begrenzen. Hier würde ein deutlicher Bezug zur Tenorierung unter Maßgabe des Art. 264 Abs. 2 AEUV beibehalten. Will man – noch weitergehend – im Tenor die Auswirkungen des Urteils auf andere Verfahrensarten zum Ausdruck bringen, müsste man sich an den Auslegungsentscheidungen orientieren. Eine Rückwirkungsbeschränkung würde dann lauten: „Auf die Auslegung [des höherrangigen Rechts] kann sich niemand für Sachverhalte vor dem Tag dieses Urteils berufen.“ B. Sachliche Reichweite Als zweiter Teil der Rechtsfolgenbestimmung ist zu untersuchen, welche sachliche Reichweite der Rückwirkungsbeschränkung zukommt, also welche Sachverhaltskonstellationen sich nach der „falschen“ Rechtslage richten.

314 I.

Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

Auslegungsentscheidungen

Wird die Rückwirkung einer Auslegung beschränkt, so bezieht sich dies immer auf die Wirkungen einer Norm im Hinblick auf einen bestimmten Sachverhalt. Die möglichen Fallkonstellationen werden unterschieden anhand der gestellten Rechtsfrage und der Frage, ob der Sachverhalt bereits abgeschlossen war. Die Abgrenzung orientiert sich daran, inwieweit der Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung vorliegt.984 Die genaue Reichweite ist durch Auslegung des Tenors und der Entscheidungsgründe zu ermitteln.985 Dabei gelten die allgemeinen Grundsätze zur Interpretation von EuGH-Urteilen.986 Um Missverständnisse zu vermeiden, bezeichnet der Tenor idealerweise klar die sachlichen Grenzen. 1. Begrenzung auf einzelne Rechtsfrage Die Reichweite des guten Glaubens kann zuerst eine Begrenzung der Rückwirkungsbeschränkung auf eine einzelne Rechtsfrage gebieten. Der Gerichtshof formuliert dies regelmäßig als Ausschluss der Geltendmachung bestimmter Ansprüche. Beispielsweise erfasste die Rückwirkungsbeschränkung in Bosman „Ansprüche im Zusammenhang mit einer Transfer-, Ausbildungsoder Förderungsentschädigung“, nicht jedoch auf die ebenfalls streitigen Ausländerklauseln.987 Bei letzteren konnte aufgrund der früheren Rechtsprechung des EuGH kein guter Glaube mehr begründet werden. Ebenfalls wegen einer geklärten Rechtslage konnte durch die Barber-Entscheidung guter Glaube nur dahingehend ausgeschlossen werden, dass auch die Ausgestaltung eines Rentensystems geschlechtsneutral zu erfolgen hat.988 Die Anwendbarkeit von Art. 157 AEUV auf den Zugang zu einem Rentensystem hatte der Gerichtshof schon in Bilka entschieden. Grundsätzlich bestimmt sich die sachliche Reichweite der Rückwirkungsbeschränkung nach der Reichweite des Hauptsachetenors. Sachverhalte, die mit dem Vorlagesachverhalt vergleichbar sind, werden von der Rückwir-

984

Vgl. z.B. EuGH v. 10.2.2000 – Rs. C-50/96 Schröder, Slg. 2000, I-743 Rn. 35; EuGH v. 10.2.2000 – verb. Rs. C-270/97 und C-271/97 Sievers und Schrage, Slg. 2000, I-929 Rn. 39; EuGH v. 10.2.2000 – verb. Rs. C-234/96 und C-235/96 Vick und Conze, Slg. 2000, I-799 Rn. 37. 985 In diesem Sinne Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, 1996, S. 116. 986 Zum Verständnis von EuGH-Urteilen allgemein Everling, EuR 1994, 127 ff.; Barceló, Precedent in European Community Law, 1997, S. 407 ff. 987 EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, Slg. 1995, I-4921 Rn. 145 f. 988 EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-57/93 Vroege, Slg. 1994, I-4541 Rn. 27 ff.

§ 7 Die Rechtsfolgenbestimmung der Rückwirkungsbeschränkung

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kungsbeschränkung erfasst, wenn sie vom Hauptsachetenor erfasst werden.989 Dem Gebot der Orientierung am Gutglaubenstatbestand würde es hingegen entsprechen, sich am sachlichen Anwendungsbereich von Sekundärrechtsakten zu orientieren, die den guten Glauben der Rechtsunterworfenen begründeten.990 Danach würde sich die Rückwirkungsbeschränkung in Barber zusätzlich nur auf an die Stelle des gesetzlichen Rentensystems getretene betriebliche Rentensysteme begrenzen, da dies dem Anwendungsbereich der vertrauensbegründenden Richtlinie 86/378/EWG entsprach.991 Bei jeder Anwendung des Barber-Urteils auf andere als betriebliche opt-out-Systeme, müsste geprüft werden, ob die Tatbestandsvoraussetzungen für eine Rückwirkungsbeschränkung ebenso in der neuen Sachverhaltskonstellation vorliegen.992 Der Gerichtshof geht hingegen ohne besondere Prüfung von einem Gleichlauf des Anwendungsbereichs der in Barber vorgenommenen (Hauptsache-)Auslegung von Art. 157 AEUV mit der Rückwirkungsbeschränkung aus.993 Diese Unklarheiten zeigen, dass sich eine vorgenommene Differenzierung schon eindeutig aus Tenor oder Begründung des die Rückwirkung beschränkenden Urteils ergeben sollte. Doch nicht immer gibt der Vorlagesachverhalt dazu Gelegenheit; dann sind jahrelange Unsicherheit und mögliche Fehlinterpretationen nicht zu vermeiden. Die inhaltliche Beschränkung muss außerdem so verstanden werden, dass sie auch in Drei-Personen-Verhältnissen anwendbar ist. Bei einer staatlichen Beihilfeleistung darf sie also nicht nur das (Rück-)Zahlungsverlangen des Mitgliedstaats gegenüber den Privatpersonen erfassen, sondern muss auch berücksichtigen, dass Dritte gegen diese Zahlung vorgegangen sein können, z.B. bei dem Rechtsmittel eines Unternehmens gegen eine rechtswidrige Beihilfe an einen Wettbewerber. Dieses Verständnis gilt dann natürlich in gleichem Maße für die personelle Rückausnahme.994

989

Dies drückt sich in der Befürchtung von Hudson, ELRev 1992, 163, 168 aus, ein zu restriktives Verständnis des Barber-Urteils könne zu einer uneinheitlichen Geltung von dessen Rückwirkungsbeschränkung im Unionsgebiet führen. 990 Colneric, EuZW 1991, 75, 76; Curtin, CMLRev 27 (1990), 475, 485. 991 Colneric, EuZW 1991, 75, 76; Curtin, CMLRev 27 (1990), 475, 485; wohl ebenso Hanau/Preis, DB 1991, 1276, 1279; Kirchner, Rückwirkungsproblematik bei der betrieblichen Altersversorgung nach europäischem und deutschem Recht, 2000, S. 131; das klingt auch an bei EuGH v. 17.5.1990 – Rs. C-262/88 Barber, Slg. 1990, I-1889 Rn. 43. 992 Vgl. EuGH v. 14.9.1995 – verb. Rs. C-485/93 und C-486/93 Simitzi, Slg. 1995, I-2655 Rn. 30 ff. 993 EuGH v. 14.12.1993 – Rs. C-110/91 Moroni, Slg. 1993, I-6591 Rn. 27 ff.; EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-200/91 Coloroll Pension Trustees, Slg. 1994, 4389 Rn. 61 ff. I.Erg. ebenso Weichmann, Auswirkungen der Entscheidung des EuGH vom 17. Mai 1990 (Rs. C 262/88 Barber/Guardian Royal Exchange) auf die Altersgrenzen im deutschen Rentenrecht, 1993, S. 86 ff. 994 Das dürfte die Kritik von Gundel, EWS 2009, 350, 357 Fn. 88 entkräften.

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Abgrenzbare Rechtsfrage kann schließlich der einzelne unionale Durchsetzungsmechanismus sein. In Defrenne II erfasste die Rückwirkungsbeschränkung nur die unmittelbare Anwendbarkeit von Art. 157 AEUV im Privatrechtsverhältnis.995 Die Bindung der Mitgliedstaaten an den Grundsatz der Entgeltgleichheit stand angesichts des Wortlauts außer Streit. Die unmittelbare Anwendbarkeit im Privatrechtsverhältnis war daher selbstständig von einer Rückwirkungsbeschränkung erfasst.996 Demgegenüber kann das Gebot der unionsrechtskonformen Auslegung nur zusammen mit der unmittelbaren Anwendbarkeit von den Wirkungen der Norm ausgenommen werden, denn die Konformauslegung ist eine Folge der unmittelbaren Anwendbarkeit997. Die richtlinienkonforme Auslegung könnte wiederum allein Gegenstand einer Rückwirkungsbeschränkung sein, da sie nicht auf der unmittelbaren Anwendbarkeit einer Unionsnorm beruht.998 Hierbei dürfte es jedoch regelmäßig an den Tatbestandsvoraussetzungen der Rückwirkungsbeschränkung fehlen, denn mit Ablauf der Umsetzungsfrist ist nationales Recht ohne weitere Voraussetzungen richtlinienkonform auszulegen. Es besteht also wenig Raum für einen Irrtum über Inhalt und Reichweite des Gebots der richtlinienkonformen Auslegung. Unnötig ist es hingegen, die Rückwirkungsbeschränkung unter eine Bedingung zu stellen, wenn der Gerichtshof sich einer endgültigen Entscheidung über den vorgelegten Sachverhalt enthalten und den mitgliedstaatlichen Gerichten aufgegeben hat, einzelne von ihm aufgestellten Kriterien zu prüfen und dementsprechend zu entscheiden.999 Generalanwalt Jacobs hat für diesen Fall vorgeschlagen, die Rückwirkungsbeschränkung unter die Bedingung zu stellen, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte die nationalen Vorschriften für unanwendbar halten.1000 Die vom Generalanwalt intendierte Begrenzung der Rückwirkungsbeschränkung auf die Fälle, in denen die Gerichte tatsächlich zu einer Unvereinbarkeit der nationalen Regelungen mit den Vorgaben des EuGH kommen, folgt jedoch schon aus dem Tenor der Hauptsacheentscheidung. Dort ist nämlich festzustellen, dass die ausgelegten Vorschriften nur 995

EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/76 Defrenne II, Slg. 1976, 455 Rn. 74/75 und Tenor Nr. 5; siehe auch EuGH v. 4.5.1999 – Rs. C-262/96 Sürül, Slg. 1999, I-2685 Rn. 113 und Tenor Nr. 2 zur unmittelbaren Anwendbarkeit eines Beschlusses; vgl. auch Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, 2006, S. 293. 996 Vgl. auch Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, 2006, S. 293. 997 Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 218 f. m.w.N. 998 Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 262 f., 269 ff. m.w.N. 999 Z.B. kürzlich EuGH v. 11.7.2013 – Rs. C-521/11 Amazon ./. Austro-Mechana, ECLI: EU:C:2013:515 Tenor Nr. 1 (Prüfung der Rechtfertigung einer pauschalen Geräteabgabe wegen praktischer Schwierigkeiten bei der Erhebung mittels differenzierender Modelle). 1000 GA Jacobs, verb. SchlA v. 28.1.1999 – Rs. C-67/97, C-115/97 bis C-117/97 und C-219/97 Albany International u.a., Slg. 1999, I-5751 Rn. 478.

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dann mitgliedstaatlichen Regeln entgegenstehen, wenn letztere bestimmte Voraussetzungen erfüllen oder nicht erfüllen. Jede Auslegungsvorlage bezieht sich aber auf einen konkreten Vorlagesachverhalt, weshalb jede Antwort des Gerichtshofs die Erfüllung bestimmter Sachverhaltsvoraussetzungen erfordert. Auf abweichende Sachverhalte findet die ausgelegte Norm keine Anwendung, sodass sich auch die Frage ihrer zeitlichen Wirkung nicht stellt. 2. Begrenzung auf abgeschlossene Sachverhalte Als weitere inhaltliche Schranke erfasst die Rückwirkungsbeschränkung stets nur solche „Rechtsverhältnisse, deren Wirkungen sich in der Vergangenheit erschöpft haben“.1001 Orientierung kann hier die Definition der echten Rechtsaktrückwirkung liefern.1002 Danach ist maßgeblich, ob der von der Änderung der Rechtslage Betroffene eine belastende Rechtsfolge noch abwenden oder eine begünstigende Rechtsfolge noch herbeiführen kann.1003 Dabei muss das anwendbare mitgliedstaatliche oder von den Betroffenen autonom gesetzte1004 Recht als gleichbleibend unterstellt werden. Anderenfalls würde das Problem einer rückwirkenden Rechtsänderung auf diese Rechtsbeziehung verlagert. Trotz der Vielzahl denkbarer Sachverhalte und Normen, deren Einzelheiten zu berücksichtigen sind, lassen sich anhand der bisherigen Rechtsprechung einheitliche Grundlinien zeichnen. Grundsätzlich unbeachtlich ist jedenfalls, ob die streitgegenständliche Regelung in dem Mitgliedstaat, aus dem die Vorlage stammt, schon aufgehoben wurde.1005 Da der Tatbestand die Auswirkungen auf die Rechtssysteme aller Mitgliedstaaten berücksichtigt, muss sich dies auf der Rechtsfolgenseite widerspiegeln. Außerdem wird die Rückwirkungsbeschränkung – im Einklang mit den Unwirksamkeitsverfahren – nicht verhindert, wenn das Urteil keine über die Vergangenheit hinausgehenden Wirkungen hat.1006 Dies ist z.B. der Fall, wenn der zu beurteilende Sachverhalt ausschließlich in der Vergangen1001

EuGH v. 2.2.1988 – Rs. 24/86 Blaizot u.a., Slg. 1988, 379 Rn. 34; EuGH v. 17.5.1990 – Rs. C-262/88 Barber, Slg. 1990, I-1889 Rn. 44; EuGH v. 16.7.1992 – Rs. C-163/90 Legros u.a., Slg. 1992, I-4625 Rn. 34; EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, Slg. 1995, I-4921 Rn. 144; EuGH v. 9.3.2000 – Rs. C-437/97 Evangelischer Krankenhausverein Wien u.a., Slg. 2000, I-1157 Rn. 59; ähnlich EuGH v. 4.5.1999 – Rs. C-262/96 Sürül, Slg. 1999, I-2685 Rn. 111. 1002 Zur Übertragbarkeit der Grundsätze zur Rechtsaktrückwirkung oben § 4 B., S. 105 ff. 1003 EuGH v. 16.2.1982 – Rs. 258/80 Rumi ./. Kommission, Slg. 1982, 487 Rn. 10. 1004 Damit ist das gesamte nichtstaatliche Recht gemeint, z.B. Verträge, Verbandssatzungen, Tarifverträge usw. 1005 Wohl a.A. Forsthoff, DStR 2005, 1840, 1843. 1006 A.A. GA Alber, SchlA v. 26.3.1998 – Rs. C-35/97 Kommission ./. Frankreich, Slg. 1998, I-5325 Rn. 47 f. (die Argumentation wurde denn auch vom EuGH nicht aufgegriffen).

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heit liegt, der Kreis der Betroffenen abschließend bestimmt ist und das Urteil für die Zukunft aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen keine Bedeutung mehr hat. a) Steuerrecht Im Bereich der indirekten Steuern erfasst die Rückwirkungsbeschränkung zuerst Abgaben, die vor Erlass des Urteils in Kraft getreten sind.1007 Grund ist, dass die Mitgliedstaaten vor dem Wegfall dieser Beträge (und den daraus resultierenden schweren wirtschaftlichen Folgen) geschützt werden sollen. Die bereits vereinnahmten Abgaben könnten schon verplant oder ausgegeben sein. Entgegen dem ersten Eindruck des Wortes „erschöpft“, werden auch solche Rechtsverhältnisse nicht mehr von der „neuen“ Auslegung berührt, bei denen der Steueranspruch bereits fällig war.1008 In Legros ging der Gerichtshof noch davon aus, dass unrechtmäßig verlangte Steuer auch dann noch zurückverlangt werden kann, wenn sie nach Erlass des Urteils für vor dem Urteil liegende Einfuhren gezahlt wurde.1009 Durch die Erweiterung auf bei Urteil fällige Steueransprüche, wird die Effektivität der Rückwirkungsbeschränkung geschützt. Anderenfalls würde nämlich die Beschränkung der personellen Rückausnahme auf Rechtsbehelfsführer ausgehöhlt, wenn schon die bloße Zahlungsverweigerung genügt, um in den Genuss der Rückwirkungsbeschränkung zu kommen. Ausreichend ist daher, dass der Steuertatbestand verwirklicht wurde. Auf einen entsprechenden Verwaltungsakt der Steuerbehörden kommt es nur an, wenn erst dieser die Steuerschuld begründet oder fällig werden lässt. Nicht fällige Steuer wird auch ohne Rechtsbehelf nicht mehr geschuldet.1010 Demgegenüber sind Erstattungsanträge erfolglos, die erst nach dem Urteilstag für davor liegende rechtswidrige Steuerzahlungen gestellt werden.1011 Der Sinn der Rückwirkungsbeschränkung besteht gerade darin, Rechtsverhältnisse, die noch nicht bestandskräftig sind, von einer Neuregelung auszuschließen, denn bestandskräftige Rechtsverhältnisse werden von einem geänderten Normverständnis ohnehin regelmäßig nicht erfasst. Nach entsprechenden Grundsätzen entschied der EuGH im Bereich anderer hoheitlicher oder quasi-hoheitlicher Abgaben.1012 Aufgrund einer rechtswidrigen Vorschrift verlangte Einschreibegebühren für staatliche Hochschulen waren zu erstatten, soweit sie vor dem Urteil abgelegte Studienzeiten betra1007

EuGH v. 16.7.1992 – Rs. C-163/90 Legros u.a., Slg. 1992, I-4625 Rn. 35. EuGH v. 9.3.2000 – Rs. C-437/97 Evangelischer Krankenhausverein Wien u.a., Slg. 2000, I-1157 Rn. 60. 1009 EuGH v. 16.7.1992 – Rs. C-163/90 Legros u.a., Slg. 1992, I-4625 Rn. 36. 1010 Marschner, SWK 2000, 1128, 1130. 1011 A.A. Arnold, ecolex 2000, 225, 228. 1012 Etwas anders Lang, Intertax 35 (2007), 230, 234. 1008

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fen.1013 Durch die UEFA und die nationalen Fußballverbände festgesetzte Transferentschädigungen konnten nicht zurückverlangt werden, soweit sie bereits gezahlt worden waren oder eine solche Verpflichtung schon entstanden war.1014 Abgeschlossen ist demnach ein Sachverhalt, wenn eine Rechtsbeziehung wirksam begründet wurde, nicht erst, wenn alle Zahlungen geleistet wurden. Für den vom EuGH bisher noch nicht behandelten Bereich der direkten Steuern wäre es vorstellbar, auf den letzten Veranlagungszeitraum abzustellen, der vor dem Urteil abgeschlossen wurde.1015 Dafür spricht, dass direkte Steuern typischerweise einen bestimmten Zeitraum einheitlich behandeln.1016 Der rechtswidrig handelnde Mitgliedstaat würde nicht über das Urteil hinaus von seinem Verhalten profitieren.1017 Soweit die Steuerberechnung davon abhängt, dass oder ob der Steuerpflichtige Wahlrechte ausübt, könnte darauf abgestellt werden, dass dies noch vor dem Urteilstag geschah.1018 Noch strenger zu Lasten der Mitgliedstaaten wäre es, nur solche rechtswidrigen Steuerzahlungen als rückabwicklungsfest anzusehen, die vor dem Urteil durch einen Steuerbescheid festgesetzt wurden.1019 Die Lösung bei direkten Steuern muss so ausgestaltet werden, dass sie sich auf die Steuersysteme aller Mitgliedstaaten anwenden lässt. Dies ist der Fall, wenn sich die Abgeschlossenheit eines Sachverhalts nach Kriterien beurteilt, die sich aus dem Unionsrecht ergeben. Auf einen Steuerbescheid kann also nur dann abgestellt werden, wenn dieser unionsweit vorgeschrieben und einheitlich geregelt ist. Gleiches gilt für die Ausübung von Wahlrechten oder die Berücksichtigung eines Veranlagungszeitraums. So können beispielsweise ausgeschüttete Dividenden ausländischer Kapitalgesellschaften in einem Mitgliedstaat auch unmittelbar im Anschluss an die Ausschüttung besteuert werden und nicht erst nach Ablauf des Kalenderjahres. Letzter unionseinheitlicher Anknüpfungspunkt ist dann die Ausschüttung der Dividende, sodass nur maßgeblich sein kann, ob diese vor dem Tag des Urteils erfolgt ist.1020 b) Soziale Leistungen Diese Überlegungen gelten auch für die Bestimmung der ausgeschlossenen Sachverhalte, wenn keine geleistete Zahlung zurückverlangt wird, sondern 1013

EuGH v. 2.2.1988 – Rs. 24/86 Blaizot u.a., Slg. 1988, 379 Rn. 35. EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, Slg. 1995, I-4921 Rn. 145. 1015 Lang, Intertax 35 (2007), 230, 235. 1016 Lang, Intertax 35 (2007), 230, 235. 1017 So die Bedenken von Lang, Intertax 35 (2007), 230, 235. 1018 Lindemann/Hackemann, IStR 2005, 786, 788. 1019 Dautzenberg, RIW 2005, 959, 960. 1020 Vgl. GA Tizzano, SchlA v. 10.11.2005 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Rn. 63. 1014

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auf Gewährung einer (staatlichen) Leistung geklagt wurde. Insbesondere soziale Leistungen werden üblicherweise für einen bestimmten Zeitraum erbracht, in dem der Anspruchstatbestand erfüllt ist. Daher werden hier solche Forderungen von der Auslegung des EuGH nicht erfasst, die auf Leistungen für Zeiten vor dem Tag der Verkündung des vorliegenden Urteils gerichtet sind.1021 Ausgeschlossen sind damit Ansprüche, die schon entstanden waren, unabhängig davon, ob die Ansprüche erst nach dem Urteilstag fällig werden.1022 Um die personelle Rückausnahme für Rechtsbehelfsführer nicht leerlaufen zu lassen, kann eine Antragstellung nach dem Urteilstag nicht mehr zu einer Leistungsgewährung für vor dem Urteil liegende Zeiträume führen. c) Private (Dauer-)Schuldverhältnisse Entsprechendes ist bei privaten Rechtsverhältnissen zu beachten. War ein Anspruch am Tage des Urteils bereits entstanden, wird er im Falle einer Rückwirkungsbeschränkung von der Auslegung nicht berührt. Im Arbeitsrecht sind daher zurückliegende Lohn- oder Gehaltsperioden unantastbar.1023 Ebenso ist es zu beurteilen, wenn das Entgelt als Rente gewährt wird.1024 Dann sind keine Anpassungen im Rentensystem für vor dem Urteil liegende Beschäftigungszeiten notwendig.1025 Maßgeblich ist nicht, ob der Rentenanspruch schon oder noch fällig ist.1026 Das könnte auch hier verwundern, denn ein Sachverhalt ließe sich als „nicht abgeschlossen“ ansehen, wenn er noch Zahlungen zur Folge haben kann. Hingegen würde bei zeitlich so weit auseinanderfallenden Gegenleistungen wie Arbeitsleistung und Rente der Rückwirkungsbeschränkung weitgehend ihre Wirkung genommen.1027 Außerdem sind die Arbeitsleistungen schon erbracht und der Rentenanspruch (zumindest 1021

EuGH v. 30.4.1996 – Rs. C-308/93 Cabanis-Issarte, Slg. 1996, I-2097 Rn. 48; EuGH v. 4.5.1999 – Rs. C-262/96 Sürül, Slg. 1999, I-2685 Rn. 113. 1022 Unsicher Peers, ELRev 1999, 627, 632. 1023 EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/76 Defrenne II, Slg. 1976, 455 Tenor Nr. 5. 1024 Einen einheitlichen Maßstab erkennt auch Lang, Intertax 35 (2007), 230, 234 f. Einen unterschiedlichen Maßstab befürchtete noch Griebeling, FS Gnade, 1992, S. 597, 607 f. 1025 So zum Verständnis der Beschränkung in Barber EuGH v. 6.10.1993 – Rs. C-109/91 Ten Oever, Slg. 1993, I-4879 Rn. 19; EuGH v. 14.12.1993 – Rs. C-110/91 Moroni, Slg. 1993, I-6591 Rn. 31; EuGH v. 22.12.1993 – Rs. C-152/91 Neath, Slg. 1993, I-6935 Rn. 16; das Ergebnis antizipierend Hudson, ELRev 1992, 163 ff.; kritisch z.B. Kollatz, DZWir 1995, 284, 286; Hanlon, EBLR 1995, 67, 68. 1026 GA van Gerven, verb. SchlA v. 28.4.1993 – Rs. C-109/91, C-110/91, C-152/91 und C-200/91 Ten Oever, Moroni, Neath und Coloroll Pension Trustees, Slg. 1993, I-4879 Rn. 10. 1027 GA van Gerven, verb. SchlA v. 28.4.1993 – Rs. C-109/91, C-110/91, C-152/91 und C-200/91 Ten Oever, Moroni, Neath und Coloroll Pension Trustees, Slg. 1993, I-4879 Rn. 19.

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als Anwartschaft) entstanden; nur die Auszahlung erfolgt (aufschiebend bedingt) nach dem Ende des Arbeitslebens des Arbeitnehmers.1028 Dementsprechend bestimmt sich bei Leistungen, die aufgrund des Beschäftigungsverhältnisses an sich und nicht aufgrund von bestimmten Beschäftigungszeiten oder -zeiträumen gezahlt werden, die Rückwirkungsbeschränkung danach, ob das den Leistungsanspruch begründende Ereignis (z.B. Tod oder Verletzung eines Arbeitnehmers) vor dem Urteilstag liegt.1029 In diesem Fall soll die Rückwirkungsbeschränkung nicht den Charakter der Leistung, die unteilbar gewährt werden soll, verändern, indem die Leistungshöhe in Abhängigkeit vom auslegenden Urteil aufgeteilt wird.1030 Ebenso sind bei anderen Dauerschuldverhältnissen nicht alle schon bestehenden Verträge („Altverträge“), von der Rückwirkung auszunehmen.1031 Den Parteien wird eine Anpassung eines Altvertrages an die veränderten rechtlichen Umstände grundsätzlich mit dem Urteilsdatum auferlegt. Rückwirkungsfest sind nur am Urteilstag bestehende (Einzel-)Ansprüche, bei einem Versicherungsvertrag also vor allem der Anspruch des Versicherers auf Zahlung der Prämie oder der Anspruch des Versicherten auf Leistungserbringung bei Eintritt eines Versicherungsfalles. Maßgeblich ist auch hier nicht die tatsächliche Zahlung, sondern die Fälligkeit des Anspruchs oder das Vorliegen der Tatsachen, die den Versicherungsfall begründen. Diesen Grundsätzen würde es entsprechen, wenn der EuGH bei der erstmaligen Begründung des unionalen Schadensersatzanspruchs eine Rückwirkungsbeschränkung die Regulierung von Schäden ausgeschlossen hätte, die auf Ereignissen beruhen, die vor dem Tag des Urteils geschehen sind. Denn nicht der Eintritt des Schadens, sondern die letzte ursächliche Verletzungshandlung führt dazu, dass die unerwartete Haftungsrechtsfolge nicht mehr vermieden werden kann.1032 II. Unwirksamkeitsentscheidungen Bei Unwirksamkeitsentscheidungen stehen dem Gerichtshof unterschiedliche Möglichkeiten zur Verfügung, die Rückwirkungsbeschränkung auf das notwendige Maß zu begrenzen. Diese Unterscheidungen spiegeln sich im Tenor wider. Da bei den Unwirksamkeitsentscheidungen der Anwendungsbereich 1028

Die Einzelheiten der Dogmatik einer betrieblichen Altersversorgung in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen sind insoweit unerheblich. 1029 EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-200/91 Coloroll Pension Trustees, Slg. 1994, 4389 Rn. 60; Grabitz/Hilf/Nettesheim-Langenfeld, Das Recht der Europäischen Union, 51. EL 2013, Art. 157 AEUV Rn. 75. 1030 Boecken, EAS Teil C, Nr. 33 zu Art. 119 EG, S. 50 Fn. 95. 1031 Zum Versicherungsvertrag GA Kokott, SchlA v. 30.9.2010 – Rs. C-236/09 Association Belge des Consommateurs Test-Achats ASBL u.a., Slg. 2011, I-773 Rn. 81. 1032 GA Mischo, SchlA v. 28.5.1991 – verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 Francovich u.a., Slg. 1991, I-5357 Rn. 86 stellt hingegen auf den Eintritt des Schadens ab.

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

der aufgehobenen Norm eine sachliche Begrenzung mit sich bringt, entscheidet der EuGH nur noch, ob die Fortwirkungsanordnung einen engeren Bereich erfassen soll oder sich mit dem Rechtsakt deckt. 1. Aufrechterhalten aller Wirkungen Zuerst kann der Gerichtshof alle Wirkungen des rechtswidrigen Rechtsakts gemäß Art. 264 Abs. 2 AEUV aufrechterhalten.1033 War nur eine einzelne Vorschrift unwirksam, so kann nur diese aufrechterhalten werden, denn die Reichweite der Unwirksamkeitserklärung ist äußerste Schranke der Rückwirkungsbeschränkung. Werden sämtliche Wirkungen eines Rechtsakts aufrechterhalten, so darf dieser – vorbehaltlich anderweitiger Anordnungen1034 – als Rechtsgrundlage für neue abgeleitete Maßnahmen dienen. Die Rückwirkungsbeschränkung kann sich weiterhin auf alle Wirkungen eines Teils des aufgehobenen Rechtsakts oder der aufgehobenen Vorschrift beziehen, wenn nur insoweit der Tatbestand erfüllt ist.1035 Im Einklang mit den Tatbestandsvoraussetzungen unterscheidet der Gerichtshof nicht danach, ob eine Regelung die Marktteilnehmer belastet oder begünstigt.1036 2. Aufrechterhalten der Durchführungsmaßnahmen Als zweite Variante hält der EuGH nicht alle Wirkungen des aufgehobenen Rechtsakts, sondern nur die Durchführungsmaßnahmen aufrecht, die auf Basis des unwirksamen Rechtsakts erlassen worden waren.1037 Als Durchführungsmaßnahmen kommen alle Formen des europäischen Verwaltungshandelns in Betracht,1038 insbesondere abgeleitete Rechtsakte, privatrechtliche

1033

EuGH v. 27.9.1988 – Rs. 51/87 Kommission ./. Rat, Slg. 1988, 3459 Rn. 22 und Tenor Nr. 2; EuGH v. 7.3.1996 – Rs. C-360/93 Parlament ./. Rat, Slg. 1996, I-1195 Rn. 36 und Tenor Nr. 2; EuGH v. 25.2.1999 – verb. Rs. C-164/97 und C-165/97 Parlament ./. Rat, Slg. 1999, I-1139 Rn. 24 und Tenor Nr. 2; EuGH v. 10.1.2006 – Rs. C-178/03 Kommission ./. Parlament und Rat, Slg. 2006, I-107 Rn. 65 und Tenor Nr. 2. 1034 Vgl. GA Lenz, SchlA v. 29.6.1988 – Rs. 51/87 Kommission ./. Rat, Slg. 1988, 5459 Rn. 37 f. 1035 EuGH v. 18.10.2007 – Rs. C-299/05 Kommission ./. Parlament und Rat, Slg. 2007, I-8695 Rn. 74 f.; vgl. auch die entsprechende Ablehnung in EuGH v. 27.11.1984 – Rs. 232/81 Agricola Commerciale Olio, Slg. 1984, 3881 Rn. 20 f. 1036 Dagegen noch GA Darmon, SchlA v. 27.10.1993 – Rs. C-228/92 Roquette Frères ./. Hauptzollamt Geldern, Slg. 1994, I-1445 Rn. 61 ff. Zur Unterscheidung von Belastung und Begünstigung bei der personellen Rückausnahme unten § 7 D.IV.4., S. 377. 1037 EuGH v. 28.5.1998 – Rs. C-22/96 Parlament ./. Rat, Slg. 1998, I-3231 Rn. 42 und Tenor Nr. 2; EuGH v. 26.3.1996 – Rs. C-271/94 Parlament ./. Rat, Slg. 1996, I-1689 Rn. 40 und Tenor Nr. 2. 1038 Zu den unterschiedlichen Handlungsformen des europäischen Verwaltungsrechts z.B. Terhechte-Szczekalla, Verwaltungsrecht der Europäischen Union, 2011, § 5 Rn. 28 ff.

§ 7 Die Rechtsfolgenbestimmung der Rückwirkungsbeschränkung

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oder öffentlich-rechtliche Rechtsverhältnisse sowie Realakte.1039 Der Unterschied zur Aufrechterhaltung aller Wirkungen besteht darin, dass hier die Unwirksamkeit des rechtswidrigen Rechtsakts in anderen Zusammenhängen geltend gemacht werden kann. Nur die von der Rückwirkungsbeschränkung erfassten Maßnahmen und wiederum von ihnen abgeleitete Maßnahmen sind weiterhin anzuwenden. Alle übrigen Maßnahmen sind gerichtlich aufhebbar oder müssen von den zuständigen Organen nach Art. 265 AEUV aufgehoben werden. Das Aufrechterhalten der Durchführungsmaßnahmen ist daher ein Minus zur vollständigen Aufrechterhaltung des unwirksamen Rechtsakts. Da in den meisten Fällen der Basisrechtsakt angegriffen wurde, geht diese Variante über den Wortlaut von Art. 264 Abs. 2 AEUV hinaus, der nur die Aufrechterhaltung der Wirkungen des angegriffenen (und nichtigen) Rechtsakts gestattet. Die Durchführungsmaßnahmen sind zwar rechtswidrig, wegen der Gültigkeitsvermutung aber nicht ipso iure nichtig und wären daher bis zu ihrer Aufhebung anzuwenden. Richtigerweise ist deshalb die Fortwirkungsanordnung dahingehend zu verstehen und zu tenorieren, dass der unwirksame Rechtsakt soweit aufrechterhalten wird, wie er die Grundlage für Durchführungsmaßnahmen darstellt oder dargestellt hat.1040 Sollen nur einzelne Durchführungsmaßnahmen vor der Rechtswidrigkeit geschützt werden, sind diese zu bezeichnen. Daneben ist die Aufrechterhaltung der Durchführungsmaßnahmen nicht mehr notwendig. Eine entsprechende Aufnahme in Tenor und Begründung ist daher nur klarstellend.1041 Die weitergeltenden Durchführungsmaßnahmen bezeichnet der Gerichtshof nur selten selbst; unabhängig davon, ob es sich um unionale oder mitgliedstaatliche Maßnahmen handelt. Die Konkretisierung muss dann nach Bedarf von den Unionsorganen oder den nationalen Gerichten vorgenommen werden. Zur Klärung ist das gesamte Urteil heranzuziehen. Dabei ist der Zweck der Rückwirkungsbeschränkung besonders zu beachten. Verbleibende Zweifel kann der Gerichtshof im Urteilsauslegungsverfahren (Art. 43 EuGH-

1039 Beispielsweise wurden in EuGH v. 26.3.1996 – Rs. C-271/94 Parlament ./. Rat, Slg. 1996, I-1689 drei auf der angegriffenen Ratsentscheidung basierende Kommissionsentscheidungen aufrechterhalten. 1040 Siehe z.B. EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-93/00 Parlament ./. Rat, Slg. 2001, I-10119 Rn. 48 und Tenor Nr. 2; EuGH v. 9.11.2010 – verb. Rs. C-92/09 und C-93/09 Schecke und Eifert, Slg. 2010, I-11063 Rn. 94 und Tenor Nr. 2; EuG v. 30.5.2013 – verb. Rs. T-454/10 und T-482/11 Anicav und Agrucon, ECLI:EU:T:2013:282 Rn. 86 und Tenor Nr. 5. 1041 Vgl. die daher von der üblichen Tenorierung abweichenden Formulierungen in EuGH v. 21.1.2003 – Rs. C-378/00 Kommission ./. Parlament und Rat, Slg. 2003, I-937 Rn. 76 und Tenor Nr. 2 (Durchführungsmaßnahmen sind „nicht betroffen“); EuGH v. 3.9.2009 – Rs. C-166/07 Parlament ./. Rat, Slg. 2009, I-7135 Rn. 75 und Tenor Nr. 3 (Gültigkeit abgeleiteter Maßnahmen ist „nicht berührt”).

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Satzung) oder mittels (erneuter) Auslegungsvorlage (Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV) ausräumen.1042 3. Aussetzen der Wirkungen der Ungültigerklärung Als eine dritte Variante ist es dem Gerichtshof ermöglicht, die Wirkungen der Ungültigerklärung zeitweilig auszusetzen. Wie oben geschildert,1043 werden dann die Wirkungen des rechtswidrigen Rechtsakts nicht endgültig bis zu einem zukünftigen Zeitpunkt aufrechterhalten. Die Wirkungen der Ungültigkeitserklärung werden nur aufgeschoben und treten zu dem späteren Zeitpunkt ein. Diese verzögerte Ungültigkeit wirkt dann auf den Zeitraum vor dem Urteil zurück. In der bisher einzigen Ungültigkeitsentscheidung mit diesem Tenor1044 sollten Hin- und Herzahlungen vermieden und die bestehende Güterordnung nur vorübergehend festgeschrieben werden. Dieses Vorgehen war Ausdruck der Bindung der Rechtsfolge der Rückwirkungsbeschränkung an ihren Tatbestand: Nur die Kommission darf gemäß Art. 107 f. AEUV über die Vereinbarkeit einer nationalen Beihilferegelung mit dem Binnenmarkt entscheiden. Gerichtshof und Generalanwältin gingen davon aus, dass deshalb der EuGH die Beihilfeentscheidung nicht aufrechterhalten konnte, weil er sonst diese ausschließliche Kompetenz verletzen würde.1045 Dem könnte entgegenstehen, dass in den Währungsausgleichsbetragsfällen ebenso eine ausschließliche Kompetenz der Kommission betroffen war und der EuGH dennoch die streitige Regelung aufrechterhalten hatte.1046 Die Entscheidung Régie Networks ist gleichwohl richtig, denn in den Währungsausgleichsbetragsfällen bedrohte die Rückzahlung den zukünftigen Wettbewerb,1047 während dies in Régie Networks nicht vorgetragen wurde. Zwingend notwendig und damit Ziel der Rückwirkungsbeschränkung war es lediglich, die begünstigten Unternehmen 1042

Die früher umstrittene Frage, ob Art. 43 EuGH-Satzung eine Urteilsauslegung auch für im Vorabentscheidungsverfahren ergangene Urteile einräumt, verneint nunmehr Art. 104 Abs. 1 EuGH-VerfO ausdrücklich, wegen des nicht-kontradiktorischen Charakters, vgl. Wägenbaur, Court of Justice of the EU, 2013, Art. 104 RP ECJ Rn. 2 f. Zur alten Rechtslage z.B. Frenz, Handbuch Europarecht, Band 5, 2010, Rn. 3250; Streinz-Ehricke, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2011, Art. 267 AEUV Rn. 20. 1043 § 7 A.III.2., S. 309. 1044 Siehe die Darstellung von Sachverhalt und Entscheidungsinhalt oben § 7 A.III.2., S. 309. 1045 EuGH v. 22.12.2008 – Rs. C-333/07 Régie Networks, Slg. 2008, I-10807 Rn. 125; GA Kokott, SchlA v. 26.6.2008 – Rs. C-333/07 Régie Networks, Slg. 2008, I-10807 Rn. 132 f. 1046 EuGH v. 15.10.1980 – Rs. 4/79 Providence agricole de la Champagne, Slg. 1980, 2823 Rn. 45; EuGH v. 15.10.1980 – Rs. 109/79 Maieseries de Beauce, Slg. 1980, 2883 Rn. 45; EuGH v. 15.10.1980 – Rs. 145/79 Roquette Frères, Slg. 1980, 2917 Rn. 52. 1047 Vgl. oben § 6 C.III.4., S. 264.

§ 7 Die Rechtsfolgenbestimmung der Rückwirkungsbeschränkung

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von den wirtschaftlichen Risiken zu befreien, die mit einer vorläufigen Rückzahlung der gesamten erhaltenen Beiträge einhergehen.1048 Dass die Rückzahlung trotzdem geschuldet wird, wenn die Kommission die Beihilfe in einer neuen Entscheidung für mit dem Binnenmarkt unvereinbar ansehen würde, war unbeachtlich, denn dann würden die Vertrauenspositionen der Beihilfeempfänger dort berücksichtigt.1049 Dieses Verständnis des Urteils steht nicht im Widerspruch zu der angeordneten Ausnahme für die Rechtsbehelfsführer.1050 Diese war nämlich auf den Teil der französischen Regelung beschränkt, der zur Finanzierung der Beihilfe eine Abgabe eingeführt hatte, und betraf daher nicht die Pflicht zur Rückzahlung einer erhaltenen Beihilfe. III. Auswirkung auf Schadensersatzansprüche nach Art. 340 Abs. 2 AEUV und den unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch Die Gewährung einer Rückwirkungsbeschränkung steht regelmäßig einem gegen die Union gerichteten Schadensersatzanspruch nach Art. 340 Abs. 2 AEUV entgegen. Dies gilt für die Fälle der Auslegungsrückwirkungsbeschränkung und der Fortwirkungsanordnung gleichermaßen. Voraussetzung des Schadensersatzanspruchs ist, „daß die den Organen vorgeworfene Handlung rechtswidrig und ein tatsächlicher Schaden eingetreten ist sowie daß zwischen der Handlung und dem behaupteten Schaden ein ursächlicher Zusammenhang besteht.“1051 1. Auslegungsrückwirkungsbeschränkung Beschränkt der Gerichtshof die rückwirkende Berufung auf die Auslegung einer Unionsnorm, so wird einem mit dieser Auslegung in Konflikt stehenden vergangenen Verhalten der Unionsorgane zwar nicht die Rechtswidrigkeit genommen. Die von dem Verhalten betroffenen Rechtssubjekte1052 können jedoch auch zum Zwecke der Geltendmachung eines Schadensersatzanspruchs die Unionsnorm nicht in ihrer „neuen“ Auslegung anführen. Die Berufensschranke erstreckt sich in der Regel auch auf die Vermögensvertei1048 Das kommt im Urteil nur unzureichend zum Ausdruck; ausführlicher GA Kokott, SchlA v. 26.6.2008 – Rs. C-333/07 Régie Networks, Slg. 2008, I-10807 Rn. 139. 1049 Vgl. GA Kokott, SchlA v. 26.6.2008 – Rs. C-333/07 Régie Networks, Slg. 2008, I-10807 Rn. 152 f. 1050 EuGH v. 22.12.2008 – Rs. C-333/07 Régie Networks, Slg. 2008, I-10807 Rn. 128. 1051 EuGH v. 28.4.1971 – Rs. 4/69 Lütticke ./. Kommission, Slg. 1971, 325 Rn. 10; EuGH v. 6.12.1984 – Rs. 59/83 Biovilac ./. EWG, Slg. 1984, 4057 Rn. 10; EuGH v. 8.4.1992 – Rs. C-55/90 Cato ./. Kommission, Slg. 1992, I-2533 Rn. 18; Calliess/RuffertRuffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 340 AEUV Rn. 7 m.w.N. aus der Rechtsprechung. 1052 Hyland, IJEL 2 (1995), 208, 219 f. sieht auch Mitgliedstaaten als potentiell anspruchsberechtigt an.

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

lung, wie sie nach dem irrtümlichen Verständnis vorgenommen wurde. Ausweislich des Merkmals der Gefahr schwerer wirtschaftlicher Auswirkungen zielt die Auslegungsrückwirkungsbeschränkung gerade darauf ab, rückwirkende Änderungen der Güterzuteilung zu vermeiden. Möglich ist ein Schadensersatzbegehren dagegen beispielsweise dann, wenn die Rückwirkungsbeschränkung guten Glauben ausschließlich zu Gunsten von Privatpersonen schützen soll und eine Verlagerung des Schadens auf Dritte dies nicht konterkariert. Ein Schadensersatzanspruch dürfte darüber hinaus zumeist an den Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 340 Abs. 2 AEUV scheitern. Selbst wenn der ex post-Beurteilung des Verhaltens der Unionsorgane die spätere Auslegung des Gerichtshofs zugrunde gelegt würde, fehlt es an einem haftungsauslösenden Verstoß gegen das Unionsrecht. Da eine Rückwirkungsbeschränkung nur vorgenommen werden kann, wenn ein unionsweiter guter Glaube in die irrtümliche Auslegung bestand, stellt es keinen hinreichend qualifizierten Verstoß dar, sich an dieser Auslegung zu orientieren. Dies gilt auch dann, wenn mangels Gestaltungsspielraums schon ein einfacher Sorgfaltsverstoß genügt. Aus diesen Gründen ist ebenso ein Schadensersatzanspruch zu verneinen, der an die Handlungen von Unionsorganen anknüpft, die ihrerseits erst den Irrtum über die Unionsrechtslage begründet haben. Eine Rechtsansicht, die geeignet ist, guten Glauben hervorzurufen, darf dem eigenen Verhalten auch erstmalig und vorbildmäßig zugrunde gelegt werden. Wurde der Irrtum durch eine frühere Rechtsprechung der europäischen Gerichte hervorgerufen, so ist der Anspruch ebenfalls praktisch ausgeschlossen:1053 Ein Ersatzanspruch bei judikativem Unrecht kommt nur bei vorsätzlicher Falschanwendung des Unionsrechts in Betracht (z.B. Rechtsbeugung oder Richterbestechung).1054 Wendet man – wie hier vertreten – die Grundsätze der Auslegungsrückwirkungsbeschränkung auch in Unwirksamkeitsverfahren an, besteht auch bei letzteren regelmäßig kein Ersatzanspruch. Die angegriffene Unionsnorm ist zwar rechtswidrig. Der Erlass einer solchen Unionsnorm ist aber auch kein hinreichend qualifizierter Verstoß im Sinne eines offenkundigen und erheblichen Überschreitens des eingeräumten Ermessens, wenn hinsichtlich des höherrangigen Rechts ein gutgläubiges Fehlverständnis vorlag.

1053

Hyland, IJEL 2 (1995), 208, 230. Streinz-Gellermann, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2011, Art. 340 AEUV Rn. 16; großzügiger in Parallele zum unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch gegen die Mitgliedstaaten Calliess/Ruffert-Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 340 AEUV Rn. 23 i.V.m. Rn. 50; abwartend Siegerist, Die Neujustierung des Kooperationsverhältnisses zwischen dem Europäischen Gerichtshof und den mitgliedstaatlichen Gerichten, 2010, S. 164 ff. 1054

§ 7 Die Rechtsfolgenbestimmung der Rückwirkungsbeschränkung

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2. Fortwirkungsanordnung Im Falle der Fortwirkungsordnung nach Art. 264 Abs. 2 AEUV ist die angegriffene Unionsvorschrift auch für die Vergangenheit rechtswidrig. Eventuelles Handlungsunrecht wird demnach nicht beseitigt und der Erlass der rechtswidrigen Unionsnorm könnte als Anknüpfungspunkt eines Ersatzanspruchs dienen. Es ist dogmatisch durchaus vorstellbar, die Unwirksamkeit einer Norm erst nach dem Urteil wirken zu lassen und davon Betroffenen gleichwohl einen Ausgleich für die durch die Norm in der Vergangenheit erlittenen Schäden zu gewähren. Da ein guter Glaube keine zwingende Voraussetzung des Art. 264 Abs. 2 AEUV ist, scheitert der Anspruch jedenfalls nicht daran. Zumeist dürfte ein Schadensersatzanspruch jedoch auch hier dem Zweck der Rückwirkungsbeschränkung zuwiderlaufen.1055 Die Fortwirkungsanordnung zielt gerade darauf, geleistete Zahlungen oder eingegangene Verträge unberührt zu lassen. Führt ein Schadensersatz zu einer Vermögensverschiebung, die durch die Rückwirkungsbeschränkung verhindert werden sollte, ist ein entsprechender Anspruch ausgeschlossen.1056 Der Schadensersatzanspruch konfligiert hingegen nicht mit einer Fortwirkungsanordnung, wenn die Rückwirkungsbeschränkung nur eine vorübergehende Sperre für Vermögensverschiebungen errichten soll oder wenn Art. 264 Abs. 2 AEUV in den Dienst des Gleichbehandlungsgrundsatzes gestellt und der Anwendungsbereich der Norm auf die benachteiligte Gruppe erstreckt wurde, aber so dennoch nicht alle Schäden vermieden werden konnten.1057 Hier haben Schadensersatzanspruch und Weitergeltung der umformulierten, nunmehr rechtmäßigen Norm das gleiche Ziel, nämlich die Anpassung der Rechte der Benachteiligten „nach oben“ bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber. 3. Haftung der Mitgliedstaaten nach dem unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch Die Haftung der Mitgliedstaaten nach dem unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch verläuft in ähnlichen Bahnen.1058 Werden die Mitgliedstaaten aufgrund guten Glaubens in ein bestimmtes Verständnis des Unionsrechts dazu veranlasst, eine sich später als rechtswidrig herausstellende nationale Rechtslage beizubehalten oder einzurichten, scheitert ein Ersatzanspruch der Be1055

Für einen generellen Ausschluss der Schadensersatzhaftung wohl Hein, Inzidentkontrolle, 2001, S. 203. 1056 EuGH v. 30.5.1989 – Rs. 20/88 Roquette Frères ./. Kommission, Slg. 1989, 1553 Rn. 19 f. 1057 Zum Beispielsfall EuGH v. 29.6.1988 – Rs. 300/86 van Landschoot, Slg. 1988, 3443 siehe oben § 6 C.II.2., S. 275. 1058 Zu Schadensersatzansprüchen anlässlich der (Nicht-)Gewährung nationalen Vertrauensschutzes siehe unten § 17, S. 497 ff.

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

troffenen entweder schon an der Rückwirkungsbeschränkung selbst oder jedenfalls an den allgemeinen Tatbestandsvoraussetzungen. Nationales Recht, das im Einklang mit dem irrtümlichen Verständnis des Unionsrechts steht, ist zwar rechtswidrig. Bezweckt die Rückwirkungsbeschränkung gerade auch die Beibehaltung der Vermögenszuordnungen der Vergangenheit, so kann sich niemand auf die „neue“ Auslegung des Unionsrechts berufen, um einen Staatshaftungsanspruch zu begründen. Ist dem Zweck der Rückwirkungsbeschränkung eine solche Zielsetzung nicht zu entnehmen, steht der gute Glaube der Annahme eines hinreichend qualifizierten Verstoßes gegen das Unionsrecht entgegen.1059 C. Zeitliche Reichweite Unter der „zeitlichen Reichweite“ ist die Frage zu verstehen, zwischen welchen Zeitpunkten die EuGH-Entscheidung noch nicht alle ihrer Wirkungen entfalten soll. Je später die volle Wirkung des höherrangigen Unionsrechts einsetzt, desto größer sind die Einschränkungen für die Gesetzmäßigkeit und den (Individual-)Rechtsschutz der Kläger, die sich auf diese Gesetzmäßigkeit stützen könnten. I.

Auslegungsentscheidungen

Bei den Auslegungsentscheidungen grenzt die zeitliche Reichweite die Sachverhalte voneinander ab, auf die die ausgelegte Unionsnorm angewendet werden kann und für welche wiederum die Klagbarkeitsbeschränkung gilt. 1. Keine Übergangsfristen Dabei ist vorweg in Erinnerung zu rufen, dass nach bisheriger Rechtsprechung für die Sachverhalte, die von einer Rückwirkungsbeschränkung erfasst werden, die „alte“ Rechtslage ad infinitum fortgilt. Demgegenüber kann ein absolutes Ende derselben durchaus dem Rechtssicherheitsinteresse und dem Schutz vor finanziellen Überforderungen genügen. Die Rückwirkungsbeschränkung würde in einem solchen Fall nur eine Übergangsfrist darstellen, die gewährt wird, um die alten Rechtsverhältnisse an die neue Rechtslage anzupassen. So würde die unterschiedliche Rechtsanwendung, insbesondere bei Dauerschuldverhältnissen nicht auf ewig zementiert. Ausreichend wäre eine solche Übergangsfrist, wenn den drohenden finanziellen Folgen schon durch eine Verschiebung des Beginns der neuen Rechtslage abgeholfen werden könnte. Dafür ist freilich Voraussetzung, dass die alten Rechtsverhältnisse einer nachträglichen Anpassung noch zugänglich sind. Werden durch die neue Rechtslage beispielsweise rückwirkend Ansprüche eingeräumt, können 1059

Huber, ÖStZ 2000, 286, 289.

§ 7 Die Rechtsfolgenbestimmung der Rückwirkungsbeschränkung

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diese den Begünstigten regelmäßig nicht genommen werden. Für eine Übergangsfrist ist dann kein Raum. 2. Tag des Urteils als Bezugspunkt Wie oben dargelegt (§ 6 B.II.6.a), S. 216) betrachtet der Gerichtshof bei Auslegungsentscheidungen den guten Glauben in seiner Gesamtheit vom Inkrafttreten der ausgelegten Norm bis zum auslegenden Urteil. Es ist daher konsequent, dass er die Rückwirkungsbeschränkung vom Inkrafttreten der ausgelegten Norm bis zum auslegenden Urteil erstreckt, denn der gute Glaube rechtfertigt die Rückwirkungsbeschränkung. Nach der hier vertretenen Ansicht, können in Ausnahmefällen andere Zeitpunkte als Beginn oder Ende des Gutglaubenstatbestands gewählt werden.1060 Dementsprechend sind dann die Eckpunkte der Rückwirkungsbeschränkung festzulegen. Dem liegt als Ausgangspunkt zugrunde, dass der Zeitraum der Rückwirkungsbeschränkung vom Zeitraum des guten Glaubens abhängt, weil letzterer die Rückwirkungsbeschränkung rechtfertigt. Nicht begründet ist damit, warum gerade auf den Tag der Urteilsverkündung abzustellen ist. Würde man hier eine unionsweite Kenntnisnahmemöglichkeit verlangen, ließe sich beispielsweise auf die Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung abstellen.1061 Diese erfolgt derzeit erst mit erheblicher Verzögerung. Auch die Bekanntgabe des Urteilstenors im Amtsblatt erfolgt nicht sofort am Tag der Verkündung. Durch das Abstellen auf den Urteilstag verlangt der EuGH demnach von den Rechtsunterworfenen große Sorgfalt, denn der gute Glaube wird unabhängig von einer konkreten Kenntnisnahme zerstört.1062 Eine für die Rechtsunterworfenen laufende (nationale) Rechtsbehelfsfrist wird aufgrund eines Umstands (i.e. der Erlass des EuGH-Urteils) vorzeitig beendet, den sie nur schwer vorhersehen und nicht beeinflussen können. Dem lässt sich entgegenhalten, dass die Urteile gemäß Art. 37 S. 2 EuGH-Satzung in öffentlicher Sitzung zu verlesen sind und daher die Möglichkeit zur Kenntnisnahme durch die Rechtsunterworfenen oder Intermediäre gegeben ist. Außerdem können EuGH-Urteile mittlerweile noch am Tag der Verkündung in fast allen Amtssprachen auf den Internetseiten des Gerichtshofs abgerufen werden. Dort kann ebenso in Erfahrung gebracht werden, wann ein bestimmtes Urteil verkündet werden wird. Darüber hinaus dürfte entscheidend sein, dass anderenfalls die Geltung des „richtigen“ Rechts auf unbestimmte Zeit verschoben würde und dass die Rückwirkungsbeschränkung konterkariert wird, wenn den Betroffenen die Möglichkeit gegeben wird, sich bis dahin noch darauf einzustellen. 1060

Siehe oben § 6 B.II.6.d), S. 221 ff. Die Veröffentlichung hat der Kanzler zu besorgen, Art. 20 Abs. 3 S. 2 EuGH-VerfO (Art. 68 EuGH-VerfO a.F.)/Art. 86 EuG-VerfO. 1062 Bydlinski, JBl 2001, 2, 13. 1061

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

Der Tag der Verkündung zählt selbst nicht mehr zum Rückwirkungszeitraum. Der gute Glaube wird also schon ab 0.00 Uhr des Urteilstages nicht mehr anerkannt. Damit werden Sachverhalte ausgegrenzt, die am Urteilstag noch vor der tatsächlichen Verkündung abgeschlossen wurden. Diese Ungleichbehandlung zu anderen Fällen, in denen ebenfalls noch kein klärendes Urteil vorlag, muss zu Gunsten eines einheitlichen, leicht zu bestimmenden Zeitpunkts in Kauf genommen werden. Die Bedürfnisse der Rechtssicherheit überwiegen ein mögliches Interesse, uhrzeitgenaue Abgrenzungen vornehmen zu können. Sie werden ausgeglichen durch die dem objektivierten Gutglaubenstatbestand inhärenten Pauschalierungen zu Gunsten der Rechtsunterworfenen. Weiterhin dürfte zumeist auch nur der Tag nicht aber die genaue Uhrzeit des Umstands, der einen abgeschlossenen Sachverhalt hervorruft, zu ermitteln sein. Außerdem vermeidet man so, noch auf die unterschiedlichen Zeitzonen der Mitgliedstaaten Rücksicht nehmen zu müssen. Und schließlich dürfte der Aufwand einer uhrzeitgenauen Erfassung für die unionalen und nationalen Verwaltungen und Bürger die Erträge daraus deutlich übersteigen. Spiegelbildlich zum Vertrauenstatbestand ließe sich erwägen, den Zeitpunkt an den wirtschaftlichen Folgen zu orientieren. Es ist vorstellbar, dass die wirtschaftlichen Auswirkungen nur schwerwiegend sind für einen Zeitraum, der kürzer ist als der, in dem ein guter Glaube vorlag. Da beide Tatbestandsmerkmale kumulativ vorliegen müssen, wäre dann nur für den Überschneidungsbereich die Rückwirkung zu beschränken. Eine solche Differenzierung verlangt aber eine sehr eingehende Analyse der drohenden Auswirkungen.1063 Damit dürften der EuGH und die Verfahrensbeteiligten überfordert sein. Hier scheint eine pauschalisierende Lösung, die auf den Gutglaubenszeitraum abstellt, den Bedürfnissen der Rechtssicherheit und der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts besser gerecht zu werden. Der Gutglaubenstatbestand ist nämlich unionsweit derselbe und in allen Mitgliedstaaten einheitlich zu bestimmen und von allen Rechtsunterworfenen erkennbar. Die wirtschaftlichen Auswirkungen hingegen sind Umstände, die sich innerhalb der Mitgliedstaaten unterscheiden können und nur von den Betroffenen selbst nicht aber von Dritten beurteilt werden können. 3. Früherer Zeitpunkt bei „bestätigender Zweitauslegung“? Schwieriger ist die Wahl des zeitlichen Bezugspunkts, wenn es sich um eine „bestätigende Zweitauslegung“ handelt. In diesem Fall zerstört das erstauslegende Urteil weitergehendes Vertrauen, woraus sich zwei Probleme ergeben. Wurde das erstauslegende Urteil nicht in der Rückwirkung beschränkt, ist fraglich, ob dies nachgeholt werden kann (dazu a). Wurde das erste Urteil in seiner Rückwirkung beschränkt, ist grundsätzlich der Tag der Verkündung 1063

Arnull, The European Union and its Court of Justice, 2. Aufl. 2006, S. 551; vgl. Moore, ELRev 1995, 159, 164 ff.

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dieses Urteils als maßgeblicher Zeitpunkt zu wählen. Inwieweit darüber hinausgehende Beschränkungen möglich sind, ist zu untersuchen (dazu b). a) Nachholung einer Rückwirkungsbeschränkung Als erste Möglichkeit zur Bestimmung eines abweichenden Endzeitpunkts kommt in Betracht, dass die Rückwirkungsbeschränkung nachgeholt wird.1064 Damit ist der Fall gemeint, dass in einem früheren Urteil die Rückwirkung nicht beschränkt wurde und entweder dieses Urteil verändert werden soll oder in einem späteren Urteil eine Rückwirkungsbeschränkung mit Bezug auf den Zeitpunkt des früheren Urteils vorgenommen werden soll.1065 Problematisch sind vor allem die Fälle, in denen sich das frühere Urteil nicht ausdrücklich mit der Frage der Rückwirkungsbeschränkung beschäftigt. aa) Keine Änderung des früheren Urteils Das frühere Urteil kann nicht geändert werden. Nicht einschlägig ist zuerst die Urteilsberichtigung nach Art. 103 EuGH-VerfO (Art. 66 EuGH-VerfO a.F.)/Art. 84 EuG-VerfO. Die fehlende Rückwirkungsbeschränkung ist weder ein Schreibfehler noch eine offensichtliche Unrichtigkeit. Sie wurde nicht vorgenommen, weil es entweder an einer entsprechenden Anregung fehlte oder weil sie ausdrücklich abgelehnt wurde. Zweitens ist es praktisch undenkbar, dass die Frage der Rückwirkungsbeschränkung im Verfahren übersehen wurde und daher das Urteil nach Art. 155 EuGH-VerfO (Art. 67 EuGH-VerfO a.F.) ergänzt werden könnte. Drittens könnte durch eine erneute Vorlage desselben Problems nicht das frühere Urteil, sondern nur die Rechtsprechung des EuGH geändert werden. bb) Änderung der Rückwirkungsentscheidung Der Gerichtshof lässt es nicht zu, eine Rückwirkungsbeschränkung in einem späteren Urteil nachzuholen, also die im Urteil gewonnene Auslegung erst mit dem Tag des früheren Urteils beginnen zu lassen. Entsprechend seinem Konnexitätsmerkmal ist eine Rückwirkungsbeschränkung immer ausgeschlossen, wenn sie die gleiche Rechtsfrage behandelt wie ein früheres Urteil, 1064

Befürwortend etwa Forsthoff, DStR 2005, 1840, 1842; Hyland, IJEL 2 (1995), 208, 217; Rainer, IStR 1996, 328, 329 und die unten in § 7 Fn. 1081 f. genannten; die Nachholung nicht per se ausschließend Schmidt, GLJ 2006, 505, 523; unklar Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, der auf S. 94 die nachträgliche Rückwirkungsbeschränkung und auf S. 96 f. das Konnexitätsmerkmal ablehnt; auch Balmes/Brück/Ribbrock, BB 2006, 186, 189; ablehnend z.B. Franzen, RIW 2010, 577, 578; Frenz/Kühl, DStZ 2009, 432, 438 und wortgleich Frenz, Handbuch Europarecht, Band 5, 2010, Rn. 3425. 1065 Vgl. GA Tizzano, SchlA v. 10.11.2005 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Rn. 49.

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in welchem die Rückwirkung nicht beschränkt wurde. Dabei ist es unbeachtlich, ob in dem früheren Urteil die Frage einer Rückwirkungsbeschränkung gar nicht aufgeworfen oder ausdrücklich verneint wurde. (1) Einzige relevante Fallgruppe im Vergleich zur sofortigen Beschränkung und ihre Rechtfertigung Bei der Wahl des früheren Urteils als Rückwirkungszeitpunkt wird nur eine Gruppe von Sachverhalten anders behandelt als bei einer Beschränkung schon im ersten Urteil. Die Ungleichbehandlung ist jedoch typisch für Rechtsprechungsänderungen. Die Rückwirkungsbeschränkung kann sich nur auf Sachverhalte auswirken, die vor dem ersten Urteil lagen und noch nicht bestandskräftig geworden waren.1066 Diese würden dann unterschiedlich behandelt, je nachdem, ob sie vor oder nach dem zweiten Urteil (aber nach dem ersten Urteil) entschieden werden: Wird der Sachverhalt nach dem ersten aber vor dem zweiten Urteil entschieden, muss das Gericht die im ersten Urteil entwickelte Sachlösung anwenden, denn diese wirkt ohne Beschränkung zurück. Wird der Sachverhalt erst nach dem zweiten Urteil entschieden, so müsste das Gericht die Rückwirkungsbeschränkung und damit im Grundsatz die frühere irrtümliche Rechtslage zugrunde legen. In allen anderen Fällen entspricht das Ergebnis einer Nachholung genau dem, was mit einer Beschränkung im ersten Urteil oder dem Verzicht auf eine Nachholung erzielt würde: Diejenigen Sachverhalte, die nach dem ersten Urteil liegen, würden ohnehin von einer Rückwirkungsbeschränkung nicht profitieren, da sie nicht vom guten Glauben gedeckt sind, und auf die zum Zeitpunkt des ersten Urteils bereits bestandskräftigen Sachverhalte hätten die EuGH-Urteile keine Auswirkungen. Die geschilderte unterschiedliche Behandlung gleicher Sachverhalte steht einer Nachholung der Rückwirkungsbeschränkung nicht entgegen.1067 Es ist jeder Rechtsprechungsänderung immanent, dass rechtskräftig nach der alten Rechtslage entschiedene Fälle nicht wieder aufgerollt werden können. Diese „falschen“ Entscheidungen finden ihren Grund und ihre Rechtfertigung in der Bestands- oder Rechtskraft, nicht hingegen in der Rechtsprechungsänderung.1068 Sie stehen daher einer Anpassung der Rechtsprechung an neue Er1066 Deswegen besteht auch die von Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 166 beschworene Gefahr umfangreicher „Hin-und-Her-Zahlungen“ nicht. 1067 A.A. Kokott/Henze, NJW 2006, 177, 182; Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 195; Wiedmann, EuLF 2006, I-197, I-199; Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 273. 1068 Siehe zu dieser Argumentation Pohl, Rechtsprechungsänderung und Rückanknüpfung, 2005, S. 191 f.

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kenntnisse grundsätzlich nicht entgegen. Weiterhin muss betont werden, dass die geänderte Rückwirkungsentscheidung in der Folge für alle Mitgliedstaaten gilt. Eine territoriale Zersplitterung der zeitlichen Wirkung ist gerade nicht beabsichtigt.1069 (2) Widerspruch zur allgemeinen Dogmatik der Rechtsprechungsänderung Die allgemeine Dogmatik der Änderung einer EuGH-Rechtsprechung spricht ebenso für die Nachholbarkeit der Rückwirkungsbeschränkung.1070 Wenn der Gerichtshof im ersten Urteil der irrtümlichen Rechtslage gefolgt wäre und im zweiten Urteil aufgrund veränderter Einschätzungen eine andere Auffassung vertreten würde, wäre eine Änderung der Rechtslage möglich, ohne dass besondere Anforderungen erfüllt sein müssten.1071 Die Änderung der Rechtslage hätte dann Auswirkungen auf alle noch nicht bestandskräftigen Sachverhalte vor dem zweiten Urteil. Demgegenüber betrifft nach den obigen Feststellungen eine Rückwirkungsentscheidung nur die nicht bestandskräftigen Sachverhalte vor dem ersten Urteil. Eine „normale“ Rechtsprechungsänderung würde sich folglich auf mehr Sachverhalte auswirken als die Nachholung einer Rückwirkungsbeschränkungsentscheidung. Dazu kommt, dass die Auswirkungen der Nachholung aufgrund der personellen Rückausnahme für Rechtsbehelfsführer auf Sachverhalte beschränkt sind, in denen nicht der Betroffene schon vor dem ersten Urteil einen Rechtsbehelf eingelegt hatte. (3) Erkennbarkeit der zeitlichen Geltung einer bestimmten Auslegung Dem steht nicht entgegen, dass bei einer Nachholbarkeit die zeitliche Wirkung einer Auslegung sich nicht mehr eindeutig und endgültig aus dem entsprechenden Urteil entnehmen lässt. Damit wird zwar die Rechtssicherheit abgeschwächt,1072 jedoch ist auch dies typisch für Rechtsprechungsänderungen. Wenn der sachliche Inhalt einer Auslegung geändert oder weiterentwickelt wird, lässt sich das richtige Verständnis des Unionsrechts ebenfalls nur aus der Gesamtschau aller einschlägigen Urteile entnehmen. Es ist nicht erkennbar, warum die zeitliche Wirkung einer Auslegung strenger als der eigentliche Urteilsinhalt behandelt werden soll. (4) Keine Gefahr für die Einheitlichkeit des Unionsrechts Schließlich greift auch die Argumentation des EuGH zur Begründung des Konnexitätsmerkmals im Falle der Nachholung einer Rückwirkungsbeschränkung nicht durch. Sie beruht nämlich darauf, dass für die Mitgliedstaa1069

Siehe auch sogleich (4). Das meint wohl Hyland, IJEL 2 (1995), 208, 217. 1071 Siehe oben § 3 D.II.1.c), S. 65 f. 1072 Vgl. Kotschnigg, SWI 1998, 83, 85 zur Konnexitätslösung des EuGH. 1070

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ten eine unterschiedliche Regelung getroffen wird, indem eine ähnliche Rechtsfrage mit unterschiedlichen zeitlichen Wirkungen ausgestattet wird, je nachdem, welcher Vorlagesachverhalt betroffen ist. Bei der Nachholung werden aber nicht die zeitlichen Wirkungen einer vergleichbaren Rechtsfrage aufgespalten, sondern die zuerst getroffene Entscheidung über eine Rückwirkungsbeschränkung einheitlich für alle Mitgliedstaaten korrigiert.1073 Das Unionsrecht gilt dann in seiner jeweiligen Form gleichermaßen für alle Mitgliedstaaten und alle ähnlichen (d.h. konnexen) Sachverhalte. (5) Faktische Zersplitterung und mangelnde Prozessbeteiligung Demgegenüber birgt eine Nachholbarkeit die Gefahr, dass einzelne Mitgliedstaaten Vorteile erlangen. Legt beispielsweise ein anderer Mitgliedstaat als der, aus dem die Vorlage stammt, im ersten Verfahren nicht offen, dass das Urteil auch seine Rechtsordnung betreffen wird, erschwert er die praktische Anwendung des Unionsrechts in seinem Mitgliedstaat. Bürgern und Verwaltung wird ein Hinweis auf das (möglicherweise) einschlägige Unionsrecht damit vorenthalten.1074 Es kommt dann zwar nicht zu einer rechtlichen, wohl aber zu einer faktischen Zersplitterung des Unionsrechts. Das Konnexitätsmerkmal des EuGH könnte deshalb antizipierte Umsetzungsvorbehalte in den Mitgliedstaaten überwinden. Gleichzeitig würde eine als unzureichend empfundene Beteiligung der Mitgliedstaaten im ersten Verfahren sanktioniert.1075 Das Recht gemäß Art. 23 Abs. 2 EuGH-Satzung in Verbindung mit Art. 96 Abs. 1 lit. b) EuGH-VerfO, Schriftsätze einzureichen oder Erklärungen abzugeben, wird so zu einer Pflicht.1076 Um dies zu stützen ließe sich argumentieren, dass die Möglichkeit einer Auslegungsrückwirkungsbeschränkung bekannt ist und der Gerichtshof daher davon ausgehen muss, dass an einer solchen kein Interesse besteht, wenn die Frage im Prozess nicht aufgeworfen wird. Dennoch ist nicht nachzuvollziehen, warum eine solche Pflicht nur für die zeitlichen Wirkungen einer Auslegung gilt, nicht aber für den Inhalt der Auslegung selbst. Das Interesse an qualitativ hochwertigen Entscheidungen durch 1073

Mit abweichender Prämisse Delbrück/Hamacher, IStR 2007, 627, 628. Möglich ist sogar, dass die mitgliedstaatliche Verwaltung versucht, durch Klaglosstellung Vorlagen an den EuGH zu verhindern, vgl. Mangold, Gemeinschaftsrecht und deutsches Recht, 2011, S. 407; Ress, DVBl 1986, 601, 602 (sub 12.). 1075 Kenntnis der Mitgliedstaaten von den laufenden Verfahren wird gemäß Art. 23 Abs. 1 EuGH-Satzung i.V.m. Art. 98 EuGH-VerfO (Art. 104 § 1 EuGH-VerfO a.F.) durch Mitteilung an dieselben gesichert. 1076 Das Beteiligungsrecht erfordert keinen Nachweis eines besonderen Interesses und unterliegt keinen Beschränkungen, vgl. Seidel, Die Praxis der Bundesregierung und der anderen Mitgliedstaaten in Verfahren, vor allem Vorabentscheidungsverfahren, vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 1983, S. 95, 104; die Freiwilligkeit betont auch Wägenbaur, Court of Justice of the EU, 2013, Art. 23 Statute Rn. 53. 1074

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die Beteiligung sämtlicher Mitgliedstaaten am ersten Verfahren besteht bei allen Auslegungsfragen und nicht nur bei der zeitlichen Wirkung.1077 Mit dem gleichen Argument könnte man auch außerhalb der Rückwirkungsbeschränkung erneute Vorlagen für unzulässig halten. Die Beteiligungspflicht trifft darüber hinaus nicht immer diejenigen, die von der verzögerten Geltung des Unionsrechts profitieren. Beteiligungsrechte haben nur die Mitgliedstaaten und die Parteien des Ausgangsrechtsstreits. Erstere zu bestrafen, ist nur dann sinnvoll, wenn sie durch die „neue“ Rechtslage schlechter als durch die irrtümliche gestellt worden wären, und wenn die irrtümliche Rechtslage noch nach dem ersten Urteil weiter angewendet wird. Für letztere ist die Rückwirkungsbeschränkung aufgrund der obligatorischen Rückausnahme für Rechtsbehelfsführer ohne Auswirkungen unabhängig, ob sie davon profitieren oder nicht. In allen anderen Konstellationen, vor allem in Privatrechtsverhältnissen, bestraft man die Profiteure einer möglichen nachgeholten Rückwirkungsbeschränkung, ohne dass diese der Beteiligungspflicht selbst hätten nachkommen können.1078 Schließlich und darüber hinaus wäre eine verzögerte Anwendung des ersten Urteils – die ja verhindert werden soll – nicht nur den Mitgliedstaaten anzulasten. Jedem Rechtsunterworfenen steht es frei, sich in einer rechtlichen Auseinandersetzung auf das Urteil zu berufen und so die einheitliche Anwendung des Unionsrechts zu erzwingen. Es ist dem Unionsrecht nicht fremd, dass seine Durchsetzung vom Tätigwerden derjenigen abhängt, die von ihm besser gestellt werden.1079 Durch das Konnexitätsmerkmal und den Ausschluss der Nachholbarkeit schafft der Gerichtshof einen sehr strengen Sorgfaltsmaßstab, obwohl das Fehlen des Sachvortrags hinsichtlich einer Rückwirkungsbeschränkung nicht ausschließlich im Streben nach einem unberechtigten Vorteil begründet sein muss. Er auferlegt den Mitgliedstaaten und anderen Rechtsunterworfenen, erkennen zu müssen, dass und in welchem Ausmaß ihre Rechtssysteme von einem aktuellen Verfahren betroffen ist.1080 Demgegenüber können die Mitgliedstaaten schlicht die Reichweite und Bedeutung eines Urteils für die eigene Rechtsordnung verkennen, selbst wenn sie alle Verfahren des EuGH 1077

Anders Meilicke, DB 2007, 650, der diesen Umstand an dieser Stelle besonders hervorherbt. 1078 Unbetroffene Privatrechtssubjekte haben kein eigenes Beteiligungsrecht. Möglich aber umständlich und langwierig wäre der Weg über spezielle oder allgemeine Interessenverbände, die sich wiederum an mitgliedstaatliche Stellen wenden. 1079 Vgl. EuGH v. 17.12.2009 – Rs. C-227/08 Martín Martín, Slg. 2009, I-11939 Rn. 19 f.; Poelzig, Normdurchsetzung durch Privatrecht, 2012, S. 255 ff. 1080 Bei der Übertragung einer früheren Rückwirkungsbeschränkung auf andere konnexe Sachverhalte besteht diese Beteiligungspflicht nicht. Dort können Mitgliedstaaten von einer Rückwirkungsbeschränkung profitieren, die andere Mitgliedstaaten erstritten haben, ohne im ersten Verfahren beteiligt gewesen zu sein. Zur Übertragung sogleich b).

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gewissenhaft verfolgen.1081 Dies gilt besonders für einzelfallbezogene Abwägungs- und Verhältnismäßigkeitsentscheidungen des Gerichtshofs.1082 Daher müssten alle Mitgliedstaaten, nicht nur der des Ausgangsverfahrens, aus Vorsicht stets eine Rückwirkungsbeschränkung beantragen und sich selbst eines Unionsrechtsverstoßes zeihen und dabei die Folgen noch möglichst dramatisch darstellen.1083 Dem kann die Möglichkeit, Eventualanträge zu stellen und worst-case-Analysen zu durchzuführen, nur unzureichend abhelfen.1084 Auch der hier vertretene subjektivierte Konnexitätsmaßstab der geklärten Rechtslage verschafft den Mitgliedstaaten nicht vollends Abhilfe. Danach ist zwar guter Glaube gegen bestehende Urteile möglich, wenn entsprechende Vertrauenstatbestände vorliegen. Bei der Nachholbarkeit geht es aber nicht um irrtümliche Falschverständnisse, sondern um bloße Unsicherheiten über die Reichweite eines erstauslegenden Urteils, so dass ein eigenständiger guter Glaube gegen das Urteil fehlt.1085 Anlass, diese Unsicherheiten zu ignorieren, besteht allenfalls, wenn die Mitgliedstaaten ihr eigenes Recht nicht überblicken können oder nicht das Personal oder die Strukturen dazu haben. Um das zu beurteilen, müsste der EuGH hingegen mitgliedstaatliches Recht selbst auslegen, was nicht zu seinen Kompetenzen zählt; ihm fehlen dafür auch die Mittel und die Expertise.1086

1081 GA Stix-Hackl, SchlA v. 5.10.2006 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Rn. 25 f.; Stix-Hackl, DB-SR 2007, 118; Waelbroeck, YbEL 1 (1981), 115, 122; Schmitz/Stammler, AöR 2011, 479, 492 f.; Steinberg/Bark, EuZW 2007, 245, 246; Drüen/Kahler, StuW 2005, 171, 182; siehe auch die Stellungnahmen der Verfahrensbeteiligten in der Rs. C-292/04, zitiert nach Meilicke, DB 2007, 650; zur Praxis Deutschlands und anderer Mitgliedstaaten siehe die älteren Ausführungen von Seidel, Die Praxis der Bundesregierung und der anderen Mitgliedstaaten in Verfahren, vor allem Vorabentscheidungsverfahren, vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 1983, S. 95, 106 ff. bzw. 114 f. 1082 Alexander, YbEL 8 (1988), 11, 25; Lang, IStR 2007, 235, 236; Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 97 Fn. 380. 1083 Lang, IStR 2007, 235, 244. 1084 Wiedmann, EuZW 2007, 692, 696; GA Stix-Hackl, SchlA v. 5.10.2006 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Rn. 27; Stix-Hackl, DB-SR 2007, 118, 119; a.A. Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 286. 1085 Guter Glaube gegen das erstauslegende Urteil würde außerdem eine Beschränkung bis zum späteren Urteil rechtfertigen, während die Nachholbarkeit ja gerade auf den Tag des ersten Urteils abstellt. 1086 Steinmeyer, Die Berücksichtigung der wirtschaftlichen, finanziellen und sozialpolitischen Folgen in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der EG, 1995, S. 93, 98.

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(6) Ex post-Betrachtung der wirtschaftlichen Folgen und Anrechnung des „Ersparten“ Abschließend lässt sich noch der letzte Einwand gegen die Nachholung und für ein Konnexitätsmerkmal ausräumen. So wird vorgebracht, der Verzicht auf die Konnexität oder ein äquivalentes Merkmal würde die Mitgliedstaaten entbinden, die Auswirkungen auf ihre Rechtsordnungen abzuschätzen.1087 Es werde für die Mitgliedstaaten ein Anreiz geschaffen, Urteile des EuGH nicht mehr selbstständig umzusetzen, sondern mit der Anpassung nationalen Rechts zu warten und sich verklagen zu lassen.1088 Diese Befürchtung deckt sich mit den gerade getroffenen Feststellungen zur faktischen Zersplitterung des Unionsrechts. Sie adressiert den Umstand, dass für den EuGH nicht zweifelsfrei erkennbar ist, aus welchen Gründen sich die anderen Mitgliedstaaten nicht schon im ersten Verfahren beteiligt und auf die sie betreffenden finanziellen Auswirkungen hingewiesen haben. Die Rückwirkungsbeschränkung soll die Mitgliedstaaten oder deren Subsysteme vor einer wirtschaftlichen Überforderung schützen. Im Falle einer Nachholung ist das Tatbestandsmerkmal der Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Auswirkungen vom Standpunkt des zweiten Urteils aus zu beurteilen. Das heißt zuerst, dass Umsetzungsfolgen so anzusetzen sind, wie sie sich nach den bisherigen Erfahrungen darstellen. Es wäre dementsprechend zu berücksichtigen, wenn sich frühere Drohszenarien erkennbar nicht verwirklicht haben oder verwirklichen werden. Weiterhin ist zu beachten, dass sich durch den Zeitablauf regelmäßig die Zahl derjenigen Fälle reduziert, die von einer nachgeholten Rückwirkungsbeschränkung überhaupt noch erfasst werden könnten. Dafür wären nämlich nur solche Sachverhalte geeignet, die vor dem ersten Urteil stattfanden und noch einer Entscheidung zugänglich (d.h. nicht bestands- oder rechtskräftig) sind. Schließlich ließe sich überlegen, auf den so ermittelten Schadenswert das anzurechnen, was die Begünstigten dadurch erspart haben, dass noch nach dem ersten Urteil Rechtsverhältnisse entsprechend der irrtümlichen Rechtslage entschieden wurden, obwohl sie bei gebotener Anwendung des ersten Urteils nach der „neuen“ Rechtslage zu beurteilen gewesen wären.1089 Es wird also angerechnet, was durch die Verzögerung erspart wurde. Durch diese ex post-Betrachtung wird eine nachge1087

Für die deutsche Finanzverwaltung beklagt dies jetzt schon Cordewener, DStR 2004, 6, 12; grundsätzlicher Steinmeyer, Die Berücksichtigung der wirtschaftlichen, finanziellen und sozialpolitischen Folgen in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der EG, 1995, S. 93, 97 f. 1088 Kokott/Henze, BB 2007, 913, 917; Haunold/Tumpel/Widhalm, SWI 1996, 140, 142; Janssen, EuZW 2005, 257; Keppert, ÖStZ 1997, 165, 169; Schnitger, Die Grenzen der Einwirkung der Grundfreiheiten des EG-Vertrages auf das Ertragsteuerrecht, 2006, S. 141 und die Nachweise in § 6 Fn. 122. 1089 Das sind im Wesentlichen solche Sachverhalte, die erst nach dem ersten Urteil abgeschlossen waren.

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holte Rückwirkungsbeschränkung umso unwahrscheinlicher, je größer der Zeitraum zwischen dem ersten und dem zweiten Urteil ist. Aus Sicht der Mitgliedstaaten heißt das: Je schneller die Frage der Änderung der Rückwirkungsentscheidung vorgelegt wird, desto größer ist Chance eine Nachholung zu rechtfertigen. cc) Ergebnis Als Ergebnis ist festzuhalten, dass eine unterlassene Rückwirkungsbeschränkung nachgeholt werden kann. Es besteht kein Grund von den allgemeinen Grundsätzen der Rechtsprechungsänderung abzuweichen oder eine Beteiligungspflicht zu statuieren. Die vom Gerichtshof angeführten Gefahren liegen entweder nicht vor (territoriale Zersplitterung des Rechts/Ungleichbehandlung der Mitgliedstaaten) oder betreffen nicht alle möglichen Sachverhaltsgestaltungen. Wie schon oben1090 festgestellt, erweist sich das Konnexitätsmerkmal des EuGH als zu pauschal, um alle Interessen angemessen zu berücksichtigen. Eine strenge Prüfung der angepassten Voraussetzungen der schwerwiegenden wirtschaftlichen Auswirkungen sollte es auch in Zukunft ermöglichen, Anträge auf eine (nachträgliche) Rückwirkungsbeschränkung zurückzuweisen, wenn sie auf zweifelhaften Motiven beruhen. dd) Alternative bei Verneinung der Nachholbarkeit: Unionaler Staatshaftungsanspruch Lehnt man eine Nachholbarkeit mit dem Gerichtshof ab und schafft so eine Verpflichtung zur Beteiligung im ersten Auslegungsverfahren, schließt sich die Frage an, wem gegenüber diese Pflicht besteht. Einerseits ließe sie sich als Obliegenheit der Mitgliedstaaten ausgestalten. Das entspricht dem üblichen Verständnis der prozessualen Beteiligungspflichten der Mitgliedstaaten.1091 Bestünde die Pflicht auch gegenüber denjenigen Rechtsunterworfenen, die von einer Rückwirkungsbeschränkung profitiert hätten, käme ein Schadensersatzanspruch auf Basis des unionalen Staatshaftungsanspruchs in Betracht. Im Rahmen der Prüfung des qualifizierten Verstoßes gegen eine unionsrechtliche Pflicht, müsste berücksichtigt werden, wie vorhersehbar die Auswirkungen des Urteils auf den Mitgliedstaat waren. Die nationalen Gerichte könnten dabei die konkrete Ausgestaltung der nationalen Rechtslage einzubeziehen haben. Offenkundige Versuche der Mitgliedstaaten, aus der

1090

§ 6 B.I.4., S. 143 ff. Zu Art. 23 Abs. 2 EuGH-Satzung siehe die Nachweise oben § 7 Fn. 1076; zu dem auf streitige Verfahren beschränkten Art. 40 Abs. 1 EuGH-Satzung Wägenbaur, EuGH VerfO, 2008, Art. 40 Satzung EuGH Rn. 1; vgl. auch Art. 56 Abs. 3 EuGH-Satzung, der das Unterlassen der Beteiligung gerade nicht sanktioniert. 1091

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Nichtumsetzung des Urteils Vorteile zu ziehen, könnten so sanktioniert und verhindert werden. b) Übertragung früherer Rückwirkungsbeschränkungen Eine anerkannte Möglichkeit zur Bestimmung eines früheren Zeitpunktes besteht, wenn die im Urteil vorgenommene Auslegung bis zum Tag eines früheren Urteils beschränkt wird, in welchem eine Rückwirkungsbeschränkung vorgenommen wurde. Beispielsweise bestimmte der Gerichtshof in der Rechtssache Simitzi, dass sich niemand auf die im Urteil gefundene Auslegung berufen könne, um die Erstattung von vor dem 16. Juli 1992 erhobenen streitigen Abgaben zu verlangen.1092 Das Datum entsprach dem Tag des Urteils in der Rechtssache Legros, in dem der Gerichtshof die Wirkung seiner Auslegung auf die Zeit nach dem Urteilstag beschränkt hatte. Eine ebensolche Übertragung liegt bei der sogenannten Barber-Folgerechtsprechung vor. Dort wurde die Reichweite der Rückwirkungsbeschränkung aus dem Barber-Urteil für ähnliche Sachverhalte erläutert. In diesem Vorgehen liegt indes keine eigenständige Rückwirkungsbeschränkung.1093 Die Beschränkung auf einen früheren Zeitpunkt dient nur der Anerkennung der Rückwirkungsbeschränkung einer früheren Auslegung, weil diese Auslegung Basis des aktuellen Urteils ist. Bezugspunkt der Auslegungsrückwirkungsbeschränkung ist die ausgelegte Unionsnorm und nicht der mitgliedstaatliche Sachverhalt oder die mitgliedstaatlichen Normen. Beispielsweise hatte der Gerichtshof in Legros eine französische Abgabe zu beurteilen, die auf in eine bestimmte Region eingeführte Waren erhoben wurden, gleich ob diese Waren aus einem anderen Mitgliedstaat oder anderen Regionen Frankreichs stammten. Er sah diese Abgabe als Abgabe mit gleicher Wirkung wie ein Einfuhrzoll im Sinne von Art. 28 Abs. 1 AEUV an. Die zugrunde liegende Auslegung wandte er in Simitzi auf eine vergleichbare griechische Abgabe an und stellte auch deren Rechtswidrigkeit fest. Deshalb kommt es für die Übertragung der Rückwirkungsbeschränkung auch nicht darauf an, ob die Tatbestandsvoraussetzungen einer Rückwirkungsbeschränkung im Ausgangsfall erfüllt sind, insbesondere nicht, ob im Mitgliedstaat

1092

EuGH v. 14.9.1995 – verb. Rs. C-485/93 und C-486/93 Simitzi, Slg. 1995, I-2655 Rn. 34 und Tenor Nr. 5; ebenso EuGH v. 7.11.1996 – Rs. C-126/94 Cadi Surgelés, Slg. 1996, I-5647 Rn. 33 f. und Tenor Nr. 2; ebenso EuGH v. 9.9.2004 – Rs. C-72/03 Carbonati Apuani, Slg. 2004, I-8027 Rn. 41 f. und Tenor Nr. 2. 1093 Als Rückwirkungsbeschränkung auf einen früheren Zeitpunkt verstehen es hingegen z.B. Kokott, The jurisprudence of the Court of Justice of the European Communities in the area of tax law, 2006, S. 7; Kilches, Sammlung des Europäischen Mehrwertsteuerrechts, 1999, S. 61 f.; wie hier wohl Egger, öAnwBl 2001, 528.

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des Ausgangsverfahrens schwerwiegende wirtschaftliche Folgen durch das Urteil drohen oder gedroht haben.1094 Aus der Sicht des Gerichtshofs ist diese Vorgehensweise von seinem Konnexitätsmerkmal ebenso vorgegeben wie die Ablehnung der Nachholbarkeit der Rückwirkungsbeschränkung. Bei einer objektiv vergleichbaren Rechtsfrage findet nicht nur der Inhalt der Normauslegung aus dem früheren Urteil Anwendung, sondern auch die zeitliche Wirkung der Auslegung, so wie sie im ersten Urteil festgestellt wurde.1095 Raum für eine eigenständige Rückwirkungsbeschränkung ist dann für den Gerichtshof nicht mehr, denn das erste Urteil verhindert objektiv, dass guter Glaube in eine abweichende Rechtslage entsteht. Nach der hier vertretenen Lösung wäre das frühere Urteil nur im Rahmen der geklärten Rechtslage zu berücksichtigen. Es würde nur dann einen guten Glauben ausschließen, wenn es subjektiv, d.h. aus verobjektivierter Sicht der Rechtsunterworfenen, einschlägig wäre und so den guten Glauben verhindert. Positiver Nebeneffekt der Begrenzung auf die frühere Rückwirkungsbeschränkung ist, dass die Trittbrettfahrerproblematik entschärft wird.1096 Wer einen Rechtsbehelf einlegt, weil er erwartet, dass eine bestimmte Auslegung auf weitere Sachverhalte (gegebenenfalls in anderen Mitgliedstaaten) anwendbar ist, geht leer aus. Dies ist ein Reflex des Zwecks der Prüfung der geklärten Rechtslage (und des Konnexitätsmerkmals), die verhindern soll, dass kein Rechtsunterworfener Vorteile aus der Nichtbeachtung einschlägiger Judikatur zieht.1097 Daneben kommt eine Rückwirkungsbeschränkung bis zum Zeitpunkt der Verkündung des späteren Urteils nur in Betracht, wenn die vorgenommene Auslegung – zumindest teilweise – eine nicht vergleichbare Rechtslage betrifft. Folge ist dann eine Abstufung der verschiedenen Rückwirkungsbeschränkungen. Als Beispiel lässt sich die Problematik der entgeltdiskriminierungsfreien Ausgestaltung von betrieblichen Systemen der Altersversorgung anführen. Die unmittelbare Anwendbarkeit des Art. 157 AEUV auf die Ausgestaltung betrieblicher Rentensysteme auch im Privatverhältnis in der Rechtssache Barber basiert auf der grundsätzlichen Anerkennung der unmittelbaren Anwendbarkeit des Art. 157 AEUV im Privatrechtsverhältnis in der Rechtssache Defrenne II. Die Auslegung in Barber ist jedoch nicht allein aus Defrenne II abzuleiten und daher nicht „konnex“. Aufgrund der Rückwirkungsbeschränkung in Barber sind Ansprüche auf Rentenzahlung für Be1094

Das übersehen EuGH v. 1.4.2008 – Rs. C-267/06 Maruko, Slg. 2008, I-1757 Rn. 77 (kritiklos dazu Stüber, NVwZ 2007, 750 f.) und Hyland, IJEL 2 (1995), 208, 220. 1095 D.h. bei einer konnexen Rechtsfrage richtet sich die zeitliche Wirkung immer nach dem ersten Urteil. Das hebt die Bedeutung einer klaren Abgrenzung im Rahmen der Konnexität hervor. 1096 Fitzpatrick, ILJ 1994, 155, 160 sieht darin den Hauptzweck. 1097 Keppert, ÖStZ 1997, 165, 169.

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schäftigungszeiten vor dem 17. Mai 1990 (Tag des Barber-Urteils) ausgeschlossen, wenn nicht vorher ein Rechtsbehelf eingelegt wurde. Wegen der zusätzlichen Geltung der Rückwirkungsbeschränkung in Defrenne II ist aber selbst für die letztgenannten Rechtsbehelfsführer ein Anspruch für Lohn- und Gehaltsperioden vor dem 8. April 1976 (Tag des Defrenne II-Urteils) ausgeschlossen.1098 c) Erstauslegendes Urteil war keine Auslegungsvorlage Als „Zweitauslegung„ ist eine Auslegungsvorlage ebenso anzusehen, wenn die streitige Rechtsfrage durch ein Urteil des EuGH geklärt wird, nachdem das Auslegungsverfahren eingeleitet wurde. Deshalb ist auch dann danach zu unterscheiden, ob in dem dazwischentretenden Urteil die Rückwirkung der Auslegung beschränkt wurde oder nicht.1099 Bisher ungelöst ist hingegen der Fall, dass das erstauslegende Urteil keine Auslegungsvorlage ist. Folgt man der hier vertretenen Ansicht, dass in allen Verfahrensarten eine Auslegungsrückwirkungsbeschränkung möglich sein muss,1100 ist maßgeblich, ob eine solche erfolgt ist. Wurde die Wirkung der Auslegung beschränkt, kann die Beschränkung übertragen werden. Wurde die Wirkung im ersten Urteil nicht beschränkt, kann eine neue Beschränkung nur bei einem das erste Urteil verdrängenden Gutglaubenstatbestand erfolgen.1101 Wenn das dazwischentretende Urteil unabhängig von seiner Verfahrensart geeignet ist, den guten Glauben zu zerstören, muss eine Anknüpfung an seinen Verkündungstag möglich sein, um Wertungswidersprüchen zu entgehen. Erging das erstauslegende Urteil in einem Unwirksamkeitsverfahren, könnte dann auch eine Fortwirkungsanordnung im Sinne von Art. 264 Abs. 2 AEUV als Bezugspunkt dienen. 4. Zukünftiger Zeitpunkt Ausnahmsweise kann die Wirkung der „richtigen“ Auslegung für alle Sachverhalte sogar erst ab einem zukünftigen Zeitpunkt beginnen.1102 Damit wird den Rechtsunterworfenen eine Übergangsfrist zur Anpassung an die unerwar1098

EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-7/93 Beune, Slg. 1994, I-4471 Rn. 67. Eigentlich besteht auch hier eine Rückausnahme zugunsten der Rechtsbehelfsführer, die jedoch wegen Zeitablaufs keinen Anwendungsbereich haben sollte. 1099 Das bleibt unberücksicht bei Broberg/Fenger, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union, 2014, S. 399. 1100 Siehe oben § 7 A.IV.5., S. 313. 1101 Legt man das Konnexitätsmerkmal in seinem Verständnis durch den EuGH zugrunde, entfällt diese Möglichkeit. 1102 Die Frage offenlassend Broberg/Fenger, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union, 2014, S. 399 f.; ablehnend Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 269 ff.

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tete Rechtslage gewährt. Eine Aufrechterhaltung für die Zukunft ist bei den Unwirksamkeitsentscheidungen durchaus häufig anzutreffen,1103 was dafür spricht, Vergleichbares bei den Auslegungsentscheidungen einzuführen. Besonders hervorzuheben ist die Entscheidung in den verbundenen Rechtssachen C-14/06 und C-295/06, in der der Gerichtshof der chemischen Industrie drei Monate Zeit gewährte, um ihre Produktionsmechanismen an das Verbot der Herstellung eines bestimmten Flammhemmers anzupassen.1104 Bedenken gegen die Bestimmung eines zukünftigen Zeitpunkts bestünden nicht. Es läge zwar – wie bei allen Auslegungsrückwirkungsbeschränkungen – kein „Fortwirken einer an sich rechtswidrigen Rechtslage“1105 vor, da es nur eine irrtümliche Vorstellung über die Rechtslage gab. Damit ist jedoch nicht unvereinbar, dass die Berufung auf eine vom Gerichtshof vorgenommene Auslegung nicht nur für die Vergangenheit, sondern auch für einen begrenzten Zeitraum in der Zukunft ausgeschlossen ist. Sprachlich würde es sich dann freilich nicht mehr um eine „Rückwirkungs“beschränkung handeln. Die vom Gerichtshof häufig verwendete Diktion von den „zeitlichen Wirkungen des Urteils“ würde hingegen eine Beschränkung auch für die Zukunft noch erfassen. Die bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofs dürfte eine Beschränkung für die Zukunft nicht ausschließen. Zwar darf die Berücksichtigung praktischer Auswirkungen „nicht so weit gehen […], dass die Objektivität des Rechts gebeugt und seine zukünftige Anwendung unterbunden wird, nur weil eine Gerichtsentscheidung für die Vergangenheit gewisse Auswirkungen haben kann“.1106 Dies lässt sich durchaus in dem Sinne verstehen, dass stets nur Beschränkungen für die Vergangenheit möglich sind.1107 Doch stellt diese Formulierung darauf ab, dass die EuGH-Entscheidung Auswirkungen für die Vergangenheit hat. Hier stehen jedoch wirtschaftliche Folgen für die Zukunft im Raum. In den bisherigen Entscheidungen kam es nicht darauf an, ob der

1103

Siehe unten § 7 C.II.1.c), S. 350 ff. EuGH v. 1.4.2008 – verb. Rs. C-14/06 und C-295/06 Parlament und Dänemark ./. Kommission, Slg. 2008, I-1649 Rn. 86. 1105 So Forsthoff, DStR 2005, 1840, 1844. 1106 EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne II, Slg. 1976, 455 Rn. 71/73; EuGH v. 2.2.1988 – Rs. 24/86 Blaizot, Slg. 1988, 379 Rn. 30; EuGH v. 17.7.1992 – Rs. C-163/90 Legros u.a., Slg. 1992, I-4625 Rn. 30; EuGH v. 9.3.2000 – Rs. C-437/97 Evangelischer Krankenhausverein Wien u.a., Slg. 2000, I-1157 Rn. 57; EuGH v. 19.9.2000 – verb. Rs. C-177/99 und C-181/99 Ampafrance und Sanofi, Slg. 2000, I-7013 Rn. 66; EuGH v. 14.9.2006 – Rs. C-228/05 Stradasfalti, Slg. 2006, I-8391 Rn. 72. 1107 Das betont Rainer, IStR 1996, 328; i.Erg. ausdrücklich ebenso Drüen/Kahler, StuW 2005, 171, 180; Kellersmann/Treisch, Europäische Unternehmensbesteuerung, 2002, S. 175; ähnlich GA Jacobs, SchlA v. 17.3.2005 – Rs. C-475/03 Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373 Rn. 87: „beträchtliche Neuerung“; in diesem Sinne Albarth/Wunderlich, EWS 2006, 205, 210 f. 1104

§ 7 Die Rechtsfolgenbestimmung der Rückwirkungsbeschränkung

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Gerichtshof solche als relevant erachtete.1108 Die Entscheidung Van Landschoot lässt sich jedenfalls nicht als Präzedenzfall heranziehen.1109 Dort wurde zwar eine begünstigende Vorschrift bis zu ihrer Neuregelung aufrechterhalten, jedoch wurde sie zuvor um ihren diskriminierenden Teil beschnitten.1110 Es galt also nicht eine rechtswidrige, sondern eine rechtmäßige Regelung fort. Darüber hinaus erwog der Gerichtshof eine Aufrechterhaltung des nationalen Rechts für die Zukunft im Auslegungsverfahren Winner Wetten.1111 Er erörterte dies jedoch lediglich als temporäre Ausnahme zum Anwendungsvorrang unmittelbar anwendbaren Unionsrechts.1112 Der EuGH stellte sich – im Gegensatz zum Generalanwalt – also nicht die Frage, ob die Grundsätze der Auslegungsrückwirkungsbeschränkung fortzuentwickeln sind. Außerhalb des Vorrangs unmittelbar anwendbaren Rechts hätte die Winner WettenRechtsprechung demnach keine Bedeutung, während eine Weiterentwicklung der Rückwirkungsbeschränkung grundsätzlich für sämtliches Unionsrechts gelten würde. Daher verwundert einerseits das Vorgehen des EuGH, weil sich mit der Wahl eines zukünftigen Zeitpunkts für das „Berufendürfen“ auf die gegebene Auslegung dasselbe Ergebnis erreichen ließe.1113 Die Rückwirkungsbeschränkung vermeidet dann den Konflikt von Unions- und mitgliedstaatlichem Recht auch für einen Zeitraum in der Zukunft, sodass der Anwendungsvorrang nicht relevant wird und er daher nicht suspendiert werden muss. Andererseits gilt eine Rückwirkungsbeschränkung immer in allen Mitgliedstaaten, während die Durchbrechung des Anwendungsvorrangs auf einzelne Mitgliedstaaten begrenzt werden könnte.1114 Die Bestimmung des Art. 260 Abs. 1 AEUV zu den Rechtsfolgen eines Vertragsverletzungsverfahrens lässt sich nicht fruchtbar machen. Auf ein Vertragsverletzungsurteil hin hat der Mitgliedstaat den Rechtsverstoß unver-

1108

Siehe z.B. EuGH v. 3.10.2006 – Rs. C-475/03 Banca popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373; EuGH v. 21.3.2013 – Rs. C-92/11 RWE Vertrieb, ECLI:EU:C:2013:180 Rn. 56 ff. 1109 So aber GA Jacobs, SchlA v. 17.3.2005 – Rs. C-475/03 Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373 Rn. 87; Grabitz/Hilf/Nettesheim-Karpenstein, Das Recht der Europäischen Union, 51. EL 2013, Art. 267 AEUV Rn. 117. 1110 Finke, IStR 2006, 212, 216. 1111 EuGH v. 8.9.2010 – Rs. C-409/06 Winner Wetten, Slg. 2010, I-8015 Rn. 62 ff. 1112 Dazu eingehend unten § 15 D., S. 479 ff. 1113 Das zeigt schon die Auseinandersetzung von GA Bot, SchlA v. 26.1.2010 – Rs. C-409/06 Winner Wetten, Slg. 2010, I-8015 Rn. 75 ff. 1114 Siehe auch unten § 15 D.III.1., S. 459. Deshalb ist Winner Wetten kein Beispiel für die Rückwirkungsbeschränkungsrechtsprechung, so aber z.B. GA Villalón, SchlA v. 31.1.2013 – Rs. C- 414/11 Daiichi Sankyo und Sanofi-Aventis, ECLI:EU:C:2013:49 Rn. 121 mit Fn. 30.

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züglich zu beheben.1115 Es ist dabei in Art. 260 Abs. 1 AEUV nicht vorgesehen und auch nicht möglich, eine Frist zur Beseitigung der Vertragsverletzung zu setzen.1116 Erfordert die Anpassung der nationalen Rechtslage den Erlass eines Gesetzes, so muss die Zwischenzeit soweit möglich mit Verwaltungsanweisungen überbrückt werden.1117 Auch das Zwangsgeld gemäß Art. 260 Abs. 2 AEUV ist beginnend mit dem Tag des Urteils zu zahlen.1118 Dennoch kann daraus nicht abgeleitet werden, dass eine mit dem Unionsrecht unvereinbare nationale Rechtslage keinesfalls für die Zukunft weiterbestehen sollte. Das anerkannte Verständnis von Art. 260 Abs. 1 AEUV berücksichtigt die Möglichkeit einer Rückwirkungsbeschränkung nicht. Überträgt man – wie hier vertreten1119 – die Grundsätze zur Beschränkung einer Auslegungsvorlage auf das Vertragsverletzungsverfahren, stellt sich dort ebenso die Frage nach der Zulässigkeit eines zukünftigen Beschränkungszeitpunkts. Dann würde das Unionsrecht erst für die Zeit danach, die Beseitigung des mitgliedstaatlichen Rechtsverstoßes verlangen. Deshalb unterminiert die Wahl eines zukünftigen Zeitpunkts nicht die Bedeutung des Vorlageverfahrens für die Einheit und Auslegung des Unionsrechts.1120 Die rechtswidrigen nationalen Vorschriften bleiben zwar nicht nur für die Vergangenheit, sondern auch darüber hinaus in Anwendung und könnten subjektive Rechtspositionen beeinträchtigen.1121 Jedoch würde die Geltung des Unionsrechts nicht auf unbestimmte Zeit, sondern nur übergangsweise verzögert.1122 Gemessen an der Vergangenheit würde die Weitergeltung für die Zukunft regelmäßig sogar den kürzeren Zeitraum ausmachen. Dem steht auch nicht der Grundsatz der Vertragstreue gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV

1115

Calliess/Ruffert-Cremer, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 260 AEUV Rn. 6; Vedder/Heintschel v. Heinegg-Pache, Europäisches Unionsrecht, 2012, Art. 260 Rn. 4. A.A. Hilf/Pache, NJW 1996, 1169, 1170. 1116 Schwarze-Schwarze, EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 260 AEUV Rn. 5. Dass die Anpassung typischerweise Zeit in Anspruch nimmt, ist bei der Bemessung des Pauschalbetrags oder Zwangsgeld gemäß Art. 260 Abs. 2, 3 AEUV zu berücksichtigen, GA Jääskinen, SchlA v. 21.3.2013 – Rs. C-241/11 Kommission ./. Tschechien, ECLI:EU: C:2013:181 Rn. 75. 1117 Streinz-Ehricke, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2011, Art. 260 Rn. 7; Grabitz/Hilf/Nettesheim-Karpenstein, Das Recht der Europäischen Union, 51. EL 2013, Art. 260 AEUV Rn. 10. 1118 Vgl. z.B. EuGH v. 11.12.2012 – Rs. C-610/10 Kommission ./. Spanien, ECLI:EU: C:2012:781 Tenor Nr. 2; EuGH v. 19.12.2012 – Rs. C-374/11 Kommission ./.Irland, ECLI: EU:C:2012:827 Tenor Nr. 2. 1119 Siehe oben § 5 E.I.3., S. 127 f. 1120 A.A. Wiedmann, EuZW 2007, 692, 694. 1121 Das betonen Nanetti/Mazzotti, EC Tax Review 2006, 166, 170. 1122 Schwarze, NJW 2005, 3459, 3465.

§ 7 Die Rechtsfolgenbestimmung der Rückwirkungsbeschränkung

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entgegen,1123 denn dieser verpflichtet die Mitgliedstaaten zur Befolgung des Unionsrechts „so wie es sich darstellt“; hier also nur in den Grenzen der beschränkten zeitlichen Wirkung. Ebenso nicht hinderlich wäre, dass die Impulse für Privatpersonen zur Durchsetzung des Unionsrechts mittels des Vorabentscheidungsverfahrens verloren gehen könnten.1124 Deren (unbestrittene) Bedeutung kann im Rahmen der personellen Rückausnahme für Rechtsbehelfsführer berücksichtigt werden.1125 Problematisch ist, dass eine feste Übergangsfrist Anreize für die Rechtsunterworfenen schafft, deren Grenzen auszuloten und die Umsetzung der unionsrechtlichen Vorgaben so lange wie möglich hinauszuzögern.1126 Wären sie zur sofortigen Umsetzung verpflichtet, würde das Unionsrecht schneller effektiv durchgesetzt, denn jeder Betroffene müsste sich größtmöglich anstrengen.1127 Andererseits kann den Rechtsunterworfenen durch eine feste Übergangsfrist mehr Rechts- und Planungssicherheit zugestanden werden.1128 Dieses Bedürfnis haben nicht nur Mitgliedstaaten, wenn Gesetze zu ihren Lasten angepasst werden müssten,1129 denn die Modifikation privat gesetzten Rechts kann ebenso längere Zeit in Anspruch nehmen, beispielsweise wenn Tarifverträge, Betriebsvereinbarungen oder Allgemeine Geschäftsbedingungen betroffen sind. Es ist jedoch zu beachten, dass beinahe jedes EuGH-Urteil auch für die Zukunft Anpassungsbedarf hervorrufen wird. Bei der Abgrenzung müssen also strenge Anforderungen gestellt werden, um die Wahl zukünftiger Zeitpunkte nicht zum Regelfall werden zu lassen. Zentrale Voraussetzung für die Wahl eines zukünftigen Zeitpunkts ist, dass die Übernahme der unionsrechtlichen Vorgaben keinesfalls sofort erfolgen

1123 So aber Müller, Die Begrenzung der zeitlichen Wirkungen von EuGHEntscheidungen, 2009, S. 97 f.; Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 271 1124 A.A. Wiedmann, EuLF 2006, I-197, I-201; Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 275. 1125 Dazu unten § 7 D.I., S. 358 ff. 1126 Leonard/Szczekalla, UR 2005, 420, 423; Hahn, wiedergegeben in Drüen/Kahler, StuW 2005, 171, 181. Nicht überzeugend ist der Hinweis auf die Abschreckungswirkung des Vorlageverfahrens, denn solange die Rechtsfolge der pro futuro-Wirkung das Vorliegen eines Gutglaubenstatbestands (bis zum Urteilstag) verlangt, kann die grundsätzliche Rückwirkung eines Vorabentscheidungsurteils keinen Anreiz für die Rechtsunterworfenen schaffen; a.A. Wiedmann, EuZW 2007, 692, 694; Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 100; ähnlich Janssen, EuZW 2005, 257. 1127 Das übersieht Purnhagen, EuR 2011, 690, 703 f. 1128 Finke, IStR 2006, 212, 216. 1129 So aber Schwarze, NJW 2005, 3459, 3465.

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kann und in der Zwischenzeit schwere finanzielle Folgen drohen.1130 Die wirtschaftlichen Belastungen in der Zukunft müssen sich als unmittelbare und unausweichliche Folgen des bis zum Urteil vorliegenden guten Glauben darstellen. Nur so wird verhindert, dass nicht ausschließlich finanzielle Erwägungen zu einer Beschränkung der zeitlichen Wirkung führen und das Erfordernis eines guten Glaubens umgangen wird.1131 Die Bestimmung des Übergangszeitraums muss sich an den Notwendigkeiten des Einzelfalls ausrichten. Dabei ist der Gerichtshof auf die Unterstützung der Mitgliedstaaten angewiesen. Er selbst verfügt weder über die Mittel noch die Expertise zu beurteilen, welche Anpassungen in den 28 Mitgliedstaaten vorgenommen werden müssten und wie viel Zeit dafür redlicherweise gebraucht wird.1132 Da überraschende Auslegungen wie sofort in Kraft tretende Gesetze wirken, liegt es nahe, sich an den üblichen unionalen Übergangsfristen bei neugeschaffenen Rechtsakten zu orientieren. Im Steuerrecht bieten sich hier die Veranlagungszeiträume an.1133 Bei irrtümlich missverstandenen Richtlinien ist an deren Umsetzungsfristen anzuknüpfen.1134 Dabei ist freilich zu berücksichtigen, dass die Anpassung einzelner Vorschriften wesentlich weniger Zeit verlangt als die Umsetzung einer kompletten Richtlinie. II. Unwirksamkeitsentscheidungen Bei den Unwirksamkeitsentscheidungen sind zwei zeitliche Grenzen zu unterscheiden. Zum einen müssen die Sachverhalte, die noch von dem aufrechterhaltenen Rechtsakt erfasst werden sollen, von solchen Sachverhalten abgegrenzt werden, für die er nicht mehr gelten soll. Das entspricht der zeitlichen Reichweite bei Auslegungsentscheidungen. Zum anderen ist fraglich, wie lange der aufgehobene Rechtsakt aufrechterhalten wird. Damit ist angesprochen, ob der Rechtsakt trotz der Aufrechterhaltung ein „Verfallsdatum“ hat und sich die maßgebliche Rechtslage für die erfassten Sachverhalte nach Ablauf einer Frist noch (rückwirkend) ändern kann, der Rechtsakt also nur vorübergehend oder endgültig aufrechterhalten wird.

1130

GA Stix-Hackl, SchlA v. 14.3.2006 – Rs. C-475/03 Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373 Rn. 162; Wunderlich/Albath, DStZ 2005, 547, 552; Imping, EWS 1996, 193, 198. 1131 In diese Richtung gehen die Bedenken von Purnhagen, EuR 2011, 690, 703 und Kruis, Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts in Theorie und Praxis, 2013, S. 206. 1132 Wiedmann, EuZW 2007, 692, 694; Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 100. 1133 GA Stix-Hackl, SchlA v. 14.3.2006 – Rs. C-475/03 Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373 Rn. 164. 1134 Vgl. GA Kokott, SchlA v. 30.9.2010 – Rs. C-236/09 Association Belge des Consommateurs Test-Achats ASBL u.a., Slg. 2011, I-773 Rn. 80 (Gültigkeitsvorlage).

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1. Abgrenzung der erfassten Sachverhalte Die Fortwirkungsanordnung erfasst alle Sachverhalte, die nach dem Inkrafttreten der Norm bis zu einem bestimmten Endzeitpunkt in der Zukunft in deren Anwendungsbereich fallen. Das Inkrafttreten der Norm markiert in Vertrauensfällen (oben § 6 C.I., S. 247 ff.) den Beginn des guten Glaubens, weil die Gültigkeitsvermutung mit dem Inkrafttreten einsetzt. In den Fällen des öffentlichen Interesses (oben § 6 C.II., S. 259 ff.) beginnt mit dem Inkrafttreten auch die faktische Anwendung der Norm. Ein abweichender Anfangszeitpunkt in diesem Sinne liegt nicht vor, wenn eine Beschränkung der Nichtigkeit darauf beruht, dass sich die maßgeblichen rechtlichen oder tatsächlichen Umstände geändert haben und die Norm deshalb rechtswidrig wird.1135 Dann liegt nämlich nur eine Teilnichtigkeit vor, denn vor der Änderung der Sach- oder Rechtslage war die Norm nicht rechtswidrig. Insoweit bedarf es nicht der Anwendung von Art. 264 Abs. 2 AEUV.1136 Der Endzeitpunkt bestimmt sich in Abhängigkeit von dem vorliegenden Einzelfall. Hintergrund ist, dass nicht nur Erwägungen des guten Glaubens, sondern eine Mehrzahl von Gründen zu einer Anwendung von Art. 264 Abs. 2 AEUV führen können. Um dem jeweiligen Zweck der Rückwirkungsbeschränkung gerecht zu werden, eröffnet Art. 264 Abs. 2 AEUV dem Gerichtshof flexible Gestaltungsmöglichkeiten. Neben der bekannten Anknüpfung an den Tag der Verkündung des Urteils, kommt die Aufrechterhaltung von Sachverhalten in Betracht, die bis zu einem Zeitpunkt in der Vergangenheit oder einem in der Zukunft abgeschlossen waren. a) Tag des Urteils als Bezugspunkt In einer ersten Variante ist der Endzeitpunkt der Tag der Verkündung des Urteils. Alle relevanten Sachverhalte, die vor dem Urteilstag liegen, richten sich noch nach dem aufgehobenen Rechtsakt, unabhängig davon, wann sie entschieden werden.1137 Darunter lassen sich alle Fälle fassen, in denen im Tenor die Rückwirkungsbeschränkung inhaltlich auf bis zum Urteil abgeschlossene Sachverhalte beschränkt wird.1138 Wie bei den Auslegungsentscheidungen fallen Sachverhalte des Tages der Verkündung nicht mehr darunter. Die Aufrechterhaltung bis zum Urteilstag wird vor allem dann ange1135

Vgl. HdStR-Löwer, 3. Aufl. 2005, § 70 Rn. 114 a.E. zur Verfassungswidrigkeit einer deutschen Norm. 1136 Siehe schon oben § 6 C.IV.2., S. 285. 1137 EuGH v. 3.7.1986 – Rs. 34/86 Rat ./. Parlament, Slg. 1986, 2155 Rn. 48. 1138 EuGH v. 26.3.1996 – Rs. C-271/94 Parlament ./. Rat, Slg. 1996, I-1689 Rn. 39; EuGH v. 12.5.1998 – Rs. C-106/96 Großbritannien und Nordirland ./. Kommission, Slg. 1998, I-2729 Rn. 41 f.; EuG v. 13.4.2011 – Rs. T-576/08 Deutschland ./. Kommission, Slg. 2011, II-1578 Rn. 143.

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wendet, wenn das Vertrauen der Rechtsunterworfenen geschützt werden soll. Da dieser Grund mit dem Urteil entfällt, wäre ein späterer Zeitpunkt zumeist nicht mehr gerechtfertigt. b) Frühere Zeitpunkte In einer zweiten Variante werden die Wirkungen des Rechtsakts oder der Durchführungsmaßnahmen hinsichtlich solcher Sachverhalte aufrechterhalten, die bis zu einem bestimmten Zeitpunkt vor dem Urteil abgeschlossen waren. aa) Kein Anwendungsfall Faktisch ist das gegeben, wenn der aufgehobene Rechtsakt schon seit einem Zeitpunkt in der Vergangenheit keine Anwendungsfälle mehr hat. So liegen die Dinge zum Beispiel, wenn der Rechtsakt oder die aufrechtzuerhaltenden Unionsprogramme schon abgelaufen waren.1139 Werden dabei – wie üblich1140 – die Wirkungen des Rechtsakts ad infinitum aufrechterhalten, entsteht die gleiche Situation wie wenn der Rechtsakt gar nicht angegriffen worden wäre. Art. 264 Abs. 2 AEUV nimmt dann vollständig zurück, was Art. 264 Abs. 1 AEUV anordnet. Dennoch besteht kein Grund, diese Möglichkeit auszuschließen. Denn das Rechtsschutzinteresse der klagenden Partei kann sich schon in der (inzidenten) Feststellung der Rechtswidrigkeit der Norm erschöpfen, beispielsweise wenn es ihr vorrangig um die Klärung einer Rechtsfrage zur Vermeidung zukünftiger Streitfälle ging.1141 Das Unionsrecht hält dafür keine andere Verfahrensart bereit, auf die der Kläger verwiesen werden könnte. bb) Keine Nachholbarkeit Im Gegensatz zu den Auslegungsentscheidungen besteht bei den Unwirksamkeitsentscheidungen keine Möglichkeit, eine einmal versäumte Rückwirkungsbeschränkung nachzuholen.1142 Zuerst kann ein rechtskräftig für un1139 Z.B. EuGH v. 26.3.1987 – Rs. 45/86 Kommission ./. Rat, Slg. 1987, 1493; EuGH v. 27.9.1988 – Rs. 51/87 Kommission ./. Rat, Slg. 1988, 3459; EuGH v. 31.3.1992 – Rs. C-284/90 Rat ./. Parlament, Slg. 1992, I-2277; EuGH v. 28.5.1998 – Rs. C-22/96 Parlament ./. Rat, Slg. 1998, I-3231; EuGH v. 7.3.1996 – Rs. C-360/93 Parlament ./. Rat, Slg. 1996, I-1195; EuGH v. 19.11.1998 – Rs. C-159/96 Portugal ./. Kommission, Slg. 1998, I-7379; EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-93/00 Parlament ./. Rat, Slg. 2001, I-10119; EuGH v. 1.10.2009 – Rs. C-370/07 Kommission ./. Rat, Slg. 2009, I-8917. 1140 Siehe unten 2., S. 356. 1141 EuGH v. 31.3.1992 – Rs. C-284/90 Rat ./. Parlament, Slg. 1992, I-2277 Rn. 36. 1142 Das meinen wohl auch GA Reischl, SchlA v. 21.1.1981 – Rs. 66/80 International Chemical Corporation, Slg. 1981, 1224, 1236 und Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 257 f.

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wirksam erklärter Rechtsakt nicht erneut Gegenstand eines Unwirksamkeitsverfahrens sein.1143 Zudem hilft auch eine Auslegungsvorlage nicht weiter, denn die die gestaltende Wirkung des Unwirksamkeitstenors kann nicht rückwirkend abgeändert, sondern nur Tenor oder Begründung erläutert werden.1144 Die Fortwirkungsanordnung gemäß Art. 264 Abs. 2 AEUV ist an den konkreten angegriffenen Rechtsakt geknüpft und – nach derzeitiger Dogmatik – gerade keine Beschränkung der Auslegung höherrangigen Rechts, selbst wenn die Unwirksamkeitserklärung auf der Auslegung basiert. Demgegenüber dürfte nicht maßgeblich sein, dass durch eine Nachholbarkeit bereits entschiedene Fälle neu aufgerollt und so Rechtssicherheit und Rechtsfrieden eingeschränkt werden, da dies mit einer Rechtsprechungsänderung notwendig verbunden ist.1145 cc) Übertragung früherer Rückwirkungsbeschränkungen Ein früherer Zeitpunkt wäre schließlich maßgeblich, wenn das Datum der Rückwirkungsbeschränkung eines anderen Urteils in Bezug genommen werden könnte. Erforderlich ist, dass das frühere Urteil Auswirkung auf den Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung hat. Das ist insbesondere der Fall, wenn eine Rückwirkungsbeschränkung aus Gründen des Vertrauensschutzes vorgenommen werden soll und ein früheres Urteil die Gültigkeitsvermutung erschüttert hatte.1146 Demgegenüber wird der Rückwirkungstatbestand durch das frühere Urteil nicht berührt, wenn es auf eine Erschütterung des guten Glaubens nicht ankommt. Richtig war deshalb die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache C-228/92. Dort begründete er die Ungültigkeit einer Verordnung über die Festsetzung von Währungsausgleichsbeträgen in zwei Randnummern (!), da sie an denselben Fehlern litt wie eine ähnliche Verordnung, die schon früher für ungültig erklärt wurde.1147 Außerdem ordnete der Gerichtshof an, dass die aufgrund der Verordnung erfolgten Zahlungen nicht rückabgewickelt werden können.1148 Da der Gerichtshof schon in dem ersten Urteil Art. 264 Abs. 2 1143

Siehe oben § 3 C.III.2., S. 23 f. m.N. in Fn. 66. A.A. Pietrek, Verbindlichkeit von Vorabentscheidungen nach Art. 177 EWGV, 1989, S. 232. 1145 A.A. Reischl, Ansätze zur Herausbildung eines europäischen Verwaltungsrechts in der Rechtsprechung des EuGH, 1982, S. 97, 106. 1146 Vgl. EuGH v. 8.9.1994 – verb. Rs. C-363/93, C-407/93 bis C-411/93 Lancry u.a., Slg. 1994, I-3957 Rn. 40 ff. Der Gerichtshof wandte zwar Art. 264 Abs. 2 AEUV nicht an, hielt aber die in Legros ausgesprochene Rückwirkungsbeschränkung für einschlägig. 1147 EuGH v. 26.4.1994 – Rs. C-228/92 Roquettes Frères ./. Hauptzollamt Geldern, Slg. 1994, I-1445 Rn. 13 f. unter Bezugnahme auf EuGH v. 15.10.1980 – Rs. 4/79 Providence agricole de la Champagne, Slg. 1980, 2823. 1148 EuGH v. 26.4.1994 – Rs. C-228/92 Roquettes Frères ./. Hauptzollamt Geldern, Slg. 1994, I-1445 Rn. 22. 1144

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AEUV angewendet hatte, stand eine Bezugnahme auf dieses Urteil im Raum.1149 Das entsprach jedoch nicht dem Grund für die Rückwirkungsbeschränkung. Sowohl für die erste, als auch für die spätere Fortwirkungsanordnung war maßgeblich, dass der Kommission ein Einschätzungsspielraum zustand und dass die Rückzahlung der Währungsausgleichsbeträge zu erneuten Wettbewerbsverzerrungen führen würde. Für den Tatbestand kam es auf eine Vertrauenslage nicht an, so dass das erste Urteil an dem Bedürfnis nach einer Rückwirkungsbeschränkung nichts geändert hatte. c) Spätere Zeitpunkte In der Mehrzahl der bisherigen Urteile erfasste die Fortwirkungsanordnung auch solche Sachverhalte, die ab dem Urteilstag bis zu einem zukünftigen Zeitpunkt in den Anwendungsbereich der rechtswidrigen Norm fallen würden.1150 Der Gerichtshof trifft in diesem Fall gleichsam eine Übergangsregelung1151, denn vom Inhalt des weitergeltenden Rechtsakts darf auch der Unionsgesetzgeber nicht rückwirkend abweichen. Da für die zukünftige Anwendung der rechtswidrigen Vorschrift ein Endzeitpunkt festgesetzt wird, wird dem Unwirksamkeitsurteil nicht die praktische Wirksamkeit genommen, solange der Endzeitpunkt nicht unbegrenzt hinausgeschoben wird. Für die Zukunft werden Rechtsakte vor allem dann aufrechterhalten, wenn die Rückwirkungsbeschränkung auf Rechtssicherheitserwägungen im öffentlichen Interesse beruht. Es liegt nahe, den rechtswidrigen Rechtsakt auch für die Zukunft weitergelten zu lassen, wenn eine Rechtslücke vermieden werden soll. Wird hingegen auf betätigtes Vertrauen Rücksicht genommen, so kommt nur ganz ausnahmsweise eine Aufrechterhaltung für die Zukunft in Betracht. Darüber hinaus hängt es von den Anforderungen des Einzelfalls ab, welcher konkrete Bezugspunkt gewählt werden muss. aa) Nach dem Kalender bestimmter oder bestimmbarer Zeitpunkt Zuerst kann der Zeitpunkt nach dem Kalender bestimmt sein. So hat der EuGH in den verbundenen Rechtssachen C-14/06 und C-295/06 am 1. April 2008 die Wirkungen der für nichtig erklärten Nr. 2 des Anhangs der Ent-

1149

So auch die Kommission im Verfahren, vgl. GA Darmon, SchlA v. 27.10.1993 – Rs. C-228/92 Roquette Frères ./. Hauptzollamt Geldern, Slg. 1994, I-1445 Rn. 55. 1150 Vgl. Broberg/Fenger, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union, 2014, S. 403. Nicht nur aus diesem Grund stellt das Urteil in der Rs. C-236/09 Test-Achats nicht die erste Bestimmung eines zukünftigen Zeitpunkts dar; so aber Purnhagen, EuR 2011, 690, 691. 1151 So der Ausdruck von GA Geelhoed, SchlA v. 3.4.2001 – Rs. C-228/99 Silos e Mangimi Martini, Slg. 2001, I-8401 Rn. 72.

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scheidung 2005/717 bis einschließlich 30. Juni 2008 aufrechterhalten.1152 Ähnlich sind Fälle, in denen der Zeitpunkt nach dem Kalender bestimmbar ist, beispielsweise wenn eine Verordnung für zwei Monate nach Verkündung des Urteils aufrechterhalten wird.1153 Die Kriterien, nach denen der Zeitpunkt vom Gerichtshof ausgewählt wird, können nur als nicht abschließende Aufzählung wiedergegeben werden; zu vielfältig sind die möglichen Sachverhalte. Orientierung bietet zuerst der Zeitpunkt, an dem der aufrechterhaltene Rechtsakt allemal seine Wirkung verlieren würde.1154 Bei der Umsetzung von völkerrechtlichen Verträgen kommt hier deren Zeitablauf oder Kündigung in Betracht. Bezugspunkt ist dann der Tag, an dem eine schnellstmögliche Kündigung eines völkerrechtlichen Abkommens wirksam werden würde.1155 Ebenso kann bei autonomen Unionsrechtsakten deren Zeitablauf maßgeblich sein. Eine Interessenabwägung entscheidet hingegen über den Zeitpunkt, wenn einem nationalen Industriezweig ein Übergangszeitraum für „unbedingt erforderliche“ Anpassungen gewährt werden soll.1156 Die in einer Richtlinie enthaltene allgemeine Umsetzungsfrist kann dabei auch erheblich unterschritten werden,1157 denn eine Reaktion auf die Ungültigkeit einzelner Vorschriften mag im Einzelfall nicht so lange dauern wie die Umsetzung einer kompletten Richtlinie. Dient die Fristbestimmung dazu, dem Gesetzgeber die Möglichkeit zu geben, eine rechtmäßige Regelung an die Stelle der aufgehobenen zu setzen, ist die mutmaßliche Dauer des Gesetzgebungsverfahrens ein Anhaltspunkt.1158 Dabei ist 1152 EuGH v. 1.4.2008 – verb. Rs. C-14/06 und C-295/06 Parlament und Dänemark ./. Kommission, Slg. 2008, I-1649 Rn. 86 und Tenor Nr. 2. 1153 EuG v. 7.12.2011 – Rs. T-562/10 HTTS, Slg. 2011, II-8087 Rn. 43. 1154 EuGH v. 28.11.2006 – Rs. C-414/04 Parlament ./. Rat, Slg. 2006, I-11279 Rn. 59. 1155 EuGH v. 30.5.2006 – verb. Rs. C-317/04 und C-318/04 Parlament ./. Rat und Kommission, Slg. 2006, I-4721 Rn. 73 (siehe dazu Nr. 7 des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den Vereinigten Staaten von Amerika über die Verarbeitung von Fluggastdatensätzen und deren Übermittlung durch die Fluggesellschaften an das Bureau of Customs and Border Protection des United States Departement of Homeland Security, ABl. L 183/84 v. 20.5.2004). 1156 EuGH v. 1.4.2008 – verb. Rs. C-14/06 und C-295/06 Parlament und Dänemark ./. Kommission, Slg. 2008, I-1649 Rn. 86. 1157 In EuGH v. 1.4.2008 – verb. Rs. C-14/06 und C-295/06 Parlament und Dänemark ./. Kommission, Slg. 2008, I-1649 betrug die Umsetzungsfrist der Richtlinie neun Monate, die vom EuGH gewährte Frist für die Anpassung an sein Urteil hingegen nur drei Monate; anders GA Kokott, SchlA v. 30.9.2010 – Rs. C-236/09 Association Belge des Consommateurs Test-Achats ASBL u.a., Slg. 2011, I-773 Rn. 80, die sich ausdrücklich am Umsetzungszeitraum orientiert. 1158 Vgl. EuGH v. 22.12.2008 – Rs. C-333/07 Régie Networks, Slg. 2008, I-10807 Rn. 128; EuG v. 7.12.2011 – Rs. T-562/10 HTTS, Slg. 2011, II-8087 Rn. 43; GA Kokott, SchlA v. 22.9.2005 – Rs. C-217/04 Großbritannien und Nordirland ./. Parlament und Rat, Slg. 2006, I-3771 Rn. 50; in diesem Sinne wohl auch Busse-Muskala, Normenkontrolle in

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zu berücksichtigen, wie schwer die Rechtspositionen der Betroffenen beeinträchtigt werden.1159 Je größer die Auswirkungen, desto schneller müssen die Organe handeln. So gewährte der Gerichtshof bei erheblichen Eingriffen in die Freiheiten von Privatpersonen durch Maßnahmen der Terrorismusbekämpfung eine Frist von nur drei Monaten,1160 während für die Erneuerung eines die Bonität der Europäischen Investionsbank betreffenden Beschlusses zwölf Monate Zeit gegeben wurden1161. bb) Aufhebung des unwirksamen Rechtsakts Von besonderer Bedeutung ist die Fallgruppe, in der der angegriffene Rechtsakts solange aufrechterhalten wird, bis eine ihn ersetzende Neuregelung in Kraft tritt.1162 Dabei ist nicht erforderlich, dass der ersetzende Rechtsakt dieselbe Handlungsform hat; beispielsweise kann eine rechtswidrige Entscheidung durch eine Verordnung ersetzt werden. Weiterhin muss die Neuregelung nicht rechtmäßig sein. Es genügt, dass sie scheinbar den gerügten Rechtsmangel abstellt. Dafür spricht, dass dem neuen Rechtsakt grundsätzlich eine Gültigkeitsvermutung zukommt, die eine inzidente Prüfung von dessen Rechtmäßigkeit unstatthaft macht. Außerdem wird auf diese Weise Streit

der Europäischen Union, 2007, S. 223; ohne Begründung zwei Jahre veranschlagend GA Bot, SchlA v. 28.1.2014 – Rs. C-573/12 Ålands Vindkraft, ECLI:EU:C:2014:37 Rn. 121. 1159 EuGH v. 3.9.2008 – verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P Kadi und Al Barakaat International Foundation ./. Rat und Kommission, Slg. 2008, I-6351 Rn. 375. 1160 EuGH v. 3.9.2008 – verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P Kadi und Al Barakaat International Foundation ./. Rat und Kommission, Slg. 2008, I-6351 Rn. 375. Das EuG gewährt in der Regel sogar nur die Frist von Art. 60 Abs. 2 und Art. 45 Abs. 1 EuGHSatzung, vgl. die Nachweise in § 6 Fn. 836. 1161 EuGH v. 6.11.2008 – Rs. C-155/07 Parlament ./. Rat, Slg. 2008, I-8103 Rn. 89. 1162 Z.B. EuGH v. 5.6.1973 – Rs. 81/72 Kommission ./. Rat, Slg. 1973, 575 Rn. 15; EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 59/81 Kommission ./. Rat, Slg. 1982, 3329 Rn. 39; EuGH v. 28.6.1988 – Rs. 7/87 Kommission ./. Rat, Slg. 1988, 3401 Rn. 29; EuGH v. 2.2.1989 – Rs. 275/87 Kommission ./. Rat, Slg. 1989, 259 Tenor Nr. 2; EuGH v. 7.7.1992 – Rs. C-295/90 Parlament ./. Rat, Slg. 1992, I-4193 Rn. 27; EuGH v. 16.7.1992 – Rs. C-65/90 Parlament ./. Rat, Slg. 1992, I-4593 Rn. 24; EuGH v. 1.6.1994 – Rs. C-388/92 Parlament ./. Rat, Slg. 1994, I-2067 Rn. 22; EuGH v. 7.12.1995 – Rs. C-41/95 Rat ./. Parlament, Slg. 1995, I-4411 Rn. 45; EuGH v. 5.7.1995 – Rs. C-21/94 Parlament ./. Rat, Slg. 1995, I-1827 Rn. 32; EuGH v. 10.6.1997– Rs. C-392/95 Parlament ./. Rat, Slg. 1997, I-3213 Rn. 26; EuGH v. 25.2.1999 – verb. Rs. C-164/97 und C-165/97 Parlament ./. Rat, Slg. 1999, I-1139 Rn. 24; EuGH v. 21.1.2003 – Rs. C-378/00 Kommission ./. Parlament und Rat, Slg. 2003, I-937 Rn. 76; EuGH v. 11.9.2003 – Rs. C-211/01 Kommission ./. Rat, Slg. 2003, I-8913 Rn. 57; EuGH v. 24.11.2010 – Rs. C-40/10 Kommission ./. Parlament, Slg. 2010, I-12043 Rn. 95; GA Geelhoed, SchlA v. 1.12.2005 – Rs. C-313/04 Franz Egenberger, Slg. 2006, 6331 Rn. 85; GA Mengozzi, SchlA v. 23.1.2014 – Rs. C-377/12 Kommission ./. Rat, ECLI:EU:C:2014:29 Rn. 78.

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darüber vermieden, welcher der beiden Rechtsakte anwendbar ist, und so Rechtssicherheit geschaffen. Anders als gelegentliche sprachliche Ungenauigkeiten des EuGH vermuten lassen, kommt es nicht auf den Erlass eines neuen Rechtsakts, sondern auf dessen Inkrafttreten an.1163 Zwar kommt dem Rechtsakt schon mit Erlass die Gültigkeitsvermutung zu. Die Anwendung von Art. 264 Abs. 2 AEUV auch für die Zukunft soll aber verhindern, dass rechtsfreie Räume oder Rechtsunsicherheiten entstehen können.1164 Ein nahtloser Übergang ist jedoch nur möglich, wenn die Wirkungen des neuen Rechtsakts schon eingetreten sind.1165 Bestimmt eine neue Verordnung neben dem Inkrafttreten ein späteres Datum zu ihrem Anwendungsbeginn, wirkt der aufgehobene Rechtsakt bis dahin fort, denn Konflikte zwischen den alten und den neuen Regelungen sind vorher nicht zu befürchten.1166 Bei Richtlinien ist der Zeitpunkt des Inkrafttretens maßgeblich und nicht der Ablauf der Umsetzungsfrist.1167 Es können dabei zwar Brüche in der Geltung des Unionsrechts entstehen, wenn die ersetzende Richtlinie eine neue Umsetzungsfrist enthält, obwohl die Umsetzungsfrist der alten Richtlinie schon abgelaufen war. Denn vor Ablauf der neuen Frist kann die Richtlinie nicht unmittelbar wirken;1168 sie ist auch nicht Maßstab einer richtlinienkonformen Auslegung,1169 während die alte Richtlinie diese Wirkungen erzeugte. Anderenfalls würden jedoch beide Richtlinien zeitgleich gelten, und wenn sie sich inhaltlich unterscheiden, könnten Unklarheiten über

1163

EuGH v. 5.2.2004 – Rs. C-157/02 Rieser Internationale Transporte, Slg. 2004, I-1477 Rn. 60. 1164 EuGH v. 5.2.2004 – Rs. C-157/02 Rieser Internationale Transporte, Slg. 2004, I-1477 Rn. 60. 1165 EuGH v. 5.2.2004 – Rs. C-157/02 Rieser Internationale Transporte, Slg. 2004, I-1477 Rn. 60. 1166 Vgl. auch BE 15 der Verordnung (EG) Nr. 12/98 des Rates vom 11. Dezember 1997 über die Bedingungen für die Zulassung von Verkehrsunternehmern zum Personenkraftverkehr innerhalb eines Mitgliedstaats, in dem sie nicht ansässig sind: „(15) Im genannten Urteil des Gerichtshofs, mit dem die Verordnung (EWG) Nr. 2454/92 für nichtig erklärt wurde, wurde entschieden, daß die Wirkungen der Verordnung aufrechterhalten werden, bis der Rat in diesem Bereich eine neue Regelung erlassen hat. Die vorliegende Verordnung wird erst 18 Monate nach ihrem Inkrafttreten zur Anwendung gelangen. Dementsprechend ist davon auszugehen, daß die Wirkungen der für nichtig erklärten Verordnung bis zum Beginn der vollständigen Anwendung der vorliegenden Verordnung aufrechterhalten werden“ 1167 Die Entscheidung EuGH v. 5.2.2004 – Rs. C-157/02 Rieser Internationale Transporte, Slg. 2004, I-1477 Rn. 60 erging gerade zu Richtlinien. 1168 EuGH v. 5.2.2004 – Rs. C-157/02 Rieser Internationale Transporte, Slg. 2004, I-1477 Rn. 66 ff.; Calliess/Ruffert-Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 288 AEUV Rn. 51. 1169 Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 287 ff.; Calliess/Ruffert-Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 288 AEUV Rn. 80; jeweils m.w.N.

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die unionalen Vorgaben entstehen.1170 Auf die tatsächliche Umsetzung durch die Mitgliedstaaten kann es erst recht nicht ankommen, da dann die Geltungsdauer des alten Rechtsakts von deren Verhalten abhängen und das Außerkrafttreten je nach Mitgliedstaat unterschiedlich ausfallen würde.1171 Ebenso sollte nicht auf die Bestandskraft einer zu erlassenden Beihilfeentscheidung abgestellt werden, um zu vermeiden, dass die Wirkungen des alten Rechtsakts vom Verhalten der Rechtsunterworfenen abhängen.1172 Auf den noch ungewissen zukünftigen Ablauf des aufrechterhaltenen Rechtsakts abzustellen, birgt die Gefahr, dass die Unionsorgane das Gesetzgebungsverfahren absichtlich oder ungewollt verzögern. Außerdem verschieben die allgemeinen und rechtsaktspezifischen Vorschriften zum Inkrafttreten das Ablaufdatum zusätzlich. Dadurch könnte die rechtswidrige Regelung theoretisch unendlich lange aufrechterhalten bleiben. Das Problem wird abgemildert durch die in Art. 266 AEUV normierten Handlungspflichten der Organe, die sich aus dem Unwirksamkeitsurteil ergeben.1173 Deren Missachtung kann wiederum mittels der Untätigkeitsklage gemäß Art. 265 AEUV gerügt werden.1174 Zumeist erfüllen die Unionsorgane zwar die Vorgaben des Unwirksamkeitsurteils.1175 Es ist jedoch nicht erkennbar, dass sie dabei besondere Eile walten lassen; in den untersuchten Sachverhalten dauerte es regelmäßig länger als ein Jahr, bis ein neuer Rechtsakt in Kraft trat.1176 Diese Verzögerungen sind im Primärrecht angelegt, wonach der Gerichtshof rechtswidrige Rechtsakte nur aufheben kann und darüber hinaus auf die Mithilfe der anderen Organe angewiesen ist. Nur als Hinweis auf die aus Art. 266 AEUV folgende Pflicht, in angemessener Zeit die Folgen aus dem Unwirksamkeitsurteil zu ziehen, ist es deshalb zu verstehen, wenn eine Verordnung aufrechterhalten wird, „bis binnen angemessener Frist eine neue, auf eine geeignete Rechtsgrundlage gestützte Verordnung in Kraft tritt“1177. 1170 GA Alber, SchlA v. 9.9.2003 – Rs. C-157/02 Rieser Internationale Transporte, Slg. 2004, I-1477 Rn. 104. Der Normkonflikt wäre zwar mangels einer ausdrücklichen Regelung zugunsten des späteren Rechtsakts (lex posterior) aufzulösen. Dadurch wird aber nicht verhindert, dass Unsicherheit über die Reichweite des Normkonflikts entsteht. 1171 GA Alber, SchlA v. 9.9.2003 – Rs. C-157/02 Rieser Internationale Transporte, Slg. 2004, I-1477 Rn. 104. 1172 A.A. GA Kokott, SchlA v. 26.6.2008 – Rs. C-333/07 Régie Networks, Slg. 2008, I-10807 Rn. 133. 1173 Art. 266 AEUV gilt über den Wortlaut hinaus auch für Ungültigkeitsfeststellungen, Streinz-Ehricke, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2011, Art. 266 AEUV Rn. 3. 1174 Dörr/Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, 2006, Rn. 200. 1175 Hakenberg, Befolgung und Durchsetzung der Urteile der Gemeinschaftsgerichte, 2008, S. 163, 168. 1176 Siehe Anhang II, S. 554 f. 1177 EuGH v. 3.9.2009 – Rs. C-166/07 Parlament ./. Rat, Slg. 2009, I-7135 Rn. 75; erstmals in EuGH v. 25.2.1999 – verb. Rs. C-164/97 und C-165/97 Parlament ./. Rat, Slg. 1999, I-1139 Rn. 24; ebenso EuGH v. 10.1.2006 – Rs. C-178/03 Kommission ./. Parlament

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cc) Kombination von Ablauf des Rechtsakts und kalendermäßiger Maximalfrist Die Gefahr einer endlosen Weitergeltung des aufgehobenen Rechtsakts begrenzt der Gerichtshof zusätzlich, indem er vereinzelt den Ablauf des Rechtsakts mit einer kalendermäßigen Maximalfrist kombiniert. Die rechtswidrige Bestimmung wird dabei aufrechterhalten bis ein neuer Rechtsakt an ihre Stelle getreten (oder der alte Rechtsakt sonst aufgehoben) ist, jedoch nicht länger als bis zu einem bestimmten Datum.1178 Dieses Vorgehen stellt keine Fristsetzung für die Umsetzungstätigkeit der Unionsorgane dar, wie sie in Art. 266 AEUV gerade nicht vorgesehen ist.1179 Der Gerichtshof verpflichtet die gesetzgebenden Organe nicht, einen neuen Rechtsakt bis zu einem bestimmten Tag zu erlassen. Er verpflichtet sie überhaupt nicht zu einem Tätigwerden. An ein Verstreichen der Maximalfrist sind nämlich keine Sanktionen geknüpft. Allenfalls könnte man es als mittelbaren Zwang bezeichnen, dass die Organe mit den möglicherweise unerwünschten Folgen leben müssen, die ein endgültiges Wegfallen des rechtswidrigen Rechtsakts hervorruft. Dementsprechend gibt es durchaus Fälle, in denen der Unionsgesetzgeber die Frist der Aufrechterhaltung untätig verstreichen lässt.1180 dd) Unbegrenzt? Über diese drei Varianten hinaus hat der Gerichtshof bisher noch nie eine rechtswidrige Vorschrift unbegrenzt für zukünftige Sachverhalte aufrechterhalten. Auch wenn der Tenor auf eine unbegrenzte Fortwirkung hindeutete, handelte es sich – bis auf eine Ausnahme (dazu sogleich) – stets um eine Aufrechterhaltung von in der Vergangenheit erschöpften Wirkungen des und Rat, Slg. 2006, I-107 Rn. 65; EuGH v. 7.9.2006 – Rs. C-310/04 Spanien ./. Rat, Slg. 2006, I-7285 Rn. 141; EuGH v. 18.10.2007 – Rs. C-299/05 Kommission ./. Parlament und Rat, Slg. 2007, I-8695 Rn. 75; EuGH v. 5.9.2012 – Rs. C-355/10 Parlament ./. Rat, ECLI: EU:C:2012:516 Rn. 90; EuGH v. 6.9.2012 – Rs. C-490/10 Parlament ./. Rat, ECLI:EU: C:2012:525 Rn. 93; GA Villalón, SchlA v. 12.12.2013 – Rs. C-293/12 Digital Rights Ireland, ECLI:EU:C:2013:845 Rn. 158. 1178 EuGH v. 30.5.2006 – verb. Rs. C-317/04 und C-318/04 Parlament ./. Rat und Kommission, Slg. 2006, I-4721 Rn. 73; EuGH v. 28.11.2006 – Rs. C-414/04 Parlament ./. Rat, Slg. 2006, I-11279 Rn. 59; EuGH v. 6.11.2008 – Rs. C-155/07 Parlament ./. Rat, Slg. 2008, I-8103 Rn. 89; EuGH v. 22.10.2013 – Rs. C-137/12 Kommission ./. Rat, ECLI:EU: C:2013:675 Rn. 81; EuGH v. 6.5.2014 – Rs. C-43/12 Kommission ./. Parlament und Rat, ECLI:EU:C:2014:298 Rn. 56; GA Kokott, SchlA v. 22.9.2005 – Rs. C-217/04 Großbritannien und Nordirland ./. Parlament und Rat, Slg. 2006, I-3771 Rn. 50. 1179 Eine solche hat der EuGH denn auch abgelehnt, EuGH v. 5.7.1995 – Rs. C-21/94 Parlament ./. Rat, Slg. 1995, I-1827 Rn. 33. 1180 Zuletzt im Hinblick auf EuGH v. 22.10.2013 – Rs. C-137/12 Kommission ./. Rat, ECLI:EU:C:2013:675; weitere Beispiele finden sich in Anhang II (S. 528 ff.).

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

Rechtsakts. In allen Fällen waren die angegriffenen Regelungen zum Zeitpunkt des Urteils schon abgelaufen.1181 Würde der aufgehobene Rechtsakt auch für zukünftige Sachverhalte unbeschränkt Anwendung finden, so würde dies die Nichtigerklärung vollständig aushebeln. Das Interesse an der Klärung einer Rechtsfrage, das bei abgelaufenen Rechtsakten die Aufrechterhaltung für den gesamten Geltungszeitraum rechtfertigt, ist bei zukünftigen Sachverhalten nicht maßgeblich. Hier kann eine Anpassung des Rechtsakts den Rechtsverstoß beseitigen und so dem Gebot der Gesetzmäßigkeit zur Durchsetzung in der Zukunft verhelfen, ohne dass das mit der Beschränkung verfolgte Ziel gefährdet wird. Anderes käme nur in Betracht, wenn die Herstellung des gesetzmäßigen Zustands in jeder Hinsicht eine Formalie wäre. Als einen solchen Fall hat der Gerichtshof scheinbar die Verletzung von Informationsrechten des Europäischen Parlaments angesehen, wenn diese nur der Überwachung der Auswahl der richtigen Rechtsgrundlage dienen und sich daher auf den im übrigen rechtmäßigen Rechtsakt nicht auswirken konnten.1182 Damit ignoriert der EuGH jedoch die sich aus der rechtzeitigen Kenntnis von Gesetzgebungsvorhaben ergebenden politischen Einflussmöglichkeiten des Parlaments auf die Gestaltung des Rechtsakts. Zudem sollte bei reinen Formalitäten schon von der Unwirksamerklärung abgesehen werden, so dass kein Bedarf für die Anwendung von Art. 264 Abs. 2 AEUV bestünde.1183 2. Aufrechterhaltungsfrist Im Grundsatz gilt die aufgehobene Rechtsnorm für die erfassten Sachverhalte unbeschränkt weiter. Für alle betroffenen Rechtsverhältnisse ändert sich die maßgebliche Rechtslage daher auch später nicht mehr. Dies entspricht dem Ziel der Rückwirkungsbeschränkung, die erfassten Sachverhalte aus Gründen der Rechtssicherheit von der Unwirksamkeit unberührt zu lassen. Ausnahmen sind bei Bedarf jedoch möglich.1184 Eine solche Ausnahme liegt vor, wenn die Wirkungen des Unwirksamkeitsurteils ausgesetzt werden.1185 Dann wird die Rückwirkung der Unwirksamkeitserklärung nur aufgeschoben und nicht aufgehoben. Alle vergangenen und zukünftigen Sachverhalte werden nach Ablauf der Frist einheitlich nach der neuen Rechtslage 1181

Z.B. EuGH v. 19.11.1998 – Rs. C-159/96 Portugal ./. Kommission, Slg. 1998, I-7379 und die Beispiele in § 7 Fn. 1139. 1182 EuGH v. 24.6.2014 – Rs. C-658/11 Parlament ./. Rat, ECLI:EU:C:2014:2025 Rn. 91. 1183 So wohl auch GA Bot, SchlA v. 30.1.2014 – Rs. C-658/11 Parlament ./. Rat, ECLI: EU:C:2014:41 Rn. 154 ff. Siehe auch oben § 6 C.II.6.b), S. 270 f. mit Fn. 792. 1184 Vgl. auch Grabitz/Hilf/Nettesheim-Dörr, Das Recht der Europäischen Union, 51. EL 2013, Art. 264 AEUV Rn. 15. 1185 Vgl. EuGH v. 22.12.2008 – Rs. C-333/07 Régie Networks, Slg. 2008, I-10807 Rn. 128.

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behandelt. Dass nach dem gewählten zukünftigen Zeitpunkt die ex tuncWirkung unbeschränkt eintritt, ist gerade beabsichtigt. Würde der angegriffene Rechtsakt nur ex nunc entfallen, entspräche das der sonst üblichen Regelung, wonach alle bis zum gewählten zukünftigen Zeitpunkt erfassten Rechtsverhältnisse nicht verändert werden. Eine vergleichbare Wirkung haben die Hinweise des EuG auf die Rechtsmittelfrist von Art. 60 Abs. 2, 45 Abs. 1 EuGH-Satzung1186. Die Rechtsmittelfrist verzögert nur das Eintreten der Rückwirkung, schließt sie aber nicht aus. Die vom EuG gleichzeitig angeordnete Fortwirkung des inhaltsgleichen Parallelrechtsakts nach Art. 264 Abs. 2 AEUV muss dann ebensolche Wirkungen zeitigen, um den bezweckten Gleichlauf der zeitlichen Wirkungen beider Rechtsakte erreichen zu können.1187 Die von Régie Networks abweichende Tenorierung könnte ihren Grund darin haben, dass hier die Rückwirkung faktisch ohne Bedeutung ist, da die restriktiven Maßnahmen im Nachhinein nicht ungeschehen gemacht werden können. Das EuG hat mit dieser Tenorierung aber – möglicherweise unbeabsichtigt – auch Sekundäransprüche (z.B. auf Schadensersatz) ausgeschlossen.1188 D. Personeller Geltungsbereich – Ausnahmen für die Parteien des (Ausgangs-)Rechtsstreits und/oder andere Rechtsbehelfsführer Wird eine Rückwirkungsbeschränkung vorgenommen, profitieren die Parteien des Ausgangsverfahrens nicht von der „neuen“ Rechtslage. Daher ist zu erwägen, zu ihren Gunsten eine Ausnahme zu machen. Bei den Auslegungsentscheidungen verfährt der Gerichtshof stets in entsprechender Weise. Deshalb bietet es sich an, die übergreifenden Probleme anhand der Auslegung darzustellen, die Argumente zu erläutern und eventuelle Ausnahmen zu diskutieren (dazu I.). Inwieweit dieselben Erwägungen auch bei den Unwirksamkeitsentscheidungen durchgreifen, ist danach zu klären (unten II.). Unberücksichtigt bleiben hier individuell zwischen den Prozessparteien vereinbarte Ausnahmen, wonach sich diese nicht auf eine eventuelle Rückwirkungsbeschränkung berufen werden.1189 Die personelle Rückausnahme erstreckt sich typischerweise auch auf alle anderen Personen, die zum Zeitpunkt des Urteils bereits einen Rechtsbehelf eingelegt hatten („Rechtsbehelfsführer“). Denklogisch setzt der Gerichtshof voraus, dass dem Urteil eine Wirkung über das konkrete Verfahren hinaus 1186

Siehe oben § 6 C. II.6.e), S. 279. Vgl. z.B. EuG v. 21.3.2012 – verb. Rs. T-439/10 and T-440/10 Fulmen und Fereydoun Mahmoudian ./. Rat, ECLI:EU:T:2012:142 Rn. 107. 1188 Zu dieser Wirkung der Aufrechterhaltung des Rechtsakts siehe oben § 7 B.III., S. 325 ff. 1189 Dazu z.B. Broberg/Fenger, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union, 2014, S. 403. 1187

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

zukommt. Anderenfalls wäre die Berücksichtigung ihrer Interessen nicht angezeigt. Die Verbindung von Rückwirkungsbeschränkung und allgemeiner Bindungswirkung kommt hier also erneut deutlich zum Ausdruck. I.

Auslegungsentscheidungen

In allen bisherigen Auslegungsvorlagen, in denen die Rückwirkung beschränkt wurde, nahm der Gerichtshof davon die Parteien des Vorlageverfahrens und die Rechtsbehelfsführer aus.1190 Dann können diese sich ausnahmsweise auch bei Sachverhalten der Vergangenheit auf die „neue/richtige“ Rechtslage berufen. Sie werden also anders behandelt als die übrigen Betroffenen.1191 Je größer der Rückwirkungszeitraum ist, desto größer ist der wirtschaftliche Vorteil, den die Kläger und Rechtsbehelfsführer im Vergleich zu den anderen Rechtsunterworfenen erhalten.1192 Der Gerichtshof stellt keine einschränkenden Voraussetzungen auf, wann eine Rückausnahme vorzunehmen ist. Zur Begründung wird üblicherweise zweierlei angeführt.1193 Zum einen sollen die Kläger nicht in ihren individuellen Rechtsschutzmöglichkeiten beeinträchtigt werden (Gebot effektiven Rechtsschutzes).1194 Sie würden trotz

1190 EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne II, Slg. 1976, 455 Rn. 74/75; EuGH v. 2.2.1988 – Rs. 24/86 Blaizot u.a., Slg. 1988, 379 Rn. 35; EuGH v. 17.5.1990 – Rs. C-262/88 Barber, Slg. 1990, I-1889 Rn. 44 f.; EuGH v. 16.7.1992 – Rs. C-163/90 Legros u.a., Slg. 1992, I-4625 Rn. 35; EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, Slg. 1995, I-4921 Rn. 144 f.; EuGH v. 30.4.1996 – Rs. C-308/93 Cabanis-Issarte, Slg. 1996, I-2097 Rn. 48; EuGH v. 4.5.1999 – Rs. C-262/96 Sürül, Slg. 1999, I-2685 Rn. 112; EuGH v. 9.3.2000 – Rs. C-437/97 Evangelischer Krankenhausverein Wien u.a., Slg. 2000, I-1157 Rn. 60. 1191 Das betonen auch Düsterhaus, EuZW 2006, 393, 397; Forsthoff, DStR 2005, 1840, 1843; Koopmans, CamLJ 39 (1980), 287, 299 f. 1192 Shaw/Honeyball, ELRev 1991, 47, 58 verweist anlässlich Barber auf das Rentenrecht. Die Rückausnahme berechtigte hier grundsätzlich dazu, für das gesamte zurückliegende Arbeitsverhältnis den höheren Satz des anderen Geschlechts geltend zu machen. 1193 Ohne Begründung zustimmend Simon, SABENA is dead, Gabrielle Defrenne’s Case is still alive, 2010, S. 265, 272: „a balanced and jusitified approach“. 1194 EuGH v. 4.5.1999 – Rs. C-262/96 Sürül, Slg. 1999, I-2685 Rn. 112; EuGH v. 26.4.1994 – Rs. C-228/92 Roquettes Frères ./. Hauptzollamt Geldern, Slg. 1994, I-1445 Rn. 27 (Ungültigkeitsvorlage); Osterloh, FS Hassemer, 2010, S. 173, 178; Schlachter, ZfA 2007, 249, 266; Düsterhaus, EuZW 2006, 393, 395; Beiser, RdW 2000, 707, 708; Balmes/Brück/Ribbrock, BB 2005, 966, 970; Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 101; Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 243 f.; Kokott, The jurisprudence of the Court of Justice of the European Communities in the area of tax law, 2006, S. 9; Chr. Weber, JJZ 1994, 221, 233 f. zum nationalen Vertrauensschutz.

§ 7 Die Rechtsfolgenbestimmung der Rückwirkungsbeschränkung

359

Kosten und Mühen um den Erfolg ihrer Klage gebracht.1195 Zum anderen würden sonst für die Zukunft potentielle Kläger abgeschreckt, Klageanreize genommen und so die Durchsetzungskraft des Unionsrechts geschmälert, denn dieses sei zu einem großen Teil von der privaten Rechtsdurchsetzung abhängig (praktische Wirksamkeit des Art. 267 AEUV).1196 Da Zufälle darüber entschieden, welcher nationale Rechtsstreit letztlich dem EuGH vorgelegt wird, seien nicht nur die Parteien des Anlassfalls, sondern alle Personen auszunehmen, die vor dem Urteilstag einen äquivalenten Rechtsbehelf eingelegt haben.1197 Beispielsweise ist nicht abzusehen, ob und wann ein mitgliedstaatliches Gericht die streitige Rechtsfrage vorlegt,1198 da nur die letztinstanzlichen Gerichte zur Vorlage verpflichtet sind und allen anderen Gerichte ein Ermessensspielraum zukommt. 1. Individualrechtsschutz Das Argument des Individualrechtsschutzes muss relativiert werden. Das Vorabentscheidungsverfahren dient zwar auch dem Rechtsschutz des Einzelnen.1199 Der Rückwirkungsbeschränkung ist jedoch eine Beeinträchtigung des Individualrechtsschutzes immanent.1200 Mit ihr wird allen Personen, deren in der Vergangenheit begründete Rechtsverhältnisse von der auszulegenden 1195 Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, 1994, S. 566; GA Lenz, SchlA v. 28.2.1985 – Rs. 33/84 FRAGD, Slg. 1985, 1605, 1611; GA Tesauro, SchlA v. 19.1.1995 – verb. Rs. C-367/93 bis C-377/93 Roders B.V. u.a., Slg. 1995, I-2229 Rn. 25; Pollicino, GLJ 2004, 283, 304. 1196 EuGH v. 8.2.1996 – Rs. C-212/94 FMC, Slg. 1996, I-389 Rn. 58 (Ungültigkeitsvorlage); Kokott/Henze, NJW 2006, 177, 182; Osterloh, FS Hassemer, 2010, S. 173, 178; Alexander, YbEL 8 (1988), 11, 25; Arnull, LQR 112 (1996), 411, 414; Hyland, IJEL 2 (1995), 208, 229; Harding, YbEL 1 (1981), 93, 112; Saßenroth, Die Bestandskraft deutscher Steuerbescheide im Licht der Rechtsprechung des EuGH, 2009, S. 54; GA Darmon, SchlA v. 27.10.1993 – Rs. C-228/92 Roquette Frères ./. Hauptzollamt Geldern, Slg. 1994, I-1445 Rn. 41 ff.; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 582 zum deutschen Recht; ähnlich HdStR-Maurer, 3. Aufl. 2006, § 79 Rn. 150 f.: „Denaturierung der Rechtsprechung“; zum US-amerikanischen Recht z.B. Dworkin, Law’s Empire, 1986, S. 156. 1197 Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 101; Balthasar, JJZ 2010, 39, 62. Zum Zusammenhang von Priorität und Zufall allgemein Neuner, AcP 203 (2003), 46, 73; Voßkuhle, Die Verwaltung 32 (1999), 21, 32; jeweils m.w.N. 1198 Düsterhaus, EuZW 2006, 393, 395. 1199 Thomy, Individualrechtsschutz durch das Vorabentscheidungsverfahren, 2009, S. 102 ff.; Groh, Die Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2005, S. 54 f. und die Nachweise in § 6 Fn. 124; vgl. auch EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-224/01 Köbler, Slg. 2003, I-10239 Rn. 35. 1200 Soweit in der Literatur vertreten wird, dass (ganz allgemein) Vertrauensschutz einer Rechtsprechungsänderung entgegensteht, geht damit eine Frustration des Klägers (und anderer Rechtsbehelfsführer) zwingend einher.

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

Norm berührt wären und deren nationale Rechtsbehelfsfristen noch nicht abgelaufen waren,1201 die Berufung auf das „neue“ Verständnis der Norm verweigert. Die Rückwirkungsbeschränkung bezweckt also, einen eigentlich noch offenen Rechtsbehelf zu frustrieren – und damit einhergehend, den effektiven Rechtsschutz zu begrenzen.1202 Effektiver Rechtsschutz ist daher keine zusätzliche Dimension der zeitlichen Wirkung, sondern eine andere Perspektive desselben Problems, denn das Rechtsschutzinteresse des Klägers wird in abstrakter Form schon bei der Bestimmung der (strengen) Voraussetzungen der Rückwirkungsbeschränkung als Ausprägung der „Objektivität des Unionsrechts“ berücksichtigt und mit der Rechtssicherheit abgewogen. Die Rückausnahme für Rechtsbehelfsführer führt daher unter Berücksichtigung aller Betroffenen nur zu einer graduellen, nicht aber qualitativen Verbesserung der Rechtsschutzsituation. Aus denselben Erwägungen (Betroffene sind wegen der Bindungswirkung nicht nur die Verfahrensbeteiligten) ändert die Zustimmung der Kläger zur Rückwirkungsbeschränkung nichts an der grundsätzlichen Rechtsschutzverkürzung.1203 Hinzu kommt, dass der EuGH (und die zustimmende Literatur) nicht danach unterscheiden, wann die Rechtsbehelfsfrist zu laufen begann oder wie lange sie noch gelaufen wäre. Wohl um eine einfache und formale Abgrenzung zu gewährleisten, enden sämtliche Fristen am Tag des Urteils. Auch bei einer personellen Rückausnahme kommt es also auf eine irgendwie geartete Verantwortlichkeit des Rechtsbehelfsführers nicht an. Die Betroffenen haben deshalb auch nicht dieselben Chancen, in den Genuss der Ausnahme zu kommen. Für eine Verteilung nach dem Prioritätsprinzip ist das jedoch Voraussetzung.1204 Außerdem hängt es von weiteren Unwägbarkeiten ab, wann ein Betroffener einen geplanten Rechtsbehelf tatsächlich einlegt:1205 Derjenige verliert, der mit der Prüfung seiner Ansprüche zuwartet oder die Prüfung vertieft oder noch ein angekündigtes Urteil eines nationalen Gerichts berück1201

Auf bestandskräftige Rechtsverhältnisse wirkt die Auslegung sowieso nicht ein. Das übersieht z.B. Altmeyer, Vertrauensschutz im Recht der Europäischen Union und im deutschen Recht, 2003, S. 157. Siehe auch oben § 7 A.II.2., S. 300 ff. m.N.; sowie GA Darmon, SchlA v. 27.10.1993 – Rs. C-228/92 Roquette Frères ./. Hauptzollamt Geldern, Slg. 1994, I-1445 Rn. 64. 1203 A.A. Classen, Die Verwaltung 31 (1997), 307, 325 f.; Kment, Nationale Unbeachtlichkeits-, Heilungs- und Präklusionsvorschriften und Europäisches Recht, 2005, S. 93 f. 1204 Voßkuhle, Die Verwaltung 32 (1999), 21, 32 f. Der Zugang zur Rückausnahme von der Rückwirkungsbeschränkung ist als das zu verteilende, knappe Gut anzusehen, denn aufgrund der Notwendigkeit der Rückwirkungsbeschränkung kann nicht jedem Betroffenen eine Ausnahme gewährt werden. Da die Entscheidung darüber nicht auf vertragsimmanenten Kriterien beruht, ist dies auch in privatrechtlichen Sachverhalten eine Frage der Verteilungsgerechtigkeit, vgl. Canaris, Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, 1997, S. 13. 1205 Koopmans, CamLJ 39 (1980), 287, 300; Bydlinski, JBl 2001, 2, 9; Bydlinski, FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 3, 52; Sampford, Retrospectivity and the Rule of Law, 2006, S. 220. 1202

§ 7 Die Rechtsfolgenbestimmung der Rückwirkungsbeschränkung

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sichtigen will. Schließlich wird die Rechtsschutzmöglichkeit des Klägers nicht gänzlich beseitigt, sondern nur auf eine zukünftige Wirkung reduziert.1206 Der Verweis auf den Individualrechtsschutz muss also erklären, warum das Rechtsschutzinteresse des Klägers (und der anderen Rechtsbehelfsführer) höher bewertet wird als das der übrigen Betroffenen. Dafür ließe sich anführen, dass es der eingelegte Rechtsbehelf ist, der nicht frustriert werden soll, während bei den anderen Betroffenen noch kein Rechtsbehelf existiert. Den anderen Adressaten wurde zwar die Möglichkeit, einen erfolgversprechenden Rechtsbehelf einzulegen, durch das Urteil genommen. Es besteht jedoch nur eine Sachlage, die zu einer Klage führen kann. Nur die Rechtsbehelfsführer sind im Hinblick auf ihre unional begründeten Rechte wirklich wachsam gewesen.1207 Durch die Rechtsbehelfseinlegung verfestigt sich die Position der Betroffenen im Hinblick auf den ihnen zu gewährenden Rechtsschutz. Auch dieser Unterschied bleibt indes gradueller und nicht qualitativer Natur, denn dem Rechtsbehelfsführer wird nicht der Weg zu den Gerichten abgeschnitten, sondern nur sein geltend gemachtes, materiell „richtiges“ Recht nicht zugesprochen. 2. Bedeutung für die Durchsetzung des Unionsrechts Anknüpfen lässt sich also an die Tatsache, dass der Kläger bis zum EuGH gegangen ist, um seine (unional begründeten) Rechte zu wahren. Das entspricht teilweise der Argumentation, dass die privaten Kläger für die Durchsetzung und Fortentwicklung des Unionsrechts große Bedeutung haben. Unberücksichtigt bleibt dabei, dass es auch Fälle gibt, in denen das mitgliedstaatliche Gericht das Auslegungsverfahren ohne Anregung der Parteien eingeleitet hat.1208 Hierbei ließe sich aber noch von einer mittelbaren Veranlassung durch die Kläger sprechen, denn diese initiierten zumindest den nationalen Vorlageprozess.1209 Das Unionsrecht profitiert demgegenüber auch ohne Rückwirkung von der Klage. Die Auslegung des EuGH wirkt zumindest in die Zukunft und trägt so zur Weiterentwicklung des Unionsrechts bei.

1206

Osterloh, FS Hassemer, 2010, S. 173, 183. Dies gilt freilich nicht, wenn die Rechtsfrage für den konkreten Kläger keine zukünftige Bedeutung hat. 1207 HdStR-Löwer, 3. Aufl. 2005, § 70 Rn. 116, der auf die Parömie „ius scriptum est vigilantibus“ (Dig. 42, 8, 24 a.E.) verweist; ebenso Kerwer, Das europäische Gemeinschaftsrecht und die Rechtsprechung der deutschen Arbeitsgerichte, 2003, S. 668. 1208 Sperlich, FS Ruppe, 2007, S. 551, 561 f.; Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 241; krit. Müller, Die Begrenzung der zeitlichen Wirkungen von EuGH-Entscheidungen, 2009, S. 89 ff. 1209 Vgl. Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 222.

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

3. Belohnung für die Kosten und Mühen der Klage; Klageanreize So verbleibt das Argument, der Kläger solle wenigstens für die „Kosten und Mühen“ seiner Klage entschädigt werden, damit ihm nicht jeder Anreiz, das Unionsrecht durchzusetzen, genommen wird. Das kann nicht dadurch entkräftet werden, dass der EuGH den Kläger von der Kostenlast befreit, denn die Auslegungsvorlage ist Teil des nationalen Rechtsstreits und die Kostenentscheidung gemäß Art. 102 EuGH-VerfO (Art. 104 § 6 Abs. 1 EuGH-VerfO a.F.) den nationalen Gerichten vorbehalten.1210 Der Gerichtshof könnte darauf nicht unmittelbar einwirken, denn es ist nicht davon auszugehen, dass mit jeder Unionsvorschrift die EuGH-Kompetenz einhergeht, über die Kostenverteilung eines nationalen Rechtsstreits zu befinden, in der diese Vorschrift streitentscheidend war. Es ließe sich dementsprechend daran denken, die anfallende Kostenlast als Problem der nationalen Verfahrensordnungen anzusehen und ihre Lösung den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen zu überlassen. Einer nationalen Regelung stünde das Unionsrecht nicht entgegen. Allerdings würde der EuGH dann die Augen vor einem Sachproblem verschließen, welches unionalen Ursprungs ist. Der gute Glaube kann schließlich nur durch ein der Union zurechenbares Verhalten begründet werden und wird anlässlich der Rechtsprechung des Gerichtshofs enttäuscht. Dieser Interessenlage würde eher ein Ersatzanspruch gegen das vertrauensbegründende Organ gerecht werden. Die Haftung der Union nach Art. 340 Abs. 2 AEUV ist dazu jedoch nicht geeignet, denn sie richtet sich auf den Ersatz des gesamten Schadens, der durch den Irrtum entstanden ist, und erreicht so das gleiche wirtschaftliche Ergebnis wie eine Rückausnahme für den Kläger. Um nicht dessen restriktive Voraussetzungen1211 aufzuweichen, ist dem Ersatzanspruch aus Art. 340 Abs. 2 AEUV die personelle Rückausnahme vorzuziehen. Sie fügt sich systematisch besser ein. Um ausschließlich die Prozesskostenlast anders zu verteilen, müsste der Gerichtshof demnach einen eigenständigen unionalen Ersatzanspruch im Wege der Rechtsfortbildung begründen. Die Befreiung von der Kostenlast verhindert jedoch letztlich nur einen weiteren Vermögensnachteil des Klägers, bringt ihm aber noch keinen Gewinn und schafft so keinen Anreiz, das Unionsrecht durchzusetzen.1212 Eine „Belohnung“ hat er damit noch nicht erhalten. Selbst altruistische Motive für die Klage stünden einer Belohnung nicht entgegen. Für die meisten Kläger

1210

I.Erg. ebenso Seer/Müller, IWB 2008, 255, 266. Insbesondere das Erfordernis einer hinreichend qualifizierten Verletzung einer die Betroffenen schützenden Norm. 1212 Bydlinski, JBl 2001, 2, 9. 1211

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dürfte ohnehin ihr konkreter Sachverhalt und nicht die Klärung der Rechtslage im Vordergrund stehen.1213 4. Keine Entscheidungserheblichkeit Nicht überzeugend ist die Überlegung, ohne die Rückausnahme wären das Urteil des EuGH nicht mehr entscheidungserheblich im Sinne von Art. 267 Abs. 2, 3 AEUV und die nationalen Gerichte daher schon an der Vorlage gehindert.1214 Richtigerweise ist umgekehrt der Begriff der Erforderlichkeit, wie oben (§ 3 D.I.2.b)gg), S. 57) erläutert, mit Blick auf eine eventuelle Rückwirkungsbeschränkung zu modifizieren. Außerdem kann nur der EuGH über die Beschränkung entscheiden, so dass schon deshalb vorzulegen wäre. Gleichfalls abzulehnen ist die Forderung, das unterbrochene nationale Verfahren müsse so behandelt werden, als würde die Rückwirkung nicht beschränkt, „da es unlogisch wäre, ein unterbrochenes Verfahren ohne Berücksichtigung der zwischenzeitlichen Entscheidung des EuGH (derentwegen das Verfahren unterbrochen wurde) weiterzuführen“1215. Das nationale Gericht müsste nämlich sehr wohl die Entscheidung des EuGH berücksichtigen. Inhalt dieser Entscheidung ist dann jedoch nur, dass das Unionsrecht in dem „falschen“ Sinne zu verstehen ist, da eine Berufung auf die ausgelegte Unionsnorm ausscheidet. Für das nationale Gericht ist die Situation nicht anders, wenn dem Unionsrecht keine Vorgaben für den nationalen Sachverhalt zu entnehmen sind. Dort ist die Beantwortung der Vorlagefrage ebenso erheblich. Maßgeblich ist insoweit nur, ob eine der möglichen Antworten des EuGH Auswirkungen auf den Ausgangsrechtsstreit hat.1216 Deswegen steht schließlich auch keine Rechtsverweigerung des EuGH im Raum.1217

1213

McLeod, Legal Method, 9. Aufl. 2013, S. 135. So aber Schima, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH, 2. Aufl. 2004, S. 107; Seer/Müller, IWB 2008, 255, 266; Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 207; wohl auch Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 242. 1215 Sperlich, FS Ruppe, 2007, S. 551, 568. 1216 Vgl. Lieber, Über die Vorlagepflicht des Artikel 177 EWG-Vertrag und deren Mißachtung, 1986, S. 64 ff. m.w.N.; Müller, Die Begrenzung der zeitlichen Wirkungen von EuGH-Entscheidungen, 2009, S. 109; instruktiv auch die Wiedergabe von Lord Denning bei Lenaerts/Arts/Masels/Bray, Procedural Law of the European Union, 2. Aufl. 2006, Rn. 2-031. 1217 A.A. GA Tesauro, SchlA v. 19.1.1995 – verb. Rs. C-367/93 bis C-377/93 Roders B.V. u.a., Slg. 1995, I-2229 Rn. 25 Fn. 24. Siehe dazu auch schon oben § 3 D.I.2.b)hh), S. 59. 1214

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

5. Einbeziehung anderer Rechtsbehelfsführer Zu relativieren ist zuletzt das Argument, mit dem die anderen Rechtsbehelfsführer in die Rückausnahme einbezogen werden. Zwar ist unbestreitbar, dass es von Zufällen abhängt und außerhalb des Einflussbereichs der Rechtsbehelfsführer steht, welcher Rechtsstreit letztlich bis zum EuGH führt. Jedoch werden ähnliche Zufälle ebenso ignoriert, wenn die eingelegten von den nicht eingelegten Rechtsbehelfen unterschieden werden. Beispielsweise gehen Postlauf- oder Zustellungsfristen dabei zu Lasten der Rechtsunterworfenen. Außerdem ist problematisch, dass die Gründe für die Ausnahme zu Gunsten des Klägers nicht auf alle anderen Rechtsbehelfsführer zutreffen müssen. Zum einen wird nicht danach differenziert, ob der Rechtsbehelf tatsächlich auf die Durchsetzung des Unionsrechts abzielte.1218 Selbst ein ohne Begründung eingelegter Rechtsbehelf führt zur Rückwirkung der Auslegung.1219 Zum anderen ist unerheblich, ob der Rechtsbehelf so rechtzeitig eingelegt wurde, dass er theoretisch schneller als der Anlassfall hätte sein können und selbst die EuGH-Entscheidung hätte auslösen können.1220 Es genügt schon ein Rechtsbehelf, der in Erwartung des EuGH-Urteils einen Tag vor diesem eingelegt wurde. Zur Begründung lässt sich anführen, dass auf diese Weise ein Wettlauf der Kläger zum EuGH verhindert werden soll. Ein solcher wäre zwar nicht nachteilig für die Durchsetzung des Unionsrechts, jedoch unökonomisch, wenn Verfahrensaussetzungen oder vorläufige Bescheide den Rechtsbehelfsführern nicht helfen.1221 Weiterhin beruht die Rückwirkungsbeschränkung auf der pauschalisierenden Vermutung, dass alle positiv wie negativ Betroffenen von einem gemeinsamen „falschen“ Verständnis des Unionsrechts ausgegangen sind. In den Fällen, in denen ein Rechtsbehelf eingelegt wurde, ließe sich – ebenso pauschal – vermuten, dass dieser Gleichlauf der Rechtsansichten der Parteien nicht vorliegt. Der pauschalisierende Maßstab des guten Glaubens, der unabhängig von den konkreten Parteien bestimmt wird, ermöglicht es, bei der Rückausnahme ebenso pauschalisierend vorzugehen.

1218 Seer/Müller, IWB 2008, 255, 266; Arnold, ecolex 2000, 225, 227; a.A. Ehrke, ÖStZ 2000, 256. 1219 Das gilt natürlich nur, soweit das nationale Verfahrensrecht eine Einlegung ohne Begründung erlaubt. 1220 Sperlich, FS Ruppe, 2007, S. 551, 571. Düsterhaus, EuZW 2006, 393, 395 will deshalb – teleologisch orientiert – nur solche Rechtsbehelfsführer zulassen, die „so zeitig gegen eine vermeintlich gemeinschaftswidrige Maßnahme vorgegangen sind, dass sie tatsächlich oder potenziell Anlass zu einer Vorlage an den EuGH gegeben haben“; ähnlich Sperlich, FS Ruppe, 2007, S. 551, 568 f. Juratowitch, Retroactivity and the Common Law, 2008, S. 213 f. merkt zu Recht an, dass dadurch der Effekt der Rückwirkungsbeschränkung deutlich abgeschwächt würde. 1221 Seer/Müller, IWB 2008, 255, 267.

§ 7 Die Rechtsfolgenbestimmung der Rückwirkungsbeschränkung

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In gleichem Maße wie für den Kläger greift für die anderen Rechtsbehelfsführer nur der Hinweis auf die eingegangen Kosten(-risiken) und der Schutz schon eingelegter Rechtsbehelfe. Unter strikter Anwendung des Gutglaubenstatbestands stellt sich hier auch nicht das vieldiskutierte Problem der „Trittbrettfahrer“.1222 Die Einlegung eines Rechtsbehelfs ist immer mit einem (finanziellen) Risiko verbunden, solange nach einem objektivierten Maßstab ein unionsweiter Irrtum über den Inhalt des Unionsrechts besteht. 6. Teleologisch begründete Ausnahmen; Trittbrettfahrerproblematik Die Begünstigung des Klägers und anderer Rechtsbehelfsführer ist in Auslegungsvorabentscheidungen bisher ohne Gegenbeispiel. Es ist nicht erkennbar, dass der Gerichtshof überhaupt erwägt, den Rechtsbehelfsführern in bestimmten Situationen keine Ausnahme von der Rückwirkung zu gewähren. Solche Gegenausnahmen können hingegen sachgerecht sein, wenn durch die Begünstigung der Rechtsbehelfsführer die Rückwirkungsbeschränkung konterkariert wird.1223 Dazu kann schon ein einziger Fall genügen, wie von Generalanwältin Trstenjak in der Rechtssache Hogan Lovells International erläutert.1224 Dort war das Auslegungsvorlageverfahren Teil einer nationalen Klage auf Nichtigerklärung eines ergänzenden Schutzzertifikats für Pflanzenschutzmittel gemäß Art. 15 Abs. 2 der Verordnung 1610/96. Die Nichtigerklärung eines Schutzzertifikats beseitigt die ausschließliche Rechtsposition ihres Inhabers rückwirkend und gegenüber allen anderen.1225 Diese erga omnes-Rückwir-

1222 Siehe schon oben § 6 B.II.6.b), S. 217 ff. Für die „Trittbrettfahrer“ würde im Übrigen auch das Argument entfallen, sie würden nur zufällig nicht selbst zum Anlassfall, wenn sie dahingehend definiert werden, dass sie erst aufgrund eines Vorlagebeschlusses oder der Schlussanträge tätig wurden. 1223 Wiedmann, EuZW 2007, 692, 693; Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 104; GA Stix-Hackl, SchlA v. 14.3.2006 – Rs. C-475/03 Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373 Rn. 167; alle jedoch mit Blick auf die „Trittbrettfahrerproblematik“. Diese Lösung entspricht im Übrigen dem, was der Gerichtshof für die Ungültigkeitsvorlage vertritt (siehe § 7 D.II.2., S. 369). Deshalb wie hier Anderson/Demetriou, References to the European Court, 2. Aufl. 2002, Rn. 14-080; gegen „Ausnahmen von der Rückausnahme“ GA Tesauro, SchlA v. 19.1.1995 – verb. Rs. C-367/93 bis C-377/93 Roders B.V. u.a., Slg. 1995, I-2229 Rn. 25 Fn. 24. Als „Notinstrument” will es sich auch Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 224 offenhalten. 1224 GA Trstenjak, SchlA v. 17.6.2010 – Rs. C-229/09 Hogan Lovells International, Slg. 2010, I-11335 Rn. 102 f. 1225 So ausdrücklich die vergleichbaren Art. 55 Abs. 2 Verordnung (EG) Nr. 207/2009 des Rates vom 26.2.2009 über die Gemeinschaftsmarke; Art. 20 Abs. 2 Verordnung (EG) Nr. 2100/94 des Rates vom 27.7.1994 über den gemeinschaftlichen Sortenschutz; Art. 26

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

kung wollte die Generalanwältin vermeiden. Trstenjak ging davon aus, dass bei einer personellen Rückausnahme zu Gunsten des Klägers schon dessen Klageerfolg zu eben diesen Rechtsfolgen der Nichtigerklärung führen würde. Die Ausnahme zu Gunsten des Klägers hätte folglich die Rückwirkungsbeschränkung gänzlich sinnlos gemacht.1226 Neben rechtlichen Gründen, wie im gerade geschilderten Fall, kommt in Betracht, dass die eingelegten Rechtsbehelfe sich auf so große Beträge summieren, dass die wirtschaftlichen Auswirkungen, vor denen die Gegenseite geschützt werden sollte, nicht mehr auf ein erträgliches Maß reduziert werden.1227 Abzugrenzen ist dies von der oben (§ 6 B.II.6.b), S. 217) angesprochenen Trittbrettfahrerproblematik. Dort werden besonders viele Rechtsbehelfe eingelegt, weil es am guten Glauben in die abweichende Unionsrechtslage fehlt. Vorgeschlagen wurde, dass der Zeitpunkt, in dem die Klage oder der Rechtsbehelf eingelegt worden sein muss, vor dem Zeitpunkt der sachlichen Rückwirkungsbeschränkung liegen soll. Beabsichtigt ist, nur noch solche Rechtsbehelfsführer profitieren zu lassen, die ein bestimmtes Risiko eingehen mussten.1228 Dadurch wird aber der einen Seite guter Glaube zugestanAbs. 1 Verordnung (EG) Nr. 6/2002 des Rates vom 12.12.2001 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster. 1226 Es ist allerdings unklar, welche Rechtsfolge eine Rückwirkungsbeschränkung in dem konkreten Fall gehabt hätte. Nach Vorstellung von GA Trstenjak hätte sich niemand auf die ausgelegte Norm (Art. 3 Abs. 1 VO 1610/96) berufen können, um die Nichtigkeit des Schutzzertifikats für die Vergangenheit geltend zu machen. Das mitgliedstaatliche Gericht hätte also nur eine „zukünftige Nichtigkeit“ feststellen können, was von der Verordnung nicht gedeckt gewesen wäre. Art. 15 Abs. 1 VO 1610/96 sieht nämlich eine andere Rechtsfolge als eine (erga omnes- und ex tunc-)Nichtigkeit nicht vor. Bei einer Rückausnahme zugunsten des Klägers hätte die „Nichtigkeit“ ihm gegenüber ex tunc wirken müssen, während sie Dritten gegenüber erst ab dem Urteilstag gewirkt hätte. Der Gerichtshof hätte folglich auch Art. 15 Abs. 1 VO 1610/96 neu auslegen müssen. Eine andere Lösung würde der üblichen Vorgehensweise mehr entsprechen. Dabei hätte der Gerichtshof tenorieren müssen, dass Ansprüche, die sich für die Vergangenheit auf die Nichtigkeit wegen Art. 3 Abs. 1 VO 1610/96 stützen, nicht geltend gemacht werden können. Dann wäre der Ausgangsklage stattzugeben und das Schutzzertifikat als nichtig zu erklären gewesen. Diese Nichtigkeit könnte dann jedoch von niemandem – außer dem Kläger im Falle einer Rückausnahme – für die Vergangenheit geltend gemacht werden. Der gemäß Art. 16 VO 1610/96 zu veröffentlichende Hinweis hätte dann diese Beschränkung wiedergeben müssen. Nachteil dieser Variante ist jedoch, dass der Gerichtshof hier nicht die Berufung auf den ausgelegten Art. 3 Abs. 1 VO 1610/96 einschränken würde, sondern die Geltendmachung der erst vom nationalen Gericht festzustellenden Nichtigkeit gemäß Art. 15 Abs. 2 VO 1610/96. 1227 Vgl. GA Stix-Hackl, SchlA v. 14.3.2006 – Rs. C-475/03 Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373 Rn. 167; GA Tizzano, SchlA v. 10.11.2005 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Rn. 59. 1228 Vgl. GA Stix-Hackl, SchlA v. 14.3.2006 – Rs. C-475/03 Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373 Rn. 168.

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den, während die andere darauf verwiesen wird, das Ergebnis des EuGH sei vorhersehbar. Daher kann es im hier gemeinten Fall nur auf die wirtschaftlichen Auswirkungen ankommen. Allein wirtschaftliche Kriterien bestimmen dann über die (zeitliche) Einschränkung der personellen Rückausnahme.1229 Aus diesem Grund sollte grundsätzlich davon abgesehen werden, den Zeitpunkt der Rückwirkung und den der personellen Rückausnahme zu trennen. Sinnvoll und sachgerecht wäre eine Trennung der Zeitpunkte von sachlicher Rückwirkung und personeller Rückausnahme nur, wenn der Rückwirkungszeitpunkt in der Zukunft liegt, also eine Übergangsfrist eingeräumt werden soll. Mit einer Übergangsfrist würde zwingend einhergehen, die Rückausnahme für Rechtsbehelfsführer längstens bis zum Urteilstag einzuräumen. Anderenfalls würde die zeitliche Beschränkung ad absurdum geführt. Der Gerichtshof ließe dann noch mehr Kläger von seinem Urteil profitieren, denn mit der Verkündung des Urteils ist erst recht absehbar, dass eingelegte Rechtsbehelfe Erfolg haben werden. Nicht geklärt ist damit jedoch, ob die schon eingelegten Rechtsbehelfe unterschiedlichen Regeln unterworfen werden sollen oder ganz auf die personelle Rückausnahme zu verzichten ist.1230 Daran schließt sich die Frage an, ob es überhaupt möglich ist, anhand objektiver Kriterien einigen Rechtsbehelfsführern die Begünstigung zu gewähren und sie anderen zu versagen. Zu differenzieren ist jedenfalls zuerst danach, ob schon ein einzelner Begünstigter genügt, um die Rückwirkungsbeschränkung zu konterkarieren. Ist dies zu bejahen und genügt schon der Kläger selbst, darf niemand von der Rückwirkungsbeschränkung ausgenommen werden. Wäre der Kläger unschädlich, sollte er davon profitieren, der erste beim EuGH gewesen zu sein. Begründen einzelne der anderen Rechtsbehelfsführer die Sinnlosigkeit der Rückwirkungsbeschränkung, dürfte sich für eine Ungleichbehandlung kein sachliches Differenzierungskriterium finden. Ist beispielsweise die Höhe einzelner Ansprüche der Rechtsbehelfsführer ausreichend, um die Gefahr schwerer wirtschaftliche Folgen zu begründen, können dennoch nicht nur diese von der Begünstigung ausgeschlossen werden. Die Höhe der Rückzahlungsansprüche korreliert nämlich mit der Höhe der Rechtsbeeinträchtigung. Es ist nicht einzusehen, dass diejenigen, die beson1229

Insoweit ist Müller, Die Begrenzung der zeitlichen Wirkungen von EuGHEntscheidungen, 2009, S. 93 zuzustimmen, dass die Rechtsbehelfsführer nicht nach ihrer Motivationslage diskriminiert werden dürfen. Zur Gegenansicht vgl. Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 214 ff., der als Differenzierungskriterium zwar die „Schutzwürdigkeit“ nennt, damit aber doch nur vertrauensrelevante Umstände anders bezeichnet. 1230 Dies übersieht GA Jacobs, SchlA v. 17.3.2005 – Rs. C-475/03 Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373 Rn. 86; ihm zustimmend GA Tizzano, SchlA v. 10.11.2005 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Rn. 45. Beide gehen offenbar unausgesprochen davon aus, dass eine Übergangsfrist ohne personelle Rückausnahme einzuräumen wäre.

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ders belastet sind, deswegen schlechter behandelt werden sollen. Gerecht wäre allenfalls eine Quotelung aller Ansprüche der Rechtsbehelfsführer. Dies würde den Gerichtshof jedoch dazu zwingen, eine absolute Grenze für die wirtschaftlichen Auswirkungen zu bestimmen. Soweit schon ein Rechtsbehelfsführer (außer dem Kläger) die Rückwirkungsbeschränkung konterkariert, sollte daher auch kein anderer Rechtsbehelfsführer von einer Rückausnahme profitieren. II. Unwirksamkeitsentscheidungen Die Argumente für und gegen eine personelle Rückausnahme lassen sich grundsätzlich von der Auslegungsvorlage auf die Unwirksamkeitsentscheidungen übertragen. Sie sind zumeist nicht auf die Besonderheiten des Auslegungsverfahrens zugeschnitten. Die unterschiedliche Dogmatik bei Unwirksamkeit und Auslegung steht einer Übertragung nicht entgegen. Nimmt der Gerichtshof den Kläger und andere Rechtsbehelfsführer von der Rückwirkungsbeschränkung aus, wird der personelle Anwendungsbereich der aufrechterhaltenen Norm um die Rechtsbehelfsführer beschnitten. Ungeachtet dessen begünstigt der Gerichtshof bei den Unwirksamkeitsentscheidungen die Rechtsbehelfsführer wesentlich seltener als bei den Auslegungsentscheidungen. 1. Nichtigkeitsklage In keiner der Nichtigkeitsklagen, in denen die Rückwirkung beschränkt wurde, nahm der EuGH den Kläger oder andere Rechtsbehelfsführer davon aus.1231 Fraglich ist, ob die besondere Struktur der Nichtigkeitsklage der Grund dafür ist. Im Gegensatz zur Auslegungsvorlage, beruht eine Nichtigkeitsklage nicht auf einem Rechtsstreit mit beteiligten Rechtsunterworfenen, sondern kann von den privilegierten Klägern gemäß Art. 263 Abs. 2, 3 AEUV eingeleitet werden. Diesen muss keine Rückausnahme gewährt werden, um Klageanreize aufrechtzuerhalten, da sie ohnehin ihre Interessen an der Durchsetzung des Unionsrechts in Zukunft wahrnehmen werden. Dazu sind sie aufgrund ihrer objektiven Stellung sogar verpflichtet.1232 Ebenso greift das Argument des Individualrechtsschutzes für die privilegierten Kläger nicht. Dennoch ist der Individualrechtsschutz zumindest für die anderen Rechtsadressaten von Bedeutung, die nicht nach Art. 263 Abs. 4 AEUV 1231

Vgl. Anhang I A., S. 519 f.; Woods/Watson, Steiner & Woods EU Law, 11. Aufl. 2012, S. 286; auch M. Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung, 2010, S. 147 Fn. 804 konstatiert Unterschiede zur Auslegungsrückwirkungsbeschränkung. 1232 Hyland, IJEL 2 (1995), 208, 210.

§ 7 Die Rechtsfolgenbestimmung der Rückwirkungsbeschränkung

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selbst klagebefugt gewesen wären und nationale Rechtsbehelfe eingelegt haben.1233 Auch auf deren Rechtsverhältnisse würde die Nichtigerklärung einwirken. Der isolierte Blick auf die Person des Klägers lässt diese Betroffenen außen vor. Sobald die Aufhebung eines Rechtsakts Bindungswirkung hat, sind demnach in gleichem Maße (Individual-)Rechtsschutzinteressen betroffen wie bei der Auslegungsvorlage. Das ist vor allem der Fall, wenn abstraktgenerelle Regelungen angegriffen wurden. Hier müsste der Gerichtshof also folgerichtig eine Rückausnahme für eventuelle individuelle Rechtsbehelfsführer vorsehen. Hat die Aufhebung keine Bindungswirkung, zum Beispiel weil der Rechtsakt nur individuelle Adressaten hatte, die sämtlich nach Art. 263 Abs. 4 AEUV klagebefugt sind, werden keine Rechtsschutzinteressen Dritter betroffen. Betrifft die Klage eine individuell-konkrete Regelung, beschränkt sich die Rechtskraft des Urteils auf den konkreten Kläger und es fehlt der Nichtigerklärung an einer Bindungswirkung. Hier gebietet der Zweck einer Rückwirkungsbeschränkung, den Kläger als einzigen Betroffenen nicht auszunehmen. In diesen Fällen muss die tatbestandliche Interessenabwägung das Rechtsschutzinteresse der Kläger besonders berücksichtigen. 2. Ungültigkeitsvorlage Bei den Ungültigkeitsverfahren sah der Gerichtshof anfangs von einer Rückausnahme ab.1234 Dies löste energischen Widerspruch in der nationalen Rechtsprechung und Literatur aus, die sich im Wesentlichen auf die oben zur Auslegungsvorlage geschilderten Argumente beriefen.1235 Der EuGH reagierte darauf, indem er in der Folge die Beteiligten des Ausgangsverfahrens und die Rechtsbehelfsführer von der Rückwirkungsbeschränkung ausnahm.1236

1233

Das übersiehen auch Grabitz/Hilf/Nettesheim-Dörr, Das Recht der Europäischen Union, 51. EL 2013, Art. 264 AEUV Rn. 14 und Jann, EuGRZ 2006, 523. 1234 EuGH v. 19.10.1977 – verb. Rs. 124/76 und 20/77 Moulins Pont-á-Mousson u.a., Slg. 1977, 1795 Rn. 24; EuGH v. 19.10.1977 – verb. Rs. 117/76 und 16/77 Ruckdeschel u.a., Slg. 1977, 1753 Rn. 13; EuGH v. 15.10.1980 – Rs. 4/79 Providence agricole de la Champagne, Slg. 1980, 2823 Rn. 45; EuGH v. 15.10.1980 – Rs. 109/79 Maieseries de Beauce, Slg. 1980, 2883 Rn. 45; EuGH v. 15.10.1980 – Rs. 145/79 Roquette Frères, Slg. 1980, 2917 Rn. 52. 1235 Überblick darüber bei Everling, FS Börner, 1992, S. 57, 62 ff.; Everling, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem europäischen Gerichtshof, 1986, S. 70. 1236 EuGH v. 15.1.1986 – Rs. 41/84 Pinna, Slg. 1986, 1 Rn. 29 f.; EuGH v. 10.3.1992 – verb. Rs. C-38/90 und C-151/90 Lomas u.a., Slg. 1992, I-1781 Rn. 29; EuGH v. 26.4.1994 – Rs. C-228/92 Roquettes Frères ./. Hauptzollamt Geldern, Slg. 1994, I-1445 Rn. 27 ff.; EuGH v. 22.12.2008 – Rs. C-333/07 Régie Networks, Slg. 2008, I-10807 Rn. 127; ein historischer Überblick findet sich auch bei bei Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 232 ff.

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

Dies wird verbreitet als Beginn einer geänderten Rechtsprechung angesehen, wonach eine Fortwirkungsanordnung im Rahmen einer Gültigkeitsvorlage immer mit einer personellen Rückausnahme einhergeht.1237 Dem ist nicht so. Der Gerichtshof verfolgt hier eine andere Linie als bei der Auslegungsvorlage.1238 Richtig ist zwar, dass der Gerichtshof in der Rechtssache 145/79 ungültige Währungsausgleichsbeträge noch ohne Ausnahme aufrechterhalten hatte und in der Rechtssache C-228/92 bei rechtswidrigen Währungsausgleichsbeträgen die Rechtsbehelfsführer ausnahm. Der EuGH hat sich jedoch niemals so streng selbst gebunden, dass eine Rückausnahme zwingend vorzusehen ist. Es entspricht im Gegenteil ständiger Rechtsprechung, dass es eine Frage des Einzelfalls ist, ob die Rechtsbehelfsführer zu begünstigen sind oder auch ihnen gegenüber nur eine zukünftige Ungültigerklärung „in angemessener Weise Abhilfe schafft“.1239 Ein zwingendes Gebot der Rückausnahme ergibt sich auch nicht daraus, dass bei der Abwägung das Rechtsschutzinteresse der Rechtsbehelfsführer und die effektive Wirksamkeit des Vorlageverfahrens zu berücksichtigen sind.1240 Zuerst kann dem Rechtsschutzinteresse auch auf anderem Wege Genüge getan werden und außerdem sind wie bei der Nichtigkeitsklage oder der Auslegungsvorlage Situationen vorstellbar, in denen der Zweck der Rückwirkungsbeschränkung schon durch eine einzige Ausnahme vereitelt werden kann.1241 Die personelle Rückausnahme dürfte jedoch der Regelfall sein.1242 1237

Schima, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH, 2. Aufl. 2004, S. 109; Lenaerts/Arts/Masels/Bray, Procedural Law of the European Union, 2. Aufl. 2006, Rn. 10019; Hyland, IJEL 2 (1995), 208, 229; Dauses, FS Everling, 1995, S. 223, 240; Everling, FS Börner, 1992, S. 57, 69; Müller, Die Begrenzung der zeitlichen Wirkungen von EuGHEntscheidungen, 2009, S. 47 f.; Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 237 f.; vorsichtiger Schwarze-Schwarze, EUKommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 267 AEUV Rn. 72; Lenz/Borchardt-Borchardt, EUVerträge, 6. Aufl. 2013, Art. 264 AEUV Rn. 8; Kadelbach, Die Wirkung von im Vorabentscheidungsverfahren ergangenen Urteilen, 2000, S. 119, 127 f. 1238 I.Erg. auch Huep, Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf ältere Sachverhalte, 2001, S. 105 Fn. 378. 1239 EuGH v. 27.2.1985 – Rs. 112/83 Produits de Maïs, Slg. 1985, 719 Rn. 18; EuGH v. 22.5.1985 – Rs. 33/84 FRAGD, Slg. 1985, 1605 Rn. 18; EuGH v. 15.1.1986 – Rs. 41/84 Pinna, Slg. 1986, 1 Rn. 29; EuGH v. 10.3.1992 – verb. Rs. C-38/90 und C-151/90 Lomas u.a., Slg. 1992, I-1781 Rn. 25; EuGH v. 26.4.1994 – Rs. C-228/92 Roquettes Frères ./. Hauptzollamt Geldern, Slg. 1994, I-1445 Rn. 25; EuGH v. 8.2.1996 – Rs. C-212/94 FMC, Slg. 1996, I-389 Rn. 57. 1240 So aber GA Darmon, SchlA v. 27.10.1993 – Rs. C-228/92 Roquette Frères ./. Hauptzollamt Geldern, Slg. 1994, I-1445 Rn. 53. 1241 Vgl. auch Pietrek, Verbindlichkeit von Vorabentscheidungen nach Art. 177 EWGV, 1989, S. 51 f. zum Sinn der Ablehnung einer Rückausnahme in den Fällen zu den Währungsausgleichsbeträgen. 1242 In diesem Sinne schon Gilsdorf, Der Rechtsschutz vor dem EuGH aus der Sicht der Kommission, 1983, S. 163, 174; ebenso Ehlers-Gundel, Europäische Grundrechte und

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Die jüngere Entscheidung in der verbundenen Rechtssache C-92/09 und C-93/09 macht deutlich, dass die Rückausnahme kein unumstößliches Dogma ist.1243 Dort hob der Gerichtshof Vorschriften auf, die die Veröffentlichung personenbezogener Daten von Agrarunterstützungsempfängern vorsahen, ohne dass eine Ausnahme für die Kläger des nationalen Ausgangsverfahrens oder andere Rechtsbehelfsführer gemacht wurde.1244 Gegenüber den Klägern des Ausgangsverfahrens kann dies noch durch die Besonderheiten des Sachverhalts erklärt werden. Ihnen hatte das beklagte Bundesland Hessen zugesichert, dass ihre Daten nicht vor dem rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens veröffentlicht würden. Diese Abrede genügte ihrem Rechtsschutzinteresse. Alle anderen möglichen Rechtsbehelfsführer gehen hingegen leer aus. III. Unterschiede zwischen Ungültigkeitsvorlage, Nichtigkeitsklage und Auslegungsvorlage Zusammenfassend sind deutliche Unterschiede in der gerichtlichen Praxis zwischen den Verfahrensarten zu konstatieren. Im Auslegungsverfahren wird immer die Rückwirkungsbeschränkung für Rechtsbehelfsführer ausgesetzt und dies nicht hinterfragt. Bei den Nichtigkeitsklagen wird niemals eine personelle Rückausnahme vorgenommen und dies ebensowenig angezweifelt. Nur in den Ungültigkeitsvorlagen ist die Rückausnahme umstritten und der Gerichtshof will sie in Abhängigkeit vom Einzelfall gewähren. Dieses uneinheitliche Vorgehen überrascht. Die Frage, wie sich eine Rückwirkungsbeschränkung auf den Kläger oder andere Rechtsbehelfsführer auswirkt, spricht in allen Verfahren weitgehend dieselben Probleme an. Unterschiedliche Lösungen sind daher begründungsbedürftig. Oben wurde zwar schon erläutert, dass die privilegierten Nichtigkeitskläger nicht schutzbedürftig sind und bei den individuellen Klagen gegen konkret-individuelle Rechtsakte der Zweck der Rückwirkungsbeschränkung einer Rückausnahme entgegensteht. Damit lässt sich jedoch nicht plausibel machen, warum eventuelle andere Rechtsbehelfsführer in ihrem Angriff auf abstrakt-generelle Normen unbeachtet bleiben. Vielmehr sollte also von einer einheitlichen Dogmatik ausgegangen werden, in der die Rückausnahme für Kläger und Rechtsbehelfsführer der Grundsatz ist, von dem begründet abgewichen werden kann. Dafür spricht MehreGrundfreiheiten, 4. Aufl. 2014, § 27 Rn. 58; Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 263. 1243 Das Problem der personellen Rückausnahme wird entgegen Ballmaier/Häußler, EWS 2011, 280, 284 in der Rs. C-236/09 (Association Belge des Consommateurs TestAchats ASBL) nicht berührt, denn dort handelte es sich schon nicht um eine Rückwirkungsbeschränkung, vgl. oben § 6 C.IV.1., S. 283. 1244 EuGH v. 9.11.2010 – verb. Rs. C-92/09 und C-93/09 Schecke und Eifert, Slg. 2010, I-11063 Rn. 94.

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res. Zuerst beruht die Rückwirkungsbeschränkung sowohl bei der Nichtigkeit als auch bei der Ungültigkeit auf der (analogen) Anwendung von Art. 264 Abs. 2 AEUV.1245 Die dort genannten Argumente tragen hier ebenso eine grundsätzliche Gleichbehandlung; die Verfahrenssituation lässt sich jeweils als „unionsinterner Sachverhalt“ beschreiben.1246 Zudem sind die Vorlageverfahren aus der Perspektive des individuellen Rechtsschutzes einander sehr ähnlich. Gleiche Grundsätze für beide Verfahrensarten drängen sich hier geradezu auf.1247 Darüber hinaus dienen alle Verfahrensarten auch dem individuellen Rechtsschutz und der einheitlichen Durchsetzung von (höherrangigem) Unionsrecht. Es ist nicht frei von Zufällen, welches Verfahren letztlich zu einer Entscheidung des EuGH führt. IV. Die Einlegung eines Rechtsbehelfs Um von der Begünstigung für Rechtsbehelfsführer zu profitieren, muss ein Betroffener vor dem Verkündungstag des Urteils „Klage erhoben oder einen entsprechenden Rechtsbehelf eingelegt haben“.1248 Diese Formulierung gilt für Unwirksamkeits- und Auslegungsverfahren gleichermaßen, genauso wie für privatrechtliche oder öffentlich-rechtliche Sachverhalte aller Art. Die Begriffe „Klage“ und „entsprechender Rechtsbehelf“ sind autonom auszulegen.1249 Die diesbezüglichen unionalen Mindestvorgaben werden im Anschluss erörtert. Wann eine Klage „erhoben“ oder ein Rechtsbehelf „eingelegt“ worden ist, beurteilt sich hingegen allein nach dem nationalen Recht.1250 Damit müssen Klage und Rechtsbehelf sämtliche nationalen Voraussetzungen erfüllen.1251 Unionsrechtliche Grenzen sind nur die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität. Anwendung finden daher beispielsweise nationale Postlauffristen, die die Rechtsbehelfsführer begünstigen, wie § 167 ZPO.1252 1245

Insoweit ist Düsterhaus, EuZW 2006, 393, 395 zu widersprechen, der in der Rechtsprechungsänderung hinsichtlich der personellen Rückausnahme bei Gültigkeitsvorlagen eine Abkehr von dieser Analogie sieht. Der Gerichtshof beruft sich nach wie vor auf Art. 264 Abs. 2 AEUV, siehe nur EuGH v. 9.11.2010 – verb. Rs. C-92/09 und C-93/09 Schecke und Eifert, Slg. 2010, I-11063 Rn. 93. 1246 Zu dieser Abgrenzung Weiß, EuR 1995, 377, 379 f. 1247 Vgl. Simon, SABENA is dead, Gabrielle Defrenne’s Case is still alive, 2010, S. 265, 272; Schima, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH, 2. Aufl. 2004, S. 109. 1248 EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/76 Defrenne II, Slg. 1976, 455 Rn. 74/75 und Tenor Nr. 5; EuGH v. 9.3.2000 – Rs. C-437/97 Evangelischer Krankenhausverein Wien u.a., Slg. 2000, I-1157 Rn. 60 und Tenor Nr. 3. 1249 Ehrke, ÖStZ 2000, 255; anders wohl Beiser, RdW 2000, 707, 709; ungenau daher auch Schima, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH, 2. Aufl. 2004, S. 105. 1250 Vgl. EuGH v. 17.5.1990 – Rs. C-262/88 Barber, Slg. 1990, I-1889 Rn. 45; EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, Slg. 1995, I-4921 Rn. 145. 1251 EuGH v. 17.4.1997 – Rs. C-147/95 Evrenopoulos, Slg. 1997, I-2057 Rn. 37. 1252 Hollik, SWK 2000, 917, 919.

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1. Klage „Klage“ erfasst alle Wege der Geltendmachung der Rechte des Betroffenen vor einem mitgliedstaatlichen Gericht.1253 Der Rechtsstreit muss nicht beim EuGH anhängig sein; anderenfalls würde die Begünstigung der anderen Rechtsbehelfsführer außer dem Kläger des Ausgangsverfahrens weitgehend leerlaufen. Aufgrund der Vielfalt möglicher betroffener Rechtsgebiete und Sachverhalte fällt eine Vielzahl von gerichtlichen Verfahren unter den Klagebegriff. Je nach Situation können Leistungs-, Feststellungs-, Anfechtungsoder Verpflichtungsklagen einschlägig sein. Für die Wahl des Klageverfahrens gibt es keine unionalen Vorgaben. Maßgeblich ist allein, auf welche Art das Begehren des Betroffenen durchzusetzen ist. Das kann auch durch Klagen im Vollstreckungsverfahren geschehen. Die „Klage“ muss selbstverständlich im nationalen Recht weder als solche bezeichnet sein noch das gerichtliche Verfahren erstmals in Gang setzen. In Frage kommen ebenso Rechtsmittel wie „Berufung“, „Revision“ oder „(sofortige) Beschwerde“. 2. Entsprechender Rechtsbehelf Der „entsprechende Rechtsbehelf“ bezeichnet die außergerichtliche Geltendmachung seiner Rechte durch den Betroffenen.1254 Gemeint sind damit vor allem, aber nicht ausschließlich, verwaltungsrechtliche Rechtsbehelfe.1255 Näher bestimmt wird der Rechtsbehelf durch die Kennzeichnung als „entsprechend“, welche eine Verbindung zwischen „Rechtsbehelf“ und „Klage“ schafft.1256 In den deutschen Sprachfassungen der einschlägigen Urteile wird oft auch der treffendere Begriff „gleichwertig“ verwendet.1257 Ein inhaltlicher Unterschied ist damit jedoch nicht beabsichtigt, denn die englischen und französischen Sprachfassungen verwenden durchgängig dasselbe Wort

1253

Vgl. EuGH v. 2.2.1988 – Rs. 24/86 Blaizot u.a., Slg. 1988, 379 Rn. 35; EuGH v. 26.4.1994 – Rs. C-228/92 Roquettes Frères ./. Hauptzollamt Geldern, Slg. 1994, I-1445 Rn. 28, 30; EuGH v. 30.4.1996 – Rs. C-308/93 Cabanis-Issarte, Slg. 1996, I-2097 Rn. 48; EuGH v. 4.5.1999 – Rs. C-262/96 Sürül, Slg. 1999, I-2685 Rn. 113. 1254 So ausdrücklich EuGH v. 26.4.1994 – Rs. C-228/92 Roquettes Frères ./. Hauptzollamt Geldern, Slg. 1994, I-1445 Rn. 29, 30. 1255 Vgl. EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-161/06 Skoma-Lux, Slg. 2007, I-10841 Rn. 71; EuGH v. 9.3.2000 – Rs. C-437/97 Evangelischer Krankenhausverein Wien u.a., Slg. 2000, I-1157 Rn. 60 (in der englischen Fassung). 1256 Ehrke, ÖStZ 2000, 255. 1257 EuGH v. 15.1.1986 – Rs. 41/84 Pinna, Slg. 1986, 1 Rn. 30; EuGH v. 2.2.1988 – Rs. 24/86 Blaizot u.a., Slg. 1988, 379 Rn. 35; EuGH v. 10.3.1992 – verb. Rs. C-38/90 und C-151/90 Lomas u.a., Slg. 1992, I-1781 Rn. 30; EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, Slg. 1995, I-4921 Rn. 145; EuGH v. 4.5.1999 – Rs. C-262/96 Sürül, Slg. 1999, I-2685 Rn. 113; EuGH v. 22.12.2008 – Rs. C-333/07 Régie Networks, Slg. 2008, I-10807 Rn. 128.

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

(„equivalent“, „équivalente“).1258 Wann ein Rechtsbehelf einer Klage entspricht, ist unionsautonom zu bestimmen. Soweit die deutsche Fassung des Urteils Lomas den Eindruck erweckt, die Gleichwertigkeit beurteile sich nach dem innerstaatlichen Recht, liegt nur eine Ungenauigkeit in der Übersetzung vor.1259 Ob ein Rechtsbehelf einer Klage gleichwertig ist, bestimmt sich nach dem Zweck der personellen Rückausnahme.1260 Die Begünstigung sollen diejenigen erhalten, die Schritte zur Wahrung ihrer Rechte unternommen haben, da nur sie zur Durchsetzung des „richtigen“ Unionsrechts Kosten und Risiken auf sich genommen haben. Der Rechtsbehelf muss also mit derselben Intensität wie eine Klage geeignet sein, den aus dem Unionsrecht abgeleiteten Anspruch in einem nationalen Verfahren durchzusetzen.1261 Dazu muss er zumindest die Bestandskraft oder sonstige Durchsetzungsschranken beseitigen können, da die Rückwirkungsbeschränkung eine zwischenzeitlich eingetretene Rechts- oder Bestandskraft nicht berührt. Demgegenüber kommt es nicht darauf an, dass der Rechtsstreit durch eine unabhängige und unparteiische Instanz entschieden wird. Maßgeblich ist vielmehr, dass der Rechtsbehelfsführer durch das gewählte Verfahren in der Lage ist, nur durch eigenes Verhalten eine unionsrechtsgemäße Entscheidung zu seinen Gunsten zu erzwingen.1262 Das ist beispielsweise nicht der Fall, wenn der Betroffene keinen gerichtlich durchsetzbaren Anspruch auf eine Entscheidung hat, wenn die Entscheidung nicht verbindlich ist oder wenn sie vom Ermessen oder gar Wohlwollen der Gegenseite abhängt. In Betracht kommen daher neben den verwaltungsrechtlichen Rechtsbehelfen wie Einspruch oder Widerspruch auch Zahlungsverlangen in Form einfacher (Erstattungs-)Anträge.1263 Was privatrechtliche Rechtsbehelfe sein können, ist schwerer zu beurteilen. Im deutschen Privatrecht dürften die meisten der in § 204 Abs. 1 BGB aufgeführten verjährungshemmenden Maßnahmen 1258

Z.B. EuGH v. 30.4.1996 – Rs. C-308/93 Cabanis-Issarte, Slg. 1996, I-2097 Rn. 48. EuGH v. 10.3.1992 – verb. Rs. C-38/90 und C-151/90 Lomas u.a., Slg. 1992, I-1781 Rn. 30 lautet „oder einen nach dem anwendbaren innerstaatlichen Recht gleichwertigen Rechtsbehelf eingelegt haben“, während es in der englische Fassung heißt „or made an equivalent complaint under the applicable national law” und in der französischen „ou soulevé une réclamation équivalente selon le droit national applicable“. 1260 In diesem Sinne auch öVwGH v. 19.6.2000 Rs. 2000/16/0296 und dessen ständige Rechtsprechung, der auf den effektiven Individualrechtsschutz abstellt, wie ihn der Gerichtshof der personellen Rückausnahme zugrunde legt. In gleichem Maße wie oben § 7 D.I.1., S. 359, ist die Bedeutung dieses Grundsatzes jedoch deutlich zu relativieren. 1261 Ehrke, ÖStZ 2000, 255; ähnlich Moritz, RdW 2000, 254, 255. 1262 In diesem Punkt abweichend Kilches, ecolex 2001, 142 „jede Einleitung irgendeines Verfahrens […], das nach nationalem Recht zu einer Rückzahlung [der Abgabe] führen kann“ (ursprüngliche Hervorhebungen weggelassen und eigene zugefügt). 1263 Hofmann, InfAuslR 1999, 381, 383; Becker, jurisPR-SozR 32/2004 Anm. 5 (zum einfachen Leistungsantrag im Sozialrecht). 1259

§ 7 Die Rechtsfolgenbestimmung der Rückwirkungsbeschränkung

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genügen, soweit sie nicht schon den „Klagen“ zugeordnet werden können.1264,1265 Auch die Verteidigung gegen eine Klage, kann ein Rechtsbehelf sein. Daher genügt die Berufung auf die Unionswidrigkeit einer nationalen Abgabe in einem Steuerstrafverfahren.1266 3. Einzelfragen Keinen Unterschied macht es, ob der Betroffene sich gegen ein Zahlungsverlangen wehrt oder ob er eine geleistete Zahlung zurückverlangt.1267 Anderenfalls könnten Zufälle über die Reichweite der Rückausnahme entscheiden. Klage oder Rechtsbehelf müssen nicht spezifisch auf die Verletzung von Unionsrecht gerichtet sein; der Betroffene muss sich nicht einmal auf Unionsrecht berufen.1268 Nur so kann eine praktikable Abgrenzung der erfassten Rechtsbehelfe erfolgen. Da es Ziel der Rückwirkungsbeschränkung ist, noch laufende Rechtsbehelfs- oder Verjährungsfristen zu unterbrechen, genügt bloßes Zuwarten oder das Verweigern einer Zahlung nicht, wenn damit nicht eine verbindliche Klärung der Rechtslage einhergeht. Die Betroffenen müssen aktiv tätig werden. Das ist beispielsweise der Fall, wenn eine sog. Nullveranlagung beantragt wird, denn dann wird das Bestehen einer Steuerschuld im Rahmen eines Steuerverfahrens bestritten.1269 Gleiches gilt für Zahlungsverweigerungen oder Zahlungen unter Protest, die mit Antrag auf Erlass eines Bescheides verbunden sind.1270 Hat der Wille, seine Rechte durchzusetzen, noch nicht zur Einlegung eines Rechtsbehelfs geführt, ist gleichgültig worauf dieses Versäumnis beruht.1271 Selbst wenn die Rechtsbehelfsfrist erst einen Tag gelaufen und dem Betroffenen eine Einlegung objektiv unmöglich gewesen sein sollte, kann er sich nicht mehr für die Vergangenheit auf die fragliche Norm 1264

Strenger wohl Weichmann, Auswirkungen der Entscheidung des EuGH vom 17. Mai 1990 (Rs. C 262/88 Barber/Guardian Royal Exchange) auf die Altersgrenzen im deutschen Rentenrecht, 1993, S. 86 Fn. 228, der nur die „Rechtshängigkeit des Rentenanspruchs“ genügen lässt. 1265 Fraglich könnte beispielsweise die Zuordnung des Mahnverfahrens (§ 204 Abs. 1 Nr. 3 BGB) sein. Für die Einordnung als „Klage“ spricht, dass das Verfahren beim Amtsgericht geführt wird und in einen vollstreckbaren Titel münden kann; dagegen spricht, dass der Rechtspfleger keine Entscheidung über den Anspruch trifft, sondern das Verfahren bei Streitigkeit an den Richter in das übliche Klageverfahren abgegeben werden muss. 1266 Kilches, ecolex 2001, 142, 144. 1267 EuGH v. 26.4.1994 – Rs. C-228/92 Roquettes Frères ./. Hauptzollamt Geldern, Slg. 1994, I-1445 Rn. 29. 1268 Wie hier Arnold, ecolex 2000, 225, 227; Kilches, FJ 2000, 65, 67; a.A. Ehrke, ÖStZ 2000, 256. 1269 I.Erg. ebenso Sonderrundschreiben des österreichischen Fachsenats für Steuerrecht nach Bruckner/Keppert, ÖStZ 2000, 195, 196. 1270 Kilches, FJ 2000, 65, 68. 1271 In diesem Sinne BSG v. 18.2.2004 – B 10 EG 10/03 R, Rn. 25.

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berufen. Manipulationen durch die Gegenseite lassen sich mit dem Rechtsmissbrauchsgrundsatz oder Schadensersatzansprüchen bekämpfen.1272 Ebenso lässt sich nicht zu Gunsten der Betroffenen berücksichtigen, wenn nach einer mitgliedstaatlichen Praxis Klagen oder andere Rechtsbehelfe regelmäßig kostenpflichtig abgewiesen worden sind.1273 Ausgleich kann dann nur über die Sanktionen bei Verletzung der Vorlagepflicht erlangt werden. Problematisch ist die Einordnung von Fällen, in denen ein Rechtsbehelf oder eine Klage eingelegt und auch schon abschlägig entschieden wurde und während der Frist für den Rechtsbehelf oder das Rechtsmittel gegen die ablehnende Entscheidung das rückwirkungsbeschränkte Urteil des EuGH gefällt wird. Es ließe sich überlegen, dass hier die Frist für das Rechtsmittel ebenso wie die Frist zur erstmaligen Einlegung eines Rechtsbehelfs durch die Rückwirkungsbeschränkung abgeschnitten wird. Der Betroffene würde dann nicht von der Rückausnahme profitieren und so die Reichweite der personellen Rückausnahme eingeschränkt. Dagegen spricht jedoch, dass derjenige, der eine Rechtsmittelfrist noch nicht ausgenutzt hat, sich unterscheidet von demjenigen, der noch keinen ersten Rechtsbehelf eingelegt hatte. Ersterer ist bereits zur Durchsetzung seiner Rechte tätig geworden. Er hat die Rechtsmittelfrist gleichsam erst durch sein Tätigwerden begründet und die sonst eintretende Bestandskraft verhindert. Daher dürfen auch bei noch nicht bestandskräftigen ablehnenden Bescheiden sich die Betroffenen auf die Feststellungen des EuGH berufen.1274 4. Offenhalten zu Gunsten hoheitlicher Akteure? Die Begünstigung von „Rechtsbehelfsführern“ hat zur Konsequenz, dass die Mitgliedstaaten davon oftmals ausgeschlossen sind, denn sie können nur Rechtsmittel gegen gerichtliche Entscheidungen einlegen. Dies deckt sich mit dem vorgebrachten Argument des Individualrechtsschutzes, der Hoheitsträgern nicht zustehen kann. Mitgliedstaatliche Behörden müssen das Rechtsverhältnis daher anderweitig offenhalten. So können erlassene Bescheide durch Rücknahme oder Widerruf unwirksam gemacht werden, anderenfalls werden sie mit Tag des Urteils bestandskräftig. Nicht ausdrücklich geklärt ist, ob ein eingelegter Rechtsbehelf das Rechtsverhältnis auch zu Gunsten des Mitgliedstaats offenhalten kann. Dann würde der Rechtsbehelf gleichsam eine reformatio in peius ermöglichen. Dagegen sprechen der als Grund für die Rückausnahme angeführte Individualrechtsschutz und das Ziel der Belohnung des Rechtsbehelfsführers. Durch eine reformatio in peius würden beide in ihr Gegenteil verkehrt. Weiterhin soll die Ausnahme nach ihrem Wortlaut nur dem Rechtsbehelfsführer zugutekommen, 1272

In diesem Sinne BSG v. 18.2.2004 – B 10 EG 10/03 R, Rn. 29 ff. A.A. wohl Klein, IStR 2006, 209, 211. 1274 Ehrke, ÖStZ 2000, 256 f. 1273

§ 7 Die Rechtsfolgenbestimmung der Rückwirkungsbeschränkung

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nicht aber dessen Gegenüber. Schließlich lässt sich auch die Rechtssache C228/92 anführen, in der die Rückausnahme allein zu Gunsten ursprünglich belasteter Rechtsbehelfsführer vorgesehen war1275.1276 Im Ergebnis begünstigt die personelle Rückausnahme die Rechtsbehelfsführer also nicht nur gegenüber anderen Betroffenen, die noch keinen Rechtsbehelf eingelegt haben, sondern auch gegenüber mitgliedstaatlichen oder unionalen Hoheitsträgern. E. Räumlicher Geltungsbereich Eine Rückwirkungsbeschränkung gilt für alle Mitgliedstaaten, nicht nur diejenigen, die sie beantragt hatten oder aus denen der Vorlagesachverhalt stammt.1277 Begründet liegt das im Grundsatz der Einheitlichkeit des Unionsrechts, der in vielen Teilfragen seine Ausprägung gefunden hat. Diese können mit einer territorial begrenzten Rückwirkungsbeschränkung nicht in Einklang gebracht werden. Bei der Auslegungsvorlage steht zuerst der Charakter des Vorlageverfahrens als reines Auslegungsverfahren einer Begrenzung entgegen. Der nationale Vorlagesachverhalt ist Anlass der Auslegung von Unionsrecht und nur diese steht am Ende des Vorlageverfahrens. Der auslegende Tenor kann sich dabei durchaus auf die nationale Rechtsvorschrift oder Verfahrensweise beziehen, jedoch nur, um seine inhaltliche Reichweite zu konkretisieren.1278 1275

EuGH v. 26.4.1994 – Rs. C-228/92 Roquettes Frères ./. Hauptzollamt Geldern, Slg. 1994, I-1445 Rn. 28 f. Dort kann die Begrenzung jedoch auch auf den in dieser Weise gefassten Vorlagefragen beruht haben. 1276 I.Erg. wohl ebenso Schima, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH, 2. Aufl. 2004, S. 109 Fn. 583. 1277 Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 105 ff.; Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 283 ff.; a.A. GA StixHackl, SchlA v. 14.3.2006 – Rs. C-475/03 Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373 Rn. 180-186; GA Stix-Hackl, SchlA v. 5.10.2006 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Rn. 14; Grabitz/Hilf/Nettesheim-Karpenstein, Das Recht der Europäischen Union, 51. EL 2013, Art. 267 AEUV Rn. 115; Leible/Terhechte-Karpenstein, EnzEuR Bd. 3, 2014, § 8 Rn. 124; Weiß, EuR 1995, 377, 388; Wiedmann, EuZW 2007, 692, 693; Sperlich, FS Ruppe, 2007, S. 551, 562 Fn. 39; Schnitger, Die Grenzen der Einwirkung der Grundfreiheiten des EG-Vertrages auf das Ertragsteuerrecht, 2006, S. 144; Schlücke, Die Umsetzung von EuGH-Entscheidungen in das deutsche Steuerrecht, 2014, S. 83; Frenz/Kühl, DStZ 2009, 432, 438 und wortgleich Frenz, Handbuch Europarecht, Band 5, 2010, Rn. 3425; Billig, FR 2007, 785, 786 f.; wohl auch Lasiński-Sulecki/Morawski, CMLRev 45 (2008), 705, 720 f.; Wank, FS Birk, 2008, S. 929, 936; unentschieden Lang, Intertax 35 (2007), 230, 237; Müller, Die Begrenzung der zeitlichen Wirkungen von EuGHEntscheidungen, 2009, S. 82. 1278 Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band II, 3. Aufl. 2012, Rn. 412; Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 69 f.; Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemein-

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

Besonders anschaulich zeigt sich das, wenn der Gerichtshof in der Rechtssache Legros ausschließt, dass sich jemand auf das Urteil beruft, „um die Erstattung einer Abgabe wie dem ‚octroi de mer‘„ zu verlangen.1279 Hinzu kommt, dass die Rückwirkungsbeschränkung dogmatisch nicht am Urteil, sondern an der ausgelegten Unionsnorm anknüpft. Und schließlich erstreckt sich eine Unionsnorm in ihrem Anwendungsbereich grundsätzlich auf alle Mitgliedstaaten. Dabei ist dem Unionsrecht durchaus nicht fremd, dass die Mitgliedstaaten unterschiedliche Pflichten treffen können. So sind gemäß Art. 114 Abs. 4, 5 AEUV bei an alle Mitgliedstaaten gerichteten Harmonisierungsmaßnahmen Ausnahmen zu Gunsten einzelner nationaler Regelungen möglich. Diese Möglichkeit besteht jedoch nur unter besonderen formellen und materiellen Voraussetzungen. So verlangt Art. 114 Abs. 4 AEUV, dass die beibehaltene nationale Regelung das Schutzniveau zu Gunsten abschließend aufgezählter Rechtsgüter erhöht. Eine territoriale Begrenzung würde sich auch nicht stimmig in die Dogmatik der Auslegungsrückwirkungsbeschränkung einfügen. Zum einen beurteilt sich der gute Glaube gerade nicht aus der Perspektive eines (vorlegenden oder beantragenden) Mitgliedstaats, sondern anhand eines objektivierten und unionsweiten Maßstabs.1280 Deswegen widerspräche eine Begrenzung auch dem vom EuGH vertretenen Konnexitätsgrundsatz oder dem hier präferierten Merkmal der geklärten Rechtslage.1281 Wenn die Rechtsfrage vergleichbar ist, besteht kein Bedarf, die Mitgliedstaaten hinsichtlich einer Rückwirkungsbeschränkung unterschiedlich zu behandeln. Der gute Glaube kann nur einheitlich für alle Mitgliedstaaten bis zum ersten Urteil vorliegen und ist danach ausgeschlossen. Ebenso ließe sich die Praxis des EuGH nicht erklären, nach der ein früheres Urteil Bezugspunkt der Rückwirkungsbeschränkung eines

schaft, 1998, S. 48; vgl. auch die Darstellung bei Scheibeler, Begriffsbildung durch den Europäischen Gerichtshof, 2003, S. 149 ff.; a.A. GA Stix-Hackl, SchlA v. 14.3.2006 – Rs. C-475/03 Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373 Rn. 183. 1279 EuGH v. 16.7.1992 – Rs. C-163/90 Legros u.a., Slg. 1992, I-4625 Rn. 35 (Hervorhebung vom Verfasser). 1280 Wie hier Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 107 f.; Lang, Intertax 35 (2007), 230, 237; a.A. GA Stix-Hackl, SchlA v. 14.3.2006 – Rs. C-475/03 Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373 Rn. 181. 1281 Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 106 und Fn. 417; Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 201. Unausgesprochen zielt GA Stix-Hackl mit dem Vorschlag einer territorialen Begrenzung auf die zu hart empfundenen Folgen der Konnexität, die insbesondere darin liegen, dass die Mitgliedstaaten die Verfahren vor dem EuGH gewissenhaft verfolgen und deren Auswirkungen auf die eigene Rechtsordnung voraussehen und im Prozess vortragen müssen.

§ 7 Die Rechtsfolgenbestimmung der Rückwirkungsbeschränkung

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späteren Urteils ist, wenn in ersterem schon eine Rückwirkungsbeschränkung vorgenommen wurde.1282 Zum anderen besteht auch kein Differenzierungsbedarf, nur weil die wirtschaftlichen Auswirkungen in Bezug zu mitgliedstaatlichen Subsystemen zu ermitteln sind oder auf einzelne Mitgliedstaaten beschränkt sein können.1283 Wenn einzelne Mitgliedstaaten von der Normauslegung nicht in gleichem Maße wirtschaftlich betroffen sind, schadet die Rückwirkungsbeschränkung ihnen nicht. Ausschlaggebend ist nämlich, dass alle Betroffenen in den unterschiedlichen Mitgliedstaaten von einem einheitlichen Verständnis des Unionsrechts ausgegangen waren. Ihre Gleichbehandlung ist daher sogar geboten. Ein Beispiel soll das erläutern: In Mitgliedstaat X gilt eine Norm N1, deren Verstoß gegen die ausgelegte Unionsnorm U nur mit schwerwiegenden Auswirkungen rückwirkend beseitigt werden kann. In einem solchen Fall wäre die Rückwirkung zu beschränken. Hat nun Mitgliedstaat Y eine vergleichbare Norm N2 in Geltung, aber keine schwerwiegenden Auswirkungen zu befürchten, wird er durch eine Rückwirkungsbeschränkung nicht beeinträchtigt, da sowohl er als auch seine Bürger von einer Unionsrechtslage ausgegangen waren, in der N2 unionsrechtskonform ist. Betrifft die Auslegung der Unionsnorm U den dritten Staat Z überhaupt nicht, muss dieser ohnedies nicht anders behandelt werden als X. Einziges Argument für eine Differenzierung ist, dass dann die „objektiv richtige“ Rechtslage wenigstens in Y oder Z gelten würde. Der Preis dafür wäre jedoch der Verzicht auf die Einheitlichkeit des Unionsrechts und die Gleichbehandlung aller Mitgliedstaaten. Diese objektiven Interessen werden vom EuGH zu Recht als höherwertig angesehen. Die einheitliche Geltung vermeidet daher eine andauernde Ungleichbehandlung derjenigen Mitgliedstaaten, die sich von vornherein unionsrechtskonform verhalten haben.1284 Zuletzt spricht ein prozessökonomisches Argument für eine Geltung in der gesamten Union. Mitgliedstaatliche Vorschriften, die bereits vorgelegten Normen anderer Mitgliedstaaten vergleichbar sind, müssten stets erst dem EuGH vorgelegt werden, um die Rückwirkungsbeschränkung auch für diesen Mitgliedstaat festzuschreiben. Damit müsste jede Rechtsfrage für jeden der 28 Mitgliedstaaten separat beantwortet werden. Das widerspricht glatt dem Zweck eines unionseinheitlichen Vorlageverfahrens. Je mehr die nationalen Vorschriften einander gleichen, desto unnötiger sind diese zusätzlichen Verfahren. 1282

Siehe oben § 7 C.I.3.b), S. 339 und EuGH v. 14.9.1995 – verb. Rs. C-485/93 und C-486/93 Simitzi, Slg. 1995, I-2655 Rn. 34; EuGH v. 9.9.2004 – Rs. C-72/03 Carbonati Apuani, Slg. 2004, I-8027 Rn. 41 f. 1283 Anders Lang, Intertax 35 (2007), 230, 237; insofern wohl auch Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 106 f. 1284 Vgl. Leonard/Szczekalla, UR 2005, 420, 423.

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

Bei den Unwirksamkeitsverfahren wird eine territoriale Begrenzung der Rückwirkungsbeschränkung nicht diskutiert oder vom Gerichtshof problematisiert. Dies erklärt sich daraus, dass hier die Tatbestandsvoraussetzungen von der Sach- oder Rechtslage in den einzelnen Mitgliedstaaten weitgehend losgelöst sind. Deshalb ist auch die Rechtsfolge der Fortwirkungsanordnung von nationalen Unterschieden unabhängig. Außerdem ist hier deutlicher, dass sowohl die rechtswidrigen Unionsnormen als auch die herangezogenen höherrangigen Normen unionsweit einheitlich galten und dementsprechend eventuelle Vertrauenslagen innerhalb der EU einheitlich waren. Ebenso beziehen sich die maßgeblichen öffentlichen Interessen grundsätzlich auf das gesamte Unionsgebiet.

§ 8 Besonderheiten für EuG und Fachgerichte Besonderheiten für EuG und Fachgerichte Der Gerichtshof hatte bisher noch keinen Anlass sich mit der Bedeutung eines unionalen Instanzenzugs für die Rückwirkungsrechtsprechung auseinanderzusetzen. A. Praktische Relevanz und Beschreibung des Instanzenzugs Dies liegt vor allem daran, dass ein Instanzenzug im Unionsprozessrecht nur bei den Direktklagen von natürlichen und juristischen Personen schon teilweise ausgebildet ist. Für das Vorabentscheidungsverfahren enthält Art. 256 Abs. 3 AEUV zwar die Möglichkeit, eine Eingangszuständigkeit des EuG vorzusehen, davon wurde bisher aber kein Gebrauch gemacht. Wenngleich angezweifelt wird, dass dies in näherer Zukunft geschieht,1285 soll das von AEUV und Satzung vorgesehene System auf seine Implikationen für die Rückwirkungsbeschränkung untersucht werden. Berechtigt, ein Rechtsmittel einzulegen, sind bei den Direktklagen die Parteien. Sie können aus eigenem Antrieb den EuGH mit den Rechtsfragen des Falles befassen.1286 In Vorabentscheidungsverfahren führen hingegen nur eine Vorlage des EuG gemäß Art. 256 Abs. 3 UAbs. 2 AEUV oder ein Vorschlag des Ersten Generalanwalts gemäß Art. 256 Abs. 3 UAbs. 3 AEUV in Verbindung mit Art. 62 Abs. 1 EuGH-Satzung zur Befassung durch den EuGH. Die Überprüfung kann hier weder von den Parteien des Ausgangsverfahrens noch von den Mitgliedstaaten erzwungen werden. Beide sind aber nach Art. 62a Abs. 2 EuGH-Satzung berechtigt, im Verfahren Stellung zu nehmen.

1285

Calliess/Ruffert-Wegener, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 256 AEUV Rn. 27. Einzelheiten bei Calliess/Ruffert-Wegener, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 256 AEUV Rn. 7 ff. 1286

§ 8 Besonderheiten für EuG und Fachgerichte

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B. Unwirksamkeitsverfahren In den Unwirksamkeitsverfahren kann eine Rückwirkungsbeschränkung in beiden Instanzen vorgenommen werden. Das EuG hat dies in der Vergangenheit schon getan.1287 Wird der Rechtsakt erst im Rechtsmittelverfahren aufgehoben, kann dort ebenso Art. 264 Abs. 2 AEUV angewendet werden.1288 Im Rechtsmittelverfahren können alle Rechtsfragen des erstinstanzlichen Urteils überprüft werden.1289 Die Frage der Rückwirkungsbeschränkung ist als Rechtsfrage in diesem Sinne anzusehen, da es um die richtige Anwendung von Art. 264 Abs. 2 AEUV geht. Bestätigt der EuGH eine Aufhebung, verneint aber die Voraussetzungen einer vom EuG angeordneten Rückwirkungsbeschränkung, so hebt er diese auf. C. Fallübersicht für Auslegungsbeschränkung Komplizierter verhält es sich bei Auslegungsfragen. Die Auslegungsentscheidung des EuGH wirkt nach allgemeinen Grundsätzen auch dann zurück, wenn er als Rechtsmittelgericht entschieden hat.1290 Für die Rückwirkungsbeschränkung ist hier der gute Glaube das entscheidende Merkmal. Da die (aktuelle und frühere) Rechtsprechung selbst Vertrauen begründen oder zerstören kann, ist zu untersuchen, welche Auswirkungen die Sachentscheidung des EuG auf den guten Glauben haben kann. Weiterhin ist problematisch, ob und unter welchen Voraussetzungen das EuG als Eingangs- oder Rechtsmittelinstanz über die Gewährung von Vertrauensschutz entscheiden darf und welche Auswirkungen dies auf eine Entscheidung durch den EuGH hat.

1287

Vgl. EuG v. 13.4.2011 – Rs. T-576/08 Deutschland ./. Kommission, Slg. 2011, II-1578 Rn. 142 f.; EuG v. 30.5.2013 – verb. Rs. T-454/10 und T-482/11 Anicav und Agrucon, ECLI:EU:T:2013:282 Rn. 83 ff. und die zahlreichen Entscheidungen zu den GASPMaßnahmen oben § 6 C.II.6.c)cc), S. 276 f. 1288 Vgl. EuGH v. 3.9.2008 – verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P Kadi und Al Barakaat International Foundation ./. Rat und Kommission, Slg. 2008, I-6351 Rn. 373 ff. 1289 Zur Abgrenzung von Rechts- und Tatsachenfragen siehe Langner, Der Europäische Gerichtshof als Rechtsmittelgericht, 2003, S. 94 ff. 1290 Im Ergebnis ebenso Langner, Der Europäische Gerichtshof als Rechtsmittelgericht, 2003, S. 206 ff.

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

EuG EuGH

A (+) Fall1 A (+)

Fall 2 A (-)

Fall 3 B (+)

Auswirkungen Zeitpunkt ist des EuG-Urteils EuG-Urteil

Vertrauen hinsichtlich der Rückwirkungsbeschränkung? Nein, keine Analogie zur Präklusion

Begründung

Zwischenfälle sind hinzunehmen; Rückwirkungsbeschränkung begründet selbst kein Vertrauen

Danach kann jedenfalls nicht mehr in B vertraut werden

EuG EuGH

Vertrauensschutz für materielle Aussage im Zeitraum von EuG bis EuGH? Rspr-Änderung im Bezug zur Ansicht des EuG; nur wenn EuG Vertrauen begründen kann

A (-) Fall 5 A (+)

Auswirkungen Zeitpunkt ist des EuG-Urteils EuG-Urteil

Begründung

Dieser Fall ist nicht vorstellbar; kein Vertrauen gleichzeitig in A und B

Fall 4 B (-)

Danach jedenfalls kein Vertrauen mehr in B; Zwischenfälle sind hinzunehmen

Fall 6 A (-) ohne Problem

Fall 7 B (+) ohne Problem

Fall 8 B (-) Vertrauensschutz für materielle Aussage im Zeitraum von EuG bis EuGH? Rspr-Änderung im Bezug zur Ansicht des EuG; nur wenn EuG Vertrauen begründen kann

Diese Fragen stellen sich jeweils, wenn EuG und EuGH in demselben Verfahren entscheiden, als auch wenn die Entscheidung des EuG rechtskräftig wird und der EuGH erst in einem späteren Verfahren Gelegenheit erhält, dazu Stellung zu nehmen. Die möglichen Entscheidungskombinationen von Gericht und Gerichtshof lassen sich in einer Übersicht wie folgt darstellen: Die erste Zeile bildet die Entscheidung des EuG ab. Das EuG nimmt eine Auslegung mit dem Inhalt A vor und gewährt dafür eine Rückwirkungsbeschränkung (+) oder nicht (-). In der zweiten Zeile ist abgebildet, wie der

§ 8 Besonderheiten für EuG und Fachgerichte

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EuGH entscheiden würde, wenn es kein früheres Urteil des EuG gibt. Dabei kann der EuGH sachlich wie das EuG (mit A) oder davon abweichend (mit B) entscheiden. Gleichzeitig kann er jeweils auch der Meinung sein, dass Vertrauensschutz gewährt werden müsste (+) oder nicht (-). Da diese vier Kombinationen für beide Entscheidungsvarianten des EuG möglich sind, ergeben sich insgesamt acht verschiedene Kombinationen. In der dritten und vierten Zeile wird erläutert, was sich ändern könnte, weil schon eine (abweichende) EuG-Entscheidung besteht und warum. Aus den zu betrachtenden Konstellationen kann Fall 3 ausgeschlossen werden. Es ist schwer vorstellbar, dass ein Sachverhalt vorliegt, bei dem EuG und EuGH materiell jeweils von unterschiedlichen Rechtslagen ausgehen, aber beide guten Glauben in die andere Rechtslage bejahen würden. Gänzlich unproblematisch ist es auch, wenn beide Gerichte materiell übereinstimmen und keinen Vertrauensschutz gewähren wollten (Fall 6). D. Rechtsprechung des EuG als Aspekt des guten Glaubens Die Einordnung der Untergerichte als Vertrauensverursacher stellt sich im Unionsrecht vergleichsweise schwierig dar. Begründet man einen Vertrauenstatbestand – wie regelmäßig in den Mitgliedstaaten – nur aufgrund objektiv einschlägiger Rechtsprechung (also bei Rechtsprechungsänderungen), so lässt sich dies leicht auf eine bestimmte Qualität von Rechtsprechung (z.B. letztinstanzliche oder instanzliche) beschränken. Im Unionsrecht würde es hingegen nicht einleuchten, warum die anderen Unionsorgane und -stellen einen Vertrauenstatbestand schaffen könnten, das EuG hingegen nicht. Hier zwingt der Erst-Recht-Schluss dazu, das EuG nicht unberücksichtigt zu lassen. I.

EuG als letzte Instanz

Für Rechtsprechungstätigkeit des EuG gilt grundsätzlich das zum EuGH Gesagte entsprechend, soweit es als letzte Instanz entscheidet. Dies ist bisher nur in wenigen Bereichen der Fall,1291 kann jedoch bei einer sich kompetenziell ständig erweiternden Union an Bedeutung gewinnen. Man wird davon ausgehen können, dass das EuG sich der Dogmatik des EuGH anschließt; jedenfalls ist anderes bisher nicht erkennbar. Gleiches gilt, wenn das EuG wegen einer einschränkenden Interpretation oder Anwendung des Art. 256 Abs. 3 UAbs. 2 und 3 AEUV zu einem faktisch letztinstanzlichen Gericht 1291 Z.B. nach Art. 256 Abs. 2 i.V.m. Art. 257 AEUV als Rechtsmittelinstanz für Entscheidung der einzurichtenden Fachgerichte (bisher nur das „Gericht für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union“), da insoweit nur eingeschränkte Kontrollmöglichkeiten bestehen (vgl. Art. 256 Abs. 2 UAbs. 2 und Abs. 3 UAbs. 3 AEUV), oder nach Art. 256 Abs. 3 AEUV als einzige Instanz für bestimmte Vorabentscheidungen; siehe dazu auch Art. 62 ff. EuGH-Satzung.

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

wird, etwa weil seine Entscheidungen in den zugewiesenen Rechtsgebieten auch später nicht in Frage gestellt werden. II. EuG als Eingangsinstanz 1. Urteil wird nicht rechtskräftig Wird gegen eine erstinstanzliche Entscheidung des EuG ein Rechtsmittel eingelegt oder das Überprüfungsverfahren eingeleitet, so erwächst das Urteil nicht in Rechtskraft.1292 Schon dieses formale Argument spricht dagegen, einer solchen Entscheidung Auswirkungen auf den guten Glauben zuzugestehen, wenngleich Art. 60 Abs. 1 EuGH-Satzung der Rechtsmitteleinlegung keine aufschiebende Wirkung beimisst. Dass die Unionsorgane und die Mitgliedstaaten ihr Verhalten also an einer EuG-Entscheidung ausrichten dürfen,1293 bedeutet nicht, dass sie bei einer späteren Änderung derselben schutzwürdig sind. Zwar ließe sich ein nicht-rechtskräftiges EuG-Urteil durchaus als Rechtsansicht des EuG begreifen und damit den Rechtsansichten der anderen Unionsorgane gleichstellen. Jedoch trägt eine bereits angegriffene Entscheidung die Vorläufigkeit schon in sich. Wegen der Rechtsmitteleinlegung ist für die Rechtsunterworfenen absehbar, dass das letzte Wort in dieser Sache noch nicht gesprochen ist. Das nicht-rechtskräftige Urteil des EuG ist daher neutral hinsichtlich eventuell schon bestehenden guten Glaubens. Es kann deshalb vorhandene Vertrauenstatbestände auch nicht so verstärken, dass die Schwelle des vernünftigen guten Glaubens überschritten wird, wenn sie nicht schon vorher überschritten war. Insbesondere im Bereich des Vorabentscheidungsverfahrens ist den Rechtsunterworfenen auch zuzumuten, noch auf die Entscheidung des EuGH zu warten, denn diese soll in einem „Eilverfahren“ ergehen (vgl. Art. 62a Abs. 1 EuGH-Satzung). Aus diesem Grund stellt ein Instanzenzug bei der Unwirksamkeitsrückwirkungsbeschränkung kein Problem dar. Die Unwirksamkeit wird nur innerhalb eines einzigen Verfahrens festgestellt. Für die Nichtigkeit gilt dies jetzt schon, da das Verstreichen der Rechtsmittelfrist zur Rechtskraft und damit zur unwiderruflichen Nichtigkeit des Rechtsakts führt.1294 Bei der Ungültigkeit monopolisiert der EuGH aus ebendiesen Gründen der Rechtssicherheit die Feststellung der Ungültigkeit eines Rechtsakts bei sich. Gäbe es mehrere Gerichte in der Union, die über die Ungültigkeit entscheiden könnten, wäre vom EuGH ein Äquivalent zur Rechtskraft zu entwickeln. Abweichende Aussagen zur Gültigkeit des Unionsrechts könnten nicht hingenommen werden. 1292

Pechstein, EU-Prozessrecht, 4. Aufl. 2011, Rn. 248. Pechstein, EU-Prozessrecht, 4. Aufl. 2011, Rn. 232. 1294 Calliess/Ruffert-Wegener, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 256 AEUV Rn. 18. 1293

§ 8 Besonderheiten für EuG und Fachgerichte

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2. Urteil wird rechtskräftig Wird gegen die Entscheidung des EuG kein Rechtsmittel eingelegt und keine Überprüfung vorgeschlagen, wird das Urteil rechtskräftig.1295 Im Gegensatz zu den nicht-rechtskräftigen Urteilen können sie Vertrauen begründen. Dagegen ließe sich anführen, dass so die Wirkung des Urteils vom Verhalten der Prozessparteien (Rechtsmitteleinlegung) oder des Generalanwalts bzw. des EuG (Vorlagevorschlag) abhängen würde. Dennoch erschiene es widersprüchlich, den Entscheidungen des EuG überhaupt keine Wirkungen beizumessen, während die Rechtsansichten aller anderen Organe vertrauensleitende Wirkungen haben können. Die Abhängigkeit von der Rechtsmitteleinlegung muss deshalb hingenommen werden. Das ist auch nicht so ungewöhnlich, denn schon ob und wann eine Rechtsfrage überhaupt von Unionsgerichten erörtert werden kann, hängt grundsätzlich von Unwägbarkeiten wie Partei- oder Gerichtsverhalten ab. Außerdem dürfte die Frage der Rechtsmitteleinlegung von den Parteien zumeist aufgrund einer rationalen Entscheidung erfolgen und daher nicht völlig willkürlich sein. Zudem sind nichtrechtskräftige Urteile nur für einen Übergangszeitraum in der Schwebe. Ein rechtskräftiges aber nicht-letztinstanzliches Urteil des EuG kann im Vergleich zu den Urteilen des EuGH dennoch nicht das gleiche Maß an Vertrauen rechtfertigen. Die Rechtsunterworfenen können sich nicht ebenso auf die zukünftige Geltung dieser Rechtslage verlassen, denn es droht ein gegenläufiges Urteil des EuGH. Beurteilt der EuGH eine Rechtsfrage daher in einem späteren Urteil anders als das EuG, kommen dennoch nicht die Grundsätze über die Rechtsprechungsänderung zur Anwendung. Die EuG-Entscheidungen gleichen vielmehr den Rechtsansichten der anderen Unionsorgane. Sie enthalten eine Rechtsansicht einer objektiven, zur Auslegung des Unionsrechts berufenen Stelle. Damit wird zugleich der Erst-Recht-Schluss zur Einbeziehung der anderen Organe in den Kreis der tauglichen Vertrauensveranlasser fruchtbar gemacht. Im Vergleich zu den anderen Unionsorganen dürfte dem Gericht eine noch stärke Bedeutung für die Schaffung eines Vertrauenstatbestandes zukommen. Im Einzelnen gilt danach Folgendes: In den Fällen 4 und 8 kann das EuG guten Glauben nach den allgemeinen Regeln begründen, wenn noch keine Rechtsprechung des Gerichtshofs besteht und die Entscheidung des Gerichts das allgemein notwendige Maß an Überzeugung hervorruft. Dies ist nur der Fall, wenn nicht gegenläufige Rechtsansichten von anderen Organen geäußert 1295 Es ließe sich überlegen, ob eine Auslegungsvorabentscheidung des EuG tatsächlich sofort verbindlich wäre, oder ob hier eine teleologische Reduktion von Art. 60 Abs. 1 EuGH-Satzung eingreifen müsste. Dafür spricht, dass die Vorabentscheidung keine richtige „Klage“, sondern ein Zwischenverfahren ist. Dieses hat eine große Bindungswirkung, weshalb Langner, Der Europäische Gerichtshof als Rechtsmittelgericht, 2003, S. 207 hier zu Recht einen Vergleich mit dem Zweck des Art. 60 Abs. 2 EuGH-Satzung zieht.

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

werden und der Widerspruch von ihnen auch angesichts des Urteils aufrechterhalten wird. Problematisch ist insoweit, ob dann als Anfangszeitpunkt der Rückwirkungsbeschränkung auf das Datum des Eintritts der Rechtskraft der Entscheidung des Gerichts abzustellen ist. Die Rechtsprechung des EuG vermag es demgegenüber nicht, guten Glauben hervorzurufen, wenn sie (von einem objektiviert-subjektiven Standpunkt erkennbar) von einer Rechtsprechung des EuGH abweicht. Eine Ausnahme besteht freilich dort, wo das Gericht wegen einer Änderung der Zuständigkeiten an die Stelle des Gerichtshofs getreten ist. Abzustellen ist auf die objektivierten Erkenntnismöglichkeiten eines Rechtsunterworfenen, wie es für alle Fragen des guten Glaubens maßgeblich ist.1296 Bleibt der EuGH also später bei seiner Rechtsansicht, scheidet die Beschränkung der Wirkungen dieses Urteils aus. Auch in Fall 7 kann das EuG keinen eigenständigen Vertrauenstatbestand schaffen, da dieser schon vorher erfüllt war. Das Urteil des EuG ist demnach ohne Einfluss; eine Rückwirkungsbeschränkung ist bis zum Tag des Urteils des EuGH vorzunehmen. Vertrauenszerstörende Wirkungen kann ein Urteil des EuG hingegen auch gegenüber einer festen Rechtsprechung des Gerichtshofs entfalten und so eine Rückwirkungsbeschränkung ausschließen. Ergibt sich aus einer Abwägung der Gründe für die Rechtsprechungsänderung mit den Argumenten für die alte Rechtsansicht, dass der EuGH seine alte Rechtsprechungslinie aufgeben könnte, so entsteht eine Unsicherheit über den Inhalt des zukünftig erkannt werdenden Rechts. Diese Unsicherheit steht einem guten Glauben – hier und allgemein – entgegen. Daher muss im Fall 1 der Endzeitpunkt der Rückwirkungsbeschränkung auf den Tag des EuG-Urteils gelegt werden. Danach konnte kein guter Glaube in eine abweichende Rechtslage mehr bestehen. E. Gewährung von Vertrauensschutz durch das EuG Entscheidungen über die Gewährung von Vertrauensschutz muss das EuG ebenso treffen wie der EuGH. Dies gilt nicht nur für letztinstanzliche Entscheidungen, sondern auch für solche, die mit Rechtsmitteln angefochten werden können. Die Rückwirkungsbeschränkung ist Ausfluss des allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatzes der Rechtssicherheit und daher Bestandteil des von der Judikative zu beachtenden Unionsrechts. Die Rückwirkungsbeschränkung kann daher im Rechtsmittelzug auch isoliert auf Rechtsfehler überprüft und notfalls abgeändert werden. Problematischer ist jedoch die Änderung einer bereits rechtskräftigen Rückwirkungsbeschränkung. Die Möglichkeit, dass zwei rangunterschiedliche Gerichte über dieselbe Rechtsfrage urteilen, birgt immer die Gefahr, dass sich die Rechtsprechung „ändern“ kann. Werden nach einem Urteil des EuG aber vor dem des EuGH 1296

Der Gerichtshof müsste unter Anwendung des Konnexitätsmerkmals jede objektive Abweichung als erheblich ansehen.

§ 8 Besonderheiten für EuG und Fachgerichte

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Sachverhalte verbindlich im Einklang mit der Rechtsprechung des EuG entschieden und stellt sich dies dann als „falsch“ heraus, entsteht eine neue Ungleichbehandlung. Diese Ungleichbehandlung ist grundsätzlich hinzunehmen. Das gilt besonders für die Fälle, in denen der EuGH nur von der Beurteilung über die Beschränkung der Rückwirkung abweicht (Fälle 2 und 5). Dort muss sich die zeitliche Geltung des EuGH-Urteils durchsetzen, um nicht noch mehr Sachverhalte „falsch“ zu behandeln. Soweit sich die Rückwirkungsbeschränkung nur auf abgeschlossene Sachverhalte bezieht, kann die Entscheidung des EuG auch keinen Vertrauenstatbestand hervorrufen. Für die abgeschlossenen Sachverhalte war es schlicht nicht maßgeblich. Auch der Gleichbehandlungsgrundsatz gebietet keine Aufrechterhaltung der vom EuG aufgestellten Rückwirkungsbeschränkung, denn im Unrecht gibt es keinen Gleichbehandlungsanspruch. Genau diese unterschiedliche Behandlung von einzelnen Sachverhalten durch eine nachträgliche Änderung (oder Einführung) der Rückwirkungsbeschränkung soll im Verhältnis zweier aufeinanderfolgender EuGH-Urteile durch das Konnexitätsmerkmal verhindert werden. Hier wird hingegen der Konflikt durch ein rangniederes Urteil ausgelöst. Würde man die Erwägungen des Konnexitätsmerkmals (territorial und zeitlich einheitliche Geltung des Unionsrechts) hierauf übertragen, wäre die Rückwirkungsentscheidung des EuG nicht mehr revisibel. Ließe sich das im Verhältnis zweier EuGHEntscheidungen noch durch ein Versäumnis, rechtzeitig vorzutragen, der Mitgliedstaaten und Rechtsunterworfenen rechtfertigen, so liegt der Fehler hier nur bei der rechtlichen Würdigung durch das Gericht. Es zeigt sich, dass die Präklusion auf eine einzige Instanz zugeschnitten ist und auf eine instanzielle Zuordnung nicht passt. Zur Abmilderung dieses Problems sollte man erwägen, Art. 256 Abs. 3 UAbs. 2 und 3 AEUV so auszulegen, dass die Vorlagefrage immer an den EuGH zu verweisen oder ihm vorzuschlagen ist, wenn eine Rückwirkungsbeschränkung nicht offensichtlich auszuschließen ist. Die Auswirkungen unterschiedlicher Beurteilungen auf die zeitliche und räumliche Einheitlichkeit des Unionsrechts lassen sich unter den Begriff der „ernsten Gefahr für Einheit oder Kohärenz des Unionsrechts“ fassen. Die Schwelle der „Ausnahmefälle“ würde so auch zahlenmäßig nicht überschritten. F. Fachgerichte1297 Die Aussagen der Fachgerichte nach Art. 257 AEUV sind gleich denen des erstinstanzlich entscheidenden Gerichts zu bewerten. Die Fachgerichte ent-

1297

Zur Errichtung eines Fachgerichts für das Europäische Privatrecht siehe Bron, Rechtsangleichung des Privatrechts auf Ebene der Europäischen Union, 2011, S. 195 ff.; Riehm, Pro und contra Europäisches Fachgericht für Privatrecht, 2012, S. 203 ff.

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

scheiden nämlich gemäß Art. 257 UAbs. 3 AEUV nur als erstinstanzliche Gerichte, das EuG fungiert hier als Rechtsmittelinstanz.

§ 9 Auswirkungen der Rückwirkungsentscheidung auf die anderen Unionsorgane Auswirkungen auf die anderen Unionsorgane Die Entscheidung, ob die Rückwirkung in einem Urteil beschränkt werden soll oder nicht, hat Auswirkungen auf die anderen Unionsorgane. Es ist hierbei zu erörtern, wie Exekutive und Gesetzgeber auf die zeitlichen Wirkungen Einfluss nehmen können. In welchem Maße die Mitgliedstaaten gebunden sind, ist Gegenstand eines späteren Abschnitts (unten 4. Teil, S. 428 ff.). A. Rückwirkung und Unionsverwaltungsrecht Die Unionsbehörden haben die Rechtslage so anzuwenden, wie sich aus den Entscheidungen des Gerichtshofs ergibt. Das folgt aus dem Grundsatz der Gesetzesbindung als Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips, dem die Behörden bei ihrem Handeln unterliegen.1298 Aus der Rückwirkung der Entscheidungen des Gerichtshofs folgt dabei, dass die europäischen Verwaltungsbehörden auch solche Gerichtsentscheidungen beachten müssen, die erst nach dem Erlass ihrer eigenen Verwaltungsentscheidung ergangen sind.1299 Dementsprechend muss die Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Kommissionsentscheidung durch die Unionsgerichtsbarkeit strukturiert werden: Zuerst ist zu ermitteln, welcher Zeitpunkt für die Beurteilung der Nichtigkeit der Entscheidung maßgeblich ist. Grundsätzlich ist dies der Zeitpunkt des Erlasses des Rechtsakts.1300 Danach ist das zu dem maßgeblichen Zeitpunkt geltende Recht zu ermitteln. Dies sind zuerst das vorher in Kraft getretene Gesetzesrecht und die dazu vor dem maßgeblichen Zeitpunkt ergangene Rechtsprechung. Außerdem ist das rückwirkend auf oder vor diesem Zeitpunkt in Kraft gesetzte Gesetzesrecht umfasst, soweit diese Rückwirkung zulässig ist. Schließlich ist jede nach diesem Zeitpunkt erfolgte Auslegung einer genannten Norm zu berücksichtigen, solange die zeitliche Wirkung nicht ausdrücklich auf einen späteren Zeitpunkt beschränkt wurde. Soweit ein festgestellter Rechtsfehler später noch (beispielsweise im gerichtlichen Verfahren) geheilt

1298

Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 2005, S. 219 ff.; Terhechteders., Verwaltungsrecht der Europäischen Union, 2011, § 7 Rn. 25. 1299 In eine andere Richtung deutet EuG v. 14.5.1998 – Rs. T-334/94 Sarrió ./. Kommission, Slg. 1998, II-1439 Rn. 351. Zu dieser fragwürdigen Entscheidung schon oben § 3 D.II.2.c), S. 71. 1300 Pechstein, EU-Prozessrecht, 4. Aufl. 2011, Rn. 541; Rengeling/Middeke/Gellermann-Dervisopoulos, EU-Rechtsschutz, 3. Aufl. 2014, § 7 Rn. 106.

§ 9 Auswirkungen auf die anderen Unionsorgane

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werden kann,1301 beeinträchtigt das nicht die Wirkungen der Auslegung, sondern ist eine nachgeordnete Frage. Damit kann ein (scheinbar) rechtmäßig erlassener Rechtsakt sich im Nachhinein als rechtswidrig herausstellen. Der EuGH stützt dies (konsequenterweise) auf die deklaratorische Wirkung seiner Auslegungsentscheidungen.1302 Gleichzeitig ist ein entgegenstehender guter Glaube der Behörden ausgeschlossen, da diese nicht als eigenständige Rechtssubjekte auftreten, sondern ihr Handeln der Gemeinschaft zugerechnet wird. Nur eine eingeschränkte Anwendung von Rechtsprechung des Gerichts käme in Betracht, wenn anderenfalls Interessen von Dritten (Mitgliedstaaten, Privatrechtssubjekte, andere Völkerrechtssubjekte) verletzt werden könnten. Die Kommission darf deshalb grundsätzlich ausstehende Entscheidungen des Gerichtshofs abwarten und anhängige Verfahren solange aussetzen.1303 Insofern unterscheiden sich die Anforderungen bei der Anwendung von „neuen“ Rechtslagen im Gegensatz zu denen von Tatsachen, die bei Erlass des Rechtsakts unbekannt sind. Letztere müssen nicht berücksichtigt werden und führen nicht zu einer Änderung der Rechtmäßigkeit des Rechtsakts ex post.1304 In gleichem Maße können auch die Rechtsunterworfenen von der Rückwirkung der Auslegung belastet werden. Ein Beispiel zur Rügeobliegenheit des Art. 263 AEUV soll das erläutern: Die Prüfung der Nichtigkeitsklage erstreckt sich nur auf die gerügten Rechtsmängel. Mit Ablauf der Klagefrist des Art. 263 Abs. 6 AEUV können ungerügte Mängel vom Adressaten eines Rechtsakts nicht mehr im Wege der Nichtigkeitsklage geltend gemacht werden. Die Rügeobliegenheit erstreckt sich dabei auch auf solche Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen, die erst nach Ablauf der Klagefrist in einem anderen Verfahren mit Rückwirkung aufgestellt wurden.1305 Betroffene können daher 1301

Dazu Bülow, Die Relativierung von Verfahrensfehlern im Europäischen Verwaltungsverfahren und nach §§ 45, 46 VwVfG, 2007, S. 239 ff. 1302 EuG v. 10.2.2009 – Rs. T-388/03 Deutsche Post und DHL International ./. Kommission, Slg. 2009, II-199 Rn. 113; EuG v. 12.2.2008 – Rs. T-289/03 BUPA u.a. ./. Kommission, Slg. 2008, II-81 Rn. 159; GA Jääskinen, SchlA v. 2.12.2010 – Rs. C-148/09 P Belgien ./. Deutsche Post u.a., Slg. 2011, I-8573 Rn. 109 ff., 122. 1303 GA Jääskinen, SchlA v. 2.12.2010 – Rs. C-148/09 P Belgien ./. Deutsche Post u.a., Slg. 2011, I-8573 Rn. 120; EuG v. 11.7.2007 – Rs. T-167/04 Asklepios Kliniken ./. Kommission, Slg. 2007, II-2379 Rn. 87 ff. zur Verfahrensaussetzung bei einer Beschwerde über eine vermeintlich rechtswidrige staatliche Beihilfe. 1304 EuGH v. 10.7.1986 – Rs. 234/84 Belgien ./. Kommission, Slg. 1986, 2263 Rn. 16; EuGH v. 24.9.2002 – Rs. C-74/00 P Falck und Acciaierie di Bolzano ./. Kommission, Slg. 2002, I-7869 Rn. 168; EuGH v. 14.9.2004 – Rs. C-276/02 Spanien ./. Kommission, Slg. 2004, I-8091 Rn. 31; EuGH v. 15.4.2008 – Rs. C-390/06 Nuova Agricast, Slg. 2008, I-2577 Rn. 54; zu den Ausnahmen Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 2005, S. 1012 ff. 1305 EuG v. 5.7.2012 – Rs. T-86/08 Griechenland ./. Kommission, ECLI:EU:T:2012:345 Rn. 49. In eine entgegengesetzte Richtung lässt sich EuG v. 14.5.1998 – Rs. T-334/94

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

mit Rügen präkludieren, deren Notwendigkeit noch nicht ausdrücklich gerichtlich festgestellt worden war. Begründet die Unwirksamkeit oder die Auslegung einen Rückerstattungsanspruch, so können sich aus dem Unionsrecht Verjährungs- oder Ausschlussfristen ergeben, soweit das jeweilige Verfahren unional geregelt ist. Ein Beispiel ist Art. 236 Abs. 2 des Gemeinsamen Zollkodex, der für die Erstattung unrechtmäßig erhobener Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben eine Frist von drei Jahren zur Geltendmachung aufstellt. Solche Fristbestimmungen sind wirksam, soweit sie nicht geeignet sind, die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren.1306 Die Formulierung zeigt, dass hier die gleichen Grundsätze wie für mitgliedstaatliche Fristbestimmungen gelten.1307 Zwar kommt einer Unwirksamerklärung grundsätzlich Rückwirkung zu. Die Rückwirkung kann aber durch besondere Ausschlussfristen beschränkt werden, denn diese dienen den Interessen der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens.1308 Demgegenüber steht die materielle Bestandskraft einer Neubewertung des Sachverhalts (z.B. durch Widerruf/Rücknahme oder Wiederaufnahme) nur selten entgegen.1309 Als Nebenpflicht können die Unionsorgane aus Gründen der Rechtsklarheit verpflichtet sein, Vorschriften zu erlassen, die die Unwirksamerklärung einer Unionsnorm wiedergeben.1310 Solche Vorschriften sind nur formale Umsetzungen der Rechtsprechung, denn die Unwirksamkeit und ihre – insbesondere zeitlichen – Wirkungen hängen davon nicht ab.1311 B. Änderung der Rechtslage durch den Unionsgesetzgeber oder den Unionsverfassungsgeber Außerdem stellt sich die Frage, ob der Gesetzgeber die Rückwirkungsentscheidung des Gerichtshofs verändern kann. Dabei sind zwei unterschiedliche Problemlagen vorstellbar. Zuerst kann der Gesetzgeber versuchen, eine vom Gerichtshof vorgenommene Rückwirkungsbeschränkung auszuhebeln und die „neue“ Rechtslage auch für die Vergangenheit zu installieren. Das ist jedoch Sarrió ./. Kommission, Slg. 1998, II-1439 Rn. 351 interpretieren. Zu dieser Entscheidung schon oben § 3 D.II.2. c), S. 71. 1306 EuGH v. 14.6.2012 – Rs. C-533/10 CIVAD, ECLI:EU:C:2012:347 Rn. 22 f. 1307 Zur nationalen Verfahrensautonomie unten § 13 B.II., S. 433. 1308 EuGH v. 14.6.2012 – Rs. C-533/10 CIVAD, ECLI:EU:C:2012:347 Rn. 23; dezidiert a.A. GA Villalón, SchlA v. 8.12.2011 – Rs. C-533/10 CIVAD, EU:C:2011:819 Rn. 39 ff. 1309 Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 2005, S. 1004 f.; strengere Voraussetzungen wohl bei v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, 2008, S. 395 ff. 1310 EuGH v. 8.11.2007 – Rs. C-421/06 Fratelli Martini, Slg. 2007, I-152 Rn. 56 (abgekürzte Veröffentlichung). 1311 EuGH v. 8.11.2007 – Rs. C-421/06 Fratelli Martini, Slg. 2007, I-152 Rn. 57 (abgekürzte Veröffentlichung).

§ 9 Auswirkungen auf die anderen Unionsorgane

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aus tatsächlichen Gründen unwahrscheinlich. Bei den Unwirksamkeitsentscheidungen müsste der Gesetzgeber dann nämlich die neue Rechtslage auch für die Vergangenheit einrichten, obwohl er vormals den aufgehobenen Rechtsakt selbst geschaffen hatte. Bei den Auslegungsentscheidungen müsste er eine Rechtslage für die Vergangenheit anwendbar machen wollen, obwohl nicht nur die Rechtsunterworfenen, sondern auch er selbst (wegen des strengen Gutglaubenstatbestands) von einer anderen Rechtslage ausgingen. Relevant erscheint daher nur, dass der Gesetzgeber eine Rückwirkungsbeschränkung, die der EuGH nicht vorgenommen hat, selbst einführen möchte. Es ließe sich argumentieren, dass es dem Gesetzgeber verwehrt ist, die Rückwirkungsrechtsprechung des EuGH selbst zu ändern.1312 Hingegen ist nicht eine absolute Kompetenzschranke berührt, sondern das allgemeine Verbot der Rückwirkung von Gesetzen.1313 Das wird deutlich, wenn man sich klar macht, was die Einführung einer Rückwirkungsbeschränkung durch den Gesetzgeber eigentlich ist: Um dieses Ziel zu erreichen, muss die Legislative eine Sachregelung erlassen, die für die Zeit vor dem Urteil des EuGH vorschreibt, was früher schon mit der aufgehobenen Regelung galt (bei Unwirksamkeitsverfahren) oder was Inhalt der irrtümlichen Rechtslage war (bei Auslegungsverfahren). Da die vom Gerichtshof festgestellte Rechtslage Rückwirkung hat, also von Anfang an galt, geht es um eine rückwirkende Änderung der Rechtslage. Maßstab für das Handeln des Gesetzgebers ist folglich das Verbot der Rückwirkung von Legislativakten in Verbindung mit den entsprechenden Grundrechtspositionen der Betroffenen.1314 Durch die rückwirkende Rechtsprechung standen den Rechtsunterworfenen die eingeräumten Rechtspositionen auch in der Vergangenheit zu und dürfen daher grundsätzlich nicht rückwirkend beseitigt werden. Welche Anpassungsmöglichkeiten das Rückwirkungsverbot offenlässt, ist in Abhängigkeit vom Einzelfall zu beurteilen.1315 Selbstverständlich muss die vom Gesetzgeber avisierte Rechtslage im Übrigen rechtmäßig sein, anderenfalls kann sie gerichtlich aufgehoben werden. Gerade Letzteres war in der Rechtssache Lancry1316 der Fall. Dort hatte der Gerichtshof keineswegs seine frühere Rückwirkungsbeschränkung schützen

1312

Schwarz/Fraberger, ecolex 1998, 52, 54; Fraberger, Wirkung von EuGH-Urteilen und Rechtskraftdurchbrechung im Abgabenverfahren, 2000, S. 151, 156. 1313 In diesem Sinne darf wohl auch EuG v. 5.9.2014 – Rs. T-471/11 Éditions Odile Jacob, ECLI:EU:T:2014:739 Rn. 100 ff. (insbesondere Rn. 111) verstanden werden. 1314 I.Erg. Arnull, The European Union and its Court of Justice, 2. Aufl. 2006, S. 551. 1315 Beispielhaft Lohse, IStR 2000, 232 und Leonard/Szczekalla, UR 2000, 195 zur rückwirkenden Ermächtigung zur Abweichung von einer unmittelbar anwendbaren Richtlinie durch eine Entscheidung des Rates. 1316 EuGH v. 8.9.1994 – verb. Rs. C-363/93, C-407/93 bis C-411/93 Lancry u.a., Slg. 1994, I-3957.

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wollen.1317 Vielmehr hatte er die Regelung, die die alte Rechtslage zu Gunsten Frankreichs festschreiben sollte, als materiell rechtswidrig verworfen. Eine Sonderkonstellation ergibt sich hier, wenn der Gesetzgeber Primärrecht geändert hat, denn dann steht unionsrechtswidriges Primärrecht zur Diskussion.1318 Es ist weiterhin daran zu erinnern, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs grundsätzlich jederzeit durch den Gesetzgeber geändert werden kann. Das umfasst auch die Frage der zeitlichen Wirkung von Rechtsprechung. So könnten die Mitgliedstaaten in ihrer Eigenschaft als Unionsverfassungsgeber sogar eine ausdrückliche Regelung der Rechtsprechungsrückwirkung und ihrer Voraussetzungen treffen.1319 Die Rückwirkung von neuerlassenem Recht wird – über das Legislativrückwirkungsverbot hinaus – weder durch eine angeordnete Rückwirkungsbeschränkung noch deren Nichtvornahme gesperrt. Dies gilt auch dann, wenn die Rückwirkungsbeschränkung im Verfahren erwogen aber verneint worden war.1320 Hierbei liegt kein Eingriff in die Kompetenzen des Gerichtshofs vor, weil – wie oben § 3 D.I.1. (S. 46 f.) klargestellt – der Rechtsprechung methodisch keine eigene Wirkung zukommt, sondern es die (ausgelegte und angewendete) Norm ist, deren Wirkungen vom EuGH erläutert werden. Die Unionsnorm wiederum ist Kind des Unions(-verfassungs-)gesetzgebers und kann von ihm grundsätzlich nach Belieben geändert werden.1321 Das ist gerade der Kern von Demokratieprinzip, Gesetzesbindung der Rechtsprechung und Gewaltenteilung.1322 Diese Kompetenz spiegelt zudem die Stellung der Mitgliedstaaten als „Herren der

1317 A.A. Schwarz/Fraberger, ecolex 1998, 52, 54; Fraberger, Wirkung von EuGHUrteilen und Rechtskraftdurchbrechung im Abgabenverfahren, 2000, S. 151, 156. 1318 Dazu z.B. Nettesheim, EuR 2006, 737; Hofmann, Normenhierarchien im europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000, S. 80 ff.; Sichert, Grenzen der Revision des Primärrechts in der Europäischen Union, 2005; auch noch Riesenhuber-Leible/Domröse, Europäische Methodenlehre, 2. Aufl. 2010, § 9 Rn. 61 ff.; jeweils m.w.N. 1319 Steinberg/Bark, EuZW 2007, 245, 247. 1320 EuGH v. 30.9.1982 – Rs. 108/81 Amylum ./. Rat, Slg. 1982, 3107 Rn. 17; EuGH v. 30.9.1982 – Rs. 114/81 Tunnel Refineries ./. Rat, Slg. 1982, 3189 Rn. 17; EuGH v. 30.9.1982 – Rs. 110/81 Roquette Frères ./. Rat, Slg. 1982, 3159 Rn. 19 f.; Heukels, Die Rückwirkungsjudikatur des EuGH, 1992, S. 28; Heukels, Intertemporales Gemeinschaftsrecht, 1990, S. 271. 1321 Freilich vorbehaltlich materiell-primärrechtlicher Veränderungssperren. Zum Beispiel der Absenkung des sekundärrechtlichen Verbraucherschutzniveaus Herresthal, EuZW 2011, 328. Wohl anders zum deutschen Recht jüngst BVerfG v. 17.12.2013 – 1 BvL 5/08, Rn. 48 ff. (dazu oben bei und in § 3 Fn. 173). 1322 Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, 1996, S. 117 Fn. 191; a.A. Borchardt, VW 1992, 929, 935; Boecken, EAS Teil C, Nr. 33 zu Art. 119 EG, S. 75; Griebeling, BetrAV 1992, 148, 151; Hervey, Legal Issues concerning the Barber Protocol, 1994, S. 329, 334.

§ 9 Auswirkungen auf die anderen Unionsorgane

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Verträge“ wider.1323 Die Judikative ist zwar zur Auslegung der Normen und Streitentscheidung im Einzelfall berufen. Der Gesetzgeber gibt aber – bildlich gesprochen – eine einmal geschaffene Vorschrift nicht aus der Hand und ist der Judikative „ausgeliefert“. Eine Ausnahme mag dort bestehen, wo die ausgelegte Norm von niemandem geändert werden kann, womit das Problem von änderungsfestem Unionsrecht angesprochen ist.1324 Nach diesen Grundsätzen muss auch die Rechtmäßigkeit des sogenannten Barber-Protokolls1325 beurteilt werden.1326 Am 17. Mai 1990 entschied der EuGH anlässlich einer englischen Vorlage, dass es gegen Art. 157 AEUV verstößt, wenn auf Grund einer je nach Geschlecht unterschiedlichen Regelung des Rentenalters, die der Regelung im Rahmen des nationalen gesetzlichen Altersrentensystems entspricht, ein aus betrieblichen Gründen entlassener Mann nur eine Anwartschaft auf eine bei Erreichung des gewöhnlichen Rentenalters zu zahlende Rente hat, während eine Frau in der gleichen Lage sofort Anspruch auf eine Rente hat.1327 Auf die unmittelbare Wirkung von Art. 157 AEUV sollte sich niemand (ausgenommen Rechtsbehelfsführer) berufen können, um mit Wirkung von einem vor Erlass des Urteils liegenden Zeitpunkt einen Rentenanspruch geltend zu machen.1328 Auf Betreiben der Pensionsfonds in Großbritannien und den Niederlanden und gegen nur anfängliche Bedenken Italiens wurde im Februar 1992 ein Protokoll als Annex in den Vertrag aufgenommen, um auf diese Rechtsprechung zu reagieren.1329 Ziel dieses Protokolls war es, die Anwendung von Art. 157 AEUV auf alle betrieblichen Systeme der sozialen Sicherheit unter die Rückwirkungsschranke des Barber-Urteils zu stellen und diese Grenze so festzulegen, dass sie alle Leistungen erfasste, die auf Beschäftigungszeiten vor dem 17. Mai 1990

1323

Mohr, Schutz vor Diskriminierungen im Europäischen Arbeitsrecht, 2003, S. 158 f.; Gialdino, CMLRev 32 (1995), 1089, 1119; Wechsler, Der Europäische Gerichtshof in der EG-Verfassungswerdung, 1995, S. 104. 1324 Dazu z.B. EuGH v. 14.12.1991 – Gutachten 1/91, Slg. 1991, I-6079 Rn. 71 f.; Everling, FS Mosler, 1983, S. 173, 188 ff.; ders., FS Bernhardt, 1995, S. 1161, 1170 f.; Heintzen, EuR 1994, 35, 38 ff. 1325 Protokoll Nr. 2 zu Art. 119 EG, später Protokoll Nr. 17 zu Art. 141 EG, jetzt Protokoll Nr. 33 zu Art. 157 AEUV. 1326 Zu einem „Bosman-Protokoll” siehe O’Keeffe/Osborne, IJCL 1996, 111, 129. 1327 EuGH v. 17.5.1990 – Rs. C-262/88 Barber, Slg. 1990, I-1889 Tenor Nr. 3. 1328 EuGH v. 17.5.1990 – Rs. C-262/88 Barber, Slg. 1990, I-1889 Tenor Nr. 5. 1329 Curtin, CMLRev 30 (1993), 17, 50; Gialdino, CMLRev 32 (1995), 1089, 1116. Auch die Änderung von Sekundärrecht kann auf den politischen Druck einzelner Mitgliedstaaten oder Lobbygruppen hin erfolgen, siehe z.B. den von Mittmann, Die Rechtsfortbildung durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften und die Rechtsstellung der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, 2000, S. 337 ff. geschilderten Fall.

394

Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

zurückgeführt werden konnten.1330 Damit wurde die zeitliche Schranke von Barber zu einem positivrechtlichen Bestandteil des Vertrages gemacht.1331 Die schnelle und heftige Reaktion auf das Barber-Urteil zeigt dessen Bedeutung und lässt vermuten, dass die Mitgliedstaaten dem Gerichtshof nicht zutrauten, einen angemessenen Ausgleich der Interessen zu finden.1332 Eine solche Vertragsanpassung ist indes keine Alltagserscheinung, da sie einem Einstimmigkeitserfordernis unterliegt und deshalb sehr aufwendig ist.1333 Später legte der Gerichtshof seine Feststellungen aus Barber im Einklang mit dem Protokoll aus;1334 dieses Ergebnis war vorher durchaus antizipiert worden.1335 Folglich musste das Verhältnis von Rückwirkungsrechtsprechung und Protokoll nie gerichtlich geklärt werden. Da das Protokoll die spätere Konkretisierung seiner Rechtsprechung durch den EuGH antizipierte und die geltende Rechtslage tatsächlich nur klarstellte, konnte es inhaltlich nicht gegen das Rückwirkungsverbot oder andere Rechtsgrundsätze verstoßen.1336 Insofern geht das Protokoll nicht über eine authenti1330

Das Protokoll lautete wörtlich: „Im Sinne des Artikels 119 gelten Leistungen aufgrund eines betrieblichen Systems der sozialen Sicherheit nicht als Entgelt, sofern und soweit sie auf Beschäftigungszeiten vor dem 17. Mai 1990 zurückgeführt werden können, außer im Fall von Arbeitnehmern oder deren anspruchsberechtigten Angehörigen, die vor diesem Zeitpunkt eine Klage bei Gericht oder ein gleichwertiges Verfahren nach geltendem einzelstaatlichen Recht anhängig gemacht haben.“ Teilweise wird hieraus eine inhaltliche Aussage zur Entgeltgleichbehandlung abgeleitet, vgl. Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, 1996, S. 116 ff.; Hanau, SAE 1992, 262, 263; Langohr-Plato, MDR 1992, 838, 841. 1331 EuGH v. 23.10.2003 – verb. Rs. C-4/02 und C-5/02 Schönheit und Becker, Slg. 2003, I-12575 Rn. 101; den Bezug zur Rückwirkungsbeschränkung betont auch Clever, BetrAV 1992, 213, 215 f. Auch im Sekundärrecht finden sich die vom EuGH gesetzten Rückwirkungszeitpunkte aus den Rechtssachen Barber und Defrenne II wieder, z.B. Art. 12 RL 2006/54/EG (Geschlechtsdiskriminierungsrichtlinie [Arbeit]). 1332 Hartley, LQR 112 (1996), 95, 106. Borchardt, BetrAV 1993, 259 und ders., DB 1993, 2133 kritisiert das Protokoll als überzogene Aufgeregtheit; ähnlich Curtin, CMLRev 30 (1993), 17, 51. 1333 Tomuschat, FS Ress, 2005, S. 857, 871; vgl. auch Höreth, ZfP 2013, 48, 54 ff. 1334 EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-57/93 Vroege, Slg. 1994, I-4541 Rn. 35 ff.; EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-128/93 Fisscher, Slg. 1994, I-4583 Rn. 43 ff.; eingehend Whiteford, CMLRev 32 (1995), 801, 838; i.Erg. auch Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, 1996, S. 118; vgl. auch GA Cosmas, SchlA v. 13.7.1995 – Rs. C-435/93 Dietz, Slg. 1996, I-5223 Rn. 28 f. 1335 Aus der sehr zahlreichen Literatur vgl. z.B. Coppel, B&C Int 21 (1992), 26; Meyer, Auswirkungen des EG-Diskriminierungsverbots von Mann und Frau auf die private und betriebliche Krankheits- und Altersvorsorge in Europa, 1994, S. 214 mit Fn. 498. Fitzpatrick, ILJ 1994, 155, 163 sieht hierin eine Unterwerfung des EuGH unter die Macht der Politik, während Deakin, CamLJ 1994, 236, 238 den EuGH für seine pragmatische Herangehensweise lobt. 1336 Coppel, B&C Int 21 (1992), 26, 28; a.A. wohl Huep, Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf ältere Sachverhalte, 2001, S. 246, der zur Wah-

§ 9 Auswirkungen auf die anderen Unionsorgane

395

sche Interpretation hinaus.1337 Anderenfalls hätte sich die Beschneidung der bereits durch Art. 157 AEUV eingeräumten Rechte am Rückwirkungsverbot messen lassen müssen. Zusätzlich würde die Frage aufgeworfen, ob eine primärrechtliche Vorschrift durch ein Protokoll geändert oder der Inhalt des Protokolls am Maßstab des Unionsrechts gemessen werden könnte.1338 Da sämtliche Protokolle gemäß Art. 51 EUV (ex-Art. 311 EG/Art. 239 EGV) im Range des Primärrechts stehen,1339 wäre damit u.a. das Problem von rangverschiedenem Primärrecht angesprochen.1340 Grundsätzlich gilt auch für das Barber-Protokoll die Regel, dass Unionsrecht vom zuständigen Gesetzgeber jederzeit geändert werden kann.1341 Zudem wurde das Protokoll als Eingriff in die Rechtsprechungstätigkeit des Gerichtshofs angesehen, weil dem EuGH die Möglichkeit genommen worden sei, seine eingeschlagene Rechtsprechung zu verdeutlichen und notfalls fortzuentwickeln.1342 Dem ist jedoch wiederum entgegenzuhalten, dass „die Rechtsprechung an das Gesetz gebunden ist und nicht umgekehrt“.1343 Der Gesetzgeber darf seine politischen Vorstellungen jederzeit normativ

rung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eine Einzelfallprüfung fordert, die der EuGH nicht vornehmen würde. 1337 Als eine solche verstehen es Hervey, Legal Issues concerning the Barber Protocol, 1994, S. 329, 331 f.; GA van Gerven, verb. SchlA v. 7.6.1994 – Rs. C-57/93 und C-128/93 Vroege und Fisscher, Slg. 1994, I-4541 Rn. 20, 23; wohl auch Meyer, Auswirkungen des EG-Diskriminierungsverbots von Mann und Frau auf die private und betriebliche Krankheits- und Altersvorsorge in Europa, 1994, S. 212 f.; offenlassend Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EUGH, 1995, S. 184 f. 1338 Coppel, B&C Int 21 (1992), 26, 28; Weichmann, Auswirkungen der Entscheidung des EuGH vom 17. Mai 1990 (Rs. C 262/88 Barber/Guardian Royal Exchange) auf die Altersgrenzen im deutschen Rentenrecht, 1993, S. 93; dazu allgemein Schwarze-Becker, EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 51 EUV Rn. 4. 1339 Allgemein Calliess/Ruffert-Schmalenbach, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 51 EUV Rn. 1; Schwarze-Becker, EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 51 EUV Rn. 7; StreinzStreinz/Kokott, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2009, Art. 51 EUV Rn. 1; Nettesheim, EuR 2006, 737, 740; Curtin, CMLRev 30 (1993), 17, 54; zum Barber-Protokoll Huep, Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf ältere Sachverhalte, 2001, S. 102, 242 f.; Kollatz, DZWir 1995, 284, 286; Langohr-Plato, MDR 1994, 19, 20; a.A. Wank, RdA 1995, 10, 14 m.w.N. 1340 Siehe schon oben bei § 9 Fn. 1318. 1341 Clever, BetrAV 1992, 213, 214 und die Nachweise oben in § 9 Fn. 1322 f. 1342 Everling, FS Bernhardt, 1995, S. 1161, 1172; ähnlich Hervey, Legal Issues concerning the Barber Protocol, 1994, S. 329, 334; Rodriguez Iglesias, EuR 1992, 224, 244; zuletzt Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 244. 1343 Middeke/Szczekalla, JZ 1993, 284, 290; Hailbronner, FS Heinz, 2012, S. 921, 929, der aber unter Verweis auf EuGH v. 14.12.2006 – Rs. C-97/05 Gattoussi, Slg. 2006, I-11917 befürchtet, der EuGH akzeptiere dies nicht grenzenlos.

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Teil 3: Materiellrechtliche Fragestellungen

verankern, ohne dass er damit die Judikative bevormundet.1344 Ihm muss die Möglichkeit gelassen werden, entsprechend seiner Einschätzung auch kurzfristig zu reagieren, um ungewollten Entwicklungen vorzubeugen oder das Entstehen von Vertrauen in die neue Rechtsprechung zu verhindern.

1344

Middeke/Szczekalla, JZ 1993, 284, 291.

4. Teil

Prozessrechtliche Fragestellungen Teil 4: Prozessrechtliche Fragestellungen Nach den materiellrechtlichen Problemstellungen sollen nun die prozessrechtlichen Implikationen der Rückwirkungsbeschränkung beleuchtet werden. Im Anschluss an die Klärung einiger allgemeiner Fragen (§ 10) ist auf das Antragserfordernis (§ 11) und die Beweislastverteilung (§ 12) näher einzugehen.

§ 10 Allgemeines zur Rückwirkungsbeschränkung im Prozess vor dem EuGH Die zeitlichen Wirkungen der Unionsrechtsprechung haben nur dann Auswirkungen auf den Prozess vor dem Gerichtshof, wenn von dem Grundsatz der Rückwirkung abgewichen werden soll. Die Rückwirkung tritt nämlich auch ohne gesonderte Feststellung durch den EuGH ein. Demgegenüber wirft die Diskussion einer Rückwirkungsbeschränkung oder gar deren Anordnung Fragen nach dem Prüfungsstandort im Urteil, den Möglichkeiten der Tenorierung und der Notwendigkeit einer Begründung auf. Außerdem sind die Auswirkungen auf die Kostenentscheidung und die Wechselwirkungen mit dem Begriff der Rechtskraft zu erörtern. Das Unionsprozessrecht enthält dafür nur wenige normative Vorgaben. In gleichem Maße fehlt es an ausdrücklichen Stellungnahmen des EuGH zu seinem Vorgehen. A. Prüfungsstandort und Überschrift Die Notwendigkeit einer Rückwirkungsbeschränkung wird in allen Verfahrensarten am Ende der Urteilsgründe erörtert. Das ist konsequent, da die Rückwirkungsbeschränkung nur die Klagbarkeit der vorgenommenen Auslegung begrenzt oder die Folgen der Unwirksamerklärung modifiziert. Das Ergebnis der Hauptsache wird dadurch nicht unmittelbar verändert.1 Die Rückwirkungsbeschränkung schließt sich an die Begründetheitsprüfung einer Unwirksamkeitsklage als besonderer Anhang an ebenso wie an die Beantwortung der Auslegungsvorlagefrage.2 Anderes gilt nur in Vorabentscheidungs1

Im Einzelnen und zu Ausnahmen siehe oben § 7 A., S. 295 ff. Vgl. EuGH v. 31.3.1992 – Rs. C-284/90 Rat ./. Parlament, Slg. 1992, I-2277 Rn. 14: „Auf das Vorbringen des Parlaments zu den Klageanträgen, die sich auf die im Falle der 2

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Teil 4: Prozessrechtliche Fragestellungen

verfahren, wenn das vorlegende Gericht ausdrücklich nach der zeitlichen Wirkung der begehrten Auslegung oder Ungültigkeit gefragt hat sowie wenn eine Rückwirkungsbeschränkung eines früheren Urteils konkretisiert wird. Hier ist die zeitliche Wirkung gerade Bestandteil der Hauptsache. Die Prüfung einer möglichen Rückwirkungsbeschränkung wird in den Auslegungsvorlagen regelmäßig mit einer eigenen Überschrift abgesetzt.3 An einer solchen kann es wiederum in den Fällen fehlen, in denen das Vorlagegericht nach der zeitlichen Wirkung selbst gefragt hat.4 Dann trennen die einzelnen Vorlagefragen die Begründung. In allen anderen Verfahren lässt sich keine einheitliche Linie des Gerichtshofs ausmachen. Dort ist eine separate Überschrift durchaus üblich.5 Es lassen sich jedoch – auch in jüngerer Vergangenheit – zahlreiche Gegenbeispiele finden.6 Ob die Prüfung durch eine Überschrift abgegrenzt wird, hängt jedenfalls nicht davon ab, ob im Ergebnis die Rückwirkung beschränkt wird oder nicht. Schließlich variiert der Wortlaut der Überschrift und wird nur selten am tatsächlichen Rückwirkungstenor des Urteils ausgerichtet.7 Nichtigerklärung […] zu ergreifenden Maßnahmen beziehen, wird nach Prüfung der Begründetheit der Klage eingegangen.“ (Hervorhebung vom Verfasser). 3 Z.B. EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne II, Slg. 1976, 455; EuGH v. 16.7.1992 – Rs. C-163/90 Legros u.a., Slg. 1992, I-4625; EuGH v. 20.9.2001 – Rs. C-184/99 Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193; EuGH v. 13.12.2012 – Rs. C-465/11 Forposta und ABC Direct Contact, ECLI:EU:C:2012:801; anders z.B. EuGH v. 3.7.1997 – Rs. C-330/95 Goldsmiths, Slg. 1997, I-3801. 4 Siehe z.B. EuGH v. 15.3.2005 – Rs. C-209/03 Bidar, Slg. 2005, I-2119; EuGH v. 11.8.1995 – verb. Rs. C-367/93 bis C-377/93 Roders B.V. u.a., Slg. 1995, I-2229; EuGH v. 19.10.1995 – Rs. C-137/94 Richardson, Slg. 1995, I-3407; EuGH v. 27.4.2006 – Rs. C-423/04 Richards, Slg. 2006, I-3585. 5 Z.B. EuGH v. 16.7.1992 – Rs. C-65/90 Parlament ./. Rat, Slg. 1992, I-4593; EuGH v. 19.11.1998 – Rs. C-159/96 Portugal ./. Kommission, Slg. 1998, I-7379; EuGH v. 19.3.2002 – Rs. C-426/98 Kommission ./. Griechenland, Slg. 2002, I-2793; EuGH v. 7.6.2007 – Rs. C-178/05 Kommission ./. Griechenland, Slg. 2007, I-4185; EuGH v. 6.11.2008 – Rs. C-155/07 Parlament ./. Rat, Slg. 2008, I-8103; EuGH v. 9.11.2010 – verb. Rs. C-92/09 und C-93/09 Schecke und Eifert, Slg. 2010, I-11063. 6 Z.B. EuGH v. 24.9.1998 – Rs. C-35/97 Kommission ./. Frankreich, Slg. 1998, I- 5325; EuGH v. 27.9.1988 – Rs. 51/87 Kommission ./. Rat, Slg. 1988, 3459; EuGH v. 23.11.1999 – Rs. C-89/96 Portugal ./. Kommission, Slg. 1999, I-8377; EuGH v. 18.6.2002 – Rs. C-314/99 Niederlande ./. Kommission, Slg. 2002, I-5521; EuGH v. 6.10.2005 – Rs. C-204/03 Kommission ./. Spanien, Slg. 2005, I-8389; EuGH v. 22.12.2008 – Rs. C-333/07 Régie Networks, Slg. 2008, I-10807. 7 Siehe z.B. EuGH v. 25.1.2007 – Rs. C-278/05 Robins, Slg. 2007, I-1053; EuGH v. 13.3.2007 – Rs. C-524/04 Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, Slg. 2007, I-2107 bzw. EuGH v. 6.3.2007 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835; EuGH v. 13.4.2010 – Rs. C-73/08 Bressol u.a. und Chaverot u.a., Slg. 2010, I-2735; EuGH v. 21.10.2010 – Rs. C-242/09 Albron Catering, Slg. 2010, I-10309 im Gegensatz zu EuGH v. 19.7.2012 – Rs. C-263/11 Rēdlihs, ECLI:EU:C:2012:497 oder EuGH v. 10.5.2012 – verb.

§ 10 Allgemeines zur Rückwirkungsbeschränkung im Prozess vor dem EuGH

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B. Entscheidungsbegründung Die Rückwirkungsbeschränkung stellt eine Ausnahme zur üblichen zeitlichen Wirkung dar. Sie ist deshalb begründungsbedürftig. Entbehrlich ist eine erneute Begründung nur, wenn auf die Ausführungen einer früheren Rückwirkungsbeschränkung Bezug genommen werden kann, weil die gleichen Erwägungen Platz greifen.8 In der Begründung sind die Voraussetzungen des Tatbestands darzulegen. Der EuGH tut dies im üblichen Umfang und in der üblichen Detailliertheit. Nur vereinzelt sind Ausreißer zu kritisieren. Dort sind die Begründungen so kurz und schlagwortartig, dass es schwer zu ermitteln ist, welche Umstände den EuGH zur Beschränkung der Rückwirkung bewogen haben.9 In solchen Fällen können die Schlussanträge das Verständnis des Urteils erleichtern, wenn erkennbar ist, dass der Gerichtshof davon nicht abweichen wollte.10 Zuletzt ist das EuG dazu übergegangen, Teile seiner Begründung nicht mehr zu veröffentlichen, wenn es das nicht für zweckdienlich erachtet. Dies betraf auch Ausführungen zur Beschränkung der zeitlichen Wirkungen, sowohl bei deren Ablehnung als auch bei der Bejahung.11 Es versteht sich von selbst, dass damit eine Analyse der Entscheidungen insoweit unmöglich wird. C. Tenorierung Bei der Formulierung des Tenors ist der Gerichtshof frei, soweit sich nicht aus den prozessualen Vorschriften Vorgaben entnehmen lassen. Für die Frage der Rückwirkungsbeschränkung tut das nur Art. 264 Abs. 2 AEUV, wonach Rs. C-338/11 bis C-347/11 Santander Asset Management u.a., ECLI:EU:C:2012:286 oder EuGH v. 29.3.2012 – Rs. C-599/10 SAG ELV Slovensko u.a., ECLI:EU:C:2012:191. 8 Siehe z.B. die Verweisung in EuGH v. 26.4.1994 – Rs. C-228/92 Roquettes Frères ./. Hauptzollamt Geldern, Slg. 1994, I-1445 Rn. 22 auf EuGH v. 15.10.1980 – Rs. 4/79 Providence agricole de la Champagne, Slg. 1980, 2823 Rn. 45 f. 9 EuGH v. 26.3.1987 – Rs. 45/86 Kommission ./. Rat, Slg. 1987, 1493 Rn. 23; EuGH v. 27.9.1988 – Rs. 51/87 Kommission ./. Rat, Slg. 1988, 3459 Rn. 22 (zwei Zeilen); EuGH v. 19.11.1998 – Rs. C-159/96 Portugal ./. Kommission, Slg. 1998, I-7379 Rn. 52 f. (zwei Zeilen); EuGH v. 21.1.2003 – Rs. C-378/00 Kommission ./. Parlament und Rat, Slg. 2003, I-937 Rn. 74 (eine Zeile); EuGH v. 11.9.2003 – Rs. C-445/00 Österreich ./. Rat, Slg. 2003, I-8549 Rn. 104, 106 (jeweils eine Zeile); EuGH v. 25.1.2007 – Rs. C-278/05 Robins, Slg. 2007, I-1053 Rn. 84 (eine Zeile). Huber/Kristoferitsch, Beihilferecht Jahrbuch 2011, 517, 521 kritisieren auch EuGH v. 9.11.2010 – verb. Rs. C-92/09 und C-93/09 Schecke und Eifert, Slg. 2010, I-11063 Rn. 94 (sechs Zeilen). 10 Nicht speziell zur Rückwirkungsbeschränkung Streinz-Huber, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 252 AEUV Rn. 9; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band II, 3. Aufl. 2012, Rn. 753; Everling, EuR 1994, 127, 138. 11 EuG v. 6.9.2013 – Rs. T-434/11 Europäisch-Iranische Handelsbank, ECLI:EU: T:2013:405 nach Rn. 157; EuG v. 6.9.2013 – Rs. T-493/10 Persia International Bank, ECLI:EU:T:2013:398 nach Rn. 120.

400

Teil 4: Prozessrechtliche Fragestellungen

der EuGH diejenigen „Wirkungen [bezeichnet], die als fortgeltend zu betrachten sind“. Die Satzung des Gerichtshofs enthält schon allgemein zur Tenorierung keine Vorgaben (vgl. Art. 36–38 EuGH-Satzung). Die Verfahrensordnungen schreiben eine Entscheidungsformel (Urteils- oder Beschlussformel) als Bestandteil der gerichtlichen Entscheidung vor, treffen jedoch keine Anordnungen hinsichtlich deren Inhalt oder Form (Art. 87 lit. n), 89 lit. k) EuGH-VerfO [Art. 63 EuGH-VerfO a.F.], Art. 81 EuG-VerfO). Daraus folgt, dass der Gerichtshof bei der Formulierung des Tenors weitgehend frei ist. I.

Notwendigkeit

Wenn der Gerichtshof die Rückwirkung beschränkt, tenoriert er dies ausdrücklich. Konkludente Rückwirkungsbeschränkungen gibt es nicht.12 Unabhängig von der Verfahrensart oder dem Grund der Rückwirkungsbeschränkung erfolgt die Tenorierung in einer separaten Nummer getrennt von der Entscheidungsformel der Hauptsache. Die Rückwirkungsbeschränkung wurde daher zu Recht als „eigenständiger Ausspruch“ gekennzeichnet.13 Für die Rechtsunterworfenen oder andere Gerichte hat diese Vorgehensweise einen großen Vorteil: Die Veränderung der zeitlichen Wirkung ergibt sich klar und eindeutig aus dem Urteil. Zu beachten bleibt jedoch, dass eine Auslegungsrückwirkungsbeschränkung in späteren Entscheidungen nachgeholt werden kann. Es ist deshalb nicht nur unnötig, sondern falsch, ein früheres Urteil auf eine Beschränkung zu untersuchen, wenn eine solche nicht tenoriert oder nachgeholt wurde.14 Dementsprechend tenoriert der EuGH nicht, dass eine Rückwirkungsbeschränkung vom Gerichtshof diskutiert, aber abgelehnt wurde.15 In den wenigen Fällen, in denen er dies doch tat, fragten die nationalen Gerichte ausdrücklich nach der zeitlichen Wirkung der begehrten Auslegung.16 Die Tenorierung war dort zur vollständigen Beantwortung der Vorlagefragen geboten. 12 Einzige Ausnahme ist EuGH v. 26.4.1994 – Rs. C-228/92 Roquettes Frères ./. Hauptzollamt Geldern, Slg. 1994, I-1445. Dort ergab sich die Rückwirkungsbeschränkung eindeutig aus den Urteilsgründen, während der Tenor nur die personelle Rückausnahme enthielt. Der Gerichtshof hatte sich hier bei der Tenorierung offenbar an den Vorlagefragen des nationalen Gerichts orientiert. Den Ausnahmecharakter dieses Falles hebt auch hervor Schima, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH, 2. Aufl. 2004, S. 109 Fn. 583. 13 Frenz/Kühl, DStZ 2009, 432, 435 und 438; wortgleich Frenz, Handbuch Europarecht, Band 5, 2010, Rn. 3410 und 3425. 14 So aber EuG v. 12.7.2011 – Rs. T-80/09 P Kommission ./. Q, Slg. 2011, II-4313 Rn. 164 f. 15 Einzige ersichtliche Ausnahme ist neuerdings EuG v. 23.9.2014 – verb. Rs. T-196/11 und T-542/12 Mikhalchanka, ECLI:EU:T:2014:801. 16 Vgl. EuGH v. 11.8.1995 – verb. Rs. C-367/93 bis C-377/93 Roders B.V. u.a., Slg. 1995, I-2229 Tenor Nr. 4 und Rn. 11; EuGH v. 19.10.1995 – Rs. C-137/94 Richardson,

§ 10 Allgemeines zur Rückwirkungsbeschränkung im Prozess vor dem EuGH

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Nur aus Gründen der Klarstellung muss eine Rückwirkungsbeschränkung in den Tenor aufgenommen werden, wenn die Beschränkung eines früheren Urteils auf einen anderen Sachverhalt übertragen wird. Die frühere Beschränkung gilt unabhängig von ihrer ausdrücklichen Übertragung für alle konnexen Sachverhalte und muss nicht „erneuert“ werden. Die Praxis des EuGH ist hier uneinheitlich. So verzichtet der Gerichtshof regelmäßig darauf, die Beschränkung aus dem Defrenne II-Urteil in späteren Entscheidungen zu Art. 157 AEUV zu wiederholen.17 Demgegenüber tenorierte er die Anwendung der Beschränkung aus dem Legros-Urteil auf drei vergleichbare Auslegungsvorlagen,18 nicht aber auf eine Ungültigkeitsvorlage19. II. Wortlaut und Inhalt Wortlaut und Inhalt der unterschiedlichen Entscheidungsformeln der Rückwirkungsbeschränkung wurden schon oben (§ 7 A., S. 294 ff.) untersucht, um die Dogmatik zu erläutern. Die Erkenntnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen. Der Wortlaut der Formeln wechselt häufig, ohne dass damit Unterschiede in Inhalt oder Dogmatik beabsichtigt sind. Bei den Unwirksamkeitsentscheidungen bietet es sich eigentlich an, den Tenor an Art. 264 Abs. 2 AEUV zu orientieren, da dieser als Kompetenzgrundlage herangezogen wird.20 Der Gerichtshof tenoriert jedoch nur selten entsprechend, dass „die [näher bezeichneten] Wirkungen [der aufgehobenen Norm] als fortgeltend zu betrachten sind“. Wesentlich gebräuchlicher ist bei der Nichtigkeitsklage die Formulierung, dass „[näher bezeichnete] Wirkungen aufrechterhalten werden“, während bei Ungültigkeitsvorlagen der Tenor disparater ist.21 Es ist zu beachten, dass Unterschiede auch einen abweichenden Inhalt zum Ausdruck brinSlg. 1995, I-3407 Tenor Nr. 3 und Rn. 5; EuGH v. 15.3.2005 – Rs. C-209/03 Bidar, Slg. 2005, I-2119 Tenor Nr. 3 und Rn. 27; EuGH v. 27.4.2006 – Rs. C-423/04 Richards, Slg. 2006, I-3585 Tenor Nr. 2 und Rn. 19. 17 Wohl kritisch Kirschbaum, ZAS 1995, 37, 41; anders z.B. EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-7/93 Beune, Slg. 1994, I-4471 als Antwort auf eine entsprechende Vorlagefrage. 18 EuGH v. 14.9.1995 – verb. Rs. C-485/93 und C-486/93 Simitzi, Slg. 1995, I-2655 Tenor Nr. 5; ebenso EuGH v. 7.11.1996 – Rs. C-126/94 Cadi Surgelés, Slg. 1996, I-5647 Tenor Nr. 2; ebenso EuGH v. 9.9.2004 – Rs. C-72/03 Carbonati Apuani, Slg. 2004, I-8027 Tenor Nr. 2. 19 EuGH v. 8.9.1994 – verb. Rs. C-363/93, C-407/93 bis C-411/93 Lancry u.a., Slg. 1994, I-3957; anders GA Tesauro, SchlA v. 28.6.1994 – verb. Rs. C-363/93, C-407/93 bis C-411/93 Lancry u.a., Slg. 1994, I-3957 Rn. 31, 33. 20 Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 259 befürwortet für Ungültigkeitsvorlagen eine Orientierung an den Auslegungsvorlagen; wie hier wohl Müller, Die Begrenzung der zeitlichen Wirkungen von EuGH-Entscheidungen, 2009, S. 44. 21 Das gilt auch für die französischen und die englischen Sprachfassungen.

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gen können, wie in der oben erläuterten Rechtssache Régie Networks.22 Bei den Auslegungsentscheidungen ist die Wortlautanalyse ebenso unergiebig hinsichtlich des Bezugspunkts der Rückwirkungsbeschränkung, was durch das Fehlen normativer Anknüpfungspunkte verstärkt wird. Um die beabsichtigte Klagbarkeitsbeschränkung und den Bezug zur ausgelegten Norm zu verdeutlichen, ist zu tenorieren, dass sich „niemand auf [die ausgelegte Norm oder deren unmittelbare Wirkung] berufen kann, um einen [näher bezeichneten] Anspruch geltend zu machen“. Der Inhalt des Tenors sollte Aussagen zur sachlichen, zeitlichen und personellen Reichweite der Rückwirkungsbeschränkung umfassen, um sämtliche Rechtsfolgenbestimmungen abzudecken. Hierbei ist auf Genauigkeit zu achten, um Interpretationsproblemen vorzubeugen. Da die Rückwirkungsbeschränkung für die gesamte Union gilt, kann auf eine entsprechende Klarstellung verzichtet werden. Unabhängig von der Verfahrensart hat die Rückwirkungsbeschränkung keine Auswirkungen auf den Hauptsachetenor, sodass sich dieser nicht verändert. Zu klären bleibt, wie eine Auslegungsrückwirkungsbeschränkung zu tenorieren ist, die nicht in einem Auslegungsverfahren vorgenommen wird. Dazu kommen mehrere Möglichkeiten in Betracht, die exemplarisch an einer Nichtigkeitsklage dargestellt werden sollen. Zuerst könnte der Tenor lauten: „1. Die angegriffene Norm N1 ist nichtig. 2. Niemand kann sich auf [die ausgelegte höherrangige] Norm N2 berufen, um [ein bestimmtes Klageziel] zu verfolgen“. Hier würde die Geltendmachung der Nichtigkeit ein mittelbares Berufen auf die höherrangige Norm und deren Auslegung darstellen und entsprechend tenoriert. Zweitens könnte sich der Tenor an der Fortwirkungsanordnung orientieren und formuliert werden: „1. Die angegriffene Norm N1 ist nichtig. 2. Ihre Wirkungen bleiben aufrechterhalten, soweit auf ihr [Rechtsverhältnisse mit einem näher bestimmten Gegenstand] beruhen“. Hier müsste sich aus den Gründen ergeben, dass die Rückwirkung der Auslegung beschränkt werden sollte. Drittens ließe sich tenorieren: „1. Die angegriffene Norm N1 ist nichtig. 2. Niemand darf sich auf die Nichtigkeit berufen, um [ein bestimmtes Klageziel] zu verfolgen“. So würde der Tenor der Auslegungsrückwirkungsbeschränkung mit Elementen der Nichtigkeitsklage kombiniert. Vorzugswürdig ist die erste Variante. In ihr kommt deutlich zum Ausdruck, dass es sich dogmatisch und nach den Tatbestandsvoraussetzungen um eine Beschränkung der Auslegungsrückwirkung handelt und nicht um eine Fortwirkungsanordnung nach Art. 264 Abs. 2 AEUV. Dadurch wird auf den ersten Blick erkennbar, dass die Beschränkung über die Nichtigkeitsklage hinaus für andere Sachverhalte gilt. Die übrigen Varianten sind auch nicht einfacher zu verstehen. Bei ihnen ergibt sich der Bezug zur Auslegung der 22

§ 7 A.III.2., S. 309 f.

§ 10 Allgemeines zur Rückwirkungsbeschränkung im Prozess vor dem EuGH

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höherrangigen Norm N1 aus den Urteilsgründen und entfällt nicht etwa. So wird die Komplexität der Beschränkung nur verschleiert und erschwert damit sogar noch das Verständnis des Urteils. Nach diesen Grundsätzen muss auch in Vertragsverletzungsverfahren tenoriert werden. Auf die Feststellung der Vertragsverletzung durch den Mitgliedstaat hätte eine Rückwirkungsbeschränkung keine Auswirkungen. Die Vertragsverletzung müsste also weiterhin ausgesprochen werden. Daran würde sich ein Tenor zur Beschränkung der Auslegungsrückwirkung anschließen, beispielsweise „2. Auf [die ausgelegte] Unionsnorm N2 kann sich niemand berufen, um [ein bestimmtes Klageziel] zu verfolgen, es sei denn, er hat vor dem Tag dieses Urteils Klage erhoben oder einen entsprechenden Rechtsbehelf eingelegt“. D. Kosten des Rechtsstreits Eine Rückwirkungsbeschränkung wirkt sich nicht auf die Verteilung der Prozesskosten vor den Unionsgerichten aus. In den Direktklagen ist gemäß Art. 138 Abs. 1 EuGH-VerfO (Art. 69 § 2 Abs. 1 EuGH-VerfO a.F.), Art. 87 § 2 Abs. 1 EuG-VerfO die unterliegende Partei auf Antrag zu verurteilen, die Kosten des Rechtsstreits zu tragen. Das Obsiegen richtet sich dabei allein nach dem Tenor der Hauptsache; die Entscheidung über eine Rückwirkungsbeschränkung bleibt vollständig außen vor. Dies gilt sogar dann, wenn die aufrechterhaltene Vorschrift schon abgelaufen war (und so die Nichtigerklärung ohne Auswirkungen bleibt) oder die nichtige Vorschrift für einen Zeitraum in der Zukunft aufrechterhalten wird.23 Als Rechtfertigung lässt sich anführen, dass eine Partei „obsiegt“, soweit ihr Prozessantrag Erfolg hatte24. Die Fortwirkungsanordnung nach Art. 264 Abs. 2 AEUV steht hinsichtlich Ob und Wie im Ermessen des entscheidenden Gerichts und kann von den Parteien nicht beantragt, sondern nur angeregt werden.25 Das Vorabentscheidungsverfahren ist ein Zwischenstreit des nationalen Vorlageverfahrens, weshalb das nationale Gericht gemäß Art. 102 EuGHVerfO (Art. 104 § 6 Abs. 1 EuGH-VerfO a.F.) über die Prozesskosten zu befinden hat. Aus dem Unionsrecht ergeben sich keine Vorgaben für die nationale Kostenentscheidung. Es dürfte daher einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, nach der die Prozesskostenentscheidung eine erfolgte Rückwirkungsbeschränkung berücksichtigen kann. Äußerste Grenze ist jedoch der Grundsatz der Äquivalenz. 23 Z.B. EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-93/00 Parlament ./. Rat, Slg. 2001, I-10119 Rn. 49; EuGH v. 24.11.2010 – Rs. C-40/10 Kommission ./. Parlament, Slg. 2010, I-12043 Rn. 96; EuG v. 7.12.2011 – Rs. T-562/10 HTTS, Slg. 2011, II-8087 Rn. 44. 24 Rengeling/Middeke/Gellermann-Geppert, EU-Rechtsschutz, 3. Aufl. 2014, § 29 Rn. 11. 25 Siehe unten § 11 A., S. 406 ff.

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E. Rechtskraft I.

Rechtskraft der Hauptsacheentscheidung

Die Rechtskraft sichert als prozessuale Schranke den Bestand der konkreten Entscheidung eines konkreten Rechtsstreits.26 Die Rechtskraft der Hauptsacheentscheidung bleibt von der Entscheidung über die Rückwirkung unberührt und zwar unabhängig davon, ob eine Beschränkung vorgenommen wird oder nicht. Die Rückwirkungsbeschränkung ist Inhalt der Entscheidung und modifiziert nicht deren Bindungswirkung für die Parteien. Dies gilt für Auslegungs- und Unwirksamkeitsentscheidungen, wenngleich sich deren Dogmatik unterscheidet. Der Streitgegenstand kann auch im Falle einer Rückwirkungsbeschränkung nach den üblichen Regeln von den gebundenen Parteien nicht erneut anhängig gemacht werden (negative Rechtskraftwirkung) oder in anderen Rechtsstreitigkeiten verschieden beurteilt werden (positive Rechtskraftwirkung). Bei den Auslegungsvorlagen ist die Rechtskraftwirkung freilich schon im Grundsatz sehr gering.27 II. Keine eigenständige Rechtskraft der Rückwirkungsentscheidung In gleichem Maße nimmt die Rückwirkungsentscheidung an der Rechtskraft der Hauptsacheentscheidung teil. Zwischen den gebundenen Parteien kann nur im Rahmen der allgemeinen Rechtskraft über die Rückwirkungsentscheidung neu entschieden werden. So wird dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit Genüge getan. Darüber hinaus scheidet eine eigenständige Rechtskraft der Entscheidung über die zeitlichen Wirkungen aus. Selbst unter Zugrundelegung der Konnexitätslösung des EuGH käme der Rückwirkungsentscheidung keine eigenständige Rechtskraft zu. Zwar ließe sich der Rechtsfolge der Konnexität, der „Präklusion“ der späteren Rückwirkungsbeschränkung, durchaus eine prozessuale Wirkung zuschreiben. Diese zielt jedoch mit der Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung auf andere Zwecke als die Rechtskraft. Die Rechtfertigung des Konnexitätsmerkmals wurde (auch deshalb) schon oben diskutiert.28 Außerdem beruht das Konnexitätsmerkmal nicht auf einer Identität des Streitgegenstands oder der Parteien, sondern nur der Rechtsfrage.29 Der Maßstab der Konnexität greift weiter und behandelt wesentlich mehr Konstellationen als vergleichbar. Die Präklusionsrechtsfolge lässt sich jedoch 26

Germelmann, Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen in der Europäischen Union, 2009, S. 405 f. 27 Vgl. Germelmann, Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen in der Europäischen Union, 2009, S. 417 ff. 28 Siehe § 6 B.I.4., S. 143 ff. und § 7 C.I.3.a), S. 331 ff. 29 Zu diesen drei Tatbestandsmerkmalen der Rechtskraft ausführlich Germelmann, Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen in der Europäischen Union, 2009, S. 345 ff.

§ 11 Das Erfordernis eines „Antrags“

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als eine spezielle absolute Bindungswirkung ansehen, die einer positiven Rechtskraft gegenüber jedermann ähnelt. F. Das zweistufige Verfahren nach Ludewig Eine interessante prozessuale Neuerung hat Ludewig vorgeschlagen30: Die Frage der Rückwirkungsbeschränkung solle de lege ferenda von der Sachentscheidung noch deutlicher getrennt werden, indem erstere in ein „Nachverfahren“ ausgegliedert wird. Erst an das endgültige Urteil über die materiellen Rechtsfragen soll sich ein gesondertes Verfahren zur Bestimmung der zeitlichen Wirkungen gegebenenfalls mit eigenständiger mündlicher Verhandlung anschließen. Dieses zweistufige Verfahren könnte durchaus einige Probleme lösen oder abmindern, denen sich die Rechtsunterworfenen typischerweise gegenübersehen, und ist daher zu empfehlen. Zum einen wäre es für alle Betroffenen einfacher, die wirtschaftlichen Auswirkungen einer Rechtsprechung zu bestimmen; Eventualberechnungen und Hypothesen werden überflüssig. Zudem dürfte nach Veröffentlichung der Sachlösung auch den letzten Mitgliedstaaten bewusst werden, ob und in welchem Maße sie von einem Verfahren betroffen sind.31 Dadurch würde eine nachträgliche Änderung der Rückwirkungsentscheidung seltener notwendig. Schließlich verkürzt sich die gesamte Verfahrensdauer in den Fällen, in denen die Rückwirkungsbeschränkung letztlich nicht entscheidungserheblich wird. Dass sich die Verfahrensdauer verlängert, wenn eine Rückwirkungsbeschränkung diskutiert werden muss, dürfte von den übrigen Vorteilen aufgewogen werden. Diese längere Verfahrensdauer belastet im Übrigen auch die Parteien des Ausgangsverfahrens, denn da die personelle Rückausnahme bestenfalls die Regel, nicht aber ausnahmslos zu gewähren ist, müssen sie sich weiterhin beteiligen.32 Selbstverständlich dürfte von der personellen Rückausnahme nur noch profitieren, wer die Klage oder den gleichwertigen Rechtsbehelf noch vor dem Ausspruch über die materielle Rechtsfrage eingelegt hat.

§ 11 Das Erfordernis eines „Antrags“ Wird in einem Urteil eine Rückwirkungsbeschränkung diskutiert, führt der Gerichtshof – unabhängig von der Verfahrensart – regelmäßig aus, wer einen 30 Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 282 ff. 31 Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 285. 32 Anders Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 285.

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Teil 4: Prozessrechtliche Fragestellungen

entsprechenden Antrag wann gestellt hat. Dies ist Anlass zu untersuchen, welche Bedeutung das Antragserfordernis hat und welche Voraussetzungen und Grenzen zu beachten sind. A. Dogmatische Einordnung I.

Normative Vorgaben

Die geschilderte Praxis geht nicht auf normative Vorgaben zurück. Der für die Unwirksamkeitsverfahren geltende Art. 264 Abs. 2 AEUV enthält keine Anhaltspunkte für ein Antragserfordernis. Die Kompetenz des Gerichtshofs zur Bestimmung der Rechtsfolgen der Unwirksamkeit wird danach unmittelbar durch die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Unionsnorm ausgelöst. Wie oben (§ 5 D., S. 118) erläutert, fehlt es für die Auslegungsrückwirkungsbeschränkung gänzlich an einer ausdrücklichen Regelung. II. Keine Bindung des EuGH Dementsprechend sieht sich der Gerichtshof in den Unwirksamkeitsverfahren nicht an die Anträge gebunden.33 Die Entscheidung über eine zeitliche Beschränkung erfolgt dort von Amts wegen.34 Der Antrag auf Erlass einer Fortwirkungsanordnung ist „nicht als ‚Antrag‘ im technischen Sinne zu betrachten; es handelt sich vielmehr um eine an den Gerichtshof gerichtete Aufforderung, von einer Befugnis Gebrauch zu machen, die ihm unmittelbar vom Vertrag eingeräumt ist.“35 Konsequenterweise hat der Gerichtshof Rückwirkungsbeschränkungen auch vorgenommen, wenn sie nicht angeregt worden waren.36 Dies wird unterstützt von der Tatsache, dass echte Prozessanträge, 33

EuGH v. 31.3.1992 – Rs. C-284/90 Rat ./. Parlament, Slg. 1992, I-2277 Rn. 36; EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-239/01 Deutschland ./. Kommission, Slg. 2003, I-10333 Rn. 78. 34 EuGH v. 1.4.2008 – verb. Rs. C-14/06 und C-295/06 EP und Dänemark ./. Kommission, Slg. 2008, I-1649 Rn. 85; EuG v. 5.9.2014 – Rs. T-471/11 Éditions Odile Jacob, ECLI:EU:T:2014:739 Rn. 111; Gesser, Die Nichtigkeitsklage nach Artikel 173 EGV, S. 238 Fn. 33; Schwarze-Schwarze, EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 264 AEUV Rn. 9; Rengeling/Middeke/Gellermann-Dervisopoulos, EU-Rechtsschutz, 3. Aufl. 2014, § 7 Rn. 123; Thiele, Europäisches Prozessrecht, 2. Aufl. 2014, §6 Rn. 62; Grabitz/Hilf/Nettesheim-Dörr, Das Recht der Europäischen Union, 51. EL 2013, Art. 264 AEUV Rn. 17; Lenz/Borchardt-Borchardt, EU-Verträge, 6. Aufl. 2013, Art. 264 AEUV Rn. 9; Müller, Die Begrenzung der zeitlichen Wirkungen von EuGH-Entscheidungen, 2009, S. 15 f., 45; Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 106. 35 GA La Pergola, SchlA v. 23.9.1997 – Rs. C-22/96 Parlament ./. Rat, Slg. 1998, I-3231 Fn. 25. 36 Z.B. EuGH v. 16.7.1992 – Rs. C-65/90 Parlament ./. Rat, Slg. 1992, I-4593; EuGH v. 3.9.2008 – verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P Kadi und Al Barakaat International

§ 11 Das Erfordernis eines „Antrags“

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wie die Anträge zur Hauptsache und zu den Kosten, im Tatbestand des Urteils aufgeführt werden, Ausführungen zur zeitlichen Wirkung hingegen allenfalls als Rechtsansichten wiedergegeben werden.37 Für die Auslegungsentscheidungen gilt Entsprechendes. Die Zuständigkeit zur Beschränkung der Berufung auf die getroffene Auslegung steht dem Gerichtshof von Amts wegen zu und wird nicht durch einen Antrag ausgelöst.38 Dafür spricht, dass die Rückwirkungsbeschränkung objektiven Zielen der Rechtssicherheit dient und Auswirkungen auf alle Rechtsunterworfenen haben kann und daher nicht vom prozessualen Verhalten der Verfahrensbeteiligten abhängen sollte.39 Insbesondere haben wegen der personellen Rückausnahme nur diejenigen Parteien eines Vorlageverfahrens ein besonderes wirtschaftliches oder rechtliches Interesse an einer Beschränkung der zeitlichen Wirkung, für die das Urteil über den konkreten Einzelfall hinaus von Bedeutung ist. Gleichwohl zeigen die auf der Feststellungslast beruhenden abweisenden Entscheidungen des EuGH, dass sich dieser nicht als verpflichtet ansieht, die notwendigen Tatsachen ohne Anlass zu erforschen.40 III. Wortlaut uneinheitlich und untechnisch Bestätigt wird dies von einem Blick auf den Wortlaut der „Anträge“, wie sie in den Urteilen, Schlussanträgen oder Sitzungsberichten wiedergegeben wurde. Da hier selten wortwörtlich zitiert wurde, lässt sich aus der Vielfalt der Formulierungen schließen, dass kein einheitlicher technischer Rechtsbegriff Foundation ./. Rat und Kommission, Slg. 2008, I-6351; EuG v. 3.7.2014 – Rs. T-181/13 Sharif University of Technology, ECLI:EU:T:2014:607. 37 Vgl. z.B. EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-239/01 Deutschland ./. Kommission, Slg. 2003, I-10333 Rn. 31 f. 38 Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995, S. 153; Dauses, FS Everling, 1995, S. 223, 240; Rainer, IStR 1996, 328, 329; Keppert, ÖStZ 1997, 165, 168; Vath, Die fremdenrechtlichen Regelungen des deutschen Urheberrechts und das EG-Diskriminierungsverbot nach der „Phil Collins-Entscheidung“ des Europäischen Gerichtshofes vom 20. Oktober 1993, 1998, S. 109 Fn. 530; Lang, IStR 2007, 235, 242; Koch, JbArbR 44 (2007), 91, 102; Sachs, Die Ex-officio-Prüfung durch die Gemeinschaftsgerichte, 2008, S. 100; Sagan, JJZ 2010, 67, 93 (freilich unter Analogie auf Art. 264 Abs. 2 AEUV); Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 78; Reich, EuZW 2010, 685, 686; wohl auch Hyland, IJEL 2 (1995), 208, 231 f. Aus der Rechtsprechung wohl EuGH v. 30.4.1996 – Rs. C-308/93 Cabanis-Issarte, Slg. 1996, I-2097. Ausdrücklich a.A. GA Léger, SchlA v. 20.6.1995 – Rs. C-5/94 Hedley Lomas, Slg. 1996, I-2553 Rn. 208; einschränkend in Bezug auf die Bereitschaft des EuGH, sich zur Rückwirkungsbeschränkung zu äußern, auch Winter, jurisPR-ArbR 8-2011, Anm. 6 sub C. 39 Sagan, JJZ 2010, 67, 94 f. Allgemein zu den Funktionen einer amtswegigen Prüfung im Unionsrecht Sachs, Die Ex-officio-Prüfung durch die Gemeinschaftsgerichte, 2008, S. 212 ff. 40 Lang, Limitation of Temporal Effects of CJEU Judgments, 2014, S. 245, 253.

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Teil 4: Prozessrechtliche Fragestellungen

vorliegt. Häufig wird zwar von „beantragen“41 oder „Antrag“42 gesprochen, verwendet wurden aber auch „vorschlagen“43, „mitteilen, dass man sich nicht widersetzen würde“44, „den Wunsch zum Ausdruck bringen“45, „ersuchen“46, „bitten“47, „die Möglichkeit ansprechen“48, „fordern“49, „anheimstellen“50, „geltend machen“51 oder „auf die Möglichkeit hinweisen“52. Diese Divergenz lässt sich in allen Verfahrensarten nachweisen und ist unabhängig vom Beteiligten, der die Frage der Rückwirkungsbeschränkung aufwirft. Die unterschiedlichen Ausdrücke werden vom Gerichtshof nicht in einen „Antrag“ umgedeutet und etwa in Anführungszeichen wiedergegeben.

41

EuGH v. 31.3.1992 – Rs. C-284/90 Rat ./. Parlament, Slg. 1992, I-2277 Rn. 34; EuGH v. 13.4.2010 – Rs. C-73/08 Bressol u.a., Slg. 2010, I-2735 Rn. 89; EuGH v. 29.7.2010 – Rs. C-577/08 Brouwer, Slg. 2010, I-7485 Rn. 32; EuGH v. 29.3.2012 – Rs. C-599/10 SAG ELV Slovensko u.a., ECLI:EU:C:2012:191 Rn. 46. 42 Z.B. EuGH v. 25.10.2012 – Rs. C-387/11 Kommission ./. Belgien, ECLI:EU: C:2012:670 Rn. 92; EuGH v. 13.12.2012 – Rs. C-465/11 Forposta und ABC Direct Contact, ECLI:EU:C:2012:801 Rn. 43. 43 EuGH v. 18.6.2002 – Rs. C-314/99 Niederlande ./. Kommission, Slg. 2002, I-5521 Rn. 31. 44 EuGH v. 12.5.1998 – Rs. C-106/96 Großbritannien und Nordirland ./. Kommission, Slg. 1998, I-2729 Rn. 39. 45 EuGH v. 12.5.1998 – Rs. C-106/96 Großbritannien und Nordirland ./. Kommission, Slg. 1998, I-2729 Rn. 39. 46 EuGH v. 3.10.1996 – Rs. C-126/95 Hallouzi-Choho, Slg. 1996, 1996, I-4807 Rn. 41; EuGH v. 7.11.1996 – Rs. C-126/94 Cadi Surgelés, Slg. 1996, I-5647 Rn. 31; EuGH v. 11.9.2003 – Rs. C-445/00 Österreich ./. Rat, Slg. 2003, I-8549 Rn. 102; EuGH v. 9.9.2004 – Rs. C-72/03 Carbonati Apuani, Slg. 2004, I-8027 Rn. 36; EuGH v. 19.2.2009 – Rs. C-138/07 Cobelfret, Slg. 2009, I-731 Rn. 66; EuGH v. 19.7.2012 – Rs. C-263/11 Rēdlihs, ECLI:EU:C:2012:497 Rn. 56; EuGH v. 13.12.2012 – Rs. C-465/11 Forposta und ABC Direct Contact, ECLI:EU:C:2012:801 Rn. 42. 47 GA Mengozzi, SchlA v. 12.9.2012 – Rs. C-395/11 BLV Wohn- und Gewerbebau, ECLI:EU:C:2012:564 Rn. 101. 48 EuGH v. 9.3.2000 – Rs. C-437/97 Evangelischer Krankenhausverein Wien u.a., Slg. 2000, I-1157 Rn. 55; EuGH v. 23.5.2000 – Rs. C-104/98 Buchner u.a., Slg. 2000, I-3625 Rn. 37; EuGH v. 6.3.2007 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Rn. 32; EuGH v. 21.10.2010 – Rs. C-242/09 Albron Catering, Slg. 2010, I-10309 Rn. 33. 49 GA Kokott, SchlA v. 11.11.2010 – Rs. C-379/09 Casteels, Slg. 2011, I-1379 Rn. 85. 50 SchlA des GA Lenz v. 29.6.1988 – Rs. 51/87 Kommission ./. Rat, Slg. 1988, 3459 Rn. 36. 51 EuGH v. 12.9.2000 – Rs. C-359/97 Kommission ./. Großbritannien und Nordirland, Slg. 2000, I-6355 Rn. 88 bzw. 96. 52 EuGH v. 17.5.1990 – Rs. C-262/88 Barber, Slg. 1990, I-1889 Rn. 40; EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, Slg. 1995, I-4921 Rn. 140; EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, Slg. 2001, I-9945 Rn. 49.

§ 11 Das Erfordernis eines „Antrags“

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IV. Verhältnis zum Streitgegenstand der Hauptsache Es liegt daher nahe, dass der Gerichtshof den „Antrag“ verfahrensübergreifend als „Anregung“ versteht. Das deckt sich mit Überlegungen zum Streitgegenstand der unionsgerichtlichen Verfahren. Die Entscheidung über die Rückwirkungsbeschränkung kann nämlich nicht von der Hauptsache abgelöst werden. Sie bleibt innerhalb der Reichweite der Anhängigkeit aufgrund der Hauptsache und stellt nur ein Anhängsel derselben dar. Da eine zeitliche Wirkung jeder Gerichtsentscheidung immanent ist und Abweichungen nur ausnahmsweise relevant werden, erscheint es treffend, die Entscheidung über eine Rückwirkungsbeschränkung als Annex zur Hauptsache anzusehen.53 Die Frage der Rückwirkungsbeschränkung wird daher automatisch aufgeworfen, wenn die Hauptsache anhängig gemacht wird; eines gesonderten Antrags bedarf es dafür nicht.54 V. Schlussfolgerungen Versteht sich der „Antrag“ lediglich als Hinweis auf die Rechtslage, die vorrangig objektive Ziele der Rechtssicherheit schützt, so lassen sich eine Reihe von Schlussfolgerungen ziehen. Zuerst steht es einer Rückwirkungsbeschränkung nicht entgegen, wenn Verfahrensbeteiligte die Anregung „zurücknehmen“ oder sonst nicht weiterverfolgen. Es kommt daher nicht – auch nicht ergänzend – darauf an, ob ein schriftlich gestellter Antrag in der mündlichen Verhandlung noch aufrechterhalten wird.55 Ebenso ist es unerheblich, ob andere Beteiligte einem Verlangen nach Rückwirkungsbeschränkung widersprechen oder nicht.56 Einen „Gegenantrag“ gibt es gleichfalls nicht, wohl aber die Möglichkeit, das Vorliegen der tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen in Frage zu stellen. Spiegelbildlich entbinden übereinstimmen53 So auch – in anderem Zusammenhang – Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 156. 54 So im Ergebnis auch Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 160 f. 55 Anders aber EuGH v. 27.4.2006 – Rs. C-423/04 Richards, Slg. 2006, I-3585 Rn. 43 und GA Jacobs, SchlA v. 15.12.2005 – Rs. C-423/04 Richards, Slg. 2006, I-3585 Rn. 61. 56 Vgl. aber EuGH v. 25.2.1999 – verb. Rs. C-164/97 und C-165/97 Parlament ./. Rat, Slg. 1999, I-1139 Rn. 21; GA Geelhoed, SchlA v. 3.10.2002 – Rs. C-378/00 Kommission ./. Parlament und Rat, Slg. 2003, I-937 Rn. 138; EuGH v. 1.10.2009 – Rs. C-370/07 Kommission ./. Rat, Slg. 2009, I-8917 Rn. 63; lediglich wiedergebend z.B. GA Fennelly, SchlA v. 16.3.2000 – verb. Rs. C-441/98 und C-442/98 Kapniki Michaïlidis, Slg. 2000, I-7145 Rn. 42 a.E.; GA Kokott, SchlA v. 22.9.2005 – Rs. C-217/04 Großbritannien und Nordirland ./. Parlament und Rat, Slg. 2006, I-3771 Rn. 47 a.E.; GA Mengozzi, SchlA v. 23.1.2014 – Rs. C-377/12 Kommission ./. Rat, ECLI:EU:C:2014:29 Rn. 78. Siehe auch oben § 6 C.II.6., S. 268 ff., wo die Übereinstimmung auf dem von allen Beteiligten gewollten materiellen Inhalt des Rechtsakts beruht.

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Teil 4: Prozessrechtliche Fragestellungen

de Anträge der Verfahrensbeteiligten auf Beschränkung der zeitlichen Wirkung den EuGH nicht von der Prüfung der Tatbestandsmerkmale und stehen einer Ablehnung nicht entgegen.57 Den Anregungen kommt freilich dennoch eine Funktion zu. Zum einen wird der Gerichtshof konkret auf die Möglichkeit der Rückwirkungsbeschränkung hingewiesen und die Frage im Prozess aufgeworfen und allen Verfahrensbeteiligten in Erinnerung gerufen, dass sie die erforderlichen Tatsachen vortragen müssen.58 Der EuGH hat dann außerdem die Möglichkeit, die mündliche Verhandlung gemäß Art. 83 EuGH-VerfO (Art. 61 VerfO a.F.)/ Art. 62 EuG-VerfO wieder zu eröffnen und den Beteiligten Fragen zur Sach- und Rechtslage zu stellen.59 Zum anderen lässt sich umgekehrt aus dem Fehlen einer Anregung mutmaßen, dass es an den rechtlichen oder tatsächlichen Voraussetzungen einer Rückwirkungsbeschränkung fehlt. B. Personelle Voraussetzungen Besondere personelle Voraussetzungen kennt der Antrag an den Gerichtshof nicht. Alle Verfahrensbeteiligten können eine Rückwirkungsbeschränkung anregen. Wer Beteiligter sein kann, richtet sich nach den jeweiligen Verfahrensvorschriften. I.

Beteiligte

In streitigen Verfahren können zuerst die Parteien auf eine Rückwirkungsbeschränkung hinwirken. Typischerweise dürfte dabei der Beklagte ein Interesse an der Beschränkung der Folgen der Rechtswidrigkeit eines von ihm erlassenen Rechtsakts oder des Verstoßes gegen geltendes Unionsrecht haben,60 57

Vgl. z.B. EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-239/01 Deutschland ./. Kommission, Slg. 2003, I-10333 Rn. 77 f. 58 In diese Richtung Koch, JbArbR 44 (2007), 91, 102. 59 Hyland, IJEL 2 (1995), 208, 232. Dies geschah beispielsweise in EuGH v. 3.10.2006 – Rs. C-475/03 Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373 und EuGH v. 6.3.2007 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835. Abgelehnt wurde ein solches Vorgehen in der Rs. C-446/04, vgl. EuGH v. 12.12.2013 – Rs. C-362/12 Test Claimants in the FII Group Litigation, ECLI:EU:C:2013:834 Rn. 15; vgl. ebenso EuGH v. 4.9.2014 – Rs. C-162/13 Vnuk ./. Triglav, ECLI:EU:C:2014:2146 Rn. 26; EuGH v. 11.9.2014 – verb. Rs. C-204/12 bis C-208/12 Essent Belgium, ECLI:EU:C:2014:2192 Rn. 44. 60 EuGH v. 27.11.1984 – Rs. 232/81 Agricola Commerciale Olio, Slg. 1984, 3881 Rn. 20; EuGH v. 1.6.1994 – Rs. C-388/92 Parlament ./. Rat, Slg. 1994, I-2067 Rn. 20. Ebenso EuGH v. 5.7.1995 – Rs. C-21/94 Parlament ./. Rat, Slg. 1995, I-1827 Rn. 29; EuGH v. 10.6.1997 – Rs. C-392/95 Parlament ./. Rat, Slg. 1997, I-3213 Rn. 25; EuGH v. 11.9.2003 – Rs. C-445/00 Österreich ./. Rat, Slg. 2003, I-8549 Rn. 102; EuGH v. 21.11.2006 – Rs. C-413/04 Parlament ./. Rat, Slg. 2006, I-11221 Rn. 89; EuGH v. 28.11.2006 – Rs. C-414/04 Parlament ./. Rat, Slg. 2006, I-11279 Rn. 56; EuGH v. 1.4.2008 – verb. Rs. C-14/06 und C-295/06 Parlament und Dänemark ./. Kommission, Slg.

§ 11 Das Erfordernis eines „Antrags“

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denn dann obsiegt er insoweit gleichsam mit seinem Klageabweisungsantrag. Möglich ist ebenso ein Antrag durch den Kläger61 oder beide62. Der Kläger verhält sich dabei nicht widersprüchlich zu seinem Hauptantrag, selbst wenn er die vollständige Aufrechterhaltung des von ihm angegriffenen Rechtsakts begehrt.63 Seinen eigenen Interessen kann nämlich schon die Feststellung der Rechtswidrigkeit genügen. Zudem dient die Rückwirkungsbeschränkung meist überindividuellen Interessen der Allgemeinheit. Neben Kläger und Beklagten können Streithelfer eine Beschränkung der zeitlichen Wirkung anregen. Gemäß Art. 40 Abs. 1 und 2 EuGH-Satzung können alle Mitgliedstaaten und Unionsorgane einem Rechtsstreit beitreten, bei berechtigtem Interesse auch andere Personen. Art. 40 Abs. 4 EuGHSatzung findet auf die Anregung der Rückwirkungsbeschränkung keine Anwendung, da diese kein Antrag in diesem Sinne ist.64 Daher können zugelassene Streithelfer eine Rückwirkungsbeschränkung auch ohne oder gegen den Willen der unterstützten Partei anstreben. Bei den Vorlagen nach Art. 267 Abs. 1 AEUV handelt es sich nicht um streitige Verfahren, weshalb es an Parteien oder Streithelfern fehlt.65 Eine 2008, I-1649 Rn. 82; EuGH v. 24.9.1998 – Rs. C-35/97 Kommission ./. Frankreich, Slg. 1998, I- 5325 Rn. 47; EuGH v. 19.3.2002 – Rs. C-426/98 Kommission ./. Griechenland, Slg. 2002, I-2793 Rn. 40; EuGH v. 6.10.2005 – Rs. C-204/03 Kommission ./. Spanien, Slg. 2005, I-8389 Rn. 29; EuGH v. 29.9.2011 – Rs. C-82/10 Kommission ./. Irland, Slg. 2011, I-140 (abgekürzte Veröffentlichung) Rn. 60. 61 Vgl. GA Lenz, SchlA v. 29.6.1988 – Rs. 51/87 Kommission ./. Rat, Slg. 1988, 3459 Rn. 36; EuGH v. 31.3.1992 – Rs. C-284/90 Rat ./. Parlament, Slg. 1992, I-2277 Rn. 34; EuGH v. 12.5.1998 – Rs. C-106/96 Großbritannien und Nordirland ./. Kommission, Slg. 1998, I-2729 Rn. 39; EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-93/00 Parlament ./. Rat, Slg. 2001, I-10119 Rn. 47; EuGH v. 18.6.2002 – Rs. C-314/99 Niederlande ./. Kommission, Slg. 2002, I-5521 Rn. 31; EuGH v. 10.1.2006 – Rs. C-178/03 Kommission ./. Parlament und Rat, Slg. 2006, I-107 Rn. 61; EuGH v. 2.5.2006 – Rs. C-436/03 Parlament ./. Rat, Slg. 2006, I-3733 Rn. 15; EuGH v. 6.11.2008 – Rs. C-155/07 Parlament ./. Rat, Slg. 2008, I-8103 Rn. 86; GA Kokott, SchlA v. 26.3.2009 – Rs. C-13/07 Kommission ./. Rat, ECLI:EU:C:2009:190 Rn. 26; EuGH v. 5.9.2012 – Rs. C-355/10 Parlament ./. Rat, ECLI:EU:C:2012:516 Rn. 86; EuGH v. 17.9.2013 – Rs. C-77/11 Rat ./. Parlament, ECLI:EU:C:2013:559 Rn. 31; EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-431/11 Großbritannien und Nordirland ./. Rat, ECLI:EU:C:2013:589 Rn. 21. 62 EuGH v. 11.9.2003 – Rs. C-211/01 Kommission ./. Rat, Slg. 2003, I-8913 Rn. 54; EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-239/01 Deutschland ./. Kommission, Slg. 2003, I-10333 Rn. 77; EuGH v. 18.3.2014 – Rs. C-427/12 Kommission ./. Parlament und Rat, ECLI:EU: C:2014:170 Rn. 10 ff. 63 EuGH v. 31.3.1992 – Rs. C-284/90 Rat ./. Parlament, Slg. 1992, I-2277 Rn. 35 f. 64 GA La Pergola, SchlA v. 23.9.1997 – Rs. C-22/96 Parlament ./. Rat, Slg. 1998, I-3231 Fn. 25; vgl. auch EuGH v. 28.5.1998 – Rs. C-22/96 Parlament ./. Rat, Slg. 1998, I-3231 Rn. 40 ff. 65 EuGH v. 5.3.1986 – Rs. 69/85 Wünsche, Slg. 1986, 947 Rn. 14; Lenaerts/Arts/Masels/Bray, Procedural Law of the European Union, 2. Aufl. 2006, Rn. 6-031.

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Teil 4: Prozessrechtliche Fragestellungen

Rückwirkungsbeschränkung kann von jedem angeregt werden, der gemäß Art. 23 Abs. 2 EuGH-Satzung Schriftsätze einreichen oder schriftliche Erklärungen abgeben kann. Das sind die Parteien des Ausgangsrechtsstreits, sämtliche Mitgliedstaaten und die Kommission sowie die Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union, von denen die Handlung ausgegangen ist, deren Gültigkeit oder Auslegung im Streit steht. Alle Genannten haben hier die gleiche Stellung, weshalb auch ihre schriftlichen Äußerungen formal die gleich Bedeutung haben. In der Praxis überwiegen freilich Anregungen durch die wirtschaftlich besonders betroffenen Mitgliedstaaten66 gegenüber denen durch andere Beteiligte67. 66 Z.B. EuGH v. 31.3.1992 – Rs. C-200/90 Dansk Denkavit und Poulsen Trading, Slg. 1992, I-2217 Rn. 20; EuGH v. 16.7.1992 – Rs. C-163/90 Legros u.a., Slg. 1992, I-4625 Rn. 28; EuGH v. 14.9.1995 – verb. Rs. C-485/93 und C-486/93 Simitzi, Slg. 1995, I-2655 Rn. 29; EuGH v. 13.2.1996 – verb. Rs. C-197/94 und C-252/94 Bautiaa u.a., Slg. 1996, I-505 Rn. 44; EuGH v. 5.3.1996 – verb. Rs. C-46/93 und C-48/93 Brasserie du Pêcheur und Factortame, Slg. 1996, I-1029 Rn. 97; EuGH v. 7.11.1996 – Rs. C-126/94 Cadi Surgelés, Slg. 1996, I-5647 Rn. 31; EuGH v. 3.7.1997 – Rs. C-330/95 Goldsmiths, Slg. 1997, I-3801 Rn. 27; EuGH v. 9.3.2000 – Rs. C-437/97 Evangelischer Krankenhausverein Wien u.a., Slg. 2000, I-1157 Rn. 55; EuGH v. 23.5.2000 – Rs. C-104/98 Buchner u.a., Slg. 2000, I-3625 Rn. 37; EuGH v. 19.9.2000 – verb. Rs. C-177/99 und C-181/99 Ampafrance und Sanofi, Slg. 2000, I-7013 Rn. 64; EuGH v. 20.9.2001 – Rs. C-184/99 Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193 Rn. 48; EuGH v. 4.10.2001 – Rs. C-294/99 Athinaïki Zythopoiia AE, Slg. 2001, I-6797 Rn. 34; EuGH v. 29.11.2001 – Rs. C-366/99 Griesmar, Slg. 2001, I-9383 Rn. 70; EuGH v. 3.10.2002 – Rs. C-347/00 Barreira Pérez, Slg. 2002, I-8191 Rn. 43; EuGH v. 17.2.2005 – verb. Rs. C-453/02 und C-462/02 Linneweber und Akritidis, Slg. 2005, I-1131 Rn. 39; EuGH v. 15.3.2005 – Rs. C-209/03 Bidar, Slg. 2005, I-2119 Rn. 65; EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-161/06 Skoma-Lux, Slg. 2007, I-10841 Rn. 63, 65; EuGH v. 30.3.2006 – Rs. C-184/04 Uudenkaupungin kaupunki, Slg. 2006, I-3039 Rn. 52; EuGH v. 14.9.2006 – Rs. C-228/05 Stradasfalti, Slg. 2006, I-8391 Rn. 70; EuGH v. 12.12.2006 – Rs. C-446/04 Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753 Rn. 221; EuGH v. 18.1.2007 – Rs. C-313/05 Brzezinski, Slg. 2007, I-513 Rn. 54; EuGH v. 13.3.2007 – Rs. C-524/04 Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, Slg. 2007, I-2107 Rn. 129; EuGH v. 10.3.2009 – Rs. C-345/06 Heinrich, Slg. 2009, I-1659 Rn. 64; EuGH v. 5.10.2006 – verb. Rs. C-290/05 und C-333/05 Nádasdi und Németh, Slg. 2006, I-10115 Rn. 61; EuGH v. 3.6.2010 – Rs. C-2/09 Kalinchev, Slg. 2010, I-4939 Rn. 48; EuGH v. 29.7.2010 – Rs. C-577/08 Brouwer, Slg. 2010, I-7485 Rn. 32; EuGH v. 7.7.2011 – Rs. C-263/10 Nisipeanu, Slg. 2011, I-97 Rn. 31 (abgekürzte Veröffentlichung); EuGH v. 10.5.2012 – verb. Rs. C-338/11 bis C-347/11 Santander Asset Management u.a., ECLI:EU:C:2012:286 Rn. 56; EuGH v. 18.10.2012 – Rs. C-525/11 Mednis, ECLI:EU:C:2012:652 Rn. 39; EuGH v. 10.4.2014 – Rs. C-190/12 Emerging Markets Series of DFA, ECLI:EU:C:2014:249 Rn. 106; GA Villalón, SchlA v. 11.6.2013 – verb. Rs. C-618/11, C-637/11 und C-659/11 TVI, ECLI:EU:C:2013:382 Rn. 8 i.V.m. Fn. 8. 67 Z.B. EuGH v. 11.3.1981 – Rs. 69/80 Worringham, Slg. 1981, 767 Rn. 29; EuGH v. 17.5.1990 – Rs. C-262/88 Barber, Slg. 1990, I-1889 Rn. 40; EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, Slg. 1995, I-4921 Rn. 140; EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-463/98 Cabletron Systems, Slg. 2001, I-3495 Rn. 26; EuGH v. 8.11.2001 – Rs. C-228/99 Silos e

§ 11 Das Erfordernis eines „Antrags“

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Eine Sonderstellung nehmen die nationalen Vorlagegerichte ein. Sie gehören nicht zu den Verfahrensbeteiligten und können deshalb nicht in das laufende EuGH-Verfahren einbezogen werden.68 Das mitgliedstaatliche Gericht kann mit einer konkreten Frage nach der zeitlichen Wirkung den Fokus auf dieses Problem lenken.69 Das Vorlagerecht nach Art. 267 Abs. 2 AEUV erfasst auch die zeitliche Wirkung der Auslegung oder Ungültigerklärung, da auszulegende bzw. anzuwendende Maßstäbe das Prinzip der Rechtssicherheit und Art. 264 Abs. 2 AEUV sind.70 In der Vorlagebegründung hat das Vorlagegericht darüber hinaus die Möglichkeit, seine Sicht auf die Tatsachen- und Rechtsfragen zu erläutern. Die relative Zurückhaltung der Gerichte dürfte ihren Grund zum einen darin haben, dass das vorlegende Gericht sich vor allem für den Ausgangsrechtsstreit interessiert.71 Zum anderen ist es regelmäßig außerstande, die notwendigen Tatsachen beizubringen. Demgegenüber ist die zeitliche Wirkung eine Frage der objektiven Geltung des Unionsrechts und daher durchaus im richtig verstandenen Interesse der vorlegenden Gerichte zur Bearbeitung des aktuellen oder späterer Fälle.72 Mangimi Martini, Slg. 2001, I-8401 Rn. 35; EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, Slg. 2001, I-9945 Rn. 49; EuGH v. 9.9.2004 – Rs. C-72/03 Carbonati Apuani, Slg. 2004, I-8027 Rn. 36; EuGH v. 10.1.2006 – Rs. C-402/03 Skov und Bilka, Slg. 2006, I-199 Rn. 49; EuGH v. 21.10.2010 – Rs. C-242/09 Albron Catering, Slg. 2010, I-10309 Rn. 33; EuGH v. 19.12.2013 – Rs. C-209/12 Endress, ECLI:EU:C:2013:864 Rn. 33. 68 Dauses, FS Everling, 1995, S. 223, 240 fordert dennoch mehr judiziellen Dialog zwischen Gerichtshof und Vorlagegerichten. 69 Z.B. EuGH v. 27.3.1980 – verb. Rs. 66/79, 127/79 und 128/79 Salumi u.a., Slg. 1980, 1237 Rn. 2; EuGH v. 2.2.1988 – Rs. 24/86 Blaizot u.a., Slg. 1988, 379 Rn. 7 und 9; EuGH v. 17.5.1990 – Rs. C-66/89 Powerex-Europe, Slg. 1990, I-1959 Rn. 5; EuGH v. 6.10.1993 – Rs. C-109/91 Ten Oever, Slg. 1993, I-4879 Rn. 5; EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-7/93 Beune, Slg. 1994, I-4471 Rn. 14; EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-57/93 Vroege, Slg. 1994, I-4541 Rn. 10; EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-128/93 Fisscher, Slg. 1994, I-4583 Rn. 7; EuGH v. 11.8.1995 – verb. Rs. C-367/93 bis C-377/93 Roders B.V. u.a., Slg. 1995, I-2229 Rn. 11; EuGH v. 19.10.1995 – Rs. C-137/94 Richardson, Slg. 1995, I-3407 Rn. 5; EuGH v. 15.3.2005 – Rs. C-209/03 Bidar, Slg. 2005, I-2119 Rn. 27; EuGH v. 27.4.2006 – Rs. C-423/04 Richards, Slg. 2006, I-3585 Rn. 19; EuGH v. 1.4.2008 – Rs. C-267/06 Maruko, Slg. 2008, I-1757 Rn. 33; EuGH v. 23.10.2012 – verb. Rs. C-581/10 und C-629/10 Nelson u.a., ECLI:EU:C:2012:657 Rn. 26; EuGH v. 25.10.2012 – Rs. C-553/11 Rintisch, ECLI:EU:C:2012:671 Rn. 13, 34. 70 A.A. Lang, IStR 2007, 235, 241, der davon ausgeht, es liege keine Auslegung von Unionsrecht, sondern eine gesetzgebergleiche Betätigung durch den Gerichtshof vor; ihm folgend Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 157. 71 Sachs, Die Ex-officio-Prüfung durch die Gemeinschaftsgerichte, 2008, S. 100; Zurückhaltung konstatiert auch Egger, öAnwBl 2001, 528, 529. 72 Ähnlich Heß, ZZP 108 (1995), 59, 70 f., der die nationalen Gerichte zu mehr Beteiligung auffordert; a.A. Lang, IStR 2007, 235, 242; Lang, Intertax 35 (2007), 230, 242; auch Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 158 unter Berufung auf die fehlende Entscheidungserheb-

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Teil 4: Prozessrechtliche Fragestellungen

II. Keine „Antragsbefugnis“ Die Anregung einer Rückwirkungsbeschränkung setzt keine besondere Betroffenheit des Beteiligten im Sinne einer „Antragsbefugnis“ voraus. Das ist eine zwingende Kehrseite von Tatbestand und Rechtsfolgen der Rückwirkungsbeschränkung. Bei den Unwirksamkeitsentscheidungen sind vor allem öffentliche Interessen einschlägig und betrifft die Aufhebung der rechtswidrigen Norm regelmäßig das gesamte Unionsrecht.73 Gleiches gilt für die Auslegungsentscheidungen: Zum einen bestimmt sich der gute Glaube nach einem unionsrechtsbezogenen und unionsweit einheitlichen Maßstab. Zum anderen sind die schweren wirtschaftlichen Auswirkungen mit Blick auf den gesamten Anwendungsbereich der fraglichen Vorschrift zu ermitteln. Als Folge daraus wirkt sich die zeitliche Beschränkung rechtlich auf alle Mitgliedstaaten in gleicher Weise aus. Eine territorial unterschiedliche Geltung des Unionsrechts soll gerade vermieden werden. Das gilt erst recht, wenn man mit dem Gerichtshof die Nachholbarkeit der Rückwirkungsbeschränkung pauschal ablehnt. Es wäre widersinnig, den Mitgliedstaaten einerseits vorzuwerfen, sie hätten eine Rückwirkungsbeschränkung nicht schon in einem früheren Verfahren zu einem ähnlichen Sachverhalt beantragt, jedoch dort nur Anregungen des Mitgliedstaats, aus dem die Vorlage stammt, zuzulassen.74 C. Hilfsantrag und inhaltliche Grenzen I.

Bedingung/Hilfsantrag

Die Anregung, die zeitliche Wirkung zu begrenzen, kann bedingt erfolgen für den Fall, dass der Gerichtshof in der Hauptsache zu einem bestimmten Ergebnis gekommen oder nicht gekommen ist.75 Zumeist dürfte der Eintritt lichkeit aufgrund der personellen Rückausnahme, die jedoch vorher nicht immer absehbar ist. 73 Vgl. Daig, Nichtigkeits- und Untätigkeitsklagen im Recht der Europäischen Gemeinschaften, 1985, S. 198. 74 So aber EuGH v. 10.5.2011 – Rs. C-147/08 Römer, Slg. 2011, I-3591 Rn. 66 (zumindest begrifflich); GA Jääskinen, SchlA v. 15.7.2010 – Rs. C-147/08 Römer, Slg. 2011, I-3591 Rn. 159; GA Sharpston, SchlA v. 13.7.2006 – Rs. C-290/05 Nádasdi, Slg. 2006, I-10115 Rn. 81 (ihr zustimmend Domahidi, EuZW 2007, 127, 128); GA Tesauro, SchlA v. 14.5.1996 – Rs. C-126/95 Hallouzi-Choho, Slg. 1996, I-4807 Rn. 17; im Grundsatz wie hier wohl GA Kokott, SchlA v. 15.2.2007 – Rs. C-178/05 Kommission ./. Griechenland, Slg. 2007, I-4185 Rn. 86. 75 Z.B. EuGH v. 23.11.1999 – Rs. C-89/96 Portugal ./. Kommission, Slg. 1999, I-8377 Rn. 15; EuGH v. 12.10.2000 – Rs. C-372/98 Cooke, Slg. 2000, I-8683 Rn. 39; EuGH v. 20.9.2001 – Rs. C-184/99 Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193 Rn. 48; EuGH v. 4.10.2001 – Rs. C-294/99 Athinaïki Zythopoiia AE, Slg. 2001, I-6797 Rn. 34; EuGH v. 5.10.2006 – verb. Rs. C-290/05 und C-333/05 Nádasdi und Németh, Slg. 2006, I-10115 Rn. 61; EuGH v. 19.12.2013 – Rs. C-209/12 Endress, ECLI:EU:C:2013:864 Rn. 33.

§ 11 Das Erfordernis eines „Antrags“

415

eines für den Antragsteller nachteiligen Ereignisses bedungen sein, jedoch ist das nicht zwingend. Ob die Bedingung eingetreten ist, beurteilt sich nicht allein nach dem Wortlaut des Antrags. Dieser ist wegen seines nichtzwingenden Charakters besonders auslegungsfähig. Maßgeblich ist die erkennbare Interessenlage des anregenden Beteiligten. Zu Recht diskutierte der Gerichtshof daher eine Rückwirkungsbeschränkung, die für den Fall der vollständigen oder teilweisen Ungültigerklärung des Rechtsakts beantragt war, auch als dieser „nur“ für partiell unanwendbar erklärt wurde.76 Spiegelbildlich kann das Interesse an einer Rückwirkungsbeschränkung entfallen sein, wenn zwar nicht – wie beantragt – der gesamte Rechtsakt, aber eine einzelne Vorschrift für nichtig erklärt wurde und es den Beteiligten gerade auf diese ankam.77 Ebenso besteht keine Notwendigkeit für eine Fortwirkungsanordnung, wenn sich die Nichtigkeit nur auf die Bezeichnung der Rechtsgrundlagen erstreckt und den Rechtsakt im übrigen unberührt lässt.78 Hingegen verfährt der Gerichtshof zu begrifflich und verdeckt seine eigentlichen Wertungen, wenn eine Beschränkung der zeitlichen Reichweite abgelehnt wird, weil diese für den Fall der „Abweichung“ von den bisherigen Rechtsprechungsgrundsätzen angeregt wurde und der Gerichtshof meint, im Urteil nur eine „Klarstellung der Rechtsprechung auf diesem Gebiet“ vorgenommen zu haben.79 II. Inhaltliche Begrenzung In gleicher Weise möglich sind inhaltliche Begrenzungen des Antrags. Die angestrebte Rückwirkungsbeschränkung wird dabei im Hinblick auf bestimmte Rechtsfolgen konkretisiert. Die Beteiligten können gezielt auf die oben (§ 7 B., S. 313 ff.) erläuterten Differenzierungen in der Rechtsfolgenanordnung hinwirken. Die gewünschte Unterscheidung kann sich insbesondere auf die personelle Rückausnahme beziehen.80 Der Gerichtshof ist daran freilich nicht gebunden, er kann auch darüber hinausgehen.81 Dadurch verletzt der Gerichtshof nicht den Grundsatz des ne ultra petita, da dieser einen formellen Antrag voraussetzt.82 Eine inhaltliche Begrenzung macht aber deutlich, wel76

EuGH v. 10.3.2009 – Rs. C-345/06 Heinrich, Slg. 2009, I-1659 Rn. 65 ff. EuGH v. 28.11.2006 – Rs. C-413/04 Parlament ./. Rat, Slg. 2006, I-11221 Rn. 91 f. 78 So ist wohl EuGH v. 11.6.2014 – Rs. C-377/12 Kommission ./. Rat, ECLI:EU:C:2014:1903 Rn. 61 f. zu verstehen. Dort hatten die Klägerin, der Beklagte und der Generalanwalt sämtlich noch für eine Rückwirkungsbeschränkung votiert. 79 EuGH v. 3.10.2006 – Rs. C-17/05 Cadman, Slg. 2006, I-9583 Rn. 42 f. 80 Vgl. EuGH v. 12.12.2006 – Rs. C-446/04 Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753 Rn. 221; EuGH v. 13.3.2007 – Rs. C-524/04 Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, Slg. 2007, I-2107 Rn. 129. 81 Vgl. EuGH v. 31.3.1992 – Rs. C-284/90 Rat ./. Parlament, Slg. 1992, I-2277 Rn. 36. 82 Daig, Nichtigkeits- und Untätigkeitsklagen im Recht der Europäischen Gemeinschaften, 1985, S. 199. 77

416

Teil 4: Prozessrechtliche Fragestellungen

che Konstellationen von den Verfahrensbeteiligten als besonders bedenkenswert angesehen werden. Erfolgreich kann eine solche Anregung nur sein, wenn die aufrechtzuerhaltenden Regelungen auch inhaltlich trennbar sind. Insoweit können bei einer rechtswidrigen Festsetzung von Ankaufspreisen jene mit den Zahlungsfristen eine Einheit bilden.83 D. Formelle Anforderungen Der „Antrag“ unterliegt keinen besonderen Bestimmungen hinsichtlich seiner Form oder dem Zeitpunkt, in dem er spätestens gestellt worden sein muss.84 Es gelten die allgemeinen Grundsätze für Vorbringen der Beteiligten in unionsgerichtlichen Verfahren. Der Antrag kann schon mit der Klageschrift85 oder Klageerwiderung86 oder erst in der mündlichen Verhandlung87 gestellt werden. Selbst wenn die Frage erst am Schluss der mündlichen Verhandlung aufgeworfen wird, unterliegt sie grundsätzlich keinen Verspätungsvorschriften.88 Da der EuGH auch von Amts wegen über die Rückwirkungsbeschränkung entscheiden kann, stellt ein entsprechender Hinweis kein Angriffs- oder Verteidigungsmittel im Sinne von Art. 127 EuGH-VerfO (Art. 42 EuGH-

83

EuGH v. 27.11.1984 – Rs. 232/81 Agricola Commerciale Olio, Slg. 1984, 3881 Rn. 20 f.; EuGH v. 27.11.1984 – Rs. 264/81 Savma, Slg. 1984, 3915 Rn. 20 f.; siehe auch EuGH v. 29.7.2010 – Rs. C-577/08 Brouwer, Slg. 2010, I-7485 Rn. 23. 84 A.A. offenbar GA Wathelet, SchlA v. 10.12.2013 – Rs. C-288/12 Kommission ./. Ungarn, ECLI:EU:C:2013:816 Rn. 87, der eine „formell ordnungsgemäße Formulierung“ verlangt. 85 EuGH v. 31.3.1992 – Rs. C-284/90 Rat ./. Parlament, Slg. 1992, I-2277 Rn. 34. 86 EuGH v. 1.6.1994 – Rs. C-388/92 Parlament ./. Rat, Slg. 1994, I-2067 Rn. 20. Ebenso EuGH v. 5.7.1995 – Rs. C-21/94 Parlament ./. Rat, Slg. 1995, I-1827 Rn. 29; EuGH v. 10.6.1997 – Rs. C-392/95 Parlament ./. Rat, Slg. 1997, I-3213 Rn. 25. 87 EuGH v. 19.3.2002 – Rs. C-426/98 Kommission ./. Griechenland, Slg. 2002, I-2793 Rn. 40; EuGH v. 14.9.1995 – verb. Rs. C-485/93 und C-486/93 Simitzi, Slg. 1995, I-2655 Rn. 29; EuGH v. 19.9.2000 – verb. Rs. C-177/99 und C-181/99 Ampafrance und Sanofi, Slg. 2000, I-7013 Rn. 64; EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-463/98 Cabletron Systems, Slg. 2001, I-3495 Rn. 26 i.V.m. GA Jacobs, SchlA v. 1.2.2001 – Rs. C-463/98 Cabletron Systems, Slg. 2001, I-3495 Rn. 111; EuGH v. 4.10.2001 – Rs. C-294/99 Athinaïki Zythopoiia AE, Slg. 2001, I-6797 Rn. 34; EuGH v. 29.11.2001 – Rs. C-366/99 Griesmar, Slg. 2001, I-9383 Rn. 70; EuGH v. 13.2.1996 – verb. Rs. C-197/94 und C-252/94 Bautiaa u.a., Slg. 1996, I-505 Rn. 44; EuGH v. 3.7.1997 – Rs. C-330/95 Goldsmiths, Slg. 1997, I-3801 Rn. 27; EuGH v. 24.9.1998 – Rs. C-35/97 Kommission ./. Frankreich, Slg. 1998, I- 5325 Rn. 47; EuGH v. 12.12.2006 – Rs. C-446/04 Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753 Rn. 221; EuGH v. 13.3.2007 – Rs. C-524/04 Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, Slg. 2007, I-2107 Rn. 129; EuGH v. 13.12.2012 – Rs. C-465/11 Forposta und ABC Direct Contact, ECLI:EU:C:2012:801 Rn. 42. 88 Vgl. EuGH v. 19.3.2002 – Rs. C-426/98 Kommission ./. Griechenland, Slg. 2002, I-2793 Rn. 40 ff. im Gegensatz zu GA Stix-Hackl, SchlA v. 7.6.2001 – Rs. C-426/98 Kommission ./. Griechenland, Slg. 2002, I-2793 Rn. 55 ff.

§ 12 Darlegung und Beweis der Tatbestandsvoraussetzungen

417

VerfO a.F.)/Art. 48 EuG-VerfO dar.89 Außerdem kann der Gerichtshof gemäß Art. 83 EuGH-VerfO (Art. 61 EuGH-VerfO a.F.)/Art. 62 EuG-VerfO die mündliche Verhandlung noch nach ihrem Abschluss neu eröffnen und so Gelegenheit zur Erörterung von Sach- und Rechtsfragen geben.90

§ 12 Darlegung und Beweis der Tatbestandsvoraussetzungen An den unverbindlichen Charakter des „Antrags“ knüpft sich die Frage nach Darlegung und Beweis der Tatbestandsvoraussetzungen der Rückwirkungsbeschränkung an. Der Gerichtshof hat in einer Vielzahl von Entscheidungen eine Beschränkung der zeitlichen Wirkungen mit einem Hinweis darauf abgelehnt, dass die Voraussetzungen nicht ausreichend dargelegt oder bewiesen worden seien.91 Dazu ist klarzustellen, dass es eine Beweislast im engen Sinne für die Rückwirkungsbeschränkung nicht geben kann (B.). Anschließend werden die Anforderungen an die Darlegung konkretisiert (C.). Vorab sind die Grundsätze der Beweisführung im Unionsprozess knapp darzustellen (A.). A. Allgemeine Grundsätze zur Beweisführung im Unionsprozess In den unionsgerichtlichen Verfahren gelten der Untersuchungs- und der Verhandlungsgrundsatz nebeneinander. Dennoch stellen sich auch hier Fragen der subjektiven und objektiven Darlegungs- und Beweislast.92 Nach welchen Grundsätzen die Beweislast verteilt wird, ist umstritten. Da es an ausdrücklichen Stellungnahmen des Gerichtshofs fehlt, wird teilweise auf die Parteirolle, teilweise auf die materielle Rechtslage abgestellt.93 Trotz der Kompetenz zur amtswegigen Sachverhaltsermittlung urteilt der Gerichtshof

89

EuGH v. 1.4.2008 – verb. Rs. C-14/06 und C-295/06 Parlament und Dänemark ./. Kommission, Slg. 2008, I-1649 Rn. 85. Anders noch GA Stix-Hackl, SchlA v. 7.6.2001 – Rs. C-426/98 Kommission ./. Griechenland, Slg. 2002, I-2793 Rn. 57 f.; GA Geelhoed, SchlA v. 6.4.2006 – Rs. C-446/04 Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753 Rn. 143 f.; wohl auch GA Stix-Hackl, SchlA v. 5.10.2006 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Rn. 35; Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 77 Fn. 287. 90 Vgl. die Nachweise in § 11 Fn. 59. 91 Siehe die Nachweise oben § 6 Fn. 603 f. Ausgewählte Urteile werden wiedergegeben bei Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 76 f. 92 Rengeling/Middeke/Gellermann-Andová, EU-Rechtsschutz, 3. Aufl. 2014, § 24 Rn. 7. 93 Rengeling/Middeke/Gellermann-Andová, EU-Rechtsschutz, 3. Aufl. 2014, § 24 Rn. 8; Baumhof, Die Beweislast im Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof, 1996, S. 44 ff.; jeweils m.N.

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Teil 4: Prozessrechtliche Fragestellungen

zumeist auf Basis der von den Beteiligten gelieferten Tatsachen.94 Unsubstantiiertes Vorbringen löst regelmäßig auch keine eigenen Ermittlungen des EuGH aus.95 In streitigen Verfahren kann der Gerichtshof nach Art. 63 ff. EuGH-VerfO (Art. 45 ff. EuGH-VerfO a.F.)/Art. 65 ff. EuG-VerfO Beweise erheben und prozessleitende Anordnungen treffen. Diese Vorschriften finden gemäß Art. 101 Abs. 1 EuGH-VerfO im Grundsatz auch auf das Vorabentscheidungsverfahren Anwendung.96 Darüber hinaus kann der Gerichtshof gemäß Art. 24 Abs. 2 EuGH-Satzung von den Mitgliedstaaten und den Organen, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union, die nicht Parteien in einem Rechtsstreit sind, alle Auskünfte verlangen, die er zur Regelung dieses Rechtsstreits für erforderlich erachtet sowie gemäß Art. 61 EuGH-VerfO die in Art. 23 EuGH-Satzung bezeichneten Beteiligten zur schriftlichen Beantwortung bestimmter Fragen innerhalb der von ihm gesetzten Frist oder zu deren Beantwortung in der mündlichen Verhandlung auffordern. Das ist besonders sinnvoll, da die nationalen Gerichte die Auswirkungen von Unionsrecht auf andere Mitgliedstaaten üblicherweise nicht abschätzen können.97 Möglich ist dennoch ebenso, das vorlegende Gericht gemäß Art. 101 EuGHVerfO (Art. 104 § 5 EuGH-VerfO a.F.) um Klarstellungen zu ersuchen. B. Grundsätze bei Rückwirkungsbeschränkungen Die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den Auslegungsvorabentscheidungen wird gemeinhin so verstanden, dass sie dem „Antragsteller“ die Beweislast für die Voraussetzungen der Rückwirkungsbeschränkung auferlegt.98 Dies ist aus mehreren Gründen ungenau und verleitet so zu fehlerhaften Schlüssen.

94 Rengeling/Middeke/Gellermann-Andová, EU-Rechtsschutz, 3. Aufl. 2014, § 24 Rn. 7 m.w.N. 95 Rengeling/Middeke/Gellermann-Andová, EU-Rechtsschutz, 3. Aufl. 2014, § 24 Rn. 7. 96 Anders noch auf Grundlage von Art. 103 § 1 EuGH-VerfO a.F. Wägenbaur, EuGH VerfO, 2008, Art. 45 VerfO EuGH Rn. 1. 97 Anderson/Demetriou, References to the European Court, 2. Aufl. 2002, Rn. 3-093. 98 Ausdrücklich GA Stix-Hackl, SchlA v. 5.10.2006 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Rn. 29 ff.; ihr folgend Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 75 ff.; auch Grabitz/Hilf/Nettesheim-Karpenstein, Das Recht der Europäischen Union, 51. EL 2013, Art. 267 AEUV Rn. 114; Müller, Die Begrenzung der zeitlichen Wirkungen von EuGH-Entscheidungen, 2009, S. 99; Lenaerts/Maselis/Gutman, EU Procedural Law, 2014, 6.34 (S. 248).

§ 12 Darlegung und Beweis der Tatbestandsvoraussetzungen

419

Feststellungslast

I.

Zuerst existiert eine subjektive Beweislast für die Rückwirkungsentscheidung nicht. Mit dem Charakter der zeitlichen Wirkungen ließe sich eine Entscheidung nach der Beweisführungslast nicht vereinbaren. Die Rückwirkungsentscheidung dient nämlich insbesondere dazu, die Reichweite der ausgelegten Norm auf andere als den vorliegenden Einzelfall zu bestimmen. Sie ist also eine objektive Rechtsprüfung im Interesse der Allgemeinheit, die deutlich von den Besonderheiten des Einzelfalls abgelöst ist. Diese Überlegung gilt für alle Rückwirkungsbeschränkungen in allen Verfahrensarten, denn die Rechtsnatur der Rückwirkungsentscheidung und die ihres „Antrags“ unterscheiden sich nicht nach dem konkreten Verfahren. Die Tatbestandsvoraussetzungen werden daher von Amts wegen geprüft.99 Demgegenüber kann und muss es nur eine objektive Beweislast, eine Feststellungslast, geben, die sich nach dem materiellen Recht richtet.100 II. Belastung des Interessierten Als Folge daraus sind alle Beteiligten aufgerufen, die nötigen Tatsachen zur Bestimmung der zeitlichen Wirkung in das Verfahren einzuführen. Das Ergebnis der Rückwirkungsentscheidung hängt nicht davon ab, wer die Frage aufgeworfen hat.101 Unabhängig von den jeweiligen Parteirollen oder Verfahrenssituationen ergibt sich die Verteilung der (objektiven) Feststellungslast nämlich aus dem materiellrechtlichen Grundsatz der Rückwirkung. Da die Rückwirkung nur im Ausnahmefall beschränkt werden kann, ist erforderlich, dass dafür entsprechende Umstände vorliegen und gegebenenfalls nachgewiesen werden. Dieses Vorgehen ist nicht gleichbedeutend mit einer Belastung des „Antragstellers“. Es berücksichtigt vielmehr zum einen die Konstellation, in der das Vorlagegericht nach der zeitlichen Wirkung fragt. Da das nationale Gericht kein Verfahrensbeteiligter ist, wäre es nicht nachvollziehbar, ihm eine Darlegungs- oder Beweisführungslast aufzubürden. Zum anderen fügt sich die – eher seltene – Variante besser ein, in der aufgrund vorliegender, aber letztlich unzureichender Tatsachen die Rückwirkungsfrage vom EuGH auch ohne Antrag aufgeworfen, aber verneint wird. Die hier vertretene Ansicht steht zudem im Einklang damit, dass die Rückwirkungsbeschränkung keine formelle Antragstellung kennt und eine Ablehnung nicht zu Lasten einer Partei oder eines Beteiligten erfolgt. Es wäre widersinnig, den Antrag auf 99

Siehe oben § 11 A.V., S. 409. Vgl. am Beispiel des deutschen FamFG Prütting/Helms-Prütting, FamFG, 3. Aufl. 2014, § 26 Rn. 50 f.; vorsichtig formulierend auch Winter, jurisPR-ArbR 8-2011, Anm. 6 sub C. „in der Sphäre der […] Mitgliedstaaten“. 101 Vgl. Lang, IStR 2007, 235, 243. 100

420

Teil 4: Prozessrechtliche Fragestellungen

Beschränkung der zeitlichen Wirkung als Anregung auszugestalten und ihn sogar für entbehrlich zu halten, gleichzeitig jedoch eine Beweislast an ihn zu knüpfen. Dementsprechend sollte vom EuGH in der Urteilsbegründung formuliert werden, dass aus dem Vorbringen der Beteiligten und gegebenenfalls des Vorlagegerichts nicht hervorgeht, wodurch die Tatbestandsmerkmale erfüllt sind.102 Reflexhaft „beweisbelastet“ sind demnach diejenigen (potentiellen) Beteiligten, die ein Interesse an der Beschränkung der zeitlichen Wirkung haben. Regelmäßig dürfte das der von einer Beschränkung Begünstigte sein; notwendig ist das jedoch nicht. Hat die im Urteil vorgenommene Auslegung schwerwiegende Folgen für ein nationales Subsystem, dann dürften daneben zumeist auch die entsprechenden Mitgliedstaaten ein eigenes Interesse an der Abwehr dieser Auswirkungen haben.103 Gleichzeitig können private Betroffene über politische Kanäle Einfluss auf die Mitgliedstaaten ausüben und so deren Interesse an einer Rückwirkungsbeschränkung wecken. In vergleichbarer Weise muss sich die Frage, wessen Tatsachenvortrag zu berücksichtigen ist („Beweisführungsbefugnis“), an den herausgearbeiteten materiellen Grundsätzen der Rückwirkungswirkungsbeschränkung ausrichten. So wäre es ein Widerspruch, die Wirkung einer Rückwirkungsbeschränkung auf alle Mitgliedstaaten zu erstrecken, aber nur bestimmten Personen zu gestatten, relevante Tatsachen vorzutragen. Der Gerichtshof hat sämtliches Vorbringen zu berücksichtigen, unabhängig davon welcher Beteiligte es in welcher Rolle mit welchem Ziel in das Verfahren eingebracht hat.104 C. Einzelheiten Eine Rückwirkungsbeschränkung nimmt der Gerichtshof nur vor, wenn in einem ersten Schritt die Tatbestandsvoraussetzungen ausreichend substantiiert vorgetragen wurden. Diese Darstellungen werden dann vom Gerichtshof auf ihre Schlüssigkeit geprüft und können anschließend von den Verfahrensbeteiligten ergänzt werden. Den Beteiligten obliegt es, hinsichtlich aller Tatbestandsvoraussetzungen „für eine ausreichende Information des Gerichtshofs zu sorgen“.105 Dabei ist selbstverständlich darauf zu achten, dass sich der 102

Vgl. EuGH v. 1.4.2008 – Rs. C-267/06 Maruko, Slg. 2008, I-1757 Rn. 78; EuGH v. 13.12.2012 – Rs. C-465/11 Forposta und ABC Direct Contact, ECLI:EU:C:2012:801 Rn. 48. 103 Vgl. EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne II, Slg. 1976, 455 und EuGH v. 17.5.1990 – Rs. C-262/88 Barber, Slg. 1990, 1889, wo die mitgliedstaatlichen Haushalte selbst nicht unmittelbar betroffen waren und die Mitgliedstaaten dennoch ihr Beteiligungsrecht zugunsten der privaten Arbeitgeber ausübten. 104 Vgl. z.B. GA Kokott, SchlA v. 11.11.2010 – Rs. C-379/09 Casteels, Slg. 2011, I-1379 Rn. 90. 105 GA Geelhoed, SchlA v. 6.4.2006 – Rs. C-446/04 Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753 Rn. 143.

§ 12 Darlegung und Beweis der Tatbestandsvoraussetzungen

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Vortrag zu Vertrauenstatbestand und finanziellen Folgen auch auf die Rechtsfragen bezieht, die dem Gerichtshof konkret gestellt wurden.106 Häufig benennt der Gerichtshof in einem abweisenden Urteil seine genauen Anforderungen nicht.107 Das ist für den wissenschaftlichen Beobachter zwar unbefriedigend, genügt zur Urteilsbegründung aber, wenn von den Beteiligten überhaupt keine konkreten Umstände vorgetragen wurden.108 Entsprechender Sachvortrag ist in allen Verfahren jedenfalls bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung möglich, und diese kann außerdem gemäß Art. 83 EuGH-VerfO (Art. 61 VerfO a.F.)/Art. 62 EuG-VerfO wiedereröffnet werden. Der Gerichtshof hat in der Vergangenheit mehrfach von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Beteiligten zur Sach- und Rechtslage einer Rückwirkungsbeschränkung ausdrücklich zu befragen.109 Seine Aufklärungsmittel muss der Gerichtshof ergreifen, wenn sich die tatsächlichen Auswirkungen eines beabsichtigten Urteils erst in der Anwendung durch die nationalen Gerichte zeigen, etwa weil es Sache der nationalen Gerichte ist, über die Vereinbarkeit einer Vertragsklausel mit Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu entscheiden. Hier muss es dem Gerichtshof versagt bleiben, eine Rückwirkungsbeschränkung unter Hinweis auf die Feststellungslast abzulehnen110 – und sich gleichsam aus der Verantwortung zu stehlen –, da diese Ablehnung nach der Konnexitätsrechtsprechung für weitere Verfahren zwingend ist.111 Zudem käme sonst im An-

106

Siehe nur EuGH v. 15.10.2014 – Rs. C-331/13 Nicula, ECLI:EU:C:2014:2285 Rn. 41 f. 107 Z.B. EuGH v. 31.3.1992 – Rs. C-200/90 Dansk Denkavit und Poulsen Trading, Slg. 1992, I-2217 Rn. 21; EuGH v. 6.10.2005 – Rs. C-204/03 Kommission ./. Spanien, Slg. 2005, I-8389 Rn. 30. 108 Z.B. EuGH v. 20.9.2001 – Rs. C-184/99 Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193 Rn. 54; EuGH v. 18.10.2012 – Rs. C-525/11 Mednis, ECLI:EU:C:2012:652 Rn. 45; EuGH v. 9.4.2014 – Rs. C-616/11 T-Mobile Austria, ECLI:EU:C:2014:242 Rn. 53 i.V.m. GA Wathelet, SchlA v. 24.10.2013 – Rs. C-616/11 T-Mobile Austria, ECLI:EU:C:2013:691 Rn. 98. 109 Hyland, IJEL 2 (1995), 208, 232; Moore, CMLRev 34 (1997), 727, 730. 110 So aber EuGH v. 21.3.2013 – Rs. C-92/11 RWE Vertrieb, ECLI:EU:C:2013:180 Rn. 60 ff. und wohl auch EuGH v. 10.9.2014 – Rs. C-34/13 Kušionová, ECLI:EU: C:2014:2189 Rn. 81 f. In der Argumentation ebenso bei der Bestimmung der wirtschaftlichen Auswirkungen eines Verstoßes gegen den Justizgewährungsanspruch durch Vorenthalten einer gerichtlichen Überprüfung von Verwaltungsentscheidungen EuGH v. 17.9.2014 – Rs. C-562/12 Lihaveis, ECLI:EU:C:2014:2229 Rn. 82 f.; im Ergebnis überzeugt dort die Ablehnung einer Rückwirkungsbeschränkung, denn die Verwaltungsentscheidungen sollten redlicherweise inhaltlich nicht im (abstrakten) Vertrauen darauf gefällt worden sein, dass ein Rechtsmittel gegen sie nicht besteht. 111 Nach der hier vertretenen Ansicht, wonach eine Rückwirkungsbeschränkung nachgeholt werden kann, stellt sich das Problem nicht in voller Schärfe. Es sollte dennoch zur Vermeidung einer Ungleichbehandlung die Frage der Rückwirkungsbeschränkung sofort umfassend geklärt werden.

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Teil 4: Prozessrechtliche Fragestellungen

wendungsbereich der Klauselkontrolle eine Rückwirkungsbeschränkung praktisch gar nicht in Betracht. Im Einklang mit den allgemeinen Grundsätzen112 wird unwidersprochenes Vorbringen eines Beteiligten in der Regel in allen Verfahren als wahr unterstellt.113 Der Widerspruch anderer Beteiligter gegen einen bestimmten Sachvortrag löst hingegen eine Pflicht zur Klärung oder zur weiteren Substantiierung aus.114 Dem lässt sich nicht entgegenhalten, dass die Geltung des Unionsrechts nicht von unbestrittenem Vorbringen abhängen sollte, weil es an einem „institutionalisierten Interesse“ fehlt, insbesondere den Darstellungen der Mitgliedstaaten zu widersprechen.115 Auch die Ausführungen der Mitgliedstaaten sind nicht in Stein gemeißelt. Vor allem die Kommission als dem geltenden EU-Recht verpflichtetes Unionsorgan ist ein wichtiges Korrektiv.116 Schließlich kommt dem EuGH als objektiver Instanz besondere Bedeutung bei der Prüfung von Vortrag der Mitgliedstaaten zu. Unklar ist, ob der EuGH im Laufe der Zeit seine eigene Schlüssigkeitsprüfung verschärft hat.117 Tatsächlich verlangte er zuletzt häufiger ausdrücklich nach einer genauen Aufschlüsselung der drohenden wirtschaftlichen Auswirkungen.118 Dies geht einher mit einer wesentlich häufigeren Anregung der Beschränkung der zeitlichen Wirkungen durch die Verfahrensbeteiligten. In einigen Fällen war zu beobachten, dass die Beteiligten versucht haben, durch „Daumen-Schätzungen“ den Gerichtshof zu den gewünschten Ergebnissen zu

112

Dazu Rengeling/Middeke/Gellermann-Andová, EU-Rechtsschutz, 3. Aufl. 2014, § 24 Rn. 5. 113 EuGH v. 9.3.2000 – Rs. C-437/97 Evangelischer Krankenhausverein Wien u.a., Slg. 2000, I-1157 Rn. 56; GA Stix-Hackl, SchlA v. 5.10.2006 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Rn. 63 a.E.; krit. Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 149 m.w.N. 114 GA Geelhoed, SchlA v. 6.4.2006 – Rs. C-446/04 Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753 Rn. 144. 115 So Thömmes, IWB 2005, 1089, 1092; Lang, IStR 2007, 235, 237; ders., Limitation of Temporal Effects of CJEU Judgments, 2014, S. 245, 255 f.; Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 79. 116 van der Stok/Thomson, Intertax 34 (2006), 552, 558; so geschehen in EuGH v. 1.4.2008 – Rs. C-267/06 Maruko, Slg. 2008, I-1757 Rn. 76; EuGH v. 12.9.2000 – Rs. C-359/97 Kommission ./. Großbritannien, Slg. 2000, I-6355 Rn. 94. 117 So Wiedmann, EuZW 2007, 692, 693. 118 Z.B. EuGH v. 15.3.2005 – Rs. C-209/03 Bidar, Slg. 2005, I-2119 Rn. 70; EuGH v. 12.12.2006 – Rs. C-446/04 Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753 Rn. 224; EuGH v. 18.1.2007 – Rs. C-313/05 Brzezinski, Slg. 2007, I-513 Rn. 59; siehe auch sogleich II. Hier lässt sich auch EuGH v. 6.11.2014 – Rs. C-335/13 Feakins, ECLI: EU:C:2014:2343 Rn. 66 einordnen, wo offenbar der strenge Maßstab auch auf den Gemeinsamen Agrarmarkt angewendet wird; dort war der Gerichtshof vorher vergleichsweise großzügig verfahren, vgl. oben § 6 C.II.4., S. 264.

§ 12 Darlegung und Beweis der Tatbestandsvoraussetzungen

423

bringen.119 Vor allem darauf scheint es eine Reaktion zu sein, dass der EuGH seinen Prüfungsauftrag nun ernster nimmt. I.

Vertrauenstatbestand, insbesondere guter Glaube

Um eine Rückwirkungsbeschränkung zu rechtfertigen, müssen jeweils die Umstände dargelegt und notfalls bewiesen werden, die ihren Tatbestand ausmachen. Dafür genügt keinesfalls, das Vorliegen eines Tatbestandsmerkmals nur pauschal zu behaupten.120 In Bezug auf das Merkmal des guten Glaubens sind deshalb konkrete Anhaltspunkte dafür vorzutragen, inwiefern welches Verhalten der Union zu einem objektiven Rechtsirrtum geführt hat.121 Dies geschieht vor allem durch einen Hinweis auf die von den Unionsorganen geäußerten, konkret zu bezeichnenden Rechtsansichten. Das tatsächliche Verhalten der Mitgliedstaaten oder der Kommission hat hier nur geringe Indizwirkung, da nicht erkennbar ist, worauf es beruht hat.122 Von den Beteiligten wird beispielsweise erwartet, dass sie analysieren und darlegen, welche Entscheidungen die Gewährung von Vertrauensschutz begründen können, wenn das neue Urteil von bestehender Rechtsprechung abzugrenzen ist.123 Wenn eine nationale Steuerregelung im Mehrwertsteuerausschuss124 besprochen wurde, müssen sich die erreichten Ergebnisse „mit Sicherheit feststellen“ lassen.125 Behauptungen reichen nicht aus, wenn der Vortrag der Beteiligten widersprüchlich war und eine vorgelegte Protokollnotiz keinen Aufschluss gibt.126

119 Seer, Rechtsprechung des EuGH: Rechtsfolgen- oder Grundfreiheitenbeschränkung?, 2006, S. 9, 22 zum Vortrag des Bundesministeriums der Finanzen in der Rs. Meilicke; ebenso Rädler, FS Meilicke, 2010, S. 611, 620 Fn. 32. 120 EuGH v. 31.3.1992 – Rs. C-200/90 Dansk Denkavit und Poulsen Trading, Slg. 1992, I-2217 Rn. 21; EuGH v. 6.10.2005 – Rs. C-204/03 Kommission ./. Spanien, Slg. 2005, I-8389 Rn. 30; EuGH v. 20.9.2001 – Rs. C-184/99 Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193 Rn. 54; EuGH v. 4.10.2001 – Rs. C-294/99 Athinaïki Zythopoiia AE, Slg. 2001, I-6797 Rn. 38. 121 EuGH v. 10.5.2012 – verb. Rs. C-338/11 bis C-347/11 Santander Asset Management u.a., ECLI:EU:C:2012:286 Rn. 61; EuGH v. 13.4.2010 – Rs. C-73/08 Bressol u.a., Slg. 2010, I-2735 Rn. 94; ähnlich EuGH v. 26.3.2009 – Rs. C-559/07 Kommission ./. Griechenland, Slg. 2009, I-47 Rn. 81 (abgekürzte Veröffentlichung). 122 Weniger streng wohl Seer/Müller, IWB 2008, 255, 261. 123 GA Geelhoed, SchlA v. 6.4.2006 – Rs. C-446/04 Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753 Rn. 144. 124 Siehe auch oben § 6 B.II.3.g)dd)(1), S. 196. 125 GA Stix-Hackl, SchlA v. 15.9.2005 – Rs. C-184/04 Uudenkaupungin kaupunki, Slg. 2006, I-3039 Rn. 89. 126 GA Stix-Hackl, SchlA v. 15.9.2005 – Rs. C-184/04 Uudenkaupungin kaupunki, Slg. 2006, I-3039 Rn. 89; vgl. auch EuGH v. 13.2.1996 – verb. Rs. C-197/94 und C-252/94 Bautiaa u.a., Slg. 1996, I-505 Rn. 51.

424

Teil 4: Prozessrechtliche Fragestellungen

Bei den Unwirksamkeitsentscheidungen ist konkret zu bezeichnen, zu welchen Schwierigkeiten die Unwirksamerklärung führen würde.127 Die Beteiligten müssen die Erwägungen der Rechtssicherheit, die sie als zwingend erachten, genau benennen und erläutern.128 Darzulegen ist insbesondere, warum die durch den aufgehobenen Rechtsakt begründeten Rechte zu schützen sind.129 Dazu sollte ausgeführt werden, welche Durchführungsmaßnahmen aufgrund des Rechtsakts ergriffen wurden und welche Bedeutung diese Maßnahmen für die Betroffenen haben.130 Nur so kann der Gerichtshof die möglicherweise komplexen wirtschaftlichen Auswirkungen in der Vergangenheit bewerten.131 Wegen der Möglichkeit einer Rückausnahme für die Rechtsbehelfsführer muss zwischen anhängigen und anderen Rechtsverhältnissen klar unterschieden werden.132 II. Schwere wirtschaftliche Auswirkungen Eine besondere Rolle spielt das Darlegungserfordernis bei den schweren wirtschaftlichen Auswirkungen als Tatbestandsmerkmal der Auslegungsrückwirkungsbeschränkung. Während die Vertrauenstatbestände unionsrechtsbezogen sind und die tatsächlichen Umstände daher für alle Beteiligten leichter zugänglich und darzulegen sind, können die wirtschaftlichen Auswirkungen auf die Mitgliedstaaten oder die Subsysteme regelmäßig nur von den jeweiligen Mitgliedstaaten oder Interessenverbänden ausreichend aufgedeckt werden.133 Der Gerichtshof und die nationalen Gerichte sind dafür weder rechtlich noch tatsächlich ausgestattet. Hier entfaltet die Feststellungslast folglich die größte Wirkung. Unter Berücksichtigung der immer häufigeren Anregung einer Rückwirkungsbeschränkung und der Abhängigkeit des Gerichtshofs von den Prognosen der Beteiligten verlangt jener zu Recht, dass „die Verlässlichkeit der Berechnung nachzuweisen“ ist134. Als Ausgangs127

EuGH v. 26.3.1996 – Rs. C-271/94 Parlament ./. Rat, Slg. 1996, I-1689 Rn. 39; EuGH v. 28.5.1998 – Rs. C-22/96 Parlament ./. Rat, Slg. 1998, I-3231 Rn. 41; EuGH v. 18.6.2002 – Rs. C-314/99 Niederlande ./. Kommission, Slg. 2002, I-5521 Rn. 31. 128 EuGH v. 8.11.2001 – Rs. C-228/99 Silos e Mangimi Martini, Slg. 2001, I-8401 Rn. 37. 129 EuGH v. 23.11.1999 – Rs. C-89/96 Portugal ./. Kommission, Slg. 1999, I-8377 Rn. 15. 130 Gleiss/Kleinmann, NJW 1966, 1591, 1593. 131 Bebr, CMLRev 18 (1981), 475, 504. 132 EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-463/98 Cabletron Systems, Slg. 2001, I-3495 Rn. 26 i.V.m. GA Jacobs, SchlA v. 1.2.2001 – Rs. C-463/98 Cabletron Systems, Slg. 2001, I-3495 Rn. 114; EuGH v. 22.1.2015 – verb. Rs. C-401/13 und C-432/13 Balasz, ECLI:EU: C:2015:26 Rn. 52. 133 Vgl. Rainer, IStR 1996, 328, 329. 134 EuGH v. 14.9.2006 – Rs. C-228/05 Stradasfalti, Slg. 2006, I-8391 Rn. 76; ähnlich Frischmuth, StuB 2006, 149, 151: „transparent und nachvollziehbar“.

§ 12 Darlegung und Beweis der Tatbestandsvoraussetzungen

425

punkt lässt sich diagnostizieren, dass auch für die wirtschaftlichen Folgen konkrete Gesichtspunkte vorgetragen werden müssen und pauschales Behaupten der Tatbestandserfüllung nicht genügt.135 Um der Prüfung durch den EuGH standzuhalten, sind die Daten möglichst gut zu dokumentieren und detailliert aufzuschlüsseln.136 Das Vorbingen der Beteiligten hat dabei erkennen zu lassen, dass nur die tatsächlich betroffenen Sachverhalte einbezogen wurden. Dazu ist zuerst zu berücksichtigen, welche möglichen Konstellationen und Ansprüche überhaupt von dem materiellen Urteilsinhalt erfasst werden.137 Wird also nur ein Teil einer nationalen Regelung als mit dem Unionsrecht unvereinbar angesehen, muss die Darlegung erkennbar machen, welche finanziellen Lasten auf diesen Teil entfallen.138 Weiterhin ist erforderlich, dass Abschläge eingeplant werden für bestandskräftige Rechtsverhältnisse oder solche, in denen erforderliche Nachweise nicht mehr erbracht werden können.139 Schließlich genügt es nicht, nur die Höhe der fraglichen Beträge zu beziffern, es müssen darüber hinaus die realen Auswirkungen der Rückzahlungsansprüche deutlich gemacht werden.140 Diese Anforderungen sind freilich geeignet, die Beteiligten vor Probleme zu stellen, wenn der Verfahrensausgang noch nicht abzusehen ist. Der EuGH verlangt hier dennoch eine konkrete Darlegung der Auswir135

EuGH v. 3.7.1997 – Rs. C-330/95 Goldsmiths, Slg. 1997, I-3801 Rn. 28; EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, Slg. 2001, I-9945 Rn. 53; EuGH v. 10.1.2006 – Rs. C-402/03 Skov und Bilka, Slg. 2006, I-199 Rn. 53; EuGH v. 7.6.2007 – Rs. C-178/05 Kommission ./. Griechenland, Slg. 2007, I-4185 Rn. 68; EuGH v. 26.3.2009 – Rs. C-559/07 Kommission ./. Griechenland, Slg. 2009, I-47 Rn. 82 (abgekürzte Veröffentlichung); EuGH v. 15.12.2009 – Rs. C-284/05 Kommission ./. Finnland, Slg. 2009, I-11705 Rn. 58; EuGH v. 15.12.2009 – Rs. C-239/06 Kommission ./. Italien, Slg. 2009, I-11913 Rn. 59; EuGH v. 15.12.2009 – Rs. C-387/05 Kommission ./. Italien, Slg. 2009, I-11831 Rn. 59; EuGH v. 19.2.2009 – Rs. C-138/07 Cobelfret, Slg. 2009, I-731 Rn. 69; EuGH v. 13.4.2010 – Rs. C-73/08 Bressol u.a., Slg. 2010, I-2735 Rn. 95. 136 Broberg/Fenger, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union, 2014, S. 402; Frenz/Kühl, DStZ 2009, 432, 436; Kokott/Henze, NJW 2006, 177, 182. 137 EuGH v. 15.3.2005 – Rs. C-209/03 Bidar, Slg. 2005, I-2119 Rn. 70; EuGH v. 12.12.2006 – Rs. C-446/04 Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753 Rn. 224; EuGH v. 13.3.2007 – Rs. C-524/04 Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, Slg. 2007, I-2107 Rn. 130-133; GA Sharpston, SchlA v. 22.6.2006 – Rs. C-228/05 Stradasfalti, Slg. 2006, I-8391 Rn. 97. 138 EuGH v. 18.1.2007 – Rs. C-313/05 Brzezinski, Slg. 2007, I-513 Rn. 59 f.; EuGH v. 3.6.2010 – Rs. C-2/09 Kalinchev, Slg. 2010, I-4939 Rn. 54 f.; vgl. auch GA Geelhoed, SchlA v. 11.11.2004 – Rs. C-209/03 Bidar, Slg. 2005, I-2119 Rn. 72. 139 EuGH v. 29.11.2001 – Rs. C-366/99 Griesmar, Slg. 2001, I-9383 Rn. 77; GA StixHackl, SchlA v. 5.10.2006 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Rn. 63. 140 EuGH v. 25.10.2012 – Rs. C-387/11 Kommission ./. Belgien, ECLI:EU:C:2012:670 Rn. 91; auch EuGH v. 23.10.2014 – verb. Rs. C-359/11 und C-400/11 Schulz und Egbringhoff, ECLI:EU:C:2014:2317 Rn. 59 f.

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Teil 4: Prozessrechtliche Fragestellungen

kungen für alle im Verfahren aufgeworfenen Lösungsmöglichkeiten. Hingegen ist nicht nötig, alle betroffenen Rechtsverhältnisse individualisierbar aufzulisten, wenn dies gegen das Steuergeheimnis verstößt.141 Es versteht sich von selbst, dass das innerprozessuale Vorbringen der Beteiligten sich nicht selbst widersprechen darf. So ist nicht nachvollziehbar, wenn zur Rechtfertigung eines Unionsrechtsverstoßes eine Ausnahme für unwesentliche Beeinträchtigungen angeführt und später eine Rückwirkungsbeschränkung aufgrund der schwerwiegenden Folgen angeregt wird.142 Wiedmann fasst die Anforderungen (für Steuersachverhalte) wie folgt zusammen: „Für eine plausible Prognose reicht eine Kalkulation der durchschnittlich zu erwartenden Rückforderungszahlung bezüglich eines Abgabenpflichtigen für einen gemittelten Zahlungszeitraum hochgerechnet auf die mögliche Anzahl der Rückforderungsberechtigten.“143 Problematisch sind diese Anforderungen vor allem, wenn die Rückwirkungsbeschränkung nicht den Interessen der Mitgliedstaaten oder der Kommission entspricht. Oft dürften nur diese in der Lage sein, die nötigen Tatsachen hinsichtlich der praktischen Konsequenzen zu ermitteln. Als Ausweg könnten unterschiedlich strenge Anforderungen an die Konkretisierung durch private Begünstigte oder begünstigte Mitgliedstaaten gestellt werden. Anhaltspunkt dafür in der bestehenden Rechtsprechung könnte sein, dass der EuGH vereinzelt die diskutierten Beträge nicht im Urteil aufgeführt hat.144 Dogmatisch spricht gegen eine solche Unterscheidung jedoch, dass alle Beteiligten den gleichen Verfahrensstatus haben und daher ihren Aussagen kein unterschiedliches Gewicht zukommen sollte.145 Darüber hinaus dürfte diese Differenzierung die bisherige Rechtsprechung aber auch nicht treffend beschreiben, hat der EuGH doch in der ganz überwiegenden Zahl seiner vorgenommenen Rückwirkungsbeschränkungen unabhängig vom Begünstigten keine konkreten Zahlen wiedergegeben.146 Dahinter dürfte eher ein formeller 141

Anders Lang, IStR 2007, 235, 236; Lang, Intertax 35 (2007), 230, 241. Siehe EuGH v. 30.3.2006 – Rs. C-184/04 Uudenkaupungin kaupunki, Slg. 2006, I-3039 Rn. 57; Lang, IStR 2007, 235, 244 Fn. 91; ähnlich GA Kokott, SchlA v. 15.5.2014 – Rs. C-318/13 X, ECLI:EU:C:2014:333 Rn. 81. 143 Wiedmann, EuZW 2007, 692, 693. 144 Darauf stellt ab Lang, IStR 2007, 235, 242 f.; ihm folgend Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 79 f. und Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 168 ff. 145 Das meint wohl auch Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 80 („in rechtsstaatlicher Hinsicht bedenklich“). 146 Vgl. EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/76 Defrenne II, Slg. 1976, 455; EuGH v. 2.2.1988 – Rs. 24/86 Blaizot u.a., Slg. 1988, 379; EuGH v. 16.7.1992 – Rs. C-163/90 Legros u.a., Slg. 1992, I-4625; EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, Slg. 1995, I-4921; EuGH v. 30.4.1996 – Rs. C-308/93 Cabanis-Issarte, Slg. 1996, I-2097; EuGH v. 4.5.1999 – 142

§ 12 Darlegung und Beweis der Tatbestandsvoraussetzungen

427

Mangel stehen, denn in den meisten Verfahren wurden durchaus konkrete Zahlen diskutiert. Entscheidend ist damit, dass für eine unterschiedliche Behandlung kein sachliches Bedürfnis besteht. Zum einen sollte nicht vergessen werden, dass auch private (Dach-)Verbände der einzelnen Branchen durchaus in der Lage sein können, die wirtschaftlichen Auswirkungen eines Urteils im Vorhinein zu prognostizieren.147 Zum anderen sind die Interessen von Privaten und Mitgliedstaaten auch im öffentlich-rechtlichen oder steuerrechtlichen Kontext nur selten gegenläufig und die Privaten dann ebenso schutzwürdig. Einerseits ist nämlich Voraussetzung, dass die Bürger von der Rückwirkungsbeschränkung begünstigt, also von dem Urteil belastet werden. Werden sie von der Rückwirkungsbeschränkung belastet, schaden ihnen die Beweisanforderungen nicht. Andererseits müssten die von dem Urteil Betroffenen sowieso ein Subsystem bilden, dessen Fortbestand durch die wirtschaftlichen Folgen bedroht wäre. Die bloß individuelle Härte genügt für eine Auslegungsrückwirkungsbeschränkung bekanntlich nicht. In einem solchen Fall dürfte aber der Erhalt der Funktionsfähigkeit des Subsystems gerade wieder (auch) im Interesse des Mitgliedstaats liegen. Schließlich kann nach hiesiger Auffassung eine Rückwirkungsbeschränkung in einem späteren Verfahren nachgeholt werden. Dieses Ventil ist aufgrund des Konnexitätsmerkmals freilich für den Gerichtshof versperrt.

Rs. C-262/96 Sürül, Slg. 1999, I-2685. Im Grunde gesteht das auch Lang, a.a.O. zu. Vorsichtig a.A. Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 150. 147 Vgl. z.B. EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, Slg. 1995, I-4921.

5. Teil

Rückwirkungsbeschränkung und mitgliedstaatliches Recht Teil 5: Rückwirkungsbeschränkung und mitgliedstaatliches Recht Im letzten Teil der Untersuchung stehen nun die Auswirkungen der Rückwirkungsbeschränkung auf das mitgliedstaatliche Recht im Fokus. Damit ist vor allem, aber nicht ausschließlich die Frage angesprochen, ob und unter welchen Voraussetzungen neben einer (unionalen) Rückwirkungsbeschränkung noch nationaler Vertrauensschutz möglich ist. Rechtssicherheit und Vertrauensschutz können grundsätzlich auf unionaler und nationaler Ebene gewahrt werden.1 Um diese Unterscheidung sprachlich deutlich zu machen, wird im Folgenden unter „Rückwirkungsbeschränkung“ die unionale Beschränkung der zeitlichen Wirkung und unter „(nationalem) Vertrauensschutz“ die mitgliedstaatliche Berücksichtigung von national begrenzten Vertrauenspositionen verstanden. Besonders problematisch sind dabei die Konstellationen, in denen der nationale Vertrauensschutz weiter reicht als die Möglichkeiten der unionalen Rückwirkungsbeschränkung. Hier ist fraglich, ob das nationale Recht eine Sperre für die Anwendung des Unionsrechts aufstellen kann. Die Problematik ließe sich also durchaus auch als „Rückwirkungsbeschränkung durch die Mitgliedstaaten“ bezeichnen. Die Gewährung von nationalem Vertrauensschutz oder – allgemeiner formuliert – die Verdrängung des unionalen Geltungsanspruchs kann durch sämtliche Gewalten der Mitgliedstaaten vorgenommen werden. Als Mittel kommen alle Maßnahmen in Betracht, die die Wirkung der Unionsnorm unmittelbar aussetzen oder zumindest ihre (wirtschaftlichen oder rechtlichen) Folgen verändern. Vertrauensschutz kann also insbesondere auch sekundär als Ausgleich des entstandenen Schadens gewährt werden.2

1 H.M.; z.B. Lunk, FS Reuter, 2010, S. 689, 696; Herresthal, ZEuP 2009, 598, 612; ders., Rechtsfortbildung im europäischen Bezugsrahmen, 2006, S. 296, 310; Schlachter, ZfA 2007, 249, 267; Krois, DB 2010, 1704, 1707; Steiner, EuZA 2009, 140, 153; Höpfner, ZfA 2010, 449, 483; Höpfner, JJZ 2009, 73, 87; Bauer/Arnold, NJW 2009, 631, 633; Bauer/v. Medem, ZIP 2010, 449, 454; Kamanabrou, SAE 2009, 233, 236; Franzen, AP Nr. 23 zu § 14 TzBfG sub IV.; Tavakoli/Westhäuser, DB 2008, 702, 705; Bydlinski, JBl 2001, 2, 21; ohne erkennbare Trennung hingegen Thüsing, ZIP 2005, 2149, 2151; wohl auch Preis/Temming, NZA 2010, 185, 188. 2 Siehe oben § 2 B.V., S. 12 und unten § 17, S. 497 ff.

§ 13 Grundlagen

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§ 13 Grundlagen Grundlagen Grundlage für die Bestimmung der Grenzen des nationalen Vertrauensschutzes ist zuerst die Unionsrechtsbezogenheit der Rückwirkungsbeschränkung, weshalb diese allein durch den Gerichtshof bestimmt werden kann (dazu A.). Zweitens berührt die Rückwirkungsbeschränkung nicht die allgemeinen Schranken der Geltung des Unionsrechts (dazu B.). Entscheidend ist darüber hinaus die Erkenntnis, dass die Rückwirkungsbeschränkung nicht die Art und Weise der Durchsetzung des Unionsrechts verändert, sondern schon die Kollision mit dem nationalen Recht ausschließt (dazu D.). Daraus folgt nämlich, dass sich der nationale Vertrauensschutz an den Durchsetzungsmechanismen des Unionsrechts und ihren Grenzen messen lassen muss (unten §§ 15–17). A. Die Unionsrechtsbezogenheit der Rückwirkungsbeschränkung Nach den oben gewonnenen Erkenntnissen ist Bezugspunkt der Rückwirkungsbeschränkung allein das Unionsrecht.3 Nationale Besonderheiten können eine Beschränkung der zeitlichen Wirkungen nicht begründen. Aus der Einordnung der Rückwirkungsbeschränkung als Annex zur Entscheidung des Gerichtshofs ergibt sich folgerichtig, dass nur der EuGH über eine solche entscheiden kann. Bei den Unwirksamkeitsentscheidungen folgt das schon aus dem Monopol des Gerichtshofs, über die Unwirksamkeit einer Unionsnorm zu bestimmen.4 Bei den Auslegungsentscheidungen hat der EuGH sein Monopol ausdrücklich festgestellt. Danach ist es „allein Sache des Gerichtshofs […], darüber zu entscheiden, wie die zeitliche Geltung der von ihm vorgenommenen Auslegung abzugrenzen ist“.5 Die mitgliedstaatlichen Gerichte können nicht über die zeitliche Beschränkung einer Auslegung von Unionsrecht entscheiden, selbst wenn sie zur selbstständigen Auslegung einer unionalen Vorschrift berufen sind.6 Die oben herausgearbeiteten Grundsätze darf nur der EuGH anwenden. Die Rückwirkungsbeschränkung begrenzt unionsseitig die Geltung der Norm – wenn auch dogmatisch über eine Berufensschranke – und dieser Konflikt mit dem Geltungsbefehl des Unionsgesetzgebers sollte wie 3

§ 6 B.II.1.a), S. 145. Z.B. Kommission zitiert nach GA Darmon, SchlA v. 14.11.1984 – Rs. 112/83 Produits de Maïs, Slg. 1985, 720, 723; Bebr, CMLRev 22 (1985), 771, 784. 5 EuGH v. 27.3.1980 – Rs. 61/79 Denkavit italiana, Slg. 1980, 1205 Rn. 18; EuGH v. 27.3.1980 – verb. Rs. 66/79, 127/79 und 128/79 Salumi u.a., Slg. 1980, 1237 Rn. 11; EuGH v. 10.7.1980 – Rs. 881/79 Ariete, Slg. 1980, 2545 Rn. 8; EuGH v. 10.7.1980 – Rs. 826/79 Mireco, Slg. 1980, 2559 Rn. 9. 6 Für eine Pflicht der nationalen Gerichte, die Rechtsprechung des EuGH selbst nachzuvollziehen, Gordon, EC Law in Judicial Review, 2007, Rn. 9.85, 9.105; für eine subsidiäre Anwendung der EuGH-Grundsätze durch die nationalen Gerichte Abele, EuZW 2009, 472. 4

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Teil 5: Rückwirkungsbeschränkung und mitgliedstaatliches Recht

bei den Unwirksamkeitsentscheidungen vom Europäischen Gerichtshof unionseinheitlich entschieden werden.7 Hierbei existieren auch keine Unterschiede zwischen Unionsprimärrecht oder abgeleitetem Unionsrecht.8 Solche können sich erst auf nationaler Stufe ergeben.9 Die mitgliedstaatlichen Gerichte sind deshalb daran gehindert, eine Rückwirkungsentscheidung des Gerichtshofs zu ändern. Sie sind verpflichtet, Fragen nach der zeitlichen Wirkung des Unionsrechts vorzulegen.10 Das gilt natürlich ebenso – soweit man diese grundsätzlich zulässt – für die Änderung einer früheren Rückwirkungsentscheidung. Eine irgendwie verbindliche (Anders-)Bewertung der Beschränkungsvoraussetzungen kann weder durch die nationalen Gerichte noch durch sonstige Rechtsanwender vorgenommen werden.11 Der Fall der Rückwirkungsbeschränkung stellt sich damit aus Sicht des Art. 267 Abs. 2 AEUV als Verschärfung des Vorlagerechts dar. Er begründet eine Vorlagepflicht unabhängig von der Stellung des nationalen Gerichts.12 Eine selbstständige, nur durch den nationalen Instanzenzug kontrollierte Auslegung des Unionsrechts und der Rückwirkungsbeschränkungsvoraussetzungen ist unzulässig. Die Vorlage ist auch immer entscheidungserheblich, da – wie oben erläutert – die Rückwirkungsbeschränkung als Ganzes im Streit steht und eine personelle Rückausnahme nicht zwingend ist.13 Weiterhin ist daran zu erinnern, dass eine vom EuGH vorgenommene Auslegungsrückwirkungsbeschränkung selbst keine Aussagen über die Zulässigkeit weitergehenden nationalen Rechts trifft.14 Sie steht daher nicht nationalem Recht entgegen, welches die unionsrechtlichen Vorgaben in „zeitlicher Hinsicht übererfüllt“. Dabei ist die nationale Methodenlehre sogar frei, sich aus autonomem Antrieb auf die rückwirkungsbeschränkte Unionsnorm zu beziehen, unabhängig davon, ob diese unmittelbar oder mittelbar anwendbar 7

Hartley, ELRev 1980, 366, 367; Alexander, YbEL 8 (1988), 11, 25; Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 101 f. 8 Insoweit richtig Winter, jurisPR-ArbR 8-2011, Anm. 6 sub C. 9 Siehe unten § 13 D.I., S. 438. 10 Wohl nur aufgrund konkreter Umstände des Sachverhalts geht Wißmann, FS Bauer, 2010, S. 1161, 1166 von einem Vorlagerecht aus. 11 Anders wohl Gaul/Koehler, ArbRB 2010, 53, 55. 12 Im einstweiligen Rechtsschutz dürften die Vorgaben des EuGH zur Vorlagepflicht bei Ungültigerklärung von Unionssekundärrecht durch nationale Gerichte entsprechend gelten, vgl. EuGH v. 21.2.1991 – verb. Rs. C-143/88 und C-92/89 Zuckerfabrik Süderdithmarschen, Slg. 1991, I-415 Rn. 22 ff. 13 A.A. z.B. Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 107; Koch, JbArbR 44 (2007), 91, 103, die beide darauf abstellen, dass (bei Auslegungsvorlagen) stets eine personelle Rückausnahme eingeführt wird. Entsprechend den allgemeinen Grundsätzen entfällt die Vorlagepflicht jedoch nur, wenn die Entscheidung des Gerichtshofs sich aus anderen Gründen keinesfalls auf den Vorlagesachverhalt auswirken würde, vgl. oben § 7 D.I.4., S. 363 f. 14 Siehe § 7 A.II.5., S. 305 f.

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ist.15 Eine „Sperrwirkung“16 gegen die Inbezugnahme der Unionsnorm kommt weder der Rückwirkungsbeschränkung noch dem sonstigen Unionsrecht zu. Hier findet die Trennung von Unionsrecht und diesbezüglicher Rückwirkungsbeschränkung einerseits und nationalem Recht und entsprechendem Vertrauensschutz andererseits ihren Ausdruck. Ebendies gilt bei den Unwirksamkeitsentscheidungen. Das Aufrechterhalten eines unwirksamen Rechtsakts verlängert dessen Geltungsbefehl in zeitlicher Hinsicht, ändert ihn hingegen nicht inhaltlich-materiell.17 Der Rechtsakt ist daher insbesondere Rechtsgrund für geleistete Zahlungen oder Maßstab für eine Konformauslegung. Inwieweit Abweichungen von den unionalen Vorgaben zulässig sind, ergibt sich nur aus dem materiellen Unionsrecht (vor allem dem aufrechterhaltenen Rechtsakt). Die Rückwirkungsbeschränkung selbst ist insoweit neutral. Die Modifikation der zeitlichen Wirkungen ist folglich doppelt unionsbezogen. Sie beruht ausschließlich auf unionsbezogenen Gründen und wirkt sich nur innerhalb des Unionsrechts aus. Dieser strenge Unionsrechtsbezug der Rückwirkungsbeschränkung kann durchaus unbefriedigend sein. Er ignoriert nämlich den Anwendungsdualismus von unionalem und nationalem Recht, löst eventuelle Normkonflikte einseitig unionsrechtlich auf und übergeht so nationale Besonderheiten, die sich in nationalem Vertrauensschutz niederschlagen könnten. Kein Raum für weitergehenden Vertrauensschutz ist erforderlich, wenn man schon bei der Rückwirkungsbeschränkung nationale Rechtsansichten berücksichtigte oder wenn die Rückwirkungsbeschränkung des EuGH sich nur auf den vorlegenden und/oder den beantragenden Mitgliedstaat erstreckte. Dann würden nationale Vertrauenstatbestände schon gewürdigt worden sein und könnten nicht erneut in die Waagschale geworfen werden. Solche Ansichten nehmen freilich die oben dargelegten Nachteile (z.B. Zersplitterung des Unionsrechts, Ungleichbehandlung der Mitgliedstaaten) in Kauf und entsprechen deshalb nicht dem hiesigen Verständnis des geltenden Unionsrechts. B. Allgemeine Schranken Im Verlauf der vorliegenden Arbeit wurde schon mehrfach darauf hingewiesen, dass die Vornahme oder Verneinung einer Rückwirkungsbeschränkung keine Auswirkungen auf die allgemeinen Schranken des Unionsrechts hat. Findet eine vom Europäischen Gerichtshof entwickelte Auslegung auf Sachverhalte in der Vergangenheit Anwendung, werden davon keine Rechtsver15

Herresthal, Rechtsfortbildung im europäischen Bezugsrahmen, 2006, S. 295, 304 f. Im Anschluss an Herresthal, Rechtsfortbildung im europäischen Bezugsrahmen, 2006, S. 295. 17 Vgl. oben § 7 A.IV.2., S. 311. 16

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hältnisse erfasst, die rechts- oder bestandskräftig sind. Gleiches gilt, wenn aufgrund einer Rückwirkungsbeschränkung eine irrtümliche Rechtslage weiterhin Anwendung findet, hinsichtlich etwaiger einzelner Rechtsbeziehungen, die mit dieser irrtümlichen Rechtslage nicht im Einklang standen. Weiterhin begrenzt die Verfahrensautonomie die Durchsetzung des Unionsrechts nach allgemeinen Grundsätzen. Begründet das „richtige“ Verständnis des Unionsrechts einen Rückerstattungsanspruch eines Einzelnen, kann dieser in Ermangelung unionsrechtlicher Bestimmungen durch allgemeine Verfahrensvorschriften des nationalen Rechts beschränkt werden. I.

Rechts- oder Bestandskraft

Eine rückwirkende Entscheidung des Gerichtshofs hat grundsätzlich keine Auswirkungen auf Rechtsverhältnisse, die nach innerstaatlichen Grundsätzen rechts- oder bestandskräftig geworden sind.18 Das Interesse an der Durchsetzung des Unionsrechts tritt hier regelmäßig hinter dem unionsrechtlich anerkannten Grundsatz der Rechtssicherheit zurück.19 Eine (ablehnende oder bejahende) Entscheidung des EuGH über eine Rückwirkungsbeschränkung führt weder zu einer Durchbrechung der Bestands- oder Rechtskraft, noch zu einer besonderen Bestätigung derselben. Dies ergibt sich aus zwei Überlegungen: Zum einen schließt die Rückwirkungsbeschränkung aus, sich auf eine bestimmte Auslegung des Unionsrechts für einen bestimmten Zeitraum in der Vergangenheit zu berufen. Sie modifiziert damit gleichsam dessen Inhalt in zeitlicher Hinsicht, verändert aber nicht dessen Wirkungsweise oder Wirkungsintensität. Zum anderen ist die Rückwirkung der EuGH-Entscheidungen der Normalfall, weshalb die Rechtsprechung zur Durchbrechung der Rechts- oder Bestandskraft in Ansehung der zeitlichen Wirkungen von EuGH-Entscheidungen entwickelt wurde, ohne darauf besonders Bezug zu nehmen. Nach allgemeinen Grundsätzen muss die Bestandskraft einer nationalen Verwaltungsentscheidung nur ausnahmsweise durchbrochen werden. Der Europäische Gerichtshof hat dafür Kriterien ausgearbeitet, die auf die unterschiedlichen Interessenlagen Rücksicht nehmen.20 Auch die Rechtskraft mitgliedstaatlicher Gerichtsentscheidungen ist nicht absolut geschützt, sondern 18

Raitio, The Principle of Legal Certainty in EC Law, 2003, S. 198; Anderson/Demetriou, References to the European Court, 2. Aufl. 2002, Rn. 14-068; Kotschnigg, SWI 1998, 83, 84; de Weerth, RIW 1997, 482, 488; ders., DStR 2008, 1669, 1671; MüllerRostin, TranspR 2010, 93, 99. 19 Kremer, EuR 2007, 470, 472; auch Schlücke, Die Umsetzung von EuGHEntscheidungen in das deutsche Steuerrecht, 2014, S. 84. 20 Eingehend z.B. König, Der Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, 2011, S. 173 ff.; Finke, IStR 2006, 212 ff.; Groussot/Minssen, EuConst 3 (2007), 385 ff.; Mössner, FS Rengeling, 2008, S. 339, 345 ff.; Leonard/Szczekalla, UR 2005, 420, 426 ff.

§ 13 Grundlagen

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unterliegt Grenzen im Interesse der effektiven Anwendung des Unionsrechts.21 Die Rückwirkungsbeschränkung kann hierbei allenfalls dazu führen, dass eine Bestands- oder Rechtskraftdurchbrechung, die eigentlich vorzunehmen wäre, nicht mehr erforderlich ist, weil es schon an der Kollision von Unions- und mitgliedstaatlichem Recht fehlt. II. Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten Unionsrechtlich begründete Rechte können der Durchsetzung durch spezifisches Unions(verwaltungs)recht unterliegen. An solchem fehlt es jedoch zumeist. Deshalb müssen sie nach nationalem Recht verfolgt werden. Bei der Ausgestaltung ihres entsprechenden Verfahrensrechts sind die Mitgliedstaaten weitgehend frei. Soweit das Unionsrecht keine speziellen Vorgaben macht, haben sie dabei nur die Grundsätze der Äquivalenz und Effektivität zu beachten. Sämtliche Einschränkungen dürfen also die Durchsetzung des unionsrechtlich begründeten Anspruchs nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) und nicht weiter reichen als bei vergleichbaren innerstaatlich begründeten Rechten (Äquivalenzgrundsatz).22 Diese großzügigen Grenzen gelten insbesondere, aber nicht ausschließlich für den unionsrechtlichen Erstattungsanspruch.23 Ein solcher steht grundsätzlich allen zu, die Zahlungen geleistet haben, die sich – aufgrund eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs – später als unionsrechtswidrig herausstellen. Da das jeweilige Unionssachrecht seit seinem Inkrafttreten so zu verstehen ist, wie der EuGH es in seinem Urteil festgestellt hat, besteht der Erstattungsanspruch grundsätzlich für alle in der Vergangenheit geleisteten Zahlungen.24 Beschränkt hingegen der Gerichtshof die Rückwirkung seines Urteils, entsteht der Erstattungsanspruch erst für spätere Zeiträume. Lag der Rechtsgrund der Zahlung in einer rechtswidrigen, aber gemäß Art. 264 Abs. 2 AEUV aufrechterhaltenen Unionsnorm, so stellt diese weiterhin einen Rechtsgrund für die Zahlung dar. Dann dürfen die Mitgliedstaaten auch keine Erstattung nach

21 Eingehend z.B. Schmahl/Köber, EuZW 2010, 927 ff.; Schweitzer, FS Bethge, 2009, S. 639, 645 ff.; Köber, Kooperations- und Beschleunigungsmechanismen im Vorabentscheidungsverfahren, 2013, S. 146 ff. 22 St.Rspr., EuGH v. 9.2.1999 – Rs. C-343/96 Dilexport, Slg. 1999, I-579 Rn. 25 m.w.N.; EuGH v. 22.10.1998 – verb. Rs. C-10/97 bis C-22/97 IN.CO.GE. u.a., Slg. 1998, I-6307 Rn. 25 m.w.N.; EuGH v. 11.12.1997 – Rs. C-246/96 Magorrian und Cunningham, Slg. 1997, I-7153 Rn. 37 m.w.N.; EuGH v. 2.2.1988 – Rs. 309/85 Barra, Slg. 1988, 355 Rn. 18. 23 Vgl. Lange, Der Anspruch auf Erstattung gemeinschaftsrechtswidrig erhobener Steuern, 2008, S. 88 ff. 24 Anderson/Demetriou, References to the European Court, 2. Aufl. 2002, Rn. 14-067 m.w.N.

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ihren nationalen Rechtsordnungen vorsehen.25 Gleiches gilt bei einer Auslegungsrückwirkungsbeschränkung, wenn die irrtümliche Rechtslage die Zahlung rechtfertigte. Ob ein Rückzahlungsanspruch entsteht, kann daher nur der Gerichtshof in Anwendung unionsrechtlicher Vorschriften bestimmen. Die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen können einen Erstattungsanspruch jedoch in vielerlei Hinsicht beschränken, ohne mit einem EuGH-Urteil zu konfligieren, das in seinen zeitlichen Wirkungen nicht beschränkt wurde.26 Ihnen steht so die Möglichkeit offen, die recht strenge Rechtsprechung zur Rückwirkungsbeschränkung in ihren wirtschaftlichen Folgen abzumildern.27 Die mitgliedstaatliche Regelung darf aber jedenfalls nicht so weit gehen, dass sie die Verneinung einer Rückwirkungsbeschränkung des Gerichtshofs aushebelt und praktisch eine solche auf nationaler Ebene einrichtet.28 Ein wesentliches Gestaltungsmittel sind Ausschluss- oder Verjährungsfristen für die Geltendmachung der unionsrechtlich begründeten Rechte.29 Im Einzelfall können diese auch wenige Monate betragen.30 Den Anspruchsgegnern ist es auch nicht benommen, sich auf eine solche Frist zu berufen, wenn diese zum Zeitpunkt des erstauslegenden EuGH-Urteils schon abgelaufen ist.31 Weiterhin darf berücksichtigt werden, dass der Zahlungsschuldner seine wirtschaftliche Last auf andere abgewälzt hat; ein Ausschluss des Anspruchs 25

EuGH v. 30.5.1989 – Rs. 22/88 Roquette Frères, Slg. 1989, 1553 Rn. 16. Ausdrücklich EuGH v. 15.9.1998 – Rs. C-231/96 Edilizia Industriale Siderurgica Srl (Edis), Slg. 1998, I-4951 Rn. 26; EuGH v. 28.11.2000 – Rs. C-88/99 Roquette Frères ./. Direction des services fiscaux du Pas-de-Calais, Slg. 2000, I-10465 Rn. 36; in diesem Sinne auch EuGH v. 15.4.2010 – Rs. C-542/08 Barth, Slg. 2010, I-3189 Rn. 30; a.A. wohl Beiser, RdW 2000, 707, 709. 27 Woods/Watson, Steiner & Woods EU Law, 11. Aufl. 2012, S. 237; Novak-Stief, ELRep 1998, 584, 587 f.; Drüen/Kahler, StuW 2005, 171, 182 f.: „Maßnahmen budgetärer ‚Notwehr‘„; vgl. auch Steinberg/Bark, EuZW 2007, 245, 247. 28 EuGH v. 11.12.1997 – Rs. C-246/96 Magorrian und Cunningham, Slg. 1997, I-7153 Rn. 43 ff.; EuGH v. 16.5.2000 – Rs. C-78/98 Preston u.a., Slg. 2000, I-3201 Rn. 40 ff. (Die englische Regelung betraf den Anschluss an ein Rentensystem, für den die BarberBeschränkung nicht gilt. Sie ordnete dennoch den Ausschluss der Berücksichtigung fast aller zurückliegenden Beschäftigungszeiten an, was der Barber-Rechtsprechung weitgehend entsprach, und enthielt darüber hinaus keine Ausnahmen für Rechtsbehelfsführer.); siehe auch EuGH v. 2.2.1988 – Rs. 309/85 Barra, Slg. 1988, 355 Rn. 19; GA Slynn, SchlA v. 17.9.1987 – Rs. 293/85 Kommission ./. Belgien, Slg. 1988, 305, 341; Hahn, IStR 2005, 145, 148. 29 EuGH v. 12.2.2008 – Rs. C-2/06 Kempter, Slg. 2008, I-411 Rn. 58 m.w.N.; EuGH v. 28.11.2000 – Rs. C-88/99 Roquette Frères ./. Direction des services fiscaux du Pas-deCalais, Slg. 2000, I-10465 Rn. 20 ff.; EuGH v. 8.2.1996 – Rs. C-212/94 FMC, Slg. 1996, I-389 Rn. 65; Schwarze-Schwarze, EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 267 AEUV Rn. 72; Einzelheiten z.B. bei Mure, JLSS 1995, 417, 418 ff. 30 Z.B. EuGH v. 8.7.2010 – Rs. C-246/09 Bulicke, Slg. 2010, 7003 zu § 15 Abs. 4 AGG. 31 EuGH v. 8.9.2011 – verb. Rs. C-89/10 und C-96/10 Q-Beef, Slg. 2011, I-7819 Rn. 50 ff. 26

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bei ungerechtfertigter Bereicherung ist zulässig.32 Zudem ist es Sache des innerstaatlichen Rechts, den Anspruchsgegner zu bestimmen.33 Demgegenüber steht es grundsätzlich nicht im Ermessen der mitgliedstaatlichen Behörden, ob sie selbst zu Unrecht gezahlte Beträge zurückverlangen wollen.34 Ebenso darf eine Erstattung nicht von der früheren Zahlung unter Vorbehalt abhängig gemacht werden.35 Schließlich steht es den Mitgliedstaaten sogar offen, beschränkende Vorschriften nachträglich und mit einer gewissen Rückwirkung einzuführen.36 Die nationalen Vorschriften dürfen aber nicht ausschließlich auf unionsrechtlich begründete Rechte oder gar ein konkretes EuGH-Urteil anwendbar sein (Verstoß gegen den Äquivalenzgrundsatz).37 Sie dürfen also keine Maßnahmegesetze sein, wohl aber aus Anlass der europarechtlichen Streitigkeit ergehen.38 Die Mitgliedstaaten müssen gegebenenfalls durch Übergangsregelungen verhindern, dass sämtliche Rückforderungsansprüche sogleich nicht mehr durchgesetzt werden können (Verstoß gegen den Effektivitätsgrundsatz).39 Ausnahmen bestehen freilich dort, wo das Unionsrecht besondere Rückwirkungsverbote aufstellt. Dazu zählt beispielsweise das Verbot der Entgeltdiskriminierung, welches in der Übergangsphase eine Angleichung nach oben vorschreibt, was auch für privatrechtliche Vereinbarungen gilt.40 C. Kein grundsätzlicher Ausschluss nationalen Vertrauensschutzes Der Überlegung, nationalen Vertrauensschutz zu gewähren, steht nicht schon entgegen, dass der EuGH über die Reichweite des Unionsrechts in einem Urteil entschieden hat. Nach hiesigem Verständnis begrenzt die Rückwir32 Z.B. EuGH v. 6.9.2011 – Rs. C-398/09 Lady & Kid u.a., Slg. 2011, I-7375 Rn. 16 ff.; EuGH v. 15.11.2011 – Rs. C-310/09 Accor, Slg. 2011, I-8115 Rn. 70 ff.; jeweils m.w.N. 33 GA Kokott, SchlA v. 24.3.2011 – Rs. C-94/10 Danfoss, Slg. 2011, I-9963 Rn. 64 ff. 34 EuGH v. 14.1.1997 – verb. Rs. C-192/95 bis C-218/95 Comateb u.a., Slg. 1997, I-165 Rn. 20. 35 EuGH v. 8.2.1996 – Rs. C-212/94 FMC, Slg. 1996, I-389 Rn. 72. 36 Einzelheiten z.B. bei Schlücke, Die Umsetzung von EuGH-Entscheidungen in das deutsche Steuerrecht, 2014, S. 305 ff.; Tanzer, Die Rückforderung gemeinschaftsrechtswidrig erhobener Abgaben, 2000, S. 207 ff.; Finke, IStR 2006, 212 ff. 37 EuGH v. 29.6.1988 – Rs. 240/87 Deville, Slg. 1988, 3513 Rn. 18; EuGH v. 2.10.2003 – Rs. C-147/01 Weber’s Wine World, Slg. 2003, I-11365 Rn. 86 f.; Fraberger, ÖStZ 2000, 438, 441; Lange, Der Anspruch auf Erstattung gemeinschaftsrechtswidrig erhobener Steuern, 2008, S. 108 f. 38 Kritisch wegen weitreichender Verschleierungsmöglichkeiten der Mitgliedstaaten Seer/Müller, IWB 2008, 311, 323. 39 EuGH v. 30.6.2011 – Rs. C-262/09 Meilicke u.a., Slg. 2011, I-5669 Rn. 57 m.w.N.; de Weerth, DB 2005, 1407, 1408; Drüen, FS Schaumburg, 2009, S. 609, 613; Schlücke, Die Umsetzung von EuGH-Entscheidungen in das deutsche Steuerrecht, 2014, S. 324 f. 40 Vgl. oben § 6 C.II.2. a.E., S. 262 f. und EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-408/92 Smith, Slg. 1994, I-4435 Rn. 15 ff.

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kungsbeschränkung die Wirkungen der Unionsnorm. Weder Rückwirkungsbeschränkung noch nationaler Vertrauensschutz greifen danach die Geltung des EuGH-Urteils selbst an.41 Ebenso ist es keine Voraussetzung für nationalen Vertrauensschutz, dass der EuGH eine Rückwirkungsbeschränkung abgelehnt hat.42 Nationaler Vertrauensschutz kann noch über unionalen hinausgehen, wenngleich dann schutzwürdiges Vertrauen seltener sein dürfte. Der Möglichkeit nationalen Vertrauensschutzes steht weiterhin der Gedanke der lex specialis-Regel nicht entgegen.43 Unionaler und nationaler Vertrauensschutz haben zwar ihren Ursprung jeweils im Grundsatz der Rechtssicherheit, der sowohl im Unionsrecht als auch in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen anerkannt ist. Dennoch kann sich der unionsrechtliche Rechtsgrundsatz hier nicht durchsetzen. Für einen Vorrang aufgrund des Spezialitätsgrundsatzes wäre notwendig, dass Rückwirkungsbeschränkung und nationaler Vertrauensschutz dieselben Umstände zu bewerten haben. Bei ersterer werden aber nationale Besonderheiten nicht berücksichtigt und können auch nicht berücksichtigen werden.44 Durch die Möglichkeit nationalen Vertrauensschutzes wird demnach nicht ein einheitlicher Sachverhalt von EuGH und nationalen Gerichten unterschiedlich bewertet, sondern verschiedene Teile des Geschehens zu verschiedenen Konsequenzen geführt. Es steht gerade keine „simultane Anwendung“ identischer Rechtsgrundsätze zur Debatte.45 In diesem Sinne ist denn auch die Rechtsprechung des EuGH zu seinem Entscheidungsmonopol hinsichtlich des unionalen Vertrauensschutzes zu verstehen. Dass nur der Gerichtshof über eine Rückwirkungsbeschränkung entscheiden kann, steht der Kompetenz nationaler Gerichte zur Gewährung nationalen Vertrauensschutzes nicht entgegen.46 Diese Vorgehensweise fügt sich schließlich insofern in das System des Unionsrechts ein, als die einheitliche Anwendung des Unionsrechts auch im Übrigen nicht garantiert werden kann. Sie steht regelmäßig unter dem Vorbehalt mitgliedstaatlicher Besonderheiten, z.B. aufgrund der Verfahrenshoheit der Mitgliedstaaten oder der 41 Erwogen hingegen jüngst auch von BVerfG v. 10.12.2014 – 2 BvR 1549/07, Rn. 42 (Junk). 42 Anders wohl Bauer/Arnold, NJW 2009, 631, 633; Leonard/Szczekalla, UR 2005, 420, 425. 43 Darauf stützt Domröse, JJZ 2009, 109, 123 ff. den „Ausschluss des Rückgriffs auf funktionsäquivalente Regelungen des autonomen Privatrechts der Mitgliedstaaten“. 44 Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, 1996, S. 121; in diese Richtung auch Sagan, JJZ 2010, 67, 71. 45 Vgl. die Bedenken von Domröse, JJZ 2009, 109, 124 im dortigen Kontext. 46 A.A. Polloczek, Altersdiskriminierung im Licht des Europarechts, 2008, S. 206; Bebr, CMLRev 18 (1981), 475, 493; Abele, RdA 2009, 312, 317; Winter, jurisPR-ArbR 82011, Anm. 6 sub C.; Wollenweber, Das „Mangold“- Urteil und die unmittelbare Wirkung gemeinschaftsrechtlicher Diskriminierungsverbote im deutschen Arbeitsrecht, 2008, S. 172.

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Umsetzungsnotwendigkeit bei Richtlinien. Die Struktur als Mehrebenensystem ermöglicht die Einheitlichkeit des Unionsrechts in sehr weitreichendem Maße, aber eben nicht absolut. D. Nationaler Vertrauensschutz im Verhältnis zu den Kollisionslösungsmechanismen Die Rückwirkungsbeschränkung verkürzt oder verlängert in zeitlicher Hinsicht den inhaltlichen Befehl der Unionsnorm. Sie ruft also nicht selbst einen Normenkonflikt mit dem nationalen Recht hervor. Vielmehr verschiebt eine Rückwirkungsbeschränkung den Eintritt einer Kollision von materiellem Unions- und nationalem Recht. Demnach kommen auch die Mechanismen zur Durchsetzung des Unionsrechts erst mit zeitlicher Verzögerung zur Anwendung.47 In gleichem Maße schafft die Ablehnung einer Rückwirkungsbeschränkung keine Kollision. Ein bereits bestehender Normenkonflikt wird nur nicht (schon) durch Nachgeben aus Gründen der Rechtssicherheit auf unionaler Seite aufgelöst. Folglich kommt es nicht auf den Konflikt der Voraussetzungen und Ergebnisse des unionalen und nationalen Vertrauensschutzes und der resultierenden zeitlichen Wirkungen an,48 sondern auf den sich daraus ergebenden Widerspruch der materiellen Rechtslage in einem bestimmten Zeitpunkt.49 Die Gewährung des nationalen Vertrauensschutzes reduziert sich dann auf die Frage, ob der Durchsetzungsbefehl des Unionsrechts aus Gründen nationaler (Vertrauens-)Umstände zeitweilig suspendiert werden kann.50 Der nationale Vertrauensschutz muss also in Beziehung gesetzt werden zu den Mechanismen, mit denen dem materiellen Unionsrecht (unmittelbar oder mittelbar) zur Durchsetzung verholfen und Kollisionen von Unionsrecht und nationalem Recht aufgelöst werden. Nationaler Vertrauensschutz muss sich als eine Grenze der Geltungs- oder Durchsetzungsmechanismen beschreiben lassen. Hingegen nimmt die Rückwirkungsbeschränkung nicht selbstständig am Anwendungsvorrang teil und setzt sich nicht schon deswegen gegenüber nationalen Regelungen durch.51 Vielmehr steuert die Rückwirkungsbeschrän47 Beispielsweise ist im Falle einer Rückwirkungsbeschränkung ein Verwaltungsakt nur für die Zeit nach dem auslegenden EuGH-Urteil zurückzunehmen, Hauck/NoftzHengelhaupt, SGB III, Stand VII/08, § 330 Rn. 404. 48 So hingegen Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 157; Huep, Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf ältere Sachverhalte, 2001, S. 190 ff.; Huep, RdA 2001, 325, 321; Kirchner, Rückwirkungsproblematik bei der betrieblichen Altersversorgung nach europäischem und deutschem Recht, 2000, S. 179 ff. 49 Wißmann, FS Bauer, 2010, S. 1161, 1167. 50 In diesem Sinne Krois, DB 2010, 1704, 1707; den Konflikt mit den Durchsetzungsmechanismen problematisiert auch Tillmanns, FS Buchner, 2009, S. 885, 896. 51 So aber Huep, RdA 2001, 325, 332.

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kung die zeitliche Geltung einer unmittelbar anwendbaren Unionsnorm und damit indirekt deren Verdrängungswirkung gegenüber kollidierendem, mitgliedstaatlichem Recht. I. Ausgangspunkt 1: Unterscheidung zwischen unmittelbar und mittelbar geltendem Unionsrecht Ist der nationale Vertrauensschutz zu den Schranken der unionalen Geltungsund Durchsetzungsmechanismen in Beziehung zu setzen, ergibt sich eine erste allgemeine Grenze. Jeder unionale Geltungsanspruch besteht nur im Anwendungsbereich des Unionsrechts. Selbstverständliche Voraussetzung ist daher, dass die Unionsnorm den streitigen Sachverhalt erfasst. Außerhalb des Geltungsbereichs des Unionsrechts kann es nicht zu einem Konflikt mit mitgliedstaatlichem Recht kommen, so dass sich keine besonderen Probleme des Vertrauensschutzes für die mitgliedstaatlichen Gerichte stellen.52 Deshalb kommt es nur darauf an, welche Geltung das Unionsrecht beansprucht, nicht welche ihr durch das nationale Recht autonom beigelegt wird. Der Gewährung nationalen Vertrauensschutzes werden daher aus unionaler Sicht keine Grenzen gesetzt, wenn aufgrund autonom-nationaler Anordnung der unionsrechtliche Durchsetzungsmechanismus verschärft wird. Hier bewegt sich die Anwendung nationalen Vertrauensschutzes im außerobligatorischen Bereich außerhalb des Unionsrechts. Als weitere und wichtigere Folgerung ergibt sich, dass für die Frage der Gewährung von nationalem Vertrauensschutz danach unterschieden werden muss, welchen Geltungsanspruch die Unionsnorm hat. Es ist also danach zu differenzieren, ob die Durchsetzung von unmittelbar oder mittelbar anwendbarem Unionsrecht betroffen ist.53 Eben diese Abgrenzung ist gemeint, wenn

52 Vgl. Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 163 f. 53 Wißmann, FS Bauer, 2010, S. 1161, 1167; Koch, JbArbR 44 (2007), 91, 104 ff.; Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 155 ff.; wohl auch Franzen, AP Nr. 23 zu § 14 TzBfG sub IV. 2. a); wortgleich Franzen, RIW 2010, 577, 579; Picker, ZTR 2009, 230, 235. Eine Differenzierung fehlt hingegen bei Steiner, NZA 2008, 73, 76; Bauer/Krieger, NJW 2006, 6, 11; Krois, DB 2010, 1704, 1707; Seifert, JbArbR 48 (2010), 119, 130; Wank, EuZA 2011, 286, 287; Tavakoli/Westhäuser, DB 2008, 702, 705; Mohr, Der Schutz vor Diskriminierungen im Europäischen Arbeitsrecht, 2003, S. 317; Thüsing, ZIP 2005, 2149, 2151; Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, 1996, S. 119; Gaul/Josten/Strauf, BB 2009, 497, 500. Nach unmittelbarer und mittelbarer Anwendbarkeit trennt auch LAG Düsseldorf v. 2.2.2009 – 12 Sa 486/06, Rn. 161 ff., wenngleich es genau die entgegengesetzten Schlussfolgerungen zieht.

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für verschiedene Vertrauensmaßstäbe bei Primär- oder Sekundärrecht eingetreten wird.54 II. Ausgangspunkt 2: Keine Unterscheidung nach beschränkter und nicht beschränkter Rückwirkung oder nach der Verfahrensart Aus den gerade getroffenen Feststellungen ist eine weitere Folgerung herauszuheben. Für die Frage nationalen Vertrauensschutzes kommt es im Ausgangspunkt nicht darauf an, ob der Gerichtshof seinerseits die Rückwirkung beschränkt hat oder nicht. Der maßgebliche Konflikt besteht zwischen den inhaltlich-materiellen Vorschriften des Unionsrechts und denen des mitgliedstaatlichen Rechts. In gleichem Maße tritt die Verfahrensart, in der über die Rückwirkungsbeschränkung entschieden wurde, in den Hintergrund. Ausschlaggebend für die Zulässigkeit nationaler Abweichungen vom unionsrechtlichen Ergebnis ist nur der Geltungsanspruch des Unionsrechts, mithin die Unterscheidung von unmittelbar und mittelbar anwendbaren Vorschriften. III. Ausgangspunkt 3: Keine Kollision, wenn das materielle Unionsrecht nationalen Vertrauensschutz zulässt Drittens folgt hieraus, dass es nicht auf das Verhältnis von Vertrauensschutz und Vorrang unmittelbar anwendbaren Rechts ankommt, wenn schon das materielle Unionsrecht eine Abweichung von seinen Vorgaben aufgrund besonderer nationaler Umstände gestattet. Streng genommen fehlt es dann schon an konkreten Ergebnisvorgaben des Unionsrechts, sodass es nicht zu einer Kollision des nationalen Ergebnisses mit dem einschlägigen Unionsrecht kommen kann. Solche inhärenten Grenzen des Unionsrechts dürften jedoch nur selten anzutreffen sein. Neben ausdrücklichen Fristen zur Umoder Durchsetzung besteht nämlich grundsätzlich kein Anlass, die unionalen Gewährleistungen (konkludent) zu suspendieren. 1. Beispiel: Sportwettenmonopol und Grundfreiheiten Eine solche Lösung wurde beispielsweise in der Auseinandersetzung um die Zulässigkeit des deutschen Sportwettenmonopols vertreten.55 Dort ist vom EuGH anerkannt, dass die Mitgliedstaaten zum Schutz zwingender Allgemeininteressen ein staatliches Monopol zur Durchführung oder Vermittlung

54 Z.B. BAG v. 23.3.2010 – 9 AZR 128/09, Rn. 80 ff. m.w.N.; Lunk, FS Reuter, 2010, S. 689, 696 ff.; Preis/Temming, NZA 2010, 185, 188; Dörner, NZA 2007, 57, 59; Spelge, FA 2011, 34; Nicolai, AP Nr. 22 zu § 17 KSchG 1969 a.E. 55 Zu den Folgen der Sportwettenrechtsprechung auch unten § 15 D., S. 456 ff.

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von Wetten einführen oder aufrechterhalten dürfen.56 Der Verwaltungsgerichtshof Kassel ging davon aus, dies erlaube es auch, „während des Übergangs zu einem diesen Erfordernissen entsprechenden rechtlichen und tatsächlichen Zustand unter vorübergehender Anwendung des geltenden Rechts keine private Betätigung bei der Veranstaltung und Vermittlung von Sportwetten zuzulassen, wenn durch die Zulassung privater Veranstalter und Vermittler die auf die Herbeiführung eines gemeinschaftskonformen staatlichen Sportwettenmonopols ausgerichtete Konzeption des Staates gefährdet und

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hierdurch eine – nicht anders auszuräumende – erhebliche Gefährdung wichtiger Allgemeininteressen herbeigeführt würde, die deutlich schwerer wiegt als die Beeinträchtigung der gemeinschaftsrechtlich verbürgten Grundfreiheiten der durch die staatlichen Maßnahmen betroffenen Anbieter.“57

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Nach Ansicht des VGH Kassel stellt diese Übergangsfrist keine Suspendierung des Anwendungsvorrangs dar, sondern ist als verhältnismäßige Beschränkung der beeinträchtigten Grundfreiheiten zugelassen.58 Es fehlt danach schon an einem Verstoß der Übergangsfrist gegen unmittelbar anwendbare, primärrechtliche Freiheitsgewährleistungen. Eine vergleichbare Argumentation verfolgte der Verwaltungsgerichtshof München. Nach der Feststellung, dass bisher nicht geklärt sei, ob der EuGH eine Suspendierung des Anwendungsvorrangs erlauben würde oder nicht,59 führt der VGH aus, es bestehe dafür keine Notwendigkeit, da es schon an einem Verstoß gegen das materielle Gemeinschaftsrecht fehle. Versuche nämlich der (bayrische) Gesetzgeber, „in einem angemessenen Zeitrahmen alles zu tun, um auch dem [Unions]recht effektiv zur Durchsetzung zu verhelfen“, sei eine nationale Regelung im Einklang mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit auch dann anzuwenden, „wenn alle erforderlichen Schritte in die Wege geleitet wurden, um alsbald die Vereinbarkeit mit [Unions]recht herzustellen“.60 Auf die bisherige Rechtsprechung des EuGH lassen sich diese Entscheidungen freilich nicht stützen. Der Gerichtshof hat zwar durchaus anerkannt, dass Übergangsfristen als Teil einer Neuregelung ein im Übrigen kohärentes Glücksspielsystem nicht inkohärent machen. So prüfte er in Carmen Media Group, ob eine gesetzliche Übergangsfrist, die Wettanbietern eingeräumt wird, um die von ihnen ausschließlich benutzten Vertriebskanäle, welche in Zukunft verboten sein werden, auf zulässige Vertriebskanäle umzustellen, die 56

EuGH v. 21.10.1999 – Rs. C-67/98 Zenatti, Slg. 1999, I-7289 Rn. 35. VGH Kassel v. 25.7.2006 – 11 TG 1465/06, Rn. 42 (Aufzählungszeichen vom Verfasser). 58 VGH Kassel v. 25.7.2006 – 11 TG 1465/06, Rn. 42. 59 VGH München v. 3.8.2006 – 24 CS 06.1365, sub 2. e) (6) (Rn. 62). 60 VGH München v. 3.8.2006 – 24 CS 06.1365, sub 2. e) (6) a.E. (Rn. 63). 57

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Kohärenz der staatlichen Regulierung des Glücksspiels aufhebt und daher zu einem Verstoß gegen das Unionsrecht führt, wenn die erstrebte Endregelung (Verbot der Internetwetten) eine rechtmäßige Beschränkung der Grundfreiheiten darstellt. Eine solche Übergangsmaßnahme ist durch Rechtssicherheitserwägungen gerechtfertigt, wenn sie zeitlich angemessen ist, alle Betroffenen in ihren Genuss kommen können und sie das Endziel nicht konterkariert.61 Hierbei wird – wie auch bei den im Urteil in Bezug genommenen Entscheidungen C-347/0662 und C-171/0763 – also nicht ein eigentlich grundfreiheitenwidriger Zustand aufrechterhalten; die Übergangsfrist muss nämlich allen Marktteilnehmern zugutekommen und wirkt daher nicht marktzugangsbeschränkend. Die Rechtssicherheitserwägungen kollidieren demnach nicht mit dem Interesse der Union an einem einheitlichen Binnenmarkt. Hingegen wird mit den Übergangsfristen der Verwaltungsgerichtshöfe Kassel und München eine grundfreiheitenwidrige Rechtslage perpetuiert. Darüber hinaus wiederspricht es der Systematik des Unionsrechts, die zeitliche Dimension der Verpflichtung zur Durchsetzung des Unionsrechts als Frage des materiellen Rechts anzusehen. Letztlich soll hier nicht die materiellrechtliche Vorgabe des Unionsrechts bezweifelt, sondern dem säumigen Mitgliedstaat eine (zusätzliche) Frist für die Beseitigung eines Rechtsverstoßes eingeräumt werden. Dieses Bestreben ist aber einheitlich bei der Frage der Kollisionsfolgen zu bündeln. Die maßgeblichen Interessen sind hier dieselben wie dort. 2. Beispiel: Altersdiskriminierung und Chartagrundrechte Als weiteres Beispiel lässt sich auf das Vorhaben von Sagan verweisen, die Wirkung der Chartagrundrechte unter Berufung auf Art. 52 Abs. 1 EuGRC zu begrenzen. Ihm zufolge könne der Gewährleistungsgehalt der Grundrechte schon materiellrechtlich unter Berufung auf nationale Rechtsgrundsätze (z.B. Vertrauensschutz nach Art. 20 Abs. 3 GG) beschränkt werden.64 Den Grundrechten der Charta wird damit ein einheitlicher Inhalt weitgehend abgesprochen, so dass es schon an einer Kollision unionsrechtlicher Vorgaben mit den nationalen Beschränkungen fehlen würde. Ob dies dem Charakter der Charta gerecht wird, muss bezweifelt werden, soll hier aber dahinstehen.

61

EuGH v. 8.9.2010 – Rs. C-46/08 Carmen Media Group, Slg. 2010, I-8149 Rn. 108-

110.

62

EuGH v. 17.7.2008 – Rs. C-347/06 ASM Brescia, Slg. 2008, I-5641. EuGH v. 15.9.2009 – verb. Rs. C-171/07 und C-172/07 Apothekerkammer des Saarlandes u.a., Slg. 2009, I-4171. 64 Sagan, JJZ 2010, 67, 96 f. 63

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IV. Ausgangspunkt 4: Vertragsverletzung bei Überschreiten der unionsrechtlichen Grenzen Schließlich wird deutlich, dass die Gewährung nationalen Vertrauensschutzes eine Verletzung des Unionsrechts darstellen und daher im Vertragsverletzungsverfahren gerügt werden kann. Ein Überschreiten der Grenzen der jeweiligen Durchsetzungsmechanismen des Unionsrechts kann von der Kommission oder anderen Mitgliedstaaten im Verfahren der Art. 258 ff. AEUV gerügt werden. Besondere Fragen werden dabei nicht aufgeworfen. Insbesondere ist Voraussetzung, dass ein Verstoß gegen die unionsrechtlichen Grenzen vorliegt und nicht nur die nationalen Schranken des Vertrauensschutzes überschritten wurden. Wie in allen anderen Fällen dient das Vertragsverletzungsverfahren nicht dem Rechtsschutz des Einzelnen, sondern der Effektivierung des Unionsrechts.65 Am erforderlichen Rechtsschutzinteresse der Kommission dürfte es nur dann fehlen, wenn alle nationalen Sachverhalte, die für die Gewährung von Vertrauensschutz in Betracht kommen, rechtskräftig entschieden wurden, denn der Vertragsverstoß aktualisiert sich schon bei jeder weiteren entsprechenden nationalen Gerichtsentscheidung.66

§ 14 Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als nationalverfassungsrechtliche Integrationsschranke? Nationalverfassungsrechtliche Integrationsschranken Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Ermächtigung zur Teilnahme an der Europäischen Union könnten sich zuerst als Ansatzpunkt für nationalen Vertrauensschutz fruchtbar machen lassen. Diese „Integrationsschranken“67 beruhen freilich auf dem Gedanken, dass die Übertragung der Hoheitsrechte letztlich auf den entsprechenden Verfassungsbestimmungen der Mitgliedstaaten basiert und daher auch durch die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte überprüft werden kann.68 Sie gelten für das gesamte Unionsrecht, das heißt sowohl für unmittelbar und mittelbar anwendbares Rechts als auch Akte jeglicher unionaler Hoheitsträger. A. Ausbrechende Rechtsakte/ultra vires-Handlungen Eine erste Schranke der Geltung des Unionsrechts ist die Unverbindlichkeit sogenannter ausbrechender Rechtsakte. Hierbei geht es darum, unionalen 65

Calliess/Ruffert-Cremer, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 258 AEUV Rn. 2. A.A. Wißmann, FS Bauer, 2010, S. 1161, 1168, der das Rechtsschutzbedürfnis grundsätzlich verneint. 67 Vgl. z.B. Streinz, Europarecht, 9. Aufl. 2012, Rn. 227; für eine Vereinheitlichung der Prüfungsmaßstäbe kürzlich Dederer, JZ 2014, 313. 68 Streinz, Europarecht, 9. Aufl. 2012, Rn. 223. 66

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Rechtsakten die Anerkennung in der nationalen Rechtsordnung zu versagen, wenn der Rechtsakt die Kompetenzen der Union überschreitet. Anwendung findet diese Grenze auch auf Judikativakte des EuGH, weshalb einzelne durch Rechtsprechung entwickelte Institute als kompetenzwidrig unangewendet bleiben könnten. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts kann es die Kompetenzausübung der Union überwachen. Dabei beachtet das Gericht die Besonderheiten des Unionsrechts im Rahmen des Kooperationsverhältnisses und gibt dem EuGH Gelegenheit zur begrenzenden Interpretation des Unionsrechts.69 Maßstab der verfassungsgerichtlichen Kontrolle sind die vom Zustimmungsgesetz in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 GG eingeräumten Zuständigkeiten. In der Rechtssache Honeywell konkretisierte das Bundesverfassungsgericht erneut seine Anforderungen an die Feststellung eines ausbrechenden Rechtsakts und verlangt einen offensichtlichen und erheblichen Verstoß gegen die vom EUV eingerichtete Kompetenzordnung.70 Es ist also erforderlich, dass der Verstoß „systemrelevant“ oder „strukturell“ ist, also kein unbedeutender Einzelfall war.71 Nach diesen Maßstäben ist die Rückwirkungsbeschränkungsrechtsprechung kein ultra vires-Akt. Die primärrechtlichen Kompetenzgrundlagen der Rückwirkungsbeschränkung wurden schon erörtert.72 Es ist nicht ersichtlich, warum diese Kompetenztitel aus verfassungsrechtlicher Sicht signifikant anders zu interpretieren sind. Als Annex zu den materiellen Aussagen eines EuGH-Urteils führt die Rückwirkungsbeschränkung nur zu einer temporären Negation der Wirkungen der streitigen oder ausgelegten Norm. Die Rückwirkungsbeschränkung teilt demnach das Schicksal des gesamten Urteils. Ist der materielle Teil kompetenzgemäß, wird dies durch eine Entscheidung zur zeitlichen Wirkung nicht beeinträchtigt. Stellt das Urteil im materiellen Teil einen ausbrechenden Rechtsakt dar, so kann daran grundsätzlich auch eine Rückwirkungsbeschränkung nichts ändern. Eine Ausnahme ist nur dann möglich, wenn die Beschränkung der zeitlichen Wirkungen dazu führt, dass die neue Rechtslage erst nach einer nunmehr genügenden Kompetenzeinräumung Anwendung findet.

69

Siehe BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, Rn. 60, 66 (Honeywell); Einzelheiten z.B. bei Pötters/Traut, EuR 2011, 580 ff.; vgl. auch BVerfG v. 14.2.2014 – 2 BvE 13/13 u.a. 70 BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, Rn. 61 m.w.N. (Honeywell); kritisch z.B. Proelß, EuR 2011, 241, 247 f. 71 Streinz, FS G.H. Roth, 2011, S. 823, 829; Classen, JZ 2010, 1186. 72 Siehe oben § 5, S. 112 ff.

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B. Verfassungsidentität Seit der Lissabon-Entscheidung ist mit der „Verfassungsidentität“ eine weitere Grenze des Unionsrechts anerkannt.73 Der unantastbare Kern des Grundgesetzes aus Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG ist integrationsfest.74 Neben dem eingehend zu untersuchenden Grundrechtsschutz (sogleich C.) zählen hierzu die souveräne Staatlichkeit Deutschlands, das Föderalismusprinzip und der Demokratiegrundsatz.75 Damit soll ein „Identitätswechsel“ verhindert werden und den Mitgliedstaaten „ein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse“ belassen werden.76 Diese Vorgaben gelten nicht nur für (zukünftige) Kompetenzübertragungen, sondern auch als Schranken für die Anwendung der bereits bestehenden Unionsverträge.77 Der Grundsatz der Gewaltenteilung dürfte dabei zwar zur Verfassungsidentität Deutschlands zählen – trotz aller Unklarheiten über die Reichweite dieses Begriffs78. Die Rückwirkung oder Nichtrückwirkung einzelner Gerichtsentscheidungen stellt dagegen keinen Eingriff in den Kernbereich der deutschen Verfassung dar. Das gilt auch bei Urteilen zu unmittelbar anwendbaren Unionsnormen, die zur Verdrängung nationaler Gesetze und damit zum Konflikt mit dem nationalen Gesetzgeber führen.79 Denn schließlich ist mit der Rückwirkungsbeschränkungsrechtsprechung grundsätzlich ein unionsrechtliches Instrument zur Wahrung von Rechtssicherheit und Vertrauensschutz anerkannt. C. Grundrechtsschutz und Solange-Rechtsprechung An Raum für nationalen Vertrauensschutz könnte es fehlen, wenn das Judikativrückwirkungsverbot zu den verfassungsrechtlichen Bereichen zählt, in denen nach der sogenannten Solange-Rechtsprechung eine deutsche Gerichtsbarkeit nicht mehr ausgeübt wird. Wenn dies auch für das Judikativrückwirkungsverbot gilt, ist die Prüfung von nationalem Vertrauensschutz als autonome Schranke der Durchsetzung und Anwendung von Unionsrecht ausgeschlossen. Vertrauensschutz darf dann nicht ins Feld geführt werden, um ein unional zwingend vorgegebenes Ergebnis zu umgehen. Anders gewendet ist zu fragen, ob der Solange-Vorbehalt eine allgemeine Vertrauens73 Zu den Wurzeln dieser Rechtsprechung in Solange II siehe Michels, JA 2012, 512, 518; auf Solange I rekurriert Schwarze-Hatje, EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 4 EUV Rn. 13. 74 Lübbe-Wolff, YbEL 30 (2011), 86, 89. 75 Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 8. Aufl. 2012, Rn. 126. 76 BVerfG v. 30.6.2009 – 2 BvE 2/08 u.a., Rn. 179, 249 (Lissabon). 77 Walter, ZaöRV 72 (2012), 177, 183. 78 Vgl. z.B. Walter, ZaöRV 72 (2012), 177, 190 ff. m.w.N. 79 Beukers, CMLRev 48 (2011), 1985, 2002 f.

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schutzprüfung von EuGH-Urteilen ermöglicht, weil der Gerichtshof keinen eigenen (ausreichenden) Vertrauensschutz gewährt. Zu Überschneidungen von nationalem und unionalem Rückwirkungsverbot kommt es immer dann, wenn das mitgliedstaatliche Recht sachlich-inhaltlich durch das Unionsrecht vorbestimmt ist.80 Besteht für die Mitgliedstaaten ein Ermessensspielraum hinsichtlich der Sachregelung, gilt dort nur der nationale Vertrauensschutz.81 Die Solange-Rechtsprechung wurde für den Grundrechtsschutz entwickelt. Nach einer Darstellung des diesbezüglichen Streitstandes ist zu prüfen, ob und wieweit dieser auf die Rechtsprechungsrückwirkung übertragbar ist. Dabei wird sich ergeben, dass nationaler Vertrauensschutz nur noch soweit ausgeübt werden kann, wie das Unionsrecht ihn zulässt. I.

Solange-Rechtsprechung

Vom Vorrang des Unionsrechts vor dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten ist nicht nur einfachgesetzliches, sondern auch das Verfassungsrecht betroffen. Da jedoch die Ausschaltung des Grundrechtsschutzes in Deutschland wegen des Menschenwürdekerns der Grundrechte und dessen Ewigkeitsgarantie (Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, 3 GG) verfassungsrechtlich untersagt ist (jetzt Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG), sah sich das Bundesverfassungsgericht gezwungen, das Gemeinschaftsrecht und dessen Anwendung in Deutschland anhand der nationalen Grundrechte zu prüfen. Da damit die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts auf dem Spiel stand, forcierte es der EuGH, selbst Grundrechte der Gemeinschaft als deren allgemeine Rechtsgrundsätze – und daher mit Primärrechtsrang – zu entwickeln und den Erlass und die Anwendung des Gemeinschaftsrechts daran zu messen. Seit dem Vertrag von Lissabon folgen die Unionsgrundrechte (zusätzlich) aus der Europäischen Grundrechtecharta als Unionsprimärrecht, Art. 6 Abs. 1 EUV, und außerdem aus Art. 6 Abs. 3 EUV als Grundrechte, wie sie sich aus der EMRK und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts ergeben. Das Bundesverfassungsgericht ist in der Solange II-Entscheidung dazu übergegangen, seine eigene Prüfungskompetenz zurückzunehmen, solange die Union einen wirksamen, dem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichba-

80

So zur Legislativrückwirkung Kadelbach/Sobotta, EWS 1996, 11, 13; Berg/Nachtsheim, DVBl 2001, 1103, 1107; vorsichtiger Heukels, Intertemporales Gemeinschaftsrecht, 1990, S. 254, 311. 81 Zu dieser Abgrenzung bei den Grundrechten J.-P. Schneider, Verfassungsgerichtsbarkeit und Europäischer Gerichtshof, 2008, S. 11, 16 m.w.N.; Calliess/Ruffert-Kingreen, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 51 EUGRCharta Rn. 12; Kanitz/Steinberg, EuR 2003, 1013, 1027; Preis/Temming, NZA 2010, 185, 193.

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ren Grundrechtsschutz generell gewährleistet.82 Insoweit sind auch die übrigen deutschen Gerichte gehindert, die unionsrechtlichen Maßnahmen an den deutschen Grundrechten zu messen. Dies erfasst auch die Umsetzung von zwingenden Vorgaben von Richtlinien nach Art. 288 Abs. 3 AEUV und an die Bundesrepublik Deutschland gerichteten Beschlüssen der Kommission nach Art. 288 Abs. 4 AEUV.83 Soweit jene Gestaltungsspielräume ermöglichen, übt das BVerfG seine Prüfungskompetenz hinsichtlich der Ausnutzung dieser Spielräume aus.84 Der Vorbehalt einer eigenständigen Grundrechtsprüfung durch das Bundesverfassungsgericht zählt damit zum nicht-begebbaren Kern der deutschen Verfassung, während der Grundrechtsschutz selbst auch durch die Organe der Union sichergestellt werden kann.85 Die Anforderungen der Solange-Rechtsprechung sind mittlerweile in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG positivrechtlich normiert. II. Übertragung auf das Judikativrückwirkungsverbot 1. Vertrauensschutz als grundrechtsrelevante Verfassungsgarantie Es wurde schon festgestellt, dass das Judikativrückwirkungsverbot nicht selbst zum unantastbaren – und damit unübertragbaren – Kernbereich der Verfassung gehört. Vielmehr wird es wie die Grundrechte von seiner unionalen Entsprechung verdrängt. Damit erfassen die Solange-Rechtsprechung und Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG nicht nur die Grundrechte, sondern auch die grundrechtsrelevanten Ausprägungen der rechtsstaatlichen Verfassungsgarantien.86 Das gilt besonders für die Gewährleistungen des Vertrauensschutzes, ohne dass es darauf ankommt, ob man diese den Grundrechten zuschlägt oder die Ableitung aus dem Rechtsstaatsprinzip betont. Diesem Zweiklang entspricht es, wenn das Bundesverfassungsgericht einen Grundrechtsverstoß durch die Verneinung von Vertrauensschutz prüft und den Grundsatz dennoch aus dem Rechtsstaatsprinzip begründet.87 Normativ lässt sich dies wie folgt begründen: Der Solange-Vorbehalt erfasst als Ausdruck der Ewigkeitsgarantie die Bereiche, die von Art. 79 Abs. 3 GG geschützt werden, also „die in den Art. 1 und 20 [GG] niedergelegten Grundsätze“. Es liegt nahe, nicht nur bei den 82

BVerfG v. 22.10.1986 – 2 BvR 197/83, Rn. 117 (Solange II); BVerfG v. 2.3.2010 – 1 BvR 256/08 u.a., Rn. 181 (Vorratsdatenspeicherung); siehe auch Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG. 83 BVerfG v. 2.3.2010 – 1 BvR 256/08 u.a., Rn. 181 (Vorratsdatenspeicherung); BVerfG v. 13.3.2007 – 1 BvF 1/05, Rn. 68 ff. (Emissionshandel); BVerfG v. 4.10.2011 – 1 BvL 3/08, Rn. 46 (Investitionszulagengesetz). 84 BVerfG v. 2.3.2010 – 1 BvR 256/08 u.a., Rn. 182 (Vorratsdatenspeicherung). 85 In diesem Sinne Maunz/Dürig-Herdegen, Grundgesetz-Kommentar, 68. EL 2013, Art. 79 Rn. 162 f. 86 Kadelbach/Sobotta, EWS 1996, 11, 13 zur Übertragung auf das Legislativrückwirkungsverbot. 87 Z.B. BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, Rn. 80 f. (Honeywell).

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Grundrechten, sondern auch bei den individualschützenden Komponenten der anderen Staatsprinzipien zu ermöglichen, dass der von Art. 79 Abs. 3 GG geforderte Mindestschutz auch auf Unionsebene gewährleistet wird. Das ist sinnvoll, weil jede verfassungsgerichtliche Rechtsprechung, die (auch) individualschützende Wirkung hat, zumindest unter dem grundrechtlichen Schutz von Art. 2 Abs. 1 GG steht. In der Tat geht es bei Vertrauensschutz gegen Rechtsprechung „der Sache nach um grundrechtliche Rechtspositionen derjenigen Marktbürger […], die auf die Gültigkeit einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift vertraut haben“88. Gleichwohl schien das Bundesverfassungsgericht ein anderes Verständnis zugrunde zu legen, wenn es in seiner HoneywellEntscheidung die Grundrechtsprüfung (einschließlich des Hinweises auf die Solange-Rechtsprechung) von der Prüfung des Vertrauensschutzes abgrenzte, weil es erstere der Zulässigkeit und letztere der Begründetheit einer Verfassungsklage zuordnet.89 In seiner jüngeren Junk-Entscheidung schließt es eine Prüfung des Solange-Vorbehalts zugunsten von nationalen Vertrauensschutzerwägungen hingegen nicht von vornherein aus.90 2. Vergleich des Schutzniveaus Nach den Vorgaben der Solange-Rechtsprechung entfällt die nationale Prüfung des Vertrauensschutzes nur, wenn das unionale Schutzniveau dem deutschen im Wesentlichen gleichwertig ist. In Bezug auf den Grundrechtsschutz waren für die Einschränkung der Prüfungskompetenz ausschlaggebend „die prinzipielle Haltung, die der Gerichtshof mittlerweile gegenüber der Grundrechtsgebundenheit der Gemeinschaft, der normativen Verankerung der Grundrechte im Gemeinschaftsrecht und dessen normativer Verbindung (insoweit) mit den mitgliedsstaatlichen Verfassungen und mit der Europäischen Menschenrechtskonvention einnimmt sowie die tatsächliche Bedeutung, die der Grundrechtsschutz inzwischen in der Handhabung des Gerichtshofs gewonnen hat“91

sowie dass „anhand des mittlerweile erreichten Standes der Rechtsprechung des Gerichtshofs auch nicht zu erwarten [ist], daß über die normative Verklammerung des Gemeinschaftsrechts mit den Verfassungen der Mitgliedsstaaten sich eine Absenkung des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsstandards auf ein Maß ergäbe, das von Grundgesetzes wegen nicht mehr als ein generell angemessener Grundrechtsschutz angesprochen werden könnte.“92 88

Franzen, AP Nr. 23 zu § 14 TzBfG sub IV. 2. a); Franzen, RIW 2010, 577, 579; i.Erg. ähnlich z.B. Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, 2002, S. 273 ff. (Vertrauensschutz als Teilfrage der Verhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffs) 89 Ausdrücklich BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, Rn. 45 i.V.m. Rn. 80 ff. (Honeywell); in diesem Sinne auch BVerfG v. 17.2.2000 – 2 BvR 1210/98, Rn. 19 f. (Alcan). 90 BVerfG v. 10.12.2014 – 2 BvR 1549/07, Rn. 41 (Junk). 91 BVerfG v. 22.10.1986 – 2 BvR 197/83, Rn. 113 (Solange II). 92 BVerfG v. 22.10.1986 – 2 BvR 197/83, Rn. 115 (Solange II).

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Ausreichend und erforderlich ist damit die Selbstbindung des Gerichtshofs an den unionsrechtlichen Grundsatz der Rechtssicherheit und ein nicht im Ganzen unangemessenes Schutzniveau. In Anlehnung an die ultra vires-Doktrin liegt auch hier ein Verstoß gegen Art. 79 Abs. 3 GG nur vor, wenn ein strukturelles Defizit des unionsrechtlichen Vertrauensschutzes zu verzeichnen ist und das Minimum des verfassungsrechtlich garantierten Vertrauensschutzes noch unterschritten wird.93 Der Vergleich wird bei den Grundrechten nicht separat für jedes Grundrecht durchgeführt, sondern es erfolgt eine „ergebnisbezogene Gesamtbetrachtung“.94 Daher sollten auch bei der Rechtsprechungsrückwirkung nicht die einzelnen (Verfahrens-)Konstellationen unterschieden werden. Vielmehr sind nur die generellen Schutzniveaus zu vergleichen. Die entsprechenden Grundsätze der EuGH-Rechtsprechung wurden oben eingehend erörtert:95 Der Gerichtshof anerkennt den Grundsatz der Rechtssicherheit als Basis einer Rückwirkungsbeschränkung, die in allen Verfahrenssituationen möglich ist und sämtliche Rechtsakte der Union betreffen kann. Die Voraussetzungen sind dabei recht unterschiedlich, berücksichtigen aber jedenfalls die subjektiven Vertrauenspositionen der Rechtsunterworfenen. Außerdem ist zu beachten, dass das Unionsrecht nationalen Vertrauensschutz nicht in sämtlichen Konstellationen ausschließt, insbesondere bei Richtlinienrecht ist ein die Rückwirkungsbeschränkung ergänzender Vertrauensschutz nicht ausgeschlossen.96 Außerdem kann regelmäßig Vertrauensschutz in Form der Bestandskraft geltend gemacht werden.97 Die Bestimmung des deutschen Vergleichsmaßstabs stellt sich dabei als durchaus schwierig heraus. Zum einen existieren keine einheitlichen Vorgaben oder Praktiken in den unterschiedlichen Gerichtsbarkeiten.98 Zum ande93

Für einen angeglichenen Maßstab z.B. Proelß, EuR 2011, 241, 254; Classen, JZ 2010, 1186; für den strengeren Maßstab bei der ultra vires-Kontrolle Sauer, EuZW 2011, 94, 96. 94 von Mangoldt/Klein/Starck-Classen, GG, 6. Aufl. 2010, Art. 23 Rn. 43; SachsStreinz, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 23 Rn. 43; Kischel, Der Staat 39 (2000), 523, 538 ff. 95 Siehe oben § 6, S. 130 ff. und § 7, S. 293 ff. 96 Eingehend unten § 16, S. 478 ff. 97 Siehe oben § 13 B.I., S. 432. 98 Vgl. Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, 1996, S. 78 ff.; Altmeyer, Vertrauensschutz im Recht der Europäischen Union und im deutschen Recht, 2003, S. 134 f.; v. Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, S. 449 ff.; Huep, Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf ältere Sachverhalte, 2001, S. 32 ff. (zu BAG und BVerfG); Lübbe, Grenzen der Rückwirkung bei Rechtsprechungsänderungen, 1998, S. 61 ff. (zu BAG und BGH); Lunk, FS Reuter, 2010, S. 689, 704 (zu BAG und BGH); Klappstein, Die Rechtsprechungsänderung mit Wirkung für die Zukunft, 2009, S. 81 ff. (zu BVerfG und BGH); aus der älteren Literatur Arndt, Probleme rückwirkender Rechtsprechungsänderung, 1974, passim (insb. zusammenfassend S. 130 f.). Ohne eine solche Feststellung hingegen z.B. Balthasar, JJZ 2010, 39, 53 ff.

§ 14 Nationalverfassungsrechtliche Integrationsschranken

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ren dient der innerdeutsche Vertrauensschutz allenfalls als Anhaltspunkt für die Bestimmung des durch die Ewigkeitsgarantie gebotenen Mindestmaßstabs. Eindeutig ist nur, dass im unionalen Kontext kein Vertrauensschutz verlangt werden kann, wenn in einem vergleichbaren innerdeutschen Sachverhalt selbiger auch nicht gewährt würde. Zudem ist zu beachten, dass wie bei den Grundrechten auch beim Vertrauensschutz eine Beurteilung nach der absoluten Höhe des Schutzniveaus spätestens dann versagt, wenn es – wie regelmäßig im Privatrecht, aber nicht nur dort – um den Ausgleich widerstreitender Rechtspositionen geht.99 Beruft sich der Arbeitgeber auf den Wortlaut des deutschen § 622 Abs. 2 S. 2 BGB und der Arbeitnehmer auf den Inhalt des insoweit anerkannten unionsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes, dann lässt sich ein „höheres“ Schutzniveau schlicht nicht allein aus dem Prinzip der Rechtssicherheit ohne Rückgriff auf weitere Wertungselemente begründen. Berücksichtigt man all dies, ist festzustellen, dass der europarechtliche Vertrauensschutz nicht strukturell hinter dem Kern seines deutschen Pendants zurückbleibt.100 Die Bindung des EuGH an den allgemeinen Rechtsgrundsatz der Rechtssicherheit ist der Bindung der deutschen Gerichte aus Art. 20 Abs. 3 GG gleichwertig. Die Rechtssicherheit ist jederzeit zu beachten und berücksichtigt auch subjektive Interessen der Rechtsunterworfenen. Die unionale Interessenabwägung darf schließlich das Bedürfnis einer einheitlichen Anwendung des Unionsrechts besonders betonen.101 3. Ergebnis Danach ergibt sich, dass nationaler Vertrauensschutz entsprechend der Solange-Rechtsprechung den unionsrechtlichen Vorgaben nicht entgegengehalten werden kann. Die Handlungen der Unionsorgane (einschließlich der Rechtsprechung des EuGH) können nicht auf ihre Vereinbarkeit mit einem nationalen Vertrauensschutz geprüft werden. Nicht davon erfasst ist freilich der mitgliedstaatliche Vertrauensschutz, der vom Unionsrecht zugelassen oder sogar gefordert wird. Dies entspricht im Ergebnis der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. In seinem Beschluss in der Rechtssache Honeywell hob es ausdrücklich die Möglichkeit nationalen Vertrauensschutzes bei einer unionsrechtlich 99

Gegen den „individualanspruchsorientierten Rechtsbegriff“ auch Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, 2002, 421 f. m.w.N. 100 I.Erg. ebenso Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 165; Franzen, AP Nr. 23 zu § 14 TzBfG sub IV. 2. a); Bauer/Arnold, NJW 2006, 6, 10; Höpfner, ZfA 2010, 449, 484; wohl auch Steiner, NZA 2008, 73, 75 f.; ebenso Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, 2002, S. 551 ff. (zum Vertrauensschutz in all seinen Ausprägungen). 101 In diese Richtung BVerfG v. 17.2.2000 – 2 BvR 1210/98, Rn. 21 (Alcan).

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zwingenden Unanwendbarkeit des einfachen deutschen Rechts hervor. Es prüfte zwar eine Verletzung des Grundrechts aus Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG durch die Nichtgewährung von Vertrauensschutz,102 ließ aber die Solange-Rechtsprechung völlig unerwähnt. Das Bundesverfassungsgericht verwies vielmehr auf die Vorbestimmung dieser Frage durch das Unionsrecht und anerkannte insoweit den Vorrang der Rückwirkungsbeschränkungsrechtsprechung einschließlich des Entscheidungsmonopols des EuGH.103 Zuletzt postulierte es – etwas apodiktisch – die Zulässigkeit nationalen Vertrauensschutzes durch ausgleichende Staatshaftung, jedoch erkennbar in dem Willen, die unionsrechtlichen Vorgaben nicht zu überschreiten.104

§ 15 Unmittelbar anwendbares Unionsrecht Unmittelbar anwendbares Unionsrecht Die Durchführung unmittelbar anwendbaren Unionsrechts im Einzelfall wird abseits des unionsunmittelbaren Vollzugs vorrangig durch zwei Mechanismen sichergestellt. Zum einen kommt dem Unionsrecht im Falle einer Kollision mit nationalem Recht ein Anwendungsvorrang zu.105 Zum anderen kann eine solche Kollision schon durch eine Konformauslegung des mitgliedstaatlichen Rechts ausgeräumt werden. Diese Mechanismen sind Teil der sich aus Art. 4 Abs. 3 EUV ergebenden Durchsetzungspflichten der Mitgliedstaaten. Danach müssen alle nationalen Staatsgewalten der Ergebnisvorgabe des Unionsrechts unmittelbar nachkommen. A. Konformauslegung ohne Bedeutung Die Konformauslegung lässt sich als erster Durchsetzungsmechanismus unmittelbar anwendbaren Unionsrechts begreifen. Sie besteht neben dem Anwendungsvorrang als ein Mittel, der Kollision von nationalem Recht und Unionsrecht abzuhelfen.106 Da schon der Vorrang den Konflikt auflösen würde, kann die Konformauslegung als „deklaratorische Adaption“ bezeichnet werden.107 Sie ist aber dennoch weder überflüssig noch ausgeschlossen, son-

102

BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, Rn. 80 (Honeywell). BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, Rn. 83 (Honeywell). 104 BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, Rn. 84 (Honeywell); dazu eingehend unten § 17, S. 497 ff. 105 Zur Einordnung als Kollisions- oder Rangregel ausführlich Funke, DÖV 2007, 733, 735 ff. m.w.N. 106 Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 231 f. m.w.N. 107 Herresthal, Rechtsfortbildung im europäischen Bezugsrahmen, 2006, S. 267 ff., 292. 103

§ 15 Unmittelbar anwendbares Unionsrecht

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dern unionsrechtlich vorrangig, da sie ein milderes Mittel zur Konfliktbeseitigung darstellt als der Anwendungsvorrang.108 Für die Frage nach mitgliedstaatlichen Ausnahmen von der zeitlichen Geltung des unmittelbar anwendbaren Unionsrechts ist die Konformauslegung hingegen ohne Bedeutung. Sollte die Konformauslegung nämlich an mitgliedstaatlichen Schranken scheitern, kommt der Anwendungsvorrang vollumfänglich zur Geltung. Die adaptive Konformauslegung ist ein den Mitgliedstaaten gestattetes Mittel, welches den Anwendungsvorrang nicht verdrängt, sondern allenfalls verdeckt.109 Der nationale Rechtsanwender kann demnach nicht durch eine Wahl der Konformauslegung die Pflichten des Anwendungsvorrangs umgehen.110 Maßgeblich sind daher allein die Grenzen des Anwendungsvorrangs, freilich unter Beachtung inhaltlicher Schranken aufgrund einer eventuellen Rückwirkungsbeschränkung. Für die hier interessierende Problematik in gleicher Weise irrelevant sind im Übrigen Vertrauensschutzerwägungen bei der Anwendung von nationalem Recht, welches inhaltsgleiche Anforderungen von unmittelbar anwendbarem Unionsrecht aufstellt.111 Wird das nationale Recht vom Vertrauensschutz blockiert, hat dies nämlich ebensowenig Auswirkungen auf den Anwendungsvorrang des Unionsrechts. Letzterer muss auch in diesem Fall selbstständig überwunden werden. B. Grundsätze des Anwendungsvorrangs Der Anwendungsvorrang ist Kern des Unionsrechts und mit dem unmittelbar anwendbaren Recht eng verknüpft.112 Dem Unionsrecht widersprechendes mitgliedstaatliches Recht wird verdrängt und darf im zu entscheidenden Ein-

108 EuGH v. 4.2.1988 – Rs. 157/86 Murphy, Slg. 1988, 673 Rn. 11; EuGH v. 18.3.2004 – Rs. C-8/02 Leichtle, Slg. 2004, I-2641 Rn. 58; EuGH v. 10.10.2013 – Rs. C-306/12 Spedition Welter, ECLI:EU:C:2013:650 Rn. 28; Kruis, Der Anwendungsvorrang des EURechts in Theorie und Praxis, 2013, S. 160 ff.; Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 233 m.w.N.; Riesenhuber-Leible/Domröse, Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 8 Rn. 48 ff. 109 Selbst wenn man den Anwendungsvorrang unter den Vorbehalt einer gescheiterten Konformauslegung stellen würde, änderte sich das Ergebnis nicht. Der Anwendungsvorrang würde dann letztlich ebenso zum Tragen kommen. 110 Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 8. Aufl. 2012, Rn. 182 f.; anders offenbar Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 206. 111 Für eine Diskussion siehe Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, 1996, S. 120 f. 112 In diesem Sinne z.B. Grabitz/Hilf/Nettesheim-Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 51. EL 2013, Art. 1 AEUV Rn. 73; Vedder/Heintschel v. Heinegg-Vedder, Europäisches Unionsrecht, 2012, Art. 288 AEUV Rn. 60: „Eckpfeiler“.

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zelfall nicht zur Anwendung kommen.113 Solches wird jedoch nicht nichtig, sondern gilt weiterhin für diejenigen Sachverhalte, die außerhalb des Anwendungsbereichs der maßgeblichen Unionsnorm liegen.114 Der Anwendungsvorrang richtet sich an sämtliche mitgliedstaatlichen Hoheitsträger und bedarf keiner vorherigen Anrufung des EuGH.115 Er besteht dabei gegenüber nationalem Recht jeglicher Provenienz, also insbesondere auch gegenüber nationalem Verfassungsrecht, soweit nicht die „Integrationsgrenzen“ überschritten sind.116 Begründet liegt der Vorrang in der Notwendigkeit einer einheitlichen Wirkung des Unionsrechts und der effektiven Gewährleistung unionsrechtlich begründeter subjektiver Rechte des Einzelnen.117 C. Kollision von unmittelbar anwendbarem Unionsrecht und mitgliedstaatlichem Recht Der Anwendungsvorrang greift Platz, wenn es zu einer Kollision des unmittelbar anwendbaren Unionsrechts mit mitgliedstaatlichem Recht kommt. Eine Kollision liegt vor, wenn für denselben Sachverhalt unterschiedliche Rechtsfolgen vorgegeben wurden. Nicht abschließend geklärt ist, ob der Kollision eine bestimmte Qualität zukommen muss. I.

Erforderliche Qualität der Kollision

Weithin wird angenommen, nur direkte Kollisionen lösten ohne weiteres den Anwendungsvorrang aus, während bei indirekten Kollisionen nur solche nationalen Vorschriften verdrängt würden, die entweder gegen den Grundsatz der Äquivalenz oder den der Effektivität verstoßen.118 Eine direkte Kollision liegt dabei vor, „wenn ein [EU]-Rechtsakt und ein nationaler Rechtsakt für dieselbe (Teil-)Frage eines Sachverhalts oder den Sachverhalt im Ganzen unterschiedliche Rechtsfolgen anordnen, mit der Folge, dass die gleichzeitige Anwendung beider Bestimmungen logisch unmöglich ist“, in allen anderen

113

Kürzlich EuGH v. 19.11.2009 – Rs. C-314/08 Filipiak, Slg. 2009, I-11049 Rn. 81 f. m.w.N. 114 Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 8. Aufl. 2012, Rn. 183. 115 Zur Bindung aller Organe z.B. EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-198/01 Consorzio Industrie Fiammiferi, Slg. 2003, I-8055 Rn. 49. 116 Grabitz/Hilf/Nettesheim-Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 51. EL 2013, Art. 1 AEUV Rn. 77. 117 Grabitz/Hilf/Nettesheim-Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 51. EL 2013, Art. 1 AEUV Rn. 73 m.N. aus der Rechtsprechung. 118 Jarass/Beljin, NVwZ 2004, 1, 3 m.w.N.; v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, 2008, S. 154 f.; a.A. Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 8. Aufl. 2012, Rn. 185 (Unterscheidung nach abstrakt-generellen bzw. konkret-individuellen Regelungen); wohl auch Schilling, EuZW 1999, 407 (maßgeblich, ob „Verfahrensvorschriften“).

§ 15 Unmittelbar anwendbares Unionsrecht

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Fällen handelt es sich um indirekte Kollisionen.119 Hintergrund dieser vom Gerichtshof nicht ausdrücklich verwendeten Unterscheidung ist seine Rechtsprechung zur Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten. Danach bestimmt sich die Durchsetzung unionaler Rechte mangels unionsrechtlicher Regelungen nach dem nationalen Verfahrens- und Prozessrecht. Das mitgliedstaatliche Recht darf jedoch die Durchsetzung der vom Unionsrecht eingeräumten Rechte nicht gänzlich unmöglich machen (Effektivitätsgrundsatz) und sie nicht schlechter behandeln als vergleichbare nationale Rechte (Äquivalenzgrundsatz). Gerade der Verstoß gegen diese Grundsätze stellt dann aber wiederum eine direkte Kollision dar, die den Anwendungsvorrang auslöst.120 II. Zeitliche Grenzen der Kollision Eine Kollision kann natürlich nur solange vorliegen, wie die nationale und die unionale Norm gleichzeitig anwendbar sind. Keine Beschränkung des Anwendungsvorrangs stellt es deshalb dar, dass eine vorbestehende mitgliedstaatliche Vorschrift erst mit dem Inkrafttreten der vorrangigen Unionsnorm unangewendet bleibt. Als ein solcher Fall ist auch anzusehen, wenn das primärrechtliche Altersdiskriminierungsverbot nur durch (mittelbar anwendbare) Richtlinien einschlägig wird, weil diese erst den (unmittelbar anwendbaren) Rechtsgrundsatz vermitteln.121 Dann besteht der Anwendungsvorrang erst mit Ablauf der Umsetzungsfrist der Richtlinien.122 III. Direkte Kollision durch nationalen Vertrauensschutz Nach diesen Maßstäben führt die Gewährung nationalen Vertrauensschutzes gegen eine unmittelbar anwendbare Norm zu einer direkten Kollision, ohne dass ein Verstoß gegen die Grundsätze der Äquivalenz und Effektivität relevant wird.123 Dies soll beispielhaft anhand der Gewährung einer Übergangs-

119

Jarass/Beljin, NVwZ 2004, 1, 3; Schulze/Zuleeg/Kadelbach-Ehlers, Europarecht, 2. Aufl. 2010, § 11 Rn. 11. 120 Niedobitek, VerwArch 92 (2001), 58, 76; Schulze/Zuleeg/Kadelbach-Ehlers, Europarecht, 2. Aufl. 2010, § 11 Rn. 33; Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, 2002, S. 397; ähnlich Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, 2013, S. 183 f., der auf einen Konflikt mit dem Grundsatz der einheitlichen Wirksamkeit des Unionsrechts abstellt. 121 Vgl. EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981; EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365. 122 Franzen, RIW 2010, 577, 578. 123 Im Ergebnis ebenso Herresthal, Rechtsfortbildung im europäischen Bezugsrahmen, 2006, S. 295 ff.; Tillmanns, FS Buchner, 2009, S. 885, 895; Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 155 ff.; Kruis, Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts in Theorie und Praxis, 2013, S. 207 f. Fn. 910; auch Schaefer, GRUR 1992, 424, 425; Willers, Verfas-

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frist für die Beseitigung eines Verstoßes des nationalen Rechts gegen unmittelbar anwendbares Unionsrecht erörtert werden. Eine solche Übergangsfrist bei Verstößen gegen Unionsrecht wurde zu Unrecht vereinzelt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum staatlichen Glücksspielmonopol entnommen. Dort hatte das Gericht zwar eine Übergangsfrist zur Wahrung der nationalen Gewaltenteilung gewährt,124 ausdrücklich aber nur einen Verstoß gegen das nationale Verfassungsrecht geprüft und keine Aussagen über das Verhältnis zum Unionsrecht getroffen.125 In der Rechtsprechung des Gerichtshofs wurde die Zulässigkeit einer Übergangsfrist noch nicht erörtert. Die Entscheidung in der Rechtssache Winner Wetten dürfte hierfür unergiebig sein: Die dortigen Vorlagefragen richteten sich auf einen Beschluss des OVG Münster126. Dieses hatte den Anwendungsvorrang auf Ebene des Unionsrechts temporär suspendieren wollen. Das vorlegende Gericht hatte seine Fragen gerade unabhängig von der oben genannten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gestellt.127 Der Gerichtshof hat aber bereits entschieden, dass Fristen für die Beseitigung eines Verstoßes gegen mitgliedstaatliche Verfassungen – auch wenn sie durch die nationalen Verfassungsgerichte angeordnet werden – dem Anwendungsvorrang nicht entgegenstehen.128 Zur Beantwortung der Frage der Zuordnung ist zugrunde zu legen, dass sich die Übergangsfrist nicht von der Frage der Unionsrechtswidrigkeit der Sachregelung trennen lässt. Eine Übergangsfrist ist nämlich selbst ein Konfliktlösungsmechanismus. Es ist also danach zu fragen, ob und welche Vorgaben das Unionsrecht für die Nichtanwendung einer konfligierenden nationalen Norm macht. Dann zeigt sich, dass der Anwendungsvorrang selbst die sungsgerichtliche Übergangsfristen im Mehrebenensystem, 2011, S. 94 ff.; a.A. Beljin, NVwZ 2008, 156, 159. 124 Z.B. VGH Kassel v. 25.7.2006 – 11 TG 1465/06, Rn. 37; Beljin, NVwZ 2008, 156; auch Beukers, CMLRev 48 (2011), 1985, 1995 ff., der einen Konflikt zwischen dem „Anwendungsbefehl“ aus dem BVerfG-Urteil und dem „Nichtanwendungsbefehl“ aus dem Unionsrecht sieht; wie hier hingegen VG Arnsberg v. 23.5.2006 – 1 L 411/06, Rn. 20; Volkwein, Die Rechtsproblematik der Sportwette, 2009, S. 101 f.; Pischel, WRP 2006, 1413, 1420; nunmehr auch BGH v. 18.10.2012 – III ZR 196/11, Rn. 32 a.E.; OVG Münster v. 29.9.2011 – 4 A 17/08, Rn. 226 ff.; Willers, Verfassungsgerichtliche Übergangsfristen im Mehrebenensystem, 2011, S. 74 f., 97 f. 125 Vgl. BVerfG v. 28.3.2006, 1 BvR 1054/01, Rn. 77 (Bayerisches Sportwettenmonopol). Dem steht auch nicht entgegen, dass das Gericht einen Gleichlauf der Vorgaben von Unions- und deutschem Verfassungsrecht annimmt (a.a.O. Rn. 144), denn dieser bezieht sich allein auf die materielle Zulässigkeit eines Sportwettenmonopols, nicht auf die Beseitigung eines Normkonflikts. 126 Eingehend sogleich D.I., S. 456 f. 127 EuGH v. 8.9.2010 – Rs. C-409/06 Winner Wetten, Slg. 2010, I-8015 Rn. 62. 128 EuGH v. 19.11.2009 – Rs. C-214/08 Filipiak, Slg. 2009, I-11049 Rn. 84; EuGH v. 8.9.2010 – Rs. C-409/06 Winner Wetten, Slg. 2010, I-8015 Rn. 60.

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maßgebliche unionsrechtliche Regelung ist, zu der sich eine nationale Übergangsfrist in Widerspruch setzt.129 Beseitigt das Gericht den bestehenden Normkonflikt, indem die nationale Regelung (übergangsweise) auf das gerade noch unionsrechtlich zulässige Maß konkret und verbindlich korrigiert wird, fehlt es an einer Voraussetzung des Vorrangs.130 Beseitigt das Gericht den Verstoß nicht und ordnet darüber hinaus die weitere Anwendung des nationalen Rechts an, stellt es einen eigenen Konfliktlösungsmechanismus auf, der dem unionalen Anwendungsvorrang gerade diametral widerspricht. Im Sinne der obigen Definition kann es nicht gleichzeitig einen unionsrechtlichen Anwendungsvorrang und eine nationale Übergangsfrist geben. Die Kollision besteht dann auf mehreren Ebenen: Zum einen steht die anwendbare Sachregelung noch immer im Widerspruch zu den unionalen Vorgaben und zum anderen wird dieser Konflikt nicht so gelöst, wie es das Unionsrecht vorgibt. Die Rechtsgewinnung muss sich dann am höherrangigen Unionsrecht, an das der nationale Richter gebunden ist, orientieren.131 Oder anders gewendet: Der Anwendungsvorrang enthält selbst auch eine zeitliche Komponente und gebietet dabei grundsätzlich die sofortige Unanwendbarkeit nationalen Rechts. Er besteht absolut und kommt bei direkten Kollisionen uneingeschränkt zur Geltung, er wird also nicht nur rahmenartig gewährleistet. Ob die zeitliche Komponente des Anwendungsvorrang ausnahmsweise auf unionrechtlicher Ebene – gleichsam unionsintern – eingeschränkt werden kann, soll sogleich (sogleich D.) erörtert werden. Dieselben Erwägungen gelten, wenn der nationale Vertrauensschutz anders als durch eine allgemeine Fortgeltung der unionsrechtswidrigen Vorschrift gewährt wird und letztlich auf dasselbe Ergebnis hinausläuft.132 Auch die einzelfallbezogene Weiteranwendung der rechtswidrigen nationalen Norm widerspricht dem Anwendungsvorrang und muss daher unterbleiben. Die Gewährung von Vertrauensschutz entgegen der grundsätzlichen unionalen Sachregelung ist kein „Verfahrens- oder Prozessrecht“ im Sinne der oben angesprochenen mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie133, sondern ihrerseits eine Sachregelung, die vom vorrangigen Unionsrecht verdrängt wird. 129

Dies übersieht Beljin, NVwZ 2008, 156, 158 f. Vgl. zum Bereich der Sportwetten z.B. VGH München v. 3.8.2006 – 24 CS 06.1365, Rn. 53, 64; BGH v. 18.10.2012 – III ZR 196/11, Rn. 32. In diesem Sinne zur Rechtssache Mangold wohl Sagan, JJZ 2010, 67, 96 ff., der davon ausgeht, die zeitlich beschränkte Gewährung von Vertrauensschutz verstoße nicht gegen das vom EuGH zur Begründung der Unanwendbarkeit herangezogene Grundrecht aus Art. 21 Abs. 1 EuGRC, da sie eine zulässige Schranke i.S.v. Art. 52 Abs. 1 EuGRC darstelle, vgl. oben § 13 D.III.2., S. 441. 131 Herresthal, Rechtsfortbildung im europäischen Bezugsrahmen, 2006, S. 296. 132 I.Erg. Tillmanns, FS Buchner, 2009, S. 885, 895 f., die nur außerhalb solcher Fälle eine Vertragsanpassung erwägt. 133 Vgl. oben § 13 B.II., S. 433 ff. 130

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Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten kommt nur dann zur Anwendung, wenn das Unionsrecht keine Regelung über die Durchsetzung („Wie“) eines unionsrechtlich begründeten Rechts trifft. Das Bestehen („Ob“) eines solchen Rechts wird gerade nicht den Mitgliedstaaten überlassen. Der Anwendungsvorrang der Sachregelung regelt in diesem Sinne das „Ob“ eines Anspruchs. Schließlich gelten diese Grundsätze für alle nationalen Hoheitsträger. Der Anwendungsvorrang ist nicht nur von den Gerichten zu beachten. Auch als Gesetz, Verwaltungsakt oder sonstiger Rechtsakt ergangene mitgliedstaatliche Regelungen sind unangewendet zu lassen, wenn sie faktisch oder rechtlich eine abweichende – auch nur vorübergehende – Sachregelung treffen. Deshalb darf eine Behörde nicht etwa im Rahmen der Ermessensausübung Vertrauensschutz gewähren. D. Temporäre Suspendierung des Anwendungsvorrangs, insbesondere die Rechtssache Winner Wetten Nationale Maßnahmen zur Weiteranwendung unionsrechtswidriger Normen verstoßen daher gegen den Grundsatz des Anwendungsvorrangs. Anders wäre dies nur, wenn von der zeitlich rückwirkenden und unbedingten Verdrängungswirkung Ausnahmen gemacht werden könnten. Existenz und Reichweite einer solchen zeitlichen Ausnahme sind im Folgenden zu untersuchen. Die Trennung von (materiellem) Inhalt des Unionsrechts und dessen Durchsetzung mag zuerst sinnlos erscheinen, weil der Anwendungsvorrang der Kern des unmittelbar anwendbaren Rechts ist. Vor dem Hintergrund mittelbar anwendbaren Rechts leuchtet diese Unterscheidung jedoch ein. Mittelbar anwendbare Unionsnormen können schon nach anerkannter Rechtslage Gewährleistungen enthalten, die unter dem Vorbehalt einer mitgliedstaatlichen Durchsetzung(smöglichkeit) stehen. Und dem wäre eine temporäre Suspendierung des Anwendungsvorrangs vergleichbar. I. Suspendierung des Anwendungsvorrangs durch deutsche Verwaltungsgerichte134 Größere Beachtung erhielt die Frage einer temporären Suspendierung des Anwendungsvorrangs auf der Ebene des Unionsrechts erst mit einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Münster.135 Das OVG ging davon 134 Siehe auch die Darstellung bei Willers, Verfassungsgerichtliche Übergangsfristen im Mehrebenensystem, 2011, S. 78 ff. 135 Kruis, Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts in Theorie und Praxis, 2013, S. 350 f. weist auf die inhaltlich vergleichbaren Entscheidungen VG Halle v. 4.5.2006 – 3 B 56/06 HAL und VG Münster v. 2.6.2006 – 9 L 379/06 hin. Im Übrigen lässt sich auch die vieldiskutierte Frage von Vertrauensschutz gegenüber EuGH v. 22.11.2005 –

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aus, dass die nordrhein-westfälischen Vorschriften zum staatlichen Wettmonopol gegen die (unmittelbar anwendbaren) Gewährleistungen der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit (Art. 49, 56 AEUV) verstießen136 und daher grundsätzlich unangewendet zu bleiben hätten137. Der Anwendungsvorrang gelte jedoch nicht schrankenlos; insbesondere der Grundsatz der Rechtssicherheit könne „es gebieten, die Rechtsfolgen einer Kollision mit höherrangigem Recht zu beschränken, um unerträgliche Konsequenzen einer sonst eintretenden Regelungslosigkeit zu vermeiden“.138 Eine inakzeptable Regelungslücke sei gegeben, „wenn - aus der Nichtanwendung des nationalen Rechts absehbar eine Gefährdung wichtiger Allgemeininteressen resultiert, - diese Gefährdung ersichtlich schwerer wiegt als die Beeinträchtigung der durch die jeweils verletzte europarechtliche Vorschrift geschützten Rechtsgüter, und - die Gefährdung der wichtigen Allgemeininteressen nicht anders abgewendet werden kann als durch eine zeitlich begrenzte weitere Anwendung der betroffenen nationalen Rechtsvorschriften.“139

Der Anwendungsvorrang sei dann solange außer Kraft gesetzt, „bis der nationale Gesetzgeber hinreichend Gelegenheit hatte, den fraglichen Lebensbereich [unions]rechtskonform zu regeln.“140 Schließlich verneint das Gericht eine Pflicht, die Frage der Suspendierung des Anwendungsvorrangs dem EuGH vorzulegen, da es dabei nur um die Auslegung der Vorgaben des Anwendungsvorrangs, nicht aber die Gültigkeit von Unionsrecht gehe.141 Diesen Ausführungen schlossen sich das Oberverwaltungsgericht Bautzen und das Verwaltungsgericht Darmstadt vollumfänglich an.142 Die Verwaltungsgerichtshöfe Kassel und München kamen auf dem Wege einer materiellrechtlich gestatteten Übergangsfrist zu vergleichbaren Ergebnissen.143

Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981 als Suspendierung des Anwendungsvorrangs verstehen, wenngleich sie nicht unter diesem Begriff geführt wurde. 136 OVG Münster v. 28.6.2006 – 4 B 961/06, sub 1. c) aa). 137 OVG Münster v. 28.6.2006 – 4 B 961/06, sub 1. c) bb). 138 OVG Münster v. 28.6.2006 – 4 B 961/06, sub 1. c) bb). 139 OVG Münster v. 28.6.2006 – 4 B 961/06, sub 1. c) bb) (Aufzählungszeichen vom Verfasser); in diesem Sinne auch OVG Münster v. 9.10.2006 – 4 B 898/06, Rn. 42 ff. 140 OVG Münster v. 28.6.2006 – 4 B 961/06, sub 1. c) bb). 141 OVG Münster v. 28.6.2006 – 4 B 961/06, sub 1. c) bb) a.E. 142 OVG Bautzen v. 12.12.2007 – 3 BS 311/06, Rn. 28; VG Darmstadt v. 7.7.2006 – 3 G 907/06, Rn. 10 f. 143 Vgl. auch oben § 13 D.III.1., S. 439 f. Die von OVG Münster und VGH Kassel aufgestellten Tatbestandsvoraussetzungen waren inhaltlich und sprachlich fast identisch.

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II. Die Entscheidung in der Rechtssache Winner Wetten Dieser Einschätzung vermochten nicht alle deutschen Gerichte zu folgen.144 Das Verwaltungsgericht Köln fragte daher kurze Zeit später in einem vergleichbaren Sachverhalt den Europäischen Gerichtshof, ob und unter welchen Voraussetzungen nationale Vorschriften trotz des grundsätzlichen Anwendungsvorrangs übergangsweise weiter angewendet werden dürfen.145 In seiner Antwort in der Rechtssache Winner Wetten warf der Gerichtshof die Frage auf, ob seine auf Art. 264 Abs. 2 AEUV beruhende Rechtsprechung zur Aufrechterhaltung rechtswidriger Unionssekundärrechtsakte zur Vermeidung einer Regelungslücke auf das Verhältnis von Unionsrecht und mitgliedstaatlichem Recht übertragen werden könnte. Eine solche Analogie hielten offenbar alle am Verfahren beteiligten Mitgliedstaaten grundsätzlich für möglich.146 Der Gerichtshof hat dabei eine klare Positionierung vermieden und sich ausdrücklich einer Antwort enthalten.147 Er hat eine solche Möglichkeit aber auch nicht per se ausgeschlossen und so Raum für eine wissenschaftliche Erörterung der Problematik geschaffen.148 Die frühere Rechtsprechung des Gerichtshofs ist ebenso unergiebig. Zwar wurde zu Recht festgestellt, dass nach Ansicht des EuGH der Vorrang des Unionsrechts „nicht die Befugnis der zuständigen nationalen Gerichte beschränkt, unter mehreren nach der innerstaatlichen Rechtsordnung in Betracht kommenden Wegen diejenigen zu wählen, die zum Schutz der durch das Gemeinschaftsrecht gewährten individuellen Rechte geeignet erscheinen“.149 Diese Freiheit der nationalen Gerichte bezieht sich jedoch nur auf das Mittel, mit dem der Anwendungsvorrang durchgesetzt werden soll. Nicht hingegen wurde hierdurch zugelassen, von dem durch das unmittelbar anwendbare Unionsrecht vorgegebenen Ergebnis abzuweichen.

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Ablehnend etwa VG Mainz v. 12.9.2007 – 6 L 583/07.MZ, Rn. 5; VG Arnsberg v. 23.5.2006 – 1 L 411/06, Rn. 20; die Frage offenlassend VGH Mannheim v. 28.7.2006 – 6 S 1987/05. 145 VG Köln v. 21.9.2006 – 1 K 5910/05. 146 EuGH v. 8.9.2010 – Rs. C-409/06 Winner Wetten, Slg. 2010, I-8015 Rn. 63. 147 EuGH v. 8.9.2010 – Rs. C-409/06 Winner Wetten, Slg. 2010, I-8015 Rn. 67; vgl. auch die ausdrücklichen Feststellungen von GA Kokott, SchlA v. 8.12.2011 – Rs. C-41/11 Inter-Environnement Wallonie ASBL, ECLI:EU:C:2011:822 Rn. 21; Mintas, MMR 2010, 840; Epiney, NVwZ 2011, 976. 148 Dederer, EuZW 2010, 771, 774; Unterreitmeier, NJW 2013, 127, 129 Fn. 36; Kruis, Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts in Theorie und Praxis, 2013, S. 239; weitergehend wohl Beukers, CMLRev 48 (2011), 1985, 2000: „open the door to a possible limit of Simmenthal“; Pechstein, EU-Prozessrecht, 4. Aufl. 2011, Rn. 877: „gibt zu erkennen, dass er eine vorübergehende Aussetzung […] für möglich hält“. 149 VGH Kassel v. 25.7.2006 – 11 TG 1465/06, Rn. 41 unter Bezugnahme auf EuGH v. 22.10.1998 – verb. Rs. C-10/97 bis C-22/97 IN.CO.GE.’90 u.a., Slg. 1998, I-6307 Rn. 21.

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III. Analoge Anwendung von Art. 264 Abs. 2 AEUV Methodisch könnte eine Suspendierung des Anwendungsvorrangs über die von den Mitgliedstaaten im Verfahren Winner Wetten angesprochene Analogie zu Art. 264 Abs. 2 AEUV abgesichert werden.150 Dazu müsste die zeitliche Dimension des Anwendungsvorrangs unbewusst ungeregelt geblieben sein (Regelungslücke) und sich die Interessenlagen bei Art. 264 Abs. 2 AEUV und der Durchsetzung von unmittelbar anwendbarem Unionsrecht in der Weise gleichen, dass eine Übertragung der Rechtsfolgen gerechtfertigt ist (vergleichbare Interessenlage). 1. Lückenfeststellung Ob eine Lücke vorliegt, beurteilt sich allein unter Berücksichtigung des Unionsrechts und unter Außerachtlassung des nationalen Rechts.151 Der Grundsatz des Anwendungsvorrangs basiert auf richterlicher Rechtsfortbildung und ist bisher nicht durch das geschriebene Recht geregelt worden. Seine Erwähnung im Subsidiaritätsprotokoll152 stellt keine inhaltliche Normierung, sondern lediglich eine Bezugnahme auf die durch die Rechtsprechung entwickelten Grundsätze dar.153 An einer zu wahrenden gesetzgeberischen Entscheidung fehlt es somit. Ungeachtet der Frage, ob ein richterrechtlich entwickeltes Institut ein anderes überflüssig machen kann, genügt die Rechtsprechung des EuGH zur Auslegungsrückwirkungsbeschränkung nicht den der temporären Suspendierung zugrunde liegenden Sachinteressen. Zwar kann als maßgeblicher Zeitpunkt einer Auslegungsrückwirkungsbeschränkung ausnahmsweise auch ein zukünftiger Zeitpunkt gewählt werden. Die Rückwirkungsbeschränkung erfasst jedoch räumlich die gesamte Union und kann daher mitgliedstaatliche Besonderheiten nur eingeschränkt berücksichtigen. Die hier diskutierte Suspendierung des Anwendungsvorrangs soll jedoch auf die jeweiligen Mitgliedstaaten begrenzt sein und auf nationale Besonderheiten reagieren.

150 Die Analogie zu Art. 264 Abs. 2 AEUV sah schon Forsthoff, DStR 2005, 1840, 1844 als eine Möglichkeit an. Hier soll unerörtert bleiben, ob es überhaupt einer „Analogie“ bedarf, um die Grenzen einer mangels normativen Anhaltspunkts komplett vom EuGH entwickelten Doktrin weiterzuentwickeln. 151 Vgl. Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, 2003, S. 68 ff. m.w.N. 152 Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, ABl. C 306/150 v. 17.12.2007. 153 Bieber/Epiney/Haag, Die Europäische Union, 10. Aufl. 2013, § 3 Rn. 39.

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2. Lückenfüllung Mangels primärrechtlicher Vorgaben ist zur Lückenfüllung der unionsrechtliche allgemeine Gleichheitssatz heranzuziehen, nach dem wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches nach dem Maß seiner Verschiedenheit ungleich zu behandeln ist.154 Maßgebliches Kriterium ist deshalb ein Vergleich der Interessenlagen, die einerseits Art. 264 Abs. 2 AEUV und andererseits der möglichen Suspendierung des Anwendungsvorrangs zugrunde liegen. Dem genügt nicht der pauschale Hinweis, dass eine Suspendierung dem Anwendungsvorrang widerspricht.155 Dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs eine temporäre, einzelfallbezogene Suspendierung bisher nicht ausdrücklich ausgeschlossen hat,156 steht der (erstmaligen) Begründung einer solchen Möglichkeit erst recht nicht entgegen. Und dass eine temporäre Suspendierung sich mit einem absolut verstandenen Anwendungsvorrang nicht in Einklang bringen lässt, beantwortet die Frage nach der Abwägungsfähigkeit des Anwendungsvorrangs157, ohne sie vorher gestellt zu haben. Für eine Analogie spricht, dass in beiden Konstellationen Normkonflikte unter Berücksichtigung anderer rechtlich geschützter Interessen aufgelöst werden sollen. Die Rückwirkungsbeschränkung nach Art. 264 Abs. 2 AEUV dient dem EuGH als Mittel für eine pragmatische Gestaltung der Rechtsfolgen, die sich aus einem Verstoß von abgeleitetem Unionsrecht (zumeist Sekundärrecht) gegen höherrangiges Unionsrecht (zumeist Primärrecht) ergeben. Grundsätzlich folgt aus einem solchen Verstoß die rückwirkende Unwirksamkeit der fraglichen Norm. Art. 264 Abs. 2 AEUV ermöglicht also eine abweichende Fehlerfolgenbestimmung für die Kollision von abgeleitetem und höherrangigem Unionsrecht. Auch der Anwendungsvorrang ist ein Kollisionslösungsmechanismus. Die rückwirkende Verdrängung von unionsrechtswidrigem nationalem Recht ist der Grundsatz, nach dem ein Konflikt von mitgliedstaatlichem Recht und (insofern) höherrangigem Unionsrecht aufgelöst wird. Dementsprechend kann die Argumentation nicht genügen, dass Art. 264 Abs. 2 AEUV nur für das innerunionale Rangverhältnis gelte, nicht aber für den Konflikt mit nationalem Recht.158 Gerade dieses Merkmal 154

Riesenhuber-Neuner, Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 12 Rn. 32 f. So wohl Koenig/Ciszewski, WiVerw 2008, 103, 111 f. 156 Zu dieser Feststellung – freilich vor dem Urteil Winner Wetten – z.B. Dübbers/Kartal, ZfWG 2006, 33, 34; Hambach/Schöttle, MR-Int 2006, 3, 6; Mertens, DVBl 2006, 1564, 1567; Vallone/Dubberke, GewArch 2006, 240, 241; Bungenberg, DVBl 2007, 1405, 1409, 1412; Ciszewski, Glücksspielregulierung aus nationaler und gemeinschaftsrechtlicher Sicht, 2009, S. 159; VGH Kassel v. 25.7.2006 – 11 TG 1465/06, Rn. 41; VGH München v. 3.8.2006 – 24 CS 06.1365, sub 2. e) (6) (Rn. 62). 157 Der Begriff geht hier zurück auf Funke, DÖV 2007, 733, 740; vgl. z.B. Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, 2002, S. 385 f. 158 So aber Kruis, EuZW 2006, 606, 607; Kruis, Der Anwendungsvorrang des EURechts in Theorie und Praxis, 2013, S. 203 f.; Ehlers/Eggert, JZ 2008, 585, 588; Terhech155

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soll mit der Analogie überwunden werden. Begründungswürdig ist vielmehr, warum die angesprochenen unterschiedlichen Rechtsverhältnisse auch unterschiedlich behandelt werden müssen. Dem steht nämlich nicht schon entgegen, dass die Nichtigkeit auf einer Rangregel, die Verdrängung nur auf einer Kollisionsregel beruht, denn es ist nicht ersichtlich, warum eine Kollisionsregel nicht ebenso unter Berücksichtigung ihrer Folgen bestimmt werden kann.159 Diese Überlegung ähnelt durchaus der Argumentation, die Auslegungsvorabentscheidungen im Zusammenhang mit dem Vorrang unmittelbar anwendbaren Unionsrechts als „faktische Unanwendbarkeitsurteile“160 zu verstehen und daher die Grundsätze der Fortwirkungsanordnung zu übertragen. Jene Ansicht beruht jedoch auf einer Gesamtschau der Wirkungen von Auslegung und Anwendungsvorrang, während hier die Wirkung des Anwendungsvorrangs und seine zeitliche Begrenzung von der Auslegung des Unionsrechts und ihrer zeitlichen Beschränkung unterschieden werden. Nur der Anwendungsvorrang als Kollisionslösungsmechanismus ist mit der Unwirksamkeit abgeleiteten Unionsrechts als unionsinternem Kollisionslösungsmechanismus vergleichbar. Aus diesem Blickwinkel vermag der Einwand nicht durchzudringen, dass die Suspendierung des Anwendungsvorrangs den Unionsrechtsverstoß perpetuiert,161 lässt doch die Fortwirkungsanordnung nach Art. 264 Abs. 2 AEUV die Folgen des Verstoßes gegen höherrangiges Unionsrecht ebenso weiter andauern. Die Existenz der auf Art. 264 Abs. 2 AEUV gestützten Möglichkeit, die Unwirksamkeitsfolge zu durchbrechen und eine Abwägung mit anderen Grundsätzen des Unionsrechts vorzunehmen, wirft konsequenterweise die Frage auf, warum selbiges nicht auch für den Anwendungsvorrang gelten soll. Die Vergleichbarkeit der Interessenlagen lässt sich dementsprechend nicht ohne einen Blick auf die hinter dem Anwendungsvorrang stehenden Rechtsgrundsätze beurteilen. Folgerichtig wurden gegen eine Suspendierung des Anwendungsvorrangs in Stellung gebracht der subjektive Rechtsschutz, also

te, EuR 2006, 828, 836; Hüsken, ZfWG 2009, 13, 16; Willers, Verfassungsgerichtliche Übergangsfristen im Mehrebenensystem, 2011, S. 84; Kiefer, Fremd- und Mehrbesitzverbot für Apotheken, 2009, S. 200. 159 A.A. Funke, DÖV 2007, 733, 740. 160 Vgl. Sagan, JJZ 2010, 67, 93; Bydlinski, JBl 2001, 2, 24 f.; Wyatt, CMLRev 23 (1986), 703, 714 f.; auch BAG v. 26.4.2006 – 7 AZR 500/04, passim; ähnlich Hailbronner, NZA 2006, 811, 813 f.; Tillmanns, FS Buchner, 2009, S. 885, 887 und 895; Franzen, RIW 2010, 577, 578; Osterloh, FS Hassemer, 2010, S. 180; auch Ehlers/Eggert, JZ 2008, 585, 588. 161 In diesem Sinne GA Kokott, SchlA v. 8.12.2011 – Rs. C-41/11 Inter-Environnement Wallonie ASBL, ECLI:EU:C:2011:822 Rn. 23 f.

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das Grundrecht auf wirksamen Rechtsschutz,162 und insbesondere die Bedeutung des Anwendungsvorrangs für die effektive und einheitliche, vom Einfluss der Mitgliedstaaten unabhängige Wirkung des Unionsrechts163. a) Subjektiver Rechtsschutz Mit dem individualschützenden Charakter des Anwendungsvorrangs ist ebenso kein struktureller Unterschied zur Fortwirkungsanordnung nach Art. 264 Abs. 2 AEUV angesprochen. Im Gegenteil wurde oben164 mehrfach und deutlich hervorgehoben, dass die Aufrechterhaltung eines Rechtsakts – wie die Rückwirkungsbeschränkung allgemein – stets mit einer Einschränkung des (subjektiven) Rechtsschutzes einzelner Betroffener einhergeht, sie zumeist gerade beabsichtigt. Die Möglichkeit zur individuellen Durchsetzung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit ist demnach kein absolut gewährtes Recht. Wenn bestimmte Interessen den subjektiven Rechtsschutz im Rahmen der direkten Anwendung von Art. 264 Abs. 2 AEUV zurücktreten lassen können, dann dürften dieselben Interessen dies auch hier können. b) Einheitliche Anwendung und Wirkung des Unionsrechts Der wesentliche Unterschied zwischen der Fortwirkungsanordnung und der Suspendierung des Anwendungsvorrangs liegt darin, dass sich das Unionsrecht bei letzterem davon abhängig machen würde, ob die Mitgliedstaaten fähig und willens sind, die unionsrechtlichen Vorgaben richtig umzusetzen oder sonst zu beachten.165 Infolgedessen würde der Geltungsanspruch des Unionsrechts räumlich differenziert und so zu einer Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit führen.166 Die Suspendierung dürfte nämlich nur in den Mitgliedstaaten gelten, in denen ihre Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen, um den Anwendungsvorrang nur soweit nötig außer Kraft zu set-

162

Talos/Arzt, ELRep 2010, 172, 174 f.; GA Bot, SchlA v. 26.1.2010 – Rs. C-409/06 Winner Wetten, Slg. 2010, I-8015 Rn. 109; ihm zustimmend Simon, Europe 2010, Décembre Comm. nº 397. 163 Kruis, Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts in Theorie und Praxis, 2013, S. 203; Talos/Arzt, ELRep 2010, 172, 175; Heidfeld, DVBl 2010, 1547, 1549; Streinz, EuZ 2006, 126, 130; Kim/Dübbers, ZfWG 2006, 107, 114; Vallone/Dubberke, GewArch 2006, 240, 241; Pischel, WRP 2006, 1413, 1419; Willers, Verfassungsgerichtliche Übergangsfristen im Mehrebenensystem, 2011, S. 103 (unter Berufung auf Ehlers/Eggert, JZ 2008, 585, 587, die im Ergebnis für eine Suspendierungsmöglichkeit eintreten). 164 Z.B. § 7 D.I.1., S. 359 f. 165 Das betonen z.B. Streinz, EuZ 2006, 126, 130; Kim/Dübbers, ZfWG 2006, 107, 114. 166 Talos/Arzt, ELRep 2010, 172, 175; Koenig/Schreiber, DÖV 2008, 450, 453; Kruis, Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts in Theorie und Praxis, 2013, S. 207; Kovács, Die temporale Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2014, S. 314.

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zen.167 Dies wird nicht vollends dadurch aufgewogen, dass die Voraussetzungen einer Suspendierung unionseinheitlich vom Gerichtshof aufzustellen wären.168 Schon die bloße Existenz einer Ausnahme vom Anwendungsvorrang nimmt von Seiten des Unionsrechts eine Durchbrechung der einheitlichen Geltung aufgrund eines mitgliedstaatlichen Durchsetzungsdefizits in Kauf. Demgegenüber wird bei der (direkten) Anwendung von Art. 264 Abs. 2 AEUV die Einheitlichkeit des Unionsrechts nicht gefährdet. Da es um die Fortgeltung unionseinheitlichen, abgeleiteten Rechts geht, kommt es nicht zu einer unterschiedlichen Wirkung auf einzelne Mitgliedstaaten.169 Demzufolge sind auch die vom Gerichtshof entwickelten Grundsätze der Fortwirkungsbeschränkung gemäß Art. 264 Abs. 2 AEUV nicht auf einen Konflikt von mitgliedstaatlichem Recht und Unionsrecht ausgerichtet, weil sie das Bedürfnis einer einheitlichen Anwendung des Unionsrechts schlechterdings nicht berücksichtigen müssen. 3. Zwischenergebnis Eine Analogie zu Art. 264 Abs. 2 AEUV scheidet demnach aus. Die Zielrichtung der Fortwirkungsanordnung ist im Hinblick auf die Einheitlichkeit des Unionsrechts verschieden von der einer temporären Suspendierung des Anwendungsvorrangs. IV. Rechtsanalogie Lässt sich Art. 264 Abs. 2 AEUV nicht „in Gänze“ auf den Anwendungsvorrang des Unionsrechts entsprechend anwenden, so ließe sich überlegen, ob einzelne Aspekte des anerkannten Unionsrecht soweit verallgemeinert werden können, dass sie einen einheitlichen, allgemeinen Rechtsgedanken stützen, der wiederum die Fortwirkung unionsrechtswidrigen nationalen Rechts gebietet.170 Dieses Vorgehen ähnelt der aus dem nationalen Recht bekannten

167

I.Erg. ebenso Neuschl/Schumm, ZEuS 2008, 527, 542. So aber Ehlers/Eggert, JZ 2008, 585, 589. 169 Hierbei können die oben unter § 13 B., S. 431 ff. genannten Möglichkeiten außer Betracht bleiben, da sie auf den dort ausgeführten besonderen Erwägungen (z.B. mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie) beruhen. 170 Damit ist wohl auch das Vorgehen von Koenig/Schreiber, DÖV 2008, 450, 454; Neuschl/Schumm, ZEuS 2008, 527, 539 ff. bzw. Hüsken, ZfWG 2009, 13, 16 beschrieben, die von einer „Übertragung des Rechtsgedankens“ sprechen; s.a. Forsthoff, DStR 2005, 1840, 1844; ambivalent Pechstein, EU-Prozessrecht, 4. Aufl. 2011, Rn. 875 ff. („vor dem Hintergrund des in Art. 264 Abs. 2 AEUV verankerten Rechtsgedankens“, „Übertragung der ratio“ bzw. „unter analogen Voraussetzungen zu Art. 264 Abs. 2 AEUV“). 168

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Rechtsanalogie171, stützt sich hier aber nicht auf andere Rechtsnormen, sondern allein auf richterrechtliche Institute. Notwendig ist dementsprechend, dass sich ein konsistenter allgemeiner Grundsatz entwickeln lässt, nach dem die Unionsrechtswidrigkeit jeglichen Rechts temporär unbeachtlich sein kann. Unklar ist, ob die schon mehrfach erwähnte Entscheidung Skoma-Lux hier als Stütze herangezogen werden kann. Dort wandte der Gerichtshof den Grundsatz der Rechtssicherheit, wie er Art. 264 Abs. 2 AEUV zugrunde liegt, bei nationalen Verwaltungsakten an, welche auf der Basis eines partiell unanwendbaren Unionsrechtsakts erlassen worden waren.172 Der Rechtsgedanke von Art. 264 Abs. 2 AEUV kann danach offenbar auch im Verhältnis von nationalem und Unionsrecht und im Rahmen der Auslegungsvorlage Geltung erlangen. Dennoch kommt der EuGH zu dem eigentlich unspektakulären Ergebnis, dass bestands- und rechtskräftige Rechtsverhältnisse nicht rückwirkend aufgehoben werden müssen;173 eine Folgerung, die sich schon aus den allgemeinen Schranken des Unionsrechts hätte ableiten lassen.174 Die SkomaLux-Entscheidung ist diesbezüglich außerdem später – soweit ersichtlich – nicht aufgegriffen worden; insbesondere nicht im oben genannten Verfahren Winner Wetten. Das spricht dafür, ihre Bedeutung auf die spezielle Konstellation der partiellen Unanwendbarkeit zu beschränken. Auch im Rahmen einer Rechtsanalogie ist letztlich zu entscheiden, ob das Erfordernis der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten durch einzelfallbezogene Erwägungen überhaupt (zeitweilig) verdrängt werden kann. Das erfordert eine Gewichtung dieses Grundsatzes im Verhältnis zu den anderen jeweils betroffenen Rechtsgrundsätzen und Interessen. Versteht man den Grundsatz der einheitlichen Geltung des Unionsrechts als unerschütterliches Gebot, so scheidet eine Abwägung freilich aus.175 In der Tat lässt der Gerichtshof keine Gelegenheit aus, die Bedeutung einer einheitlichen Geltung des Unionsrechts zu betonen. Nicht von ungefähr wurde diese als „wesentliche Voraussetzung für die Funktionssicherung der Gemeinschaft und ihre Identitätswahrung“ bezeichnet.176 Beispielsweise dient 171

Vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 384; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl. 2013, Rn. 892. 172 EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-161/06 Skoma-Lux, Slg. 2007, I-10841 Rn. 71. 173 EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-161/06 Skoma-Lux, Slg. 2007, I-10841 Rn. 72. 174 Das überrascht umso mehr, als es sich um eine Entscheidung einer Großen Kammer handelt. 175 In diese Richtung deutet es auch, wenn Kruis, Der Anwendungsvorrang des EURechts in Theorie und Praxis, 2013, S. 96 ff. betont, dass der Anwendungsvorrang „Regel“ und nicht „Prinzip“ ist. Zwar ist dem insoweit zuzustimmen, jedoch können die hinter dem Anwendungsvorrang stehenden Rechtsgrundsätze durchaus mit anderen Rechtsgrundsätzen abgewogen werden und so zu einer Ausnahme in der Regel des Anwendungsvorrangs führen. 176 v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, 2008, S. 156 m.w.N.

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sie als Begründung des Verwerfungsmonopols hinsichtlich Unionssekundärrechts oder eines einheitlichen Maßstabs für die vorläufige Aussetzung von Unionsrecht.177 Auch bei der Auslegungsrückwirkungsbeschränkung hat der Gerichtshof darauf Bezug genommen: Der unionale Gutglaubensmaßstab und das Konnexitätsmerkmal lassen sich unmittelbar auf das Bestreben zurückführen, die einheitliche Wirkung des Unionsrechts nicht zu beeinträchtigen. Daher ist der pauschale Hinweis auf die Akzeptanz von „Übergangsfristen“ durch die Rückwirkungsrechtsprechung des EuGH nicht überzeugend, weil dabei nicht berücksichtigt wird, dass dort Auswirkungen auf die Einheitlichkeit des Unionsrechts gerade vermieden werden.178 Andererseits erfüllen die Grundsätze von Anwendungsvorrang und Einheitlichkeit des Unionsrechts keinen Selbstzweck. Und der Gerichtshof hat durchaus Einschränkungen zugelassen. Beispielsweise führt die Anerkennung der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten dazu, dass unionale Rechtspositionen sich in der Rechtswirklichkeit unterscheiden. Ebenso kann das Unionsrecht schon auf materiellrechtlicher Ebene Vorbehalte zu Gunsten mitgliedstaatlicher Abweichungen enthalten.179 Das beachtenswerte Bedürfnis nach einheitlicher Wirkung des Unionsrechts geht daher nicht so weit, dass gegenläufige Unionsinteressen ohne weiteres zurückstehen müssen.180 Ob in Ausnahmekonstellationen eine zeitweilige Suspendierung des Anwendungsvorrangs möglich ist, kann aber nur im Einzelfall und unter Abwägung aller in Betracht kommenden Interessen ermittelt werden.181 Wie jede Abwägung kann auch die hier vorzunehmende Gewichtung nicht hundertprozentig rationalisiert werden und enthält ein dezisionistisches Element.182 Es sollen im Folgenden aber die maßgeblichen Interessen benannt und Grenzen aufgezeigt werden. 177

EuGH v. 22.10.1987 – Rs. 314/85 Foto-Frost, Slg. 1987, 4199 Rn. 15 bzw. EuGH v. 21.2.1991 – verb. Rs. C-143/88 und C-92/89 Zuckerfabrik Süderdithmarschen, Slg. 1991, I-415 Rn. 25 f. 178 So aber Neuschl/Schumm, ZEuS 2008, 527, 538 ff.; Beljin, NVwZ 2008, 156, 161; Ehlers/Eggert, JZ 2008, 585, 588; Hüsken, ZfWG 2009, 13, 20. 179 Vgl. z.B. v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, 2008, S. 157. 180 Ähnlich z.B. Streinz-Schroeder, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 288 Rn. 43 a.E., der in den Fällen der „indirekten Kollision“ von einer Einschränkung des Anwendungsvorrangs durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts ausgeht. A.A. Talos/Arzt, ELRep 2010, 172, 175. Ablehnend auch Dörr/Urban, JURA 2011, 381, 388, die befürchten, damit „wäre die Axt an die Unionsrechtsordnung selbst gelegt“. Unklar bleibt der Verweis von Volkwein, Die Rechtsproblematik der Sportwette, 2009, S. 127 auf die „mehrebene Gewaltenstruktur“ der Union. 181 Möglicherweise war genau dies der Grund für den Verzicht auf eine Stellungnahme durch den EuGH. Da es nicht möglich ist, alle in Betracht kommenden Fallgruppen zu übersehen, kann die Notwendigkeit einer Suspendierung nicht pauschal ausgeschlossen werden. 182 Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 654.

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1. Abwägung mit unionalen Interessen und Rechtsgrundsätzen Abgewogen werden – unabhängig von der zugrunde liegenden methodischen Konstruktion – die im Anwendungsvorrang verkörperten Unionsinteressen mit anderen unionalen Interessen.183 Um die einheitliche Wirkung des Unionsrechts nicht vollends aus der Hand zu geben, müssen eventuelle Ausnahmen auf Kriterien und Maßstäbe gestützt werden, die sich unionseinheitlich bestimmen lassen. Anderenfalls würde der Anwendungsvorrang nämlich tatsächlich unter einem Vorbehalt mitgliedstaatlicher Gesetzgebung und Rechtsprechung stehen. Schon ein erster Blick auf die widerstreitenden Interessen macht deutlich, dass die Suspendierung des Anwendungsvorrangs nur selten tatsächlich geboten sein wird. Ihr stehen entgegen der Grundsatz der einheitlichen Geltung des Unionsrechts sowie die Pflicht zur Beachtung des Unionsrechts nach Art. 4 Abs. 3 EUV und damit auch das Prinzip der Gesetzmäßigkeit des staatlichen Handelns. Auf der anderen Seite der Waagschale müssen demnach gewichtige Unionsinteressen liegen, dies ist vor allem das Prinzip der Rechtssicherheit in seinen unterschiedlichen Ausprägungen.184 Wie bei der direkten Anwendung von Art. 264 Abs. 2 AEUV ist dabei der konkrete Zweck der höherrangigen Norm zum konkreten Zweck der aufrechtzuerhaltenden (nationalen) Norm in Beziehung zu setzen. Daraus folgt, dass der Konflikt mit den Gewährleistungen eines einheitlichen Binnenmarktes für sich genommen einer Suspendierung des Anwendungsvorrangs nicht stets entgegensteht; auch wenn die konkrete Unionsnorm dem Binnenmarkt dient, kommt eine Suspendierung in Einzelfällen in Betracht.185 Verstößt die nationale Norm aber gegen mehrere unionale Vorschriften, so sind sämtliche Zwecke dieser Unionsnormen in der Abwägung zu berücksichtigt. Weiteres Kriterium ist schließlich der Zweck der Suspendierung des Anwendungsvorrangs.186 2. Tatbestandsvoraussetzungen Kommt eine Suspendierung des Anwendungsvorrangs zu Gunsten anderer öffentlicher oder privater Interessen in Betracht, ist zu konkretisieren, welche 183

Talos/Arzt, ELRep 2010, 172, 175; Ehlers/Eggert, JZ 2008, 585, 589; Willers, Verfassungsgerichtliche Übergangsfristen im Mehrebenensystem, 2011, S. 106; Beukers, CMLRev 48 (2011), 1985, 2000. 184 Vgl. Beukers, CMLRev 48 (2011), 1985, 1990. 185 Strenger wohl Koenig/Schreiber, DÖV 2008, 450, 453; unter Verweis auf diese Talos/Arzt, ELRep 2010, 172, 173 und Ciszewski, Glücksspielregulierung aus nationaler und gemeinschaftsrechtlicher Sicht, 2009, S. 159 f. 186 Auch dem Urteil in der Rechtssache C-41/11 lag eine Bewertung des spezifischen Zwecks der Aufrechterhaltung zugrunde, vgl. EuGH v. 28.2.2012 – Rs. C-41/11 InterEnvironnement Wallonie ASBL, ECLI:EU:C:2012:103 Rn. 57 f.

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Konstellationen davon erfasst sein könnten. Dabei liegt es nahe, sich an den oben erläuterten Fallgruppen des Art. 264 Abs. 2 AEUV zu orientieren. In jenen Fällen ist nämlich zumindest die Durchbrechung der üblichen Unwirksamkeitsrechtsfolge schon anerkannt. a) Vertrauensschutz – Das Verhältnis zur Auslegungsrückwirkungsbeschränkung Die erste Gruppe von Anwendungsfällen des Art. 264 Abs. 2 AEUV berücksichtigt wohlerworbene Rechte der Betroffenen unter Gesichtspunkten des Vertrauensschutzes. Der EuGH knüpft dabei an die Vermutung der Gültigkeit von abgeleitetem Unionsrecht an.187 Die Vermutung der Gültigkeit lässt sich daher in diesem Zusammenhang auch als Vermutung der Konformität mit höherrangigem Unionsrecht verstehen. Überträgt man diesen Anknüpfungspunkt auf das Verhältnis von Unionsrecht und mitgliedstaatlichem Recht, so wäre eine Vermutung der Unionsrechtskonformität nationalen Rechts vorausgesetzt. Eine solche vertrüge sich jedoch nicht mit dem Maßstab der Auslegungsrückwirkungsbeschränkung.188 Ihr Gutglaubensmaßstab verlangt nämlich einen (unionsweiten) Irrtum über die Unionsrechtslage, also hinsichtlich des „höherrangigen“ Rechts.189 Vertrauensschutz ist als Auslöser einer Ausnahme vom Anwendungsvorrang ungeeignet. Die Übertragung der Vertrauensschutzerwägungen spricht das Verhältnis der Suspendierung des Anwendungsvorrangs zur Auslegungsrückwirkungsbeschränkung an. Dogmatisch betreffen die Suspendierung des Anwendungsvorrangs und die Beschränkung der Auslegungsrückwirkung zwei verschiedene Rechtsprobleme.190 Die Rückwirkungsbeschränkung setzt bei der Bestimmung des Inhalts des Unionsrechts an. Sie verändert in zeitlicher Hinsicht die Klagbarkeit einer bestimmten Auslegung. Erst nachdem der Inhalt des Unionsrechts durch Auslegung ermittelt wurde, stellt sich die Frage, ob 187

Siehe oben § 6 C.I.1.a), S. 248 f. Auf die Inkompatibilität beider Maßstäbe wurde oben schon hingewiesen § 6 D., S. 287 ff.; vgl. auch Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, 1994, S. 575. 189 Der Konflikt entfällt freilich, wenn man den Maßstab des guten Glaubens schon bei der Auslegungsrückwirkungsbeschränkung nach einer abstrakten und nicht erschütterten Unionsrechtskonformität des nationalen Rechts bestimmen will, so z.B. Sagan, JJZ 2010, 67, 71; Steiner, EuZA 2009, 140, 151. 190 Karpenstein/Kuhnert, DVBl 2006, 1466, 1467; Terhechte, EuR 2006, 828, 838; Hakenberg, Befolgung und Durchsetzung der Urteile der Gemeinschaftsgerichte, 2008, S. 163, 174 f.; verkürzend Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, 2012, S. 240; vgl. auch die Antwort der Bundesregierung auf die kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Oskar Lafontaine und der Fraktion DIE LINKE, BT-Drs. 16/5371 S. 8; a.A. Purnhagen, EuR 2011, 690, 691 f., 702; wohl auch Bydlinksi, JBl 2001, 2, 25 f. 188

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und wie sich dieses gegenüber dem nationalen Recht durchsetzt. Die Suspendierung des Anwendungsvorrangs ist daher gleichsam hinter die Rückwirkungsbeschränkung geschaltet. Das faktische Ergebnis einer Rückwirkungsbeschränkung oder einer Vorrangsuspendierung ist hingegen identisch. Die durch Auslegung ermittelte „eigentliche“ unionsrechtliche Vorgabe findet keine Anwendung, egal ob der Anwendungsvorrang uneingeschränkt zurückwirkt, aber sich bis zum Urteilstag (oder in der Zukunft) niemand auf das Auslegungsergebnis berufen kann, oder ob die Auslegung zwar rückwirkend gilt, aber der Anwendungsvorrang bis zum Urteilstag (oder in die Zukunft) beschränkt wird.191 Aus der Perspektive der einzelfallbezogenen Anwendung der Norm sind Durchsetzungsmechanismus und Inhalt der Norm zwei mögliche Stellschrauben, die kumulativ betätigt werden können. Das spricht wiederum dafür, die Gewährung von Vertrauensschutz hier an dieselben Voraussetzungen zu knüpfen wie da. Insbesondere weil die strengen Anforderungen an den guten Glauben die einheitliche Wirkung des Unionsrechts sicherstellen sollen und sich mit der Funktion des Anwendungsvorrangs überschneiden. Eine der Gültigkeitsvermutung vergleichbare Anwendbarkeitsvermutung kann dem nationalen Recht damit von Europarechts wegen nicht zukommen.192 Das Ziel der Gültigkeitsvermutung läuft einer solchen Anwendbarkeitsvermutung gerade entgegen. Während erstere die einheitliche Geltung des Unionsrechts sicherstellen soll, würde letztere sie beseitigen. Die Gültigkeitsvermutung für abgeleitetes Sekundärrecht dient sowohl dem Bedürfnis nach einheitlicher Wirkung des Unionsrechts als auch dem Bedürfnis nach seiner möglichst weitreichenden Anwendung. Die möglichst weitreichende Anwendung (unionsrechtswidrigen) nationalen Rechts ist gerade kein Ziel des Unionsrechts. Das gilt insbesondere, wenn es territorial diversifiziert ist. Diese Ungleichbehandlung von unionsrechtswidrigem nationalem und unionsrechtswidrigem unionalem Recht ist damit struktureller Natur und in Anwendungsvorrang und Gültigkeitsvermutung schon angelegt.193 Vertrauen in die Anwendbarkeit nationalen Rechts ist daher europarechtlich nur schutzwürdig, wenn es Folge eines konkreten Vertrauens in die Kon191

In diesem Sinne Koenig/Schreiber, DÖV 2008, 450, 454; ebenso GA Kokott, SchlA v. 8.12.2011 – Rs. C-41/11 Inter-Environnement Wallonie ASBL, ECLI:EU:C:2011:822 Rn. 23, die die Rechtssachen C-41/11 und C-292/04 (i.V.m. der Rückwirkungsrechtsprechung) als „ähnlich“ bezeichnet. Auch Osterloh, FS Hassemer, 2010, S. 180 f. und Weiß, EuR 1995, 377, 382 trennen nicht strikt zwischen Anwendungsvorrang und Auslegungsrückwirkung; vgl. auch die Nachweise zur „faktischen Unanwendbarkeitserklärung nationalen Rechts“ oben § 15 Fn. 160. 192 Vgl. auch Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 236 zur Ablehnung einer Vereinbarkeitsvermutung nationalen Rechts mit Unionsrecht als Geltungsgrund der unionsrechtskonformen Auslegung. 193 Vgl. Jarass/Beljin, Casebook Grundlagen des EG-Rechts, 2003, S. 43.

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formität von nationalem und unionalem Recht ist. Die Geltung von (nationalem) Recht allein sagt noch nichts über seine Rechtmäßigkeit aus. Maßgeblich ist demnach indirekt die Auslegung des unmittelbar anwendbaren Unionsrechts. Solches Vertrauen wird aber gerade durch die Auslegungsrückwirkungsbeschränkung des EuGH geschützt.194 Auf der bloßen Geltung des nationalen Rechts beruhendes Vertrauen ist ebenso unbeachtlich wie andere spezifisch nationale Umstände, selbst wenn diese nicht schon vom Gerichtshof geprüft oder bewertet werden. Für die Suspendierung des Anwendungsvorrangs aufgrund von Erwägungen des Vertrauensschutzes ist demnach kein Raum.195 Damit erweist sich auch die ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts als richtig, nach der für die Entscheidung über eine zeitliche Begrenzung der Unanwendbarkeit einer mitgliedstaatlichen Norm wegen des Anwendungsvorrangs und der einheitlichen Wirkung des Unionsrechts nur der EuGH zuständig ist und eine national begründete Ausnahme nicht in Betracht kommt.196 Dabei ergibt sich auch kein Wertungswiderspruch zu den Grundsätzen über die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten und die Ausgestaltung des Verfahrens durch die mitgliedstaatlichen Gesetzgeber. Vertrauensschutz, der – wie üblich – die Rechtslage bis zum Urteil des EuGH oder des nationalen Höchstgerichts zementiert, könnte auch im Rahmen der Verfahrensautonomie nicht eingerichtet werden. Er vereitelt nämlich vollständig die Geltendmachung des unionsrechtlich begründeten Rechts des Einzelnen und widerspricht deshalb dem Effektivitätsgebot. Begründet z.B. die rückwirkende Zuerkennung eines Bereicherungsanspruchs aufgrund des Gebots der Inländergleichbehandlung einen Ausgleich auch für 30 Jahre zurückliegende Verletzungen fremder Urheber- oder Leistungsschutzrechte, so entsteht durchaus

194 Unproblematisch ist daher der von Ehlers/Eggert, JZ 2008, 585, 589 angenommene Sachverhalt, dass ein Mitgliedstaat Vorschriften erlassen hat, auf deren Unionskonformität die Adressaten aufgrund einer ständigen Rechtsprechung des EuGH vertrauen durften; das ist ein beinahe klassischer Fall der Auslegungsrückwirkungsbeschränkung. 195 I.Erg. ebenso BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, Rn. 83 f. (Honeywell); Giegerich, EuR 2012, 373, 379; Seifert, JbArbR 48 (2010), 119, 129; ohne Berücksichtigung der Winner-Wetten-Problematik z.B. Schiek, AuR 2006, 41, 43; GA Darmon, SchlA v. 17.11.1993 – Rs. C-236/92 Comitato di coordinamento per la difesa della cava, Slg. 1994, I-483 Rn. 55; Tillmanns, FS Buchner, 2009, S. 885, 895; Kokott, RdA Sonderbeilage 2006, 30, 37; Griebeling, RdA 1992, 373, 375; Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 160; Koch, JbArbR 44 (2007), 91, 107. I.Erg. anders z.B. Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, 1996, S. 121. 196 BAG v. 30.9.2010, 2 AZR 456/09, Rn. 22; BAG v. 9.9.2010, 2 AZR 715/08 und 2 AZR 714/08, Rn. 22; BAG v. 26.4.2006, 7 AZR 500/04, Rn. 40; BAG v. 27.6.2006, 3 AZR 352/05, Rn. 55; s.a. BAG v. 13.7.2006, 6 AZR 198/06, Rn. 35; ohne Erörterung dieser Frage noch BAG v. 14.10.1986, 3 AZR 66/83.

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ein „Rückwirkungsproblem“.197 Dieses wurde aber durch die nationale 30jährige Verjährungsfrist begründet und hätte sich daher in vergleichbaren rein innerstaatlichen Konstellationen ebenso gezeigt.198 Eine Verjährungsbestimmung könnte vom nationalen Gesetzgeber (gegebenenfalls unter Zugabe einer Übergangsfrist) durchaus auch anlassbezogen geändert werden. Wenn der mitgliedstaatlichen Rechtsprechung Vergleichbares mittels Vertrauensschutz möglich ist, wäre es erst recht für den Gesetzgeber zulässig.199 Das durch die nationale Frist begründete Problem darf jedoch nicht spezifisch zu Lasten der Profiteure des unionsrechtlichen Diskriminierungsverbots gelöst werden. Dem entspricht es, dass nationaler Vertrauensschutz regelmäßig nicht zu anderen Ergebnissen führen würde. Zwar wären für seine Gewährung die mitgliedstaatlichen Gerichte zuständig, da der EuGH über nationale Umstände (z.B. die sonstige Rechtmäßigkeit oder das Verständnis des nationalen Rechts) nicht entscheiden könnte. Zur Beurteilung des Vertrauensgegenstands müsste aber das gesamte mitgliedstaatliche Recht gemäß Art. 20 Abs. 3 GG berücksichtigt werden, was die geltenden und anwendbaren Regeln des Unionsrechts einschließlich des Anwendungsvorrangs umfasst. Danach wäre Vertrauen nur schutzwürdig, wenn es die europarechtlichen Implikationen beachtet. Ob mitgliedstaatliches Recht ein geeigneter Bezugspunkt von Vertrauen sein kann, beurteilte sich dann letztlich wieder nach dem Verständnis des Unionsrechts. Unterschiede zur Rückwirkungsbeschränkung durch den EuGH könnten sich nur ergeben, wenn eine innermitgliedstaatliche Rechtsunsicherheit genügen würde (und nicht ein „Irrtum“). Dann könnte freilich die Geltung des Unionsrechts durch mitgliedstaatliche Rechtssetzung weitreichend beschränkt werden. b) Regelungslücke In einer zweiten Gruppe von Anwendungsfällen des Art. 264 Abs. 2 AEUV schützt der Gerichtshof das Regelungsziel, welches dem rechtswidrigen Unionsrechtsakt zugrunde lag. Durch die Aufrechterhaltung wird verhindert, dass der einmal erreichte unionale Entwicklungsstand ohne Not aufgegeben werden muss. 197

BGH v. 21.4.1994 – I ZR 31/92 und BGH v. 6.10.1994 – I ZR 155/90 im Hinblick auf EuGH v. 20.10.1993 – verb. Rs. C-92/92 und C-326/92 Collins und Patricia Im- und Export, Slg. 1993, I-5145. 198 Durch die Einführung einer dreijährigen Regelverjährungsfrist in § 195 BGB n.F. fehlt dieser Konstellation heute die Relevanz. 199 Eine solche Lösung scheint BGH v. 6.10.1994 – I ZR 155/90, sub II. 4. gemeint zu haben, der Vertrauensschutz nur für bestimmte, weit zurückliegende Zeiträume, nicht jedoch für die vergangenen fünf Jahre gewähren wollte; zustimmend Nirk/Hülsmann, FS Piper, 1996, S. 725, 742; Rhein, FS Piper, 1996, S. 755, 767. Wie dies methodisch durchgeführt werden sollte, konnte vom BGH offengelassen werden.

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Diesen Gedanken griff die deutsche Verwaltungsrechtsprechung (neben einem Verweis auf den Grundsatz der Gewaltenteilung)200 auf, um eine temporäre Suspendierung des Anwendungsvorrangs zu begründen. In seiner Entscheidung zur Rechtssache Winner Wetten konnte der Gerichtshof zu den Tatbestandsvoraussetzungen dieser Suspendierung Stellung nehmen. Unter Rückgriff auf den Maßstab des Art. 264 Abs. 2 AEUV legte er als Ausgangspunkt zugrunde, dass „zwingende Erwägungen, die mit allen betroffenen öffentlichen wie privaten Interessen zusammenhängen“, die Übergangsfrist rechtfertigen müssen.201 An solchen fehle es hier jedenfalls, da „die im Ausgangsverfahren in Rede stehende restriktive Regelung nicht effektiv dazu beitrug, die Wetttätigkeiten in kohärenter und systematischer Weise zu begrenzen, so dass sich aus der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs ergab, dass eine solche Regelung […] gegen die Art. 43 EG und 49 EG verstößt“.202

Im Tenor orientiert sich der Gerichtshof wieder sehr eng an der Vorlagefrage, wenn er feststellte, dass eine inkohärente Begrenzung der Wetttätigkeiten aufgrund des Vorrangs des Unionsrechts nicht übergangsweise angewendet werden darf.203 Es ist zu untersuchen, welche Aussagen der Gerichtshof damit treffen wollte. Die typische Kürze der Entscheidungsgründe erschwert ihre Interpretation. Da der EuGH eine temporäre Suspendierung nicht per se ausschließt, kann ihr jedenfalls die bloße Unionsrechtswidrigkeit des nationalen Rechts nicht entgegenstehen, denn diese ist notwendige Voraussetzung für den auszusetzenden Anwendungsvorrang. Weiterhin ist es unwahrscheinlich, dass der restriktive Charakter der „aufrechtzuerhaltenden“ nationalen Norm entscheidungserheblich war, denn bei Verstößen gegen Grundfreiheiten geht es typischerweise um restriktive nationale Regelungen, so dass eine stärkere Betonung dieses Punktes zu erwarten gewesen wäre. Außerdem findet sich im Tenor darauf kein Hinweis mehr. Abzulehnen wäre auch ein Verständnis des Urteils, nach dem für den Gerichtshof maßgeblich war, dass die Rechtswidrigkeit der nationalen Regelung aufgrund bestehender EuGH-Rechtsprechung schon länger erkennbar war. Damit würde er Anleihen bei dem Merkmal des guten Glaubens aus der Auslegungsrückwirkungsbeschränkung nehmen.204 Gutglaubenserwägungen passen jedoch weder zum Zweck des Schutzes der nationalen Gewaltenteilung 200

Dazu sogleich c). EuGH v. 8.9.2010 – Rs. C-409/06 Winner Wetten, Slg. 2010, I-8015 Rn. 66 f. 202 EuGH v. 8.9.2010 – Rs. C-409/06 Winner Wetten, Slg. 2010, I-8015 Rn. 68. 203 EuGH v. 8.9.2010 – Rs. C-409/06 Winner Wetten, Slg. 2010, I-8015 Tenor und Rn. 69 im Hinblick auf Rn. 28; bestätigend EuGH v. 24.1.2013 – verb. Rs. C-186/11 und C-209/11 Stanleybet, ECLI:EU:C:2013:33 Rn. 38 f. 204 So ausdrücklich GA Bot, SchlA v. 26.1.2010 – Rs. C-409/06 Winner Wetten, Slg. 2010, I-8015 Rn. 116 ff. 201

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und des gesetzgeberischen Entscheidungsmonopols noch zur Verhinderung „inakzeptabler Regelungslücken“. Es ließe sich allenfalls überlegen, dass die nationalen Gesetzgeber angehalten werden sollen, ihr Gestaltungsmonopol schnellstmöglich auszuüben und nicht durch (selbstverschuldetes?) Zuwarten den unionsrechtswidrigen Zustand länger als nötig zu perpetuieren. In diese Richtung hatte der Generalanwalt argumentiert.205 Übrig bleibt also der Verweis im Tenor auf das Kohärenzgebot. Dieses spiegelt zwar auch das mögliche negative Tatbestandsmerkmal der Bösgläubigkeit wider, denn seit der Rechtssache Gambelli206 war unionsrechtlich geklärt, dass eine inkohärente Regelung der Sportwetten nicht mit den Grundfreiheiten vereinbar ist. Der Tenor würde dann die Aussage des Urteils noch einmal konkretisieren für den Fall des Verstoßes eines staatlichen Sportwettenmonopols gegen das Kohärenzgebot. Überzeugender ist hingegen ein anderes Verständnis: Entsprechend der Argumentation des Generalanwalts ist davon ausgehen, dass die inkohärente Regelung des Ausgangsverfahrens keinesfalls aufrechterhalten werden konnte. Vermag nämlich der bestehende nationale Rechtszustand die anerkannten Schutzziele, die eine Beschränkung der Grundfreiheiten rechtfertigen könnten, überhaupt nicht zu erreichen und stellt sich ausschließlich als „protektionistische Maßnahme“207 dar, folgt auf den Wegfall der nationalen Regelung eben gerade kein unerträglicher Rechtszustand. Vielmehr „wäre es ein logischer Antagonismus, eine Norm anzuwenden, um eine Lücke im Schutz vor Spielsucht zu vermeiden, wenn die Norm die Spielsucht gar nicht effektiv bekämpfen kann“.208 Damit fehlt es dann auch an dem vom OVG Münster aufgestellten Tatbestandsmerkmal, dass „die Gefährdung der wichtigen Allgemeininteressen nicht anders abgewendet werden kann als durch eine zeitlich begrenzte weitere Anwendung der betroffenen nationalen Rechtsvorschriften“. Ein ebensolches Erfordernis besteht bei der Fortwirkungsanordnung nach Art. 264 Abs. 2 AEUV. Oben wurde ausgeführt, dass eine Aufrechterhaltung nicht in Betracht kommt, wenn der formell rechtswidrige Rechtsakt überhaupt nicht materiell rechtmäßig erlassen werden könnte.209 Das betrifft insbesondere Vorschriften, deren Zweck dem Unionsrecht widerspricht. Wann der Regelungszweck nicht den Unionszielen entspricht, beurteilt sich selbstverständlich aus der Perspektive der Union.210 Das durch den Vorrang entstehende 205 GA Bot, SchlA v. 26.1.2010 – Rs. C-409/06 Winner Wetten, Slg. 2010, I-8015 Rn. 119; ebenso Talos/Arzt, ELRep 2010, 172, 175. 206 EuGH v. 6.11.2003 – Rs. C-243/01 Gambelli u.a., Slg. 2003, I-13031. 207 GA Bot, SchlA v. 26.1.2010 – Rs. C-409/06 Winner Wetten, Slg. 2010, I-8015 Rn. 113. 208 Talos/Arzt, ELRep 2010, 172, 175; dem EuGH insoweit zustimmend auch Mintas, MMR 2010, 840; Dederer, EuZW 2010, 771, 774. 209 Vgl. oben § 6 C.II.6.a), S. 269. 210 Terhechte, EuR 2006, 828, 839.

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Regelungsdefizit muss ein unionales sein. Ein unionales Regelungsdefizit liegt aber nicht vor, wenn die an die Stelle des nationalen Rechts tretende unmittelbar anwendbare Unionsregelung aus unionaler Sicht in gleichem Maße interessengerecht ist.211 Es ist daher insoweit nicht maßgeblich, ob eine Lücke im nationalen Regelungskonzept entsteht.212 Ebenso eignet sich die als „Angleichung nach oben“ bekannte Rechtsfolge der europarechtlichen Diskriminierungsverbote nicht als Anleihe zur Bestimmung eines relevanten Regelungsdefizits.213 Dort wird die fragliche Unions- oder nationale Norm nämlich nicht in ihrer rechtswidrigen Gestalt aufrechterhalten, sondern sie dient als Anknüpfungspunkt für eine eigenständige Regelung des Gerichtshofs. Die Angleichung nach oben beseitigt die Rechtswidrigkeit und stellt (übergangsweise) einen unionsrechtskonformen Zustand her. Es fehlt damit an dem hier aufzulösenden und gerade vorausgesetzten Konflikt von materiellem Unions- und mitgliedstaatlichem Recht. Wann hingegen eine inakzeptable Lücke durch den Anwendungsvorrang entstehen kann, zeigt eine neuere Entscheidung des Gerichtshofs zum Umweltrecht. In der Rechtssache C-41/11 nahm der Gerichtshof es hin, dass der Effektivitätsgrundsatz214 nicht sofort zur Unanwendbarkeit einer nationalen Verwaltungsentscheidung führte, wenn dadurch ein noch „unionsfernerer“ Zustand hervorgerufen wurde.215 Er beschränkte also unausgesprochen den Anwendungsvorrang aufgrund anderer Unionsinteressen, wenn durch die grundsätzliche Fehlerfolge das sonstige Schutzniveau des Unionsrechts noch unterboten werden würde. Zwar bezog sich diese Entscheidung allein auf die Folgen eines Verstoßes gegen die Richtlinie 2001/41/EG und es sollte deren Fehlerfolgenregime mit den Anforderungen des unionalen Umweltschutzes und insbesondere Richtlinie 91/676/EWG kurzgeschlossen werden. Auch hat der Gerichtshof in dieser Entscheidung nicht auf die in Winner Wetten auf-

211

Wegen dieses Eintretens des Unionsrechts fehlt es auch schon begrifflich an einer „Lücke“; so Talos/Arzt, ELRep 2010, 172, 174; ähnlich Willers, Verfassungsgerichtliche Übergangsfristen im Mehrebenensystem, 2011, S. 107; Kiefer, Fremd- und Mehrbesitzverbot für Apotheken, 2009, S. 201; vgl. auch Lock, CMLRev 50 (2013), 217, 226. 212 Karpenstein/Kuhnert, DVBl 2006, 1466; a.A. Schmitt, GPR 2010, 303, 304. Siehe auch noch sogleich c). Kruis, Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts in Theorie und Praxis, 2013, S. 239 ff. will nationale Regelungslücken, die durch einen Anwendungsvorrang aufgerissen würden, durch die von ihm entwickelten Konzepte der „Teilunanwendbarkeit“ und der „anwendungserhaltenden Reduktion“ vermeiden; dabei wird die ursprüngliche nationale Regelung auf das unionsrechtlich noch zulässige Maß zurechtgestutzt und so die Kollision abgestellt („begrenzt“). Eine Ausnahme von der Durchsetzung des Unionsrechts zugunsten des rechtswidrigen mitgliedstaatlichen Rechts liegt darin ebenso nicht. 213 So aber z.B. Volkwein, Die Rechtsproblematik der Sportwette, 2009, S. 129. 214 Hier in seiner Funktion als Schranke der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie. 215 EuGH v. 28.2.2012 – Rs. C-41/11 Inter-Environnement Wallonie ASBL, ECLI:EU: C:2012:103 Rn. 56.

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geworfenen Fragen Bezug genommen216 und seine Feststellungen ausdrücklich auf den vorliegenden Sachverhalt beschränkt sowie entsprechend einzelfallbezogen tenoriert217. Dennoch spricht der EuGH dort einen Gedanken an, der gerade in seiner Rechtsprechung zu Art. 264 Abs. 2 AEUV häufiger zu finden ist und deshalb als allgemeiner und verallgemeinerungsfähiger Rechtsgedanke identifiziert werden kann.218 Er liegt der Fortwirkungsanordnung beispielsweise zugrunde, wenn die Nichtigkeitsfolge zu neuen bzw. weiteren Wettbewerbsverzerrungen führt oder wenn der Kläger in Verpflichtungssituationen ein Mehr begehrt, das ihm die Anfechtung nicht gewähren kann.219 Eine inakzeptable Rechtslücke kann also nur bestehen, wenn aus der Verdrängung ein „der Unionsrechtsordnung noch ferner stehender Zustand [entsteht] als die weitere Hinnahme der Anwendung der unionsrechtswidrigen bisher geltenden Rechtslage“.220 Unerheblich ist dabei aber, ob eine nationale Durchsetzungsmaßnahme überhaupt nicht getroffen werden kann und dadurch die Unionsinteressen weitergehend verletzt werden oder ob die zwingend zu treffende nationale Entscheidung die Unionsinteressen verletzt.221 Maßgeblich ist hingegen, dass grundlegende Unionsinteressen beeinträchtigt werden und nicht nur mitgliedstaatliche Belange betroffen sind.222 c) Frustration der nationalen Wertungsentscheidung Mithin ist deutlich geworden, dass eine Rechtslücke nicht schon deshalb vorliegt, weil eine nationale Wertungsentscheidung durch die unmittelbar anwendbare Unionsregelung verdrängt oder sonst konterkariert wird. Im Zusammenhang mit der Entscheidung Winner Wetten wurde moniert, der EuGH habe damit zwar das Problem der Rechtslücke aufgegriffen, nicht 216

Anders GA Kokott, SchlA v. 8.12.2011 – Rs. C-41/11 Inter-Environnement Wallonie ASBL, ECLI:EU:C:2011:822 Rn. 17 ff. Danach ist die Problematik der Suspendierung des Anwendungsvorrangs hier nicht einschlägig, weil der Verstoß durch eine einmalige Verwaltungsentscheidung und keine abstrakt-generelle Norm begangen wurde (Rn. 23 f.). Auch Lock, CMLRev 50 (2013), 217, 225 findet dies „überraschend“. 217 Das betont ebenso Lock, CMLRev 50 (2013), 217, 224 und 230. 218 Auch GA Jääskinen, SchlA v. 7.11.2013 – Rs. C-512/12 Octapharma France, ECLI: EU:C:2013:727 Rn. 39 ff. wendet die Voraussetzungen des Urteils C-41/11 in einem anderen Bereich (Gesundheitsschutz) an, hält diese aber nicht für ausreichend substantiiert dargelegt. 219 Siehe oben § 6 C.II.3., S. 263 und § 6 C.II.4., S. 264. 220 Ehlers/Eggert, JZ 2008, 585, 589; in diesem Sinne auch Neuschl/Schumm, ZEuS 2008, 527, 543; Dietlein, K&R 2006, 307, 309; Lenz/Borchardt-Hetmeier, EU-Verträge, 6. Aufl. 2013, Art. 288 AEUV Rn. 39. 221 Die Literatur nannte bisher ersteres, vgl. Nitschke, Harmonisierung des nationalen Verwaltungsvollzugs von EG-Umweltrecht, 2000, S. 51; Pache, Der Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, 1994, S. 146; Jarass/Beljin, NVwZ 2004, 1, 5; Wank, ZRP 2003, 414, 418. 222 Lock, CMLRev 50 (2013), 217, 228.

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jedoch berücksichtigt, dass eine Übergangsregelung notwendig sein kann, weil das erkennende mitgliedstaatliche Gericht aufgrund des innerstaatlichen Gewaltenteilungsgrundsatzes zu einer endgültigen unionskonformen Regelung nicht befugt war.223 Der Anwendungsvorrang dürfe sich darüber nicht hinwegsetzen.224 In dieser Form geht der Einwand hingegen fehl. Er berücksichtigt nicht, dass die Kompetenzen der nationalen Gerichte erweitert sind, wenn sie Unionsrecht durchsetzen. Die Gerichte dürfen bei einem Verstoß gegen unmittelbar anwendbares Unionsrecht nationales Recht unionskonform auslegen; falls das nicht möglich ist, müssen sie das nationale Recht unangewendet lassen. Es entspricht gerade dem Kern des Anwendungsvorrangs, dass sich die vom unionalen Sachrecht vorgegebene Lösung gegenüber dem nationalen Recht durchsetzt. Dabei wird die innerstaatliche Verteilung der Hoheitsgewalt nicht betrachtet; der Mitgliedstaat ist ein einheitliches Zurechnungsendsubjekt. So liegt es auch, wenn – wie im Falle des Wettmarktes – das Unionsrecht dem Mitgliedstaat die Möglichkeit eröffnet, eine abweichende Regelung (hier: ein kohärentes Staatsmonopol) zu erlassen.225 Das unionale Sachrecht gibt in diesem Fall vor, was bis zum Erlass der nationalen Regelung zu gelten hat. Im Falle des Verstoßes gegen die Grundfreiheiten durch eine nicht gerechtfertigte Beschränkung gilt aber als Auffangregel (default rule), dass die Marktzutrittsbarriere bis zum Zeitpunkt des Erlasses einer formell und materiell rechtmäßigen Beschränkung zu beseitigen ist.226 Dabei ist es unerheblich, welche Hoheitsgewalt nach nationalem Recht befugt ist, diese mitgliedstaatliche Ausnahmeregelung zu erlassen. Selbst wenn unionsrechtlich vorgegeben wäre, dass die mitgliedstaatliche Regelung als Gesetz ergehen muss,227 wäre bis zu dessen Inkrafttreten die unionale Auffang-/Übergangsregelung maßgeblich. Eine Auffangregel in diesem Sinne besteht beispielsweise auch

223

Paulus, NJW 2011, 3686, 3689; Beukers, CMLRev 48 (2011), 1985, 1996 und 1999. Paulus, NJW 2011, 3686, 3689. 225 Kruis, Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts in Theorie und Praxis, 2013, S. 235 bezeichnet diesen Fall als „überschießende Lückenfüllung“. 226 Als Begründung lassen sich anführen die grundlegende Bedeutung des freien Marktzutritts für den Binnenmarkt und dessen Bedeutung als Unionsziel sowie die subjektivrechtliche Komponente der Grundfreiheiten, wonach Marktbürger nur formell und materiell rechtmäßige Einschränkung ihrer Freiheiten zu dulden haben. 227 Dies könnte insbesondere aus Gründen der Transparenz geboten sein, vgl. zur Richtlinienumsetzung z.B. EuGH v. 15.10.1986 – Rs. 168/85 Kommission ./. Italien, Slg. 1986, 2945 Rn. 16; EuGH v. 30.5.1991 – Rs. 361/88 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1991, I-2567 Rn. 15; EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-144/99 Kommission ./. Niederlande, Slg. 2001, I-3541 Rn. 17; EuGH v. 9.12.2003 – Rs. C-129/00 KOM ./. Italien, Slg. 2003, I-14637 Rn. 32 f.; EuGH v. 3.3.2011 – Rs. C-50/09 Kommission ./. Irland, Slg. 2011, I-873 Rn. 46 ff.; Herdegen, WM 2005, 1921, 1926 f.; M. Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung, 2010, S. 149 ff. 224

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bei Verstößen gegen den Gleichheitsgrundsatz.228 Die „Angleichung nach oben“ ist unbeschadet der Regelungskompetenz des zuständigen Normsetzers für den Zeitraum bis zu einer Neuregelung unionsrechtlich zwingend; im Übrigen sowohl im innerunionalen Verhältnis wie gegenüber den Mitgliedstaaten. Fehlt es hingegen an einer unionalen default rule, kommt schon der Anwendungsvorrang nicht zur Geltung, da kein (Ergebnis-)Konflikt zwischen dem Unions- und dem nationalen Recht vorliegt. Eine Ausnahme vom Anwendungsvorrang ist nur zu erwägen, soweit die unional zugelassene (politische) Wertungsentscheidung des nationalen Normsetzers durch die Verdrängung der rechtswidrigen Vorschriften dauerhaft unmöglich gemacht oder konterkariert würde. Vergleichbar ist dies mit den Fallgruppen der restriktiven Maßnahmen im Rahmen von Art. 264 Abs. 2 AEUV. In Betracht kommen faktische oder rechtliche Umstände. Letztere sind gegeben, wenn durch die Verdrängung dauerhafte und widerstandsfähige Rechtspositionen geschaffen werden.229 Für einen Übergangszeitraum könnte dann die nationale, rechtswidrige Rechtslage weitergelten. In allen anderen Konstellationen muss der mitgliedstaatliche Gesetzgeber damit leben, dass seine Wertungsentscheidung erst mit Inkrafttreten der Neuregelung (einschließlich etwaiger Übergangsfristen) voll zur Geltung kommt.230 Er hatte seinen ersten Versuch und ist damit gescheitert.231 Wie lange der Anwendungsvorrang suspendiert werden sollte, beurteilt sich nach dem Einzelfall. Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass der Rechtsverstoß schnellstmöglich beseitigt werden muss und sich das dabei einzuhaltende Verfahren in den Mitgliedstaaten unterscheidet. Da es um die Wahrung der gesetzgeberischen Entscheidungsfreiheit geht, sollte ein Gesetzgebungsverfahren, das genügend Zeit zur politischen Diskussion lässt, ermöglicht werden.232 Nach Ablauf einer angemessenen Frist sollte eine vom Gerichtshof bestimmte Übergangslösung automatisch in Kraft treten. Die 228

Vgl. im hiesigen Zusammenhang Jarass/Beljin, NVwZ 2004, 1, 5; Terhechte, EuR 2006, 828, 839; Kim/Dübbers, ZfWG 2006, 107, 112; Prechal, CMLRev 37 (2000), 1047, 1060 f.; Willers, Verfassungsgerichtliche Übergangsfristen im Mehrebenensystem, 2011, S. 85 f.; Kruis, Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts in Theorie und Praxis, 2013, S. 227 f. 229 Vertrauen dürfte jedoch nur eingeschränkt entstehen können, wenn die spätere Neuregelung abzusehen ist und daher die erworbenen Rechtspositionen gleichsam unter einem Vorbehalt stehen. 230 Dagegen neben Paulus, NJW 2011, 3686, 3688 f. auch Neuschl/Schumm, ZEuS 2008, 527, 544. 231 In diesem Sinne Schorkopf, DÖV 2011, 260, 266: Die Ablehnung einer Übergangsfrist sei eine „faktische Sanktion für die Nichteinhaltung des Unionsrechts, die auf ein unionskonformes Verhalten hinwirken soll. Wer nicht wahrhaftig handelt, verdient keinen Schutz.“ 232 Zu lang dürfte ein pauschaler Zeitraum von zwei bis drei Jahren sein, wie ihn Neuschl/Schumm, ZEuS 2008, 527, 547 fordern.

§ 15 Unmittelbar anwendbares Unionsrecht

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Untätigkeit des nationalen Gesetzgebers lässt sich dann nämlich als schweigenden Verzicht auf sein Gestaltungsmonopol ansehen. Zwar gebieten es der Grundsatz der Gleichbehandlung der Mitgliedstaaten und das Gebot der Objektivität des Rechts, dass die Fristen weitgehend einheitlich und für alle Mitgliedstaaten bestimmt werden. Da die Suspendierung jedoch nur für den konkret betroffenen Mitgliedstaat gilt und vom EuGH individuell ausgesprochen werden muss, können nationale Besonderheiten berücksichtigt werden.233 V. Entscheidungsmonopol des Europäischen Gerichtshofs Unabhängig von der konkreten methodischen Lösung muss die Entscheidung über eine Suspendierung des Anwendungsvorrangs vom Europäischen Gerichtshof gefällt werden.234 Insoweit kommt es zu einer weiteren Vorlagepflicht in Erweiterung von Art. 267 Abs. 2, 3 AEUV. Dafür spricht schon, dass anderenfalls das Mindestmaß an Einheitlichkeit aufgegeben wird, welches durch einen unionseinheitlichen Maßstab sichergestellt wird.235 Dogmatisch lässt sich eine Parallele zur Foto-Frost-Rechtsprechung ziehen.236 Dort hat der Gerichtshof bestimmt, dass nur er eine Unionsnorm für ungültig erklären und die damit einhergehende Befolgungspflicht beseitigen kann.237 Zugrundeliegende Erwägung ist dabei, dass eine Ungültigerklärung durch mitgliedstaatliche Gerichte die einheitliche Anwendung des Unionsrechts torpedieren würde.238 Ebendies würde geschehen, wenn es zu einer temporären Nichtanwendung des Unionsrechts (freilich aus anderen Gründen) durch mitgliedstaatliche Gerichte käme.239 Eine Vorlagepflicht wird demnach schon ausgelöst, wenn das nationale Gericht die Unionsnorm im Einzelfall nicht anwenden will, und nicht erst, wenn es eine mit Bindungswirkung ausgestattete Unwirksamkeitserklärung vornehmen will. Diese Grundsätze müs233

Kritisch Talos/Arzt, ELRep 2010, 172, 175. Ausdrücklich aber obiter und begründungslos EuGH v. 8.9.2010 – Rs. C-409/06 Winner Wetten, Slg. 2010, I-8015 Rn. 67; im Anschluss daran nun auch OVG Münster v. 29.9.2011 – 4 A 17/08, Rn. 230 ff.; i.Erg. ebenso Pischel, WRP 2006, 1413, 1420; Streinz/Kruis, NJW 2010, 3745, 3749; Heidfeld, DVBl 2010, 1547, 1459; Lenz/BorchardtHetmeier, EU-Verträge, 6. Aufl. 2013, Art. 288 AEUV Rn. 39; Spindler/Hambach/Berberich, EJRR 2011, 135, 138. 235 Ehlers/Eggert, JZ 2008, 585, 591 f. Etwas zu weit gehen aber Karpenstein/Kuhnert, DVBl 2006, 1466, 1467, die das „Ende der europäischen Rechtsgemeinschaft“ befürchten. 236 Im einstweiligen Rechtsschutz gelten Besonderheiten, vgl. EuGH v. 21.2.1991 – verb. Rs. C-143/88 und C-92/89 Zuckerfabrik Süderdithmarschen, Slg. 1991, I-415 Rn. 22 ff. 237 EuGH v. 22.10.1987 – Rs. 314/85 Foto-Frost, Slg. 1987, 4199 Rn. 11 ff. 238 EuGH v. 22.10.1987 – Rs. 314/85 Foto-Frost, Slg. 1987, 4199 Rn. 15. 239 Terhechte, EuR 2006, 828, 841 f.; Epiney, NVwZ 2011, 976; in diesem Sinne auch Volkwein, Die Rechtsproblematik der Sportwette, 2009, S. 130. 234

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sen erst recht gelten, wenn nicht nur Unionssekundär-, sondern auch -primärrecht unangewendet bleiben kann.240 Die Parallele zur Begründung des EuGH-Entscheidungsmonopols bei der Auslegungsrückwirkungsbeschränkung ist dabei nicht zufällig, sondern gerade beabsichtigt.241 Trotz der dogmatischen Unterschiede ist es im Ergebnis ohne Belang, ob eine Norm zwar rückwirkend anzuwenden wäre, aber erst ab dem Urteilstag in bestimmter Weise verstanden wird oder ob sie zwar rückwirkend in bestimmter Weise verstanden wird, aber erst ab dem Urteilstag anzuwenden ist.242 Dem steht zum einen nicht entgegen, dass die temporäre Suspendierung nur in dem betroffenen Mitgliedstaat wirkt und es deshalb schon von vornherein an einer unionsweit einheitlichen Geltung fehlen wird. Die vom EuGH in Foto-Frost befürchtete Rechtsunsicherheit kann zwar nicht im Verhältnis zu anderen Mitgliedstaaten, wohl aber innerhalb des einzelnen Mitgliedstaats bestehen. Zum anderen überzeugt auch der Hinweis auf die zusätzliche Verfahrensdauer nicht243: Wenn das nationale Verfahren kein Eilverfahren war, ist schwerlich zu begründen, warum gerade die Dauer des unionsrechtlichen Verfahrens schädlich sein soll. Dies gilt umso mehr als das Unionsprozessrecht ebenfalls beschleunigte Verfahren kennt.244 Alternativ könnte der EuGH die unionalen Grenzen des Anwendungsvorrangs bestimmen, aber deren Anwendung im Einzelfall den mitgliedstaatlichen Gerichten überlassen, vergleichbar z.B. den Ausnahmen von der Vorlagepflicht des Art. 267 Abs. 3 AEUV nach den Grundsätzen von acte clair und acte éclairé. Dort geht es jedoch nicht um die Nichtanwendung von Unionsrecht, sondern um dessen inhaltliches Verständnis. Anzuerkennen bleibt freilich, dass auch die zu freimütige Handhabung dieser Grundsätze die einheitliche Wirkung des Unionsrechts gefährdet. Es ist jedoch anzunehmen, dass nur bei der Suspendierung des Anwendungsvorrangs das geltende Unionsrecht „sehenden Auges“ außer Acht gelassen wird.245

240 Kruis, EuZW 2006, 606, 608; Willers, Verfassungsgerichtliche Übergangsfristen im Mehrebenensystem, 2011, S. 106; vgl. auch Beukers, CMLRev 48 (2011), 1985, 2001. 241 So auch Talos/Arzt, ELRep 2010, 172, 175. 242 Zum Verhältnis von Auslegungsrückwirkungsbeschränkung und Suspendierung des Anwendungsvorrangs schon oben IV.2.a), S. 467 ff. 243 So aber Paulus, NJW 2011, 3686, 3689. 244 Siehe Art. 105 ff. EuGH-VerfO (Art. 104a f. EuGH-VerfO a.F.). 245 In diesem Sinne Calliess/Ruffert-Wegener, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 267 AEUV Rn. 29.

§ 16 Mittelbar anwendbares Unionsrecht

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§ 16 Mittelbar anwendbares Unionsrecht, insbesondere richtlinienkonforme Auslegung Mittelbar anwendbares Unionsrecht Mittelbar anwendbares Recht bedarf der Um- und Durchsetzung durch die Mitgliedstaaten. Diese Verpflichtung trifft nicht nur den Gesetzgeber oder die Verwaltung, sondern in gleichem Maße die Judikative. Für die nationalen Gerichte ist die Konformauslegung ihres nationalen Rechts das zentrale Mittel, dieser Durchsetzungspflicht nachzukommen. Insbesondere für die zeitliche Reichweite von EuGH-Urteilen, die den Inhalt von Richtlinien erläutern, ist es daher von Bedeutung, ob und inwieweit die Pflicht zur Konformauslegung weiteren nationalen Schranken unterworfen ist.246 Sind Richtlinienbestimmungen ausnahmsweise unmittelbar anwendbar, gelten die Grundsätze des Anwendungsvorrangs und die Grenzen der Konformauslegung kommen im Ergebnis nicht zum Tragen.247 A. Grundsätze der Konformauslegung Der unionsrechtliche Gehalt des Gebots der richtlinienkonformen Auslegung ist Ausdruck der Bindung der judikativen Staatsgewalt an die Ergebnisvorgaben der Richtlinie. Er folgt aus der Richtlinie selbst in Verbindung mit Art. 288 Abs. 3 AEUV und Art. 4 Abs. 3 EUV.248 Daneben lässt sich das Gebot der Konformauslegung aus dem Willen der Gesetzgebungsorgane zur Befolgung der Richtlinie in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG ableiten.249 Die Pflicht zur Konformauslegung erfasst die gesamte gerichtliche Tätigkeit, also neben der Auslegung auch die Rechtsfortbildung,250 sowie das gesamt nationale Recht, nicht nur spezifisches Umsetzungsrecht251. Die Rückwirkungsbeschränkung ist selbst keine Grenze der Konformauslegung. Beschränkt der Gerichtshof die Rückwirkung einer Auslegung einer Richtlinienbestimmung, modifiziert er den Inhalt der Ergebnispflicht. Die Auslegungsrückwirkungsbeschränkung befreit für den entsprechenden Zeitraum von der Pflicht zur Konformauslegung, weil sie den Normkonflikt zeitlich 246

Eine entsprechende Vorlagepflicht nimmt nun auch an BVerfG v. 10.12.2014 – 2 BvR 1549/07 (Junk). 247 Siehe oben § 15 A., S. 450. 248 Prokopf, Das gemeinschaftliche Rechtsinstrument der Richtlinie, 2007, S. 122 ff.; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band II, 3. Aufl. 2012, Rn. 572 ff.; jeweils m.w.N. 249 Prokopf, Das gemeinschaftliche Rechtsinstrument der Richtlinie, 2007, S. 126 ff.; M. Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung, 2010, S. 101 ff.; krit. Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band II, 3. Aufl. 2012, Rn. 569 ff.; jeweils m.w.N. 250 Suhr, Richtlinienkonforme Auslegung im Privatrecht und nationale Auslegungsmethodik, 2011, S. 232 ff.; Schürnbrand, JZ 2007, 910; jeweils m.w.N. 251 Klamert, Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts, 2001, S. 173 f.

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nach hinten verschiebt.252 Wie schon ausgeführt, ergibt sich daraus aber keine Berücksichtigungssperre.253 Welche methodische Bedeutung der richtlinienkonformen Auslegung bei der nationalen Rechtsanwendung zukommt, beurteilt sich nach den Maßstäben der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen.254 Das Unionsrecht verhält sich hierzu nicht. Die Umsetzung in Deutschland kann als interpretatorische Vorrangregel beschrieben werden.255 Danach ist auf Ebene der Gesetzesauslegung256 unter möglichen Auslegungsvarianten einer nationalen Norm eine Variante auszuwählen, die mit der Auslegung des entsprechenden Richtlinienrechts in Einklang steht. Die richtlinienkonforme Auslegung erweitert deshalb grundsätzlich selbst nicht den Auslegungsspielraum, den die nationale Methodenlehre gewährt. Die Richtlinie und ihre Umsetzungspflicht sind aber im Rahmen der Abwägung der Auslegungskriterien über den Umsetzungswillen des nationalen Gesetzgebers und die Qualität der Richtlinie als Recht im Sinne von Art. 20 Abs. 3 GG zu berücksichtigen (sog. richtlinienorientierte Auslegung).257 B. Grenzen Der Pflicht zur Konformauslegung sind Grenzen gesetzt. Stellvertretend für die jüngere Rechtsprechung lässt sich die Rechtssache Adeneler zitieren, in der der Gerichtshof feststellt: „Die Verpflichtung des nationalen Richters, bei der Auslegung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts den Inhalt einer Richtlinie heranzuziehen, wird zwar durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze und insbesondere durch den Grundsatz der

252

Vgl. Herresthal, Rechtsfortbildung im europäischen Bezugsrahmen, 2006, S. 304; siehe auch oben § 15 D.IV.2.a), S. 467 ff. 253 Siehe oben § 13 C., S. 435 und § 7 A.II.5., S. 305 f.; Herresthal, Rechtsfortbildung im europäischen Bezugsrahmen, 2006, S. 304 f.; M. Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung, 2010, S. 141. 254 Canaris, FS Bydlinski, 2002, S. 47, 58 m.w.N. 255 Canaris, FS Bydlinski, 2002, S. 47, 64 ff. 256 Anders z.B. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 282 i.V.m. S. 141 ff., der sie auf der dritten Stufe, der Gesetzesanwendung, ansiedelt. 257 Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 256 f.; Riesenhuber-Roth/Jopen, Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 13 Rn. 41; in der Sache ebenso Canaris, FS Bydlinski, 2002, S. 47, 80 f.: „im Wege des ‚Hin-und Herwandern des Blickes‘ zu untersuchen ist, ob die ‚klassischen‘ Auslegungskriterien im Lichte des Gebots richtlinienkonformer Auslegung nicht doch den erforderlichen Spielraum für eine solche hergeben.“; Klamert, Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts, 2001, S. 178 f.; kritisch Herdegen, WM 2005, 1921, 1929; Grosche/Höft, NJOZ 2009, 2294, 2304. Die richtlinienorientierte Auslegung ist vor allem dann von Bedeutung, wenn eine richtlinienkonforme Auslegung nicht in Betracht kommt, z.B. vor Ablauf der Umsetzungsfrist oder bei überschießender Umsetzung.

§ 16 Mittelbar anwendbares Unionsrecht

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Rechtssicherheit und das Rückwirkungsverbot begrenzt; auch darf sie nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen. Der Grundsatz der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung verlangt jedoch, dass die nationalen Gerichte unter Berücksichtigung des gesamten nationalen Rechts und unter Anwendung ihrer Auslegungsmethoden alles tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit der fraglichen Richtlinie zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem von der Richtlinie verfolgten Ziel übereinstimmt.“258

Im ersten Absatz wird eine Grenze der allgemeinen Rechtsgrundsätze aufgestellt und das contra legem-Judizieren verboten. Es bleibt jedoch unklar, ob damit unterschiedliche Grenzen angesprochen sind, denn neben dem Rückwirkungsverbot ist auch die contra legem-Grenze Ausprägung des Grundsatzes der Rechtssicherheit, welcher seinerseits ein allgemeiner Rechtsgrundsatz ist.259 Der zweite Absatz enthält wiederum eine als Gebot formulierte Verpflichtung, das gesamte mitgliedstaatliche Recht soweit wie möglich im Einklang mit der Ergebnisvorgabe des Unionsrechts auszulegen und dabei das nationale Instrumentarium der Rechtsfindung vollständig auszuschöpfen. Dieses Gebot ließe sich auch als Grenze formulieren: Eine über die Methodengrenzen hinausgehende Rechtsfindung wird von den nationalen Gerichten nicht verlangt. Beide Absätze sind zusätzlich mit einem „zwar … aber“ verknüpft. Mithin stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis diese Bestimmungen stehen und ob sie durch den EuGH nach unionalen Grundsätzen oder nach nationalen durch die mitgliedstaatlichen Gerichte auszufüllen sind. I.

Zwei kumulative Grenzen

Zuerst könnte man beide Schrankenbestimmungen als identischen Verweis auf das nationale Recht ansehen.260 Die Benennung der allgemeinen Rechts258

EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u.a., Slg. 2006, I-6057 Rn. 110 f.; kürzlich z.B. EuGH v. 5.9.2012 – Rs. C-42/11 Lopes Da Silva Jorge, ECLI:EU:C:2012:517 Rn. 55 f.; ähnlich EuGH v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 Dominguez, ECLI:EU:C:2012:33 Rn. 25, 27. Neuerdings scheint der EuGH einer kürzeren Formulierung zuzuneigen, bei der im ersten Absatz die einzelnen allgemeinen Rechtsgrundsätze nicht mehr aufgezählt werden (z.B. EuGH v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 Kásler and Káslerné Rábai, ECLI:EU:C:2014:282 Rn. 64 f.; EuGH v. 27.2.2014 – Rs. C-351/12 OSA, ECLI:EU:C:2014:110 Rn. 44 f.); eine sachliche Änderung ist damit nicht verbunden. 259 Vgl. z.B. EuGH v. 12.12.1996 – verb. Rs. C-74/95 und C-129/95 Strafverfahren gegen X, Slg. 1996, I-6609 Rn. 25; Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, 1994, S. 276. 260 I.Erg. Prokopf, Das gemeinschaftliche Rechtsinstrument der Richtlinie, 2007, S. 145 f.; Suhr, Richtlinienkonforme Auslegung im Privatrecht und nationale Auslegungsmethodik, 2011, S. 93 und 293; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band II, 3. Aufl. 2012, Rn. 191 f.; Riesenhuber-Roth/Jopen, Europäische Methodenlehre, § 13 Rn. 26 ff.; Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation in Deutschland und Frankreich, 2012,

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grundsätze und der contra legem-Grenze durch den EuGH wären dann als Hinweise auf mögliche nationale „Zuständigkeits-“Grenzen der Gerichte zu verstehen. Dagegen lässt sich zwar nicht anführen, dass es dann an jeglichem unionalen Kontrollmechanismus fehlte. Als Untergrenze fungiert stets die Pflicht, dieselben Methoden wie in einem rein nationalen Sachverhalt zu ergreifen; das entspricht funktional dem Äquivalenzgrundsatz.261 Allerdings wären die Ausführungen des EuGH redundant, wenn er dieselbe Grenzziehung aus unterschiedlichen Richtungen betonen würde. Auch verwunderte dann, dass beide Formulierungen regelmäßig in getrennten Absätzen und Randnummern aufgeführt werden. Vor allem aber konkretisiert der Gerichtshof den Begriff des „Rückwirkungsverbots“ – zumindest im Bereich des Strafrechts – durchaus selbstständig und unter Rückgriff auf europäische Rechtsgrundlagen;262 ebenso versteht er unter den allgemeinen Rechtsgrundsätzen solche des Unionsrechts.263 Es ist zudem naheliegend, ein unionsrechtliches Gebot der Konformauslegung auch unionsrechtlich zu beschränken.264 All dies spricht jedenfalls dagegen, den ersten Absatz als reinen Verweis auf eine durch die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen auszufüllende Schranke anzusehen. Ausschließen lässt sich darüber hinaus ein Verständnis, wonach beide Schrankenbestimmungen identisch sind, sie jedoch rein unionsrechtlich auszugestalten sind.265 Hiermit ließe sich nicht in Einklang bringen, dass der EuGH im zweiten Absatz auf die nationalen Zuständigkeiten rekurriert. Diese Schranken können unionsrechtlich nicht über den Äquivalenzgrundsatz hinaus kontrolliert werden. Die dafür notwendige Auslegung des nationalen

S. 103 f. hinsichtlich der contra legem-Grenze; wohl auch BAG v. 22.3.2007 – 6 AZR 499/05, Rn. 18; Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 273, 281 f.; Schürnbrand, JZ 2007, 910 ff. (passim); Auer, NJW 2007, 1106, 1107. 261 Vgl. z.B. M. Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung, 2010, S. 96 ff.; Schürnbrand, JZ 2007, 910, 912 f. 262 Zum strafrechtlichen „Rückwirkungsverbot“ z.B. EuGH v. 8.10.1987 – Rs. 80/86 Kolpinghuis Nijmegen, Slg. 1987, 3969 Rn. 13; EuGH v. 26.9.1996 – Rs. C-168/95 Arcaro, Slg. 1996, I-4705 Rn. 42; EuGH v. 12.12.1996 – verb. Rs. C-74/95 und C-129/95 Strafverfahren gegen X, Slg. 1996, I-6609 Rn. 24; EuGH v. 3.5.2005 – verb. Rs. C-387/02, C-391/02 und C-403/02 Berlusconi u.a., Slg. 2005, I-3565 Rn. 74; EuGH v. 28.6.2012 – Rs. C-7/11 Fabio Caronna, ECLI:EU:C:2012:396 Rn. 56. 263 Vgl. EuGH v. 12.12.1996 – verb. Rs. C-74/95 und C-129/95 Strafverfahren gegen X, Slg. 1996, I-6609 Rn. 25; Herlinghaus, Bedeutung und Reichweite der richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts, 1997, S. 65 f.; Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation in Deutschland und Frankreich, 2012, S. 99; Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, 1999, S. 359. 264 Prechal, Directives in EC Law, 2. Aufl. 2005, S. 204. 265 In diesem Sinne Grosche, Rechtsfortbildung im Unionsrecht, 2011, S. 80 f.; ebenso zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung v. Unger, NVwZ 2006, 46, 48.

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Rechts und die Bestimmung seiner Methodennormen ist dem Gerichtshof entzogen und ausschließlich den mitgliedstaatlichen Gerichten vorbehalten. Die beiden Absätze repräsentieren folglich voneinander unabhängige Grenzen.266 Der zweite Absatz verweist auf die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen. Er bringt zum Ausdruck, dass das Unionsrecht die mitgliedstaatlichen Grenzen der Rechtsfindung hinnimmt.267 Der erste Absatz hingegen bestimmt eine unionsrechtlich vom Gerichtshof auszugestaltende Schranke. Zu klären bleibt nun, welche Grenze sich durchsetzt, wenn unionsrechtliche und mitgliedstaatliche Schranke im Einzelfall unterschiedlich weit gehen. Käme stets der unionsrechtlichen Grenze Vorrang zu,268 würde die nationale Schranke letztlich bedeutungslos und die Unterscheidung zwischen beiden Absätzen wieder beseitigt. Diese Lösung liefe also auf eine einheitliche unionale Grenze hinaus. In der gleichen Weise würde im Ergebnis eine einheitliche nationale Schranke entstehen, wenn sich stets die „Zuständigkeits“grenze durchsetzt. Abzulehnen ist auch, dass sich im Konfliktfall die Grenze durchsetzt, die die weiter reichende Auslegung erlaubt. Damit wird entweder die nationale Grenze übergangen oder die unionale. Eine Schranke erst aufzustellen und sie dann unter Verweis auf die jeweils andere Schranke wieder zu missachten, ist jedoch unsinnig. Demnach kann nur die Lösung überzeugen, nach der das Gebot der Konformauslegung durch zwei kumulative Schranken begrenzt wird. Sobald eine der Grenzen überschritten ist, endet die unionsrechtliche Pflicht, das von der Richtlinie vorgegebene Ergebnis zu erreichen. Gehen die mitgliedstaatlichen Kompetenzen über die unionalen hinaus, trägt allein die mitgliedstaatliche Rechtsordnung das Ergebnis. Ein unionsrechtlicher Zwang, dieses Ergebnis durch Auslegung sicherzustellen, besteht dann nicht. Das Unionsrecht verhindert ein solches Ergebnis auf nationaler Grundlage aber auch nicht.269 Dies ergibt sich aus den Entscheidungen zum strafrechtlichen Rückwirkungsverbot. Dort hat der Gerichtshof stets betont, dass die Richtlinie nicht „für sich allein, unabhängig von von einem Mitgliedstaat 266

Ebenso z.B. Gänswein, Der Grundsatz unionsrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts, 2009, S. 58 ff.; M. Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung, 2010, S. 141 ff., 180 ff.; Kerwer, Das europäische Gemeinschaftsrecht und die Rechtsprechung der deutschen Arbeitsgerichte, 2003, § 8 (S. 355 ff.); Karpenstein, Praxis des EU-Rechts, 2. Aufl. 2013, Rn. 81 f.; Rüffler, ÖJZ 1997, 121, 126; Durner, Verfassungsrechtliche Grenzen richtlinienkonformer Rechtsfortbildung, 2010, S. 10 ff., 38 ff. 267 Insoweit ist auch diese Grenze unionsrechtlicher Natur. 268 In diese Richtung deutet möglicherweise EuGH v. 3.5.2005 – verb. Rs. C-387/02, C-391/02 und C-403/02 Berlusconi u.a., Slg. 2005, I-3565 Rn. 69. Dessen Aussagekraft wird aber durch a.a.O. Rn. 74 relativiert. 269 A.A. Prechal, Directives in EC Law, 2. Aufl. 2005, S. 208 unter Bezugnahme auf EuGH v. 7.1.2004 – Rs. C-60/02 Strafverfahren gegen X, Slg. 2004, I-651 Rn. 59; Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung, 2003, S. 162.

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erlassenen Rechtsvorschriften“ die strafrechtliche Verantwortung eines Bürgers begründen oder verschärfen kann.270 Das Unionsrecht will folglich nur sicherstellen, dass seine eigenen Vorschriften und die Verpflichtung zur Konformauslegung nicht gebraucht („missbraucht“) werden, um gegen allgemein anerkannte Rechtsgrundsätze zu verstoßen. Das hat wiederum zur Folge, dass für die hier interessierende Frage der Beschränkung des Gebots der Konformauslegung aus Gründen nationalen Vertrauensschutzes die unionsrechtliche Grenze keine Bedeutung hat. Relevant wird sie nur da, wo sich das nationale Gericht zu Lasten eines Einzelnen auf das Gebot der Konformauslegung beruft, obwohl dessen unionale Grenzen schon überschritten sind. Die unionale Grenze wird damit letztlich zu einem Verbot, über die national gestatteten „Zuständigkeiten“ hinauszugehen und die richterlichen Möglichkeiten/„Zuständigkeiten“ unter Berufung auf das Unionsrecht zu erweitern.271 Damit dürfte zugleich das (eigenständige) unionale Verbot des contra legemJudizierens angesprochen sein.272 Freilich ist anzuerkennen, dass damit die Konformauslegung unter einen Vorbehalt der nationalen Verfassungen gestellt wird. Diese Schwäche zeichnet die Richtlinie hingegen gerade aus; sie steht strukturell unter dem Vorbehalt der Transposition in mitgliedstaatliches Recht und nimmt damit Wirkungsdefizite in Kauf.273 Bei der Gewährung von Vertrauensschutz besteht diese Uneinheitlichkeit zudem nur für eine Übergangszeit oder für vergangene Sachverhalte.274 Schließlich ist nicht zu befürchten, dass durch die vollständige Respektierung nationaler Schranken die Effektivität der Durchsetzung des Unionsrechts leidet. Das Unionsrecht darf davon ausgehen, dass die nationalen Rechtsordnungen effektive gerichtliche Methoden und Durchsetzungsmechanismen bereithalten, sodass der Äquivalenzgrundsatz als Kontrollmittel genügt. II. Reichweite eines unionalen Vertrauensschutzes Gesteht man damit dem Verweis auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze eine unabhängige Beschränkungsfunktion zu, ist noch nicht entschieden, wie diese Schranke auszuformulieren ist. Im hiesigen Kontext ist dabei der Schutz von Rechtssicherheit und Vertrauen besonders interessant. 270

Nachweise in § 16 Fn. 262. Vgl. EuGH v. 15.4.2008 – Rs. C-268/06 Impact, Slg. 2008, I-2483 Rn. 102 f. (zur Rückwirkung einer arbeitsrechtlichen Vorschrift). 272 In diesem Sinne wohl Manthey/Unseld, DÖV 2011, 921, 928; unsicher über die Reichweite der unionalen contra legem-Grenze und i.Erg. wohl anders als hier Grosche/Höft, NJOZ 2009, 2294, 2301 f.; vgl. auch Schürnbrand, JZ 2007, 910, 912. 273 Colneric, ZEuP 2005, 225, 233. 274 Steiner, EuZA 2009, 140, 153; vgl. auch GA Stix-Hackl, SchlA v. 14.3.2006 – Rs. C-475/03 Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373 Rn. 148. 271

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Herresthal geht davon aus, dass Vertrauensschutz als Ausprägung des allgemeinen Rechtsgrundsatzes der Rechtssicherheit eine unionsrechtliche Schranke der Konformauslegung darstellt. Der unionale Vertrauensschutz sei dabei unionsweit einheitlich in Bezug auf das Verständnis des Unionsrechts zu bestimmen.275 Tatbestand und Rechtsfolge dieses Vertrauensschutzes entnimmt er der Rechtsprechung zur Auslegungsrückwirkungsbeschränkung.276 Auch M. Weber sieht Vertrauensschutz und Rechtssicherheit als Grenzen der Konformauslegung an, wobei Rechtssicherheit eine objektive und Vertrauensschutz eine subjektive Schutzrichtung habe.277 Die Voraussetzungen des (subjektiven) Vertrauensschutzes formuliert er im Anschluss an Herresthal, hält jedoch das Erfordernis einer Abschätzung der wirtschaftlichen Folgen für entbehrlich.278 Im Unterschied dazu beurteile sich der (objektive) Schutz der Rechtssicherheit nach den Grundsätzen der Auslegungsrückwirkungsbeschränkung.279 Demgegenüber hat Prechal erwogen, dass die europäischen Rechtsgrundsätze als bloßer Rahmen anzusehen sind, der die zur Anwendung kommenden nationalen Rechtsgrundsätze ummantelt.280 Die unionale Grenze würde dann nicht vollständig ausgestaltet, sondern es würde nur geprüft, ob sie dem Ergebnis der nationalen Rechtsanwendung im Einzelfall entgegensteht.281 Wesentliche Unterschiede zur Anwendung rein unionaler Rechtsgrundsätze ergeben sich dann nur, wenn mit der rahmenhaften Bestimmung auch eine Unschärfe oder ein nationaler Beurteilungsspielraum einhergeht. Aus den bisher in dieser Arbeit gewonnenen Erkenntnissen lässt sich ableiten, dass (subjektiver) Vertrauensschutz jedenfalls nicht nach den Grundsätzen der Rückwirkungsbeschränkung gewährt werden kann. Anderenfalls würden die engen Tatbestandsvoraussetzungen (insbesondere das der schweren wirtschaftlichen Auswirkungen) umgangen werden, außerdem steht die personelle Rückausnahme gerade im Konflikt mit einem subjektiven Vertrauensschutz.282 Die Rückwirkungsbeschränkung ist keine besondere Grenze der Konformauslegung, sondern dieser dogmatisch vorgelagert; auf die ähnliche Wirkungsweise wurde freilich schon hingewiesen.283 Das steht einer erneuten 275

Herresthal, Rechtsfortbildung im europäischen Bezugsrahmen, 2006, S. 302 ff. Die Verweise nennen insbesondere EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, Slg. 2001, I-9945 Rn. 49 ff. 277 M. Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung, 2010, S. 142. 278 M. Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung, 2010, S. 143 f. 279 M. Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung, 2010, S. 146 f. 280 Prechal, Directives in EC Law, 2. Aufl. 2005, S. 204. 281 Prechal, Directives in EC Law, 2. Aufl. 2005, S. 204. 282 Insoweit richtig M. Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung, 2010, S. 147. 283 Oben bei § 13 D., S. 437 und zum Anwendungsvorrang bei § 15 D.IV.2.a), S. 467. 276

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Prüfung vergleichbarer Voraussetzungen entgegen. Daher verwundert es nicht, dass der Gerichtshof die Rückwirkungsbeschränkung bisher nicht als Bezugspunkt für die Bestimmung der Schranken der Konformauslegung herangezogen hat. Er hat sich vielmehr zur Reichweite der unionalen Grenze nur für das Strafrecht geäußert.284 Mit dem Verweis auf das strafrechtliche Rückwirkungsverbot285 hat er jedoch keinen subjektiven Vertrauensschutz angesprochen, kommt es doch dort auf konkretes Vertrauen der Betroffenen nicht an. Damit ist hingegen nicht verneint, dass Vertrauensgesichtspunkte auch in horizontalen Rechtsverhältnissen (v.a. Zivil- und Verwaltungsrecht) relevant werden können.286 Fraglich bleibt aber, inwieweit das Unionsrecht hier eine zusätzliche Grenze für das Gebot der Konformauslegung aufstellen kann. Will man einer solchen Lösung nicht nur entnehmen, dass nationale Vertrauenstatbestände nur unter ähnlichen Voraussetzungen zu berücksichtigen sind, wie sie für die Auslegungsrückwirkungsbeschränkung gelten,287 muss Bezugspunkt des Vertrauens das Unionsrecht sein. Ein anderer als der vom EuGH für die Rückwirkungsbeschränkung gewählter Vertrauensmaßstab ist dabei nicht vorstellbar; auf die subjektiven Vorstellungen der Beteiligten kann es für die allgemeine Geltung des Unionsrechts nicht ankommen und ihr Vorliegen im Einzelfall kann der Gerichtshof nicht selbst feststellen.288 Auch die umfangreiche Rechtsprechung zum allgemeinen Vertrauensschutzgrundsatz, insbesondere im Europäischen Verwaltungsrecht289, lässt sich nicht fruchtbar machen.290 Dort basiert der Schutz auf einzelfallbezogenen Um284 Manthey/Unseld, DÖV 2011, 921, 923 f.; Rüffler, ÖJZ 1997, 121, 130; das bedenkt auch M. Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung, 2010, S. 145. 285 Vgl. die Nachweise in § 16 Fn. 262. 286 Das betonen Herresthal, Rechtsfortbildung im europäischen Bezugsrahmen, 2006, S. 303 f.; M. Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung, 2010, S. 144 f.; offenlassend z.B. Suhr, Richtlinienkonforme Auslegung im Privatrecht und nationale Auslegungsmethodik, 2011, S. 93. Anders Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, 1994, S. 276 ff., der nur Fälle erfassen will, in denen Private zugunsten des Staates belastet werden; ihm folgend Rüffler, ÖJZ 1997, 121, 130; ähnlich Kerwer, Das europäische Gemeinschaftsrecht und die Rechtsprechung der deutschen Arbeitsgerichte, 2003, S. 391 ff., der nur Fälle von hoheitlichem Handeln erfassen will. 287 So Sagan, JJZ 2010, 67, 74 ff., insbesondere 81 f.; ähnlich Abele, RdA 2009, 312, 317. 288 Das gilt auch im deutschen Recht; der Vertrauensgegenstand ist objektiv zu bestimmen, vgl. Klappstein, Die Rechtsprechungsänderung mit Wirkung für die Zukunft, 2009, S. 355. 289 Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 2005, S. 911 ff.; v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, 2008, S. 218 ff.; 351 ff.; Altmeyer, Vertrauensschutz im Recht der Europäischen Union und im deutschen Recht, 2003, S. 16 ff. 290 Erwägend auch Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band II, 3. Aufl. 2012, Rn. 580.

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ständen, vor allem Zusicherungen der Organe gegenüber einzelnen Marktteilnehmern. An solchen fehlt es bei der Anwendung abstrakt-genereller Regelungen wie Richtlinien regelmäßig. Daher ist unionaler Vertrauensschutz gegen die richtlinienkonforme Auslegung nicht herzuleiten, ohne mit der Dogmatik anderer unionsrechtlicher Institute zu brechen. Angesichts der Offenheit für nationalen Vertrauensschutz dürfte solcher auch nicht notwendig sein.291 Unabhängig von den inhaltlichen Anforderungen an die Konkretisierung der unionalen Grenze, obliegt die Zuständigkeit dafür dem Europäischen Gerichtshof, weshalb eine entsprechende Vorlagepflicht entsteht.292 In einer vergleichbaren Konstellation hatte denn der Bundesgerichtshof kürzlich die Frage nach der Zulässigkeit nationalen Vertrauensschutzes bei der Anwendung von § 26 Abs. 3 S. 1 und S. 2 MarkenG im Hinblick auf Art. 10 Abs. 1 und 2 lit. a) Richtlinie 89/104/EWG vorgelegt.293 III. Die Gewährung von Vertrauensschutz als nationale Begrenzung der richtlinienkonformen Auslegung Als Anknüpfungspunkt für nationalen Vertrauensschutz dient der Verweis auf die Grenzen der „Zuständigkeit“ der nationalen Gerichte. 1. Kein ausschließlich kompetenzielles Verständnis der Schranke Die „Zuständigkeits“grenze ist trotz des vom Gerichtshof gewählten Wortlauts nicht beschränkt auf Kompetenzbestimmungen im engeren Sinne. Die unionsrechtliche Hinnahme dieser Grenze dient zwar auch dem Schutz der mitgliedstaatlichen Verteilung der Kompetenzen von Legislative und Judikative, sie bezieht sich aber auf den gesamten gerichtlichen Rechtsfindungspro291 Kerwer, Das europäische Gemeinschaftsrecht und die Rechtsprechung der deutschen Arbeitsgerichte, 2003, S. 395. 292 Grundsätzlich gegen eine Vorlagepflicht bei Vertrauensschutz gegen eine richtlinienkonforme Rechtsfindung z.B. BAG v. 23.3.2006 – 2 AZR 343/05, Rn. 48; BAG v. 13.7.2006 – 6 AZR 198/06, Rn. 37. Richtig daher insoweit BVerfG v. 10.12.2014 – 2 BvR 1549/07 (Junk). 293 BGH v. 17.8.2011 – I ZR 84/09, Vorlagefrage 3.b); der EuGH musste die Frage wegen seiner Auslegung von Art. 10 Abs. 1 und 2 lit. a) Richtlinie 89/104/EWG nicht beantworten, EuGH v. 25.10.2012 – Rs. C-553/11 Rintisch, ECLI:EU:C:2012:671 Rn. 34 ff. Die vom BGH in Bezug genommenen EuGH-Urteile zum Grundsatz der Rechtssicherheit betrafen unterschiedlichste Konstellationen (Auslegungsrückwirkungsbeschränkung bei Grundfreiheiten, Gebot der Rechtsklarheit bei Verordnungen, Grenzen der Konformauslegung). Möglicherweise war die Motivation dieser Vorlagefrage nur, den EuGH auf die markenrechtlichen Konsequenzen seiner Rechtsprechung in EuGH v. 13.9.2007 – Rs. C-234/06 Il Ponte Finanziaria, Slg. 2007, I-7333 hinzuweisen, so Sosnitza, jurisPRWettbR 12/2011 Anm. 3 sub C; hingegen misst ihr H.-P. Roth, MarkenR 2012, 17, 18 eine allgemeine Bedeutung über das Markenrecht hinaus zu.

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zess und damit auf das gesamte mitgliedstaatliche Recht. Es ist daher nicht schädlich, dass die Gewährung von Vertrauensschutz in Deutschland zwar verfassungsrechtliche Implikationen hat, aber kein Ausdruck der nationalen Gewaltenteilung ist. Der Schutz individueller Rechtspositionen und -interessen aufgrund höherrangiger Gerechtigkeitserwägungen wird ebenso von der „Zuständigkeits“grenze erfasst.294 Dafür spricht schon, dass die Abgrenzung von „echten“ Kompetenznormen schwierig, wenn nicht undurchführbar sein dürfte. Darüber hinaus richtet sich die Pflicht zur Konformauslegung auf die gesamte richterliche Tätigkeit (in einem funktionalen Sinne), weshalb die Grenzen ebensoweit zu verstehen sind.295 Da die Pflicht zur Konformauslegung das gesamte nationale Recht umfasst, macht es schließlich aus Unionssicht keinen Unterschied, ob die Konformauslegung zu einer bestimmten Auslegung einer Umsetzungsnorm unter anschließender Berücksichtigung von Vertrauensschutzerwägungen führt oder ob eine (allgemeine) Vertrauensschutznorm einschränkend ausgelegt wird, um die Anwendung der Umsetzungsnorm zu ermöglichen, denn im ersten Fall müssten die Vertrauensschutzbestimmungen richtlinienkonform ausgelegt werden. Ein allzu weites Verständnis der „Zuständigkeits“grenze kommt aber in Konflikt mit den Grundsätzen der Solange-Rechtsprechung. Um die Grenze nicht zu einem Vorbehalt der gesamten Verfassung auszuweiten und damit die Solange-Rechtsprechung zu konterkarieren, müssen die nationalen Grundrechte von der „Zuständigkeits“grenze ausgenommen werden. Durch eine Konformauslegung wird das nationale Recht zu „Umsetzungsersatzrecht“, 294 BVerfG v. 26.9.2011 – 2 BvR 2216/06, 2 BvR 469/07 Rn. 47 (Haustürwiderruf); Schlachter, ZfA 2007, 249, 268; Herresthal, Rechtsfortbildung im europäischen Bezugsrahmen, 2006, S. 305 f.; Herresthal, ZEuP 2009, 598, 612; M. Weber, Grenzen EUrechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung, 2010, S. 157; Götz, FS Ress, 2005, 485, 490; Höpfner, JJZ 2009, 73, 87; Höpfner, ZfA 2010, 449, 484; Höpfner, RdA 2013, 16, 26 f.; Piekenbrock, ZZP 119 (2006), 3, 29 f.; BAG v. 23.3.2010 – 9 AZR 128/09, Rn. 98. I.Erg. ebenso Everling, ZGR 1992, 376, 384, 388 f.; Tillmanns, FS Buchner, 2009, S. 885, 895; Kokott, RdA Sonderbeilage 2006, 30, 37; Gaul/Josten/Strauf, BB 2009, 497, 500; Spelge, FA 2011, 34, 35; Kliemt, FS 25 Jahre Arbeitsgemeinschaft Arbeitsrecht, 2006, S. 1237, 1250; Chr. Weber, JJZ 1994, 221 ff. (passim); Bydlinski, JBl 2001, 2, 21; Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation in Deutschland und Frankreich, 2012, S. 211 ff.; teilweise wird der Vertrauensschutz schon den Methoden-/Auslegungsregeln zugeordnet, z.B. Wank, FS Birk, 2008, S. 929, 936 und Koch, JbArbR 44 (2007), 91, 106; jedenfalls sämtliche Auslegungsregeln erfassen Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band II, 3. Aufl. 2012, Rn. 210 (S. 180); Canaris, FS Bydlinski, 2002, S. 47, 91 ff.; auf ein ähnliches Ergebnis kommt auch Prechal, Directives in EC Law, 2. Aufl. 2005, S. 193 ff., wenn sie die nationalen Rechtsgrundsätze in die unionale Schranke mit einfließen lässt. A.A. Schiek, AuR 2006, 41, 43; wohl auch Riesenhuber/Domröse, NZA 2005, 568, 569. 295 Ähnlich Krieger/Arnold, NZA 2009, 530, 532; jüngst auch Schlachter, EuZA 2015, 1, 8.

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weshalb eine Prüfung der Vereinbarkeit mit den nationalen Grundrechten unstatthaft ist.296 2. Mindestanforderung des Äquivalenzgrundsatzes Bei der Anwendung von Vertrauensschutz müssen die mitgliedstaatlichen Gerichte als Mindestanforderung den Äquivalenzgrundsatz beachten. Danach darf die Durchsetzung des Unionsrechts nicht schlechter gestellt werden als die Durchsetzung vergleichbaren nationalen Rechts. Das gilt auch gegenüber etwaigen Vertrauenserwägungen. Ausgangspunkt der Vertrauensprüfung muss eine äquivalente, also konsistente Anwendung nationaler Vertrauensschutzmaßstäbe sein.297 Deshalb ist relevant, dass im deutschen Recht Vertrauensschutz vor allem bei Rechtsprechungsänderungen zugestanden wird;298 die nationale Rechtslage muss also auf einer bestehenden Rechtsprechung beruht haben. Selbst in diesen Fällen wird im deutschen Recht die Grenze noch sehr eng gezogen.299 Aus unionsrechtlicher Perspektive ist unerheblich, welchem Verständnis von der methodischen Verortung des Vertrauensschutzes zu folgen ist (d.h. Vertrauensschutz als Auslegungsschranke oder als Anwendungsschranke)300. Es besteht kein Unterschied, ob die Vertrauensgewährung im Rahmen der „Auslegung“ im engeren Sinne oder erst auf späterer Stufe angeführt wird. Maßgeblich ist allein, welches Endergebnis durch das nationale Recht erreicht oder nicht erreicht wird; die Ausgestaltung des Weges bleibt voll und ganz den Mitgliedstaaten überlassen. 3. Modifikation des nationalen Vertrauensmaßstabs Der Verweis auf die nationalen Grenzen der Rechtsfindung bedeutet für die Mitgliedstaaten keinen Freifahrtsschein. Der nationale Maßstab des Vertrauensschutzes ist an die Mehrebenenstruktur von Unions- und nationalem Recht 296

Domröse, JJZ 2009, 109, 117. Riesenhuber, AP KSchG 1969 § 17 Nr. 21. 298 Siehe zur deutschen Rechtslage beispielhaft Balthasar, JJZ 2010, 39, 53 ff.; Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, 1996, S. 78 ff.; Klappstein, Die Rechtsprechungsänderung mit Wirkung für die Zukunft, 2009, passim. 299 Z.B. Huep, Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf ältere Sachverhalte, 2001, S. 50, 59 (zu BAG und BVerfG); Herdegen, WM 2009, 2202 (zum BGH). Vgl. auch das von Karpenstein/Johann, NJW 2010, 3405, 3407 Fn. 26 zitierte Beispiel BVerfG v. 18.2.2009 – 1 BvR 3076/08, Rn. 69, in dem Vertrauensschutz verneint werde, „weil in einem von vier Gesetzeskommentaren Zweifel an einer bestimmten Rechtspraxis geäußert wurden“. 300 Dazu z.B. Rüthers/Höpfner, JZ 2005, 21, 24 f.; Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 141 ff.; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl. 2013, Rn. 730b. 297

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anzupassen.301 Die Richtlinie kann sich dabei an mehreren Stellen auswirken. Zuerst müssen die Rechtsanwender beachten, dass und wie eine Richtlinie auf die Entscheidungsfindung einwirkt. Zudem müssen die maßgeblichen Zeitpunkte der Vertrauensgewährung auf das Unionsrecht abgestimmt werden. a) Modifikation des Vorhersehbarkeitskriteriums302 Die Notwendigkeit einer Modifikation folgt dabei schon unter Zugrundelegung und im Einklang mit der Dogmatik des deutschen Vertrauensschutzes gegen überraschende Rechtsprechung. Solcher wird üblicherweise gewährt, wenn aufgrund eines Vertrauenstatbestands berechtigtes Vertrauen ausgeübt wurde und der Vertrauende schutzwürdig war.303 Schutzwürdig ist der Vertrauende insbesondere dann nicht, wenn sich die Rechtsprechung(sänderung) im Rahmen der vorhersehbaren Entwicklungen gehalten hat.304 Auch im deutschen Recht ist damit letztlich zu antizipieren, wie ein fraglicher Sachverhalt in Zukunft von den Gerichten entschieden werden wird/könnte. Als vertrauensrelevante Umstände sind das gesamte Recht im Sinne von Art. 20 Abs. 3 GG zu beachten, einschließlich der methodischen Grundlagen. Zu „Recht und Gesetz“ im Sinne von Art. 20 Abs. 3 GG zählt hierbei auch das Unionsrecht inklusive des mittelbar anwendbaren Unionsrechts.305 Das Vorhersehbarkeitskriterium ist daher bei der Beschränkung einer richtlinienkonformen Auslegung entsprechend anzupassen.306 Die Konformauslegung 301

Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 203; Herresthal, Rechtsfortbildung im europäischen Bezugsrahmen, 2006, S. 310 f.; Riesenhuber, AP KSchG 1969 § 17 Nr. 21; BAG v. 23.3.2010 – 9 AZR 128/09, Rn. 104; wohl a.A. Freitag, EuR 2009, 796, 798; Herdegen, WM 2005, 1921, 1931; eine Modifikation des nationalen Methodeninstrumentariums ablehnend auch Baldauf, Richtlinienverstoß und Verschiebung der Contra-legemGrenze im Privatrechtsverhältnis, 2013, S. 207 ff. 302 Ausführlich anhand von Beispielen aus der deutschen Rechtsprechung Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 203 ff. 303 Vgl. v. Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, S. 450; Klappstein, Die Rechtsprechungsänderung mit Wirkung für die Zukunft, 2009, S. 355. 304 Z.B. BGH v. 26.11.2008 – VIII ZR 200/05, Rn. 33; BVerfG v. 26.9.2011 – 2 BvR 2216/06, 2 BvR 469/07 Rn. 64 (Haustürwiderruf). 305 Riesenhuber-Roth/Jopen, Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 13 Rn. 40; Spelge, FA 2011, 34. 306 I.Erg. ebenso Kokott, RdA Sonderbeilage 2006, 30, 37. Gegen jede Modifikation der nationalen Maßstäbe hingegen Perner, EU-Richtlinien und Privatrecht, 2012, S. 112 f.; zur Gesetzesrückwirkung ablehnend Petersen, EG-Richtlinienumsetzung und Übergangsgerechtigkeit, 2008, S. 371 ff.; Kadelbach/Sobotta, EWS 1996, 11 ff.; insoweit unentschieden Sachs-Sachs, Grundgesetz – Kommentar, 6. Aufl. 2011, Art. 20 Rn. 139a und Maunz/Dürig-Grzeszick, Grundgesetz-Kommentar, 68. EL 2013, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 94; bejahend bei unmittelbar anwendbarem Primärrecht BVerfG v. 15.2.2001 – 2 BvR

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wirkt vermittelt durch das Merkmal der Vorhersehbarkeit auf den nationalen Vertrauenstatbestand ein und ist als abzuwägender Faktor zu berücksichtigen. Es greift deshalb zu kurz, nur darauf zu verweisen, dass im Falle der Richtlinienumsetzung allein nationales Recht ausgelegt und angewendet wird.307 Das nationale Recht darf nicht isoliert betrachtet werden. Mit dem Charakter als Recht geht außerdem einher, dass nationale Rechtsunterworfene auf die Gewährleistungen der Richtlinie vertrauen können.308 Richtlinien werden gemäß Art. 297 Abs. 1 UAbs. 3 S. 1, Abs. 2 UAbs. 2 S. 1 AEUV im Amtsblatt der Union veröffentlicht und nicht nur den Mitgliedstaaten als diplomatische Note übermittelt.309 Wer von einer Richtlinie begünstigt wird, kann sich – mangels entgegenstehender Anhaltspunkte – darauf verlassen, dass notfalls die nationalen Gerichte seinen Rechten zur Durchsetzung verhelfen werden. Seine Vertrauensposition ist gleichwertig der Position desjenigen, der vor Ablauf der Umsetzungsfrist darauf vertraut, noch nicht den Richtlinienvorgaben ausgesetzt zu sein.310 Die Konformauslegung hat also insoweit individualschützenden Charakter. Der Interessengegensatz verläuft insbesondere im Privatrecht also keineswegs pauschal zwischen nationalem Recht sowie nationalen Rechtsanwendern auf der einen und dem öffentlichen Interesse an der Durchsetzung der Richtlinie auf der anderen Seite.311 Darüber hinaus folgt aus der Qualifizierung des mittelbar anwendbaren Unionsrechts als „Recht und Gesetz“ im Sinne von Art. 20 Abs. 3 GG, dass auch ein öffentliches/verfassungsrechtliches Interesse daran besteht, das nationale 1319/96, Rn. 6; BFH v. 12.10.2000 – III R 35/95, Rn. 28 f.; grundsätzlich ablehnend Baldauf, Richtlinienverstoß und Verschiebung der Contra-legem-Grenze im Privatrechtsverhältnis, 2013, S. 207 ff. 307 In diesem Sinne z.B. Lunk, FS Reuter, 2010, S. 689, 699; Franzen, AP Nr. 23 zu § 14 TzBfG sub IV. 2. a); wortgleich Franzen, RIW 2010, 577, 579; Picker, ZTR 2009, 230, 235; M. Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung, 2010, S. 181; ErfKomm-Wißmann, Arbeitsrecht, 14. Aufl. 2014, Art. 267 AEUV Rn. 45a; BAG v. 23.3.2006 – 2 AZR 343/05, Rn. 48; BAG v. 13.7.2006 – 6 AZR 198/06, Rn. 40. Ebendies hat auch das Bundesverfassungsgericht jüngst abgelehnt, BVerfG v. 10.12.2014 – 2 BvR 1549/07, Rn. 38 ff. (Junk). 308 Herresthal, Rechtsfortbildung im europäischen Bezugsrahmen, 2006, S. 311; Riesenhuber, AP KSchG 1969 § 17 Nr. 21; Spelge, FA 2011, 34 f.; BAG v. 23.3.2010 – 9 AZR 128/09, Rn. 105; Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, 1994, S. 279. 309 Herresthal, ZEuP 2009, 598, 612. Eine Ausnahme besteht gemäß Art. 297 Abs. 2 UAbs. 3 für Richtlinien ohne Gesetzescharakter, die nicht an alle Mitgliedstaaten gerichtet sind. 310 Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band II, 3. Aufl. 2012, Rn. 583; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band I, 11. Aufl. 2013, Rn. 428e (S. 482); ausdrücklich a.A. z.B. Gsell, AcP 214 (2014), 99, 138 f., welche das Vertrauen in die Gewährleistungen einer Richtlinie wegen der Abhängigkeit von einer (vollständigen) Umsetzung geringer gewichtet. 311 Anders offenbar Wolf, AuA 2006, 340.

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Recht in Einklang mit der Richtlinie zu bringen, um Normwidersprüche zu vermeiden.312 aa) In Bezug zum materiellen Recht Daraus lassen sich zwei Grenzen der Wirkung der Richtlinie als Vertrauenstatbestand ableiten. Zum einen ist für die Schutzwürdigkeit des Vertrauens entscheidend, inwieweit vorhersehbar war, welche Auslegung der Gerichtshof dem Unionsrecht geben würde.313 Dafür können hier nationale Umstände Berücksichtigung finden.314 Es ist also nicht nur zu ermitteln, welche Rechtsansichten von Unionsstellen existieren, sondern insbesondere die nationale (höchstrichterliche) Rechtsprechung kann Vertrauen in ein Verständnis des Unionsrechts hervorrufen. Dagegen spricht nicht, dass letztlich nur der EuGH das Unionsrecht verbindlich auslegen kann. Dieser Einwand würde nämlich auch gegenüber jeglichem guten Glauben gelten, der auf anderen Umständen als der EuGH-Rechtsprechung basiert. Vertrauensschutz würde dann nur bei Rechtsprechungsänderungen überhaupt in Betracht kommen. Anderenfalls wäre der nationale Vertrauensschutz identisch mit der Rückwirkungsbeschränkung und ohne eigenen Anwendungsbereich. Außerdem geht es hier um eine territorial auf einzelne Mitgliedstaaten begrenzte Beschränkung des Unionsrechts, weshalb die Vertrauensumstände nicht notwendig unionsweit identisch sein müssen. Bei der Gewichtung der Umstände, insbesondere nationaler Rechtsprechung ist jedoch zu berücksichtigen, inwieweit sich die nationale Rechtsprechung mit der Verpflichtung zur Umsetzung des Unionsrechts auseinandergesetzt hat. Auch höchstgerichtliche Entscheidungen können kein Vertrauen erzeugen, das gegenüber dem Interesse an der Durchsetzung des Unionsrechts überwiegt, wenn sie sich mit den unionalen Vorgaben nicht oder erkennbar unzureichend auseinandersetzen.315 In solchen Fällen liegt daneben zumeist ein offenkundiger Verstoß gegen die Vorlagepflicht des Art. 267 Abs. 3 AEUV vor. Die Rechtsanwender dürfen nicht blind auf das nationale Recht

312

Herresthal, Rechtsfortbildung im europäischen Bezugsrahmen, 2006, S. 311. Ausdrücklich BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, Rn. 82 (Honeywell); zu unmittelbar anwendbarem Unionsrecht); in diesem Sinne auch Rummel, AuR 2009, 217, 218; ders., AuR 2009, 160, 164; Suckow/Klose, JbArbR 49 (2011), 59, 74. 314 Deshalb handelt es sich bei nationalem Vertrauensschutz nicht um eine „funktionsäquivalente Regelung“ zum unionalen Vertrauensschutz, so aber Domröse, JJZ 2009, 109, 125; in diese Richtung auch Sagan, JJZ 2010, 67, 84. 315 Ein solcher Begründungsmangel würde auch in einem vergleichbaren rein deutschen Sachverhalt der Entwicklung besonderen Vertrauens entgegenstehen, a.A. Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, 1996, S. 230 f. Weitergehenden Vertrauensschutz gewährt wohl auch M. Weber, Grenzen EUrechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung, 2010, S. 183 f. 313

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vertrauen.316 Ihnen wird bis zu einem gewissen Grad auferlegt, die nationale Gesetzgebung und Verwaltungspraxis zu hinterfragen.317 Voraussetzung ist also zumindest, dass das mitgliedstaatliche Gericht zu einer vertretbaren Auslegung des Unionsrechts gekommen ist. Wie bei der Auslegungsrückwirkungsbeschränkung ist ein positiver Irrtum über die Unionsrechtslage erforderlich. Bloße Zweifel am Inhalt des Unionsrechts wären nämlich Anlass für eine Vorlage nach Art. 267 Abs. 2, 3 AEUV und nicht für Vertrauen in eine Unionsrechtskonformität des nationalen Rechts. Deshalb ist es selbstverständlich, dass eine Beschränkung der Durchsetzungswirkungen der Richtlinien ausscheidet, wenn deren Vorgaben sogar klar waren.318 Dabei kommt den Betroffenen keine Vermutung über die Unionsrechtskonformität des nationalen Rechts zugute.319 Eine solche würde allein auf dem (vermuteten) Umsetzungswillen der nationalen Hoheitsträger aufbauen. Ohne klärende EuGH-Entscheidung wäre aber schon gar nicht sicher, welche Vorgaben überhaupt umgesetzt werden müssen. Darüber hinaus sagt das bloße Bemühen noch nichts über den tatsächlichen Erfolg aus. Dementsprechend kann das Verhalten der nationalen Stellen nur als ein Faktor in die Gesamtabwägung eingestellt werden. bb) In Bezug zur Methodenlehre Die andere Grenze besteht dort, wo die Rechtsanwender nicht mehr davon ausgehen mussten, dass eine richtlinienkonforme Rechtsfindung methodisch möglich sein würde.320 Der Inhalt der Richtlinie muss nämlich nur soweit in die Bewertung der nationalen Rechtslage einbezogen werden, wie die Pflicht zur Konformauslegung reicht.321 Bestehen im Einzelfall Unklarheiten zur

316 Kohte, jurisPR-ArbR 45/2005 Anm. 1 sub C; Lunk, FS Reuter, 2010, S. 689, 700 f.; BAG v. 23.3.2010 – 9 AZR 128/09, Rn. 111 ff. 317 Kritisch daher Dzida/Hohenstatt, DB 2006, 1897, 1899; Kliemt, FS 25 Jahre Arbeitsgemeinschaft Arbeitsrecht, 2006, S. 1237, 1250 f. 318 Vgl. Sagan, JJZ 2010, 67, 70. 319 So aber Sagan, JJZ 2010, 67, 71; Steiner, EuZA 2009, 140, 151; Tavakoli/Westhäuser, DB 2008, 702, 705; wie hier z.B. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 255 f. (i.V.m. S. 184 ff.). 320 Darin steckt kein unzulässiger Zirkelschluss. Dass die Möglichkeit der Konformauslegung die Reichweite des Gebots der Konformauslegung bestimmt, liegt nämlich begründet im Merkmal der Vorhersehbarkeit, welches insoweit stets selbstreferenziell ist. 321 Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 206 f., 214; Sagan, JJZ 2010, 67, 81; Dzida/Hohenstatt, DB 2006, 1897, 1899; BAG v. 13.7.2006 – 6 AZR 198/06, Rn. 40; BGH v. 26.11.2008 – VIII ZR 200/05, Rn. 33; Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation in Deutschland und Frankreich, 2012, S. 101 f.; i.Erg. auch M. Weber, Grenzen EUrechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung, 2010, S. 182.

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Teil 5: Rückwirkungsbeschränkung und mitgliedstaatliches Recht

nationalen Methodenlehre, so fallen diese hier ins Gewicht.322 Ebenso sind die zeitlichen Grenzen der Konformauslegung zu beachten; vor ihrem Umsetzungsdatum verbietet eine Richtlinie nur ihre Frustration.323 Da zur Pflicht der richtlinienkonformen Rechtsfindung auch eine Rechtsfortbildung gehört, soweit sie den nationalen Methodenvorgaben entspricht, versteht es sich von selbst, dass der Wortlaut eines nationalen Gesetzes nur ganz untergeordnete Bedeutung für den Vertrauensschutz hat.324 Die Rechtsunterworfenen müssen hingegen nicht mit einer Überschreitung der Grenzen der Rechtsfortbildung rechnen.325 Ein solcher Vorwurf ist freilich nur denkbar, wenn die nationalen Gerichte letztlich doch eine richtlinienkonforme Rechtsfindung vorgenommen haben. Scheitert die Konformauslegung nämlich schon an den anderen Grenzen, so werden Überlegungen zum Vertrauensschutz hinfällig.326 In diesem Sinne haben alle Grenzen der Konformauslegung einen vertrauensschützenden Reflex.327 Erfasst werden aber auch die Fälle, in denen die Betroffenen davon ausgehen durften, eine richtlinienkonforme Auslegung (im engeren Sinne) sei nicht möglich. Basierte dieser Irrtum auf einer gefestigten höchstrichterlichen Rechtsprechung,328 so ist das Vertrauen schutzwürdig. Allein aus dem nationalen Recht sind unter Beachtung des Äquivalenzgrundsatzes die darüber hinausgehenden Anforderungen an den Vertrauensschutz abzuleiten. Das betrifft zum Beispiel einen strengeren Maßstab bei Rechtsfortbildungen im Vergleich zu Auslegungen329 oder die Bedeutung von Literaturmeinungen330. 322 Damit ist nicht eine pauschale Unübersichtlichkeit des europarechtlichen Mehrebenensystems als Rechtfertigung von Vertrauensschutz gemeint, anders Steiner, EuZA 2009, 140, 151 f. 323 Zum Frustrationsverbot Riesenhuber-Hofmann, Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 15 Rn. 7 ff. 324 Vgl. zum deutschen Recht Schlachter, EuZA 2015, 1, 14. 325 Die Grenzen richtlinienkonformer Rechtsfortbildung hat die deutsche Rechtsprechung freilich sehr weit gezogen, vgl. Schinkels, JZ 2011, 394, 396 f.; anders noch Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, 1994, S. 126. Zieht man im Rahmen der Lückenfeststellung und -ausfüllung die Richtlinie mit heran, dürfte eine Rechtsfortbildung in den allermeisten Fällen auch zulässig sein, Auer, NJW 2007, 1106, 1108. 326 Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, 1994, S. 276. 327 Vgl. Gerken/Rieble/Roth/Stein/Streinz, „Mangold“ als ausbrechender Rechtsakt, 2009, S. 40; Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 221; Canaris, FS Schmidt, 2006, S. 41, 58. 328 Siehe z.B. die Rechtsprechung des BAG vor der Junk-Entscheidung des EuGH, BAG v. 18.9.2003 – 2 AZR 79/02 (sub 4. c)). 329 Vgl. Höpfner, JJZ 2009, 73, 88; Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 216 f. 330 Vgl. M. Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung, 2010, S. 183 f.

§ 16 Mittelbar anwendbares Unionsrecht

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b) Vertrauensschutz zu Gunsten der öffentlichen Hand Nach diesen Überlegungen können auch öffentliche Stellen, beispielsweise der Staat als Arbeitgeber, in ihrem Vertrauen geschützt werden. Dagegen wird vorgebracht, der öffentliche Arbeitgeber sei dem Mitgliedstaat zuzurechnen und dieser werde von der Richtlinie verpflichtet, ein richtlinienkonformes Ergebnis in dem Rahmen sicherzustellen, der durch die zeitliche Wirkung der Richtlinie und eine eventuelle Rückwirkungsbeschränkung vorgegeben wird.331 Richtigerweise ist zu unterscheiden: Wie jedes andere Rechtssubjekt muss auch ein öffentlicher Arbeitgeber nicht damit rechnen, dass die methodischen Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung überschritten werden. Wo die nationale Methodenlehre eine absolute Grenze zieht, die auch in vergleichbaren rein innerstaatlichen Fällen Bestand hat, gebietet das Unionsrecht keinen Verstoß zu Lasten staatlicher Akteure.332 Vertrauen in einen bestimmten Inhalt des – weitgehend maßgeblichen – Unionsrechts können öffentliche Arbeitgeber ebenso entwickeln wie andere Rechtssubjekte. Im Rahmen des unionsrechtlichen guten Glaubens wurde schon auf ihre Betroffenenstellung hingewiesen; an dieser ändert sich im nationalen Kontext nichts.333 Im Fall einer verspätet umgesetzten Richtlinie fehlt es dennoch regelmäßig an schützenswertem Vertrauen, denn dort ist – nicht nur für öffentliche Stellen334 – absehbar, dass es zu einer Änderung der Rechtslage kommen wird, und soll der Mitgliedstaat nicht von seiner eigenen Säumnis profitieren.335 Das Sanktionsargument versagt jedoch, wenn es sich um eine fahrlässige Falschbeurteilung der unionalen Rechtslage handelt und es außerdem nur noch um solche Sachverhalte gehen kann, in denen die Richtlinienvorschrift nicht unmittelbar anwendbar ist, also keine bestimmten und unbedingten Vorgaben macht. c) Endzeitpunkt des nationalen Vertrauens Als weitere Konsequenz aus der Modifikation des Vorhersehbarkeitskriteriums unterliegt der zeitliche Rahmen des nationalen Vertrauensschutzes europarechtlichen Einflüssen, denn die Zeitpunkte von Beginn und Ende des Vertrauens sind mit dem Tatbestand verknüpft. An dieser Stelle sollen nicht alle

331

OVG Münster v. 21.9.2009 – 6 B 1236/09; Sagan, JJZ 2010, 67, 72 Fn. 17; Höpfner, ZfA 2010, 449, 483. 332 In diesem Sinne EuGH v. 15.4.2008 – Rs. C-268/06 Impact, Slg. 2008, I-2483 Rn. 102 f. 333 Ähnlich Chr. Picker, ZTR 2009, 230, 236. 334 Vgl. EuGH v. 10.3.2005 – Rs. C-342/03 Spanien ./. Rat, Slg. 2005, I-1975 Rn. 48 zur Vorhersehbarkeit einer unionalen Regelung für alle Wirtschaftsteilnehmer. 335 GA Kokott, SchlA v. 9.1.2008 – Rs. C-268/06 Impact, Slg. 2008, I-2483 Rn. 141 f.

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möglichen Fallkonstellationen angesprochen werden. Es lohnt sich jedoch, die anzuwendenden Grundsätze noch einmal herauszustellen. Zuerst endet regelmäßig das Vertrauen in die nationale Rechtslage oder Rechtsprechung mit dem Ablauf der Umsetzungsfrist einer neuen, die Rechtsfrage berührenden Richtlinie.336 Es handelt sich hierbei um eine Änderung des Normumfelds, die stets mit einer Änderung der nationalen Rechtslage einhergehen kann und wegen der Veröffentlichung der Richtlinie erkennbar und deshalb beachtlich ist.337 Unter Berücksichtigung der Vorwirkungen einer Richtlinie ließe sich im Einzelfall sogar schon auf das Inkrafttreten abstellen.338 Ein Vorlagebeschluss zur Auslegung einer maßgeblichen Unionsvorschrift dürfte hingegen trotz seiner grundsätzlichen Eignung als vertrauensrelevanter Umstand regelmäßig keine Auswirkungen auf eine bestehende Vertrauenslage haben. Ein Vorlagebeschluss stellt nur eine Ansicht zum Inhalt des Unionsrechts dar und verändert daher das „nationale“ Verständnis des Unionsrechts zumeist nicht. Bestand vorher kein begründeter Anlass, von einer Auslegung des Unionsrechts auszugehen, mit der das nationale Recht im Widerspruch steht, so ändert sich dies durch den Vorlagebeschluss zumeist nicht. Was der EuGH entscheiden wird, ist in gleichbleibender Weise unklar.339 Bestehendes Vertrauen kann aber zerstört werden, wenn die Relevanz des Europarechts durch den Vorlagebeschluss erstmals zutage gebracht und die Rechtmäßigkeit der nationalen Rechtslage so in Zweifel gezogen wird.340 An einer Veröffentlichung des Beschlusses fehlt es jedenfalls nicht, finden sich doch alle Vorlageersuchen an den Europäischen Gerichtshof im Europäischen Amtsblatt.341 Da dem Verständnis des Unionsrechts entscheidende Bedeutung für den nationalen Vertrauensschutz zukommt, entfällt ein solcher zumeist mit einem 336 M. Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung, 2010, S. 181 f. 337 Vgl. auch Suhr, Richtlinienkonforme Auslegung im Privatrecht und nationale Auslegungsmethodik, 2011, S. 296. 338 Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band II, 3. Aufl. 2012, Rn. 210 (S. 180); vgl. BGH v. 23.3.2010 – 9 AZR 128/09, Rn. 104. 339 Z.B. Krieger/Arnold, NZA 2009, 530, 532; Sedlmeier, EuZA 2010, 88, 98; Picker, ZTR 2009, 230, 236; Höpfner, JJZ 2009, 73, 87 f. auf den Fall Schultz-Hoff bezogen. 340 Vgl. Riesenhuber, AP KSchG 1969 § 17 Nr. 21 a.E.; Sagan, JJZ 2010, 67, 89; in diese Richtung auch Balthasar, JJZ 2010, 39, 63. 341 Wiedmann, EuZW 2007, 692, 695. Dies halten nicht für ausreichend oder die Kenntnisnahme unzumutbar belastend z.B. Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 215; Kliemt, FS 25 Jahre Arbeitsgemeinschaft Arbeitsrecht, 2006, S. 1237, 1251; Sedlmeier, EuZA 2010, 88, 97; Kock, BB 2009, 1181. Richtig daran ist freilich, dass die Grenzen des Vertrauensschutzes auch die Sorgfaltsanforderungen an die Betroffenen und die sie beratenden Berufsstände beeinflussen.

§ 17 Staatshaftung als Ausgleich für enttäuschtes Vertrauen?

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entsprechenden EuGH-Urteil.342 Diese werden nicht nur tagesaktuell einschließlich ihrer Begründungen über das Internet veröffentlicht, sondern zumeist auch in der Fachpresse angekündigt. Auf die erst deutlich später erfolgende amtliche Veröffentlichung muss deshalb nicht gewartet werden. Auf die umsetzende nationale (höchstrichterliche) Entscheidung kommt es nur an, wenn vorher gerade die Möglichkeit der Konformauslegung zweifelhaft war.343 C. Zusammenfassung Es lässt sich demnach davon ausgehen, dass nationaler Vertrauensschutz nur selten in Betracht kommen dürfte. Vertrauen in die Grenzen der Methodenlehre ist angesichts der von der Rechtsprechung stark erweiterten Möglichkeiten der richtlinienkonformen Auslegung fast ausgeschlossen. Eine von der Unionsrechtslage abweichende nationale Vertrauenslage kann sich unter Geltung von Art. 20 Abs. 3 GG nur ausnahmsweise bilden. Dass damit letztlich die betroffenen Privatrechtssubjekte die Umsetzungsdefizite des Mitgliedstaates ausbaden müssen, ist dem Gebot der richtlinienkonformen Auslegung freilich inhärent.344

§ 17 Staatshaftung als Ausgleich für enttäuschtes Vertrauen? Staatshaftung als Ausgleich für enttäuschtes Vertrauen? Die Untersuchung der Interessenlage für einen nationalen Vertrauensschutz ergab, dass insbesondere im Privatrecht sich zwei Parteien gegenüberstehen können, die jeweils auf den Geltungsanspruch einer positiven Norm vertraut hatten. Während die eine Seite erwarten durfte, dass die ihr durch das Unionsrecht eingeräumten Rechtspositionen auch durchgesetzt werden, wollte sich die andere Seite auf die Regelungen des nationalen Rechts verlassen. In solchen Situationen muss die Gewährung oder Nichtgewährung von nationalem Vertrauensschutz notwendig eine der Parteien enttäuschen.345 Der Konflikt zwischen (autonom-)nationaler Rechtslage und unionsrechtlicher Vorga-

342

Ebenso z.B. Kliemt, FS 25 Jahre Arbeitsgemeinschaft Arbeitsrecht, 2006, S. 1237, 1250; Gaul/Bonanni/Ludwig, DB 2009, 1013, 1014; Krieger/Arnold, NZA 2009, 530, 532; Höpfner, RdA 2013, 16, 28; in diese Richtung auch BGH v. 17.8.2011 – I ZR 84/09, Rn. 37 a.E. 343 BAG v. 13.7.2006 – 6 AZR 198/06, Rn. 37; BAG v. 22.3.2007 – 6 AZR 499/05, Rn. 18; im Anschluss daran M. Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung, 2010, S. 183; anders Wolf, AuA 2006, 340, 341; Sagan, JJZ 2010, 67, 82. 344 Kritisch hingegen Freitag, EuR 2009, 796, 800. 345 Giegerich, EuR 2012, 373, 374; Hamenstädt, EuR 2011, 263, 267.

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be belastet letztlich einen der Rechtsunterworfenen, ohne dass dieser den Konflikt selbst ausgelöst hat.346 Das wirft die Frage auf, ob zumindest der wirtschaftliche Schaden auf den Mitgliedstaat abgewälzt werden kann. Jener hat schließlich die unionsrechtswidrige nationale Rechtslage geschaffen oder aufrechterhalten.347 Dafür kommt vor allem ein Ersatzanspruch in Gestalt der Staatshaftung in Betracht. In diesem Abschnitt soll erläutert werden, ob und unter welchen Umständen die Mitgliedstaaten für enttäuschtes Vertrauen haften. Dabei ist danach zu unterscheiden, ob der Mitgliedstaat Vertrauensschutz gewährt hat und damit das Vertrauen in das Unionsrecht enttäuscht wurde oder ob die Vorgaben des Unionsrechts vollumfänglich zur Anwendung kamen und dadurch Vertrauen auf die Geltung des nationalen Rechts enttäuscht wurden. Gleichzeitig kann sich der Anspruch zum einen aus dem Unionsrecht und zum anderen aus dem nationalen Recht ergeben. A. Staatshaftungsansprüche bei der Gewährung von nationalem Vertrauensschutz Wird die Durchsetzung und Anwendung des Unionsrechts durch die Gewährung von nationalem Vertrauensschutz blockiert, enttäuschen die Mitgliedstaaten das (abstrakte) Vertrauen der Rechtsunterworfenen auf die ihnen eingeräumten unionsrechtlichen Rechte. Es liegt nahe, einen Anspruch auf Ersatz eines möglichen Vertrauensschadens insbesondere nach den Grundsätzen der unionsrechtlichen Staatshaftung zu diskutieren. I.

Unionsrechtlicher Staatshaftungsanspruch

Der unionsrechtliche Staatshaftungsanspruch wurde vom Gerichtshof durch Rechtsfortbildung in Anlehnung an Art. 340 Abs. 2 AEUV und die gemeinsamen Rechtsgrundsätze der Mitgliedstaaten entwickelt. Er ist gegeben, wenn der Mitgliedstaat gegen eine Norm verstößt, die die Begründung von Rechten für Einzelne bezweckt, und dadurch in unmittelbar kausaler Weise ein Schaden verursacht wird.348 Der Verstoß gegen das Unionsrecht kann verwaltender, gesetzgeberischer oder rechtsprechender Natur sein.349 Erforderlich ist, dass die mitgliedstaatliche Stelle das ihr eingeräumte Ermessen offenkundig und erheblich überschritten hat („hinreichend qualifizierter Verstoß“).350 Der Ersatzumfang und das Verfahren der Geltendmachung des Anspruchs richten

346

Zöchling-Jud, FS Heinz Mayer, 2011, S. 871, 880. Felke, MDR 2002, 226, 227. 348 Schwarze-Berg, EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 340 AEUV Rn. 79. 349 Streinz-Gellermann, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2011, Art. 340 AEUV Rn. 44. 350 Schwarze-Berg, EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 340 AEUV Rn. 84. 347

§ 17 Staatshaftung als Ausgleich für enttäuschtes Vertrauen?

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sich in den Grenzen von Äquivalenz und Effektivität nach nationalem Recht.351 Gewährt der Mitgliedstaat Vertrauensschutz, kommen die Vorgaben des Unionsrechts nicht zur Anwendung. Der Mitgliedstaat verletzt also seine Pflicht zur Um- oder Durchsetzung des Unionsrechts. Der unionale Staatshaftungsanspruch kann hier in seiner typischen Zielrichtung angewendet werden. Er verhilft den vom Unionsrecht Begünstigten zur Durchsetzung ihrer Rechtspositionen, indem er zumindest die wirtschaftlichen Folgen des Umsetzungsdefizits auf die Mitgliedstaaten verlagert. Gleichzeitig dient er so auch den abstrakten Interessen des Unionsrechts an seiner Durchsetzung und verhindert, dass der Mitgliedstaat Vorteile aus dem Umsetzungsdefizit ziehen kann. Soweit die Gerichte unionsrechtlich befugt waren, das Vertrauen der Betroffenen in die nationale Rechtslage zu schützen, entfällt ein Verstoß gegen das Unionsrecht und ein Ersatzanspruch kann nicht an judikatives Unrecht anknüpfen. Anderenfalls liegt schon insofern ein Verstoß gegen das Unionsrecht vor. Neben einem möglichen Fehlverhalten der Rechtsprechung stellt das vertrauensbegründende mitgliedstaatliche Recht jedenfalls einen Verstoß gegen das Unionsrecht dar. Die entsprechenden Vorschriften sind auch kausal für den später eintretenden Schaden, denn wenn sie im Einklang mit den unionsrechtlichen Vorgaben gestanden hätten, wäre die Rechtsposition der Begünstigten vollständig durchgesetzt worden. Dennoch scheidet ein Ersatzanspruch in den allermeisten Fällen aus, da es an einem hinreichend qualifizierten Verstoß fehlt.352 Ob ein solcher vorliegt, beurteilt sich nach den Umständen des Einzelfalls, wobei insbesondere zu berücksichtigen sind „das Maß an Klarheit und Genauigkeit der verletzten Vorschrift, die Frage, ob der Verstoß oder der Schaden vorsätzlich oder unbeabsichtigt begangen bzw. zugefügt wurde, die Entschuldbarkeit oder Unentschuldbarkeit eines etwaigen Rechtsirrtums und der Umstand, dass das Verhalten eines Gemeinschaftsorgans möglicherweise dazu beigetragen hat, dass gemeinschaftsrechtswidrige nationale Maßnahmen oder Praktiken eingeführt oder beibehalten wurden.“353 Hier gelten im Grundsatz die gleichen Anforderungen für die Umsetzung von unmittelbar oder mittelbar anwendbarem Unionsrecht. Im Ergebnis kommt es also vor allem darauf an, wie deutlich die Vorgaben des Unionsrechts für den mitgliedstaatlichen Gesetzgeber und die letztinstanzlichen Gerichte erkennbar waren. Eine vertretbare Ausle351

Tietjen, Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts, 2010, S. 204 f.; Schwarze-Berg, EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 340 AEUV Rn. 93. 352 I.Erg. anders aber ohne Begründung Spelge, FA 2011, 34, 35. Kritisch ohne Bezug auf konkrete Tatbestandsmerkmale Wißmann, FS Bauer, 2010, S. 1161, 1168 f. 353 Z.B. EuGH v. 28.6.2001 – Rs. C-118/00 Larsy, Slg. 2001, I-5063 Rn. 39; EuGH v. 4.7.2000 – Rs. C-424/97 Haim, Slg. 2000, I-5123 Rn. 43; EuGH v. 5.3.1996 – verb. Rs. C-46/93 und C-48/93 Brasserie du pêcheur und Factortame, Slg. 1996, I-1029 Rn. 56.

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gung des Unionsrechts schließt dabei einen hinreichend qualifizierten Verstoß aus.354 Üblicherweise dürfte sich das Verhalten der nationalen Organe in eben diesem Rahmen abspielen.355 Damit erweist sich das Erfordernis des hinreichend qualifizierten Verstoßes als Hindernis für die Verlagerung des Schadens auf den Mitgliedstaat. Nur in den seltenen Fällen des Verstoßes gegen eindeutiges Unionsrecht kommt ein Schadensersatzanspruch für die vom Unionsrecht Begünstigten in Betracht. Im Übrigen gehen bestehende Zweifel zu Lasten der Betroffenen. Diese Situation ist jedoch hinzunehmen und nicht etwa durch eine Veränderung der Tatbestandsvoraussetzungen des Staatshaftungsanspruchs vermeintlich zu verbessern. Der strenge Maßstab des qualifizierten Verstoßes soll verhindern, dass die mitgliedstaatlichen Organe durch einen drohenden Ersatzanspruch in ihrer Tätigkeit behindert werden und eingeräumte Spielräume praktisch verengt werden.356 Diese Erwägungen gelten in gleichem Maße, wenn die nationalen Bestimmungen Anknüpfungspunkt für Vertrauensschutz gewesen sind. Es ist auch kein Grund ersichtlich, warum der auf der Gewährung von Vertrauensschutz basierende Unionsrechtsverstoß anders behandelt werden muss als jeder andere Rechtsverstoß. Die subjektive Schutzrichtung des Vertrauensschutzes kann hierfür nicht genügen, erfordert doch jeder unionsrechtliche Schadensersatzanspruch die Verletzung einer Norm, die bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen. Insgesamt zeigt sich damit erneut, dass es Aufgabe der Rechtsunterworfenen ist, Vorsorge für die Fälle einer unsicheren Rechtslage zu treffen.357 II. Nationale Amtshaftungs- und Staatshaftungsansprüche Neben dem unionalen Staatshaftungsanspruch kommen die nationalen Ansprüche gegen den Mitgliedstaat weiterhin zur Anwendung.358 Der deutsche Amtshaftungsanspruch nach § 839 BGB, Art. 34 S. 1 GG ist in den Fällen des judikativen oder legislativen Unrechts sogar noch restriktiver als sein unionales Pendant. An einer Rechtsverletzung durch die Gerichte dürfte es schon fehlen, wenn diese zur Gewährung des Vertrauensschutzes aufgrund der nationalen Rechtslage verpflichtet waren. Im Übrigen kommt gemäß § 839 Abs. 2 S. 1 BGB eine Haftung für Fehler bei gerichtlichen Entscheidungen nur bei Straftaten in Betracht. Legislatives Unrecht führt nach der gefestigten 354

Calliess/Ruffert-Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 340 AEUV Rn. 60 m.w.N. Vgl. kürzlich BGH v. 18.10.2012 – III ZR 196/11, insb. Rn. 28 ff.; zum Bereich der Sportwetten Unterreitmeier, NJW 2013, 127, 129. 356 Streinz-Gellermann, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2011, Art. 340 AEUV Rn. 47 m.w.N. 357 Vgl. schon oben § 6 B.II.1.b)bb), S. 148 ff. 358 EuGH v. 5.3.1996 – verb. Rs. C-46/93 und C-48/93 Brasserie du pêcheur und Factortame, Slg. 1996, I-1029 Rn. 56; Calliess/Ruffert-Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 340 AEUV Rn. 69. 355

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Rechtsprechung des Bundesgerichthofs schon grundsätzlich nicht zu einem Anspruch, da der Gesetzgeber – außer bei Maßnahme- oder Einzelfallgesetzen – nicht zu Gunsten Einzelner, sondern ausschließlich im Allgemeininteresse tätig wird.359 Ein Anspruch nach nationalen Amtshaftungsgrundsätzen besteht daher nicht. Aus ähnlichen Gründen scheiden Ansprüche wegen enteignungsgleichen oder aufopferungsgleichen Eingriffs aus. Zwar könnte eine Verletzung des Eigentumsrechts z.B. bei Kartellsachverhalten noch anzunehmen sein, regelmäßig dürfte es aber an Auswirkungen auf den Schutzumfang des Art. 14 GG fehlen.360 Außerdem hat die Rechtsprechung auch hier zuletzt Entschädigungsansprüche für Legislativunrecht ausdrücklich ausgeschlossen.361 B. Staatshaftungsansprüche bei der Nichtgewährung von nationalem Vertrauensschutz Wird auf mitgliedstaatlicher Ebene das Vertrauen in die nationalen Normtexte nicht geschützt, kann man ebenfalls über einen unionsrechtlichen Anspruch zu Gunsten der Vertrauenden nachdenken. Die Diskussion um einen solchen Ausgleichsanspruch wurde zuletzt durch das Bundesverfassungsgericht angefacht. In seiner Honeywell-Entscheidung stellte es fest, dass Vertrauensschutzerwägungen zwar nicht zu einer zeitlichen Beschränkung eines EuGHUrteils führen oder den Anwendungsvorrang beschränken könnten.362 Ein gegen den Mitgliedstaat gerichteter Anspruch auf Ersatz des Vertrauensschadens sei jedoch möglich.363 Da ein solcher Anspruch nicht Gegenstand des Verfahrens war, konnte das Gericht dessen dogmatische Herkunft ausdrücklich offenlassen.364 I.

Unionsrechtlicher Staatshaftungsanspruch

Zuerst ist daher zu prüfen, ob sich dieser Anspruch aus dem bekannten unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch ableiten lässt und entsprechenden Voraussetzungen unterliegt. Er könnte andererseits auch auf eine eigenständige dogmatische Grundlage zu stellen sein.

359 MüKo-Papier, BGB, 6. Aufl. 2013, § 839 BGB Rn. 260 m.N. aus der Rechtsprechung. 360 Giegerich, EuR 2012, 373, 385. Verstöße gegen Art. 12 Abs. 1 GG genügen insoweit nicht, MüKo-Papier, BGB, 6. Aufl. 2013, § 839 BGB Rn. 43. 361 Giegerich, EuR 2012, 373, 385; MüKo-Papier, BGB, 6. Aufl. 2013, § 839 BGB Rn. 46; Karpenstein/Johann, NJW 2010, 3405, 3406; jeweils m.w.N. 362 BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, Rn. 84 (Honeywell). 363 BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, Rn. 85 (Honeywell). 364 BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, Rn. 85 a.E. (Honeywell).

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Teil 5: Rückwirkungsbeschränkung und mitgliedstaatliches Recht

1. Anwendung des bekannten Staatshaftungsanspruchs Die hier interessierende Konstellation ist dadurch besonders, dass ein Staatshaftungsanspruch nicht durch eine fehlerhafte Durchsetzung des Unionsrechts ausgelöst würde, sondern weil die mitgliedstaatlichen Stellen dem Unionsrecht, gerade auch ungeachtet gewisser Schwierigkeiten im nationalen Recht zur Anwendung verholfen haben.365 Ein solcher Anspruch wurde daher zu Recht als „umgekehrter“ Staatshaftungsanspruch bezeichnet.366 a) Verletzung einer subjektiv-rechtlichen Norm Dieser Unterschied zeigt sich schon bei der ersten Voraussetzung des Anspruchs, der Verletzung einer unionsrechtlichen Norm, die den Schutz von Interessen der Geschädigten bezweckt hatte. Da die jeweilige sachliche Unionsnorm im Ergebnis durchgesetzt wurde, hat der Mitgliedstaat jedenfalls nicht gegen diese verstoßen; beispielsweise wird durch eine unmittelbare Anwendung einer Richtlinienbestimmung trotz entgegenstehenden nationalen Rechts der Unionsverstoß insoweit gerade abgestellt. In der Literatur wird daher teilweise das an die Mitgliedstaaten gerichtete allgemeine Umsetzungsgebot als verletzte Unionsnorm angesehen. Anknüpfungspunkt für eine Haftung soll schon der Erlass oder das Aufrechterhalten einer (eigentlich) unionsrechtswidrigen Rechtslage sein. Das allgemeine Umsetzungsgebot wird dafür um den Aspekt der Transparenz erweitert: Das Unionsrecht verlange von den Mitgliedstaaten eine nationale Rechtslage, in der Vertrauen auf unionsrechtswidrige Rechtspositionen nicht entstehen könne.367 Diese Pflicht bestehe nicht nur im öffentlichen Interesse, sondern insbesondere den von der Unionsnorm Belasteten gegenüber.368 Diese hätten einen Anspruch darauf, dass die Übereinstimmung von nationaler Rechtslage mit den Vorgaben des Unionsrechts auch erkennbar sei.369 Der Gesetzgeber habe also dafür Sorge zu tragen, dass nicht nur die Rechte der vom Unionsrecht Begünstigten, sondern auch die korrespondierenden Grenzen der Pflichten der Belasteten im nationalen Recht ausreichend Niederschlag finden.370 Tatsächlich fordert der Gerichtshof von den Mitgliedstaaten eine transparente Umsetzung der Vorgaben des Unionsrechts, insbesondere von Richtli-

365 Karpenstein/Johann, NJW 2010, 3405, 3407; Seifert, JbArbR 48 (2010), 119, 131; ErfKomm-Wißmann, Arbeitsrecht, 14. Aufl. 2014, Vorb AEUV Rn. 29 aE. 366 Zöchling-Jud, FS Heinz Mayer, 2011, S. 871, 879; Hamenstädt, EuR 2011, 263 ff. (passim); ähnlich Giegerich, EuR 2012, 373 ff. (passim) „europarechtskonträre Staatshaftung“. 367 Herdegen, WM 2005, 1921, 1927; Giegerich, EuR 2012, 373, 381. 368 Schinkels, JZ 2011, 394, 400. 369 Schinkels, JZ 2011, 394, 400; offenlassend Hamenstädt, EuR 2011, 263, 268. 370 Giegerich, EuR 2012, 373, 381.

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nien.371 Die Reichweite dieser Rechtsprechung und ihre Auswirkung auf den Staatshaftungsanspruch sind bisher jedoch unklar.372 Mit der geltenden Dogmatik des unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs dürfte ein subjektives Verständnis aber nicht vereinbar sein. Zum einen stellt der EuGH bei der Bestimmung der verletzten Norm im Rahmen der „normalen“ Anwendung des Staatshaftungsanspruchs nicht auf die Umsetzungsverpflichtung, sondern auf die Gewährleistungen der Sachnorm ab.373 Die Umsetzungspflicht selbst zu einer drittschützenden Pflicht zu machen, würde das Erfordernis der Verletzung einer Schutznorm als einschränkendes Merkmal praktisch aufgeben. Zum anderen führt aus ebendiesen Erwägungen die Verletzung der Vorlagepflicht des Art. 267 Abs. 3 AEUV für sich allein nicht zu einem Staatshaftungsanspruch.374 Zwar könnte in den meisten Fällen auch eine mangelhafte Vorlagepraxis gerügt werden, zum Beispiel weil die Unionsrechtslage keiner Klärung zugeführt wurde und Vertrauen so weiterbestand oder begründet wurde.375 Die Vorlagepflicht besteht jedoch nicht im Interesse Einzelner und ist daher keine subjektiv-rechtliche Norm in diesem Sinne.376 Ihre Verletzung ist lediglich bei der Frage des hinreichend qualifizierten Verstoßes mitzuberücksichtigen.377 Die unionale Sachnorm kommt wiederum nur dann als Anknüpfungspunkt für eine Haftung in Betracht, wenn sie nicht nur der nicht geschädigten Partei, 371 Z.B. EuGH v. 15.10.1986 – Rs. 168/85 Kommission ./. Italien, Slg. 1986, 2945 Rn. 16; EuGH v. 28.2.1991 – Rs. C-131/88 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1991, I-825 Rn. 35 f.; EuGH v. 30.5.1991 – Rs. 361/88 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1991, I-2567 Rn. 15; EuGH v. 20.3.1997 – Rs. C-96/95 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1997, I-1653 Rn. 39; EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-144/99 Kommission ./. Niederlande, Slg. 2001, I-3541 Rn. 17; EuGH v. 9.12.2003 – Rs. C-129/00 KOM ./. Italien, Slg. 2003, I-14637 Rn. 32 f.; EuGH v. 3.3.2011 – Rs. C-50/09 Kommission ./. Irland, Slg. 2011, I-873 Rn. 46 ff.; Hamenstädt, EuR 2011, 263, 267 f.; Herdegen, WM 2005, 1921, 1926 f.; M. Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung, 2010, S. 149 ff.; Jarass/Beljin, NVwZ 2004, 1, 7. 372 Dies konstatieren ausdrücklich auch Schinkels, JZ 2011, 394, 400; Nettesheim, WM 2006, 457, 461. 373 Vgl. Tietjen, Das System des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsrechts, 2010, S. 187 f. 374 EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-224/01 Köbler, Slg. 2003, I-10239; Breuer, Staatshaftung für judikatives Unrecht, 2011, S. 449 ff. 375 Vgl. Giegerich, EuR 2012, 373, 375. 376 Wegener, EuR 2004, 84, 90; Zantis, Das Spruchrichterprivileg in nationaler und gemeinschaftsrechtlicher Hinsicht, 2010, S. 142 ff. m.w.N.; Siegerist, Die Neujustierung des Kooperationsverhältnisses zwischen dem Europäischen Gerichtshof und den mitgliedstaatlichen Gerichten, 2010, S. 78 ff.; Breuer, Staatshaftung für judikatives Unrecht, 2011, S. 449 ff. 377 Zantis, Das Spruchrichterprivileg in nationaler und gemeinschaftsrechtlicher Hinsicht, 2010, S. 145 ff. m.w.N.; Calliess/Ruffert-Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 340 AEUV Rn. 65.

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sondern auch der geschädigten Gegenseite Rechte verleihen will. Dazu genügt, dass die Norm gerade Interessen der Geschädigten regelt; die Voraussetzungen sind großzügiger als die der Schutznormtheorie des deutschen Amtshaftungsanspruchs.378 Es ließe sich überlegen, dass im Falle der Vollharmonisierung379 beide Seiten davor geschützt werden sollen, über das unionsrechtlich zulässige Maß hinaus in Anspruch genommen zu werden.380 Eine vollharmonisierende Privatrechtsnorm basiert nämlich grundsätzlich – vergleichbar den nationalen Kodifikationen und anders als die Mindestharmonisierung – auf einem allseitigen Interessenausgleich.381 Dieser Interessenausgleich muss aber auch im Einzelfall festgestellt werden, er kann beispielsweise bei bloßen (vollharmonisierten) Ordnungsvorschriften fehlen. Ob auch im Bereich der Mindestharmonisierung im Privatrecht jede Norm gleichzeitig Interessen der Gegenseite dient, dürfte zweifelhaft sein.382 Wenn das Unionsrecht nur gebietet, ein gewisses Schutzniveau zu Gunsten der einen Partei nicht zu unterschreiten, ist damit gerade keine Obergrenze für die mögliche Belastung der anderen Partei gesetzt.383 Soweit sich eine Norm also nicht ausnahmsweise als zwingender Ausgleich beider Interessen darstellt, ist ein Schadensersatzanspruch nicht zu begründen. Als letzter Ansatzpunkt ließe sich auf die unionsrechtlichen Grenzen der Durchsetzungsmechanismen abstellen. Sieht man – entgegen den Ergebnissen dieser Arbeit, oben § 16 B.II., S. 484 ff. – beispielsweise im Vertrauensschutz eine eigenständige unionsrechtliche Grenze der richtlinienkonformen Auslegung mit eigenen Maßstäben, so würde deren Verletzung für einen Ersatzanspruch genügen. Die Pflicht zur Gewährung unionalen Vertrauensschutzes besteht gerade zu Gunsten des letztlich Geschädigten, so dass diese Norm ausreichend drittschützend konzipiert ist. b) Hinreichend qualifizierter Verstoß Über die Bestimmung einer geeigneten Unionsnorm, gegen die verstoßen wurde, hinaus stellen sich weitere Probleme bei der Anwendung der bekannten Grundsätze über die unionale Staatshaftung. Diese verlangen einen hinreichend qualifizierten Verstoß. An einem solchen dürfte es in den meisten Konstellationen fehlen. Maßgeblich ist auch hier letztlich, ob vorhersehbar war, dass die (rein) nationale Rechtslage unionsrechtswidrig war, und damit 378

Streinz-Gellermann, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 340 AEUV Rn. 46. Freilich vorbehaltlich etwaiger Öffnungsklauseln. Dann fehlt es im konkreten Fall an einer Vollharmonisierung i.e.S. 380 Schinkels, JZ 2011, 394, 398. 381 Schinkels, „Horizontalrichtlinie“ und kollisionsrechtlicher Verbraucherschutz, 2010, S. 113, 127; Schinkels, JZ 2011, 394, 398. 382 Bejahend aber Nettesheim, WM 2006, 457, 460 f. 383 Schinkels, JZ 2011, 394, 400. 379

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wie eindeutig die Unionsrechtslage war. Die Klarheit der Unionsrechtslage ist damit sowohl auf der Ebene des nationalen Vertrauensschutzes als auch bei der Frage des Schadensersatzanspruchs entscheidend. Wurde der nationale Vertrauensschutz verneint, muss deshalb aber nicht notwendig ein Staatshaftungsanspruch scheitern.384 Die Interessenabwägung kann hier zu einem anderen Ergebnis kommen, da es sich um sekundären Vertrauensschutz handelt, der den Mitgliedstaat belastet, nicht aber das Gegenüber. Hier müssen die Interessen der Geschädigten nur mit denen der säumigen Mitgliedstaaten abgewogen werden, nicht aber mit den gegenläufigen Interessen der anderen Partei, die auf die Durchsetzung des Unionsrechts vertraut hatte. Es ließe sich beispielsweise berücksichtigen, inwieweit der Geschädigte gezwungen war, der nationalen Rechtslage zu folgen, oder ob er Spielräume hatte, auf die Rechtsunsicherheit durch eigene Vorkehrungen zu reagieren. Der Vertrauensschutz soll nämlich nur solche Risiken auf den Staat überwälzen, die er selbst hervorgerufen hat.385 Eine mögliche Zwickmühle der Rechtsunterworfenen zeigt die Heininger-Rechtsprechung von EuGH386 und BGH387: Belehrt die Bank über ein nach (rein) nationaler Rechtslage nicht bestehendes Widerrufsrecht im Glauben an Notwendigkeit und Möglichkeit einer richtlinienkonformen Auslegung, so führt sie die Verbraucher unzulässigerweise in die Irre, wenn sich erweist, dass sich die unionsrechtlichen Vorgaben letztlich doch nicht ohne eine Gesetzesänderung umsetzen lassen.388 Unterlässt sie die Belehrung, führt dies zu einem unbegrenzten Widerrufsrecht. Der Bank stand als Alternative nur offen, sich gegen den (vordergründigen) Gesetzeswortlaut zu wenden und dabei das Risiko zu tragen, mit ihrer Einschätzung der Unionsrechtslage nicht richtig zu liegen.389 Nicht immer befinden sich die nationalen Rechtsunterworfenen jedoch in einer solchen Situation: Auf die Unsicherheit über die Unionsrechtskonformität des § 622 Abs. 2 S. 2 BGB konnten die Arbeitgeber schon vor der klärenden Rechtsprechung390 ohne unmittelbare Nachteile reagieren, indem sie die Vorschrift bei der Berechnung von Kündigungsfristen unbeachtet ließen. 384

In diese Richtung wohl Sauer, EuZW 2011, 94, 96. Vgl. zum deutschen Recht Kümper, Risikoverteilung im Staatshaftungsrecht, 2011, passim; Küch, Vertrauensschutz durch Staatshaftung, 2003, S. 21, 185 sieht die Gefahr der „Privatisierung von Chancen bei gleichzeitiger Sozialisierung der Risiken einer Investition“. 386 EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, Slg. 2001, I-9945. 387 BGH v. 9.4.2002 – XI ZR 91/99. 388 Vgl. Felke, MDR 2002, 226, 227, der jedoch übersieht, dass die Bank nicht rechtswidrig handelt, wenn sich ergibt, dass ein Widerrufsrecht bestanden hat. 389 Ohne Verweis auf einen Staatshaftungsanspruch jedoch BVerfG v. 26.9.2011 – 2 BvR 2216/06, 2 BvR 469/07, Rn. 56 ff. (Haustürwiderruf). 390 EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365; BAG v. 30.9.2010 – 2 AZR 456/09. 385

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Im Regelfall dürften primärer und sekundärer Vertrauensschutz jedoch gleichlaufen. Ordnet man das Aufrechterhalten einer unionsrechtswidrigen Rechtslage als offenkundiges Legislativunrecht ein,391 muss sich der Geschädigte vorwerfen lassen, dass er blind auf die nationale Rechtslage vertraut hat. Damit ist nicht nur entsprechendes Vertrauen nicht mehr schutzwürdig im Sinne des primären Vertrauensschutzes, sondern auch der Schaden aufgrund eines Mitverschuldens des Geschädigten entstanden.392 Dieses Mitverschulden wäre bei der Bestimmung des Umfangs des Schadensersatzes in Ansatz zu bringen.393 Eine ausschließliche Verantwortlichkeit des Mitgliedstaats kommt danach nur in Betracht, wenn er über erhebliches Sonderwissen verfügt.394 Es ist nicht zu erkennen, woraus sich ein solches im Vergleich zum EuGH ergeben könnte. Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Frage, wie stark der Vertrauenstatbestand des Wortlauts der nationalen Norm überhaupt noch war, in der Literatur oft nicht ausreichend berücksichtigt wird.395 Wie im Rahmen des primären Vertrauensschutzes muss sich jedoch auch bei sekundärem Vertrauensschutz widerspiegeln, dass das nationale Recht Teil eines Mehrebenensystems ist.396 Es lässt sich daher als eine Konsequenz dieses Mehrebenensystems ansehen, dass die Rechtssicherheit leidet, wenn und weil der nationale Rechtstext an Verlässlichkeit verliert. Das Merkmal der Vorhersehbarkeit der Unionsrechtslage erweist sich damit als janusköpfig. Sind die Vorgaben des Unionsrechts uneindeutig, haften die Mitgliedstaaten nicht für eine sich als rechtswidrig herausstellende Rechtslage, obwohl gerade in dieser Situation sich die rechtsunterworfenen Bürger verständlicherweise an den für sie verpflichtenden Vorgaben des nationalen Rechts orientieren wollen. Ein Staatshaftungsanspruch kommt hinge391

Z.B. Franzen, RIW 2010, 577, 582 zu § 622 Abs. 2 S. 2 BGB im Hinblick auf EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981 und EuGH v. 18.6.2009 – Rs. C-88/08 Hütter, Slg. 2009, I-5325; ebenso Nettesheim, WM 2006, 457, 461 f. zu § 5 Abs. 2 HWiG a.F. (vgl. Nachweise in § 17 Fn. 386 und 387). 392 Ebenso zum deutschen Amtshaftungsanspruch Karpenstein/Johann, NJW 2010, 3405, 3406; Seifert, JbArbR 48 (2010), 119, 132; vgl. auch Küch, Vertrauensschutz durch Staatshaftung, 2003, S. 50 ff., der ähnliche Konstellationen im deutschen Verwaltungsrecht als „Veranlassungsfälle“ charakterisiert; dagegen Kümper, Risikoverteilung im Staatshaftungsrecht, 2011, S. 177 ff. 393 Die Mitgliedstaaten dürfen vorsehen, dass etwaiges Mitverschulden berücksichtigt wird, vgl. EuGH v. 5.3.1996 – verb. Rs. C-46/93 und C-48/93 Brasserie du pêcheur und Factortame, Slg. 1996, I-1029 Rn. 84; Grabitz/Hilf/Nettesheim-v. Bogdandy/Jacob, Das Recht der Europäischen Union, 51. EL 2013, Art. 340 AEUV Rn. 191. 394 Karpenstein/Johann, NJW 2010, 3405, 3406 zum deutschen Amtshaftungsanspruch. 395 Vgl. z.B. die im Folgenden Genannten, die die Schutzbedürftigkeit des Vertrauens schon angesichts eines „klaren“ Wortlauts bejahen: Giegerich, EuR 2012, 373, 373 f.; Freitag, EuR 2009, 796, 800; Franzen, RIW 2010, 577, 582 f.; Zöchling-Jud, FS Heinz Mayer, 2011, S. 871, 880; Schinkels, JZ 2011, 394. 396 Sauer, EuZW 2011, 94, 96.

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gen in Betracht, wenn der Inhalt des Unionsrechts klar hervortritt, zugleich führt diese Vorhersehbarkeit zum weitgehenden Ausschluss des Anspruchs. Aus ebendiesen Gründen kann auch der Vorschlag von Baldauf die Interessen nicht besser ausgleichen. Sie versucht, die Schutzlücke zu schließen, die zulasten des auf die nationale Rechtslage „vertrauenden Marktbürgers“ besteht. Allein dieser Vertrauensverstoß soll schon die Voraussetzungen des Staatshaftungsanspruchs auslösen, wenn – wie bei einem unbewusst fehlerhaften Richtlinienverstoß bei eindeutiger Regelungsentscheidung des nationalen Gesetzgebers – aus verfassungsrechtlichen Gründen keine Konformauslegung möglich ist und die unmittelbare Anwendung aus unionsrechtlichen Gründen ausscheidet.397 Dem Bürger dürfe kein Vertrauensschutz zulasten der Marktgegenseite gewährt werden.398 Gleichzeitig stehe die Effektivität der Durchsetzung nicht entgegen und dem Gleichbehandlungsgrundsatz sei ebenso Genüge getan.399 Baldauf würde damit zum einen den Anwendungsbereich der Staatshaftung ganz erheblich ausweiten, denn die in Frage stehenden Fälle sind solche, bei denen der Mitgliedstaat in besonders geringem Maße schuldhaft gehandelt hat. Deshalb trägt auch der Sanktionsgedanke der Staatshaftung diese Erweiterung nicht. Zum anderen gebietet das Verantwortungsprinzip nicht die Belastung des Mitgliedstaates zugunsten der Marktteilnehmer, denn das Umsetzungsdefizit beruht letztlich darauf, dass die Vorgaben des Unionsrechts unklar sind und vom Mitgliedstaat unbewusst nicht umgesetzt werden.400 Im Verhältnis zur Union ist aber nicht nur der Private, sondern auch der hoheitliche Mitgliedstaat nur Rechtsunterworfener. 2. Anpassung der Anspruchsvoraussetzungen? Nur in Ausnahmefällen besteht daher ein Schadensersatzanspruch nach den hergebrachten Grundsätzen des unionsrechtlichen Staatshaftungsrechts. Das wirft die Frage auf, ob die strengen Haftungsvoraussetzungen erleichtert oder ein besonderer unionsrechtlicher Anspruch geschaffen werden sollten. Die Androhung einer Staatshaftung würde einerseits sicherlich die Anreize für die Mitgliedstaaten zu einer transparenten, richtigen und rechtzeitigen Umsetzung erhöhen.401 Andererseits könnten durch die Perpetuierung des Rechtsverstoßes die Anreize für die privaten Adressaten unmittelbar anwendbaren 397 Baldauf, Richtlinienverstoß und Verschiebung der Contra-legem-Grenze im Privatrechtsverhältnis, 2013, S. 250. 398 Baldauf, Richtlinienverstoß und Verschiebung der Contra-legem-Grenze im Privatrechtsverhältnis, 2013, S. 251 ff. 399 Baldauf, Richtlinienverstoß und Verschiebung der Contra-legem-Grenze im Privatrechtsverhältnis, 2013, S. 254 ff. 400 Vgl. Schulte-Nölke/Busch, FS Canaris, Band II, 2007, S. 795, 804. 401 Hamenstädt, EuR 2011, 263, 266; Nettesheim, WM 2006, 457, 459; Schinkels, JZ 2011, 394, 397.

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Unionsrechts, sich an höherrangigem Unionsrecht auszurichten, gemindert werden.402 Damit ist indirekt die Frage aufgeworfen, welche Funktion der unionsrechtlichen Staatshaftung primär zukommen soll. Der Staatshaftungsanspruch wird regelmäßig mit vier Argumenten begründet: dem effektiven Schutz der eingeräumten Rechte, der effektiven Durchsetzung des Unionsrechts, der Beseitigung der wirtschaftlichen Folgen eines Verstoßes gegen das Unionsrecht und dem allgemeinen Grundsatz der Verantwortung für das eigene Handeln.403 Für die vorliegende Problematik lässt sich verkürzend fragen, ob der Ersatzanspruch eher die Rechtspositionen der Bürger stärken oder mitgliedstaatliches (Fehl-)Verhalten sanktionieren soll oder überhaupt nur die Durchsetzung des Unionsrechts flankiert.404 In der bisherigen Anspruchsstruktur finden sich alle drei Funktionen ebenso gleichberechtigt wieder wie in der Begründung der Staatshaftung. Während das Merkmal des Verstoßes gegen das Unionsrecht die Effektuierung von dessen Durchsetzung widerspiegelt, ist das Erfordernis einer Schutznorm deutlicher Ausdruck des Individualschutzgedankens405. Dass Ersatz nur bei hinreichend qualifizierten Rechtsverletzungen gewährt wird, schützt letztendlich die Interessen der Mitgliedstaaten an einer funktionierenden Aufgabenwahrnehmung und bedroht nur schwerwiegende Fehler mit einer Schadensersatzhaftung.406 Schon ein erster Blick zeigt also, dass es nicht möglich ist, einzelne Anspruchsvoraussetzungen zu entfernen oder wesentlich zu entschärfen, ohne den Charakter des Staatshaftungsanspruchs insgesamt zu verändern.407 Insbesondere kann auf das Merkmal des hinreichend qualifizierten Verstoßes nicht verzichtet werden. Begreift man beispielsweise die unionsrechtliche Staatshaftung als Mittel zu verhindern, dass der säumige Mitgliedstaat die Folgen eines Umsetzungsdefizits auf dem Wege der Konformauslegung auf die Bürger abwälzen kann,408 so müsste die Staatshaftung nur dann eingreifen, wenn das Unterlassen der Konformauslegung zu einer („normalen“) Staatshaftung führt. Das ist wiederum nur der Fall, wenn die Falschumset402 In diese Richtung zielt Giegerich, EuR 2012, 373, 378: „Der Mitgliedstaat, der eigentlich verpflichtet ist, das europarechtliche Diskriminierungsverbot gegenüber privaten Arbeitgebern durchzusetzen, macht das glatte Gegenteil – zunächst auf der primären Verpflichtungsebene, dann – nachdem dies erfolglos geblieben ist – auf der sekundären Haftungsebene.“ 403 Calliess/Ruffert-Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 340 AEUV Rn. 36. 404 Franzen, RIW 2010, 577, 583. 405 So z.B. ausdrücklich Streinz-Gellermann, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2011, Art. 340 AEUV Rn. 45. 406 Siehe Nachweise oben § 17 Fn. 356. 407 Tendenziell anders Nettesheim, WM 2006, 457, 459. 408 So z.B. Franzen, RIW 2010, 577, 582 f.; Freitag, EuR 2009, 796, 800.

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zung hinreichend qualifiziert war. In allen anderen Fällen geht das Umsetzungsdefizit nämlich ebenso nicht zu Lasten des Mitgliedstaats. Des Weiteren ist zu beachten, dass alle Modifikationen des „umgekehrten“ Staatshaftungsanspruchs zu einer Schlechterstellung derjenigen führen, die von einer Unionsnorm begünstigt werden, im Vergleich zu denjenigen, die von ihr belastet werden. Das widerspricht geradezu dem Ziel der effektiven Durchsetzung des Unionsrechts und ist deshalb mit der gegenwärtigen Konzeption der unionalen Staatshaftung nicht vereinbar.409 Übergeordnetes Ziel des Staatshaftungsanspruchs als Ausgleich für enttäuschtes Vertrauen muss es sein, alle Rechtsunterworfenen gleich zu behandeln.410 Schließlich kann es als prägend für den derzeitigen Staatshaftungsanspruch angesehen werden, dass Unsicherheiten über die Reichweite einzelner Vorschriften zu Lasten der Rechtsunterworfenen gehen und nicht die Mitgliedstaaten treffen. Eine abweichende Behandlung von Vertrauensschutzerwägungen gebietet das nicht.411 Im Übrigen müsste man dann bezweifeln, dass es sachgerecht ist, die wirtschaftlichen Folgen unklarer Unionsregelungen den Mitgliedstaaten und nicht der Union selbst aufzuerlegen. Auch der Mitgliedstaat ist hier nur Adressat der unionsrechtlichen Vorgaben und nicht deren Urheber und es besteht daher jedenfalls insoweit kein Grund, ihn mit den Folgen etwaiger Unklarheiten vorrangig zu belasten. Die Haftungsüberleitung auf die Union würde entsprechend der Rechtsprechung zu Art. 340 Abs. 2 AEUV ebenfalls auf hinreichend qualifizierte Verstöße begrenzt.412 Eine pauschale Überleitung des Schadens bei fahrlässigen Unklarheiten gesetzlicher Bestimmungen (oder gar eine „Gefährungshaftung“) wäre angesichts der notwendigen Unbestimmtheit abstraktgenereller Regelungen nahezu uferlos.413 Keine tragfähige Alternative bietet ein Anspruch, der an das rechtmäßige Verhalten der nationalen Gerichte anknüpft.414 Zweifelhaft ist schon, ob das Unionsrecht überhaupt eine Haftung für rechtmäßiges Verhalten kennt. Für den Schadensersatzanspruch gegen die Union nach Art. 340 Abs. 2 AEUV – der im Wesentlichen den gleichen Grundsätzen folgt wie die Staatshaftung der Mitgliedstaaten – lehnt der Gerichtshof eine solche Anspruchsbegründung ab.415 Ein Anspruch bei rechtmäßigem Verhalten beseitigt auch nicht die 409

Giegerich, EuR 2012, 373, 381 f. Vgl. Nettesheim, WM 2006, 457, 466. 411 Anders wohl Freitag, EuR 2009, 796, 797. 412 Zum Erfordernis eines hinreichend qualifizierten Verstoßes bei Art. 340 Abs. 2 AEUV z.B. Calliess/Ruffert-Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 340 AEUV Rn. 19 f.; Geiger/Khan/Kotzur-Kotzur, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2010, Art. 340 AEUV Rn. 13. 413 In diese Richtung aber wohl Hyland, IJEL 2 (1995), 208, 219 f. 414 Bejahend hingegen Franzen, RIW 2010, 577, 582 f.; Nettesheim, WM 2006, 457, 462 ff.; offenlassend Giegerich, EuR 2012, 373, 382. 415 EuGH v. 9.9.2008 – verb. Rs. C-120/06 P und C-121/06 P FIAMM und FIAMM Technologies ./. Rat und Kommission, Slg. 2008, I-6513 Rn. 164 ff. (insb. Rn. 176); 410

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zuvor erläuterten Probleme eines Vertrauensschadensersatzes. Für ihn spricht zum einen nicht, dass damit die Möglichkeit für den Mitgliedstaat beseitigt wird, die Folgen seiner falschen Gesetzgebung auf die Rechtsunterworfenen abzuwälzen.416 Diese Argumentation zeigt schon, dass der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit im Schaffen oder Aufrechterhalten einer missverständlichen oder rechtswidrigen Rechtslage liegt und nicht in deren Beseitigung oder der Verneinung von Vertrauensschutz, wenn dessen Voraussetzungen nicht vorliegen. Es ist daher stringenter, an dieses Verhalten anzuknüpfen. Zum anderen überdehnt es die Charakteristik eines Sonderopfers, wenn gleichsam alle Adressaten einer bestimmten Norm als betroffener Personenkreis angesehen werden.417 Dies würde nämlich nicht nur für vereinzelte Vorschriften gelten, sondern für das gesamte nationale Recht im Anwendungsbereich des Unionsrechts. Die Betroffenheit von einer allgemeinen (Zivil-)Norm hebt einen Vertrauenden gerade nicht aus dem Kreis aller Adressaten dieser Norm hervor. Anderenfalls würde eine beinahe unbegrenzte Haftung des Mitgliedstaats eingeführt, da dieser dann für nahezu jede rechtswidrige Rechtslage haftet. Das begrenzend wirkende Erfordernis eines qualifizierten Verstoßes müsste sich demnach auch hier wiederfinden. Im Rahmen eines Anspruchs für rechtmäßiges Verhalten müssten die Vertrauenden aus der Masse aller Rechtsunterworfenen herausgehoben sein. Eine solche besondere Betroffenheit kann allenfalls dann vorliegen, wenn die nationale Rechtslage so ausgestaltet war, dass im konkreten Fall den Adressaten der mitgliedstaatlichen Vorschrift (faktisch) keine andere Wahl blieb, als diese zu befolgen, egal ob sie von ihrer Rechtswidrigkeit ausgingen oder nicht.418 Diese Besonderheit wurde schon im Rahmen des (normalen) Staatshaftungsanspruchs als entscheidendes Kriterium ausgemacht. Ansatzpunkt für eine Haftung ist jedenfalls auch dann die geschaffene/aufrechterhaltene mitgliedstaatliche Rechtslage und nicht die Beseitigung der Rechtswidrigkeit mithilfe des unionsrechtlichen Durchsetzungsmechanismus. II. Nationale Amts- und Staatshaftungsansprüche Im nationalen Staatshaftungssystem sieht sich ein Anspruch auf Ersatz des Vertrauensschadens ebenfalls Bedenken ausgesetzt.

Schwarze-Berg, EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 340 AEUV Rn. 51; Calliess/RuffertRuffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 340 AEUV Rn. 24 f. 416 So aber Franzen, RIW 2010, 577, 582 f. 417 So aber Nettesheim, WM 2006, 457, 464. 418 Nettesheim, WM 2006, 457, 465 problematisiert dies folgerichtig erst im Rahmen des Mitverschuldens der Betroffenen.

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1. Die Stellungnahme des Bundesverfassungsgerichts in der Rechtssache Honeywell Der Beschluss in Sachen Honeywell liefert nur wenige Anhaltspunkte, wie sich das Bundesverfassungsgericht eine solche Staatshaftung vorstellt.419 Zuerst scheint das Gericht den Ersatzanspruch im mitgliedstaatlichen Recht verankern zu wollen.420 Er soll „innerstaatlich“ den „verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz“ kompensieren.421 Es geht also um nationalen Vertrauensschutz, der die Verletzung nationaler Vorschriften verhindern soll. Die Bezugnahme auf die Zuordnung der Verantwortlichkeit für unionsrechtswidrige Normen zu den Mitgliedstaaten im Unionsrecht ist lediglich hinweisend und keine Begründung des Anspruchs.422 Weiterhin deuten die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts darauf hin, dass der Anspruch nur für den Bereich des unmittelbar anwendbaren Unionsrechts bestehen soll. Das Gericht bezieht sich auf die „Konstellationen der rückwirkenden Nichtanwendbarkeit eines Gesetzes“423, die es zuvor als „rückwirkende Feststellung seiner Nichtanwendbarkeit“ bezeichnet und mit seiner Nichtigerklärung eines deutschen Gesetzes verglichen hatte.424 Auch blieb die Möglichkeit eines Vertrauensschadensersatzes in der späteren Honeywell-Entscheidung vom 26. August 2011 unerwähnt; dort billigte das BVerfG die Verneinung nationalen Vertrauensschutzes bei einer richtlinienkonformen teleologischen Reduktion.425 Nach der hier vertretenen Ansicht kann ein Ersatzanspruch auch bei mittelbar anwendbarem Unionsrecht in Betracht kommen; er ist insbesondere nicht ausgeschlossen durch die Möglichkeit primären Vertrauensschutzes bei der richtlinienkonformen Rechtsfindung.426 Im Rahmen der Tatbestandsvoraussetzungen hält das Bundesverfassungsgericht die Rechtsunterworfenen nur dann für schutzwürdig, wenn sie darauf vertrauen durften, dass der Europäische Gerichtshof eine derartige nationale Regelung nicht als unionsrechtswidrig ansehen würde, und wenn sie das Vertrauen entsprechend betätigten.427 Die Berücksichtigung des Unionsrechts im 419

Das BVerfG hat dennoch insoweit viel Zustimmung erfahren, vgl. Heinemann, GPR 2010, 274, 275; Hamenstädt, EuR 2011, 263, 266 f.; Spelge, FA 2011, 34, 35; Henssler/Willemsen/Kalb-Tillmanns, Arbeitsrecht, 6. Aufl. 2014, Art. 267 AEUV Rn. 20; wohl auch Fuchs, ZESAR 2011, 3, 9; offenlassend Karpenstein, Praxis des EU-Rechts, 2. Aufl. 2013, Rn. 411. 420 Ebenso Kokemoor/Balleis, jurisPR-ArbR 45/2010 Anm. 6. 421 BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, Rn. 85 (Honeywell). 422 Vgl. BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, Rn. 85 (Honeywell). 423 BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, Rn. 85 (Honeywell). 424 BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, Rn. 82 (Honeywell). 425 BVerfG v. 26.9.2011 – 2 BvR 2216/06, 2 BvR 469/07, Rn. 60 ff. (Haustürwiderruf). 426 Siehe oben § 17 B.I.1.b), S. 504 ff. 427 BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, Rn. 82 (Honeywell).

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Teil 5: Rückwirkungsbeschränkung und mitgliedstaatliches Recht

Rahmen der Vorhersehbarkeit liegt auf der Linie des hier Vertretenen und rechtfertigt sich entsprechend der obigen Ausführungen.428 Der Ersatzanspruch soll schließlich eine „Entschädigung“ für das enttäuschte Vertrauen gewähren.429 Damit ist zwar typischerweise in Abgrenzung zum „Schadensersatz“ ein im Ermessen des Gerichts stehender Ausgleich in Geld zu verstehen.430 Hier dürfte sich das Bundesverfassungsgericht jedoch absichtlich unspezifisch und begrifflich weit ausgedrückt haben, um keine Vorentscheidung über die dogmatische Verortung des Ersatzanspruchs zu treffen. 2. Bekannte Ansprüche Aus dem geltenden Recht der Amtshaftung nach § 839 BGB, Art. 34 GG lässt sich ein Anspruch auf Ersatz des Vertrauensschadens nicht herleiten. Dem steht schon – wie oben – entgegen, dass in Deutschland die Gesetzgebung nicht im Interesse einzelner Rechtsunterworfener ausgeübt wird.431 Ein Ersatzanspruch für legislatives Fehlverhalten ist dem deutschen Recht traditionell unbekannt.432 Ebenso ist der Ausgleich für Fehler der Judikative beschränkt auf strafbares Handeln bei spruchrichterlicher Tätigkeit, § 839 Abs. 2 S. 1 BGB, und auf grobe Verstöße in allen anderen Bereichen.433 Auch nach den geltenden Grundsätzen des enteignungsgleichen oder aufopferungsgleichen Eingriffs bestehen hier keine Ersatzansprüche.434 Zu den schon oben genannten Gründen der Beschränkung auf den Eigentumsschutz nach Art. 14 GG und der Verneinung einer Entschädigung bei Legislativunrecht kommt noch ein weiterer Punkt. Die Aufopferung basiert auf dem Gedanken des „Sonderopfers“, an dem es fehlt, wenn Vertrauen in eine bestimmte Rechtslage praktisch von allen Normadressaten gebildet werden kann.435 Eine Sonderstellung Einzelner ist dann nicht zu begründen. Diese Einwände bestehen auch gegen einen Anspruch, der an das rechtmäßige

428

Siehe oben § 16 B.III.3.a), S. 490 ff. BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, Rn. 85 (Honeywell). 430 Stein/Itzel/Schwall, Praxishandbuch des Amts- und Staatshaftungsrechts, 2. Aufl. 2012, Rn. 363. 431 MüKo-Papier, BGB, 6. Aufl. 2013, § 839 BGB Rn. 260 m.N. aus der Rechtsprechung. 432 Nettesheim, WM 2006, 457, 458; Karpenstein/Johann, NJW 2010, 3405, 3406; Giegerich, EuR 2012, 373, 384. Zur vergleichbaren Rechtslage in Österreich z.B. ZöchlingJud, FS Heinz Mayer, 2011, S. 871, 880. 433 Stein/Itzel/Schwall, Praxishandbuch des Amts- und Staatshaftungsrechts, 2. Aufl. 2012, Rn. 633 ff.; krit. Breuer, Staatshaftung für judikatives Unrecht, 2011, S. 270 ff. 434 Karpenstein/Johann, NJW 2010, 3405, 3406; Giegerich, EuR 2012, 373, 384 f. 435 Karpenstein/Johann, NJW 2010, 3405, 3406. 429

§ 17 Staatshaftung als Ausgleich für enttäuschtes Vertrauen?

513

Durchsetzen des Unionsrechts durch die Judikative nach den Grundsätzen der Aufopferung anknüpft.436 3. Voraussetzungen eines zu schaffenden Anspruchs Das geltende deutsche Recht kennt demnach keine Ersatzansprüche für diese Konstellationen.437 Will man auf Basis der bestehenden Amtshaftung einen solchen Anspruch schaffen, müsste das Umsetzungsgebot als drittschützende Pflicht angesehen werden. Dafür ließe sich auf das oben schon angesprochene Transparenzgebot abstellen.438 Dieses kann hier auch autonom national begründet werden.439 Damit stünde der deutschen Rechtsprechung offen, eine solche Pflicht aus dem bestehenden Haftungssystem zu entwickeln. Problematisch ist jedoch, dass damit nicht nur ein unabsehbarer Schutzbereich eröffnet würde.440 Der Grundsatz des Ausschlusses der Haftung für Legislativunrecht würde so gleichsam in sein Gegenteil verkehrt.441 Die gesamte Umsetzungstätigkeit des Gesetzgebers würde dann (auch) zu Gunsten der Rechtsunterworfenen vorgenommen. Aber selbst wenn die Rechtsprechung diese Hürde überwindet, würde der anzulegende Sorgfaltsmaßstab eine Haftung weitgehend ausschließen. § 839 Abs. 1 BGB erfasst zwar auch fahrlässiges Verhalten. Bei der Auslegung und Anwendung von Normen ist aber schon jetzt ein Verwaltungshandeln nicht vorwerfbar, wenn der Amtsträger aufgrund rechtlicher und tatsächlicher Prüfung zu einem vertretbaren Verständnis der maßgeblichen Vorschriften gelangt ist.442 Dementsprechend dürften nur schwerwiegende oder offenkundige Fehlinterpretationen des maßgeblichen Unionsrechts genügen. Dann fehlt es aber regelmäßig an der Schutzwürdigkeit der Vertrauenden, was über § 254 BGB zu berücksichtigen ist.443 Nur ausnahmsweise käme ein Anspruch dort in Betracht, wo der nationale Gesetzgeber die Unionsrechtslage aufgrund besonderer Expertise besser einschätzen kann als die Rechtsunterworfenen.444 Diese Probleme können nicht abgemildert werden durch einen Verweis darauf, dass sie nur den Sonderfall der Richtlinienumsetzung betreffen. Ein nationaler Ersatzanspruch nur für Schäden durch enttäuschtes Vertrauen auf die Konformität von einfachem Recht im Hinblick auf Unionsrecht wäre mit 436

Vgl. oben § 17 B.I.2., S. 507 ff. Seifert, JbArbR 48 (2010), 119, 132; Karpenstein/Johann, NJW 2010, 3405; ErfKomm-Wißmann, Arbeitsrecht, 14. Aufl. 2014, Art. 267 AEUV Rn. 45a. 438 Siehe oben § 17 B.I.1.a), S. 502. 439 Giegerich, EuR 2012, 373, 383. 440 Giegerich, EuR 2012, 373, 383. 441 In diese Richtung auch Karpenstein/Johann, NJW 2010, 3405, 3407. 442 MüKo-Papier, BGB, 6. Aufl. 2013, § 839 BGB Rn. 289 m.w.N. 443 Karpenstein/Johann, NJW 2010, 3405, 3406; Seifert, JbArbR 48 (2010), 119, 132. 444 Karpenstein/Johann, NJW 2010, 3405, 3406. 437

514

Teil 5: Rückwirkungsbeschränkung und mitgliedstaatliches Recht

dem Äquivalenzgrundsatz nicht vereinbar.445 Die Durchsetzung des „höherrangigen“ Unionsrechts würde hier weniger effektiv ausgestaltet als die Durchsetzung vergleichbaren höherrangigen nationalen (z.B. Verfassungs-) Rechts, da dort ein solcher Anspruch nicht besteht. Dem lässt sich auch nicht entgegenhalten, dass das Unionsrecht ja vollumfänglich zur Anwendung kommt und durch den Staatshaftungsanspruch nur der daraus entstehende Schaden beseitigt wird. Wie schon oben argumentiert, perpetuiert ein Schadensersatzanspruch gleichzeitig den Rechtsverstoß und schwächt die Anreize zu rechtskonformem Verhalten.446

445 Classen, JZ 2010, 1186, 1187; Giegerich, EuR 2012, 373, 389. Ob ein Verstoß gegen Art. 107 AEUV vorliegt, soll hier dahinstehen; dazu Classen, JZ 2010, 1186, 1187 (offenlassend) und Giegerich, EuR 2012, 373, 388 (bejahend). 446 Siehe oben § 17 B.I.2., S. 507.

6. Teil

Zusammenfassung der Ergebnisse Teil 6: Zusammenfassung der Ergebnisse Die zeitliche Wirkung von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs hat weiterhin eine hohe praktische Relevanz, die sich in gleichbleibenden Fallzahlen ausdrückt. Insbesondere die dahingehend bisher wenig untersuchte Nichtigkeitsklage hat zuletzt immer wieder den Gerichtshof beschäftigt, während seit fünfzehn Jahren die Wirkung einer Auslegungsentscheidung trotz zahlreicher Forderungen nicht mehr beschränkt wurde. Die wesentliche Trennungslinie in der Dogmatik der Rückwirkungsbeschränkung verläuft nicht bei den unterschiedlichen Verfahrensarten, sondern entlang der materiellen Unterscheidung von Auslegung und Normkassation. Begründet liegt dies in der Erkenntnis, dass Auslegungswirkung oder Urteilswirkung stets „nur“ Wirkungen der ausgelegten Norm(en) sind, also Normwirkung unabhängig von der Verfahrensart sind, in der Auslegung oder Normkassation vorgenommen werden. Dabei basieren sämtliche Entscheidungen des EuGH auf der Auslegung von Unionsrechtsnormen; bei den Unwirksamkeitsentscheidungen wird der Auslegungsvorgang jedoch noch von einem konstitutiven Aufhebungsakt begleitet. Auslegung und Rechtsfortbildung sind daher grundsätzlich und verfahrensübergreifend stets aufgrund des Rechtsanwendungsbefehls der (ausgelegten) Norm(en) an deren Geltungszeitraum geknüpft. Hierfür ist auch ohne Bedeutung, in welchem Maße man eine Auslegung als deklaratorisch oder dezisionistisch ansieht. Lediglich bei Rechtsprechungsänderungen kommt ein abweichender Zeitpunkt in Betracht. Deutlich zeigt sich die Trennung von Auslegung und Normkassation bei den einschlägigen Kompetenzgrundlagen. Während für letztere mit Art. 264 Abs. 2 AEUV gegebenenfalls in analoger Anwendung eine ausdrückliche Kompetenznorm bereitsteht, muss für die vergleichsweise grundlegendere Auslegungsrückwirkungsbeschränkung auf Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV in Verbindung mit dem Prinzip der Rechtssicherheit zurückgegriffen werden. Eine Analogie zu Art. 264 Abs. 2 AEUV kommt hier nicht in Betracht. Eine wesentliche Erkenntnis der Arbeit ist, dass allein das Unionsrecht Bezugspunkt für Tatbestand und Rechtsfolgen der Rückwirkungsbeschränkung ist. Eine solche erfordert bei den Auslegungsentscheidungen zuerst einen guten Glauben in die Unionsrechtskonformität des eigenen Verhaltens und außerdem die Gefahr schwerer wirtschaftlicher Verwerfungen bei der Umsetzung des Urteil. Das vieldiskutierte Konnexitätsmerkmal ist hingegen wegen

516

Teil 6: Zusammenfassung der Ergebnisse

zu Tage tretender Wertungswidersprüche kein eigenständiges Tatbestandsmerkmal. Es geht vielmehr in anderen Voraussetzungen und Rechtsfolgenbestimmungen auf. Der gute Glaube verlangt einen Irrtum über die Unionsrechtslage und nicht lediglich eine bloße „Unsicherheit“. Das lässt sich als „rechtliche Akzeptanz eines tatsächlichen Irrtums wegen Verhaltensverantwortlichkeit der Europäischen Union“ beschreiben. Auf eine Unterscheidung nach Auslegung und Rechtsfortbildung oder quasi-legislativer und judikativer Tätigkeit oder sogar „überraschender Neuheit“ der Tätigkeit des EuGH kommt es dabei nicht an. Solche Überlegungen werden vom abstraktobjektivierten Maßstab überschattet. In gleicher Weise nimmt die Prüfung eines eventuellen Ausschlusses des guten Glaubens wegen einer schon geklärten Rechtslage wesentliche Erwägungen des vom EuGH verlangten Konnexitätsmerkmals in sich auf. Abgrenzungsprobleme entstehen hingegen bei der Frage, welche Stellen der EU Vertrauensveranlasser sein können. Denn nur der Gerichtshof kann letztverbindlich über den Inhalt des Unionsrechts entscheiden, weshalb alle anderen Stellen im Vergleich zu ihm insoweit stets defizitär sind. Erkenntsnisleitend sollte hier die funktionale Ähnlichkeit der Stelle im konkreten Kontext sein. Besondere Komplikationen wirft auch die zeitraumbezogene Bewertung des guten Glaubens durch den EuGH auf: Bei einer Änderung der Umstände zwischen Inkrafttreten der Norm und Urteil versperrt sie den Weg zu angemessenen Lösungen. Insbesondere die sog. Trittbrettfahrerproblematik ist deshalb noch immer nicht bewältigt und bedürfte dazu einer flexibleren Anknüpfung. Die bisherige Rechtsprechung zur Gefahr schwerwiegender Auswirkungen ist wegen ihres Einzelfallbezugs und der geringen Fallzahlen ebenfalls durch große Ungenauigkeit gekennzeichnet. Ein Vergleich mit anderen relativen Kennzahlen im Unionsrecht kann hier der Konkretisierung dienen. Bei Unwirksamkeitsentscheidungen rechtfertigen vielfältigere Gründe eine Beschränkung. Da die Gültigkeitsvermutung des abgeleiteten Unionsrechts eine relevante Vertrauensposition schafft, kann guter Glaube allein hier nicht maßgeblich sein. Entscheidend sind daher vor allem Erwägungen zum Zweck der aufgehobenen und der höherrangigen Normen. Dabei lassen sich unterschiedlichste Fallgruppen nachweisen. Besondere Relevanz haben die Nichtigkeitsklagesituationen, zuletzt solche gegen individuelle restriktive Maßnahmen in der GASP. Die Bestimmung der Rechtsfolgen ist Kehrseite des Tatbestands und umfasst im Wesentlichen fünf Problembereiche. Die Dogmatik knüpft bei den Unwirksamkeitsentscheidungen an den konstitutiven Aufhebungsakt an und erhält in Orientierung an Art. 264 Abs. 2 AEUV materielle Normwirkungen aufrecht. Bei den Auslegungsentscheidungen wird sui generis das Berufen auf die ausgelegte Norm beschränkt. Beide Vorgehensweisen eint, dass sie einen Normanwendungsbefehl unionsintern negieren, aber dabei den Hauptsachetenor, die allgemeinen Bindungswirkungen der Rechtsprechung und die

Teil 6: Zusammenfassung der Ergebnisse

517

Regeln zur Auflösung von Kollisionen mit mitgliedstaatlichem Recht unberührt lassen. Die sachliche Reichweite der Rückwirkungsbeschränkung wird durch den Tenor und die Urteilsbegründung hinreichend bestimmt. Anknüpfungspunkte sind insbesondere die konkreten Rechtsfragen und Sachverhalte. Zeitlich erstreckt sich die Beschränkung bei den Auslegungsentscheidungen – als Spiegelbild des tatbestandlichen Zeitraumbezugs – vom Normerlass bis zum Urteilstag. Hier sollten jedoch flexiblere Handhabungen möglich sein und eine Rückwirkungsbeschränkung nachgeholt werden können, da keine ungewöhnlich große Gefahr für die Einheitlichkeit des Unionsrechts besteht. Im Einklang mit der wesentlich weniger strengen Vorgehensweise bei Unwirksamkeitsentscheidungen sollte ausnahmsweise auch eine Beschränkung für die Zukunft möglich sein. Personell ist vor allem die Ausnahme für die Verfahrensbeteiligten und andere Rechtsbehelfsführer noch immer umstritten. Besonders auffällig ist hier die unterschiedliche Herangehensweise des Gerichtshofs bei Rechtsakten mit Bindungswirkung in den verschiedenen Verfahrensarten. Räumlich kann sich die Rückwirkungsbeschränkung wegen des Grundsatzes der einheitlichen Geltung von Unionsrecht nur auf die gesamte Union erstrecken. Überlegungen zur Konvergenz von Tatbestand und Rechtsfolgen von Auslegungs- und Unwirksamkeitsentscheidungen können auf Basis der allrelevanten Auslegung und ihrer verallgemeinerungsfähigen Rückwirkungsdogmatik angestellt werden. Die bisherigen Ergebnisse gelten in gleicher Weise für das Gericht (EuG). Jenes ist jedoch bisher aufgrund seiner begrenzten Zuständigkeiten nur mit Nichtigkeitsklagen in Erscheinung getreten. Untersuchungsbedarf ergab sich darüber hinaus hinsichtlich prozessrechtlicher Fragestellungen. Besonders interessant waren hier das Antragserfordernis und die Beweislastverteilung. Der Antrag ist nach mittlerweile herrschender Meinung nur als Hinweis auf die dem EuGH von Amts wegen eingeräumte Entscheidungskompetenz zu verstehen. Anderes wäre auch inkompatibel mit der unionseinheitlichen Wirkung der Beschränkung. Die vom Gerichtshof ausgesprochen streng gehandhabte Beweislast stellt sich als Feststellungslast dar. Eine formelle Beweislast kann es in amtswegigen Entscheidungen mit unionseinheitlicher Wirkung nicht geben. Sie wäre in Vorabentscheidungsvorlagen auch verfahrensrechtlich unsystematisch. Abschließend warf das Verhältnis von unionsrechtsbezogener Rückwirkungsbeschränkung und mitgliedstaatlichem Recht einige Fragen auf. Grundlage jeder Erörterung muss hier die Trennung von Ermittlung des Inhalts des Unionsrechts und dessen Durchsetzung sein. Die Rückwirkungsbeschränkung verändert daher die allgemeinen Schranken der Rechts- und Bestandskraft nicht und lässt die mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie unberührt. Nationaler Vertrauensschutz ist damit nicht ausgeschlossen. Er muss sich aber an den Durchsetzungsmechanismen des Unionsrechts messen lassen, wenn es zu Ergebniskonflikten von Unions- und mitgliedstaatlichem Recht kommt. Eine

518

Teil 6: Zusammenfassung der Ergebnisse

unionsexterne Grenze der Anwendung des Unionsrechts stellen hingegen eventuelle nationale Integrationsschranken dar. Im deutschen Recht sind diese jedoch so eng formuliert, dass sie die Gewährung von Vertrauensschutz gegen Rechtsprechung nicht erfassen. Bei unmittelbar anwendbarem Unionsrecht kommt eine temporäre Suspendierung des Anwendungsvorrangs für die Vergangenheit oder sogar die Zukunft in Betracht. Der Europäische Gerichtshof hat deren Möglichkeit in der Entscheidung Winner Wetten offengelassen. Sie dürfte nur in ganz seltenen Ausnahmefällen möglich sein, wenn die unional zugelassene (politische) Wertungsentscheidung des nationalen Normsetzers durch die Verdrängung der rechtswidrigen Vorschriften dauerhaft unmöglich gemacht oder konterkariert würde. Jedenfalls ist es aber alleinige Aufgabe des EuGH, die Grenzen des Anwendungsvorrangs zu bestimmen und Einschränkungen zu konkretisieren. Gegenüber mittelbar anwendbarem Unionsrecht können sich mitgliedstaatliche Sonderwege aus der sogenannten Methodenschranke als Grenze der Konformauslegung ergeben. Hierbei ist zu beachten, dass die nationalen Maßstäbe für die Gewährung von Vertrauensschutz zu modifizieren sind. Die Einbettung des Unionsrechts in die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen kann nämlich bei der Bestimmung eines angemessenen Interessenausgleichs nicht ohne Auswirkungen bleiben. Zuletzt ließe sich erwägen, die Gewährung oder Nichtgewährung von Vertrauensschutz durch Staatshaftung auszugleichen. Insbesondere das Bundesverfassungsgericht hatte dies in seiner Honeywell-Entscheidung angeregt. Ziel wäre es, den wirtschaftlichen Schaden auf den Urheber der Rechtsunsicherheit zu verlagern. Diese Formulierung des Problems zeigt schon die Grenzen für seine Lösung auf: Die verschuldensabhängigen Ansprüche des geltenden Rechts können die Mitgliedstaaten nur in Ausnahmekonstellationen in die Haftung nehmen, denn diese sind selbst zumeist nur Adressaten eines unklaren Unionsrechts. Der unionsrechtliche Staatshaftungsanspruch gebietet erst recht keinen Ersatz für die Nicht-Durchbrechung der Geltung des Unionsrechts.

Anhang I: Übersicht zu den Entscheidungen zur Rückwirkungsbeschränkung Die Übersichten führen die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs auf, in denen eine Rückwirkungsbeschränkung beantragt oder erwogen wurde oder in denen Gerichtshof oder Generalanwälte Aussagen zur zeitlichen Wirkung getätigt haben. Legende: A – Rückwirkungsbeschränkung vollumfänglich abgelehnt; B – Rückwirkungsbeschränkung zumindest teilweise bejaht; E – Erläuterungen anderer Beschränkungen/nicht entscheidungserheblich; R – Rückausnahme für Rechtsbehelfsführer; S – Erörterungen nur in Schlussanträgen; 1 = ja; 0 = nein A. Nichtigkeitsklage Rechtssache

B

81/72 138/79 und 139/79

1

A

E

R

59/81 232/81 264/81 264/82 190/84 34/86 45/86 85/86

1

7/87 51/87 165/87 275/87 C-65/90 C-284/90 C-295/90

1 1

0 0

1 1 1 1

0 0 0 0

S

Bemerkungen

1

Gemeinsame Schlussanträge unverbundener Rechtssachen

0

0 1 1

1

0

1 1

0 0

1

1

Verfahren nach Art. 180, 173 EGV

1 Nur abgekürzt veröffentlicht

520

Anhang I: Übersicht zu den Entscheidungen zur Rückwirkungsbeschränkung

Rechtssache

B

C-388/92 C-360/93 C-21/94 C-271/94 C-41/95 C-259/95 C-392/95 C-22/96 C-89/96 C-106/96 C-159/96 C-164/97 und C-165/97 C-269/97 C-314/99 C-93/00 C-378/00 C-445/00 C-211/01 C-239/01 T-318/01 C-157/02 C-178/03 C-122/04 C-217/04 C-310/04 C-317/04 und C-318/04 C-413/04

1 1 1 1 1

A

E

R 0 0 0 0 0

1 1

0 0

S

1

1 1 1

0 0 0

1

1 1 1 1 1 1

0 0 0 0 1 1 1

1

Erläuterung von Rs. C-21/94 0 1 1

1

0 0

1

Nur für Gesamtnichtigkeit beantragt; zeitlich wirkende Teilnichtigkeit wie in Rs. C-236/09

1 C-414/04 C-299/05 C-402/05 P und C-415/05 P C-403/05 C-14/06 und C-295/06 T-135/06 bis T-138/06 C-13/07 C-155/07 C-166/07 C-370/07 T-576/08

Bemerkungen

1 1

0 0 0

1

1 0

1 1

1 1 1 1 1

0 0 0 0

Anhang I: Übersicht zu den Entscheidungen zur Rückwirkungsbeschränkung

Rechtssache C-148/09 P C-40/10 C-247/10 P C-355/10 C-490/10 C-566/10 P T-400/10 T-439/10 und T-440/10 T-454/10 und T-482/11 T-489/10 T-493/10 T-494/10 T-509/10 T-562/10 C-77/11 C-431/11 C-658/11 T-15/11 T-24/11 T-86/11 T-196/11 und T-542/12 T-187/11 T-188/11 T-200/11 T-208/11 und T-508/11 T-316/11 T-434/11 T-471/11 T-572/11 T-601/11 T-653/11 T-654/11 C-43/12 C-103/12 und C-165/12 C-137/12 C-377/12 C-399/12 C-427/12 T-53/12 T-58/12 T-133/12

B

A

E

R

S 1

1

0 1

1 1 1 1

0 0 0 0 0

1

0

1 1 1 1 1 1

0 0 0 0 0 1 1

1 1 1 1

0 0 0 0 1

1 1 1

0 0 0 0

1 1

0 1 1

1

0 1

1 1 1

0 0 0 0

1 1

0 1 1 1 1

1 1

0 0

Bemerkungen

521

522

Anhang I: Übersicht zu den Entscheidungen zur Rückwirkungsbeschränkung

Rechtssache T-329/12 und T-74/13 T-565/12 C-65/13 C-336/13 P T-155/13 T-157/13 T-181/13 T-182/13 T-348/13 Summe

B

A

E

R

S

Bemerkungen

0

1 1

0 1 1

1 1 1 1 1 72

0 0 0 0 0 11

7

0

15

= 90 EuGH; 15 GA

R

S

Bemerkungen

B. Gültigkeitsvorabentscheidung Rechtssache

B

117/76 und 16/77 124/76 und 20/77 4/79 109/79 145/79 66/80

1 1 1 1 1

A

0 0 0 0 0 1 1

112/83

300/86 20/88 C-66/89 C-99/89 C-38/90 und C-151/90 C-228/92 C-363/93, C-407/93 bis C-411/93

1 1

1 1

Angleichung nach oben macht Rückausnahme entbehrlich Erläuterung von Rs. 145/79

1 1 1 1

Erläuterung von Rs. 41/84 1

1

1 1 1

C-212/94 C-340/94 C-221/95 C-441/98 und C-442/98 C-463/98 C-177/99 und C-181/99

Begehrte Erläuterung ist nicht entscheidungserheblich Begehrte Erläuterung ist nicht entscheidungserheblich

1

33/84 41/84

E

Erläuterung von verb. Rs. C-38/90 und C-151/90 1 1 1

1 1

Anhang I: Übersicht zu den Entscheidungen zur Rückwirkungsbeschränkung

Rechtssache C-228/99 C-434/02 und C-210/03 C-313/04 C-333/07 C-92/09 und C93/09 C-236/09 C-533/10 C-293/12 C-573/12 C-335/13 Summe

B

A

E

R

S

523

Bemerkungen

1 1 1 1 1

1 0 1 1 1 1

Bis Stichtag nur Schlussanträge Bis Stichtag nur Schlussanträge

5

11

= 21 EuGH; 11 GA

R

S

Bemerkungen

1 11

5

5

C. Auslegungsvorabentscheidung Rechtssache

B

43/75 61/79 66/79

1

A

E

1 1 1

811/79

1

826/79

1

69/80 142/80 und 143/80 309/85 24/86 C-262/88 C-6/90 und C-9/90 C-19/90 und C20/90 C-87/90 bis C-89/90 C-163/90 C-200/90 C-109/91 C-110/91 C-152/91 C-200/91 C-408/92 C-7/93 C-28/93 C-46/93 und C48/93

Erläuterung der Rechtsprechungsgrundsätze Erläuterung der Rechtsprechungsgrundsätze Erläuterung der Rechtsprechungsgrundsätze

1 1 1 1 1

1 1 1 1 1

1

1 1 1 1 1 1 1

Erläuterung von Rs. C-262/88 Erläuterung von Rs. C-262/88 Erläuterung von Rs. C-262/88 Erläuterung von Rs. C-262/88 Erläuterung von Rs. C-262/88

1

Erläuterung von Rs. C-262/88

1 1

524

Anhang I: Übersicht zu den Entscheidungen zur Rückwirkungsbeschränkung

Rechtssache C-57/93 C-128/93 C-308/93 C-367/93 bis C-377/93 C-415/93 C-435/93 C-485/93 und C-486/93 C-126/94 C-137/94 C-197/94 und C-252/94 C-126/95 C-267/95 und C-268/95 C-330/95 C-50/96

B

A

C-453/02 und C-462/02 C-72/03 C-209/03

R

S

1 1

Bemerkungen Erläuterung von Rs. C-262/88

1 1

1

1 1

Erläuterung von Rs. C-262/88 Übertragung von Rs. C-163/90

1 1 1 1

Übertragung von Rs. C-163/90

1 1 1 1

C-231/96 C-246/96 C-262/96 C-67/97, C-115/97 bis C-117/97 und C-219/97 C-234/97 und C-235/97 C-270/97 und C-271/97 C-437/97 C-104/98 C-372/98 C-184/99 C-294/99 C-366/99 C-481/99 C-347/00 C-453/00 C-4/02 und C-5/02

E

1

Erläuterung der Rechtsprechungsgrundsätze Erläuterung der Rechtsprechungsgrundsätze Erläuterung von Rs. C-262/88

1 1 1

1 1

1

Erläuterung der Rechtsprechungsgrundsätze Erläuterung der Rechtsprechungsgrundsätze

1 1

1 1 1 1 1 1 1 1 1 1

Erläuterung der Rechtsprechungsgrundsätze und des Barber-Protokolls

1 1 1

Übertragung von Rs. C-163/90

Anhang I: Übersicht zu den Entscheidungen zur Rückwirkungsbeschränkung

Rechtssache C-402/03 C-475/03 C-184/04 C-292/04 C-423/04 C-446/04 C-524/04 C-228/05 C-17/05 C-278/05 C-290/05 und C-333/05 C-313/05 C-161/06

C-231/06 bis C-233/06 C-267/06 C-345/06

B

A

C-577/08 C-2/09 C-148/09 P

R

S

Bemerkungen

1 1 1 1 1 1 1 1 1 1

Nicht entscheidungserheblich Nicht entscheidungserheblich

1 1 1

Unanwendbarkeit von Unionssekundärrecht zulasten Einzelner 1

1 1

C-409/06 C-414/06 C-427/06 C-158/07 C-73/08 C-147/08 C-542/08

E

525

Unanwendbarkeit von Unionssekundärrecht zulasten Einzelner Erläuterung der Rechtsprechungsgrundsätze

1 1 1 1

Erläuterung von Rs. C-209/03

1 1

Nicht entscheidungserheblich Erläuterung der Rechtsprechungsgrundsätze

1

1 1 1

C-229/09 C-232/09

1 1

C-242/09 C-310/09 C-379/09 T-80/09 P

1

C-263/10 C-581/10 und

1 1

S.a. die Vorinstanz in Rs. T-388/03 In Urteil und SchlA nicht entscheidungserheblich

1 1 1

Ablehnung einer inzidenten Rückwirkungsbeschränkung eines früheren Urteils

526

Anhang I: Übersicht zu den Entscheidungen zur Rückwirkungsbeschränkung

Rechtssache

B

C-629/10 C-599/10 C-92/11 C-236/11 C-263/11 C-338/11 bis C-347/11 C-359/11 und C-400/11 C-395/11 C-414/11 C-465/11 C-525/11 C-553/11

A

E

R

1

Bemerkungen Nicht entscheidungserheblich

1 1 1 1 1 1 1 1 1 1

C-616/11 C-618/11, C-637/11 und C-659/11 C-82/12 C-190/12 C-204/12 bis C-208/12 C-209/12 C-262/12 C-362/12

Ausführungen zur Entscheidungserheblichkeit

1 1

In Urteil und SchlA nicht entscheidungserheblich

1 1 1

Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung abgelehnt

1

Wiedergabe des Verfahrensablaufs in Rs. C-446/04 Verfahren nach Schlussanträgen zurückgenommen Erläuterung der Rechtsprechungsgrundsätze

1 1

C-482/12

1

C-429/12

1

C-562/12 C-34/13 C-51/13 C-162/13

1 1 1 1

C-318/13 C-331/13 C-401/13 und C-432/13 Summe

S

Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung abgelehnt 1

1 1

8

58

31

8

21

= 97 EuGH; 21 GA

Anhang I: Übersicht zu den Entscheidungen zur Rückwirkungsbeschränkung

527

D. Vertragsverletzung Rechtssache

B

293/85 C-191/95 C-35/97 C-276/97 C-358/97 C-359/97 C-260/98 C-426/98 C-204/03 C-178/05 C-284/05 C-387/05 C-239/06 C-475/07 C-559/07 C-250/08 C-82/10 C-387/11 C-288/12 Summe

A

E

R

S

Bemerkungen

1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1

0

12

0

0

1

Bis Stichtag nur Schlussanträge

7

= 12 EuGH; 7 GA

Anhang II: Neue Rechtsakte bei Gefahr von Regelungslücken Die Tabelle führt die Unwirksamkeitsentscheidungen des Gerichtshofs auf, in denen die zeitliche Wirkung für die Zukunft beschränkt wurde. Sie sind nach dem Urteilsdatum geordnet. Die Tabelle zeigt, welcher Rechtsakt aufgehoben wurde und ob eine Frist zum Erlass eines neuen Rechtsakts bestimmt wurde. Der Aufstellung sind weiterhin der ersetzende Rechtsakt und die Zeitpunkte von dessen Erlass und Inkrafttreten zu entnehmen. Rechtssache

AufgehobeUrteilsner Rechtstag akt

Fristbestimmung

Neuer Rechts- Erlass/ akt Inkrafttreten

81/72

Artikel 1 bis 4 Verordnung (Euratom, 5.6.1973 EGKS, EWG) Nr. 2647/72

keine

Verordnung (EGKS, EWG, Euratom) Nr. 2188/73

59/81

Verordnung (Euratom, 6.10.1982 keine EGKS, EWG) Nr. 187/81

Verordnung (EGKS, EWG, Euratom) Nr. 3139/82

264/82

Verordnung (EWG) Nr. 1882/82

Verordnung (EWG) Nr. 2347/87

23.7.1987/ 5.8.1987

7/87

Verordnung (EWG, Eu28.6.1988 keine ratom, EGKS) Nr. 3619/86

Verordnung (EGKS, EWG, Euratom) Nr. 3294/88

24.10.1988/ 28.10.1988 (Einzelne Vorschriften rückwirkend)

275/87

Verordnung (EWG) Nr. 2096/87

keine

Verordnung (EWG) Nr. 3312/89

30.10.1989/ 11.11.1989

C-295/90

Richtlinie 90/366/EWG

keine

Richtlinie 93/96/EWG

29.10.1993/ 17.11.1993 (Umsetzungsfrist: 31.12.1993)

20.3.1985 keine

2.2.1989

7.7.1992

9.8.1973/ 12.8.1973 (Einzelne Vorschriften rückwirkend) 22.11.1982/ 27.11.1982 (Einzelne Vorschriften rückwirkend)

Anhang II: Neue Rechtsakte bei Gefahr von Regelungslücken

Rechtssache

AufgehobeUrteilsner Rechtstag akt

C-65/90

Verordnung (EWG) Nr. 4059/89

C-388/92

Verordnung (EWG) Nr. 2454/92

1.6.1994

C-21/94

Richtlinie 93/89/EWG

5.7.1995

C-41/95

94/943/EGKS, 7.12.1995 EG, Euratom

C-271/94 C-392/95

C-164/97

C-378/00

C-211/01

C-178/03

C-317/04

Entscheidung 94/445/EG Verordnung (EG) Nr. 2317/95

16.7.1992 keine

26.3.1996 10.6.1997

Verordnungen (EG) 25.2.1999 Nr. 307/97 und Nr. 308/97 Artikel 11 Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 1655/2000 Beschlüsse 2001/265/EG und 2001/266/EG Verordnung (EG) Nr. 304/2003 Beschluss 2004/496/EG und Entscheidung 2004/535/EG

Fristbestimmung

529

Neuer Rechts- Erlass/ akt Inkrafttreten Verordnung (EWG) Nr. 3118/93

25.10.1993/ 1.1.1994

11.12.1997/ 9.1.1998 keine (Anwendungsbeginn 11.6.1999) 17.6.1999/ Richtlinie 20.7.1999 keine 1999/62/EG (Umsetzungsfrist: 1.7.2000) 31.1.1996/ 96/200/Euratom, keine 1.1.1995 (rückEGKS, EG wirkend) Entscheidung 9.12.1996/ keine 96/715/EG 9.12.1996 Verordnung 12.3.1999/ keine (EG) 19.3.1999 Nr. 574/1999 Verordnung (EG) Nr. 1484/2001 27.6.2001/ angemessen und Verordnung 21.7.2001 (EG) Nr. 1485/2001 Verordnung (EG) Nr. 12/98

21.1.2003 keine

Verordnung (EG) Nr. 1682/2004

11.9.2003 keine

nicht erneuert

Verordnung 10.1.2006 angemessen (EG) Nr. 689/2008 Außerkrafttreten des 30.5.2006 Abkommens; nicht erneuert max. 30.9.2006

15.9.2004/ 8.10.2004

7.6.2008/ 1.8.2008

530 Rechtssache

C-310/04

C-414/04

C-299/05

C-155/07

Anhang II: Neue Rechtsakte bei Gefahr von Regelungslücken

AufgehobeUrteilsner Rechtstag akt

Fristbestimmung

Kapitel 10a des Titels IV Verordnung der Verord7.9.2006 angemessen (EG) nung (EG) Nr. 637/2008 Nr. 1782/2003 Verordnung (EG) 28.11.2006 1.7.2007 nicht erneuert Nr. 1223/2004 Nr. 2 des Beschluss des Anhangs I der Gemeinsamen Verordnung 18.10.2007 angemessen EWR(EG) Ausschusses Nr. 647/2005 Nr. 102/2008 12 Monate Beschluss Beschluss 6.11.2008 (bis 2006/1016/EG Nr. 633/2009/EG 6.11.2009)

C-166/07

Verordnung (EG) 3.9.2009 Nr. 1968/2006

C-40/10

Art. 2 und 4 bis 18 der Verordnung 24.11.2010 keine (EU, Euratom) Nr. 1296/2009

C-355/10

Beschluss 2010/252/EU

C-490/10

C-137/12

C-43/12

C-103/12 und C-165/12

Neuer Rechts- Erlass/ akt Inkrafttreten

Verordnung angemessen (EU) Nr. 1232/2010 Verordnung (EU, Euratom) Nr. 1190/2010 des Rates

Verordnung angemessen (EU) Nr. 656/2014 Verordnung Verordnung (EU, Euratom) 6.9.2012 angemessen (EU) Nr. 617/2010 Nr. 256/2014 angemessen, Beschluss Beschluss 22.10.2013 max. 6 2011/853/EU Nr. 2014/243/EU Monate 5.9.2012

angemessen, Richtlinie (EU) max. 12 2015/413 Monate

Richtlinie 2011/82/EU

6.5.2014

Beschluss 2012/19/EU

Verfahrensnummer 2015/0001(NLE) 26.11.2014 Angemessen Am 7.7.2015 vom Parlament angenommen

23.6.2008/ 12.7.2008

26.9.2008/ 27.9.2008

13.7.2009/ 25.7.2009 15.12.2010/ 31.12.2010 (Einzelne Vorschriften rückwirkend) 13.12.2010/ 18.12.2010

15.5.2014/ 17.7.2014 26.2.2014/ 9.4.2014 14.4.2014/ 14.4.2014 11.3.2015/ 17.3.2015 (Umsetzungsfrist: 6.5.2015)

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abgeschlossener Sachverhalt 317 ff. Abwälzung von Lasten 231 f. acte clair 200, 478 acte éclairé 27, 478 ad rem-Wirkung 20 Adeneler-Entscheidung 480 Agenturen der Union 197 Agrarrecht 102, 261, 264, 305, 371, siehe auch Währungsausgleichsbeträge allgemeine Rechtsgrundsätze 50, 95, 117, 166, 445 Altersdiskriminierung 223 f., 441, 453 Ampafrance und Sanofi-Entscheidung 214 amtliche Sammlung 204, 329, 497 Amtshaftungsanspruch 500, 510 ff. Amtssprache 163, 329 Analogieverbot 171 änderungsfestes Unionsrecht 393 Angleichung nach oben 262 f., 327, 435, 473, 476 Ankündigung der Änderung 11 Annex 61, 393, 409, 429, 443 Anreiz zur Klage siehe Klageanreiz Anreizstruktur 135, 230, 237, 337, 345, 507, siehe auch Klageanreiz Antrag 405 ff. − amtswegige Entscheidung 406 f. − Antragsbefugnis 414 − Antragsberechtigung 143, 410 ff. − formelle Anforderungen 416 f. − Hilfsantrag 414 f. − keine Bindung 406 f., 415 − Wortlaut 407 f. Anwendung von Normen − dreistufiges Modell 96 − und Auslegung 40 Anwendungsbefehl siehe Normanwendungsbefehl

Anwendungsvorrang 87, 121, 154, 208, 312, 343, 437, 450 ff. − Suspendierung siehe temporäre Suspendierung des Anwendungsvorrangs Appellentscheidung 262 Äquivalenzgrundsatz 99, 219, 230, 372, 403, 433, 435, 453, 482, 489, 499, 514 Arbeitsrecht 138, 140, 238 ff., 315, 320 f., 345, 393 f. Assoziationsabkommen 183, 216 Aufopferung 512 ausbrechender Rechtsakt 442 f. Auskunft 71, 418 Ausländerklauseln 314 Auslegung − authentische siehe authentische Auslegung − autonome 146 − deklaratorische Theorie 42 − dezisionistische Theorie 44 − erste siehe Erstauslegung − erweiternde 45 − historische 56 − Konform~ siehe Konformauslegung − objektive 56 − subjektive 56 f. − und Anwendung 40 − verfahrensunabhängige 46, 307 f., 313, 341 − Vorrang 167 − Wesen 47 − Ziel 55 ff., 77 − zweite siehe Zweitauslegung Auslegungsvorabentscheidung − als faktische Unanwendbarkeitserklärung 121, 122, 208, 461 Ausschlussfrist 229, 390, 434 authentische Auslegung 42, 48, 104 ff., 198, 395

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Sachregister

− und Rückwirkungsbeschränkung 105 ff. Banca Popolare di Cremona-Entscheidung 217, 236, 241 Barber-Entscheidung 140 f., 170, 193, 235, 314 f., 339 f., 393 ff. Barber-Protokoll 124, 291, 393 ff. Barra-Entscheidung 138 f. Beihilferecht 172 f., 233, 250, 257, 261, 309, 315, 324 f., 354 Beitritt zur Union 123 Beitrittsverhandlungen 176 Beliebigkeit, subjektive 132 bessere Rechtserkenntnis 72 Bestandskraft 123, 229, 231, 332 f., 374, 390, 432 f., 448 Beteiligungsrecht im Vorabentscheidungsverfahren 32, 227, 335 Beweislast siehe Feststellungslast Beweisschwierigkeiten 174 Bidar-Entscheidung 70, 73, 181, 244 Bilka-Entscheidung 140, 314 Bindungswirkung 19, 23, 26 ff., 39, 51, 52, 118, 145, 179, 207, 235, 302, 307, 311, 358, 360, 369, 404 − Gegenstand 37 − verfahrensunabhängige 27 f., 288 Binnenmarkt 254, 264 Blaizot-Entscheidung 138 f., 153, 187, 204, 217 Bosman-Entscheidung 154, 201, 244, 314, 319 Boykott 278 Brasserie du Pêcheur und FactortameEntscheidung 230 Bundesverfassungsgericht 99, 443 ff., 454, 501 ff., 518 Cabanis-Issarte-Entscheidung 70, 179 ff., 243 ff. Carmen Media Group-Entscheidung 440 CILFIT-Entscheidung 22, 27, 58, 288 Coloroll Pension TrusteesEntscheidung 193 contra legem-Judizieren 481 ff. Cooke-Entscheidung 190

Da Costa-Entscheidung 29 Darlegungslast siehe Feststellungslast Datenschutz 371 Dauerschuldverhältnis 108, 321, 328 default rule 475 Defrenne II-Entscheidung 149, 154, 170, 189 ff., 198, 201, 217, 235, 305, 316, 340, 401 deklaratorische Adaption 450 deklaratorische Normen 104 deklaratorische Theorie 42, 44, 53 f., 60, 77, 107, 152 ff., 209, 303, 389 Demokratieprinzip 49, 93, 392, 444 dezisionistische Theorie 44, 53 ff., 107, 152 Diskriminierung − Alter siehe Altersdiskriminierung − Entgelt siehe Entgeltdiskriminierung − Geschlecht siehe Geschlechtsdiskriminierung − Staatsangehörigkeit siehe Staatsangehörigkeitsdiskriminierung Diskriminierungsverbot 6, 136, 165, 182, 184, 223, 262, 284, 306, 453, 470, 473 dispositives Recht 168 distinguishing 21, 31, 36, 39, 142, 184 dreistufiges Modell der Gesetzesanwendung 96 Durchsetzung des Unionsrechts 17, 36, 240, 359, 361, 432, 484 Durchsetzungsmechanismus 504 effektiver Rechtsschutz 358 Effektivität des Unionsrechts siehe effet utile Effektivitätsgrundsatz 219, 231, 372, 433, 435, 453, 473, 499, siehe auch effet utile effet utile 76, 78, 133, 173, 350, 359, 433, 442, 452, 508 Eilverfahren 129, 384 Einheit des Unionsrechts − inhaltliche 34, 86, 87, 88, 95, 116, 200, 245 − räumliche 58, 113, 137, 146, 200, 206 ff., 210, 215, 330, 333 f., 337 f., 377, 431, 452, 462 ff.

Sachregister Einrede der Rechtswidrigkeit 84 Einstimmigkeit 171, 196, 394 einstweiliger Rechtsschutz 18, 129, 310 Einzelermächtigung, Prinzip der begrenzten 17, 50, 87 f., 214 Empirie 184 Entfernungsfrist 279 Entgeltdiskriminierung 6, 138, 140, 189, 199, 202, 262, 305 f., 393, 435 Entscheidungserheblichkeit 57 ff., 139, 186, 363, 430 Entscheidungsmonopol des EuGH 25, 84, 291, 384, 429, 436, 465, 477 f. equity 13 erga omnes-Wirkung 20, 22, 28, 30, 33, 85, 90, 297, 300, 366 Ermessensspielraum − der Kommission 187 ff., 350 − der Mitgliedstaaten 445 − der nationalen Gerichte 359, 512 − des EuGH 58, 131, 138, 293 f., 403 − des Gesetzgebers 101 Erstattungsanspruch, unionaler 128, 231, 390, 432 ff. Erstauslegung 45, 47, 53, 57, 75, 144, 166, 180, 182, 330 erweiternde Auslegung 45 Essevi und Salengo-Entscheidung 189, 201, 212, 217, 288 Europäische Investitionsbank 260 Europäische Zentralbank 195 Europäischer Gerichtshof − als Vertrauensveranlasser 177 ff. − als Vertrauenszerstörer 203 ff. − amtliche Sammlung siehe amtliche Sammlung − Anwendung des Unionsrechts 119 f., 233 − Entscheidungsbegründungen 204, 234, 292, 399 − Monopol siehe Entscheidungsmonopol des EuGH − mündliche Verhandlung 204 − öffentliche Sitzung 329 − Selbstbindung siehe Selbstbindung des EuGH − Vorrang der Rechtsprechung 209 Europäischer Rat 195 Europäisches Parlament 198

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Evangelischer Krankenhausverein Wien-Entscheidung 153, 176, 215, 217, 235, 293 Evolution des Unionsrechts 78, 183, 207, 361 Ewigkeitsklausel 88, 393, 445 ff. Fachgerichte 387 faktische Unanwendbarkeitserklärung 121 f., 208, 461 Fehlerfolgenlehre, unionale 90 Feststellungslast 407, 419 ff. Feststellungsurteil 83 finanzielle Auswirkungen siehe wirtschaftliche Auswirkungen Fiskalpakt 241 Flexibilität 13, 55, 69, 131, 140, 221, 245, 347 Föderalismusprinzip 444 Foto-Frost-Entscheidung 26, 477 f. Francovich-Entscheidung 92, 128 freie Rechtsschöpfung siehe Rechtsfortbildung Gambelli-Entscheidung 472 GASP-Maßnahmen 275 ff. Gefährungshaftung 509 Gemeinsamer Markt 101 Generalanwälte 126, 186, 211 Generalklausel 13, 44 Gerechtigkeit 52 f., 131, 166, 172, 488 Geschlechtsdiskriminierung 170, 283 Gesetzesbindung 35, 85, 93, 106, 130, 132, 294, 356, 386, 388, 392, 466 Gestaltungsurteil 82 Gestaltungswirkung 80, 85 f., 89 f., 97, 118, 129, 297, 515 f. Gewaltenteilung, nationale 444, 454, 471, 475, 487 Gewaltenteilung, unionale siehe institutionelles Gleichgewicht Gleichbehandlung der Mitgliedstaaten 206, 208, 219, 379, 431, 477 Gleichbehandlung im Unrecht 189, 387 Gleichheitsgrundsatz 50 f., 73, 165 f., 207, 246, 261 ff., 275, 327, 379, 387, 449, 460, 476, 509 Glücksspielrecht 439 ff., 454 Gravier-Entscheidung 138

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Sachregister

Grundfreiheiten 169, 232, 270, 273, 439 ff., 457 Grundrechtecharta 104, 441, 445 Grzelczyk-Entscheidung 70, 73 Gültigkeitsvermutung 23, 34, 82, 87 ff., 124, 193, 248 ff., 256, 259, 290, 323, 347, 352 f., 467 f. − als Vertrauensgrundlage 248 ff. − Erschütterung 251 f. Gutachtenverfahren 128, 187, 266 guter Glaube 142 ff., 326, 381 − Abwägungskriterien 164 ff. − Agenturen der Union 197 − Ausschluss des Vertrauens 203 ff. − Beweislast 423 f. − Bezugspunkt 145 ff., 199 − durch Rechtsprechung 178 ff. − durch Unterlassen 185 ff. − Europäische Zentralbank 195 − Europäischer Rat 195 − Europäisches Parlament 194 − Inhalt 147 ff. − Kausalität 223 − Kommission 186 ff. − mehrere Phasen 220 ff. − Mehrwertsteuerausschuss 196 f. − objektiver Maßstab 157 ff., 215 − Rangordnung 202 f. − Rat 193 f. − Rechnungshof 195 − Rechtsprechung des EuG 383 ff. − strenger Maßstab 391 − und nationale Rechtslage 211 − und Schlussanträge 186, 211, 219 ff. − und Unsicherheit 147 ff., 163, 173, 210, 223, 278, 336, 386 − und wirtschaftliche Auswirkungen 226, 243 − Vergleich zur Staatshaftung 159 − Verhalten der Mitgliedstaaten 197 ff. − Vertrauende 212 ff. − Vertrauensbegründung 173 ff. − Vertrauenszerstörung 386 − Zeitpunkt 216 ff. Haushaltsdefizit 237, 240 Haushaltsplan 113, 260 f. Heininger-Entscheidung 505

Heinrich-Entscheidung 123, 280 Hierarchie des Unionsrechts 174 Hilfsantrag 414 ff. hinreichend qualifizierter Verstoß 326 ff., 338, 498 ff., 504 ff., 510 historische Auslegung 56 Hogan Lovells International-Entscheidung 365 Honeywell-Entscheidung 443, 447, 449, 501, 511, 518 hypothetischer Rechtsakt 268 f. Individualrechtsschutz 135, 263, 301, 359 ff., 368, 376, 462 Initiativrecht 185, 187, 272 Insolvenzrisiko 231 Instanzenzug 29, 36, 86, 380, 387, 430 institutionelles Gleichgewicht 16, 60, 81, 261, 392 Integrationsschranken 442 ff. inter partes-Wirkung 20, 25, 85 Interessenabwägung 110, 130, 164, 167, 202, 246, 292, 336, 351, 464 interpretatorische Vorrangregel 480 Inzidentrüge 25 f., 84, 90, 117 f. ipso iure-Unwirksamkeit 80, 85 f. Irrtum über die Rechtslage 155 f., 173, 175, 199, 205, 208, 289, 326 judikatives Unrecht siehe Staatshaftung judikatives Unterlassen 185 Junk-Entscheidung 447 Justizgewährungsanspruch 59 Klagbarkeitsbeschränkung 299 ff., 328, 397, 402, 429, 467 Klageanreiz 359, 362, 368 Klauselkontrolle 422 Kohärenz 116, 441, 472, 475 − der Rückwirkungsbeschränkung 287 ff. Kollision von Normen 86, 122, 154, 289, 311 f., 431, 433, 437, 450, 452 ff., 480, 498, 517 − direkte 452 ff. − indirekte 453 Kommission − als Betroffene 216 − als Vertrauenszerstörer 211

Sachregister Kompetenzgrundlagen 112 ff. Konformauslegung 213, 303, 316, 431, 450 f., 479 ff. − adaptive 451 − Ergebnispflicht 479 − Grenzen 480 ff. − Individualrechtsschutz 491 Konkurrentenklage 285 f. Konnexitätsmerkmal 136 ff., 152, 184, 204 f., 210, 215, 250, 290, 331 ff., 340, 378, 387, 404, 421, 427, 465 − Ablehnung 143 ff. − Begriff 136 f. − bei Unwirksamkeit 250 f. − Inhalt 136 f. − Maßstab 137 ff. − Rechtsfolge Präklusion 137 Kontinuität − der Besoldung von Unionsangestellten 274 f. − des öffentlichen Dienstes 260 − von Harmonisierungsmaßnahmen 272 ff. − von Rechtsprechung 95 Kontinuitätserwartungen der Normadressaten 67 Laie, juristischer 164 Lancry-Entscheidung 138, 194, 251, 288, 391 legislatives Unrecht 512 f. Legros-Entscheidung 138, 153, 194, 215, 217, 230, 318, 339, 378, 401 Leitlinien der Kommission 189 Letztentscheidungskompetenz siehe Entscheidungsmonopol des EuGH lex specialis 436 Lomas-Entscheidung 374 Mangold-Entscheidung 223 f. Marktzutrittsbarriere 475 Maximalfrist 355 Mehrebenensystem 437, 489, 506 Mehrsprachigkeit des Unionsrechts 163 Mehrwertsteuerausschuss 196 f., 202 Meilicke-Entscheidung 137, 139, 205 f., 241, 292 Menschenwürde 445 Methodenehrlichkeit 145, 204

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Methodenlehre 35, 160 ff., 181, 430, 480, 493 f. Methodik der Rechtsfortbildung 78 Mindestharmonisierung 504 Mitgliedstaaten − als Betroffene 214 f. − als Vertrauensveranlasser 197 ff. Mitnahmeeffekte 219 Modifikation der Normwirkungen 10, 55 Modifikation der Urteilswirkungen 11 Modifikation des Norminhalts 10, 55 Monismus 265, 267, siehe auch Völkerrecht mündliche Verhandlung 410, 416, 418, 421 Nachholbarkeit 143, 145, 210, 291, 331 ff., 348 Nádasdi und Németh-Entscheidung 235 Natur der Sache 47 ne ultra petita 415 Negation der Unionsnorm 304 ff., 311 Neuheit einer Rechtslage 106, 143, 151 ff., 204 f. − faktische 152 Nichtakt 91 Nichtigkeitsdogma 80 ff. Nichtigkeitsklage 22, 82, 113 f., 187, 295 ff., 368 − Frist 258 f. Normanwendungsbefehl 48 ff., 53 ff., 81, 93, 108, 124, 248, 302 Normkonflikt siehe Kollision von Normen Notationspflicht 190, 191 Nullveranlagung 375 obiter dictum 11, 38, 57, 58, 182, 184, 185 objektive Auslegung 56 Objektivität des Rechts 130 ff., 169, 174, 245, 342, 360, 477 octroi de mer 187, 378 Öffentliches Recht 14, 110, 168 ff., 228 Othman-Entscheidung 289 partielle Unanwendbarkeit 84, 90, 121 ff., 289

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Sachregister

personelle Reichweite 58, 117, 217, 357 ff., 405, 407, 415, 430, 485 personelle Rückausnahme siehe personelle Reichweite persönliche Freiheiten 275 Präjudiz 21, 37, 38, 142, 182, 311 Präjudizwirkung 19, 27, 38, 51, 61 f., 252 − als Normwirkung 46 − und Gleichheitsgrundsatz 50 Präklusion siehe Konnexitätsmerkmal praktische Wirksamkeit siehe effet utile precedent-Doktrin 30 primärer Vertrauensschutz 12, 55 Primärrecht, rangverschiedenes 395 Primärrecht, unionsrechtswidriges 392 Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung siehe Einzelermächtigung, Prinzip der begrenzten Prinzipien als Optimierungsgebote 43, 120 Prioritätsprinzip 360 Privatautonomie 165, 169 Privatrecht 13, 110, 160, 164, 168 ff., 231, 316, 449, 491 prospective overruling 10, 95 Protokoll siehe Barber-Protokoll Protokollerklärung 199, siehe auch Barber-Protokoll Prozesskosten 218, 219, 362 f., 403 Prozessleitung 418 Prozessökonomie 32, 204, 379 Racke-Formel 100, 278 ratio decidendi 11, 38, 59, 182, 184 räumliche Reichweite der Rückwirkungsbeschränkung 143, 198 f., 206 ff., 243, 333, 377 ff. Rechnungshof 195 Rechtsänderung 73 ff., 102 Rechtsansicht 174 ff., 202, 248, 384 − private 201, 212 Rechtsbehelfsführer 96, 117, 158, 218 f., 318, 320, 325, 333, 345, 357 ff., siehe auch personelle Reichweite − Begriff des Rechtsbehelfs 372 ff. − Hoheitsträger als ~ 376 f. − Klage 373

Rechtsdurchsetzung siehe Durchsetzung des Unionsrechts Rechtsfortbildung 75 ff., 108, 154, 164 ff., 179, 284, 494 − Analogieverbot 171 − Methodik 78 − Rückwirkung 75, 77, 78, 79 Rechtsklarheit 280 ff., 390, siehe auch Transparenz Rechtskraft 28, 73, 332, 374, 384, 404 f., 432 f. Rechtsmissbrauch 303, 376 Rechtsmittelfrist 279 Rechtspolitik 291 ff. Rechtsprechungsänderung 63 ff., 95, 142, 155, 166, 175, 179 ff., 332 f., 383, 385, 492 − Grund 72 ff. − materielle Voraussetzungen 66 ff. − offene 64 − prozessuale Voraussetzungen 65 f. − und Antrag 415 − und Unwirksamkeit 252 − versteckte 67 − Voraussetzungen 65 ff. − wirtschaftliche Auswirkungen 243 ff. Rechtsprechungseinheit 17 Rechtsquelle 20, 98, 174, 209, 300 Rechtsschutzinteresse 348, 369 f. Rechtssicherheit 19, 30, 55, 66, 89, 93 ff., 117 ff., 130 ff., 384 ff., 390, 404, 436, 481, et passim − und Rechtsprechung 94 ff. − und Wortlaut einer Norm 164 Rechtsstaatsprinzip 98, 133, 388 Rechtsvakuum 101, 277 Rechtsverweigerung 59 f. reformatio in peius 376 Regelungsdefizit 473 Regelungslücke − als Voraussetzung der Rechtsfortbildung 78, 116, 121, 166, 459 − als Voraussetzung der Rückwirkungsbeschränkung 267 ff., 458, 470 Régie Networks-Entscheidung 309 f., 324, 356 f., 402 Rentenversicherung 165, 173, 232

Sachregister Richtlinie − Konformauslegung siehe Konformauslegung − Umsetzungsfrist siehe Umsetzungsfrist einer Richtlinie Rücknahme eines Verwaltungsakts 376 Rückwirkung − der Rechtsfortbildung 75 ff. − der Unwirksamkeit 79 ff. − Grundsatz 39 − und materielle Gerechtigkeit 52 f. − und Unionsverwaltungsrecht 388 ff. − verfahrensunabhängige 97, 439 − Verschleierung 54 Rückwirkung von Gesetzen 98 ff., 317, 391 − echte 99 ff, , 108 f. − Schließung einer Lücke 101, 277 f. − Schutzbedürftigkeit der Betroffenen 101 f. − Strafrecht 104 − unechte 99 f., 103 f. − wohlerworbene Rechte 99, 109 Rückwirkungsbeschränkung − als innerunionales Phänomen 120 ff., 154, 305, 311, 429 ff. − als Kompetenzproblem 54 − Bedeutung des nationalen Rechts 197 ff. − durch das EuG 386 f. − Prozessuales 397 ff. − sui generis-Lösung 303 ff. Rückwirkungsverbot 482 f. rule of law siehe Gesetzesbindung und Objektivität des Rechts Sarrió-Entscheidung 71 f. Schadensersatzanspruch, unionaler 321, 325 ff. Scheinverordnung 22 Schlussanträge siehe guter Glaube Schlüssigkeit 233, 420, 422 Schranken des Unionsrechts 431 ff. Schutzzertifikat 365 sekundärer Vertrauensschutz 12 ff., 178, 428, 506 Selbstbindung der Union 156 Selbstbindung des EuGH 21, 64, 448 Selbstverantwortung 165, 248

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Simitzi-Entscheidung 339 Simmenthal-Entscheidung 286 Skoma-Lux-Entscheidung 84, 122f., 289, 464 Soft Law 174 Solange II-Entscheidung 445 Solange-Rechtsprechung 444 ff., 450, 488 Sonderopfer 510 ff. Sozialpartner 213 Sozialrecht 182, 184, 238, 244, 319 f., 393 Sperrwirkung 128, 431 Staatsangehörigkeitsdiskriminierung 170, 462 Staatshaftung 93, 128, 159, 327, 338, 450, 497 ff. − Amtshaftungsanspruch 500 − Drittschutz 502 ff. − für judikatives Unrecht 31, 326, 499 f. − für legislatives Unrecht 500 − für rechtmäßiges Verhalten 509 f. − hinreichend qualifizierter Verstoß siehe hinreichend qualifizierter Verstoß − umgekehrte siehe umgekehrter Staatshaftungsanspruch − und guter Glaube 159 Steuergeheimnis 426, siehe auch Steuerrecht Steuerrecht 138 f., 171 f., 196 ff., 217, 219, 318 f., 346, 375, 423, 426 Steuerungswirkung 168, 171, 278 Störung der Geschäftsgrundlage 13 Stradasfalti-Entscheidung 188 Strafrecht 13, 104, 170 f., 482 f., 486 Streitgegenstand 140 f., 180, 253, 404, 409 Stufenordnung des (Unions-)Rechts 87 subjektive Auslegung 56 f. subjektiver Vertrauensschutz 209, 215, 275, 281 f. Subsidiaritätsprinzip 214, 459 Subsystem 337, 379, 420, 424, 427 sui generis-Lösung 303 ff. Sürül-Entscheidung 144, 153, 182 ff., 205 f., 212, 235, 244

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Sachregister

Suspendierung des höherrangigen Rechts 124 Suspendierung des Unionsrechts siehe temporäre Suspendierung des Anwendungsvorrangs Taflan-Met-Entscheidung 182 ff., 212 Tarifvertrag 345 tatsächlicher Vergangenheitsbezug 17 ff. Teilunwirksamkeit 282 ff. temporäre Suspendierung des Anwendungsvorrangs 454 ff. Ten Oever-Entscheidung 291 Tenor 21, 22, 28, 37 f., 118, 124, 127 f., 234, 282, 290, 293, 295, 297, 299, 308, 311, 313, 355, 399 ff. − besondere Formeln 286 f. − der Rückwirkungsbeschränkung 399 ff. Terrorismusbekämpfung 275, 352 Tertiärrecht 87 Test-Achats-Entscheidung 283 Transparenz 145, 176, 204, 292, 371, 390, 502, 513 Treu und Glauben 13, 265 Trittbrettfahrer 217 ff., 340, 365 ff. Übergangsfrist 251, 328, 440 f., 454 f., 470, siehe auch Übergangsregelung − durch den EuGH 341 ff., 367 Übergangsregelung 11, 99, 254, 328 f., 350, 367, 441, siehe auch Übergangsfrist ultra rem-Wirkung 20 ultra vires-Doktrin 442 f., 448 umgekehrter Staatshaftungsanspruch 502, 509 Umsetzungsersatzrecht 488 Umsetzungsfrist einer Richtlinie 316, 346, 351, 353, 496 Umsetzungsgebot 502 f., 513 Unanwendbarkeit − faktische 121 f., 208, 461 − partielle 84, 90, 121 ff., 289 Unbestimmtheit von Normen 147 f. unendliche Fortwirkung 328, 348, 355 Ungültigkeitsvorabentscheidung 23, 83, 115, 308 ff., 324

− Bindungswirkung 23 − Rechtskraft 24 f. Unionstreue 156, 344 unmittelbare Anwendbarkeit 170, 305, 316, 393, 502 Untätigkeitsklage 93, 125, 354 Unterhaltsbeihilfe für Studierende 70 Unwirksamkeit − Begriff 79 − Rückwirkung 79 Urteilsauslegungsverfahren 323 Urteilsberichtigung 331 Van Landschoot-Entscheidung 343 Verfahrensautonomie 230 f., 264, 433 ff., 453, 456, 465, 469 Verfahrensdauer 405 Verfahrensfehler 177, 271, 277 Verfassungsidentität, nationale 444 Verhaltensverantwortlichkeit der Union 154 ff., 177, 180, 187, 199, 202, 220 Verhältnismäßigkeit 101, 109, 336 Verjährung 229, 231, 258, 375, 434, 470 Verkooijen-Entscheidung 137, 205 Vermutung der Unionsrechtskonformität 467, 493 Verpflichtungssituation, prozessuale 263 f., 274, 474 Versicherungsvertrag 228, 242, 321 Verteidigungsmittel 416 Vertragsverletzungsverfahren 92 f., 125 ff., 187 ff., 211 f., 222, 289, 307, 313, 343 f., 403 Vertrauensschutz − Instrumente 9 ff. − Möglichkeiten des EuGH 14 f. − Öffentliches Recht 14 − primärer 12, 55 − Privatrecht 13 − sekundärer 12 ff., 178, 428, 506 − Strafrecht 13 − subjektiver siehe subjektiver Vertrauensschutz Verwerfungsmonopol siehe Entscheidungsmonopol des EuGH Völkerrecht 113, 174, 187, 265 ff. Vollharmonisierung 305, 504 Vorabinformation 103

Sachregister Vorhersehbarkeit 490 ff. Vorlagebeschluss 496 Vorlagepflicht 25, 29, 31, 33, 37, 89, 108, 188, 200, 359, 430, 487, 492 Vorlagerecht 33, 142, 294, 324, 413, 430 Vorrang des Unionsrechts siehe Anwendungsvorrang Währungsausgleichsbeträge 101, 264, 324, 349, 370, siehe auch Agrarrecht Warnurteil 11 Wertewandel 73 f. Wesen der Rechtsprechung 47 Wettbewerbsrecht 187, 241, 305 Widerruf eines Verwaltungsakts 376 Widerrufsrecht des Verbrauchers 505 Winner Wetten-Entscheidung 343, 454 ff., 470 ff. wirtschaftliche Auswirkungen 134, 224 ff. − administrative Schwierigkeiten 232 f. − Begriff 228 ff. − bei Rechtsprechungsänderungen 243 ff. − Beweislast 424 ff. − Schwere 234 ff. − Subsystem 238 f., 243, siehe auch Subsystem − und guter Glaube 226, 243

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− Wahrscheinlichkeit 242 − Zweck 225 f. wohlerworbene Rechte 99, 109, 247, 255 − Betroffenheit 255 ff. Worringham-Entscheidung 235 Wortlaut einer Norm 77, 162 ff., siehe auch Rechtsfortbildung − und Rechtssicherheit 164 Zeitzone 330 Ziel der Auslegung 55 ff., 77 Zollkodex, Gemeinsamer 390 Zollrecht 173, 263, 285, 339, 390 Zukunftsbezug der Rechtsprechung 60 ff. Zurechnung 156 ff., 177, 256, 475, siehe auch Verhaltensverantwortlichkeit der Union Zurechnungsendsubjekt 156, 256, 475 Zusicherung 487 Zwangsgeld 344 Zweck der Norm − als öffentliches Interesse 257 ff. Zweitauslegung 45, 209, 341 − ändernde 45, 63, 72 − bestätigende 45, 62, 137, 330 zwingendes Recht 168 Zwischenstreit 403