Die Bagatelldelikte: Untersuchungen zum Verbrechen als Steigerungsbegriff [1 ed.] 9783428408603, 9783428008605


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Die Bagatelldelikte: Untersuchungen zum Verbrechen als Steigerungsbegriff [1 ed.]
 9783428408603, 9783428008605

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}ustus Krümpelmann / Die Bagatelldelikte

Schriften zum Strafrecht Band 4

Die Bagatelldelikte Untersuchungen zum Verbrechen als Steigerungsbegriff

Von

Dr. Justus Krümpelmann

DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN

Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1966 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in Germany

© 1966 Duncker

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Arbeit ist eine umgearbeitete und erweiterte Fassung meiner Dissertation, die im Herbst 1964 der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg i. Br. vorgelegen hat. Das Manuskript wurde zum Jahresende 1965 abgeschlossen, die Literatur ist vereinzelt noch bis 1966 berücksichtigt. Meinem verehrten Lehrer, Herrn Professor Dr. Hans-Heinrich .Jes check, möchte ich an dieser Stelle für seine wohlwollende Förderung aufrichtig danken. Nächst ihm habe ich besonders Herrn Assessor Dr. Heinz Mattes, Freiburg, für seine stets fördernde Kritik und viele gute Ratschläge zu danken, ferner für die freundliche überlassung des Manuskripts seiner "Untersuchungen zur Lehre von den Ordnungswidrigkeiten". Nicht zuletzt bin ich der Freiburger Wissenschaftlichen Gesellschaft und der Freiburger Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät verpflichtet, die durch ihre finanzielle Unterstützung die Drucklegung der Arbeit ermöglicht haben. Justus KTümpelmann

Inhaltsverzeichnis Einleitung

13

Erster Teil Die BagateIIdelikte im Strafrechtssystem

Erstes Kapitel Vorfragen: Die Entwicklung der quantitativen Betrachtungsweise im Strafrecht. Einteilung der leichten Delikte 21 I. Das Verbrechen als Steigerungsbegriff ..................... . . . . . . .

21

1. Die Proportionalität von Verbrechen und Strafe .. . ...........

21

2. Die Lehre von den Graden des Unrechts ......................

27

3. Die quantitative Betrachtungsweise als Grundlage einer Systematik der Bagatelldelikte .................................... 31 II. Selbständige und unselbständige leichte Delikte ........ . .. . ......

36

Zweites< Kapitel Methodische Probleme bei der Bestimmung des BagateIIdeliktes

38

I. "Geringfügigkeit" als Relationsbegriff ............................

38

11. Die Bestimmung der Geringfügigkeit im Einzelfall. . . . . . . . . . . . . . ..

48

Drittes Kapitel Die Komponenten des BagateIIdeIiktes: Handlungswert, Erfolgsunwert und Schuld

62

I. Die Bedeutung einer Rangordnung der Tatbestände für die Ab-

leitung der Komponenten

62

II. Zur Problematik eines mehrdimensionalen Unrechts begriffs 1. Eindimensionale Unrechtslehren:

folgsunwert

Handlungsunwert

0

66 der Er66

10

Inhaltsverzeichnis a) Die Lehre vom Verbrechen als Rechtsgutsverletzung ........ b) Die personale Unrechtslehre .................... . . . . . . . . .. 2. Versuch einer Synthese von Handlungsunwert und Erfolgsunwert im Unrechts begriff .......................................... a) Rechtsgut und Handlungsunwert als gemeinsame Sachprobleme der t.raditionellen Unrechtslehre und der Lehre vom personalen Unrecht .......................................... b) Der Erfolgsunwert als Interpretationsgrundlage und Maßprinzip des strafrechtlichen Unrechts ...................... c) Die Bestimmungsfunktion des Rechtssatzes und der Erfolgsunwert ..................................................

IH. Probleme der Schuldkomponente 1. Der begriffliche Inhalt der Schuldkomponente

68 74 82 82 86 95 98 98

2. Das Verhältnis von Handlungsunwert, Erfolgsunwert und Schuld 100 IV. Die Geringfügigkeit von Unrecht und Schuld .................... 106

Viertes Kapitel

Maßstäbe der Bestimmung des leichten Deliktes

111

I. Maßstäbe der Bestimmung des Bagatellvergehens ................ 111 1. Der Nachweis von Veränderungen der Schwere der Tat ........ 113

2. Der Nachweis der Geringfügigkeit ............................ 118

II. Der Durchschnittsfall als Maßstab der Bagatellbestimmung (Nr.75 Abs. 3 Satz 2 RiStV) ............................................ 123 IH. "Bagatellfreie" Tatbestände

127

Fünftes Kapitel

Das Problem einer quantitativen Begrenzung des Strafrechts

132

I. Versuche einer quantitativen Begrenzung des Strafrechts (Wilhelm

Sauer, Hellmuth Mayer)

........................................ 132

11. Die Kritiker der quantitativen Begrenzung des Strafrechts (Binding,

v. Hippe!, Bockelmann)

138

IH. Die quantitative Begrenzung des Strafrechts und die Bagatelldelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 139 1. Stellungnahme zur Streitfrage der quantitativen Begrenzung .... 139

2. Die Gleichwertigkeit von selbständigen und unselbständigen leichten Delikten ............................................ 145

Inhaltsverzeichnis

11

Zweiter Teil

Die Bagatelldelikte im Strafgesetz

Erstes Kapitel übertretungen und Ordnungswidrigkeiten 1. Das Ordnungswidrigkeitsrecht in seiner gegenwärtigen Gestalt

149 151

1. Gesetzliche Grundlagen

...................................... 151 2. Die Umwandlung der übertretungen .......................... 154 11. Die dogmatische Begründung des Ordnungswidrigkeitenrechts .... 158 III. Das Verhältnis von Ordnungsunrecht und Bagatellunrecht ........ 165 1. Kritik der Unterscheidungsmöglichkeiten nach allgemeinen quali-

166

tativen Merkmalen

2. Vergleich des Ordnungswidrigkeitenrechts und des übertretungsstrafrechts 178

Zweites Kapitel übertretungen und Bagatellvergehen 1. Die Bagatellvergehen und das Strafensystem

187

.................... 187

1. Geltendes Recht

............................. . .............. 187 2. Die Regelungen im Entwurf 1962 191 3. Vergleich des geltenden Rechts mit dem Entwurf ...... . ....... 193

11. Das Absehen von Strafe

........................................ 194

111. Die Einstellung des Verfahrens wegen Geringfügigkeit (§ 153 StPO) 202 1. Entstehung und Entwicklung von § 153 stPO .................. 2. Die Auslegung des § 153 stPO ........................ . ....... a) Lehrmeinungen b) Stellungnahme 3. Die Frage einer Zulässigkeit von Auflagen .................... 4. Zur Frage einer materiell-rechtlichen Funktion des § 153 StPO..

202 207 207 212 226 229

IV. Das Verhältnis der selbständigen zu den unselbständigen leichten Delikten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 235 1. Vergleich der gesetzlichen Regelung .......... . . . .. . .......... 235 2. Ergebnis und Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 238

Literaturverzeichnis

.................... . ........................... 243

Ahkürzungsverzeichnis a.a.O. am angeführten ort AG Amtsgericht Anm. Anmerkung ARSP Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie BayObLGSt Entscheidungen des Bayerischen Obersten Landesgerichts in Strafsachen Bd. Band BGBI Bundesgesetzblatt Entscheidungen des schweizerischen Bundesgerichts BGE BGHSt Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen BGHZ Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen BVerfG Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts DAR Deutsches Autorecht Diss. Dissertation Die Öffentliche Verwaltung DÖV DRiZ Deutsche Richterzeitung DStR Deutsches Strafrecht E Entwurf GA Goltdammers Archiv GS Der Gerichtssaal JR Juristische Rundschau JW Juristische Wochenschrift JuS .Juristische Schulung JZ Juristenzeitung KG Kammergericht LG Landgericht MDR Monatsschrift für Deutsches Recht NdsRpfl Niedersächsische Rechtspflege NJW Neue Juristische Wochenschrift Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes für die Britische OGHSt Zone OLG Oberlandesgericht RdNr. Randnummer RGSt Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen Reichsgesetzblatt RGBl Richtlinien für das Strafverfahren RiStV SchwStGB Schweizerisches Strafgesetzbuch SchwZStR Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht SJZ Süddeutsche Juristenzeitung VE Vorentwurf Verw.Arch. Verwaltungs archiv VRS Verkehrs rechts-Sammlung ZStW Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft

Einleitung Der Begriff des Bagatelldeliktes, des "leichten" oder "geringfügigen" Deliktes, ist kein Begriff des positiven Strafrechts. Das Gesetz umschreibt ihn meistens mit dem Hinweis auf die Strafdrohung: Nach §§ 1, 18 StGB ist die übertretung als eine mit Haft bis zu sechs Wochen oder mit Geldstrafe bis zu 500 Mark bedrohte Handlung gekennzeichnett. An anderen Stellen werden Strukturmerkmale der Straftat mit Bezeichnungen der Geringfügigkeit verbunden: Die Einstellung des Verfahrens nach § 153 StPO setzt die "geringe Schuld" des Täters, früher auch2 "unbedeutende Folgen" der Tat voraus. Das Delikt als Ganzes wird nur mit solchen Bezeichnungen der Geringfügigkeit versehen, die den Begriff des "leichten" Deliktes bereits voraussetzen und ihm gegenüber eine weitere Minderung anzeigen wie bei den "b e s 0 n der s leichten Fällen" (z. B. § 175 Abs.2 StGB) oder den ,,1 eie h t e ren übertretungen" in § 22 StVG 3 • In allen diesen Fällen wird die Tat nicht danach betrachtet, ob sie den Tatbestandsmerkmalen des Mundraubs, der Notentwendung, des groben Unfugs usw. entspricht, sondern es .geht um die Frage, wie schwer die Tat ins Gewicht fällt. Die Geringfügigkeit ist damit der Unterfall einer besonderen Begriffskategorie des Strafrechts, die uns in so viel verwandten Formeln wie "Unrechtsgehalt", "Schuldgrad", "Schuldangemessenheit der Strafe" usw. begegnet. Man hat sich daran gewöhnt, diese "quantitative" Betrachtungsweise der "qualitativen" Betrachtungsweise nach den typischen Merkmalen des Deliktes gegenüberrustellen. t Durch die Strafdrohung werden leichtere Taten ferner noch bei folgenden Vorschriften bezeichnet: § 27 b StGB (Umwandlung der Freiheitsstrafe in Geldstrafe); § 232 StPO (Hauptverhandlung in Abwesenheit des ordnungsgemäß geladenen, ausgebliebenen Angeklagten); § 233 StpO (Befreiung des Angeklagten vom Erscheinen in der Hauptverhandlung); § 277 Abs.2 StPO (Hauptverhandlung in Abwesenheit des unerreichbaren Angeklagten); § 407 Abs.2 Ziff.1 stPO (Strafbefehlsverfahren); § 25 GVG (Zuständigkeit des Amtsgerichts in Strafsachen). Bei einigen Fällen ist auf die angedrohte, bei anderen auf die verwirkte oder zu erwartende Strafe Bezug genommen. Ob es sich in allen Fällen um Bagatelldelikte handelt, muß die nähere Untersuchung dieses Begriffes zeigen. 2 Bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes (stPÄG) vom 19. Dezember 1964 (BGBI I 1067) am 1. April 1965. 3 Ebenso setzen die "minder schweren Fälle" (z. B. § 218 Abs. 3 StGB) einen Begriff der Erheblichkeit voraus.

14

Einleitung

Die Bedeutung der quantitativen Betrachtungsweise im Strafrecht zeigt sich äußerlich schon im ersten Paragraphen des Strafgesetzbuches, der die strafbaren Handlungen nach ihrer Schwere einteilt. Auch wenn die Dreiteilung der Straftaten heute ganz überwiegend nur als ein technisches Hilfsmittel der Kodifikation aufgefaßt wird, so ist es doch aufschlußreich, daß man im Strafrecht überhaupt einer Einteilung der Schwere nach bedarf. Aber auch abgesehen von § 1 StGB werden durch die gestaffelten Strafdrohungen die Tatbestände untereinander in ein quantitatives Verhältnis gebracht: Schon an der Strafdrohung zeigt sich, daß der Meineid schwerer ist als Diebstahl usw. Die quantitative Betrachtungsweise beherrscht vor allem die Strafzumessung: Da sich die Strafe mindestens grundsätzlich nach dem Tatgewicht zu richten hat\ will der Angeklagte vor allem erfahren, wie der Richter die Schwere der Tat einschätzt, wenn die Schwelle der Strafbarkeit erst einmal überschritten ist. Ob die Tat als Betrug oder als Diebstahl angesehen wird, ist für den Angeklagten meistens nur eine "Doktorfrage"5. Aber auch den Verletzten interessiert es zunächst, ob er um 20 Mark oder 200 Mark geschädigt worden ist, und weniger, ob man ihn bestohlen oder betrogen hat. Schließlich kommt es auch dem Staat nicht so sehr darauf an, ob er einen Dieb oder einen Betrüger einsperrt, sondern vor allem, ob er zwei Monate oder zwei Jahre Gefängnis vollstrecken muß 6 • Die Probleme der quantitativen Betrachtungsweise im Strafrecht haben nicht die wissenschaftliche Behandlung erfahren, die ihrer praktischen Bedeutung entspricht. Die von Dreher7 gestellte Frage: "Was heißt denn Schwere einer Tat? Handelt es sich dabei wirklich um einen einheitlichen Begriff?" ist auch heute noch im grundsätzlichen unbeantwortet, und es fehlt an Versuchen, diese Arbeit überhaupt in Angriff zu nehmen 8 . Das hat dogmatische und methodische Gründe. Der dogma-

4 Das ist heute wohl herrschende Meinung, vgl. dazu die treffenden Ausführungen von NoH, Die ethische Begründung der Strafe, S. 22. 5 Exner, Strafzumessung, Vorwort; vgl. auch v. Weber, Strafzumessung, S.4. Von Ausnahmen ist dabei natürlich abzusehen: Die Frage, ob die Tat Betrug oder Diebstahl ist, wird vor allem dann quantitativ bedeutungsvoll, wenn die Rückfallvoraussetzungen nur bei einem Tatbestand erfüllt sind (vgl. etwa BGHSt 18, 287). 6 Der Meinung von E-ngisch, Studium generale 1959, 86, dem Angeklagten gehe es im wesentlichen nur darum, ob er überhaupt bestraft und ob die Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden könne, ist bei den großen Differenzen des Strafmaßes, die der Strafrahmen zuläßt, kaum beizupflichten. 7 Dreher, Über die gerechte Strafe, S. 65. 8 Vgl. aber die wichtigen Ausführungen von Dreher selbst, a.a.O., S. 65 ff., und neuerdings ZStW 77, 220 ff.

Einleitung

15

tische Grund liegt wohl darin, daß die Lehre von der Rechtswidrigkeit von ihren bedeutendsten Begründern, vor allem Binding, auf eine Alternativ-Frage hin formuliert wurde: Man wollte die Form des Strafrechtssatzes bestimmen und feststellen, ob ein Verhalten den Anforderungen der Norm entsprach oder nicht. Für eine quantitative Betrachtungsweise gibt es dabei keinen Gegenstand. Sie wird dem gesetzlichen oder richterlichen Ermessen zugewiesen und meistens nicht näher erörtert. Erst mit der Lehre von der materiellen Rechtswidrigkeit, und erst in ihrer neueren Entwicklung, hat die quantitative Betrachtungsweise auch in der Verbrechenslehre eine gewisse Bedeutung erlangt9. Vor allem aber dürfte die Vernachlässigung der quantitativen Begriffe auf eine methodische Schwierigkeit zurückzuführen sein. Die Frage, ob eine Tat leicht oder schwer ist, scheint derartig von subjektiven Erwägungen und Wertungen abhängig zu sein, daß quantitative Begriffe schlechthin für unbrauchbar gehalten werden; sie gelten als ungenau und dehnbarlO • Infolgedessen hat die Bezeichnung "quantitativ" im strafrechtlichen Sprachgebrauch hauptsächlich negative Funktion: Man verwendet das Wort, um auszudrücken, daß die "qualitative" Begriffsbildung nicht möglich ist. Immer wieder stößt man auf die Formel, daß "nur" ein quantitativer, aber kein qualitativer Unterschied bestehe. Auch vom Methodischen her verbindet sich die quantitative Betrachtungsweise mit der Ermessensproblematik. Der Begriff des Ermessens macht eine ähnliche Entwicklung durch. Er wird vor allem unter dem Blickwinkel der Revision gesehen und hat ebenfalls negative Funktion: Ermessen ist, was in der Revisionsinstanz nicht kontrolliert werden kannl l. Häufig folgt daher auf die Formel vom "nur" quantitativen Unterschied die Forderung, der Gesetzgeber müsse nach seinem Ermessen die Grenzen bestimmen12 • Der praktischen Bedeutung der quantitativen Betrachtungsweise steht also die Abwertung quantitativer Begriffe in der Strafrechtswissenschaft gegenüber. Allerdings zeigt sich auch im wissenschaftlichen Sprachgebrauch die Unentbehrlichkeit quantitativer Begriffe immer wieder. Meistens hilft man sich mit mehr oder weniger anschaulichen Darstellungen von übergangszonen zwischen qualitativen

Grundlegend: Kern, Grade der Rechtswidrigkeit, ZStW 64, 255 ff. Vgl. etwa Mezger, Traeger-Festschrift, S. 228; Sauer, Grundlagen, S.134. 11 Mit Recht wendet sich Warda, Dogmatische Grundlagen, S. 7 ff., gegen diesen "rechtsdogmatisch-prozeßrechtlichen Aspekt" des Ermessens als ausschließlichen Gesichtspunkt. Zu einer inhaltlichen Bestimmung des Ermessens vgl. Ehmke, S. 35 ff. 12 Das ist häufig, aber nicht immer richtig, wie sich noch zeigen wird. 9

10

16

Einleitung

Begriffen13, aber diese Umschreibungen sagen letztlich nur, daß es auf Gradbildungen ankommt, und nicht, wie man damit arbeiten kann. Anders verhält es sich schon mit dem bekannten Wort von Philipp Heck, daß unbestimmte Rechtsbegriffe einen festen "Begriffskern" in einem unbestimmten "Begriffshof" enthalten14 • Dieser Gedanke gibt auch für die Arbeit mit quantitativen Begriffen eine Faustregel, mit der man immerhin viele Fälle dem Anwendungsbereich eines quantitativen Begriffes zuordnen kann, auch hier freilich nach gefühlsmäßiger Schätzung. Es lassen sich daher nur grobe Unterscheidungen treffen. Außer der Formel Philipp Hecks sind Regeln, nach denen quantitative Begriffe angewandt werden können, für die Zwecke des Strafrechts nicht erarbeitet worden. Nicht hinreichend geklärt sind auch die Unterschiede und Zusammenhänge, die zwischen quantitativer und qualitativer Begriffsbildung bestehen. Diese Arbeit will versuchen, zur methodischen Klärung der quantitativen Begriffe beizutragen. Dabei soll gezeigt werden, daß der quantitative Begriff in gewissen Grenzen präzisiert werden kann; ferner läßt sich begründen, wann dies nicht möglich ist und warum. Ein Beispiel, an dem sich diese Fragen darstellen lassen, ist der Begriff der Geringfügigkeit; vor allem, weil er nur eine einzige Gradstufe bezeichnet und damit eine gewisse Inhaltlichkeit gewinnt, an der sich die allgemeinen Probleme des Quantitativen besonders gut erläutern lassen, sodann aber, weil das vielfältige Anwendungsgebiet der quantitativen Begriffe eine thematische Begrenzung erforderlich macht. Aus der thematischen Begrenzung aber ergibt sich auf der anderen Seite die Möglichkeit, die Besonderheit des Quantitativen am Problem der Bagatelldelikte als einem Problem der Rechtswirklichkeit nachzuweisen. Damit gewinnt der Begriff der Geringfügigkeit mehr als nur exemplifizierende Bedeutung. Das Problem einer besonderen Behandlung der leichten Straftaten gilt als eines der wichtigsten der Kriminalpolitik und wird vor allem mit der Forderung nach einer Begrenzung des Strafrechts verbunden, das nur erhebliche, sozial unerträgliche Handlungen treffen dürfe. Unter diesem kriminalpolitischen Blickwinkel wird das Bagatelldelikt schon seit langer Zeit erörtert. Schon 13 Vgl. etwa Sauer, Grundlagen, S.314, über die Abgrenzung von Kriminal- und Polizeidelikt: "Es ist nicht etwa eine neutrale Zone dazwischen gelegen, das Feld gehört vielmehr dem Kriminalrecht an, aber man atmet doch schon die Luft, die von dem Nachbargebiet herüberweht. Das will besagen: die Schwere des Unrechts ist auf ein Mindestmaß herabgesetzt." Und Richard Lange, Gutachten, S. 83, spricht bei den Beispielsfällen, die das Gesetz für besonders schwere Fälle als "Wertgruppen" bilden soll, von einer "Zone plastischer Substanz", die "zwischen der festen Substanz geschlossener Tatbestände und dem flüssigen Element der richterlichen Strafzumessung aus der unendlichen Fülle der Umstände heraus" liegt. 14 Heck, S.52 und 60.

Einleitung

17

Binding lehrt, die Nichtbeachtung des Grundsatzes "nuruma non curat praetor" vermöge "des Staates Ansehen zu schädigen, die Strafe zu diskreditieren und das Volk zu erbittern"15, und mit ihm warnt Reinhard Frank vor einer "Überspannung der staatlichen Strafgewalt", besonders bei den Übertretungen16 . In der Gegenwart ist aus diesem Problem ein wichtiges Anliegen der Strafrechtsreform geworden, welches durch das immer mehr anwachsende Nebenstrafrecht, aber auch im Hinblick auf viele Tatbestände des Strafgesetzbuches, denen im Wege der Auslegung unbedeutende Fälle zugeordnet werden, sein besonderes Gewicht erhält. Mit Recht hat HeHmuth Mayer immer wieder betont, "daß die erste Aufgabe der Strafrechtsreform in einer quantitativen Einschränkung des Strafrechts besteht"17. Dieses Reformziel wurde jedoch abgesteckt und im Recht der Ordnungswidrigkeiten auch teilweise verwirklicht, ohne daß Einigkeit über den Gegenstand der Reform bestünde. Nach überwiegender Ansicht sollen die übertretungen zu Ordnungswidrigkeiten werden, aber der Begriff der Ordnungswidrigkeit ist nach wie vor umstritten. Es ist außerdem fraglich, ob alle Übertretungen Ordnungswidrigkeiten werden können. Schließlich überlegt man, wie mit leichten Vergehen zu verfahren ist, ob Ordnungswidrigkeiten in den inneren Kreis des Strafrechts aufgenommen werden sollen usw. Die beiden wichtigsten methodischen Probleme einer Reform des Bagatellstrafrechts zeichnen sich allerdings deutlich ab: Es ist einmal das Verhältnis der OrdIl/Ungswidrigkeiten und zum anderen das Verhältnis der leichten Vergehen zum Bagatellstrafrecht zu klären. Die Frage, nach welchen Gesichtspunkten eine Grenzlinie gezogen werden kann, hat bisher fast nur die Lehre von den Ordnungswidrigkeiten zu beantworten versucht. Diese Lehre hat jedoch das Problem ins Qualitative verlagert und die vom kriminalpolitischen Ziel vorgegebene Aufgabe einer Unterscheidung von leichtem und schwerem Delikt sehr verundeutlicht. Das Programm einer Reform des Bagatellstrafrechts leidet also ebenfalls an der mangelnden Bewältigung der quantitativen Begriffe. Die Arbeit versucht daher, dem Begriff des leichten Deliktes einen bestimmteren Inhalt zu geben. Dieses Ziel wird am besten erreicht, wenn die Probleme am geltenden Bagatellstrafrecht und Ordnungswidrigkeitenrecht entwickelt werden. Auf Reformpläne wird nur insofern eingegangen, als sie bereits festere Gestalt angenommen haben, vor allem im Entwurf eines Strafgesetzbuches von 1962. Der Aufbau der Arbeit bestimmt sich nach folgenden Gesichtspunkten: Bei der Erläuterung der quantitativen Begriffsbildung bedienen wir uns der Geringfügigkeit als Beispiel; und umgekehrt ver15 Binding, Abhandlungen, Bd.2, S.185; vgl. auch Normen, Bd.4, S. 307 f. 16 17

Frank, ZStW 18, 733 ff. Zuletzt: Strafrechtsreform, S.48; vgl. vor allem Lehrbuch (1936), S. 53 ff.

2 Krümpelmann

18

Einleitung

langt das Problem einer besonderen Behandlung der Bagatelldelikte eine Klärung der quantitativen Vorfrage. Dementsprechend gliedert sich die Arbeit in zwei Teile. Im ersten Teil wird versucht, die methodischen und systematischen Probleme der quantitativen Betrachtungsweise im Strafrecht am Beispiel der begrifflichen Bestimmung des Bagatelldeliktes zu erläutern, im zweiten Teil sollen die gewonnenen Ergebnisse für die Frage der Behandlung der Bagatelldelikte fruchtbar gemacht werden. Im einzelnen ist der erste Teil folgendermaßen gegliedert: In einem einleitenden Kapitel wird die Entwicklung der quantitativen Betrachtungsweise der Straftat zu einem Problem der Verbrechenssystematik skizziert. Dabei geht es nur um den Nachweis von Zusammenhängen; eine dogmengeschichtliche Untersuchung würde den Rahmen dieser Arbeit überschreiten. Daran schließt sich eine schematische Einteilung der leichten Delikte für die Zwecke der Darstellung. Die Grundlage der weiteren Darstellung bildet eine Analyse der quantitativen Begriffe im Hinblick auf ihre Funktion im Strafrecht (Kapitel 2). Es handelt sich um den Versuch, den quantitativen Begriff aus seiner Relationsstruktur verständlich Z!U machen, den Begriff der Geringfügigkeit aus dem Schwereverhältnis der strafrechtlichen Tatbestände ,abzuleiten und die Kategorie der Übertretung als Maßstab der Geringfügigkeit im Strafrecht zu verankern. Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit den verschiedenen Gesichtspunkten, unter denen eine Straftat als geringfügig erscheinen kann. Wegen des Problems der leicht fahrlässigen, folgenschweren Delikte und verwandter Fallgestaltun gen ist es erforderlich, die Bedeutung von Handlung und Erfolg für den Unrechtsgehalt der Tat zu klären, denn wenn die Systematik am Erfolge anknüpft, kann die quantitative Bestimmung des Falles zu ganz anderen Ergebnissen führen,als wenn die Handlung Ausgangspunkt der Betrachtung ist. Die verschiedenen Lehrmeinungen machen hier eine ausführliche Stellungnahme unerläßlich; im übrigen wurde versucht, die Arbeit von dogmatischen Streitfragen soweit wie möglich zu entlasten. Das nächste Kapitel behandelt die Maßstäbe, die im Gesetz und in der Verkehrs anschauung für den Umfang der Geringfügigkeit zu finden sind (Kapitel 4). Den Abschluß des ersten Teils bildet die Untersuchung der Frage, ob sich das Strafrecht nach quantitativen Kriterien begrenzen läßt (Kapitel 5). - Das erste Kapitel des zweiten 'reils ist dem Verhältnis von Ordnungswidrigkeiten und Übertretungen gewidmet, wobei es besonders um die Frage einer quantitativen oder qualitativen Unterscheidung im Unrecht geht18 • Im zweiten Kapitel werden zunächst die Strafen und Rechtsfolgen behandelt, die das gel18 Das Ordnungswidrigkeitenrecht ist neuerdings ausführlich dogmengeschichtlich, rechtsvergleichend und systematisch von Mattes behandelt worden (Untersuchungen zur Lehre von den Ordnungswidrigkeiten, 1966). Diese

Einleitung

19

tende Recht beli. Bagatellvergehen vorschreibt oder zuläßt, insbesondere die Vorschriften, bei denen von Strafe ganz abgesehen werden kann. Der Schwerpunkt des Kapitels liegt bei der Darstellung von § 153 StPO über die Einstellung des Verfahrens wegen Geringfügigkeit, einer Vorschrift, bei der eigentlich alle Fragen der quantitativen Betrachtungsweise zusammentreffen. Zum Schluß werden die Regelungen verglichen, welche für die übertretungen und Ordnungswidrigkeiten auf der einen, für die Bagatellvergehen auf der anderen Seite bestehen. Eine erschöpfende Literaturübersicht wurde nicht angestrebt. Es ist eine bezeichnende Eigenart des Themas, daß über das Quantitative die meisten Autoren einmal Ausführungen machen, jedoch verspricht es keinen Gewinn, diese meistens nur beiläufigen Äußerungen zusammenzustellen. Die Versuche, das Quantitative im Strafrecht methodisch zu erörtern, sind nach Möglichkeit berücksichtigt worden.

Arbeit erlaubt es, die an sich "rahmensprengende" Problematik des Ordnungswidrigkeitenrechts hier verhältnismäßig kurz zu behandeln. Die Fragen der quantitativen Begriffsbildung lassen sich dabei besonders deutlich zeigen.

Erster Teil

Die Bagatelldelikte im Strafrechtssystem Erstes Kapitel

Vorfragen: Die Entwicklung der quantitativen Betrachtungsweise im Strafrecht. Einteilung der leichten Delikte I. Das Verbrechen als Steigerungsbegriff Bezeichnen wir eine Straftat als "geringfügig", so sehen wir von der Art und Weise der Tat ab und betrachten sie nach ihrem Tatgewicht. Um denselben Vorgang handelt es sich, wenn wir nach dem "erheblichen" oder dem "schweren" Delikt fragen. Wir bezeichnen diese Betrachtungsweise als "quantitativ" und stellen sie der Betrachtungsweise nach der Art und Weise des Deliktes als der "qualitativen" Betrachtungsweise gegenüber. Die Frage, welche Stellung die ger in g füg i gen Delikte im Strafrechtssystem einnehmen, läßt sich nur stellen, wenn wir uns zuvor darüber klar werden, in welchem Umfang das Strafrecht die quantitative Betrachtungsweise zuläßt. An zwei verschiedenen Stellen hat sich unabhängig voneinander die quantitative Betrachtungsweise im Strafrecht entwickelt: Einmal bei der Lehre vom Strafmaß - es geht um die Frage, ob die Strafe der Tat proportional sein müsse -, zum anderen bei der Lehre von der Rechtswidrigkeit - es handelt sich um die vor allem von Eduard Ker,t begründete Lehre von den Graden der Rechtswidrigkeit oder des Unrechts. 1. Die Proportionalität von Verbremen und Strafe

Bereits die Entstehung der Lehre von der Proportionalität von Verbrechen und Strafe zeigt uns wichtige Besonderheiten der quantitativen Betrachtungsweise. Die Forderung, daß die Strafschwere der Tatschwere entsprechen müsse, gehört zur Programmatik der Aufklärungszeit und

22

1. Teil:

Kap. 1: Vorfragen

wurde von fast allen Vertretern der Epoche erhoben1 • Sie richtete sich zunächst gegen ein überaltertes, als inhuman empfundenes Strafensystem und verband sich mit der Forderung nach strenger Bindung des Richters an die Gesetze. Ihren ersten Niederschlag in der Rechtswirklichkeit fanden diese Thesen im französischen Code penal vom 25. 9./ 6. 10. 1791 2 • Dieses Gesetz hat vor allem durch die hier zuerst vorgenommene Dreiteilung der strafbaren Handlungen in die Zukunft gewirkt; die Dreiteilung entspricht unseren Verbrechen, Vergehen und übertretungen. Es weist aber außerdem andere Besonderheiten auf, die es von seinen französischen und europäischen Vorgängern scharf unterscheiden und die gerade in ihrer überspitzung die Strukturprobleme der quantitativen Begriffsbildung deutlich machen. Das Gesetz hat erstmals einen nach der Schwere geordneten Strafenkatalog3 • Die einzelnen Straftaten sind mit einer nach Art und Dauer abschließend bestimmten Strafe bedroht4 ; diese Strafe wird gleichsam die Ordnungszüfer, welche die einzelne Straftat in ihrer quantitativen Stellung gegenüber den anderen Straftaten bezeichnet. Auch die tatbestandlichen Abwandlungen der Grunddelikte werden durchweg durch feste Strafziffern qualifiziert und privilegiert. Eine freie Strafmilderung oder Strafschärfung

1 In Frankreich durch Montesquieu und Voltaire, in Italien durch Beccaria, dessen Hauptwerk in der übersetzung von Hommel auch in Deutschland sofort weite Verbreitung fand, in Österreich durch Sonnenfels und in Preußen durch FriedTich lI., vgl. dazu Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspfiege, §§ 207-212; v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Bd.l, S. 262 ff.; Fuchs, Die strafrechtlichen Anschauungen Montesquieus und Friedrichs des Großen, bes. S. 20 ff. und 34 ff.; neuerdings Würtenberger, Erinnerungsgabe für Grünhut, S. 206 ff. 2 Abgedruckt und kommentiert bei Carette-Devilleneuve, S. 163 ff., wo auf die besondere Bedeutung der Proportionalitätsforderung beim Zustandekommen des Gesetzes hingewiesen ist (S.163 Anm.3). Das Nachfolgegesetz vom 25.10.1795 (Carette-Devilleneuve, S. 362 ff.) ist in den hier interessierenden Strukturen unverändert geblieben. Vgl. auch Eb. Schmidt, a.a.O., § 246. 3 Auch bei den Strafen älterer Gesetze lassen sich die einzelnen Strafen natürlich nach der Schwere unterscheiden, doch kommt es dem Gesetzgeber darauf nicht an. Ob z. B. nach der Carolina der Giftmischer gerädert (Art. 137 CCC), der Brandstifter verbrannt wird (Art. 125 CCC), ist hinsichtlich der Schwere der Strafen kaum unterscheidbar. Der konstruktive Gedanke liegt beim zweiten Fall in der Spiegelung der Tat durch die Strafe: "Wer mit dem Feuer gesündigt hat ... , soll durch das Feuer sterben" (vgl. Radbruch, Einführung in die Carolina, Ausgabe Reclam 1960, S. 10). Die Strafen des Code penal von 1791 sind: Todesstrafe, Legen in Ketten, Zuchthaus, Galeerenstrafe, Festung, Deportation, Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte, Arrest (tit. I, art. 1). 4 So wird z. B. der Raub mit Kettenstrafe von zehn Jahren, der Straßenraub mit Kettenstrafe von vierzehn Jahren (tit. II, section II, art. 1, 2), die Notzucht (tit. II, section I, art. 29) mit sechs Jahren Kettenstrafe bestraft.

I. Verbrechen als Steigerungsbegriff

23

ist nicht zugelassen. Diese "Strafmathematik" , deren Mängel im Hin-

blick auf die gerechte Behandlung des Einzelfalles freilich offensichtlich sind5, zeigt eines sehr deutlich: Man versucht die Proportionalität von Verbrechen und Strafe dadurch herzustellen, daß man die Delikte untereinander in ein quantitatives Verhältnis bringt. Der auf diese Weise ermittelte Schweregrad, der im Grunde nur ein Verhältnis zu anderen Delikten angibt, wird wie eine dem Delikt selbst anhaftende Eigenschaft behandelt, an welche die Strafe geknüpft wird. Das eigentliche Problem, die proportionale Verbindung zwischen Verbrechen und Strafe, ist auf Schätzungen nach dem Gerechtigkeitsgefühlangewiesen und damit aller Ungenauigkeit und allen Wandlungen ausgesetzt, die sich einstellen, wenn ein derart allgemeiner Maßstab aufgestellt wird6 •. So mag auch das Strafensystem des Code penal von 1'491, das uns heute den Eindruck "antiker Strenge" erweckt7 , dem damaligen Konservativen als übertriebene Milde erschienen seinS. Die Proportionalität von Verbrechen und Strafe muß zwar durch ein quantitatives Urteil gebildet werden, aber für dieses Urteil gibt es außer dem Gerechtigkeitsempfin·· den keinerlei Anhaltspunkte für die Präzisierung. Dieser Sachverhalt ist bis heute unverändert 9 • Er ist die notwendige Folge des Verhältnisses von Tatbestand und Rechtsfolge im Strafrecht: Verbrechen und Strafe sind heterogen. Den Diebstahl verbindet nach Art und Weise nichts mit der Freiheitsstrafe, die dafür verhängt wird. Erst der quantitativen Betrachtungsweise, sowohl des Deliktes als auch des Strafübels, zeigt sich das Gemeinsame, das es erlaubt, Tatbestand und Rechtsfolge miteinander zu verbinden. Treffend bemerkt dazu GaHas: Es soll "eine Quantität bestimmter Qualität (Strafübel) gefunden werden, die einer

5 Die Mängel wurden auch bald erkannt und bereits bei der Besprechung des Code penal von 1795 beanstandet (vgl. Carette-Devilleneuve, S. 362 Anm.2). 6 Zutreffend Gallas, Kriminalpolitik, S. 12 f. 7 Vgl. Eb. Schmidt, a.a.O., § 246. S Im Nachfolgegesetz von 1795 wurden die Strafen wieder erheblich verschärft. 9 Ein neuer Tatbestand .kann zwar in das bestehende System quantitativ eingeordnet, d. h. seine Stellung zu den anderen Delikten einigermaßen genau bestimmt werden (vgl. dazu das nächste Kapitel). Daß damit aber über die Angemessenheit von Tat und Strafe nichts gesagt ist, zeigt sich an der heute wieder so lebhaften Grundsatzdiskussion über die Berechtigung einzelner Strafarten (Todesstrafe, Zuchthausstrafe). Vgl. die Diskussion in der Großen Strafrechtskommission, Niederschriften, Bd. 1, S. 89 ff. und Bd. 11 (Beratungen zur Todesstrafe). Vgl. zu diesen Fragen die grundlegenden Ausführungen von v. Weber, Strafzumessung, S.15 f.; ferner Middendorf, S.188f.

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1. Teil: Kap. 1: Vorfragen

bestimmten Quantität anderer Qualität (Verbrechen) verhältnismäßig entspricht"lo. Der Gedanke der Proportionalität von Verbrechen und Strafe hat inhaltlich starke Beziehungen zu einer repressiven Straftheorie11 . Wenn die Strafe Tatvergeltung ist, kann die Wiederherstellung der durch das Verbrechen gestörten Rechtsordnung nur erreicht werden, wenn das Strafübel nicht schwerer, aber auch nicht leichter ist als das Tatübel12 • Vor allem im Rahmen und in den einzelnen Abwandlungen der Repressionstheorie ist der Gedanke der Proportionalität von Verbrechen und Strafe bis heute wirksam geblieben. Wegen der qualitativen Verschiedenheit von Verbrechen und Strafe hat man die Möglichkeit ihrer proportionalen Verbindung häufig bestritten13 • In den relativen Straftheorien wurde versucht, die Beziehung Tatbestand-Rechtsfolge mehr vom 'Qualitativen her zu entwickeln. Bei den generalpräventiven Theorien kommt es freilich auf die quantitative Betrachtungsweise immer noch an, da die Frage, welche Strafe den künftigen Verbrecher von einer bestimmten Tat abschreckt, auch eine quantitative Beurteilung dieser Tat erforderlich macht. Das Strafübel braucht jedoch zur Tat nicht mehr im genauen Verhältnis zu stehen. Die Strafe muß im Gegenteil härter ausfallen, damit sie abschreckend wirkt14 • Bei den spezialpräventiven Theorien ist die quantitative Betrachtung der Tatseite praktisch ausgeschaltet. Die Dauer der Strafe hängt ab von der Frage, wie weit der Täter erziehungsbedürftig, die Gesellschaft sicherungsbedürftig ist, und richtet 10 Gallas, Kriminalpolitik, S. 12. Unzutreffend der Einwand Spendels, Strafmaß, S.185 Anm.3, der Begriff des Strafübels dürfe nicht der "Qualität" zugeordnet werden, da die Strafe ein übels qua n t u m bleibe. Wie wir noch sehen werden, verwendet Spendel die Bezeichnungen "Qualität" und "Quantität" in einem engeren Sinne, der im Strafrecht in einem erweiterten Wort gebrauch aufge!;angen ist, unten S.38, Anm.1. 11 Allerdings zeigt sich diese Zusammengehörigkeit erst später. Montesquieu und besonders Sonnenfels und Beccaria betonen vor allem eine generalpräventive Funktion der Strafe; sogar der Gedanke der spiegelnden Strafen wird noch nicht ganz verbannt. Vgl. Eb. Schmidt, a.a.O., §§ 207, 209, 212; v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Bd.l, S. 268 f.; Würtenberger, Erinnerungsgabe für Grünhut, S. 208. 12 Treffend weist Welzel, Lehrbuch, S.219, darauf hin, daß die absolute Theorie zugleich mit ihrer Rechtfertigung auch ihr Maßprinzip angebe. 13 Vor allem v. Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, Aufsätze, Bd.l, S. 151 ff. Heute vor allem Eb. Schmidt, Gutachten Strafzweck, S. 14 f. Vgl. dazu den Widerlegungsversuch von Spendel, a.a.O., S. 110 ff. Zur Auswirkung der einzelnen Straftheorien auf den Proportionalitätsgrundsatz vgl. Gallas, Kriminalpolitik, S. 4 ff.; Wetzel, Lehrbuch, S. 218 ff. 14 Vgl. Gallas, a.a.O., S. 31 ff.; Welzet, a.a.O., S.220; dazu auch Mezger, Lehrbuch, S. 504.

I. Verbrechen als Steigerungsbegriff

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sich vor allem nach dem Charakter des Täters; die Tat ist nur noch Anknüpfungspunkt der Strafe, nicht mehr Beziehungspunkt ihres Ausmaßes15• Die Gegenwart steht im Zeichen der Vereinigung der Strafzwecke16 • Auch Rechtslehrer, die mehr einer der relativen Straftheorien zuneigen, versuchen mindestens Richtlinien für die Strafzumessung aus dem Gedanken der Schwere der Tat zu gewinnen17 • Nach der wohl überwiegenden Auffassung ist die Tat immer noch der wichtigste Beziehungspunkt für das Ausmaß der Strafe18 • Mezger leitet seine Strafzumessungslehre aus der Feststellung ab, daß "der Rechtsbegriff des Verbrechens ein Steigerungsbegriff" sei1 9 • Das Unrecht ist nach Mezger Interessenverletzung, die verschieden schwer sein kann. In welchem Maße die Interessen schutzwürdig sind, zeigen die einzelnen Tatbestände, -aber auch innerhalb des einzelnen Tatbestandes ist die Interessenverletzung z. B. nach der Schwere der Gesundheitsbeschädigung (§ 223 StGB) , dem Wert der gestohlenen Sache (§ 242 StGB) usw. abstufbar. Außerdem können rechtlich anerkannte Gegeninteressen, wenn sie das Unrecht nicht ausschließen, das Maß des Unrechts mindern. Di.e Schuld des Täters richtet sich einmal nach dem Grad des Unrechts, gleichzeitig wird das Unrecht von der Schuld begrenzt. Grade der Schuld können entstehen, wenn Gründe, die "in ihren höheren Graden die Schuld ausschließen, in ihren geringeren Graden auch innerhalb bestehender Schuld auf deren Umfang entscheidenden Einfluß ausüben"20. Allerdings hat sich das Problem der Beziehung zwischen Strafe und Tat durch die Vereinigung der ,absoluten Theorien mit den relativen Theorien methodisch gesehen sehr kompliziert. Eine Lösung scheint die Vgl. Gallas, a.a.O., S. 17 f., 22; Welzel, a.a.O., S.221. Vgl. u. a. Dreher, über die gerechte Strafe, bes. S. 127 ff.; v. Weber, Strafzumessung, S. 7 ff; Jagusch im Leipziger Kommentar, Anm. A II vor § 13; sowie die Grundsatzdebatten der Großen Strafrechtskommission, Niederschriften, Bd. 1, S. 35 ff. Eine absolute Theorie vertritt dagegen H. Mayer, Lehrbuch (1953), S. 32 ff., eine vorwiegend spezialpräventive Theorie Eb. Schmidt, vgl. u. a. Gutachten Strafzweck, S. 9 ff. 17 Vgl. etwa Heinitz, ZStW 65, 26 ff.; Noll, Die ethische Begründung der Strafe, S. 22. 18 Vgl. die Nachweise bei Schönke-Schröder, Anm. IX 2 (RdNr. 51) vor § 13. 19 Mezger, Lehrbuch, S.499. Radbruch, Klassenbegriffe, S.51, verneint die Abstufbarkeit des Begriffes "Verbrechen". Aber aus diesem Begriff kann ein abstufbarer Begriff herauswachsen, wenn einzelne Merkmale, welche die Verbrechensqualität begründen, abstufbar sind (Engisch, Konkretisierung, S.288 Anm. 195). 20 Mezger, Lehrbuch, S.500; vgl. auch Mezger, ZStW 47, 485 f. In ähnlichem Sinne Sauer, Allgemeine Strafrechtslehre, S. 254 ff.; Zimmerl, Aufbau des Strafrechtssystems, S. 65 f. 15

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1. Teil: Kap. 1: Vorfragen

heute herrschende sog. "Spielraumtheorie"21 anzubieten: Gewisse Grenzen des Strafmaßes können nicht überschritten werden, ohne daß die Strafe - verstanden als Tatvergeltung - evident ungerecht wird. Diese Grenzen sind jedoch durch einen Spielraum getrennt, der nicht weiter präzisiert werden kann. In diesem Bereich nun sollen die verschiedenen Strafzwecke berücksichtigt werden können. Die Gegenmeinung stellt sich 'auf den Standpunkt, daß die Strafzwecke mehrdimensional -sind und untereinander und mit dem Prinzip der Tatvergeltung notwendig kollidieren müssen22 . Nach dem Entwurf von 1962 soll das Maß der Schuld aus general- oder spezialpräventiven Er-

21 Grundlegend Berner, Archiv für Criminalrecht 1845, 169; v. Hippet, Deutsches Strafrecht, Bd. I, S. 502 ff.; neuerdings vor allem Spendet, Strafmaß, S. 160 ff.; vgl. auch NJW 1964, 1765. Der Bundesgerichtshof hat sich dieser Theorie angeschlossen, vgl. BGHSt 7, 28 (32), 86 (89); weitere Nachweise bei Schönke-Schröder, Anm. IX von § 13. Kritisch dazu Jescheck, GA 1956, 109; Schneidewin, JZ 1955, 506 ff.; Eb. Schmidt, ZStW 69, 373. 22 Dreher, ZStW 65, 486; Heinitz, ZStW 65, 26 ff.; Jagusch im Leipziger Kommentar, Anm. BI 3 vor § 13; vgl. auch Eb. Schmidt, Gutachten Strafzweck, S. 10; Warda, Dogmatische Grundlagen, S.181 Anm. 18a. - Die Spielraumtheorie hat auf den ersten Blick etwas sehr Praktikables und scheint überdies die Theorie von der Vereinigung der Strafaspekte auf eine sichere methodische Grundlage zu stellen. Trotzdem dürfte auch sie nur auf eine Scheinlösung hinauslaufen. Einmal kann sich ein sicheres Gefühl für die Grenzen, von denen an die Strafe ungerecht wird, nur dann bilden, wenn man sich immer um die größtmögliche Annäherung an die ein e gerechte Strafe bemüht. Und die Vereinigung der Strafaspekte erscheint anfechtbar: Im Regelfall wird man freilich die Auswahl der Gefängnisstrafe oder der Geldstrafe bei einem leichteren Betrugsfall unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit nicht beanstanden, insbesondere nicht kontrollieren können. Will man also spezialpräventiven Erwägungen Raum geben und die Geldstrafe wählen, um die kurzfristige Freiheitsstrafe zu vermeiden, dann scheint das mit dem Gedanken der Tatvergeltung durchaus vereinbar. Die Sachlage ändert sich aber, wenn der Betrug von zwei Mittätern mit gleichen Tatbeiträgen ausgeführt wurde und für den zweiten Täter eine kurze Freiheitsstrafe als Denkzettel angebracht wäre. Unterschiedliche Strafen wären dann aber unter spezialpräventivem Aspekt richtig, verstießen aber evident gegen das Prinzip der Tatvergeltung, nach dem beide Täter gleich behandelt werden müßten. Die Vereinigung der Strafaspekte fällt also wieder auseinander, wenn bei der konkreten Strafbemessung ausnahmsweise eine Relation sichtbar wird. Im Ergebnis löst demnach die Spielraumtheorie weder das Problem der Vereinigung der Strafaspekte noch das Problem der Bestimmung der Schwere der Tat, sondern sie verbindet zwei ungelöste Probleme und gewinnt die Lösung des einen (die Vereinigung der Strafaspekte) aus der Unlösbarkeit des anderen (der quantitativen Bestimmung der Tat). Kann aber die quantitative Bestimmung ausnahmsweise doch näher präzisiert werden, geraten die verschiedenen Strafaspekte in Kollision. - Zur Bildung von Relationen als der methodischen Voraussetzung einer präzisen Bestimmung der Tatschwere ausführlich im nächsten Kapitel.

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wägungen auch über- und unterschritten werden können23 . Zwar soll die Schuld die Grundlage der Strafzumessung bleiben, ,aber eine begrenzende Funktion wird ihr nicht mehr zugebilligt, man kann nur von einer besonderen Akzentuierung der Schuldkomponente sprechen. Es kommt dann auch nicht mehr all ein auf die quantitative Betrachtungsweise an. In diesem Zusammenhang brauchen wir dieses besondere Problem der Strafzumessung nicht näher zu untersuchen, denn der Gedanke der Strafe als Tatäquivalent hat sich vor allem im System der Strafdrohungen ausgewirkt. Durch besondere Strafarten, die im Verhältnis untereinander als schwerere und leichtere unterschieden werden müssen24, sowie durch gesetzliche Unter- und Obergrenzen der Strafe bei den einzelnen Delikten werden die einzelnen Verbrechensartenauch in ein quantitatives Verhältnis zueinander gebracht, das sich aus dem quantitativen Verhältnis des in den einzelnen Tatbeständen beschriebenen Unrechts ergibt25 . Dieses gesetzliche System der Strafdrohungen läßt sich nur bei einer Betrachtung des strafrechtlichen Unrechts nach dem Tatgewicht zutreffend erklären. 2. Die Lehre von den Graden des Unrechts

In der Lehre von der Strafzumessung wird die Stellung, welche die Unrechtsquantitäten im Verbrechensaufbau einnehmen, nicht erörtert. Als erster hat wohl Kern die Problematik eines abstufbaren Unrechtsbegriffes in der herkömmlichen Dogmatik der Rechtswidrigkeit deutlich herausgestellt26 . Für die ältere Dogmatik ist allerdings ein abstufbarer Unrechtsbegriff undenkbar. "Widerrechtlich" ist, was "wider das Recht", "rechtmäßig", was "dem Rechte gemäß" ist. Das "Tautologische"27 dieser Formeln wird bewußt in Kauf genommen und sogar zugespitzt, damit desto deutlicher sichtbar wird, daß das positive Recht für die Frage nach Recht und Unrecht eine notwendige Voraussetzung bildet28 • Das Wesen der Rechtswidrigkeit liegt im Verstoß gegen das gesetzliche Verbot oder Gebot. Ein derartiger Verstoß ist -aber bei der leichtesten wie der schwersten Verfehlung gegeben. Es ist treffend dar23 Vgl. Einleitung B I (S.96) zur Begründung des Entwurfs von 1962. Diesen Standpunkt betont vor allem Heinitz, a.a.O. 24 So schon Berner, Archiv für Criminalrecht 1845, 16B Anm.3. 25 Vgl. ausführlich unten S. 51 ff. 26 Kern, ZStW 64, 255 ff., vgl. aber auch Nowakowski, SchwZStR 1950, 304: "Wenn die Steigerungsfähigkeit des Unrechts in der Regel lediglich in der Strafzumessungslehre betrachtet wird, ist das systematisch... verfehlt ... Das Problem gehört in die Lehre von der Rechtswidrigkeit." Ähnlich bereits Zimmerl, Lehre vom Tatbestand, S. 10 Anm. 3. 27 Vgl. Noll, übergesetzliche Rechtfertigungsgründe, S.IB. 28 Vgl. die Polemik Bindings, Normen, Bd.2, S. 155 f., gegen die Lehre Graf Dohnas von der materiellen Rechtswidrigkeit.

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auf hingewiesen worden, daß die Rechtswidrigkeit in diesem Sinne eine reine Relation, ein Mißverhältnis zwischen zwei Beziehungsgliedern ist29 • Sie läßt keine quantitative, sondern nur eine alternative Betrachtungsweise zu. Natürlich wurden Abstufungen im Bereich des Verbrechens der Sache nach nicht bestritten, denn die Tatsache der Gradbildung zeigt sich allein schon an dem unterschiedlichen Gewicht der rechtlichen Sanktionen, insbesondere der Staffelung der Strafdrohungen. Dennoch aber wäre es nicht zutreffend, wenn man allein aus dem Sanktionensystemauf das Unrecht als .abstufbaren Begriff schließen wollte. Auch beim "verbotenen", "streng verbotenen", "bei Strafe" und "bei schwerer Strafe verbotenen" Verhalten 30 kommt es für die Rechtswidrigkeit als Verhältnis zwischen der Tat und den Normen der Rechtsordnung nur auf die übertretung des Verbotes an, und das Verbot "gilt" bei der leichten Verfehlung ebenso wie bei der schweren31 • Beschränkt man die Betrachtung in dieser Weise, dann liegt die Gradbildungaußerhalb des Unrechtsbegriffes, sie hängt mit dem Zustandekommen des Verbotes, mit dem Ermessen des Gesetzgebers beim Erlaß und der Ausgestaltung des Gesetzes zusammen. Bestimmte Güter sind dem Gesetzgeber wichtiger als andere; er schützt sie also wirksamer, indem er ihre Verletzung empfindlicher ahndet. Der Güterschutz ist jedoch nur Gesetzesmotiv, nicht das Gesetz selbst, und nur von diesem her bestimmt sich der Unrechtsbegriff 32 • Vom Ermessen des Gesetzgebers führt eine direkte Verbindung zur quantitativen Betrachtung der Tat bei der Strafzumessung, die im Ermessen des Strafrichters liegt 33• Ganz allgemein ist bei diesem Stand der Lehre die quantitative Bestimmung der Tat nicht Rechtsfrage, sondern Ermessensfrage. Der Trennung der quantitativen Bestimmung von der Ermessensproblematik wurde erst durch die Lehre von der materiellen Rechtswidrigkeit der Boden bereitet. Man erkannte, daß sich zwischen Gesetz und Gesetzeszweck nicht unterscheiden läßt, denn das Gesetz steht nicht nur um seiner selbst willen da, sondern es soll Werte schützen und drückt daher Bewertungen aus 34 • Das Wesen des Unrechts liegt in der Verletzung dieser Werte: "Rechtswidrig in diesem Sinne ist nicht etwa, was (und weil es) verboten ist; sondern umgekehrt muß behauptet werden, daß von der Rechtsordnung verboten werde, was (und weil es) 291

Welzel, Lehrbuch, S.46.

Kern, ZStW 64, 263. Vgl. auch Krauß, ZStW 76, 56 Anm.58; Lenckner, S.33. 32 Vgl. bes. Nagler, Rechtswidrigkeit, S.349, welcher der Lehre von der materiellen Rechtswidrigkeit eine "Vertauschung des Motivierten mit dem Motivierenden" vorwirft. 33 Vgl. etwa Berner, Lehrbuch, S. 276 f. 34 Vgl. dazu unten Kap. 3 II 2 c. 30

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rechtswidrig erfunden worden 35 ." Die Gründe, auf denen diese "materielle" Rechtswidrigkeit beruht, ließen sich zwar nur in sehr weiten und -allgemeinen Formeln ausdrücken: Das Recht dient dem Rechtsgüter- oder Interessenschutz, Rechtsverletzung ist "sozialschädliche Handlung"36. Diese Formeln konkretisieren sich aber im einzelnen Tatbestand37 ; das Schutzobjekt des jeweiligen Tatbestandes wird vom Gesetzesmotiv zum Gesetzesinhalt. Es wurde bald erkannt, daß mit dieser Auffassung vom Wesen der Rechtswidrigkeit kein Dualismus begründet, nicht die "materielle" gegen die "formelle" Rechtswidrigkeit ausgespielt werden durfte 38 . Formelle und materielle Rechtswidrigkeit bleiben aufeinander bezogen. Einerseits ist die Norm nur dann echtes Rechtsgebot, wenn sie bestimmten Schutzzwecken dient, andererseits werden die Lebensgüter erst durch den Rechtsschutz zu Rechtsgütern. Auch die Vertreter der Lehre von der formellen Rechtswidrigkeit hatten nicht bestritten, daß die Rechtsgüterverletzung ein abstufbarer Begriff ist. Wenn die Rechtsgüterverletzung nunmehr den materiellen Unrechtsbegriff konstituiert, muß auch das Unrecht abstufbar werden 39 • Allerdings diente die materielle Unrechtsbetrachtung zunächst nur der Auslegung und der Weiterentwicklung der gesetzlichen Rechtfertigungsgründe. Das Gesetz muß nach seinem Zweck ausgelegt werden 40 • Unter diesem Gesichtspunkt hat man bei der ärztlichen Heilbehandlung die als typische Rechtswidrigkeit verstandene Tatbestandsmäßigkeit nach § 223 8tGB ausgeschlossen. Ferner ließen sich übergesetzliche Rechtfertigungsgründe wie die Güter- und Pflichtenkollision oder die Einwilligung des Verletzten erarbeiten. Bei der Güter- und Pflichtenkollision wurde zuerst nach quantitativen Gesichtspunkten argumentiert: Das ger i n ger e Gut darf zugunsten des h ö her e n geopfert und die ger i n ger e Pflicht zugunsten der h ö her e n vernachlässigt werden, wenn das höhere Gut nur auf Kosten des geringeren erhalten, die höhere Pflicht nur auf Kosten der geringeren erfüllt werden kann 41 • Es kommt aber nicht auf das Mehr oder Minder des Unrechts an, sondern die quantitativen Probleme sind nur Vorfragen 35 Graf Dohna, Die Rechtswidrigkeit, S.27. 36 Vgl. Mezger, Lehrbuch, S.197 ff.; v. Liszt-Schmidt, S.176. Die Lehre von der materiellen Rechtswidrigkeit ist vor allem durch die Entwicklung der sozialethischen Komponente des Unrechts bedeutend vertieft worden. Grundlegend H. Mayer, Lehrbuch (1936), S.71 f.; Welzel, Kohlrausch-Festschrift, S. 101 ff. Näheres unten Kap. 3 II 1 b. 37 Vgl. u. a. GaHas, zStw 67, 16 f. 38 Vgl. vor allem Mezger, a.a.O. 39 Vgl. Erik Wolf, Frank-Festgabe Bd.2, S.564; heute vor allem NaH, ZstW 68, 182; Jescheck, ZStW 73, 193; kritisch Lenckner, S.33 Anm. 102. 40 Ausführlich Mezger, Lehrbuch, S. 200 ff., mit Beispielen. 41 Grundlegend RGSt 61, 242, am Beispiel der medizinischen Indikation der Schwangerschaftsunterbrechung.

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für die Alternative: Recht oder Unrecht. Eine Notwendigkeit, Gradstufen des Unrechts um ihrer selbst willen zu ermitteln, wird noch nicht gesehen42 • So war es ein neuer Ansatz in der Lehre von der Rechtswidrigkeit, als Eduard Kern die Frage der Gradbildung, deren Möglichkeit allerdings schon lange erkannt war43 , nach der Art ihres Zustandekommens und ihrer möglichen Bedeutung für die Verbrechenslehre untersuchte. Seine Lehre ist vor allem von NaH vertieft worden44 •

Kern und Noll gehen von der Beobachtung aus, daß das Gesetz durch die verschiedenen Strafdrohungen die einzelnen Tatbestände verschiedenrangig wertet und dadurch Grade des Unrechts anerkennt45 • Es sind aber vor allen Dingen folgende Gesichtspunkte, aus denen sich Gradbildungen im Unrecht ergeben können: Die Überschreitung eines an sich gegebenen Rechts, z. B. eines Züchtigungs- oder Notwehrrechts ist weniger rechtswidrig als völlig unberechtigtes Handeln46 • Die Rechtspflichten, die ein Handeln vorschreiben, können verschieden stark sein. Es geht dabei um den Unrechtsgehalt der Unterlassungsdelikte47 • Das Unrecht kann sich auf einen Verstoß gegen Ordnungsvorschriften beschränken, z. B. bei einer medizinisch indizierten Schwangersch'aftsunterbrechung, bei der die erforderlichen Zustimmungen nicht eingeholt worden sind 48 • NaH betont noch besonders den Fall der sittenwidrigen Einwilligung des Verletzten, z. B. bei einer Körperverletzung: Sie liegt im Unrechtsgehalt unter einer Körperverletzung, die ohne Einwilligung erfolgt4 !>. NoH versucht, die Tatsache von Gradbildungen im Unrecht auf ein einheitliches Prinzip zurückzuführen: Die Schwere des 42 Auch die übersicht von Heinitz, Festschrift für Eb. Schmidt, S. 266 ff., geht auf die Frage der Grade des Unrechts nicht ein. 43 Vgl. die Nachweise bei Kern, ZStW 64, 256 ff. 44 NaH, übergesetzliche Rechtfertigungsgründe, S. 45 ff.; ZStW 68, 181 ff.; neuerdings Lenckner, S. 32 ff. 45 Kern, ZstW 64, 262, 289 f.; NaH, ZStW 68, 181. Aus der älteren Literatur vgl. hierzu Graf Gleispach, in Aschrott, Reform des Strafrechts, S. 190; Zimmerl, Aufbau des Strafrechtssystems, S. 281; Beling, Lehre vom Tatbestand, S. 2 f.; Erik Wolf, Die Justiz, Bd.3, S.l11; Germann, SchwZStR 1940, 345. - Ob man wie Kern von "Graden der Rechtswidrigkeit" oder von "Graden des Unrechts" sprechen will, ist letztlich eine terminologische Frage. Nützlich und inzwischen weitgehend üblich ist die Unterscheidung von Welzel, Lehrbuch, S.46, für den die "Rechtswidrigkeit" eine Relation bezeichnet, "Unrecht" "etwas Substantielles: das rechtswidrige Verhalten selbst". Abstufungen gibt es dann nur im "Unrecht". Vgl. auch Lenckner, S.32f. 46 Kern, a.a.O., S. 266 f.; Lenckner, S. 35. 47 Kern, a.a.O., S. 268 f. 48 Kern, a.a.O., S. 264 ff. und S. 287 ff. im größeren Zusammenhang der Güterkollision, die nicht zur vollen Rechtfertigung führt. Ebenso NaH, ZStW 68, 189 f.; vgl. auch Lenckner, S. 36 f. 49 NaH, ZstW 68, 195.

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Unrechts einer Handlung hängt "einerseits ab von der Zahl und Stärke der den Unrechtstatbestand ausmachenden Unrechtselemente und auf der anderen Seite von der Zahl und Stärke der Rechtfertigungselemente""o. Die Bedeutung der Lehre von den Graden der Rechtswidrigkeit liegt nach Kern vor -allem in der Auslegung des geltenden Rechts bei verschiedenen Einzelfragen (z. B.: Teilnahme am echten Sonderdelikt) und auf dem Gebiete der Strafzumessung. De lege ferenda zieht Kern Folgerungen besonders für die Regelung des unechten Unterlassungsdeliktes und die Strafzumessung. NoH geht einen Schritt weiter. Er will in allen Fällen, in denen das Gesetz feste untere Strafrahmen zeigt, bei methodisch exakt nachgewiesener Unrechtsminderung die Unterschreitung dieser Strafrahmen zulassen und darüber hinaus in den Fällen, in denen das Unrecht bis nahe an den Nullpunkt der Rechtswidrigkeit vermindert ist, ein Absehen von Strafe ermöglichen51 . Die Lehre von den Graden des Unrechts ist die bisher jüngste Entwicklung der Lehre von der materiellen Rechtswidrigkeit 52 • Sie ist jedoch vor allem als Lehre von der Strafzumessung gewürdigt worden und hat in dieser Form fast einhellig Zustimmung erfahren53 • Für die Strafzumessung bringt die Lehre aber keine neuen Erkenntnisse. Ihre besondere Bedeutung liegt darin, daß die Frage der Gradbildungen aus der Ermessensproblematik der Strafzumessung gelöst und in die Systematik der Verbrechenslehre einbezogen worden ist54 • 3. Die quantitative Betrachtungsweise als Grundlage einer Systematik der BagateUdelikte Die praktisch wichtigste Frage bei der Untersuchung der Bagatelldelikte liegt darin, ob man die Geringfügigkeit des Einzelfalles nach generellen Regeln bestimmen kann. Die Lehre von den Graden des NoU, ZStW 68, 184. NoU, a.a.O., S. 196 f.; dagegen Lenckner, S.41 Anm.122. 52 Kern, ZStW 64, 262, bestreitet wohl nur einen inhaltlichen Gegensatz zwischen formeller und materieller Rechtswidrigkeit, nicht aber die Berechtigung einer materiellen und formellen Betrachtungsweise. Seine eigenen Ausführungen, vor allem S. 277 ff., betreffen den materiellen Gehalt des Unrechts. 53 Vgl. Jagusch im Leipziger Kommentar, Anm. B III 1 vor § 13; SchönkeSchröder, Anm. IX 3 a (RdNr.55) vor § 13; Klug, Festschrift für Eb. Schmidt, S.250. M Zutreffend Engisch, Konkretisierung, S.288; Hardwig, ZStW 68, 28 Anm. 20; Jescheck, ZStW 73, 193; Baumann, Lehrbuch, S.227; der Sache nach auch Armin Kaufmann, Normentheorie, S. 200 ff., vgl. vor allem S. 204 f. Ablehnend SChmidhäuser, Gesinnungmerkmale, S. 206 ff., auf der Basis eines eingeschränkten Unrechtsbegriffs: Unrecht ist sozialethisch wertwidriges Verhalten, soweit es im Gesetz beschrieben wird. Die Frage nach dem Unrecht richtet sich nur darauf, ob das Verhalten den Gesetzen entspricht oder nicht. Vgl. dagegen Stratenwerth, Festschrift für v. Weber, S. 184 ff. 50

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Unrechts könnte hier eine Hilfe sein, denn sie versucht es, die Gradbildung allein aus dem normativen Bereich zu entwickeln,aus der Funktion der Rechtssätze und der Art und Weise ihres Zusammentreffens. Insbesondere setzt die Forderung Nolls, bei vermindertem Unrecht müsse der gesetzliche Strafrahmen unterschritten oder von Strafe abgesehen werden, ausdrücklich den Nachweis des Unrechtsgehalts im einzelnen Falle voraus. Damit ist zugleich vorausgesetzt, daß dieser Nachweis mit den von ihm erarbeiteten Richtlinien "methodisch exakt" geführt werden kann. Dies muß jedoch bezweifelt werden. Die überschreitung eines an sich gegebenen Rechtes ist nicht immer geringeres Unrecht als ein Handeln ohne Rechtfertigungselemente. Eine in Überschreitung der Notwehr begangene Körperverletzung kann im Hinblick auf die Tatfolgen erheblich schwerer wiegen -als eine unprovozierte leichte Körperverletzung 55 • Wenn es um die Ermittlung des Unrechtsgrades geht, lassen sich einzelne Gesichtspunkte aus den verflochtenen Beziehungen steigernder und mindernder Momente nicht verallgemeinern, auch nicht, wenn sie aus dem Gesetz abgeleitet sind. Nur wenn der Gesetzgeber selbst sie als maßgebend anerkennt56 , ist von anderen Umständen abzusehen, die sonst berücksichtigt werden müßten. Eine übergesetzliche Milderung z. B. wegen eines teilweise gegebenen Rechtfertigungsgrundes reicht daher zum methodisch exakten Nachweis einer bestimmten Gradstufe nicht aus. Die Parallele von der übergesetzlichen Rechtfertigung zur übergesetzlichen Milderung kann nicht ohne weiteres gezogen werden. Es besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen den Beziehungspunkten: Bei der Gradminderung nach den Grundsätzen N olls kann nicht die Gradstufe des einzelnen Falles bestimmt, sondern nur das Verhältnis des zu entscheidenden, konkreten Falles gegenüber einem typischen Fall erkannt werden. Der konkrete und der typische Fall werden nur unter dem Gesichtspunkt der in Betracht kommenden Einzelregel über die Gradminderung gesehen. Das Ergebnis dieser Untersuchung bleibt relativ; es erbringt nur den Komparativ "mehr oder minder" im Hinblick auf den typischen Fall, nicht aber den Schweregrad der Einzeltat, auf den es allein für die Frage der übergesetzlichen Milderung ankommt 57 • Bei der übergesetzlichen 55 Bei der Körperverletzung mit sittenwidriger Einwilligung des Verletzten kommt auch NoH zu dem Ergebnis, daß die Sittenwidrigkeit der Einwilligung in der Regel nur bei schweren Fällen der Körperverletzung in Betracht kommt (vgl. ZStW 68, 195). 56 Vgl. z. B. § 216 StGB (Tötung auf Verlangen). 57 Wir finden hier einen ähnlichen Fehlschluß von der Ermittlung des Gradverhältnisses zweier Fälle auf die quantitative Bestimmung des Einzelfalles, wie wir ihn bei der Lehre von der Proportionalität von Verbrechen und Strafe gesehen haben. Man glaubte, die Proportionalitätsforderung dadurch zu erfüllen, daß man das quantitative Verhältnis der Tatbestände untereinander festlegte.

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Verbrechen als Steigerungsbegriff

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Rechtfertigung handelt es sich um die auf Grund der quantitativen Vorfrage der Güterkollision zu entscheidenden Frage nach Recht oder Unrecht. Es kommt nicht zu dem Problem, daß das aus einem Komparativ bestehende Ergebnis des Vergleichs der Güter auf den Rang des einzelnen Gutes zurückgeführt werden muß; vielmehr ist es gerade das Ver h ä 1 t n i s der Güter, das für die Frage: Hat der Täter das h ö her wertige Gut erhalten und ist er deshalb bezüglich der Vernichtung des ger i n ger wertigen gerechtfertigt? - als Vorfrage zu klären ist. Die Lehre von den Graden des Unrechts ist aber in erster Linie für die Verbrechenslehre wichtig. Auch wenn Kern und N oll die Abstufbarkeit des Unrechts im wesentlichen an Einzelproblemen nachweisen, lassen sie doch keinen Zweifel daran, daß diese Einzelprobleme Beispiele sind,an denen sich eine ,a llgemeine quantitative Struktur des strafrechtlichen Unrechts zeigt58• Die Lehre von den Graden des Unrechts erlaubt deswegen Rückschlüsse auf die systematische Bedeutung, welche die quantitative Betrachtungsweise bei der Lehre von der Proportionalität von Verbrechen und Strafe a 11 gern ein besitzt. Es zeigt sich, daß die quantitative Betrachtungsweise nicht oder wenigstens nicht ausschließlich in den Bereich des gesetzgeberischen oder richterlichen Motivationsprozesses gehört, sondern daß sich Quantitäten des Unrechts aus den Strukturen des Gesetzes erschließen lassen. Im Strafrecht hat dieser Umstand besondere Bedeutung, denn hier ist das Quantitative das eigentlich verbindende Element zwischen Tatbestand und Rechtsfolge, mindestens soweit es das Verhältnis von Tatbestand und gesetzlicher Strafdrohung betrifft5 :J. Folgende überlegungen mögen das erläutern: In anderen Rechtsgebieten ist die Art der Rechtsfolge durch die Art des Unrechts vorgezeichnet und zeigt sich meistens als Beseitigung der konkreten Wirkungen des Unrechts, insbesondere als Wiedergutmachung des Schadens: Die Rechtsfolge des Vertragsbruchs ist Schadensersatz, die Aufhebung des rechtswidrigen Verwaltungsaktes beseitigt die durch seinen Erlaß entstandenen Belastungen. In diesen Fällen zeigt die Rechtsfolge inhaltlichen Bezug zur Art des Unrechts 60 • Zivilrechtlic..h gesehen ist die Ausgleichsfolge des Diebstahls die Rückgabe der Sache oder, falls die Sache nicht mehr vorhanden ist, der Ersatz ihres Wertes, Vgl. auch Lenckner, S. 34. Vgl. zum folgenden auch v. Weber, Strafzumessung, S. 16 f. 60 Ausnahmsweise kommt es auch im Zivilrecht auf Quantitäten an: Das Ausmaß des Schadensersatzes (positives oder negatives Interesse) hängt gelegentlich von der Schwere des Unrechts ab (z. B. bei § 179 BGB). Es handelt sich aber nur um Randerscheinungen. 58

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3 Krümpelmann

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1. Teil: Kap. 1: Vorfragen

verbunden mit einer Ersatzsumme für die Gebrauchsentziehung. Die Ausgleichsfolge des Hausfriedensbruches ist das Verlassen der fremden Wohnung. Eine solche Ausgleichsfolge ist der mit Gefängnisstrafe verbundene Freiheitsverlust oder die Vermögensverringerung durch Geldstrafe nicht; sie ist beim strafrechtlichen Unrecht, z. B. den Sittlichkeitsdelikten, häufig auch gar nicht denkbar61 . Die qualitative Verbindung zwischen Verbrechen und Strafe erschöpft sich in der allgemeinen Formel, daß für eine Übeltat die Auferlegung eines Übels angedroht wird. Diese Formel bekommt erst dann einen präziseren Inhalt, wenn man Unrecht und Strafe quantitativ betrachtet und das Quantitative als das Verbindende im Verhältnis von Tatbestand und Rechtsfolge ansieht 62 • Es sollte freilich nicht bestritten werden, daß auch die Strafe qualitativ betrachtet werden kann 63 : Natürlich zeigen Geldstrafe und Freiheitsstrafe für sich betrachtet Unterschiede auch in der Eigenschaft. Nur werden bei der Anwendung der Strafe auf das Verbrechen die Eigenarten der Strafen in ein quantitatives Verhältnis gebracht; die Strafarten werden als sich steigernde Strafgrade verstanden, das Strafensystem wird -als qualitative Einheit den strafrechtlichen Tatbeständen entgegengesetzt. Auch diese werden, wenn sie auch für sich betrachtet qualitativ bestimmt und unterschieden sind, ,als nur dem Grade nach unterschieden dem Strafenkatalog gegenübergestellt. Grundsätzlich und von Grenzfällen abgesehen kann jede Strafartauf jedes Unrecht Anwendung finden; bei der Verbindung kommt es nicht mehr auf die Eigenart, sondern auf den Grad an. Bei § 263 StGB (Betrug) ist in Abs. 1 Gefängnisstrafe allein oder zusammen mit Geldstrafe angedroht64 , nach Abs. 2 kann bei mildernden Umständen nur auf Geldstrafe erkannt werden, bei besonders schweren Fällen kommt Zuchthausstrafe in Betracht (§ 263 Abs. 3 StGB). Die ganze Skala des Strafensystems kann also zur Anwendung kommen, ohne daß das tatbestandliche Unrecht sich qualitativ geändert hätte. Umgekehrt ist die gleiche Strafe verschiedenen Verbrechen zugewiesen; Gefängnisstrafe ist z. B. angedroht bei Diebstahl, fahrlässiger Tötung und Kuppelei. Es ist ohne weiteres einleuchtend, daß die qualitative Eigenart der jeweiligen Strafe nicht von der qualitativen Eigenart des Verbrechens abhängt, etwa derart, 61 Einige Strafrechtslehrer neigen dazu, aus dem Gedanken der "Irreparabilität" die besondere Eigenart des Strafrechts herzuleiten; vgl. Binding, Normen, Bd.1, S.290; heute besonders Kohtrausch-Lange, Systematische Vorbemerkungen III, S.12. 62 Immer abgesehen von täterstrafrechtlichen und generalpräventiven Gesichtspunkten. 63 a. A. anscheinend Spendet, vgl. oben S. 24, Anm. 10. 64 Von Nebenstrafen ist dabei abzusehen.

I. Verbrechen als Steigerungsbegriff

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daß Geldstrafe die Rechtsfolge der Vermögensdelikte, Freiheitsstrafe die Rechtsfolge der Freiheitsberaubung wäre 65 • In dem Bestreben, die Zulässigkeit und Möglichkeit einer Verbindung VOn Tatbestand und Rechtsfolge unter quantitativen Gesichtspunkten nachzuweisen, hat man versucht, Parallelen zu anderen Rechtsgebieten zu ziehen und dabei zu wenig beachtet, daß hier eine für das Strafrecht besonders kennzeichnende Struktur sichtbar wird. SpendeIs Auffassung, daß auch im Zivilrecht regelmäßig Tatbestand und Rechtsfolge durch ein quantitatives Moment, die Höhe des Schadensersatzes, verbunden seien, da meistens nicht Naturalrestitution, sondern Geldersatz geleistet werde 66 , ist nicht haltbar. Sicherlich ist der Unterschied, ob 20 Mark oder 200 Mark gezahlt werden müssen, quantitativer Natur. Diese 'Q uantitäten sind aber nicht verbindendes Glied zwischen Tatbestand und Rechtsfolge; für die rechtliche Regelung kommt es darauf nicht an. Schadensersatz in Geld ist Schadensausgleich nach einem außernormativen Umrechnungssystem 67 • Natürlich ist theoretisch auch im zivilrechtlichen oder verwaltungsrechtlichen Unrecht die quantitative Betrachtungsweise möglich: Ein Vertragsbruch kann schwerer oder leichter sein, der eine Verwaltungsakt schwerere Fehler haben als der andere. Aber ·a uch darauf kommt es in diesen Gebieten im allgemeinen nicht an. Beim Strafrecht gehört das Quantitative zum normativen Bereich, das bewertende Moment tritt hervor; beim Zivilrecht drückt sich die Bewertung in der Qualität der Rechtsfolge aus, das Quantitative hängt von den Zufälligkeiten des jeweiligen Falles ab. Auch die anderen Beispiele, die für die Auffassung angeführt werden, die Rechtsfolge des Unrechts sei in der Regel ungleichartig, sind bei näherer Betrachtung nicht stichhaltig. Zum Teil betreffen die Beispiele nicht Gebiete des Unrechts, wie die Zensuren bei Prüfungen, Orden oder Beförderungen bei Verdiensten 68 • Lediglich die Zumessung des zivilrechtlichen Schmerzensgeldes nach § 847 BGB zeigt verwandte Züge mit der Strafzumessung69 • Aber es handelt sich nur um eine Randerscheinung im System des zivilen Rechtsschutzes. Dem Schmerzensgeld ist überdies 65 Manchmal spielt diese Erwägung am Rande mit, wenn z. B. bei § 266 StGB (Untreue) neben der Freiheitsstrafe Geldstrafe verhängt werden muß. 66 Spendel, Strafmaß, S. 113. 67 Zutreffend insoweit v. Rippel, Deutsches Strafrecht, Bd. 1, S. 508. 68 v. Rippel, a.a.O.; besonders Spendel, a.a.O., S.113. Man könnte noch auf das bei den Rahmengebühren sehr ähnliche Gebiet des Kosten- und Gebührenrechts verweisen. 69 Ebenso steht es mit der neuerdings bei Verletzungen des Persönlichkeitsrechts anerkannten zivilrechtlichen Geldbuße. 70 Das gleiche gilt für die Geldbuße bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen, die ja in Analogie zu § 847 BGB entwickelt worden ist. Vgl. dazu Gross/eld,

S. 75 ff. 3'

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1. Teil: Kap. 1: Vorfragen

der Strafcharakter nicht ganz abzusprechen 70 • Es kommt nun auch in diesem Zusammenhang weniger darauf an, ob die quantitative Betrachtungsweise dem Strafrecht allein vorbehalten ist, -als vielmehr darauf, ob sie möglich und allgemein erforderlich ist. Wird der Gesetzgeber bei der Frage, ob ein Verhalten mit Strafe zu bedrohen ist, auch zuerst von der Eigenart des Verhaltens ausgehen, so ist doch die Frage zu stellen, mit w e 1 c her Strafe das Verhalten zu bedrohen ist und wie diese im Hinblick auf andere Straftaten zu bemessen ist. Dabei muß das Unrecht nach quantitativen Gesichtspunkten betrachtet werden. Hier liegt der systematische Anknüpfungspunkt einer näheren Bestimmung des Begriffes der Geringfügigkeit. Er muß aus den quantitativen Wertungen der Strafrechtsordnung, die sich im System der Tatbestände ausprägen, entwickelt werden.

11. Selbständige und unselbständige leichte Delikte Bevor wir uns um die inhaltliche Bestimmung des Bagatelldeliktes bemühen, wollen wir uns eine Einteilung der leichten Delikte für die Zwecke der Darstellung verschaffen. Am besten gehen wir dabei von § 1 StGB aus. Hier trifft das Gesetz die formelle Einteilung der strafbaren Handlungen in Verbrechen, Vergehen und übertretungen. "Verbrechen" ist eine mit Zuchthaus oder mit Einschließung von mehr als 5 Jahren, "Vergehen" eine mit Einschließung bis zu 5 Jahren, mit Gefängnis oder mit Geldstrafe von mehr als 500 Mark oder mit Geldstrafe schlechthin, "übertretung" eine mit Haft oder mit Geldstrafe bis zu 500 Mark bedrohte Handlung. Bei der Einteilung folgt man der sogenannten abstrakten Methode 1 : Der besonders schwere Fall des Vergehens ist kein Verbrechen, der besonders schwere Fall einer übertretung kein Vergehen\!. Umgekehrt ist aber auch der besonders leichte Fall eines Vergehens keine übertretung. Fragt man nach dem Unrechtsgehalt der konkreten Tat, so kann eine übertretung, z. B. eine grobe Überschreitung der Straßenverkehrsregeln, materiell gesehen schwerer 1 h. M., vgl. etwa Welzel, Lehrbuch, S.16; Schönke-Schröder, Anm. II 1 (RdNr. 4) zu § 1. 2 Vgl. BGHSt2, 181; 3, 47; BayOblGNJW 1952, 987. Besonders schwere Fälle von übertretungen kommen im Strafgesetzbuch nicht vor und sind auch im Nebenstrafrecht selten. In der repräsentativen Sammlung der strafrechtlichen Nebengesetze von Erbs finden sich nur drei Beispiele: § 25 Abs.2 der Arbeitszeitordnung v. 30.4.1938 (RGBI I 447), § 15 Abs.2 des Gesetzes über die Arbeitszeit in Bäckereien und Konditoreien v. 19. 6. 1936 (RGBI I 521) i. d. F. d. Verordnung v. 30.4. 1938 (RGBI I 446) sowie § 24 Abs.2 des Jugendschutzgesetzes v. 30. 4. 1938 (RGBI I 437) im Rahmen von § 76 Abs.2 Ziff. 1 des Gesetzes zum Schutze der arbeitenden Jugend v. 9. 8. 1960 (BGBI I 665).

H. Selbständige und unselbständige leichte Delikte

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sein als ein Zechbetrug. Die Kategorie der Übertretungen umfaßt also nur einen Teil der geringfügigen Delikte. Die Einteilung nach § 1 StGB hat es allerdings nahegelegt, daß als Bagatellstrafrecht vor allem das Übertretungsstrafrecht ,angesehen worden ist. Die leichten Vergehensund Verbrechensfälle, die als solche von der Terminologie des Gesetzes kaum erfaßt sind, bieten einer systematischen Betrachtung wenig Ansatzpunkte. Für die Zwecke der Darstellung genügt jedoch eine schematische Einteilung. Die mit Übertretungsstrafe bedrohten Delikte lassen sich solchen Vergehen gegenüberstellen, die im konkreten Fall nicht schwerer als eine Übertretung bestraft werden. Wir wollen die Bagatelldelikte nach diesem Gesichtspunkt in selbständige und unselbständige leichte Delikte einteilen3 • Das selbständige leichte Delikt, die Übertretung, ist das Delikt mit niedriger oberer Strafgrenze, die gesetzlich festgelegt ist. "Es ist das charakteristische Wesen des selbständigen leichten Deliktes, daß gerade der leichte Verstoß als solcher vom Gesetz bestraft wird. Die betreffende Handlung ist nach Ansicht des Gesetzes eben nicht sehr erheblich, aber gerade diese nicht sehr erhebliche Handlung soll unterdrückt werden4 ." Das unselbständige leichte Delikt ist bei den meisten Vergehenstatbeständen möglich5 • "Die Betrachtung des Strafrahmens lehrt, daß Vergehen, welche mit erheblichen Höchststrafen bedroht sind, eine untere Strafgrenze haben, welche zweifellos ganz innerhalb der Strafgrenze des selbständigen leichten Deliktes liegt6." Fordert der Unrechtsgehalt der konkreten Tat eine Bestrafung in diesem Rahmen, so können wir vom unselbständigen leichten Delikt sprechen. Es kommt hier "dem Gesetz nicht so sehr darauf an, gerade das leichte Delikt zu strafen", sondern das leichte Delikt wird "um des schweren willen mitgestraft"7. Die Einteilung in selbständige und unselbständige leichte Delikte hat nur begrenzten Wert, denn einmal wird die Geringfügigkeit generell, das andere Mal nur im Einzelfall festgestellt. Hier geht es jedoch nur darum, Ordnrungsgesichtspunkte für die weitere Darstellung zu finden. Es wird zu untersuchen sein, wie weit sich auch das unselbständige leichte Delikt nach generellen Regeln bestimmen läßt. 3 Die Einteilung geht zurück auf H. Mayer, Zuchtgewalt und Strafrechtspflege, S. 63 f.; ebenso GS 96, 407 f. In späteren Arbeiten hat Mayer die Bezeichnungen nicht mehr verwandt. 4 H. Mayer, GS 96, 408; ebenso Zuchtgewalt und Strafrechtspflege, S.63. 5 über Tatbestände, bei denen geringfügiges Unrecht von vornherein ausscheidet, unten Kap. 4 IH. Dabei muß auch die Frage nach der leichten Verwirklichung von Verbrechenstatbeständen gestellt werden. 6 H. Mayer, Zuchtgewalt und Strafrechtspflege, S.63; ebenso GS 96, 407. 7 H. Mayer, Zuchtgewalt und Strafrechtspflege, S.64; anders jedoch GS 96, 408.

Zweites Kapitel

Methodische Probleme bei der Bestimmung des Bagatelldeliktes I. "Geringfügigkeit" als Relationsbegriff Der Wortgebrauch des 'Quantitativen 1 hat sich im Strafrecht für verschiedenartige Begriffe eingebürgert. In der engsten Bedeutung pflegt man von quantitativen Begriffen im Hinblick auf Anzahl und raumzeitliche Ausdehnung zu sprechen, etwa bei der "Dauer" der Freiheitsstrafe, der "Anzahl" begangener Straftaten usw. Der "Durchschnittsfall" (vgl. Nr. 75 Abs. 3 RiStV) und Begriffsbildungen auf dem Gebiet der Kriminalstatistik gehören hierher. Auch Relations- und Steigerungsbegriffe 2 wie die "geringe Menge", den "unbedeutenden Wert" (§ 370 Abs.l Ziff.5 StGB), den "minder schweren" oder "besonders schweren" Fall bezeichnet man als "quantitativ "3. Schließlich sind die sog. "metrischen" Begriffe4 zu nennen, bei denen ein Sachgebiet in zahlenmäßig bestimmten technischen, wirtschaftlichen, naturwissenschaft1 Der heutige im Strafrecht maßgebliche Wortgebrauch des Quantitativen muß den Umfang unserer Untersuchung bestimmen. Keinen Beifall verdient der umgekehrte Versuch von Spendel, Strafmaß, S. 170 ff., vor allem S. 185 f., diesen Wortgebrauch auf einen ganz bestimmten Sinn des der "Seinssphäre" angehörenden "Faktums" einzuengen, während "wertbezogene" Begriffe der "Qualität" zuzuordnen seien. Damit würde unnötig eines der schwierigsten Kapitel der Kategorienlehre angeschnitten: Die Begriffe der Quantität und der Qualität sind unter den verschiedensten Gesichtspunkten abgegrenzt worden (vgl. den begriffsgeschichtlichen überblick bei Eisler, Wörterbuch der philosopischen Begriffe, Bd. 2, Artikel Quantität, S. 1107 ff.). Gerade den Gradbildungen, die Spendel offenbar allein der "Quantität" zuordnet (a.a.O., S. 186), läßt sich so nicht beikommen. Die Gradbildung wird teilweise sogar aus der Kategorie der Quantität ausgeschlossen (so bei Aristoteles, Kategorien, Ausgabe Meiner, Hamburg 1958, S. 55 f.) oder erst aus der Beziehung von Quantität und Qualität erklärt (so vor allem Hegel, Wissenschaft der Logik, I. Buch, 3. Abschnitt, Ausgabe Meiner, Hamburg 1932, S. 214 ff., besonders S.217). Die neuere Methodenlehre versucht, Steigerungsbegriffe nur als Relationsbegriffe darzustellen und kommt ohne die Kategorien der Qualität und Quantität aus (vgl. die unten Anm. 5 näher besprochene Arbeit von Hempel-Oppenheim). Spendel weicht übrigens selbst von seiner Wortbestimmung des Quantitativen ab, wenn er auf S.172 die auf Wertgesichtspunkte angewiesene Untersuchung nach "Zuviel oder Zuwenig" der Quantität zuordnet. Zur Terminologie vgl. auch Gerken, ARSP 1964, 367 ff.

I.

"Geringfügigkeit" als Re1ationsbegriff

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lichen, aber auch juristischen Systemen geordnet ist. Die auf 50 km/h begrenzte Höchstgeschwindigkeit in Ortschaften (§ 9 Abs. 4 Ziff. 1 StVO), die absolute Fahruntüchtigkeit des Kraftfahrers bei 1,5 Promille Blutalkoholgehalt (BGHSt 5, 168; neuerdings 13, 279), ferner etwa die "Freiheitsstrafe von 14 Tagen" sind Beispiele dieses Sprachgebrauchs. Mit den genannten Zahlbegriffen werden die Quantitäten nach Anzahl und Ausdehnung erfaßt, aber auch die Steigerung kann "metrisiert" werden: Eine Gefängnisstrafe von vier Wochen ist "doppelt so schwer" wie eine Gefängnisstrafe von 14 Tagen. Die Geringfügigkeit gehört zu den Relations- und Steigerungsbegriffen. Diese Begriffe bereiten besondere methodische Schwierigkeiten, welche darzustellen und zu beseitigen die Vorbedingung einer Systematik der Bagatelldelikte ist. Der Begriff der Geringfügigkeit ist aus sich heraus nicht verständlich, sondern nur im Verhältnis zum Gegenbegriff der Erheblichkeit. Darin liegt ein kennzeichnender Unterschied zu den Quantitäten der Anzahl und Ausdehnung: Diese werden inhaltlich festgelegt durch den Gegenstand ihrer Benennung, die mehrfache Wiederholung der Grundeinheit oder die Tatsache einer irgendwie gearteten Dimension des Objektes. Die Steigerungsbegriffe werden inhaltlich bestimmt durch die Relation zu anderen Begriffen, indem sie mit diesen zusammen einen Sachverhalt ordnen. Wir wollen uns die Struktur der Steigerungs begriffe, da sie für die richtige Anwendung des Begriffes der Geringfügigkeit von entscheidender Bedeutung ist, an einem Beispiel verdeutlichen 5 : 2 Hempel-Oppenheim, S.3; Gerken, a.a.O., S.364, 375 ff. Quantitative Begriffe im engeren Sinne und im Sinne des Steigerungsbegriffes werden oft im Ausdruck, vor allem umgangssprachlich, miteinander verbunden. So besagt z. B. "Menge" an sich nur, daß etwas auf seine Anzahl hin betrachtet werden kann. Die Umgangssprache hat daraus "viel" gemacht, wenn etwa von einem reichen Mann gesagt wird, er habe "eine Menge Geld". "Menge" im engeren Sinne ist nicht abstufbar: Entweder läßt sich etwas auf seine Anzahl betrachten oder nicht. Erst wenn eine Menge zu anderen Mengen in Beziehung gesetzt wird, ergibt sich das "Mehr oder Minder", aus welchem das "Viel" folgt. 3 Von hierher hat man gelegentlich den Begriff des Quantitativen auf alle Begriffe ausgedehnt, die keine festen Grenzen haben. So spricht z. B. Mezger, Traeger-Festschrift, S.228, von Merkmalen, die vom Richter eine "quantitative Abschätzung" verlangen. Er versteht darunter Tatbestandsmerkmale wie die Ergreifung "auf frischer Tat", die Tötung "gleich nach der Geburt", "hilflos" usw., Merkmale, deren Gemeinsamkeit nur in ihrer Ungenauigkeit besteht. Vgl. auch Engisch, Mezger-Festschrift, S.144; Wolter, Monatsschrift für Kriminalpsychologie, Bd.21, 467 f. 4 Vgl. Hempel-Oppenheim, S. 35 f.; Gerken, a.a.O., S.367, 382 f. 5 Die Literatur zur Methodik quantitativer Begriffe ist nicht umfangreich. Die wichtigste Anregung zu den folgenden Untersuchungen gab die Arbeit von Hempel und Oppenheim: Der Typusbegriff im Lichte der neuen Logik (1936), die am Sonderfall der psychologischen Typenbildung die allgemeinen Probleme der Gradbildung untersucht und eine Methodenlehre "abstufbarer"

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1. Teil: Kap. 2: Methodische Probleme

Auf dem Tisch können mehrere, alle oder auch eine bestimmte Anzahl Bleistifte liegen. In demselben Sinne kann man über die Länge eines Bleistiftes sprechen, sofern nur gesagt werden soll, daß der Bleistift überhaupt eine Ausdehnung hat. Richtig oder falsch ist die gewählte quantitative Bezeichnung allein im Hinblick .auf den bezeichneten Gegenstand. Anders verhält es sich mit dem Satz: "Der Bleistift ist klein." Diese Aussage hat überhaupt nur dann Sinn, wenn der Bleistift in Beziehung zu anderen Bleistiften oder Gegenständen gesetzt wird, die größer sind. Man kann zwar bei einem ungebrauchten und einem fast abgeschriebenen Bleistift den ungebrauchten "groß", den abgeschriebenen "klein" nennen, die quantitative Bezeichnung für den einen Bleistift ist aber nur sinnvoll im Hinblick auf den anderen. Dieses Verhältnis kommt sprachlich korrekt nur durch den Komparativ zum Ausdruck. Es muß eigentlich heißen: "Dieser Bleistift ist k leine r als der andere." Der Verwendung des Positivs "klein" liegt folgender weiterer Gedankengang zugrunde: Bei drei Bleistiften verschiedener Größe läßt sich 'zunächst das gegenseitige Verhältnis ermitteln, indem man feststellt, daß der erste Bleistift größer als der zweite, der zweite größer als der dritte ist. Anschließend kann man auf Grund der ermittelten Relationen eine geschlossene Größenordnung unter den Bleistiften aufstellen und die einzelnen Rangstellen mit den Begriffe sein will (Hempel-Oppenheim, S.3). Freilich hat das Beispiel der psychologischen Typenbildung es nahegelegt, die Theorie vor allem auf ihre Brauchbarkeit für Rechtstypen, besonders die Tatbestände, zu untersuchen (so vor allem H. J. Wolf!, Studium generale 1952, 198, 202 f.). Aber im Strafrecht sind "die meisten sogenannten ,Typenbegriffe' ... keine Steigerungsbegriffe, und die Steigerungsbegriffe, die man antrifft, heißen nicht ,Typen'" (Engisch, Konkretisierung, S. 289). Nicht das Beispiel des Typus, wohl aber die allgemeinen Grundsätze von Hempel-Oppenheim über die Steigerungsbegriffe können für die strafrechtliche Begriffsbildung fruchtbar gemacht werden. Wegen der besonderen Probleme der Unrechtssteigerung und des geringfügigen Unrechtsgrades, insbesondere wegen des Umstandes, daß es im Strafrecht nicht so sehr auf die R e I a t ion zwischen gegebenen Größen als auf den Unrechtsgrad des ein z eIn e n Falles ankommt, mußte besonders die Beziehung von Rangverhältnis und Rangstelle herausgearbeitet werden, die Hempel-Oppenheim als Spezialproblem aus der Untersuchung ausschließen (S. 121, vgl. aber S. 64 f., S. 82 f.). Auf die von Hempel-Oppenheim verwandte, allerdings schon sehr vereinfachte logistische Methode wurde verzichtet und stattdessen versucht, die Bedingungen der Verwendung von Gradbegriffen in anschaulicher Form darzustellen. Eine Zusammenfassung der Arbeit von Hempel-Oppenheim findet sich bei Oppenheim, Von Klassenbegriffen zu Ordnungsbegriffen, S. 69 ff., sowie bei Radbruch, Klassenbegriffe und Ordnungsbegriffe, S. 46 ff. Vgl. dazu auch Engisch, Konkretisierung, S. 284 ff.; v. Kempski, Studium generale 1952, 212 f.; neuerdings Gerken, ARSP 1964, 377 ff. (Außer den Arbeiten von Radbruch und Engisch hat sich die juristische Methodenlehre mit der Frage der Gradbildungen, soweit ersichtlich, nicht befaßt. Klug, Juristische Logik, S. 85 f., geht zwar auf sie ein, mißt ihnen aber keine Bedeutung für die Rechtslogik zu.)

I.

"Geringfügigkeit" als Relationsbegriff

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Bezeichnungen "groß", "mittel", "klein" ben e n ne n 6. Die sprachliche Form des Positivs bezieht sich immer auf die vorher festgestellte Ordnung. Sie wird inhaltlich nicht allein durch das einzelne Objekt bestimmt, auf das die Benennung fällt, sondern sie erhält ihren Sinn durch die Stellung des Obj€ktes in der Gesamtordnung. Demnach fallen auch nur in der gleichen Rangordnung, d. h. in der gleichen Anzahl von geordneten Fällen, Benennung und einzelnes Objekt zusammen. Kommt nur ein Fall zu den anderen hinzu, können sich alle Rangstellen ändern 7 , so daß dann ein anderer Bleistift der "große" oder der "kleine" sein kann. Nicht ändern kann sich dagegen das Rangverhältnis; auch wenn neue Größen eingeordnet werden, bleibt doch immer der erste Bleistift größer -als der zweite usw. 8 . Die Einsicht in den Zusammenhang von Rangverhältnis, Rangordnung und Rangstelle führt uns zu zwei Definitionen: 1. Die quantitative Bestimmung des Einzelfalls ist die Frage nach der Rangstelle in einer vorgegebenen Rangordnung. 2. Die Geringfügigkeit ist die Benennung der untersten Rangstelle. - Als methodische Bedingung der quantitativen Bestimmung halten wir besonders fest: Die Ermittlung der Rangstelle setzt das Bestehen einer Rangordnung und die Kenntnis von den Rangverhältnissen voraus. Der Komparativ geht dem Positiv methodisch gesehen voran9 • Nach den gewonnenen Gesichtspunkten richtet sich auch die Verwendung quantitativer Begriffe im Strafrecht. Hier kommt es allerdings weniger darauf an, die Quantitäten im weiteren Sinne von den Gradbildungen als vielmehr die Gradbildungen von den qualitativen (nach 6 Treffend Hempel-Oppenheim, S. 83: Durch "nachträgliches Zerschneiden" wird eine Einteilung der Reihenordnung in "Begriffsklassen" erreicht. 7 Sie ändern sich nur dann nicht, wenn der "neue" Fall mit einem der "alten" gleich ist (z. B.: Der neue Bleistift ist ebenso lang wie der "große"); denn dann nimmt er zusammen mit dem gegebenen Fall die gleiche Rangstelle ein. Ist die Größe aber verschieden, dann können zwar die extremen Positionen erhalten bleiben, die Mittelpositionen aber müssen sich ändern. 8 Vgl. das Beispiel von Hempel-Oppenheim, S.65: Bei einer unter den Schülern einer Klasse nach der Leistung gebildeten Rangordnung muß jeder Schüler eine neue Rangnummer erhalten, wenn ein neuer Schüler in die Klasse eingetreten ist. Das Rangverhältnis bleibt aber bestehen. 9 Vgl. Hempel-Oppenheim, S.31, 37 ff., 81 f., sowie v. Kempski, Studium generale 1952, 213. Radbruch, Klassenbegriffe, S.46, spricht daher von der "Entdeckung des Komparativs für die wissenschaftliche Methodenlehre". Vgl. auch Gerken, ARSP 1964, 367: "Komparative Begriffe." Wegen der Abhängigkeit von der vorgegebenen Rangordnung läßt sich die Geringfügigkeit auch als "Ordnungsbegriff" bezeichnen. Diese Bezeichnung wird für die Steigerungsbegriffe von Hempel-Oppenheim, Vorwort, S. V, S. 21 ff., vorgeschlagen. (Vgl. auch Klug, Juristische Logik, S.86; über die Abgrenzung zu verwandten Bezeichnungen Engisch, Konkretisierung, S.287.) In dieser Untersuchung soll aber die eingebürgerte Bezeichnung des "quantitativen" Begriffs beibehalten werden.

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1. Teil:

Kap. 2: Methodische Probleme

Art und Weise bestimmten) Begriffen zu trennen. Um diesen Vorgang deutlich zu machen, wollen wir einen einzelnen strafrechtlichen Fall aus der Gruppe der Diebstahlsdelikte betrachten. Es soll zunächst entschieden werden, ob Einbruch oder einfacher Diebstahl vorliegt. Diese Frage läßt sich allein nach dem gegebenen Fall beantworten. Ist die "fremde bewegliche Sache" aus einem "geschlossenen Raum" mittels "gewaltsamen Öffnens einer den Zutritt verwehrenden Umschließung" entwendet worden, so liegt Einbruch vor, der durch die genannten Eigenschaften qualitativ bestimmt ist. Ob aber der Einbruch ein leichtes oder schweres Delikt ist, läßt sich nur auf Grund des einzelnen Falles nicht entscheiden; es kommt auf den Vergleich mit ,anderen Delikten an. Vergleicht man mit dem Einbruch z. B. den einfachen Diebstahl und einen Diebstahl zur Nachtzeit aus einem bewohnten Gebäude, in das der Täter sich eingeschlichen hat, so wird man, wenn weitere Einzelheiten der Tat nicht bekannt sind, zu dem Ergebnis kommen, daß der Diebstahl der leichtere Fall ist, die beiden anderen T'aten aber schwerer und unter sich gleich schwer sind10 • Man kann nunmehr auch den Fall des § 242 StGB positiv als "leicht", die Fälle des § 243 Abs. 1 Ziff. 2 und 7 StGB als "schwer" bezeichnen. Die Benennungen gelten aber nur im Rahmen dieser drei Fälle. Die Verwendung der quantitativen Begriffe folgt also auch im Strafrecht der allgemeinen Regel: Aus der Stellung zu anderen Delikten, nicht aus der Eigenart des Falles, müssen wir den quantitativen Begriff ableiten. Die 'Quantitätsbezeichnungen bringen Rangverhältnisse zum Ausdruck und können Rangstellen bezeichnen. Auch hier geht der Komparativ dem Positiv methodisch gesehen voran. Wenn wir strafrechtliche Fälle miteinander vergleichen, um ihr quantitatives Verhältnis und ihre Rangordnung zu ermitteln, müssen verschiedene Bedingungen erfüllt sein: Erstens muß feststehen, w e I c h e Fälle verglichen werden sollen und daß sie verglichen werden können; zweitens, wo rau f hin sie verglichen werden sollen. Die erste Bedingung betrifft die Vergleichbarkeit der Objekte, die zweite die Gesichtspunkte, nach denen die Ordnung aufgestellt werden soll. Die Vergleichbarkeit der Objekte bereitet weniger Schwierigkeiten, da nur strafrechtliche Fälle in den Bereich der Untersuchung gelangen. Ein Fehler, der sich indessen leicht einschleicht, liegt darin, daß man Fälle auf verschiedenen Begriffsebenen einander gegenüberstellt, etwa

10 Dabei wird die gesetzliche Wertung StGB) zugrunde gelegt.

(§§

242, 243 Abs.l Ziff.2 und 7

1. "Geringfügigkeit" als Relationsbegriff

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den typischen und den konkreten Falll l. Es können aber nur typische ode r konkrete Fälle aufeinander bezogen werden. Problematischer sind die Gesichtspunkte, nach denen der Vergleich durchzuführen ist. Die Richtung, nach der hin die Fälle abgestuft sind, läßt sich durch ein begriffliches Merkm·al bezeichnen. Es muß auf alle zu ordnenden Fälle gleichermaßen zutreffen. (So läßt sich z. B. für "Person" und "Lesesaal" kaum in sinnvoller Weise ein solches Merkmal finden. Nehmen wir aber statt der bezeichneten Gegenstände die Bezeichnungen selbst, dann ergibt sich z. B. die Buchstabenzahl als ein gemeinsamer Gesichtspunkt der Vokabeln12 .) Die Fälle können im Hinblick auf den gefundenen Gesichtspunkt graduell verschieden ("Person" hat die kleinere Buchstabenzahl) oder gleich ,sein (wie "Person" und "Mensch" mit jeweils sechs Buchstaben). Nicht nur von den Eigenschaften der zu ordnenden Fälle, sondern auch von der Art des gemeinsamen Gesichtspunktes hängt die Rangfolge ab. Vergleicht man z. B. die Vokabeln "Lesesaal" und "Menschheit" nach der Silbenzahl, nimmt "Lesesaal" den ersten Platz ein, nach der Buchstabenzahl ist es umgekehrt. Daraus ergibt sich eine wichtige Folgerung: Wir dürfen bei quantitativen Bestimmungen nicht zuerst die Eigenschaften des Falles ermitteln, sondern den gemeinsamen Gesichtspunkt, nach dem die Fälle verglichen werden sollen13• Die quantitative Ordnung kann nach einem oder mehreren Gesichtspunkten aufgestellt sein14• Das strafrechtliche Verhalten läßt sich sowohl nach dem Gesichtspunkt des Handlungsunwertes wie nach dem des Erfolgsunwertes ordnen15 • Bei der fahrlässigen Körperverletzung kann man sowohl den Grad der Fahrlässigkeit als auch das Ausmaß der Verletrung betrachten. Nach jedem Gesichtspunkt ist eine eigene Ordnung durchführbar. Die Ordnungen können zu verschiedenen Ergebnissen führen: Im Straßenverkehr z. B. hat häufig auch die leichte Fahrlässigkeit schwere Folgen. Es ist deshalb erforderlich, daß die Gesichtspunkte, nach denen die quantitative Bestimmung des Falles erfolgt, bei allen zu ordnenden Fällen festgelegt und beibehalten wer11 Wir sind diesem Fehler schon bei der Besprechung der Lehre NoHs von den Graden des Unrechts (vgl. oben S.32) begegnet; vgl. zu diesen Fragen auch unten S. 139 f. Nach Hempel-Oppenheim, S. 41 f., ergibt sich die Vergleichbarkeit der Objekte aus der Gemeinsamkeit des Gesichtspunktes, nach dem verglichen wird. Dadurch werden aber Fehler wie der im Text erwähnte nicht ausgeschaltet. 12 Es ist gleichgültig, in welcher Form das gemeinsame Merkmal in den zu ordnenden Fällen wiederkehrt, ob als konkrete Eigenschaft wie "Buchstabenzahl", als Wertgesichtspunkt wie z. B. "sprachlicher Wohlklang" usw. 13 Hempel-Oppenheim, S.44: "Abstufungsrichtung." 14 Hempel-Oppenheim, S.21, 65, unterscheiden danach "eindimensionale" und "mehrdimensionale" Ordnungen. 15 Ausführlich unten S. 66 ff.

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1. Teil:

Kap. 2: Methodische Probleme

den. Zahl und Art der Gesichtspunkte, nicht etwa die quantitative Bezeichnung "geringfügig" oder "erheblich", begrenzen und individualisieren die jeweillge quantitative Bestimmung. Außer den genannten Komponenten des Handlungsunwertes und Erfolgsunwertes der Tat kann im Strafrecht nach mannigfaltigen Gesichtspunkten quantitativ geordnet werden: Der Charakter des Täters, sein Vorleben, sein Verhalten nach der Tat und anderes mehr können leitende Gesichtspunkte einer Ordnung abgeben. Für die Strafzumessung kommen z. B. die verschiedenen Strafzwecke in Betracht. Nach jedem dieser Gesichtspunkte kann der Fall eine andere Stellung einnehmen16 • Wenn auch ein Fall unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet verschiedene Rangstellen einnehmen kann wie die leicht fahrlässige, folgenschwere Körperverletzung, so kann doch die Rechtsfolge nur einheitlich sein17• Die verschiedenen Ordnungen, die sich nach den verschiedenen Gesichtspunkten einer Richtlinie ergeben, müssen daher doch wieder auf eine einheitliche Ordnung zurückgeführt werden können18 • Zahl und Art der Gesichtspunkte müssen also auch im Hinblick auf dieses Ziel ausgewählt werden. Die gegenseitige Bezogenheit der einzelnen Gesichtspunkte wollen wir zum Ausdruck bringen, indem wir sie als "Komponenten" bezeichnen. Für das Verhältnis der Komponenten ergeben sich folgende Möglichkeiten: Die Ordnung erfolgt zwar grundsätzlich nach allen Komponenten. Gewisse Komponenten sind aber besonders wichtig, so daß diese mehr Einfluß auf die Rangstelle haben als die übrigen. Im Bereich der Strafzumessung kommt z. B. dem Gesichtspunkt der Schuld eine besondere Bedeutung zu. Sodann kann man bei nicht sehr präzisierten quantitativen Ordnungen häufig feststellen, daß der Komponente, die sich im einzuordnenden Fall besonders ausprägt, die entscheidende Bedeutung für die Rangstelle zugemessen wird. Hierzu ist wieder auf die Strafzumessung zu verweisen, bei der vor allem über die "mildernden Umstände" eine Bevorzugung solcher Umstände des Falles zu beobachten ist, die sich besonders auffällig an einen der generellen Gesichtspunkte der Strafzumessung anschließen. Die anderen Komponenten treten dann manchmal völlig zurück19• Nicht zuletzt dadurch kommt die große Unsicherheit im Bereich der Strafzumessung zustande. Einfacher ist die Bestimmung der exponierten Rangstellen, der oberen und unteren Stufen einer 16 Ebenso Radbruch, Klassenbegriffe, S.50; Dreher, über die gerechte Strafe, S.66; vgl. auch Radbruch, Frank-Festgabe, Bd.1, S.172 f. 17 Der "mehrdimensionalen" Ordnung steht im Strafensystem nur eine "eindimensionale" Ordnung gegenüber. Zu diesem Problem Radbruch, Klassenbegriffe, S.50; Engisch, Konkretisierung, S. 288 f.; H. J. Wolf!, studium generale 1952, 198; Spendel, Strafmaß, S. 211 fi. 18 Vgl. hierzu das Problem der "reduzierten" Ordnung bei Hempel-Oppenheim, S. 70 f.

1.

"G€ringfügigkeit" als Relationsbegriff

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Ordnung. Man wird einem Fall die untere Rangstelle nicht zuerkennen, wenn auch nur nach einer der anderen Komponenten eine erhebliche Rangstelle angenommen werden muß, es sei denn, die Komponente selbst fällt für die Gesamtwertung des Objektes nicht besonders ins Gewicht. Bei einer Ordnung nach mehreren g 1 e ich wer t i gen Komponenten darf jedenfalls die exponierte Rangstelle in der Gesamtwertung nur dann dem Fall zuerkannt werden, wenn er auch bei den Ordnungen nach den anderen Komponenten in der gleichen Richtung exponiert ist. Außer dem Begriffsinhalt und der Anzahl der Komponenten ist also auch deren Verhältnis zueinander für die Definition des quantitativen Begriffs und des Begriffs der Geringfügigkeit insbesondere zu klären20• Schließlich lassen sich manchmal Komponenten in der Weise wählen, daß die Rangstelle, die der Fall in der Ordnung nach der einen Komponente einnimmt, die gleiche Rangstelle nach einer anderen Komponente nachweist oder mindestens indiziert, so wie sich vom guten Geruch einer Frucht auf ihren guten Geschmack schließen läßt. Voraussetzung für solche Schlußfolgerungen sind bestimmte Zusammenhänge begrifflicher oder empirischer Art zwischen den Komponenten21 • Solche Zusammenhänge können auch im Strafrecht eine gewisse praktische Bedeutung erlangen: Der Wert der gestohlenen Sache erlaubt z. B. Rückschlüsse auf das Verschulden des Täters. Indessen handelt es sich dabei nur um praktische Arbeitsregeln, die nicht zu unumstößlichen Ergebnissen führen 22 • Wir wollen hier jedoch zusammenfassend festhalten, daß Art und Anzahl der Komponenten sowie ihr gegenseitiges Verhältnis mit in die Definition eines quantitativen Begriffes hinein gehören. über die Auswahl der Gesichtspunkte entscheidet der Zusammenhang, in dem die jeweilige quantitative Ordnung steht. Im Strafrecht geht es vor allem um folgende Sachgebiete: Es kann auf Quantitäten -ankommen für die Frage, ob eine Tat unter Strafe gestellt werden so1123 , ferner bei der Frage, welche Rechtsfolge für eine Tat generell angedroht wird24 • So dann hängt das Ausmaß der Rechtsfolge im Einzelfall, das Strafmaß, von quantitativen Betrachtungen ab. Im Anwendungs19 Vgl. die anschaulichen Ausführungen von Engisch, Studium generale 1959, 86, sowie v. Weber, Strafzumessung, S.14. 20 Zum gegenseitigen Verhältnis von Handlungsunwert, Erfolgsunwert und Schuld als den Komponenten des Bagatelldeliktes näher unten Kap. 3 1II2. 21 Auf diese Möglichkeit der Zusammenstellung von Komponenten legen Hempel-Oppenheim besonders Gewicht und untersuchen sie vor allem an dem bezeichnenden Beispiel der Lehre Kretzschmers über die Zusammenhänge von Körperbau und Charakter, vgl. S.67-76. 22 Vgl. unten S. 100 f. 23 Vgl. unten S. 142 ff. 24 Vgl. unten S. 52 ff.

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1. Teil: Kap. 2: Methodische Probleme

bereich des Opportunitätsprinzips schließlich geht es oft um quantitative Erwägungen bei der Frage, ob Anklage erhoben und ein Strafverfahren durchgeführt oder bis zum Sachurteil geführt werden so1l25. Grundsätzlich richtet sich jeder dieser Bestimmungsvorgänge nach eigenen Gesichtspunkten, die aber freilich miteinander in Beziehung stehen können. Bei der' ersten Gruppe spielen Erwägungen des Unrechts- und Schuldgehalts, aber auch der Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit eine Rolle, bei der zweiten kommt es, wie noch zu zeigen sein wird, allein auf Schuld und Unrecht an, bei der dritten Gruppe ist die Schuld "Grundlage für die Zumessung der Strafe"26, die Strafzwecke können aber zu abweichenden Einstufungen führen 27 . Bei der Opportunitätsfrage sind Erwägungen über die Verhältnismäßigkeit von Mittel und Zweck, Fragen nach Arbeits- und Kostenaufwand von Bedeutung. Alle diese Gesichtspunkte können bei der quantitativen Bestimmung zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Allerdings bringt das gemeinsame Ziel des Strafrechts die Verwandtschaft der einzelnen Vorgänge der quantitativen Bestimmung und mancher ihrer Gesichtspunkte mit sich28 . Die quantitative Ordnung der Strafdrohungen, die sich aus der quantitativen Ordnung der Tatbestände ergibt, richtet sich nach Gesichtspunkten, die auch für die Strafzumessung maßgebend sind: dem Handlungs- und Erfolgsunwert der Tat. Nur sind diese Gesichtspunkte um weitere vermehrt: das Vorleben, besondere tatbestandlich nicht erfaßte Motive des Täters, sein Verhalten nach der Tat; auch aus den Zwecken der Strafe ergeben sich besondere Gesichtspunkte29 . Es wäre aber fehlerhaft, von der Gemeinsamkeit einiger Komponenten darauf zu schließen, daß die quantitative Bestimmung des Falles zum Zwecke der Strafzumessung derselbe, nur verfeinerte Bestimmungsvorgang sei wie derjenige zum Zwecke der Bestimmung des Unrechtsgrades, mit der Folge, daß die Geringfügigkeit nach den Komponenten der Strafzumessung genauer als nach den Komponenten der Tatbestandsordnung ermittelt werden könnte. Denn während bei einem Tatbestand, der qualitativ gefaßt ist, weitere Merkmale eine Spezialisierung bedeuten, können zusätzliche Gesichtspunkte die Rangordnung völlig ändern 30 • Diese Eigenart des Bestimmungsvorganges bringt es mit sich, daß die Eigenschaften des konkreten Falles oder die Merkmale des Tatbestan25 Vgl. unten 2. Teil, Kap. 2 IH. 26 Vgl. Entwurf 1962 § 60 Abs.1. 27 Vgl. dazu Exner, S.97, 99. Anders die Spielraumtheorie; nach ihr können Strafzwecke nur in den Ungenauigkeitszonen der Schuldstrafe berücksichtigt werden, vgl. oben S. 26. 28 Dies betont auch Dreher, über die gerechte Strafe, S. 66. 29 Vgl. Engisch, Konkretisierung, S. 287 f. 30 Ebenso Dreher, a.a.O.; vgl. ferner v. Weber, Strafzumessung, S.10 f.

I.

"Geringfügigkeit" als Relationsbegriff

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des erst am Ende der Untersuchung behandelt werden können. Erst wenn feststeht, nach welchen Gesichtspunkten die Rangordnung aufgestellt wird, zeigt sich, -auf welchen Umständen des Falles die Rangstelle beruht und welche als belanglos unberücksichtigt bleiben dürfen. Solange die leitenden Gesichtspunkte einer Rangordnung, etwa Handlungsunwert und Erfolgsunwert, begrifflich festgehalten werden, besteht zwischen den nach ihnen geordneten Fällen nur ein Unterschied "dem Grade nach". Gibt man aber die Beziehung des Vergleiches und die begriffliche Einheit "Erfolgsunwert" bzw. "Handlungsunwert" auf, so zeigt sich, auf welche Eigenschaften des einzelnen Falles der durch den Vergleich festgestellte graduelle Unterschied zurückzuführen ist. Diese unterscheidenden Eigenschaften sind beispielsweise bei §§ 370 Abs.l Ziff.5, 243, 252 StGB: "Gegenstände des hauswirtschaftlichen Verbrauchs in geringer Menge oder von unbedeutendem Wert zum alsbaldigen Verbrauch"; "Eindringen unter Beseitigung eines vor Zutritt schützenden Hindernisses"; "gewaltsames Bergen der Diebesbeute". Handlungs- und Erfolgsunwert schaffen unter diesen Begriffen eine qualitative Gemeinsamkeit. Für sich betrachtet sind aber die einzelnen Fälle qualitativ verschieden. Diese doppelte Betrachtung wird uns bei der Frage nach der quantitativen Bestimmung des Einzelfalles nochw beschäftigen haben 31 • Manchmal ist es aus sprachlichen Gründen nicht möglich, die Eigenarten, auf denen die Gradabstufungen beruhen, als qualitative Unterschiede zu formulieren, da manche Eigenarten, z. B. die Art der Entstellung durch eine Körperverletzung, in den einzelnen Fällen zu verschiedene Abwandlungen haben, als daß sich ein allgemeiner qualitativer Begriff finden ließe 32 • Die Unmöglichkeit qualitativer F 0 r m u I i e run g ändert aber nichts daran, daß Besonderheiten der Art und Weise des Falles, auf die die quantitative Verschiedenheit zurückgeht, tatsächlich doch bestehen. Eine reine Relation ohne in Beziehung gesetzte Qualitäten gibt es nicht. Auch eine erhebliche Entstellung durch eine Körperverletzung beruht natürlich auf qualitativen Momenten der Verzerrung von Gesichtszügen usw. 31 Vgl. unten S.48. Die doppelte (quantitative und qualitative) Betrachtungsmöglichkeit wird von Hempel-Oppenheim nicht besonders behandelt. Auch Hempel-Oppenheim erkennen sie aber an, wie das Beispiel auf S.64 zeigt: Bei einer Schulklasse wird ein Intelligenztest durchgeführt und eine Rangordnung der Schüler aufgestellt. Die "Rang-Nummer" jedes einzelnen Schülers ist von seiner "persönlichen Gleichung", d. h. seinen persönlichen Eigenschaften zu unterscheiden. Hier ließe sich darauf hinweisen, daß eine Rang-Nummer ohne die "persönliche Gleichung" nicht gedacht werden kann, auch wenn die s e Rang-Nummer und die s e persönliche Gleichung nur zufällig zusammentreffen. 32 Vgl. dazu auch Warda, Dogmatische Grundlagen, S.38; Engisch, Konkretisierung, S. 220. Das Gesetz hilft sich in solchen Fällen häufig durch quantitativ gefaßte Tatbestandsmerkmale (vgl. § 224 StGB: Verlust eines wie h t i gen Gliedes; er heb I ich e Entstellung).

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1. Teil:

Kap. 2: Methodische Probleme

Wenn die Gesichtspunkte feststehen, auf die hin die Fälle verglichen werden sollen, und die Eigenschaften der Fälle bekannt sind, ist die Frage noch nicht gelöst, aus welchen Gründen ein Fall leichter oder schwerer ist als der andere. Diese "Kriterien" des Rangverhältnisses 33 sind gewissermaßen das Verbindende zwischen den 'allgemeinen Gesichtspunkten der Ordnung und dem konkreten einzuordnenden Fall. Für den leitenden Gesichtspunkt, etwa den Erfolgsunwert, lassen sich auf dem jeweiligen Anwendungsgebiet oft spezielle Maßstäbe finden. Bei der Untersuchung der Eigenschaften der zu ordnenden Fälle gilt es dann, die Möglichkeit der Betrachtung nach diesem Maßstab zu entwickeln. Beim Diebstahl kommt es für den Erfolgsunwert beispielsweise wesentlich auf wirtschaftliche Maßstäbe an. Für die Anwendung dieser Maßstäbe etwa auf den Fall einer gestohlenen Uhr kann dann der Geldwert dieses Gegenstandes berechnet werden. Vielfach gibt auch das Gesetz selbst einen Maßstab für das Rangverhältnis von einzelnen Fällen ab, wenn nämlich Eigenschaften der zu ordnenden Fälle in gleicher oder vergleichbarer Art und Weise im Gesetz wiederkehren und dort in ein Rangverhältnis gebracht sind. Ein Beispiel dafür bieten die Straftatbestände selbst mit der Wertskala ihrer Strafrahmen. Wir werden uns mit der Frage nach Maßstäben für die quantitative Bestimmung noch eingehendauseinandersetzen müssen34 •

11. Die Bestimmung der "Geringfügigkeit" im Einzelfall Die Frage nach der Geringfügigkeit der Tat kann der Richter, z. B. bei einer Entscheidung nach § 153 StPO, nur auf Grund des einzelnen Falles beantworten. Die Geringfügigkeit, welche die unterste Rangstelle einer Rangordnung ist, setzt aber das Bestehen einer solchen Rangordnung voraus. Wir stehen damit im Strafrecht vor einem Dilemma von Methodik und Praxis der quantitativen Begriffe, denn die juristische Forderung, den einzelne n Fall zu entscheiden, widerspricht der methodischen Forderung, zunächst eine Rangordnung unter me h r e ren Fällen zu bilden und dann erst die Rangstellen zu benennen. Folgende Überlegungen zeigen den Ansatz einer Lösung dieser Schwierigkeit. Wir haben festgestellt, daß die Fälle, die die einzelnen Rangstellen einnehmen, graduell verschieden unter dem jeweiligen Ge33 Vgl. HempeZ-Oppenheim, S. 48 ff. Dort werden subjektive Kriterien (Nachweis des quantitativen Verhältnisses durch sachverständige Schätzung) und objektive Kriterien (z. B.: Feststellung auf Grund von Testfragen usw.) unterschieden. Diese Unterscheidung ist auch juristisch von Bedeutung: Die quantitative Bestimmung kann ihren letzten angebbaren Grund in der richterlichen Beurteilung haben, aber häufig ergeben sich Anhaltspunkte aus dem Gesetz selbst über Quantitäten. Vgl. unten S. 113 ff. 34 Vgl. unten Kap. 4.

11. "Geringfügigkeit" im'Einzel.fall

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sichtspunkt des quantitativen Vergleichs sind, daß diese quantitative Unterscheidung aber auf qualitative Eigenarten der einzelnen Fälle zurückgeht. Allerdings ist das Zusammentreffen der Eigenarten des Falles mit der Bezeichnung der Rangstelle rein zufällig, denn ändert sich die Zahl der zu vergleichenden Fälle, so ändern sich mit der Rangordnung auch alle Rangstellen (es sei denn, die neuen Fälle sind mit den schon eingeordneten gleichrangig). Man kann also nicht an den Eigenschaften eines Falles seine Rangstelle erkennen, sondern nur nachträglich, nachdem der Fall schon eingeordnet ist, feststellen, auf welchen Eigenschaften seine Rangstelle beruht. Gerade der umgekehrte Weg muß bei der quantitativen Bestimmung des Einzelfalles gefunden werden: Wir müssen ein Verfahren entwickeln, das uns befähigt, von den Eigenschaften des Falles auf seine Stellung in der Rangordnung zu schließen. Diese Möglichkeit besteht nur dann, wenn es eine Ordnung typischer Fälle gibt, auf die wir den konkreten Einzelfall beziehen können. Entsprechen die Eigenschaften des konkreten Falles den Eigenschaften eines dieser typischen Fälle, so müßte der konkrete Fall dieselbe Rangstelle einnehmen, die die Rangordnung dem betreffenden typischen Fall zuweist. Es fragt sich, ob und in welchem Umfang im Katalog der strafrechtlichen Tatbestände eine solche Ordnung besteht und ob sich die Rangstellen dieser Ordnung auf die Tatbestandsverwirklichungen beziehen lassen. Ein Rangverhältnis der strafrechtlichen Tatbestände untereinander zeigt sich am besten an dem Umstand, daß die Strafdrohungen der Tatbestände gestaffelt sindt. Wir wollen zunächst die Technik betrachten, mit welcher das Gesetz hier verfährt2 • Zuerst wird durch die Strafarten, die Zuchthaus-, Gefängnis-, Haft- und Geldstrafe, eine Rangordnung geschaffen. Diese Strafen sind nach der Schwere abgestuft 3 ; 1 Der Gedanke, die Analysen von Hempel-Oppenheim für eine Rangordnung der Tatbestände auszuwerten, stammt von Engisch, Konkretisierung, S.284 Anm.188. Vgl. zum folgenden auch v. Weber, Strafzumessung, S. 21 f. 2 Vgl. dazu auch Dreher, über die gerechte Strafe, S. 59 ff. 3 Dies ergibt sich für das Verhältnis von Zuchthaus- und Gefängnisstrafe positiv-rechtlich aus § 21 StGB: Bei der Umwandlung wird die einjährige Gefängnisstrafe einer Zuchthausstrafe von acht Monaten gleichgesetzt. Eine Umwandlung von Gefängnisstrafe in Haft ist nach dem geltenden Recht nicht möglich. Die Privilegierung der Haftstrafe ergibt sich aber aus § 18 Abs.2 StGB. Auch die Privilegierung der Geldstrafe gegenüber der Gefängnis- und Zuchthausstrafe läßt sich aus dem Strafgesetz nachweisen: Geldstrafe kann nicht statt einer Zuchthausstrafe, wohl aber häufig statt einer Gefängnisstrafe verhängt werden. Die Privilegierung der Geldstrafe gegenüber der Haftstrafe läßt sich aus den Vorschriften des Strafgesetzbuches über die Strafarten allein nicht begründen; sie folgt aber aus dem Vorrang des Rechtsgutes der Freiheit gegenüber dem des Vermögens, der sich im stärkeren verfassungsrechtlichen Schutz der Freiheit (Art. 2 Abs.2 Satz 2, Art. 104 GG) gegenüber dem Vermögen (Art. 14 GG) ausdrückt.

4 Krümpelmann

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1. Teil: Kap. 2: Methodische Probleme

ist bei einem Tatbestand die Zuchthausstrafe angedroht, bei einem anderen die Gefängnisstrafe, so wiegt die mit Zuchthausstrafebedrohte Tat schwerer4 • Ebenso steht es, wenn im ersten Fall Gefängnisstrafe, im zweiten Geldstrafe angedroht ist (vgl. §§ 267, 276 StGB). Sind zwei Delikte beide wahlweise mit Gefängnis oder Geldstrafe bedroht wie in § 185 StGB (Beleidigung) und in § 223 StGB (leichte vorsätzliche Körperverletzung), so ist das Delikt schwerer, bei dem die schwere Strafart an erster Stelle genannt ist, also hier die Körperverletzung. Die Rangordnung ergibt sich sodann aus dem Zusamm~mwirken von §§ 14, 16, 18, 27 StGB (generelle Ober- und Untergrenzen der einzelnen Freiheitsstrafen und der Geldstrafe) mit dem Strafrahmen der Einzeltatbestände. Die nach § 16 Abs. 1 StGB zulässige Höchstdauer der Gefängnisstrafe von fünf Jahren ist beim Delikt der einfachen Unterschlagung (§ 246 StGB, 1. Alternative) -auf drei Jahre herabgesetzt. Die einfache Unterschlagung steht daher im Range unter dem Diebstahl (§ 242 StGB) oder der Unterschlagung einer anvertrauten Sache (§ 246 StGB, 2. Alternative); bei diesen Delikten kann der Höchstbetrag von fünf Jahren Gefängnis verhängt werden. Wird dagegen die Untergrenze der nach § 16 Abs.1 StGB zulässigen Gefängnisstrafe von einem Tag beim einzelnen Tatbestand heraufgesetzt wie bei § 253 StGB (Erpressung, Gefängnis nicht unter zwei Monaten), so zeigt sich ein Vorrang gegenüber solchen Tatbeständen, bei denen es bei der Untergrenze von § 16 StGB bleibt. Viele Tatbestände nehmen dieselbe Rangstelle ein, wie z. B. §§ 222, 242, 259 StGB, die den allgemeinen Strafrahmen nach § 16 StGB haben. An der Staffelung von Strafarten und Strafrahmen läßt sich also eine Rangordnung sämtlicher strafrechtlicher Tatbestände zeigen 5 • Dabei bleiben die Strafänderungsvorschriften der "besonders schweren", "besonders leichten", "minder schweren" Fälle sowie der "mildernden Umstände" außer Betracht. Diese Vorschriften geben über die generelle Rangordnung der Tatbestände keine Auskunft; durch die Ausweitung des Strafrahmens soll die besondere Berücksichtigung des

4 Im Strafgesetzbuch wird in einzelnen Fällen (§§ 94, 174, 224, 226, 240 StGB) wahlweise Zuchthaus- und Gefängnisstrafe angedroht. Ein deutliches Rangverhältnis zu Delikten, die nur mit Zuchthausstrafe bedroht sind, wird dabei nicht mehr sichtbar (vgl. bes. § 226 StGB im Verhältnis zu § 225 StGB). Im Entwurf 1962 ist daher die wahlweise Androhung von Zuchthaus- und Gefängnisstrafe beseitigt worden. Vgl. dazu das Referat von Jescheck, Niederschriften, Bd. 5, S.43, 60, und die einzelnen Diskussionsbeiträge. 5 Nach einem ähnlichen Verfahren werden die Tatbestände gelegentlich zu legislatorischen Zwecken geordnet, vgl. die übersichten in den Niederschriften, Bd.5, S. 177 ff., für das geltende Recht; für den Entwurf 1960 vgl. Bd. 14, S. 101 ff. Im Entwurf sind die "Strafrahmentypen" und damit die Rangstellen erheblich vermindert worden, vgl. dazu Tröndle, Niederschriften, Bd. 5, S. 19 f.

II. "Geringfügigkeit" im 'Einzelfall

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einzelnen Falles erleichtert werden, ohne daß sich an der generellen Einstufung des Tatbestandes etwas änderte 6 • Die Rangordnung, die sich aus dem System der Strafdrohungen ergibt, reicht von den schwersten, allein mit lebenslänglichem Zuchthaus bedrohten Delikten bis zu den leichtesten, die ausschließlich mit Geldstrafe bis zu 500 Mark bedroht sind. Das Strafgesetzbuch kennt als einzigen Fall dieser untersten Swfe das Feilbieten von Wertzeichen nach § 364 StGB. Natürlich wäre es sinnlos, die Rangbezeichnung der Geringfügigkeit an diesen unbedeutenden Einzelfall zu knüpfen. Es kommt vielmehr darauf an, wo der Gesetzgeber selbst die Schnittlinie zwischen Geringfügigkeit und Erheblichkeit legt. Dies verrät uns die gesetzliche Unterteilung der Rangordnung der Tatbestände nach den Kategorien des § 1 StGB. Der Gesetzgeber faßt aufeinanderfolgende Rangstufen zusammen und bezeichnet sie als Verbrechen, Vergehen und übertretungen 7 • 'Quantitativ ließen sich diese Delikte auch als die "schweren", "mittleren" und "leichten" Delikte bezeichnen. Für unsere Untersuchung kann die Unterscheidung zwischen mittleren und schweren Delikten außer Betracht bleiben. Wir müssen vielmehr die übertretungen als die "geringfügigen" oder "leichten" Delikte den Vergehen und Verbrechen als den "erheblichen" Delikten schlechthin gegenüberstellen. Durch die Strafdrohung und die Kategorien des § 1 StGB wird das Verhältnis der Delikte untereinander gesetzlich festgelegt 8 • Sie sind aber gleichsam nur die ratio cognoscendi der Rangordnung der Tatbestände, die ratio essendi der Rangordnung liegt in den Tatbeständen selbst9 • Am besten zeigt sich das im Verhältnis des Grunddeliktes zu seinen Abwandlungen10 • Das Verhältnis etwa des Mundraubs zum Diebstahl und des schweren Diebstahls zum Diebstahl läßt sich als Verhältnis der lex specialis zur lex generalis auffassen. Ebenso kann man bei den Tötungsdelikten als Gattung die Verursachung des Todeserfolges ansehen; die Merkmale der einzelnen Tatbestände der vorsätzlichen Näheres unten S. 55. Vgl. hier wieder Hempel-Oppenheim, S.83: "Man stellt durch nachträgliches Zerschneiden einer ... Reihenordnung verschiedene Klassen her." 8 Daß durch die Strafdrohungen eine Rangordnung der Tatbestände aufgestellt wird, dürfte allgemein anerkannt sein. Vgl. oben Kap. 1 I Anm.39. Treffend spricht Beting, Lehre vom Tatbestand, S. 2 f., von einer "Wertskala" der Deliktstypen, ähnlich Germann, SchwZStR 1940, 345 f. Vgl. auch Heinitz, ZStW 63, 63; Spendel, Strafmaß, S.230; Jescheck, Studium generale 1959, S. 110. 9 Treffend Berner, Lehrbuch, S. 74: "Die Strafen sind zuerst nach dem Charakter der Mißtaten bestimmt worden, und konnten sodann gar wohl als charakteristische Kennzeichen der Mißtaten selbst dienen." 10 Vgl. Zimmerl, Zur Lehre vom Tatbestand, S. 9 f. 6

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1. Teil: Kap. 2: Methodische Probleme

Tötung, des Mordes, der Tötung auf Verlangen, der Kindestötung und der fahrlässigen Tötung sind als Artdifferenzen auf der Grundfigur aufgebautl l . Diese Ordnung nach Art und Gattung läßt sich in eine nach bestimmten Gesichtspunkten aufgebaute Rangordnung umwandeln12 • Bezeichnenderweise spricht man in diesem Zusammenhang von "qualifizierten" und "privilegierten" Tatbeständen. Der Mundraub ist gegenüber dem Diebstahl im Erfolge und in den Absichten des Täters differenziert und danach auch graduell unterschieden. Nach der Schuld, die als ungeschriebene Voraussetzung der Strafbarkeit ebenfalls berücksichtigt werden muß, ist dieselbe Rangstelle gegeben. Die Notentwendung (§ 248a StGB) ist nicht nur nach dem Erfolge, sondern auch nach der Schuld leichter als § 242 8tGB. Nach der Verhaltensweise ist der Einbruch qualifiziert, der aber im Erfolg und der Schuld nicht von § 242 StGB unterschieden wird. Bei den Tötungsdelikten ist der Erfolg überall gleich. In erster Linie wird differenziert nach der Art und Weise des Täterverhaltens, bei § 217 StGB nach der Schuld13. Freilich sind Unklarheiten in der Rangfolge ohne den Blick auf die Strafdrohung nicht zu vermeiden. Der Übertretungstatbestand des Mundraubes und der Vergehenstatbestand der Notentwendung liegen quantitativ betrachtet sehr nahe beieinander. Die Wegnahme von Nahrungsmitteln wird vielleicht weniger als Unrecht empfunden als die Wegnahme der entsprechenden Geldsumme. Dem steht aber gegenüber, daß bei § 370 Abs.1 Ziff.5 StGB der Wert der gestohlenen Gegenstände nicht gering sein muß, wenn nur die Menge gering ist. Der Privilegierung, die beim Mundraub in den Absichten des Täters liegt ("zum alsbaldigen Verbrauch")14, entspricht bei § 248a StGB die privilegierende Notsituation. Die verschiedenen Merkmale beider Tatbestände ließen also wohl auch eine quantitative Parallelität gerechtfertigt erscheinen. Diese Unklarheit wird erst vom Gesetzgeber durch die Strafdrohung beseitigt15. Aber auch hier liegt das Rangverhältnis der Delikte in der Eigenart der Tatbestände begründet. Der Spielraum für die Entscheidung des Gesetzgebers ist relativ eng; der Gesetzgeber könnte z. B. nicht den Tatbestand der Notentwendung dem Einbruch oder dem Grundtatbestand des § 242 StGB gleichsetzen. 11 Wo es sich dabei um eigenständige Delikte, wo um Qualifikationen und Privilegierungen handelt, soll hier nicht untersucht werden (vgl. dazu die Nachweise bei Kohlrausch-Lange, Anm. II zu § 212). Hier kommt es nur auf die Zugehörigkeit zur Klasse der Tötungsdelikte und auf die graduellen Differenzen an. 12 Die Gesichtspunkte der Rangordnung der strafrechtlichen Tatbestände werden im einzelnen unten in Kap. 3 behandelt. "Schuld" soll hier nur als Vorwerfbarkeit verstanden werden. 13 Bestritten, vgl. Kohlrausch-Lange, Anm. I zu § 217. 14 Kohlrausch-Lange, Anm. V zu § 370. 15 Nach § 242 Abs. 1 und 2 E 1962 werden beide Fälle gleich behandelt, vgl. dazu die Begründung, S. 411, und unten S. 179 Anm. 53.

Ir. "Geringfügigkeit" im 'Einzelfall

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Auch im Verhältnis der Grund delikte untereinander ergibt sich die quantitative Ordnung aus der Umwandlung der Fallmodalitäten in graduelle Differenzen oder Parallelitäten. Während es bei den Qualifikationen und Privilegierungen darauf 'ankam, die abgewandelten Tatbestände zum Grundtatbestand in Beziehung zu setzen, kommt es jetzt darauf an, die Grundtatbestände selbst zu vergleichen. Allerdings läßt sich die Rangfolge der Grundtatbestände untereinander weniger genau erkennen als das Verhältnis vom Grunddelikt zum speziellen Delikt. Der Spielraum, in dem es auf die Entscheidung des Gesetzgebers ankommt, ist daher ,auch größer. Aber betrachtet man die Grundtatbestände nach dem Täterverhalten und dem Taterfolg, so können etwa die Tötungsdelikte mit den Eigentumsdelikten in eine Rangordnung gebracht werden. Das Verhältnis dieser Delikte bemißt sich nach den Wertungen, die der gesamten Rechtsordnung zugrunde liegen, vor allem, soweit sie in der Verfassung zum Ausdruck gebracht sind16 . Der Vorrang des Lebens vor dem Eigentum und damit der größere Erfolgsunwert der Delikte gegen das Leben kann positiv-rechtlich aus dem Grundgesetz abgeleitet werden. Während das in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistete Recht auf Leben unverletzlich ist (vgl. 'auch Art. 102 GG, Abschaffung der Todesstrafe), unterliegt das Eigentum gesetzlichen Bindungen und kann unter bestimmten Voraussetzungen entzogen werden (Art.14 GG). An diese Wertungen ist der Gesetzgeber gebunden. Daß sie allerdings in Grenzfragen oft nicht mehr als Maßstab ausreichen, liegt auf der Hand. Neben der Bindung der quantitativen Ordnung an gesetzliche Wertungen liegt aber auch in den Strukturen der Ordnung selbst eine besondere Art der Ermessensbindung11 • Vor allem bezieht sich das auf die Komponenten der quantitativen Ordnung; der Gesetzgeber muß die Gesichtspunkte, nach denen er sich bei der Aufstellung der Rangordnung gerichtet hat, auch beachten, wenn er neue Tatbestände mit Strafe bedroht. Die Strafdrohung darf beispielsweise nicht aus kriminalpolitischen Gründen, etwa damit ein bestimmtes Verhalten möglichst schnell unterbunden wird, besonders hoch angesetzt werden, wenn das Delikt nach den Komponenten, welche das System der Tatbestände und StraMrohungen beherrschen, als leichtes Delikt anzusehen ist1 8 • Die Ordnung der Tatbestände bindet also unter dem Gesichtspunkt, die Normen widerspruchslos zu erlassen, den Gesetzgeber bei der Aufstellung neuer Straftatbestände. Zur Widerspruchslosigkeit gehört es auch, daß 16 Zur Frage der Maßstäbe von Rangverhältnis und Rangstelle der Delikte vgl. unten S. 59 ff., und Kap. 4. 11 Zum Ermessen des Gesetzgebers vgl. Maunz-Dürig, RdNr. 69, 118 zu Art. 20; v. Mangoldt-Klein, Anm. 111 4 zu Art. 3. 18 Vgl. näher unten S.147.

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1. Teil:

Kap. 2: Methodische Probleme

das quantitative Gefüge des besonderen Teils des Strafgesetzbuches beachtet wird. Die Wertungen, die in der Rangordnung der Tatbestände deutlich werden, sind ihrerseits wieder Maßstäbe bei der Anwendung des Gesetzes. Praktische Bedeutung gewinnen sie unter anderem bei der Frage der Güterabwägung19, z. B. im Falle des übergesetzlichen Notstandes oder der Notstände nach §§ 228, 904 BGB20 • Die für unsere Thematik wesentliche Bedeutung liegt in der Möglichkeit, Maßstäbe für die Bestimmung des geringfügigen Vergehens zu entwickeln. Darauf kann an dieser Stelle noch nicht eingegangen werden. Wir wenden uns jetzt dem schwierigsten Problem dieses Fragenkreises zu; es geht darum, ob und in welchem Umfang die quantitative Ordnung der Tatbestände auch für den einzelnen Fall verbindlich ist21 • Daß die quantitative Stellung des Einzelfalles nicht ohne weiteres mit der Rangstelle des Tatbestandes, den er verwirklicht, gleichgesetzt werden kann, zeigen die Strafrahmen der Delikte, die sich vielfach überschneiden. Der Tatbestand des Diebstahls hat nach § 242 StGB den Vorrang vor der einfachen Unterschlagung (§ 246 StGB, 1. Alternative), da der Vergehensstrafrahmen nach § 16 StGB für die einfache Unterschlagung von fünf Jahren auf drei Jahre herabgesetzt ist. Innerhalb der Grenze von drei Jahren aber sind die Strafmöglichkeiten für den einzelnen Fall gleich; ein Diebstahl kann im einzelnen Fall leichter bestraft werden als eine Unterschlagung. Bei anderen Tatbeständen, deren Strafrahmen sich grundsätzlich nicht überschneiden, wie z. B. bei § 242 StGB und § 243 StGB, kann es über die Zulassung mildernder Umstände (§ 243 Abs. 2 StGB) doch dazu kommen, daß der generell schwerere Fall leichter bestraft wird. Wir haben es demnach bei der Rangordnung der Tatbestände und einer (gedachten) Ordnung der konkreten Fälle zunächst mit zwei verschiedenen Ordnungen zu tun. Der Strafrahmen hat im Hinblick auf diese Ordnung der typischen und konkreten Fälle eine doppelte Funktion. Wird bei den typischen Fällen die Ober- und Untergrenze der Einzelstrafrahmen generell festgelegt, so ermöglicht der Strafrahmen für den konkreten Fall dessen individuelle Behandlung, er bezeichnet den Spielraum, innerhalb dessen der 19 Vgl. dazu Baumann, Entwurf § 10 Abs.2; und Eb. Schmidt, MDR 1963, 631. 20 Die Tatbestandsordnung wird ferner u. a. zu Rate gezogen bei der Frage, ob mehrere in Realkonkurrenz stehende Handlungen zur Tateinheit verbunden werden können, wenn sie mit einem weiteren Delikt tateinheitlich zusammentreffen. Die entscheidende Frage, ob das vereinigende Delikt leichter oder gleich schwer ist, ergibt sich aus der Rangordnung der Tatbestände. Vgl. BGH MDR 1962, 999; BGH NJW 1963, 307 (309) mit weiteren Nachweisen. Zu § 73 StGB Engisch, Konkretisierung, S.284 Anm.188. 21 Dazu Dreher, Ober die gerechte Strafe, S. 61 ff.; Exner, S. 87 ff.

11. "Geringfügigkeit" im Einzelfall

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Gesetzgeber mit verschiedenen Schweregraden konkreter Fälle rechnet. Für die Rangfolge der Tatbestände kommt es also auf die Grenzpunkte des Strafrahmens, für die Tatbestandsverwirklichung ,auf seinen Spielraum an. Nur der zweite Gesichtspunkt entscheidet über die Zulassung besonders schwerer oder minder schwerer Fälle. Dem Strafrahmen wird aber dadurch, daß er die Variationsbreite der konkreten Fälle 'angibt, die Funktion nicht genommen, gleichzeitig die Rangstelle des Tatbestandesanzuzeigen, denn sonst könnte man auf die Technik der Strafrahmenänderung mit Hilfe der unbenannten Strafänderungsgründe ganz verzichten und den Strafrahmen von vornherein weiter ziehen. Der typische und der konkrete Fall stehen an und für sich in verschiedenen Ordnungen. Die Bewertung, die sich in der Rangordnung der Tatbestände ausdrückt, hätte aber keinen inneren Sinn, wenn sie nicht in irgendeinem Zusammenhang mit der Ordnung der konkreten Fälle stünde und Rückschlüsse auf die Rangstelle des einzelnen Falles zuließe. Wenn der Gesetzgeber auch die Möglichkeit anerkennt, daß die einfache Unterschlagung im Einzelfall schwerer ist als ein Diebstahl, so geht er aber grundsätzlich vom Gegenteil aus. Dies ist deswegen begründet, weil die Merkmale, die beim schwereren Delikt die 'Qualifikation bilden, nach wertenden Gesichtspunkten ausgesucht sind; Verhaltensweisen, die die Qualifikationsmerkmale aufweisen, zeigen im Regelfall den größeren Unwert. Im Tatbestand erscheint das Unrecht also nicht allein der Art nach, sondern 'auch dem Grade nach typisiert 22 • Freilich muß das Urteil des Gesetzgebers nicht immer auch vom Durchschnitt der Bestrafungen bestätigt werden, denn abgesehen von Fehlwertungen können soziologische Entwicklungen das Verhältnis der Delikte im Laufe der Zeit ändern23 • Es ist aber ein Zeichen der Reformbedürftigkeit, wenn die Statistik der tatsächlichen Strafmaße vom gesetzlichen Rangverhältnis der Tatbestände abweicht. Nach der Art der 'Qualifikation eines Tatbestandes ist auch die Wahrscheinlichkeit, daß das Rangverhältnis der Tatbestandsverwirklichungen dem Verhältnis der Tatbestände entspricht, größer oder geringer. Sie ist größer, wenn sich die Strafrahmen nur im Ausnahmefall, also bei 22 Daß sich eine Rangordnung nach wertenden Gesichtspunkten nur durch die Angabe von sachlichen Merkmalen der einzelnen Randstelle zeigen läßt, hat ausführlich Urmson (On Grading, Mind 1950, 148 ff., vgl. auch das Beispiel S. 152) dargelegt. 23 Vgl. das Beispiel von Exner, S.73, nach dessen Feststellung der schwere Raub häufiger mit der (nur bei mildernden Umständen zulässigen) Gefängnisstrafe geahndet wird als der einfache. Eine ähnliche Entwicklung zeigt sich im Verhältnis vom Diebstahl zum schweren Diebstahl, vgl. Exner, S.83 (Tabelle Nr.23). Besonders der sog. "schwere" Diebstahl nach § 243 Abs. 1 Nr.2 StGB aus Kraftfahrzeugen ist recht häufig eben ni c h t schwer, vgl. Hellmer, JZ 1963, 194; Dreher, ZStW 77, 234 f.

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1. Teil:

Kap. 2: Methodische Probleme

mildernden Umständen (vgl. §§ 242, 243 StGB) oder anderen unbenannten Strafänderungsgründen überschneiden. Bei vielen Tatbeständen überschneiden sich auch bei Anwendung aller Ausnahmevorschriften die Strafrahmen nicht mehr; ein anderes ,als das gesetzliche Schwereverhältnis scheidet dann auch für die konkreten Fälle aus. Als Beispiel lassen sich die äußeren Positionen der Stufenleiter der Tatbestände anführen, etwa der Mord gegenüber dem Mundraub. Ein weniger extremes Beispiel ist der Tatbestand der Notzucht (§ 177 Abs.2 StaB: Mindeststrafe bei mildernden Umständen Gefängnis nicht unter einem Jahr) im Verhältnis zum Tatbestand der Verführung (§ 182 StGB: Höchststrafe ein Jahr Gefängnis). Generell sind die Verbrechen und Übertretungen in dieser Weise unterschieden. Das Verbrechen kann auch bei mildernden Umständen oder in minder schweren Fällen nicht mit Geldstrafe oder Haft bestraft werden 24 , ebenso wie die Rechtsfolge einer Übertretung niemals die Zuchthausstrafe sein kann. Das Vergehen kann häufig ebenso wie die Übertretung mit Geldstrafe geahndet werden, und zwar auch dann, wenn Geldstrafe beim einzelnen Tatbestand nicht angedroht ist, da nach § 27 b StGB Gefängnisstrafen unter drei Monaten in Geldstrafe umgewandelt werden können. Bei zahlreichen Vergehen ist jedoch diese Möglichkeit dadurch ausgeschlossen, daß das gesetzliche Mindestmaß der Gefängnisstrafe drei Monate beträgt25. Diese Beispiele zeigen, daß sich gelegentlich allein aus der Subsumtion des Falles unter den Tatbestand Schlüsse über seine quantitative Stellungziehen lassen. Vielfach kann auf ein Rangverhältnis oder eine Rangstelle nur mit einer größeren oder geringeren Wahrscheinlichkeit geschlossen werden. Durch die Subsumtion unter einen Verbrechenstatbestand und diejenigen Vergehenstatbestände, die den Strafrahmen der ÜbertretungstatJbestände nicht berühren, ist gleichzeitig auch die "Nicht-Geringfügigkeit", d. h. die Erheblichkeit, bindend festgestellt. Wichtiger noch ist die Frage, ob auch die Geringfügigkeit durch Subsumtionsvorgänge ermittelt werden kann. Als geringfügig bezeichnet werden die Übertretungen, also die Tatbestände, die entweder mit Haft oder mit Geldstrafe bis zu 500 Mark bedroht sind. Zwar überschneidet sich der Strafrahmen der Übertretungen mit denen der meisten Vergehen. Die besondere Ausgestaltung des übertretungsstrafrechts zeigt aber, daß diese Überschneidungen nur die Minderung der generellen Erheblichkeit des einzelnen Vergehens, nicht aber die Steigerung der einzelnen übertretung von der generellen Geringfügigkeit in den Bereich der Erheblichkeit gestatten, denn die Übertretung kann nicht 24 Anders ist es bei den "besonders leichten Fällen", die aber nur bei einigen Verbrechenstatbeständen zugelassen sind, vgl. unten 2. Teil, Kap. 2 H. 25 Vgl. unten S. 189 zu der Frage, wie weit in diesen Fällen das Institut der Strafaussetzung zur Bewährung der übergesetzlichen Strafmilderung dient.

II. "Geringfügigkeit" im ·Einzelfall

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strenger bestraft werden, als es die in §§ 1 Abs. 3, 18 StGB festgesetzte Höchstgrenze :ruläßt. Darin liegt eine Eigenart des Übertretungsstrafrechts: Während bei Vergehen besonders schwere Fälle mit Zuchthausstrafe belegt werden können (vgl. § 263 Abs. 4 StGB) , kennt die Übertrewngskategorie solche Ausnahmefälle mindestens im Strafgesetzbuch nicht26 • Wir können daher feststellen: Zeigt der einzelne Fall die Merkmale eines Übertretungstatbestandes, so steht die Geringfügigkeit dieses Falles definitiv fest. Wir gelangen also durch Subsumtion zu einer endgültigen quantitativen Bestimmung des Einzelfalles. Die systematische Stellung der Übertretung oder des selbständigen leichten Deliktes, wie wir sie genannt haben, läßt sich damit folgendermaßen beschreiben: Beim selbständigen leichten Delikt legen die Merkmale des Tatbestandes den Unrechts grad der Geringfügigkeit definitiv fest. Größere Schwierigkeiten bereitet die systematische Stellung der unselbständigen leichten Delikte. Der Tatbestand des Vergehens ist an sich der nicht geringfügige, d. h. der erhebliche Fall. Während aber das Gesetz Ausnahmen von der Geringfügigkeit nicht anerkennt, läßt es Ausnahmen von der Erheblichkeit für den Einzelfall ausdrücklich zu, da der Strafrahmen der Vergehen sich mit dem der Übertretungen überschneidet. Der Gesetzgeber bringt damit zweierlei zum Ausdruck: Einmal erklärt er, daß Tatbestände, die der Vergehenskategorie (oder der Verbrechenskategorie) angehören, im allgemeinen erheblich sind. Da aber der Strafrahmen nach unten hin so sehr erweitert ist, daß er sich materiell gesehen mit dem Strafrahmen der Übertretungen überschneidet, wird deutlich, daß der Gesetzgeber im Einzelfall Abweichungen von der generellen Erheblichkeit anerkennt. Anders als bei den Übertretungen, deren Geringfügigkeit bei Gegebensein der Tatbestandsmerkmale definitiv feststeht, geben die Merkmale des Vergehenstatbestandes nur ein Indiz, daß die Tat erheblich ist. Im Ausnahmefall kann auch ein geringfügiges Vergehen begangen worden sein. Wir können also eine Wahrscheinlichkeitsregel aufstellen und das unselbständige leichte Delikt systematisch als Ausnahme von dieser Wahrscheinlichkeitsregel bestimmen: Beim unselbständigen leichten Delikt erreicht die Tat nicht den für die Merkmale des Tatbestandes typischen erheblichen Unrechtsgrad. Es fragt sich, welchen Wert die gewonnenen Definitionen des selbständigen und des unselbständigen leichten Deliktes haben. Die Definition des selbständigen leichten Deliktes spricht etwas im Grunde Selbstverständliches aus, und auch die Definition des unselbständigen leichten Deliktes gibt uns nicht die Möglichkeit, die Geringfügigkeit 26 Auch die vereinzelten übertretungstatbestände des Nebenstrafrechts, die besonders schwere Fälle zulassen (vgl. oben Kap. 1 II Anm. 2), können dieses Bild nicht wesentlich ändern.

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1. Teil:

Kap. 2: Methodische Probleme

des Einzelf.alles durch Subsumtionsvorgänge im üblichen Sinne festzustellen, sondern sie erfordert immer noch eine quantitative Bestimmung des einzelnen Falles. Dennoch haben die Definitionen Sinn. Die Definition des selbständigen leichten Deliktes ist die notwendige Voraussetzung der Definierbarkeit des unselbständigen leichten Deliktes. Die praktische Bedeutung der Definition des unselbständigen leichten Deliktes liegt darin, daß dieses auf die Rangordnung der Tatbestände bezogen wird und als Ausnahme von einer Rangstufe dieser Ordnung bestimmt wel1den muß. Auf diese Weise gewinnen wir überhaupt erst den Ausgangspunkt für die Frage, nach welchen Gesichtspunkten sich die Bestimmung der Geringfügigkeit oder Erheblichkeit richtet und auf welche Umstände des einzelnen Falles es dabei ankommt. Die leitenden Gesichtspunkte der Bagatellbestimmung sind die Gesichtspunkte der Ordnung, auf die das unselbständige leichte Delikt bezogen wird, also der Rangordnung der Tatbestände. Da die Rangstufe oorch die Merkmale des Tatbestandes indiziert wird, muß der Grund der atypischen Geringfügigkeit des Deliktes in der Art und Weise der Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale liegen. Damit ist festgelegt, welche Umstände des konkreten Falles bei der Bestimmung der Geringfügigkeit beachtet werden dürfen. Die Tatbestandsmerkmale aber sind nach den Gesichtspunkten der RangOI1dnung der Tatbestände ausgewählt. Wenn sich nun die UntersuchJung auf die Verwirklichungsweise der einzelnen Tatbestandsmerkmale richtet, kann ein Gesichtspunkt, der für die Ordnung der Tatbestände nicht maßgebend war, auch nicht unzulässig die Bestimmung des unselbständigen leichten Deliktes beeinträchtigen. Wie ausgeführt, liegt die wichtigste Bedingung für die Begrenzung des quantitativen Begriffs in der Erfassung der Komponenten. Wir haben also nunmehr die Möglichkeit eines begrenzbaren Bagatellbegriffs geschaffen. Es wird sich zeigen, welche Funktionen er im Strafgesetz übernimmt oder übernehmen könnte. Verhältnismäßig kurz können wir die Frage behandeln, wo bei der Kodifikation die erste Schnittlinie zwischen Geringfügigkeit und Erheblichkeit gezogen werden muß, denn das steht im Ermessen des Gesetzgebers. Die Geringfügigkeit ist ein Begriff, der inhaltlich allein von der gesetzlichen Rangordnung abhängt; das positive Gesetz ist daher für ihn schlechthin konstitutiv. Es ist auch durchaus denkbar, daß der Gesetzgeber eine Stufe der Geringfügigkeit gar nicht besonder~ abhebt, also etwa auf die Übertretungskategorie des geltenden Strafrechts verzichtet. Wenn er sie freilich anerkennt, wird er sich in der Regel nach allgemeinen Verkehrsanschauungen richten, nach Rangvorstellungen, die auf dem jeweiligen Lebensgebiet gelten, für das er strafrechtliche Vorschriften erläßt. Der Grad der Gefährlichkeit einer Handlung oder die statistische Wahrscheinlichkeit eines schädlichen Erfo1gseintritts können gering sein, über die Bedeutung eines zu schützenden

11. "Geringfügigkeit" im Einzelfall

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Lebensgutes können quantitative Vorstellungen bestehen, oder das Gut wird durch die verbotene Handlung nur in einem unbedeutenden Randgebiet beeinträchtigt27. Ursprünglich sind alle diese Gesichtspunkte und Rangvorstellungen außernormativ. Sobald sie sich aber in den gebildeten übertretungstatbeständen ausprägen, werden sie zu rechtlichen Maßstäben. Zunächst gelten sie bei der Bildung neuer übertretungstatbestände: Ist die Rangordnung der Tatbestände erst einmal gebildet, dann sind die Fälle, die die Stufe der Geringfügigkeit einnehmen, beispielgebend für spätere neu einzugliedernde Tatbestände. Charakteristische Besonderheiten, auf denen die Geringfügigkeit der eingeordneten Fälle beruht, sind zugleich Kriterien für die Geringfügigkeit des neuen It'alles, wenn dieser die Besonderheiten ebenfalls zeigt. Ein bezeichnender Zug des übertretungsstrafrechts liegt z. B. darin, daß viele Delikte abstrakte Gefährdungsdelikte sind. Ist ein neuer Deliktstatbestand abstraktes Gefährdungsdelikt, spricht viel dafür, daß er in die Klasse der übertretungen einzuordnen ist28 . Die konkrete Gefährdung kann übertretung sein, wenn kein bedeutender Wert gefährdet wird oder die Wahrscheinlichkeit eines tatsächlichen Schadens gering ist (vgl. §§ 1 StVO, 21 StVG)29, die Verletzung, wenn der angerichtete Schaden unbedeutend ist (§ 370 Abs. 1 Ziff. 5 StGB). Dieses Verfahren gibt uns den Hinweis für die Bestimmung der unselbständigen leichten Delikte. Bei ihnen ist die Frage nach Maßstäben der Geringfügigkeit viel schwieriger. Aber auch hier gibt es Maßstäbe ursprünglich außerjuristischer Art. Maßstäbe des Wirtschaftslebens entscheiden über den Wert der gestohlenen Sache und damit auch zum Teil über die quantitative Bedeutung des Diebstahls. Ist nach den Auffassungen des Wirtschaftslebens der Wert der gestohlenen Sache gering30 , haben wir ein starkes Indiz, daß die gesamte Tat nicht schwer wiegt. Allerdings ist der Schritt von der wirtschaftlichen zur strafrechtlichen Geringfügigkeit nicht selbstverständlich; es handelt sich ja um verschiedene Ordnungen. Aber die Grundsätze, nach welchen der Gesetzgeber die Stufe der übertretung bildet, erlauben es uns, den 27 Vgl. dazu Mattes, S.421. 28 Vgl. aber unten S. 105 und S. 122 f. 29 Mattes, a.a.O., weist auch auf den Grad der Abstraktion und die damit zusammenhängende leichtere oder schwerere Verletzbarkeit des Angriffsobjektes hin. 30 Freilich unterliegen auch die Vorstellungen über die Geringfügigkeit des Sachwertes, des Körperschadens usw. den methodischen Bedingungen der quantitativen Bestimmung. Auch diese "Geringfügigkeiten" sind als untere Gradstufen einer auf dem betreffenden Lebensgebiet bestehenden Rangordnung zu verstehen. Aber hier ist der Bestimmungsvorgang durch die Verkehrsanschauung schon vollzogen; das Ergebnis liegt in einer in gewissen Grenzen festen Form vor und kann nun wieder Anhaltspunkt der quantitativen Bestimmung des strafrechtlichen Falles durch den Richter werden.

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Teil: Kap. 2: Methodische Probleme

Schluß von der außernormativen Geringfügigkeit nach den Anschauungen der geregelten Lebensgebiete auf die strafrechtliche Geringfügigkeit auch bei den unselbständigen leichten Delikten zu tun. Der Gesetzgeber selbst zeigt uns dies im Falle des Mundraubs nach § 370 Abs. 1 Ziffer 5 StGB. Das Delikt gehört seiner Eigenart nach zum Diebstahl, also zum erheblichen Unrecht. Die strafrechtliche Geringfügigkeit des Mundraubs wird nun vom Gesetzgeber an die wirtschaftliche Geringfügigkeit geknüpft, die unbedeutende Menge oder den geringen Wert der gestohlenen Sache. Aber der Gesetzgeber begnügt sich damit nicht, denn der wirtschaftlichen Geringfügigkeit fügt er als weiteres Kriterium der strafrechtlichen Geringfügigkeit die besondere Innentendenz des Täters hinzu (Wegnahme "zum alsbaldigen Verbrauch"). Daß am wirtschaftlichen Maßstab die Geringfügigkeit nicht allein abzulesen ist, zeigt sich auch am Tatbestand der Notentwendung nach § 248 a StGB, bei der die wirtschaftliche Geringfügigkeit sogar im Zusammenhang mit einer schuldmindernden Notsituation nicht den Gesetzgeber bewogen hat, auf das Prädikat der Erheblichkeit für den Regelfall zu verzichten 31 . Dennoch aber besteht zwischen der Bestimmung des selbständigen leichten Deliktes durch den Gesetzgeber und der Bestimmung des unselbständigen leichten Deliktes durch den Richter ein wesentlicher Unterschied: Der Gesetzgeber hat die Gewalt, die Geringfügigkeit des Falles an von ihm ausgesuchte Kriterien definitiv zu binden. Ein Mundraub ist deswegen geringfügig auch dann, wenn die Handlung gleichzeit.ig die Tatbestandsmerkmale des Einbruchs erfüllt32 ; ohne die gesetzliche Vorschrift dürfte ein solcher Fall nicht als geringfügig angesehen werden. Von einem unselbständigen leichten Delikt kann man nur sprechen, wenn das Verhalten im Hinblick auf jedes einzelne Tatbestandsmerkmal geringfügig ist. Die Geringfügigkeit nach wirtschaftlichen oder medizinischen Anschauungen, die uns die endgültige Auskunft über die Geringfügigkeit des Diebstahls, der Körperverletzung usw. geben soll, kann freilich nur vom Richter oder vom Sachverständigen geschätzt werden. Damit könnte es den Anschein haben, als stünden wir wieder am Ausgangspunkt der Untersuchung, deren Ziel es war, die Geringfügigkeit aus dem Bereich einer gefühlsmäßigen Schätzung in den Bereich klarer, nach generellen Regeln bestimmbarer Begriffe zu versetzen. Aber ein juristischer Begriff verlangt nicht die Präzision der mathematischen Formel; der Einwand der Ungenauigkeit verliert in dem Augenblick 31 Daß natürlich gerade bei Delikten wie §§ 248 a, 264 a StGB, Fälle denkbar und häufig sind, die sich im Unrechtsgrad nicht von § 370 Abs. 1 Ziff.5 StGB unterscheiden, liegt auf der Hand. 32 Ständige Rechtsprechung seit RGSt 14, 312; vgl. die zahlreichen (allerdings nicht immer zutreffenden) Rechtssprechungsnachweise bei Seibert,

NJW 1958, 1718.

11. "Geringfügigkeit" im 'Einzelfall

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das Gewicht, in dem feste Grenzen der Zone der Ungenauigkeit erkennbar werden. Dieses Ziel haben wir durch die Bezugnahme des Begriffes der Geringfügigkeit auf den Tatbestand erreicht: Die Schätzung der Geringfügigkeit der gestohlenen Sache, der Intensität des Gewahrsams usw. bereitet keine größere Schwierigkeit als die Konkretisierung des Begriffes der unzüchtigen Handlung, der Gewalt USW. 33 . Dagegen würde die Schätzung der Geringfügigkeit der Tat ohne die Bezugnahme auf den Tatbestand praktisch zu einer Angelegenheit des Beliebens: Die Tat ist "nicht so schlimm", weil der Täter den Hundertmarkschein gleich zurückgegeben hat, weil er sonst immer ein anständiger Mensch war, weil er nicht vorbestraft ist usw.; umgekehrt könnte die Tat nicht geringfügig sein, weil der Täter, auch wenn er nur einen Groschen von der Wirtshaustheke weggenommen hat, ein Gewohnheitstrinker ist, weil er in der Hauptverhandlung aufsässig war usw. 34• Jede dieser Erwägungen kann im Prinzip jede Gegenerwägung relativieren, so daß bei dieser Anwendung die Bezeichnung des Quantitativen mit Recht zum Synonym der Ungenauigkeit geworden ist 35 • Freilich bereitet auch einer auf den Tatbestand bezogenen quantitativen Bestimmung die Frage nach den Maßstäben im einzelnen noch große Schwierigkeiten. Wir wollen dies für die unselbständigen leichten Delikte in einem späteren Kapitel noch ausführlicher behandeln36 ,37. Vgl. Mezger, Traeger-Festschrift, S.228; Engisch, Einführung, S.108. Die Untersuchungen zu § 153 StPO (vgl. unten 2. Teil, Kap. 2 111 2) werden zeigen, daß derartige Erwägungen häufig die Bestimmung der Geringfügigkeit verundeutlichen. 35 Daß überall da, wo sich die quantitative Bestimmung nicht in der dargestellten Weise begrenzen läßt, keine Genauigkeit erreicht werden kann, zeigen besonders deutlich die Untersuchungen zur Strafzumessung, die an eine geschlossene Zahl von Komponenten ja nicht gebunden ist (vgl. Exner, S. 46 ff., 57 ff., 86 ff.). 36 Vgl. unten Kap. 4. 37 In seiner während der Drucklegung dieser Arbeit erschienenen Schrift: Die Tatfrage. Der unbestimmte Begriff im Zivilrecht und seine Revisibilität, Berlin 1966, setzt sich Horst-Eberhard Henke auch mit den quantitativen Begriffen auseinander, die er unter Verwendung der Ausführungen von Hempel-Oppenheim als "Begriffe des Grades und Maßes" bezeichnet (S. 85 ff.). Henke verneint wegen der mangelnden Begrenzbarkeit des zu subsumierenden Sachverhalts die Revisibilität derartiger Begriffe (S. 279 ff.), von einigen Ausnahmelagen, insbesondere Fällen der Begriffsverkennung und offensichtlicher Fehlbewertung abgesehen (S. 281, 290). - Freilich übergeht Henke das zentrale methodische Problem der quantitativen Begriffe; ihre Gebundenheit an Komponenten, aus der sich die Beschränkung des zu subsumierenden Sachverhalts gerade ergibt, die auch der Revisionsrichter überwachen kann. Auf die Schwierigkeiten der Bestimmung der positiven Rangstelle weist Henke zutreffend hin (vgl. besonders die instruktive Besprechung der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung zu den Graden der Fahrlässigkeit, S. 280 f.); er scheint indessen die Möglichkeit, die extremen Rangstellen zu bestimmen, wie auch die Bedeutung der Fallgruppenbildung für die Bestimmung der einzelnen Rangstellen zu unterschätzen. Vgl. dazu unten Kap. 4 1. 33 34

Drittes Kapitel

Die Komponenten des Bagatelldelikts: Handlungsunwert, Erfolgsunwert und Schuld I. Die Bedeutung einer Rangordnung der Tatbestände für die Ableitung der Komponenten

Im vorigen Kapitel hat sich immer wieder gezeigt, daß das Problem einer Begriffsbestimmung der Bagatelldelikte nicht bei der Analyse des Begriffs der Geringfügigkeit selbst, sondern bei der Analyse der Komponenten der Geringfügigkeit liegt. Die Frage IlJach dem begrifflichen Inhalt der Komponenten, nach ihrer Anzahl und ihrem gegenseitigen Verhältnis bildet daher die Voraussetzung und den Mittelpunkt einer systematischen Erörterung der Bagatelldelikte. Wenn wir das Bagatelldelikt nach der Stellung bestimmen, die die Übertretungen in der Rangordnung der Tatbestände einnehmen!, dann ist die Richtlinie für die Bagatelldelikte mit der Richtlinie der Rangordruung der Tatbestände identisch. Das gilt auch für die unselbständigen leichten Delikte. Die Vergehens- und Verbrechenstatbestände sind "erheblich" nach denselben Gesichtspunkten, nach denen die übertretungstatbestände "geringfügig" sind. Zwar ist das unselbständige leichte Delikt die Ausnahme von der typischen Erheblichkeit des Vergehenstatbestandes; das bedeutet aber keine Ausnahme von den Komponenten der Rangordnung der Tatbestände, sondern von dem regelmäßigen Zusammenfallen der Tatbestandsmerkmale des Vergehens mit der Rangstelle der Erheblichkeit. Die atypische Natur des unselbständigen leichten Deliktes besagt nur, daß die verwirklichten Tatbestandsmerkmale die indizierte Erheblichkeit nicht verkörpern. Die Geltung der Richtlinie, nach welcher sich Geringfügigkeit und Erheblichkeit bemessen, bleibt davon unberührt. Das beste wäre es, wenn sich die Ordnung der Tatbestände aus einem einzigen Gesichtspunkt erklären ließe; wir wären dann der schwierigen Aufgabe enthoben, mehrere Merkmale zum Zwecke der einheitlichen Bestimmung der Geringfügigkeit auf einen Nenner zu bringen. Da die strafrechtliche Haftung bei der Verwirklichung eines 1

Vgl. oben S. 58 ff.

I. Ableitung der Komponenten

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Tatbestandes IlIUr unter der Voraussetzung der Schuld des Täters eintritt, könnte man an diese als einzigen Gesichtspunkt der Rangordnung denken. Indessen ist es aus zwei Gründen nicht angezeigt, die Untersuchung bei der Schuld ;zu beginnen: Die Schuld ist schon als einzige G run dIa g e der Strafe nicht unangefochten; als einziger Gesichtspunkt der Tatschwere ist sie noch bedenklicher, wie die Staffelung mancher Straftaten nach dem Erfolge (vgl. §§ 222 und 230 StGB) und besonders die erfolgsqualifizierten Delikte zeigen. Sodann aber hängt das Ausmaß der Schuld im Regelfall vom Ausmaß des Unrechts ab: Fassen wir die Schuld als Vorwerfbarkeit auf, so muß das Ausmaß dessen, was dem Täter vorgeworfen wird, auf die Größe des Schuldvorwurfs selbst Einfluß nehmen2 • Dann aber würde die Untersuchung des tatbestandsmäßigen Unrechts doch wieder die Voraussetzung der inhaltlichen Untersuchung der Schuld bilden. Ne ben den Komponenten des Unrechts aber kann auf die Schuld nicht verzichtet werden, denn auchsie ist in verschiedenen Tatbeständen Gegenstand der Typisierung. Hierher gehört etwa das Handeln aus Not (§§ 248 a, 264 a StGB) oder in bestimmten persönlichen Zwangslagen (vgl. § 157 StGB), nach einem Teil der Lehre auch die sogenannten Gesinnungsmerkmale wie "böswillig", "gewissenlos" usw. 3 • Schon wegen dieser Schuldtypisierungen4 müssen wir die Schuld als selbständige Komponente der Rangordnung der Tatbestände ins Auge fassen; die Untersuchung erfolgt jedoch erst nach der Untersuchung der Komponenten des Unrechts. Sofern man Vorsatz und Fahrlässigkeit als Schuldformen versteht, sind aJUch die quantitativen Unterschiede zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit Unterschiede nach dem Grade der Schuld. Nach der strengen normativen Schuldlehre ergeben sie sich nach den Komponenten des Unrechts5 . Diese Frage ist aber für die weitere Darstellung nicht wesentlich. Wenn die Unterschiede überhaupt berücksichtigt werden, 50 ist es im Ergebnis gleich, nach welcher der Komponenten dies geschieht. Es kommt weniger auf die Abgrenzung der Komponenten untereinander als auf den begrifflichen Umfang aller Komponenten und damit ihre Begrenzung nach außen hin an. Im folgenden werden 2 Treffend hierzu Nowakowski, SchwZStR 1950, 304 ("abgeleitete Schuldbewertung"); ausführlich Armin Kaufmann, Normentheorie, S.194, 199 ff.; vgl. auch Schweikert, S.147. 3 Vgl. GaHas, ZStW 67, 46; Hardwig, zstW 68, 14 ff.; NoH, übergesetzliche Rechtfertigungsgründe, S. 41 f.; Würtenberger, Geistige Situation, S.lO; Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale, S.217. 4 Gallas, ZStW 67, 30; Engisch, Unrechtstatbestand, S.413; Mezger-Btei, Allgemeiner Teil, S. 151. 5 Bei der Fahrlässigkeit gilt dies auch nach den meisten Vertretern der strengen normativen Schuldlehre nur für die generellen Voraussetzungen, vgl. Welzel; Lehrbuch, S.121, 159 ff., und die Nachweise bei Krauß, Zurechnung, S. 114 f.

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1. Teil: Kap. 3: Komponenten des Bagatelldelikts

Vorsatz und allgemeine Elemente der Fahrlässigkeit als Bestandteile des Unrechts aufgeraßt. Die Ausführungen über das Verhältnis der Komponenten lassen sich aber leicht so umformen, daß sie auch mit der traditionellen Schuldlehre in Einklang zu bringen sind. Um die Darstellung nicht zu komplizieren, wird darauf verzichtet, diese Umformung jedesmal besonders durchzuführen. Die Schuld als Vorwerfbarkeit ist also nur eine der Komponenten der quantitativen Ordnung der Tatbestände; die weiteren Komponenten ergeben sich aus der Betrachtung des in den Tatbeständen beschriebenen rechtswidrigen Verhaltens. Das Unrecht der Tatbestände läßt sich bei einer Betrachtung sowohl nach dem Handlungsunwert als auch nach dem Erfolgsunwert als quantitativ verschieden verstehen. Diese Begriffe, die Gegenstand dogmatischer Auseinandersetzung über die Grundlagen der Rechtswidrigkeit geworden sind, müssen wir noch näher untersuchen. Hier ist nur festzuhalten, daß sich die Tatbestände nach Handlungsunwert, Erfolgsunwert und Schuld quantitativ ordnen lassen; unter diesen Gesichtspunkten läßt sich auch die Staffelung der Strafdrohungen erklären. Allerdings stellen sich im einzelnen noch besondere Fragen. Gmndsätzlich ist die Einzeltat, und zwar der einzelne Tatbestand des besonderen Teils, Gegenstand der Betrachtung. Anders aber verhält es sich bei den Tatbeständen, deren quantitative Stellung auch von der Rückfälligkeit des Täters (vgl. § 244 StGB) oder von der Gewerbs- oder Gewohnheitsmäßigkeit der Begehungsweise (vgl. § 260 StGB) abhängt. Diese Sonderfälle können hier nicht untersucht werden. In manchen Fällen ergeben sich sodann Milderungen der Strafdrohung oder sogar der Wegfall der Strafe nach Vorschriften des Besonderen Teils über das Verhalten nach der Tat (vgl. § 158 StGB, Berichtigung falscher Aussagen vor Gericht; § 310 StGB, tätige Reue nach Brandstiftung). Diese Fälle gehören jedoch nicht in eine Ordnung mit den Tatbeständen. Daß sich die Strafbarkeit oder Straflosigkeit nicht nach den Komponenten zu richten braucht, nach denen die Straftatbestände geordnet sind, wurde schon ausgeführt. Die Milderung der Strafe ist nie zwingend vorgeschrieben, sondern in das Ermessen gestellt. Dadurch wird die Zugehörigkeit zum Bereich der Strafzumessung deutlich, die wir von der quantitativen OrdlllUng der Tatbestände unterschieden haben 6 • In der Dogmatik werden Handlungs- und Erfolgsunwert vielfach nicht als "Komponenten", d. h. in ihrer ge m ein sam e n Bedeutung für die Frage des strafrechtlichen Unrechts gesehen; die Betrachtung nach dem Handlungsunwert soll vielmehr die Betrachtung nach dem 6 Vgl. oben S. 45 f. und zum Absehen von Strafe als Grenzfall der Strafzumessung unten 2. Teil, Kap. 2 Ir.

I. Ableitung der Komponenten

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Erfolgsunwert ausschließen und umgekehrt. Nun gibt es aber im Strafrecht Fälle, in denen der Handlungsunwert gering, der eingetretene Schaden schwerwiegend ist. Vor allem begegnen wir diesen Fällen bei der bewußten Fahrlässigkeit. Hier ist bereits die Frage kritisch, ob ein tatbestandsmäßiger Erfolg, der durch rechtmäßiges Verhalten verursacht wird, rechtswidrig genannt werden kann7 , und umgekehrt ist beim Versuch der Handlungsunwert oft erheblich, ohne daß es zum Erfolge kommt. In dieser Arbeit geht es um die quantitative Erscheinungsform des Problems, die Frage, wie es mit dem Bagatellcharakter der Tat steht, wenn zwar der Verhaltensunwert gering, der Erfolgsunwert aber groß, oder umgekehrt bei erheblichem Verhaltensunwert der Erfolg der Tat geringfügig geblieben ist. Ließe sich das Unrecht aus dem Handlungsunwert allein erklären, käme es auf den Erfolg nicht an; es müßte dannz. B. auch Bagatellfälle der fahrlässigen 'Tötung geben. Umgekehrt wäre etwa die versuchte Notzucht möglicherweise ein Bagatelldelikt. Kommt es aber auf beide Gesichtspunkte in gleicher Weise an, dann sind diese Delikte immer von erheblichem Unrechtsgehalt, denn eine nach mehreren, gleichwertigen Gesichtspunkten geordnete Rangordnung setzt für die Stufe der Geringfügigkeit voraus, daß der Fall nach beiden Richtungen betrachtet geringfügig ist. Die Gleichwertigkeit der Gesichtspunkte ist aber ebenfalls höchst problematisch. Nicht nur die Frage, ob man die Rechtswidrigkeitaus einem Gesichtspunkt allein begründen kann, ist für das Ausmaß des Unrechts von Bedeutung; außerdem ist eine weitere Möglichkeit in Betracht zu ziehen: Die Zurechnung des Erfolges nach dem Maße des Verschuldens, da möglicherweise die Schuld gegenüber dem Handlungsund Erfolgsunwert der Tat ein größeres Gewicht behält8 • Die Frage einer Bestimmung des Bagatelldeliktes verbindet sich demnach mit grundlegenden Problemen der Verbrechensdogmatik: Der begriffliche Inhalt der Komponenten, ihre Zahl und ihr möglicher Zusammenhang läßt sich nur durch eine Untersuchung der dogmatischen Fragen um den Handlungsunwert, den Erfolgsunwert und ihre gemeinsame Auswirkung auf die Schuld klären.

7 Vgl. hierzu den Beschluß des Großen Zivilsenats des Bundesgerichtshofs, BGHZ 24, 21, der diese Frage verneint und den Handlungsunwert in die Unrechtsbetrachtung einbezogen hat. Darin liegt die wesentliche Bedeutung dieses Beschlusses (vgl. auch Welzel, Neues Bild, S.31), wenn auch die Begründung, das verkehrsrichtige Verhalten beseitige die durch die Verursachung des Erfolges indizierte Rechtswidrigkeit und bedeute damit einen Rechtfertigungsgrund, nicht befriedigen kann (vgl. Engisch, Unrechtstatbestand, S. 418 f.; Welzel, Neues Bild, S. 35 f.; aus der zivilrechtlichen Literatur v. Caemmerer, S.133; Wiethölter, S. 13 f.; neuerdings Milnzberg, Verhalten und Erfolg als Grundlagen der Rechtswidrigkeit und Haftung, 1966). 8 Vgl. unten Abschnitt ur 2.

5 Krümpelmann

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1. Teil: Kap. 3: Komponenten des Bagatelldelikts

11. Zur Problematik eines mehrdimensionalen Unrechtsbegriffs 1. Eindimensionale Unrechtslehren: Handlungsunwert

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der Erfolgsunwert

Das Strafgesetz selbst scheint zu zeigen, daß das Urteil der Rechtswidrigkeit zuweilen an der Handlung, zuweilen am Erfolg anknüpft. Der Vel'such und die Gefährdungsdelikte sind rechtswidrig und strafbar, obwohl es am Erfolg fehlt. Umgekehrt bedroht das Gesetz die fahrlässige Tötung mit schwererer Strafe als die fahrlässige Körperverletzung; bleibt die Fahrlässigkeit ohne Folgen, ist z. B. eine Übertretung nach § 1 StVZO, § 21 StVG oder sogar Straflosigkeit denkbar1 • Die vollendete Tat wird regelmäßig schwerer bestraft als die versuchte2 • Versuche, das Unrecht unter einem einheitlichen Gesichtspunkt zu erklären, stehen also in einem gewissen Spannungsverhältnis zum Gesetz, und die Meinung, das Unrechtsurteil müsse an Handlung und Erfolg 'anknüpfen, gewinnt daher immer mehr an Boden3 • Dabei handelt es sich nicht um neue Unrechtslehren; man versucht vielmehr, einen komplexen Unrechtsbegriff im Wege einer Synthese der dogmatischen Ergebnisse jener beiden Unrechtslehren zu gewinnen, die man als die Lehre vom Verbrechen als Rechtsgutsverletzung und die personale Unrechtslehre einander gegenüberstellen kann4 • Wir wollen diese Lehren im folgenden skizzieren und dabei solche Züge hervorheben, die eine Synthese ermöglichen oder die sie zu verhindern scheinen5 • Die Fragestellung dieser Arbeit verlangt es, vor allem solche Strukturen zu betrachten, die für die Frage nach Graden des Unrechts von Belang sind. 1 Vgl. Kohlrausch bei Aschrott, Die Reform des Reichsstrafgesetzbuches, Bd.1, S. 208 f.; Engisch, Untersuchungen, S.330; Kadecka, Monatsschrift für Kriminologie 1931, 70. Welzel, Fahrlässigkeit, S.20, greift das Beispiel auf, will damit aber nur den Erfolg als die "Zufallskomponente" der Unrechtsbetrachtung herausstellen. Indessen könnte dieses Beispiel auch die selbständige Bedeutung des Erfolges für das Unrechtsurteil zeigen, vgl. Stratenwerth, SchwZStR 1963,250 f.; Krauß, Zurechnung, S. 79; ZStW 76, 61; ferner Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S.162. 2 Vgl. die Kontroverse zwischen Börker, JZ 1956, 477, und Dreher, JZ 1956, 682; sowie Stratenwerth, Festgabe zum Schweizerischen Juristentag, S. 247 ff. 3 Vgl. Maurach, Allgemeiner Teil, S.191; Jescheck, Festschrift für Erik Wolf, S.476, mit Nachweisen. 4 Die Vereinigung von Handlungs- und Erfolgsunwert im Unrecht haben Stratenwerth, SchwZStR 1963, 233 ff., und Krauß, ZstW 76, 19 ff., zum Thema einer besonderen Untersuchung gemacht. Vgl. auch Maihofer, RittlerFestschrift, S. 141 ff.; Jescheck, Festschrift für Erik Wolf, S. 476 f. 5 Eine ausführliche Darstellung erübrigt sich mit Rücksicht auf verschiedene eingehende übersichten in neuerer Zeit, vor allem von Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale, S. 139 ff.; Krauß, ZStW 76, 19 ff.; Kraus'haar, GA 1965, 1 ff.; Milnzberg, S. 47 ff.

II. Handlungsunrecht und Erfolgsunrecht

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Die Lehre vom Verbrechen als Rechtsgutsverletzung interessiert uns in diesem Zusammenhang nur in ihrer neueren Gestalt, wie sie uns et.wa aus den Schriften Mezgers oder den Lehrbüchern von v. Hippel und v. Liszt-Schmidt entgegentritt: Seit der Entdecknmg der subjektiven Unrechtselemente6 steht nicht mehr die Anknüpfung an objektive, d. h. äußerlich erfaßbare Vorgänge im Vordergrund der Betrachtung; es geht insoweit nicht mehr um eine Strukturfrage, sondern um eine Zweckmäßigkeitsfrage 7 • Der leitende systematische Gedanke liegt vielmehr darin, daß die Unrechtsbetrachtung beim Verletzten und seinem Interesse den Ausgang nimmt; die Rechtsgutsverletzung als Einbuße des Verletzten ist der Kern des Unrechts8 , erst von hierher kommt das Täterverhalten in den Blick. - Dagegen nimmt die vor allem von Welzel begründete "personale" Unrechtslehre das Täterverhalten zum Ausgangspunkt der Systematik; die Rechtsgutsverletzung erscheint dabei als Werk eines Täters. Bei Mezger ist das Bemühen um die Einheit der Rechtsordnung einer der Gründe für sein System: "Der Verletzte und sein Interesse bilden den Angelpunkt des ganzen Rechts9 ." Daran ist auch das Strafrecht gebunden, das in erster Linie Interessenschutz ist10 , und das strafbare Unrecht kennzeichnet sich durch seine Rechtsfolge, nicht durch seinen Tatbestand11 • Dem Erfolgsunwert darf nicht ein selbständiger Handlungsunwert entgegengesetzt werden, denn die Rechtswidrigkeit ist "Eigenschaft der gesamten Handlungsentwicklung" und betrifft die "Handlung hinsichtlich aller ihrer Teilstücke", auch des Versuchs12 • Auch Welzelleugnet die Einheit der Rechtswidrigkeit nicht, soweit diese eine Relation zu den Sätzen des Rechts, "ein Grundlegend: H. A. Fischer, S. 288 f.; vgl. besonders Mezger, GS 89, 207 ff. Allgemeiner Teil, S. 88; Mezger, Moderne Wege, S. 20; Baumann, Allgemeiner Teil, S.254. Die Beschränkung des Unrechts auf vorwiegend äußeres Verhalten folgt bei Mezger aus der Erwägung, daß das Recht in erster Linie die äußere Lebensordnung gewährleisten soll (vgl. Lehrbuch, S.164; GS 89, 242; Mezger-Blei, Allgemeiner Teil, S.89), nicht aber, wie Krauß, ZStW 76, 19, 21 f., anzunehmen scheint, unmittelbar aus der Sicht des Unrechts als Interessenverletzung, mit der Mezger seine Lehre von den subjektiven Unrechtselementen ja gerade zu verbinden suchte. Allerdings hat Mezger später die äußere Natur des Unrechts wieder stärker betont (vgl. Leipziger Kommentar, Einleitung, S. 12; Mezger-B~ei, Allgemeiner Teil, S. 92) und subjektive Unrechts elemente im Anschluß an Lange, ZStW 63, 468, mit dem Gedanken einer Vorverlegung des Rechtsgüterschutzes gerechtfertigt. (Dieser Gedanke ist bei Mezger, GS 89, 260, schon vorbereitet.) Eine Wiedereinsetzung des objektiven Moments in den Stand des maßgeblichen Kriteriums ist darin aber nicht zu erblicken. 8 Vgl. Mezger, Lehrbuch, S.181; ähnlich v. Hippe~, Deutsches Strafrecht, Bd.1, S.26; v. Liszt-Schmidt, S. 3 ff. 9 Mezger, GS 89, 249. 10 Vgl. dazu auch Würtenberger, Geistige Situation, S. 65. 11 v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Bd. 1, S. 31. 12 Mezger, Leipziger Kommentar, Anmerkung III 9 a, (S.328) vor § 51. 6

7 Mezger-B~ei,



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1. Teil: Kap. 3: Komponenten des Bagatelldelikts

Mißverhältnis zwischen zwei Beziehungsgliedern" angibt. Ein Verhalten, das im Strafrecht rechtswidrig ist, kann in anderen Rechtsgebieten nicht rechtmäßig sein und umgekehrt. Es gibt aber ein spezifisch strafrechtliches, zivilistisches, verwaltungsrechtliches "Unrecht" nach den Besonderheiten des jeweiligen Rechtsgebietes. Im Gegensatz zu Mezger gelten Welzels s y s t em a t i sc h e Bemühungen speziell dem s trafr e c h t 1 ich e n Unrecht; im übrigen genügt es ihm, daß die Einheit der Rechtswidrigkeit sachlich gewahrt bleibt13 • Eine auf den Täter bezogene Systematik hat den Vorteil, daß sie Besonderheiten des Unrechts zusammenzufassen vermag, die für das Strafrecht wesentlich sind, in anderen Rechtsgebieten aber zurücktreten können oder müssen. Da im Strafrecht unbestritten der Täter und sein Verhalten im Mittelpunkt der sachlichen Aufgaben stehen14 , kann der zu beaI1beitende Sachverhalt präziser erfaßt werden, wenn er unter dem speziell strafrechtlichen Aspekt des Täterverhaltens systematisiert wird15 • Freilich ist damit die Gefahr verbunden, den Zusammenhang mit den allgemeinen Strukturen des Rechtswidrigkeitsurteils zu verlieren.

a) Die Lehre vom Verbrechen als Rechtsgutsverletzung Im Mittelpunkt der traditionellen Unrechtslehre stehen die Begriffe des Rechtsguts und der Rechtsgutsverletzung. In Anbetracht des oft unterschiedlichen Wortgebrauchs empfiehlt sich eine kurze Begriffsbestimmung16• Sowohl "Rechtsgut" als auch "Verletzung" lassen sich aus zwei Beziehungsrichtungen denken. Vom Täter her gesehen ist das Rechtsgut das Angriffsobjekt, vom Verletzten aus das Schutzobjekt des Strafrechtssatzes17 • Die "Verletzung" des Rechtsguts kann einmal aktivisch gemeint sein und die Tat bezeichnen; man kann sie 'aber auch passivisch auf die Einbuße des Verletzten beziehen18 • Wichtiger sind die begrifflichen Unterschiede, die sich nach dem Grad der Abstraktion ergeben. In den Hintergrund tritt heute die Bezeichnung "Rechtsgut" für das konkrete Tatobjekt19 , In der heute überwiegend verwendeten Terminol()gie ist das Rechtsgut auf die Institution bezogen, es ist ein

Welzel, Lehrbuch, S. 46 f. Dies auch bei der Beziehung des U n r e c h t s u r t eil s auf den Verletzten, vgl. Mezger, ZStW 57, 677; Leipziger Kommentar, Einleitung, S.6. 16 Gegen die Not wen d i g k e i t dieses Ausgangspunktes Jescheck, Festschrift für Eb. Schmidt, S. 154. 16 Ausführlich Sina, Die Dogmengeschichte des strafrechtlichen Begriffs "Rechtsgut" (1962). 17 Mezger, Lehrbuch, S.200; anders aber Beling, Lehre vom Verbrechen, S.210. 18 Vgl. Münzberg, S. 350 f. 19 In diesem Sinne spricht Beling, Lehre vom Verbrechen, S. 210, vom "Angriffsobjekt" . 13

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II. Handlungsunrecht und Erfolgsunrecht

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"von der Rechtsordnung geschütztes menschliches Lebensinteresse" , ein "Rechtswert", nicht aber das "im Einzelfall geschützte Objekt"20, dessen Verallgemeinerung es sein kann, von dem es sich in manchen Tatbe·ständen aber auch unterscheidet21 . Die Unterscheidung zwischen "Rechtsgut" und ,.Interesse"22 hat geringe sachliche Bedeutung; beides drückt eine gleiche Beziehung in verschiedener Beziehungsrichtungaus: Das Rechtsgut ist "gut für" den Menschen; der Mensch hat "Interesse am" Gut. Beide Begriffe können daher praktisch synonym verwandt werden23 . Indessen hat der Streit um Rechtsgut und Interesse deutlich gemacht, daß in der Rechtsgutsverletzung nicht nur irgendein Materialschaden entsteht, sondern letzten Endes immer "der Mensch als empfindendes Wesen"24 getroffen wird. Freilich verlangt das Strafrecht nicht ein psychologisch nachweisbares Interesse25 , sondern begnügt sich mit dem "generellen Durchschnittsinteresse", von dem der Gesetzgebeinach dem Maßstab der allgemeinen Erfahrung ausgehen kann26. - Die Bezeichnung "Rechtsgut" erscheint schließlich noch in der Bedeutung eines AuSlegungsprinzips,als "ratio legis" in ihrer "kürzesten Formel,m. Die Vertreter dieser Lehre wenden sich vor allem gegen den Gedanken des Schutzobjekts, das als Allgemeinbegriff nicht "verletz20 v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Bd.l, S. 12; ebenso Mezger, Lehrbuch, S. 200 f.; Mezger-Blei, Allgemeiner Teil, S. 107 f.; Würtenberger, Geistige Situation, S.58; Baumann, Allgemeiner Teil, S. 117. 21 Vgl. § 267 StGB. Rechtsgut ist die Sicherheit des Rechtsverkehrs, Tatobjekt die Urkunde, die im Verhältnis zum Rechtsgut Angriffsmittel ist. 22 Dazu besonders Keßler, GS 39, 94 ff. 23 Ebenso Krauß, Zurechnung, S.4 Anm. 1; vgl. auch Gallas, Festschrift für Graf Gleispach, S.57. 24 Keßler, GS 39, 111. In dieser Beziehungsstruktur sieht mit Recht Sina, S. 96 ff., das von anderthalb Jahrhunderten dogmatischer Bemühung immer wieder herausgearbeitete wichtigste Strukturmerkmal des Rechtsgutsbegriffs. Zur Bedeutung der Lehre Keßlers für diese Fragen auch Honig, S. 17; Noll, übergesetzliche Rechtfertigungsgründe, S. 65 ff. 25 So aber die Meinung 'Keßlers', Einwilligung, S. 55, darin durchaus ein Gegenstück zur Lehre vom Rechtsgut als dem konkreten Tatobjekt. Zu den "psychologisch-empiristischen" Einflüssen des ausgehenden 19. Jahrhunderts auf diese Lehre besonders Honig, S.70. 26 Mezger, Lehrbuch, S. 199 f. Entgegen Sina, S.95, liegt darin nicht eine Hinwendung zum methodologischen Rechtsgutsbegriff (darüber im folgenden Text), sondern nur der Verzicht auf den Nachweis des Interesses im Einzelfall. 27 Honig, S. 75, und mit ihm die teleologische Richtung der Rechtsgutslehre, vgl. vor allem Schwinge, S. 22 ff. ; sowie Schwinge-Zimmerl, S.71 ff.; Gallas, Festschrift für Graf Gleispach, S. 57 fi. (besonders S. 61: "Maßstab, nicht Objekt verbrecherischen Verhaltens"). Hier ist freilich die Beziehungsstruktur des menschlichen Interesses übergangen. "Rechtsgut" ist in dieser Sicht eine Umschreibung für methodisch exakte Rechtsauslegung. Gegen diese rein methodische Funktion des Rechtsgutsbegriffs Mittasch, S. 88 f.; Baumann, Allgemeiner Teil, S.118; Sina, S. 76 fi. - Mezger, zstw 57, 698 f., hat sich wegen der Ähnlichkeit früherer Formulierungen ausdrücklich distanziert.

1. Teil: Kap. 3: Komponenten des Bagatelldelikts

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bar" sei28 • Indessen braucht mit der "Verletzung" ebensowenig die konkrete Beschädigung wie mit dem "Rechtsgut" das konkrete Tatobjekt gemeint zu sein. Der Begriff kann sich im übertragenen Sinne auch auf den Schaden für die Institution als Ganze beziehen, die auch der einzelne Angriff beeinträchtigt, weil er ihre Geltung in Frage stellt29 • Zwar entfaltet der Begriff "Rechtsgut" seine dogmatische Bedeutung und praktische Wirksamkeit vor allem im Strafrecht. Der Sache nach ist er aber nicht nur ein strafrechtlicher Begriff. Auch die Güter in § 823 BGB, Leben, Gesundheit, Freiheit, Eigentum, sind selbstverständlich Rechtsgüter im hier entwickelten Sinne, die fahrlässige Sachbeschädigung ist Rechtsgüterverletzung. Wie weit die Ausformungen des Begriffs auf spezifisch strafrechtliche Sach:zusammenhänge zurückgehen, wird noch zu überlegen sein30 • Die begrifflichen Unterscheidungen im Bereich des Rechtsgutsdenkens dürfen, so notwendig sie sind, nicht über den engen sachlichen Zusammenhang hinwegtäuschen, indern die Ausformungen dieses Begriffs zueinander stehen. So ist ein Individualinteresse und seine statistische Häufigkeit die Voraussetzung dafür, daß sich ein "generelles Durchschnittsinteresse" überhaupt bilden kann; und auch das Rechtsgut ist zwar ein Allgemeinbegriff, aber immer der Konkretisierung auf ein bestimmtes Substrat hin fähig, das freilich nicht immer mit dem Tatobjekt im oben bezeichneten Sinn identisch zu sein braucht31 • Die Frage, wie weit im S t r a f r e c h t diese Konkretisierung nachweisbar sein muß, bleibt noch zu untersuchen. Nach der traditionellen Lehre liegt der materielle Gehalt jeden Verbrechens in der Rechtsgutsverletzung 32 , und damit im Erfolgsunwert Vgl. besonders Gallas, a.a.O., S. 57 f. Vgl. dazu Würtenberger, Geistige Situation, S. 58; Mittasch, S. 87 f. 30 Vgl. unten Abschnitt 11 2a. Der Streit um Rechtsgüter der Allgemeinheit oder des Einzelnen kann hier übergangen werden. Dem Strafrecht geht es jedenfalls immer um den Allgemeinaspekt des Rechtsguts, denn das verletzte Interesse des Einzelnen wird nicht ihm gegenüber ausgeglichen wie etwa im Zivilrecht; das Einschreiten der Strafgewalt hat vielmehr seinen Grund darin, daß durch die Verletzung des Einzelinteresses der Sozialprozeß in anderen, mißbilligten Richtungen verläuft, außer Kontrolle gerät und dadurch der Rechtsfrieden gestört wird. Zweckmäßig unterscheidet man jedoch mit Maurach, Allgemeiner Teil, S.181, ob die Rechtsordnung einem Einzelnen die ausschließliche Disposition über das Rechtsgut zuweist, da dies für Auslegungsfragen (das Problem der Staatsnotwehr, die Einwilligung des Verletzten usw.) von Bedeutung ist. 31 Vgl. oben Anm.21. 32 V . Hippet, Deutsches Strafrecht, Bd.2, S. 184 f.; v. Liszt-Schmidt, S.144; Mezger, Lehrbuch, S. 198 ff.; Baumann, Allgemeiner Teil, S. 117 ff. 28

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H. Handlungsunrecht und Erfolgsunrecht

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als dem einzigen Aspekt der Unrechtsbetrachtung33 . Die Lehre kann daher zu einer tauglichen Systematik im Hinblick auf die Gefährdungsdelikte oder den Versuch niemals gelangen, wenn sie das Rechtsgut nur als Tatobjekt versteht, vielmehr verlangt das systematische Bestreben, alle Straftaten als Rechtsgutsverletzungen ml sehen, nach dem weiten Begriff des Rechtsguts als der zu schützenden Institution. Dieser Begriff findet nur da seine Grenzen, wo es um das Innere des Täters selbst geht, insbesondere um seine Gesinnung 34. Und die "Verletzung" kann sich nur auf die Erschütterung des Rechtsinstituts als solchen beziehen, da es hier nicht auf den Eintritt des konkreten Schadens ankommt. Freilich läßt sich dieser Schaden, wenn er im Tatbestand beschrieben ist wie bei den Erfolgsdelikten, dem System mühelos einfügen. Neben der materiellen Bedeutung des Rechtsgutsbegriffs steht also eine systematische Funktion; "Rechtsgut" ist einmal das geschützte Interesse, zum anderen das systemtechnische Mittel, die strafrechtlichen Verhaltensarten in der einheitlichen Blickrichtung auf den Verletzten betrachten zu können. Freilich ist die StelLung der Handlung im System der traditionellen Lehre problematisch. Es wird oft übersehen, daß "Verletzung" in dieser Lehre nicht aktivisch als Tat, sondern passivisch als Einbuße zu verstehen ist. Das Unrecht ist die "Veränderung eines rechtlich gebilligten bzw. Herbeiführung eines rechtlich mißbilligten Zustandes, ni c h t rechtlich mißbilligte Herbeiführung eines Zustandes"35. Nur über den Gedanken der Gefährdung, der Vorverlegung des Rechtsgüterschutzes auf die Vorstadien der Verletzung, wird die Handlung zum Gegenstand der Unrechtsbetrachtung. Alle strafrechtlichen Verhaltensweisen werden in dieser Sicht Verletzung oder Gefährdung von Rechtsgütern. Auch die Delikte, die nicht zum konkreten Erfolg geführt haben, werden 33 Die Bezeichnung "Erfolgsunwert" ist allerdings nicht von der traditionellen Lehre, sondern von Welzel, vgl. Lehrbuch, S. 1 ff., ZStW 58, 507 ff., für die Rechtsgutsverletzung eingesetzt worden; Bedenken gegen diese Terminologie bei Kohlrausch-Lange, Systematische Vorbemerkungen IH 1, S. 13. 34 Bedenklich daher Mezger, ZStW 57, 697: Rechtsgutsverletzung kann auch eine verbotene und unter Strafe gestellte "Gesinnungsäußerung" sein, wie die "böswillige" Vernachlässigung eines Kindes nach § 223b 8tGB. 35 Mezger, GS 89, 245 f. Mit einem gewissen Recht schließt Welzel, ZStW 58, 507, daher auf das "dringlichste Anliegen Mezgers", "die Handlung, d. h. die besondere Art der Herbeiführung des mißbilligten Erfolgs für die Rechtswidrigkeit als irrelevant zu erweisen". Mezger legt auch Wert auf die Feststellung, daß selbst Tierangriffe oder Naturereignisse im Prinzip einen rechtswidrigen Zustand herbeiführen können (ähnlich Nagler, Rechtswidrigkeit, S.319), wenn dies auch im geltenden Strafrecht nicht der Fall sei. Diese Auffassung schränkt v. Liszt-!Schmidt, S. 175, dahin ein, daß nur menschliches Verhalten Gegenstand der rechtlichen Regelung sein könne; ähnlich Baumann, Allgemeiner Teil, S.146; gegen die Rechtswidrigkeit von Tierangriffen und Naturereignissen auch H. A. Fischer, S.163.

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1. Teil: Kap. 3: Komponenten des Bagatelldelikts

mit dieser Begründung erklärt, also der Versuch und eben die Gefährdungsdelikte 36 • Indessen ändert der Begriff der Gefährdung bei der Transposition der Verhaltensweisen in Rechtsgutsgefährdungen wiederholt seinen Inhalt. Beim tauglichen Versuch ist die Handlung gefährlich, weil sie objektiv geeignet ist, das konkrete Tatobjekt und damit auch das Rechtsgut zu beeinträchtigen37 • Beim untauglichen Versuch fehlt es an dieser objektiven Eigenschaft der Handlung; die Gefährlichkeit ergibt sich aus der inneren Einstellung des Täters zusammen mit einem Urteil darüber, ob die Tat nach außen hin überhaupt den Eindruck eines Angriffes zu erwecken vermag; dies letztere läuft auf Erwägungen über die abstrakte Gefährlichkeit der Versuchshandlung hinaus 38 • Mit dem Schutzgedanken, der die Legitimation der Umformung von Handlungen in Gefährdungen ist, läßt sich eine solche Abwandlung nur vereinbaren, wenn man annimmt, daß sich im untauglichen Versuch die Gefährlichkeit der Täterpersönlichkeit offenbare, oder daß das Verhalten, ließe man es unbestraft, andere Personen zu der Tat verleiten könnte. Der Gesichtspunkt der gefährlichen Handlung wird dann aber durch den Gedanken des gefährlichen Täters oder des bösen Beispiels abgelöst; damit bildet ein spezial- oder generalpräventives Argument die einzige Unrechtsbegründung 39 • Auch bei den abstrakten und konkreten Gefährdungsdelikten liegt ein verschiedener Begriff der Gefährdung zugrunde, der sich nach dem Zeitpunkt des Urteils über die Gefahr unterscheidet: Die konkrete Gefährdung kann nur dann, wenn die Gefahr bereits wirklich eingetreten ist, beurteilt werden; die abstrakte Gefährdung verlangt ein Urteil über die Handlung zum Zeitpunkt ihrer Vornahme und im Hinblick auf mögliche Folgen40 • Zwar treffen alle Formen der Gefährdung mit der Verletzung in der Überlegung zusammen, daß durch den Strafschutz der potentielle Täter abgehalten wird, Straftaten zu begehen41 • Aber dann handelt es 36 Zum Versuch vgl. Mezger-BZei, Allgemeiner Teil, S.225; zu den Gefährdungsdelikten a.a.O., S. 86. 37 Mezger-BZei, a.a.O., S. 225, "Betätigungsformen, die im konkreten Fall eine äußere Gefährdung des angegriffenen Rechtsguts bedeuten". 38 Die ältere Lehre stellt allein auf die Gefährlichkeit ab, vgl. besonders v. HippeZ, Deutsches Strafrecht, Bd. 2, S. 425 ff. Eine gemischt subjektivobjektive Theorie vertreten dagegen Mezger-BZei, a.a.O.; KohZrausch-Lange, Anm. III 2 vor § 43. Dagegen hält SpendeZ, NJW 1965, 1881 ff., an einer objektiven Theorie fest; ebenso Horn, S. 71 f. Zur "Abstraktheit" der Gefahr der untauglichen Versuchshandlung Maurach, Allgemeiner Teil, S.430. 39 Vgl. auch SpendeZ, NJW 1965, 1884. 40 Hierzu besonders WeZzeZ, Fahrlässigkeit, S. 22 f. mit Anm. 32. 41 So ausdrücklich Mezger-BZei, Allgemeiner Teil, S.225; ähnlich KohZrausch-Lange, Anm. Irr 2 vor § 43, über den Unrechtscharakter des untauglichen Versuchs. Lange, ZstW 63, 468, hat auch von einer "Vorverlegung des Rechtsgüterschutzes" gesprochen; zustimmend Mezger-BZei, Allgemeiner Teil, S.92.

II. Handlungsunrecht und Erfolgsunrecht

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sich im Grunde nicht mehr um das Unrecht der strafrechtlichen Tatbestände, sondern um einen bestimmten Strafzweck, die Generalprävention. Dieser Gedanke geht über die Tat als Gegenstand des Rechtswidrigkeitsurteils heraus, die Frage nach der Struktur des Unrechts bleibt unbeantwortet. Das Unrecht kann als Rechtsgutsverletzung im Ergebnis also nicht einheitlich erklärt werden, ohne daß bei der Durchführung der Konstruktion die Einheitlichkeit des Gesichtspunktes doch wieder aufgegeben wird. Dies zeigt sich auch bei einer Betrachtung nach den Graden des Unrechts. In den meisten Fällen freilich ergeben sich keine Schwierigkeiten. Das Ausmaß des konkreten Personen- oder Sachschadens beeinflußt das Ausmaß des Unrechts. Vor allem ist das Unrecht größer oder geringer nach der Werthöhe des verletzten Gutes, unabhängig von seiner konkreten Gestalt und vom Ausmaß der Verletzung. Nach dem Wert der Güter ist die Rechtsgüterordnung gestaffelt; das Leben steht höher als die Gesundheit oder das Eigentum42 • Die Werthöhe des angegriffenen Gutes ist auch bei jenen Delikten der eigentliche Steigerungsfaktor auf der Erfolgsseite, bei denen eine materielle Verletzung begrifflich nicht möglich ist, wie bei zahlreichen Tatbeständen des Sittenstrafrechts. Die Probleme zeigen sich erst beim Begriff der Gefährdung, über den die Intensität des Angriffs für das Ausmaß des Erfolgsunwerts erschlossen wird. Dazu ergeben sich dieselben Bedenken über den Wechsel des Begriffsinhalts wie zu der Begründung des Unrechtsurteils. Bei einer Betrachtung nach dem Grade des Unrechts führt das Nebeneinander von abstrakter und konkreter Gefährdung oder gar der Verletzung zu einer Aufspaltung des Erfolgsunwerts. Man wird ja z. B. Fälle der fahrlässigen Tötung, in denen also das Ausmaß des konkreten Erfolges gleich ist, auch unter dem Aspekt der Gefährlichkeit der Handlung nach einem Urteil zum Zeitpunkt ihrer Vornahme differenzieren. Der Motorradfahrer, der bei Nacht betrunken ohne Licht fährt, handelt gefährlicher als ein anderer, der durch einen kleinen Bremsfehler einen Unfall verursacht, auch wenn in beiden Fällen ein Mensch getötet wird. Man muß also neben der Verletzung (oder konkreten Gefährdung) auf die abstrakte Gefährdung zurückgreifen, um den Unrechtsgehalt der Handlung richtig zu bestimmen. Nun kann das Urteil über die abstrakte Gefährlichkeit der Handlung von dem Urteil über die konkrete Gefahr, in welche das Rechtsgut geraten ist, im selben Fall verschieden sein. Der einh~ütliche Gesichtspunkt des Erfolgsunwerts zerfällt also in Wirklichkeit doch in zwei Aspekte, die z. B. 42 Zur Entwicklung und Wandlung der Rechtsgüterordnung, auch unter dem Gesichtspunkt der Werthöhe der Güter, besonders Würtenberger, System der Rechtsgüterordnung, S. 13 ff.; vgl. auch die schematischen Darstellungen, S. 256 ff.

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1. Teil: Kap. 3: Komponenten des Bagat~lldelikts

beim leicht fahrlässigen folgenschweren Delikt Gegensätze im Unrecht erscheinen lassen. Es fragt sich daher, ob die abstrakte Gefährdung unter dem Gesichtspunkt des Erfolgsunwerts überhaupt in seiner ganzen Tragweite gesehen werden kann.

b) Die personale Unrechtslehre

Die vor allem von den Finalisten, namentlich von Welzel, entwickelte personale Unrechtslehre richtet den Blick auf den Täter und entwickelt ihr System von diesem Ausgangspunkt. Aber auch für diese Lehre bildet das Rechtsgut eine wichtige Voraussetz.ung der Unrechtssystematik43. Es ist allerdings nicht ganz leicht, den Inhalt des Rechtsgutsbegriffs bei Welzel festzulegen: Je nach dem Sachzusammenhang verkleinert oder vergrößert sich manchmal der Umfang. Welzel bezeichnet als Rechtsgüter zunächst die "Lebensgüter der Gemeinschaft", deren "Substrat" ein "psychophysisches oder ideell-geistiges Objekt" wie Leben oder Ehre, ein "realer Zustand" wie der Hausfrieden, eine "Lebensbeziehung" (Ehe, Verwandtsch,aft) oder ein "Rechtsverhältnis" (Eigentum, Jagdrecht) sein kann. Dieses "Substrat" wird z.um Rechtsgut, weil es der "gewünschte soziale Zustand" ist, den "das Recht vor Verletzungen sichern Will"44. Das Recht fällt gewissermaßen ein "positives Werturteil" über das "Lebensgut"; die Summe der positiven Werturteile bildet die "gesamte soziale Ordnung"45. Auch die personale Unrechtslehre erkennt der Sache nach den Unterschied zwischen Rechtsgut und konkretem Tatobjekt an46 , ohne ihn allerdings terminologisch immer zu beachten. Die Frage, ob zu jedem Verbrechen eine Rechtsgutsverletzung gehört, die innerhalb der Lehre umstritten ist47 , dürfte 43 über die Bedeutung des Rechtsguts in der personalen Unrechtslehre

Bettiol, ZStW 72, 280 f.

44 Wetzet, Lehrbuch, S.2, 4. Das "Substrat" des Rechtsguts ist also vom "Tatobjekt" im Sinne Mezgers zu unterscheiden, es ist selbst Allgemeinbegriff. "Lebensgut" und "Rechtsgut" sind nicht durch den Gegensatz von konkreter und abstrakter, sondern von soziologischer und rechtlicher Betrachtungsweise getrennt. 45 Armin Kaufmann, Normentheorie, S. 69 f. 46 Ausdrücklich Maurach, Allgemeiner Teil, S.182; bei Wetzel ergibt sich dieser Standpunkt nur aus einzelnen Bemerkungen zu den Tatbeständen, in denen Tatobjekt und Rechtsgut auseinanderfallen, vgl. etwa im Lehrbuch S.360 mit 366. 47 Vgl. Wetzet, ZStw 58, 511 Anm. 30 (S. 513); auch heute noch sieht Welzet die §§ 175, 180 StGB als rechtsgutlose Tatbestände an (vgl. Lehrbuch, S.207, 387). Dagegen Maurach, a.a.O.; vgl. auch Jescheck, Festschrift für Erik Wolf, S.481.

11. Handlungsunrecht und Erfolgsunrecht

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vor allem auf solche terminologische Schwierigkeiten zurückführen. Welzel spricht von einer Rechtsgutsverletzung auch, wenn es um die konkrete Verletzung des Tatobjekts geht, z. B. um die Zurechnung des konkreten Erfolges bei Fahrlässigkeiten48 ; er verneint eine Rechtsgutsverletzung etwa bei § 175 StGB49 , obwohl es unter dem Gesichtspunkt des "Eingriffes in die sexualfreie Sphäre"50 keine Schwierigkeiten bereitet, das entsprechende "positive Werturteil" und also das entsprechende Rechtsgut aufzusuchen. Das gegenständliche Tatobjekt, das bei § 175 8tGB entfällt, wird aber von Welzels grundsätzlicher Auffassung vom Rechtsgut nicht gefordert 51 . Versteht man das Rechtsgut als den vom Recht gebilligten sozialen Zustand, bedroht auch nach der Vorstellung der personalen Unrechtslehre jedes Verbrechen ein Rechtsgut 52 . Die Blickwendung vom Verletzten auf den Täter in der Systematik der personalen Unrechtslehre entspricht nicht nur den sachlichen Aufgaben des Strafrechts, sondern sie steht nach der Auffassung dieser Lehre im Einklang mit gewissen Grundbedingungen des Rechts 53 . Denn das Recht kann nicht Erfolge verbieten oder gebieten, die möglicherweise unabhängig vom Handeln eintreten, sondern es kann durch seine Vorschriften nur auf menschliches Verhalten und über dieses auf Erfolge oder ihre Verhinderung hinwirken 54. Der Rechtssatz ist daher Verbot oder Gebot, das Unrecht formell betrachtet Normwiderspruch55 . Für die inhaltliche Betrachtung mußte die personale Unrechtslehre einen Aspekt erarbeiten, unter dem die Handlung als solche werthaft erscheint. In Anlehnung an die ethische Kategorie des Aktunwerts oder 48 Vgl. Welzel, Lehrbuch, S. 56 f., 121 f. Welzel, a.a.O., S.207. 50 Welzel, a.a.O., S.394. 51 Wie hier Maurach, a.a.O., S. 182. 52 Maurach, a.a.O., der allerdings der personalen Unrechtslehre nur bedingt zuzurechnen ist; vgl. ferner Sina, S.97. - Im Ergebnis muß auch Welzel etwa bei der Kuppelei, d~e durch Unterlassen begangen werden kann (Lehrbuch, S. 399), eine Rechtsgutsverletzung annehmen, da diese auch für ihn die konstruktive Grundlage der unechten Unterlassungsdelikte bildet (S. 100 f). Die Kuppelei soll jedoch "rechtsgutloser" Tatbestand sein (S.387). 53 Vgl. dazu Stratenwerth, Natur der Sache, S.28. 54 Vgl. besonders Welzel, Lehrbuch S.33; Armin Kaufmann, Normentheorie, S.105, 109; ferner v. Caemmerer, S.127; Münzberg, S. 53 ff. Auch die von Androulakis, S. 150 f., als solche verstandenen Erfolgsverbote in § 222 StGB usw. sind, wle er selbst ausführt, letztlich ein gesetzestechnisches Hilfsmittel, wenn sich die Verhaltenspflichten nicht typisieren lassen. Aus dem gesetzlichen "Erfolgsverbot" entwickeln sich in der konkreten Situation die jeweiligen Verhaltensgebote. 55 Zur normentheoretischen Begründung des personalen Unrechts näher unten Abschnitt 11 2c. 49

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1. Teil: Kap. 3: Komponenten des Bagatelldelikts

Handlungsunwerts v6 erscheint im Strafrecht der Handlungsunwert als der "generelle Unwert" aller Delikte; das Unrecht ist mit ihm "material voll begründet" 57. Der Lehre vom Verbrechen als Rechtsgutsverlet~ung wird eine materiale Begründung der Rechtswidrigkeit in "anderer Gestalt" entgegengesetzt: "Materialer Gehalt der Strafrechtssätze ist nicht der bloße Rechtsgüterschutz, sondern die Einhaltung der rechtlichen Gesinnungswerte; in ihnen ist der Güterschutz als bedingendes Teilmoment wesensmäßig mitenthalten"58. In dieser Formel verbinden sich verschiedene Gedankengänge: Die Rechtfertigung für den Gedanken, bei der Unterscheidung von Handlungs- und Erfolgsunwert einen ethischen Aspekt zu wählen, gewinnt Welzel aus seinem Verständnis des Rechts als eines Ausschnittes aus der Sozialethik59 • Nur sozialethische Pflichten, nicht individualethische, können rechtliche Pflichten sein60 • In diesem Sinne aber ist die Unterscheidung nach Aktwert und Sachverhaltswert auch für die Sozialethik und das Recht grundlegend, denn das Recht hat nicht nur seine äußere Seite, sondern ist ebenso wie die Ethik auch innerlich verpflichtend 61 • Im Unterschied zur Ethik kommt es freilich auf die Legalität, nicht auf die Moralität der Gesinnung an; das Recht verlangt nicht ein Handeln allein um der Pflicht willen. Nicht nur das Handeln aus rechtlicher Überzeugung, sondern auch aus Gewohnheit, aus Furcht vor Nachteilen, insbesondere vor der Strafe, genügt zur Erfüllung rechtlicher Gebote. Der Gesetzgeber ist sogar verpflichtet, auf alle diese Motive einzuwirken, durch die innere überzeugungskraft des Rechts auf die sittliche Entscheidung, und durch die gleichmäßige Anwendung 56 Welzel scheint den "Aktunwert" teils der Schuld, teils dem Unrecht, den "Handlungsunwert" dagegen nur dem Unrecht zuzuweisen, vgl. Kohlrausch-Festschrift, S.106 Anm.7. Eine Präzisierung des Verhältnisses beider Begriffe ist indessen seitdem nicht mehr unternommen worden. In Welzels Lehrbuch und in den Arbeiten Armin Kaufmanns werden die Begriffe nicht mehr unterschieden. 57 Welzel, Neues Bild, S.3\); Vorwort, S. XII. 58 Welzel, Kohlrausch-Festschrift, S.107, vgl. schon ZStW 58, 511, Anm.30 (S. 513); ferner Lehrbuch, S. 1 ff.; Gierke-Festschrift, S. 290 ff., besonders S. 296 f. Welzel hat zwar bestritten, daß sein Aufsatz in der KohlrauschFestschrift den Fragenkreis um Handlungs- und Erfolgsunwert betreffe (Lehrbuch, 6. Aufl. Vorwort, S. VIII); tatsächlich werden diese Begriffe auch nicht differenzierend behandelt. Wohl aber wird dargelegt, worin Welzel inhaltlich das Unrecht der Tat erblickt, und daraus lassen sich auch Schlüsse über die Bedeutung des Erfolgsunwerts in seiner Lehre ziehen. 59 Welzel, Gierke-Festschrift, S.293; vgl. hierzu auch besonders H. Mayer, Lehrbuch (1936), S.64; ferner Jescheck, ZStW 73, 208. 60 Welzel, Gierke-Festschrift, S. 292 f.; vgl. auch Jescheck, Festschrift für Erik Wolf, S.478. 61 Welzel, Gierke-Festschrift, S.297.

II. Handlungsunrecht und Erfolgsunrecht

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und den Zwang auf die Gewöhnung und den Eigennutz62 • Alle diese Einwirkungen formen die "rechtlich legale" Gesinnung; das Handeln aus dieser Gesinnung ist, auch wenn die mit ihm verfolgten Ziele nicht erreicht werden, von eigenem Wertgehalt. Damit tritt der konkrete "Erfolg" von vornherein in ein Spannungsverhältnis zur Grundlegung des Rechtswidrigkeitsurteils; er wird systematisch und sachlich nicht nur entbehrlich, sondern problematisch. Anders aber ist es mit dem Rechtsgut in seiner Bedeutung als Rechtsinstitut. Im Recht können sich Normen und Pflichten nur auf Sachverhaltswerte beziehen, denn "welchen Sinn hätte die Ehrlichkeit, wenn es den Sachverhaltswert des Eigentums nicht gäbe?" Und nur die rechtlich anerkannten und geschützten Sachverhaltswerte, eben die Rechtsgüter, werden zum Bezugspunkt strafrechtlicher Normen63 • Damit ist das Rechtsgut in der personalen Unrechtslehre vor allem auf eine die Norm motivierende Bedeutung beschränkt; in diesem Sinne aber ist es eine unabdingbare Voraussetzung des Handlungsunwerts und damit des strafrechtlichen Unrechts. Auch nach der personalen Unrechtslehre dient das Strafrecht dem Rechtsgüterschutz. Freilich käme es, als aktueller Rechtsgüterschutz verstanden, immer zu spät. Nicht im eigentlichen Konfliktsfall, in der Bestrafung selbst, liegt der Rechtsgüterschutz, sondern in der "lautlosen" Einwirkung auf die rechtliche Gesinnung der einzelnen, die sich von der Wirksamkeit des Strafrechts motivieren lassen 64 • Der Schutzgedanke steht daher nur in einem lockeren Zweckzusammenhang mit dem strafrechtlichen Unrecht, systematische Funktionen übernimmt er nicht mehr. Die traditionelle Lehre bedurfte seiner auch zur systematischen Erklärung des Unrechts, da nur über ihn die Gefährdung auf die Rechtsgutsverletzung als den materiellen Gehalt des Verbrechens zurückgeführt werden konnte. Wenn Welzel vom "Erfolgsunwert" spricht, meint er häufig, besonders bei den fahrlässigen Delikten, nicht die Interessenverletzung im Sinne Mezgers, sondern praktisch den konkreten Schaden65 • Dieser Erfolg soll die "strafrechtliche Relevanz" der Unrechtshandlung vermitteln, er ist nicht "konstituierendes", sondern "limitierendes" Element des Strafrechts66 ; Unterschiede in der Bestrafung hängen mit dem 62

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Wetzet, a.a.O. Wetzel, Kohlrausch-Festschrift, S.105, vgl. aber ZStW 58, 513 f. Aus-

führlich zum Sachverhaltswert als Voraussetzung des Handlungsunwerts Armin Kaufmann, Normentheorie, S. 69 ff. (besonders S.72: "Bewertungskriterium ist die Beziehung auf ein Rechtsgut für alle Akte".) Vgl. ferner Maurach, Allgemeiner Teil, S. 161 f., 182 f. 64 Welzel, Kohlrausch-Festschrift, S.113; Lehrbuch, S. 2 ff. 65 Vgl. etwa Welzel, Lehrbuch, S.122. 66 Welzel, Fahrlässigkeit, S.21.

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1. Teil:

Kap. 3: Komponenten des Bagatelldelikts

irrationalen Gefühl des Gesetzgebers zusammen, das "alles nicht so schlimm war, wenn es noch einmal gutgegangen ist"67. Hat der Erfolg aber nur "limitierende Funktion" in diesem Sinne, dann kommt es allein auf sein Gegebensein an; die Frage nach dem Ausmaß scheint systematisch verfehlt6s . Daher bleibt im System der personalen Unrechtslehre die StaffelJung nach dem Erfolg, etwa im Verhältnis von fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung, ungeklärt, denn die strafrechtliche Relevanz wird durch beide Erfolge gleichermaßen vermittelt; die Erfolgskomponente dürfte sich daher in der Verschiedenheit der Strafdrohung nicht auswirken 69. Es müßte ferner nach diesem System auch Bagatellfälle der fahrlässigen Tötung geben. Nicht der konkrete Schaden -also, wohl aber das Rechtsgut in seiner Bedeutung als generelles Interesse wirkt sich auf den Grad des Unrechts aus, und zwar über den Handlungsunwert. Denn die Werthöhe des Rechtsguts bestimmt den Rang der darauf bezogenen Norm; der Handlungsunwert der Normverletzung ist insofern "rechtsgutsbezogen"70. Aber das Rechtsgut ist in dieser Funktion nur Bewertungsmaßstab; durch den "Erfolgsunwert" im oben dargelegten Sinne einer Verletzung des konkreten Tatobjekts wird der Handlungsunwert weder gesteigert noch gemindert; insofern stehen Handlungsunwert und Erfolgsunwert unverbunden nebeneinander71 . Im übrigen verlagern sich für die personale Unrechtslehre die Kriterien der Steigerung stärker ins Subjektive. In der Darstellung von Armin Kaufmann, der die Schwere der Tat im System dieser Lehre 67 Welzel, Fahrlässigkeit, a.a.O. Damit rückt der Erfolg bei den fahrlässigen Delikten in die Nähe einer objektiven Bedingung der Strafbarkeit. So auch mehr oder weniger deutlich die meisten Lehrmeinungen, die der Imperativentheorie nahestehen, vgl. Engisch, Untersuchungen, S. 331; vor allem Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale, S.211. Die Zugehörigkeit zum Unrecht auch beim Verständnis der Norm als Imperativ betonen aber Jescheck, Festschrift für Erik Wolf, S.481 Anm.34; Stratenwerth, SchwZStR 1963, 248. Auch bei Welzel heißt es immerhin, der Umfang des Erfolges sei mitbestimmend für die Schwere des Unrechts (Neues Bild, S.35). Welzel verfolgt diesen Gedanken aber nicht weiter. 68 Krauß, ZStW 76, 60 ff.; vgl. dazu unten S. 102 f. 69 Auch de lege ferenda will Welzel allerdings nicht soweit gehen, vgl. seinen Diskussionsbeitrag zur Frage der erfolgsqualifizierten Delikte in der Großen Strafrechtskommission, Niederschriften, Bd.2, S.258. 70 Armin Kaufmann, Normentheorie, S. 227, vgl. ferner S.72, 217; sowie Münzberg, S. 61 ff. Ähnlich Welzel, Lehrbuch, S.4 f., in etwas anderer Gedankenführung: Die auf die strafrechtlichen Rechtsgüter bezogenen Pflichten sind Elementarpftichten; so gering die Werthöhe dieser Pflichten (gemeint ist wohl: ihrer Befolgung), so schwer wiegt umgekehrt ihre Verletzung. 71 Welzel, Neues Bild, S.76; Lehrbuch, S.122. - Nach Münzberg, S. 67 ff., ist der Eintritt des Erfolges nur für die (strafrechtliche oder zivilrechtliche) Haftung wichtig.

11. Handlungsunrecht und Erfolgsunrecht

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ausführlich untersucht hat72 , verbindet sich die Betrachtung gesteigerter Schuld und gesteigerten Unrechts in dem Gedanken, daß eine Steigerung des Aktunwerts auch eine Steigerung des SchuldvOI'WlUrfs bedeute 73 • Nach Kaufmann hängt die Steigerung von voluntativen und intellektuellen Elementen ab: Für das Ausmaß des Handlungsunwerts ist "einerseits die Intensität des Verwirklichungswillens, andererseits das Motiv (bzw. die Motive), das zu der rechtswidrigen Willensbildung geführt hat", maßgebend 74 • Sodann kommt es an auf das Bewußtsein, die Pflicht befolgen zu können. Wer sich der Pflicht bewußt ist, der kann sie leichter befolgen; die Pflichtverletzung fällt demnach schwerer ins Gewicht 75 • Die Willensintensität ist nicht mit dem dolus malus der traditionellen Lehre zu verwechseln, sondern besteht in der "gestaltenden Kraft des Handlungswillens" . Ein Handeln, das sich z. B. qualifizierter Tatmittel bedient (vgl. § 211 StGB: "mit gemeingefährlichen Mitteln"), zeigt regelmäßig eine besondere Willensintensität. Die Determination durch einen Antrieb wiegt um so schwerer, je wertwidriger dieser Antrieb ist. Willensintensität und Motivation gehen zuweilen ineinander über, z. B. im 'Qualifikationsmerkmal "grausam" beim Morde 76 • Insgesamt ergibt sich bei dieser Betrachtungsweise ein System, das zu einer durchgehenden 'Quantifizierung aller wesentlichen Strukturelemente der subjektiven Tatseite führt. Mit dem Gradunterschied von Kenntnis und Unkenntnis der Pflicht wird auch ein Gradunterschied zwischen Vorsatz und bewußter Fahrlässigkeit auf der einen, der unbewußten Fahrlässigkeit auf der anderen Seite gebildet; überhaupt stehen Vorsatz und Fahrlässigkeit nicht im Verhältnis von Schuldarten, sondern von Schuldstufen77. Die Differenzierung geht aber noch weiter: Der bedingte Vorsatz ist gegenüber dem direkten nach der Willensintemität gemindert, und das Fehlen des Willensmoments bei der bewußten Fahrlässigkeit bedeutet ebenfalls eine Minderung gegenüber dem bedingten Vorsatz 78 • Alle diese quantitativen Momente Normentheorie, S.194-228. Allgemein zutreffend ist dieser Gedanke nur vom Ausgangspunkt Kaufmanns, der die durch § 51 Abs.2 StGB bezeichneten Minimalvoraussetzungen der strafrechtlichen Zurechnung als Ausgangspunkt der quantitativen Bestimmung wählt; von ihm her können dann freilich Gradveränderungen nur noch als Steigerung erscheinen; vgl. dazu unten Abschnitt 111 Anm.1. 74 Armin Kaufmann, a.a.O., S.209. 75 Armin Kaufmann, a.a.O., S.217. 76 Armin Kaufmann, a.a.O., S. 208 f. 77 Armin \Kaufmann, a.a.O., S. 214 ff., besonders S. 216 f. Schuld ist hier im Sinne der "abgeleiteten Schuldbewertung" immer als Schuld und Unrecht zu verstehen, umfaßt aber auch Schuldelemente im engeren Sinne. 78 Arnim Kaufmann, a.a.O., S.226; ebenso Jescheck, Festschrift für Erik Wolf, S.482 und 486 ff. Der Gedanke wird allerdings nur für den Unterschied zwischen direktem und bedingtem Vorsatz ausgeführt. Vgl. auch Maurach, Allgemeiner Teil, S.228. 72

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Armin Kaufmann,

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1. Teil:

Kap. 3: Komponenten des Bagatelldelikts

relativieren sich gegenseitig und sind auch in Beziehung zu setzen zum verschiedenen Gewicht der Normen. Auch die Verletzung der erkannten Pflicht kann also im Hinblick auf die Motivation "bei dem Verpflichteten, der nur mit größter Anstrengung seinen Willen pflichtgemäß bilden kann", gemildert sein79 • Ebenso kann fahrlässiges Verhalten im Einzelfalle schwerer als vorsätzliches sein60 usw. Die systematische Einordnung der subjektiven Steigerungskriterien jn die Zone des Unrechts und der Schuld ist nur hinsichtlich der Willensintensität keinen Zweifeln ausgesetzt; im System WeZzeZs und seiner Schule gehört sie zum Unrecht. Dagegen stellt sich bei der Motivation der Willensbildung auch die Frage der Gesinnungsmerkmale, deren Natur als Unrechts- oder Schuldmerkmale umstritten ist81• Auch bei den intellektuellen Elementen verbinden sich Unrechts- und Schulderwägungen. Das fehlende Bewußtsein, die Pflicht befolgen zu können, mindert, wenn es auf einen Tatbestandsirrtum zurückgeht, das Unrecht (Übergang zum fahrlässigen Handeln), andererseits beim vermeidbaren Verbotsirrtum die Schuld82• Bei den unbewußt fahrlässigen Delikten läßt sich das Arusmaß des Handlungsunwerts mit den Kriterien der Willensintensität oder der Motivation nicht ausschöpfen: Mein Vorsatz, unter möglichst rascher Überwindung aller Hindernisse eine Straße zu durchfahren, ist rechtlich neutral, solange ich keine Sorgfaltsregeln verletzen will, und auch die Motivation, die mich zu diesem Entschluß führt, liegt auf neutralem Gelände. Indessen würde eine Beschränlmng auf die genannten subjektiven Grundlagen der Beurteilung auch nicht im Einklang mit der Ausarbeitung des Handlungsunwerts stehen, wie sie die personale Unrechtslehre für die unbewußte Fahrlässigkeit bietet, denn auch dort sind "objektive" und "normative" Elemente von Bedeutung: Der Handlungsunwert liegt im "Mißverhältnis der wirklich vorgenommenen Handlung gegenüber demjenigen Verhalten, das auf Grund der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt hätte eingehalten werden müssen". Ebenso wie der Handlungsunwert selbst kann daher auch seine Steigerung im Hinblick auf den "objektiven und normativen Begriff" der im Verkehr Armin Kaufmann, a.a.O., S.218. Armin Kaufmann, a.a.O., S.222. Entgegen der herrschenden Meinung (vgl. Welzel, Lehrbuch, S.160; Maurach, Allgemeiner Teil, S.456, MezgerBlei, Allgemeiner Teil, S.201) dürfte auch die unbewußte Fahrlässigkeit im 79

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Grundsatz schwerer wiegen als die unbewußte, auch wenn natürlich Ausnahmen von dieser Regel häufig sind. 81 Vgl. einerseits Welzel, Lehrbuch, S. 72 f., andererseits Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale, S. 193 ff.; GalZas, ZStW 67, 46. 82 Vgl. Armin Kaufmann, a.a.O., S. 219 f., 225 f.

H. Handlungsunrecht und Erfol:gsunrecht

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erforderlichen Sorgf.alt bestimmt werden 83• Vom Begriff der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt aus läßt sich die Gefährlichkeit der tatsächlich vorgenommenen Handlung nach Mehr oder Minder bemessen; es handelt sich ebenfalls um die Beurteilung der möglichen Auswirkungen des Verhaltens "durch einen besonnenen Mann in der Lage des Täters"s4. Dieses Urteil hat nach Zeitpunkt und Maßstab dieselbe Struktur wie Erwägungen über die Voraussehbarkeit oder die adäquate Kausalität des Verhaltens85, nur daß diese Begriffe die Funktion haben, die Grundlage für die Zurechnung eines bestimmten Erfolges abzugeben, und daher als Alternativ-Begriffe formuliert sind: Es gibt in diesem Sinne weder ein gesteigertes Kausalgewicht noch eine gesteigerte Vorhersehbarkeit. Das Urteil über die Gefährlichkeit nimmt dagegen keine Rücksicht auf einen eingetretenen Erfolg; es verbleibt im Felde sämtlicher Möglichkeiten und kennt vor allem Abstufungen. Während diese abstrakte Gefährlichkeit der Handlung in der Lehre vom Verbrechen als Rechtsgutsverletzung systematisch nur über Präventiv-Erwägungen im Zusammenhang mit dem Schutzgedanken erfaßt werden konnte, fügt sich die Gefährlichkeit der Handlung in die Bemessung des Handlungsunwerts bruchlos ein86 • Je mehr die Gefährlichkeit der Hand1ung das im Verkehr zulässige Maß überschreitet, um so schwerer wiegt die Vornahme der gefährlichen Handlung durch den Täter, und entsprechend steigert sich der Handlungsunwert. Gewiß können Motivationen, die zur Vornahme der gefährlichen Handlung geführt haben, den Handlungsunwert steigern oder mindern: Der Fahrer, der so schnell wie möglich einen Kranken in die Klinik bringen muß und dabei eine rote Verkehrsampel übersieht, ist milder 'zu beurteilen, als ein Fahrer, dem das gleiche Versehen unterläuft, weil er sich zu sehr ins Gespräch mit seinem Beifahrer vertieft hat. Dennoch 'aber liegt der Ausgangspunkt und das entscheidende Element für das Ausmaß des Aktunwerts in der Gefährlichkeit der Handlung. Die abstrakte Gefährlichkeit der Tat erhält ihren systematisch befriedigenden Ort demnach erst durch ·die personale Unrechtslehre. Indessen fehlt in dieser Lehre ein entsprechender Platz für den tatsäch83 Welzel, Neues Bild, S. 31 f., vgl. auch Lehrbuch, 8.117 f.; ferner Jescheck, Fahrlässigkeit, S. 9 ff. Zur Steigerung der Sorgfaltswidrigkeit vgl. das Beispiel von Welzel, Lehrbuch, S. 117 f. - Zum Ganzen Krauß, ZStW 76,

43f. 84

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Wetzel, Neues Bild, S.32. Welzel, Lehrbuch, S.118; zur Methodik: Fahrlässigkeit, S.15 ff. Bedenken bei Krauß, Zurechnung, S. 82 f., der darin einen Wechsel

der Beurteilung vom Individualstandpunkt zum Sozialstandpunkt erblickt, vgl. dazu unten Anm. 101. 87 Nach Münzberg, S. 61 ff., 67 ff., hat der Erfolg nur normmotivierende Funktion; auf den konkreten Erfolg kommt es nur für die konkrete Haftung an. 6 Krümpelmann

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1. Teil: Kap. 3: Komponenten des BagatelLdelikts

lich eingetretenen Erfolg, die tatsächlich eingetretene Gefahr. Die Staffelung der Unrechts tatbestände nach der Erfolgskomponente wird im Grunde nur mit dem Hinweis .auf die positive Entscheidung des Gesetzgebers erklärt87 • 2. Versuch einer Synthese von Handlungs- und

Erfolgsunwert im Unrechtsbegriff

In den vorigen Abschnitten hat sich gezeigt, daß die traditionelle Unrechtslehre den Unwert des Täterverhaltens nicht auszuschöpfen vermag, während die personale Unrechtslehre der Bedeutung des konkreten Erfolges nicht gerecht wird. Da sich diese Unzulänglichkeiten gewissermaßen spiegelbildlich zueinander verhalten, liegt der Gedanke nahe, daß beide Lehren im Ausgangspunkt richtig sind, daß der Fehler in der Vereinseitigung eines Standpunktes liege, und daß sich eine Synthese aus beiden Lehren entwickeln lassen müsse. Eine solche Synthese scheint auch einen sicheren Ansatzpunkt zu haben, wenn man zunächst einmal die strafrechtlichen Ausformungen und Zweckzusammenhänge des Unrechts beiseite setzt und sich den Umstand ins Bewußtsein ruft, daß das Recht jedenfalls die zwischenmenschliche Ordnung zum Gegenstand hat, daß also das Unrecht Störung einer Beziehung zwischen Menschen sein muß. Denn das Unrecht wird nicht vom Menschen an Objekten, oder a m Menschen durch schädigende Ereignisse, sondern es wird vom Menschen am Menschen begangen88 • Gibt man dies zu, ist die Unrechtsbetrachtung auf den Täter und den Verletzten gleichermaßen, also auf die Ausgangspunkte beider Lehren, verwiesen, und die Aufgabe liegt in der Ausarbeitung eines Unrechtsbegriffes, der beide Aspekte umfaßt, dabei aber den Erfordernissen des Sachgebietes genügt, in welchem das Unrecht zum Anknüpfungspunkt rechtlicher Regelungen wird, in unserem Falle also dem Strafrecht.

a) Rechtsgut und Handlungsunwert als gemeinsame Sachprobleme der traditionellen Unrechtslehre und der Lehre vom personalen Unrecht Als Vorbedingung einer Synthese sind die kritischen Einwände zu prüfen, die die Vertreter der beiden Lehren gegeneinander erheben, und die Parallelen herauszuarbeiten, die sich in diesen Lehren finden. 88 Zur Beziehungsstruktur von Recht und Unrecht vgl. Horn, S. 58 ff., der ganz im hier dargelegten Sinne als Substrat des Rechtswidrigkeitsurteils ein Ereignis ansieht, "das auf einen Menschen im sozialen Zusammenhang zurückzuführen ist und mindestens einen Menschen als Glied der Gemeinschaft oder ein Rechtsgut der Gemeinschaft selbst betroffen hat" (S. 76).

II. Handlungsunrecht und Erfolgsunrecht

83

Soweit sich die Kritik an der Lehre vom Verbrechen als Rechtsgutsverletzung gegen den Begriff des Rechtsguts selbst richtet, trifft sie ältere Lehrmeinungen, die das Rechtsgut gegenständlich fassen 89 • Der Sache nach aber geht Welzel von keinem anderen Rechtsgutsbegriff aus als die traditionelle Lehre. Auch die Unterschiede im systematischen Standort sind gering. Für die personale Unrechtslehre ist das Rechtsgut "normmotivierend"; es ist "Bewertungskriterium" für den Rang der Norm. Dieser Gedanke begegnet in anderer Formulierung auch in der traditionellen Lehre unter dem Stichwort des "Schutzobjektes" der Norm. Ein Unterschied scheint auf den ersten Blick im Begriff der "Rechtsgutverletzung" zu liegen, aber bei näherer Betrachtung läßt auch er sich nicht aufrechterhalten. Denn auch der "Sachverhaltswert" kann nicht in naturalistischem Sinne verletzt werden, und die traditionelle Lehre hat daher längst auf das Erfordernis der Verletzung eines konkreten Tatobjektes verzichtet, die ja nur bei den Erfolgsdelikten eintreten kann. Die Rechtsgutsverletzung liegt im Schaden, den das Rechtsgutals Rechtsinstitut durch die Mißachtung erleidet, und der bei konkreter Verletzung nur besonders betont wird90 • Bei dieser übertragenen Bedeutung des Verletzungsbegriffes, welche die unausweichliche Konsequenz der Ausweitung des Rechtsgutsbegriffes darstellt91 , ist die Rechtsgutsverletzung aber ebenso ein abstrakter Tatbestand wie der Verfall der Gesinnungswerte in der Unrechtslehre der Finalisten. Die Geltung der Rechtswerte und die Geltung der auf die Sachverhaltswerte bezogenen Gesinnungswerte als des eigentlichen Schutzobjektes des Strafrechts unterscheiden sich inhaltlich nicht, vielmehr wird der Gedanke von beiden Lehren aus einer verschiedenen Richtung entwickelt, bei den Finalisten von der Pflichtgebundenheit der Einzelnen her, die aber zur Ausbildung allgemein anerkannter Rechte führt, bei der traditionellen Lehre von der Seite der allgemeingültigen Rechts89 Ähnlich wie WeZzeZ auch GaZZas', Festschrift für Graf Gleispach, S.61, vgl. ferner Schwinge-ZimmerZ, S. 63 ff. Im hier vertretenen Sinne Würtenberger, Geistige Situation, S. 58 ff. Nach WelzeZ stellen sich die Vertreter der Lehre vom Verbrechen als Rechtsgüterverletzung die Rechtsgüterordnung wie ein Museum mit in Vitrinen eingeschlossenen Rechtsgütern vor, in das der Verbrecher eindringt (WeZzeZ, ZStW 58, 514). Das Beispiel kehrt die Lehre geradezu um, denn der Verletzte, auf den es hier gerade ankommt, fehlt im Bilde. Wollte man die traditionelle Lehre an diesem Beispiel zeigen, dann wäre das einzige menschliche Subjekt nicht der "Verbrecher", sondern der Inhaber des Museums oder das Publikum vor den geplünderten Vitrinen, und die Kritik müßte beanstanden, daß der Verbrecher auf dem Bilde gar nicht sichtbar wird. 90 V gl. oben S. 69 f. 91 Die Unvereinbarkeit eines konkreten Verletzungsbegriffes mit dem weiten Begriff des Rechtsgutes hat vor allem GaZZas, Festschrift für Graf Gleispach, S. 56 ff., nachgewiesen. 92 Vgl. H. Mayer, Lehrbuch, (1953), S. 51; WeZzeZ, Gierke-Festschrift, S.297.

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1. Teil:

Kap. 3: Komponenten des Bagatelldelikts

werte her, die aber ihren Grund in der pflichtmäßigen Anerkennung der Einzelnen haben. Der Sache nach geht dann freilich der Streit um die Rechtsgutsverletzung nicht mehr so sehr um die Strukturen des Unrechts ·als um den Sinn der strafrechtlichen Haftung. Hier aber, nämlich im Schutzgedanken, besteht im Prinzip Übereinstimmung. Auch die traditionelle Lehre kommt ja nicht um den Einwand herum, daß das Strafrecht als aktueller Rechtsgüterschutz verstanden immer zu spät kommt92 , und sie will dies auch gar nicht. Auch bei ihr ist der Rechtsgüterschutz die Bestätigung der Geltung der Rechtswerte durch die Bestrafung ihrer Mißachtung; auch hier liegt die Wirksamkeit des Schutzes in seiner "Fernwirkung", ebenso wie der Schutz der Sachverhaltswerte im Wege der Aufrechterhaltung und Bestätigung der Gesinnungswerte93 • Der Vorwurf einer Verwechslung von Recht und Ethik94 liegt bei einer vorwiegend der Individualethik entlehnten Terminologie freilich nahe. Indessen zeigt die praktische Anwendung der Begriffe im Unrechtssystem, daß der Finalismus diese Gefahr erkannt und sie zu vermeiden gewußt hat. Die Bereiche der Individualethik und der reinen Moralität der Gesinnung scheidet Welzel von vornherein aus seiner Untersuchung aus. So z i a I ethische Grundlagen haben das Recht und das Strafrecht aber auch nach der Ansicht der traditionellen Lehre95 , ungeachtet der systematischen Konsequenzen, die daraus gezogen werden. Schwerer wiegen die methodischen Unterschiede bei der Bildung des Rechtswidrigkeitsurteils. Die traditionelle Lehre verfolgt den Weg "von außen nach innen"96 und nimmt psychische Momente nur im Ausnahmefall zur Hilfe. Aber die Bedenken, die die traditionelle Lehre gegen die Einbeziehung psychischer Vorgänge, insbesondere ihre Gleichrangigkeit als Bewertungsgrundlage erhebt, können nicht überzeugen. Man betont besonders, das Recht müsse sich mit der äußeren Erfüllung seiner Gebote abfinden. Für den "Konfliktsfall", die abzuurteilende Straftat, gibt dies freilich auch die personale Unrechtslehre zu: Nur die nach außen hin betätigte unrechte Gesinnung kann das Strafrecht auf den Plan rufen. Aber es ist eine 'andere Frage, ob diese an sich richtige Erkennt93 Zu dieser inhaltlichen übereinstimmung auch Welzel, Kohlrausch-Festschrift, S.110 Anm.l0 (S.I11). 94 So vor allem Würtenberger, Geistige Situation, S. 60 ff. S>5 Vgl. Mezger, Leipziger Kommentar, S.5 Anm. 9 f. vor § 51 (S. 332 ff.); Würtenberger, Geistige Situation, S.64; vgl. auch Baumann, Allgemeiner Teil, S. 19 f. 96 Vgl. Würtenberger, Geistige Situation, S.59. 97 Vgl. Welzel, Lehrbuch, S.73; ausführlich Stratenwerth, Festschrift für v. Weber, S. 171 ff.

11.

Handlungsunrecht und Erfolgsunrecht

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nis auch als s y s t e ma ti s c h es Prinzip brauchbar ist. Die Systematik kann das bedrohliche, auch von Welzel bekämpfte Eindringen der Gesinnungsmerkmale in das Strafrecht 97 doch nicht verhindern, denn werden sie aus dem Unrecht verbannt, erhalten sie ihren Ort in einem Schuldtatbestand oder mit Hilfe anderer Konstruktionen98 • Es kommt hier -alles auf die Selbstbeschränlmng des Gesetzgebers an; auch eine Prüfung, ob und inwieweit Gesinnungsmerkmale noch mit dem Grundsatz "nulla poena sine lege" vereinbar sind, wäre zu überlegen. Dagegen kann die Einordnung in die eine oder andere systematische Zone derartige Merkmale nicht eindämmen. - Die systematische Bedeutungslosigkeit einer Unterscheidung nach "objektiv" und "subjektiv" zeigt sich noch mehr bei der richterlichen Rechtsanwendung. Auch der Richter wird in der Regel von äußerem Verhalten auf innere Momente schließen,aber oft ist das Geständnis des Täters über innere Momente die Grundlage des Urteils, und die Glaubwürdigkeit des Geständnisses hängt durchaus nicht immer von äußeren Indizien ab. Wird das Urteil aber auf einem derartigen Geständnis über innere Momente aufgebaut, dann geht der Richter den umgekehrten Weg von innen nach 'außen. Der Weg von außen nach innen ist demnach nichts als eine praktische Maxime des Beweisrechts. Die Gesinnungssphäre des Menschen kann folglich nicht wirksam durch eine systematische Schranke des objektiven Unrechts gesichert werden, wenn diese Schranke dann bei der Schuldprüfung doch wieder überschritten werden muß. Sicherheit bieten vielmehr die prozessualen Schranken der Wahrheitsfindung, besonders § 136 aStPO, der den Richter hindert, mit unzulässigem Druck oder unzulässigen psychologischen Verfahren das Innere des Täters bloßzulegen. Aber Vorstellungen und Motivationen, die zulässig ans Licht gebracht sind, müssen berücksichtigt werden können, wenn sie das äußere Verhalten erst aufschlüsseln. Es besteht kein Grund, auf die Anwendung des Strafrechts zu verzichten, wenn der Täter - vielleicht in ehrlichem Sühnebedürfnis - gestanden hat, daß er den Angreifer nicht mit Verteidigungswillen verletzt hat99 • Gewiß, im Hintergrund einer Lehre, die subjektive Momente in den Gegenstand der Wertung einbezieht, steht der prozessuale Idealfall des glaubwürdigen Geständnisses. Aber für die traditionelle Lehre liegen die Dinge bei den Schuldvoraussetzungen genauso. - Im übrigen hat auch die traditionelle Lehre die Einteilung nach äußerer und innerer Tatseite seit der Entwicklung der Lehre von den subjektiven Unrechtselementen immer mehr in den Hintergrund treten lassen; der Vorrang des Objektiven läuft auch nach der Auffassung der traditionellen Lehre immer mehr

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Vgl. Gallas, ZStW 67, 46; Schmidhäus'er, Gesinnungsmerkmale, S.217. Gegen die Lehre vom Verteidigungswillen Horn, S. 90 f.

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1. Teil: Kap. 3: Komponenten des Bagatelldelikts

auf eine Frage der Zweckmäßigkeit hinaus100• Der größeren Zweckmäßigkeit des Weges von außen nach innen aber würden für den Regelfall auch die Finalisten nicht widersprechen101 • Dagegen halben die Finalisten den Vorwurf bisher nicht zu entkräften vermocht, daß ihr Unrechtsbegriff die konkrete Einbuße des Verletzten nicht angemessen berücksichtigt. Die weitere Untersuchung muß sich daher der Frage zuwenden, wieweit die Erfolgskomponente eine selbständige Bedeutung im Unrecht zu beanspruchen hat. b) Der Erfolgsunwert als Interpretationsgrundlage und Maßprinzip

des strafrechtlichen Unrechts Gegen den Gedanken, das Unrecht dürfe aus sachlogischer Notwendigkeit nur unter einem einheitlichen Aspekt betrachtet werden102, sind berechtigte Bedenken erhoben worden 103 • Stratenwerth folgert aus der Blickrichtung des Strafrechts auf "den Menschen als Person" - womit er die Person des Täters meint -, der Handlungsunwert müsse dieser einheitliche Aspekt strafrechtlichen Unrechts sein104 • Aber auch wenn wir mit Stratenwerth davon 'ausgehen, daß der Gesetzgeber die sachlichen Grundlagen, die unter dem einmal gewählten Aspekt als wesentVgl. oben S.67. Zutreffend betont Krauß, Zurechnung, S. 67; ZStW 76, 41, daß die personale Unrechtslehre der Unterscheidung nach äußerer und innerer Tatseite keine systematische Bedeutung zumesse. Er selbst freilich geht mit Maihofer (Festschrift für Rittler, S.142; ähnlich Würtenberger, Geistige Situation, S. 54) davon aus, daß die Betrachtung nach äußerer und innerer Tatseite einen Gegensatz von Individualstandpunkt und Sozialstandpunkt enthalte, der zu einer "Spaltung des Systems von oben nach unten" führen müsse: Nur der Gesetzgeber dürfe diese Sachverhalte im Tatbestand zu einem komplexen Unrechtssachverhalt vereinen (a.a.O., S. 82 f.). - Indessen führt die Betrachtung nach äußerer und innerer Tatseite nicht auf den von Krauß angenommenen Gegensatz zurück. Krauß meint nämlich mit dem "Individualstandpunkt" nur die Einbeziehung subjektiver Sachverhalte (ähnlich auch Maihofer, der beides gleichsetzt, vgl. a.a.O., S.147: "Individuale [innere] Willenseinstellung"). Ein unüberbrückbarer Gegensatz wäre freilich geschaffen, wenn es auf die konkrete Einmaligkeit des einzelnen Menschen ankommen sollte, aber subjektives Geschehen läßt sich in gewissen Grenzen generalisieren. Es war gerade Welzels wesentliches Anliegen, die finale Struktur der Handlung als all gern ein e Struktur herauszuarbeiten; damit kann sie Gegenstand genereller Wertung der Rechtsgemeinschaft sein, obwohl sie subjektive Momente enthält (vgl. Neues Bild, S.18. Treffend auch Stratenwerth, Juristen-Jahrbuch 1961/62, S.200: "Subjektive Elemente zum Gegenstand der Wertung zu machen, heißt nicht, die Wertung selbst in das Belieben des Subjekts zu stellen." Vgl. ferner Jescheck, Festschrift für Erik Wolf, S.478). 102 Stratenwerth, Natur der Sache, S.28. 103 Krauß, ZStW 76, 63 ff. 104 Stratenwerth, a.a.O., S. 13 ff. 100 101

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lich erscheinen, nicht beliebig wieder vernachlässigen darf, und daß der Gesetzgeber vor allem auch an den gewählten Wertaspekt gebunden ist105, dann läßt sich doch nicht aus der Unauflöslichkeit der Bindung von Wertgesichtspunkt und Sachstruktur darauf schließen, daß nur ein Wert aspekt das Sachgebiet beherrschen dürfe. Der Gegenstand der Betrachtung kann von vornherein unter mehreren Aspekten stehen: In der Bezogenheit des Unrechtsbegriffes auf den Täter und den Verletzten deutete sich eine derartige Mehrdimensionalität an. Dieser doppelten Bezogenheit des Unrechts müssen wir daher im folgenden nachgehen und überlegen, ob und wieweit sie im strafrechtlichen Sachzusammenhang einer Abwandlung fähig ist. Auch das strafrechtliche Unrecht unterliegt den Wertaspekten der gesamten Rechtsordnung. Wenn ein Gesichtspunkt überhaupt über Recht und Unrecht entscheidet, dann muß er auch in allen Rechtsgebieten, in denen er herangezogen wird, das Unrecht beeinflussen. Ist er im Strafrecht und im Zivilrecht gleichermaßen wichtig, muß er entweder in beiden Gebieten das Unrecht bestimmen, oder er gehört weder im Strafrecht noch im Zivilrecht noch in einem anderen Rechtsgebiet in das Unrecht. Hier wirkt sich der Gedanke von der Einheit der Rechtswidrigkeit ,a us106, und darin liegt auch die Konsequenz von Stratenwerths eigener These von der Bindung ,an den einmal gewählten oder aufgefundenen Gesichtspunkt. Das strafrechtliche Unrecht nun verhält sich zum Unrecht, das sich aus den Prinzipien der gesamten Rechtsordnung ergibt, wie ein Teil zum Ganzen. Wollte man daher einen Aspekt, unter dem sich in einem Teilgebiet Sachstrukturen als Unrechtsstrukturen zeigen, in einem anderen Sachgebiet als unmaßgeblich für die Struktur des Unrechts ansehen, so ginge eine solche Betrachtungsweise auf Kosten der Einheit des Begriffes der Rechtswidrigkeit. Zum Beweise, daß außerhalb des Strafrechts nicht nur der Täter im Blickpunkt der Unrechtsbetrachtung steht, sondern auch der Verletzte, genügt der Hinweis auf das Zivilrecht, das zwar den Unrechthandelnden angeht, den es zum Schadensersatz verpflichtet, aber auch den Unrechtleidenden, dem es den Ersatz zuspricht107• Zeigt aber die Blickrichtung auf den Verletzten überhaupt Unrechtsstrukturen, dann gibt es nach dem Gesagten nur zwei Möglichkeiten : Entweder besteht im Strafrecht keine Notwendigkeit, die Einbuße des Verletzten in den Blick zu neh105

Zu diesem Verständnis der sachlogischen Strukturen neuerdings

Dreier, S. 73 f.

106 Zusammenfassend Engisch, Einheit der Rechtsordnung, S. 56 ff.; vgl. neuerdings Münzberg, S. 120 f. 107 Die Gegenüberstellung des "unrecht Handelnden" und des "unrecht Leidenden", die die Beziehungsstruktur des Unrechts anschaulich wiedergibt, stammt von Mezger, vgl. GS 89, 250.

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1. Teil:

Kap. 3: Komponenten des Bagatelldelikts

men; dann steht die Erfolgskomponente zwar nicht außerhalb des Unrechts, wird aber im Strafrecht nicht thematisch. Oder die Einbuße des Verletzten ist auch im Strafrecht von Bedeutung; dann sind Wertungen, die ,sich in diesem Zusammenhang ergeben, Unrechtswertungen, und der Erfolg darf nicht mehr aus der Unrechtsbetrachtung ausgeschlossen und in eine andere systematische Zone verbannt werden108 • Indessen kann die praktische Bedeutung derartiger Unrechtsstrukturen in den einzelnen Rechtsgebieten durchaus verschieden sein. Wegen der besonderen Eigenschaften der Rechtsfolge des jeweiligen Rechtsgebiets und im Hinblick auf ihre besonderen Sach- und Zweckzusammenhänge, also unter teleologischem Vorzeichen, können sich Formen des Unrechts herausbilden, die auf diesem Rechtsgebiet als typisch erscheinen: In der Rechtsanwendung oder in der gesetzlichen Ausprägung kommt es zu generellen Merkmalen der Unrechtssachverhalte, die in anderen Rechtsgebieten nicht hervorzutreten brauchen. Es werden jene Elemente des Unrechts gesetzlich beschrieben oder richterlich festgestellt, die die Rechtsfolge "begründen". Die These Stratenwerths, der Blickpunkt auf den Täter vermöge besondere Strukturen des strafrechtlichen Unrechts aufzudecken, hat also - ihrer definitiven Fassung entkleidet - einen durchaus richtigen Kern109 • Besonders folgende Eigenarten des strafrechtlichen Rechtsfolgesystems sind es, die dem strafrechtlichen Unrecht die spezifische Ausprägung geben: Ganz überwiegend beziehen sich die Rechtsfolgen (insbesondere die Strafen und Maßregeln) nur auf den Täter, nicht ,auch auf den Verletzten11o . - Die Sanktionen schützen ihrem Zweck nach Rechtsinstitute und erst mittelbar dadurch Individualgüter. - Die Strafe bedeutet einen besonders entscheidenden Eingriff in die Persönlichkeitsrechte des Betroffenen und drückt einen sozialethischen Tadel aus. Mit diesen Merkmalen des Rechtsfolgesystems korrespondieren folgende Besonderheiten des strafrechtlichen Unrechts: Da die Strafe nur den Täter trifft, werden vor allem Verhaltenstypen als Unrechtssachverhalte herausgearbeitet, so daß sie im einzelnen Fall Anknüpfungspunkte der Subsumtion sein können. Auf eine entsprechende Durchbildung der Erfolgsseite und auf die Beschreibung der 108 So aber ausdrücklich Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale, S. 206 ff., 211, der den Erfolg in eine Zone "sonstiger Merkmale der Strafwürdigkeit" versetzt. - Nach Münzberg, S. 67 ff., ist auch im Zivilrecht der (eingetretene) Erfolg lediglich ein Merkmal des Haftungstatbestandes, nicht der Rechtswidrigkeit. 109 Vgl. oben S. 86 f. Zu weitgehend Münzberg, a.a.O. 110 Ausnahme ist z. B. die Geldbuße zur Entschädigung des Verletzten im Beleidigungsrecht, § 188 StGB.

II. Handlungsunrecht und Erfolgsunrecht

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Einbuße des Verletzten kommt es dagegen viel weniger an, denn den Verletzten berührt die Strafe nicht111 • - Zum zweiten ist die Erschütterung, die der Rechtswert als solcher erleidet, bereits mit dem bloßen Angriff gegeben, so daß Gefährdung und Versuch die Verhängung der Strafe ausreichend begründen. - Der Strafe als Eingriff in die Persönlichkeitssphäre steht das Schulderfordernis gegenüber, das die letzte dem Recht mögliche Individualisierung verlangt. Zwar bleiben die Kategorien von Unrecht und Schuld getrennt, aber viele Unrechtssachverhalte sind nicht geeignet, einem einzelnen Täter vorgeworfen !lU werden1l2 • So bleibt etwa das Unrecht eines PersonenveI1bandes von vornherein außerhalb der strafrechtlichen Betrachtungsweise, wenn es nicht auf den Tatbeitrag einzelner Personen reduziert werden kann. Bezeichnenderweise ist der Tatbestand der Organisationsdelikte (z. B. §§ 125, 128, 129 StGB) schon nach der Beschreibung des Unrechtssachverhalts -auf die Tatbeiträge einzelner Personen zugeschnitten. Vergleicht man etwa die Vorschrift über die Auflösung sozialschädlicher Aktiengesellschaften (§ 396 AktG) mit den Strafbestimmungen gegen die Verwaltungsträger wegen falscher Angaben, Pflichtverletzungen usw. (§§ 399 ff. AktG) , dann handelt es sich zwar in beiden Fällen um Unrechtssachverhalte; da aber im ersten Fall die Sanktion die Gesamtkörperschaft betrifft, begnügt sich die Vorschrift damit, als den Täter des nur allgemein umschriebenen "gesetzwidrigen Verhaltens" die "Aktiengesellschaft" sowie "Aufsichtsrat" und "Hauptversammlung" zu bezeichnen, während die Straftatbestände die individuellen Personen und einzelnen Tathandlungen unterscheiden113 . Schließlich folgt aus dem sozialethischen Vorwurf, den die Strafe für den Täter bedeutet, eine stärkere Betonung des sittlichen Moments im Strafrecht, sowohl in der Auswahl der Tatbestände als -auch mit einzelnen Merkmalen, die auf die mangelnde rechtliche Gesinnung des Täters hindeuten. Das Strafrecht steht mit seiner Umformung des Unrechts ja auch nicht allein. Der Zweck des zivilen Deliktsrechts ist der Schadensausgleich; daher muß die konkrete Einbuße des Verletzten im Mittelpunkt der Betrachtung stehen und jener konkrete Schadensbegriff ausgearbeitet werden, auf den das Strafrecht verzichten kann. Sicherlich kommt es im Zivilrecht auch auf den Täter an; aber die Täterpersönlichkeit 111 Zwar kommt der Strafe auch eine gewisse Genugtuungsfunktion gegenüber dem Verletzten zu; dabei kann es sich aber nur um eine untergeordnete Funktion handeln. Erwachsen aus ihr selbständige Rechte, wie im Nebenklage- und Privatklagerecht, dann muß auch die Erfolgsseite entsprechend ausgebildet sein. 112 Vgl. auch Maurach, Allgemeiner Teil, S.197. 1:L3 Zum Unterschied von strafenden und nicht strafenden Maßnahmen gegen Verbände ausführlich Schmitt, S.178 ff.

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richtet sich nach den Vorschriften des Zivilrechts über die RechtsfähigZU114. Noch deutlicher zeigt sich die Abhängigkeit der Ausformung des Unrechts vorn jeweiligen Rechtsfolgesystem im Wiedergutmachungsrecht, das Tatbestände "erlittenen" Unrechts formuliert und insofern geradezu ein Spiegelbild zu den Tatbeständen begangenen Unrechts im Strafrecht darstellt115• Zwar ist auch hier eine individuelle Verfolgungsmaßnahme, also eine Unrechtshandlung, erforderlich116 • Indessen kommt es nicht darauf an, das Unrecht -auf einen bestimmten Täter zurückzuführen; es genügt, daß eine amtliche Stelle oder die NS-Partei hinter der Unrechtsmaßnahme stand. Damit gibt das Entschädigungsrecht die Sachlage im Strafrecht gewissermaßen in umgekehrter Symmetrie wieder117•

keit und kommt also auch juristischen Personen

Es ist das Verdienst der personalen Unrechtslehre, das Unrecht im Zustand strafrechtlicher Umformung herausgearbeitet zu haben. Aber es bedarf kaum der Erwähnung, daß auch die traditionelle Lehre, die sich ja gerade auf teleologisches Denken beruft118 , diese tr.ansformierende Wirkung des strafrechtlichen Sachzusamrnenhangs anerkennt. Wenn Mezger etwa den psychologisch zu verstehenden Interessentatbestand, den Keßler für das Gegebensein von Unrecht forderte, durch das generelle Durchschnittsinteresse ersetzt119, so hat dieser Schritt seine Berechtigung nur, weil sich die str.afrechtliche Rechtsfolge ,auf den Täter bezieht. Das Zivilrecht könnte mit einern Unrechtsbegriff, der materiell nur an die Verletzung des generellen Durchschnittsinteresses 114 Zum Vergleich des strafrechtlichen und des zivilrechtlichen Unrechts vor allem Niese, JZ 1956, 457 ff., besonders S.462. 115 Vgl. die Präambel zum Bundesentschädigungsgesetz sowie den Begriff des "Verfolgten" in § I, ferner die Schadenstatbestände, die eine Formulierung der Tatbestände der Tötung, Körperverletzung, Freiheitsberaubung, Vermögensbeschädigung usw. aus der Sicht des Verletzten darstellen (§§ 15, 28, 43, 51, 56, 59, 64, 127 ff. BEG). 116 Vgl. Blessin-Ehrig-Wilden, Anm. III zu § 2 BEG. 117 Auch dem Versuch mit umgekehrtem Vorzeichen vergleichbare Problemlagen gibt es: Ist z. B. nach 1933 jemand emigriert, um unmittelbar drohendem Unrecht auszuweichen, und hat er dadurch Einbußen erlitten, so ist die Erfolgskomponente des Unrechts schon verwirklicht, nicht aber die Verhaltenskomponente. - Natürlich gibt es nicht überall Entsprechungen. Auch ein Personenverband kann ja Entschädigungsansprüche haben. Es fehlt hier eben ein Gegenstück zum Schulderfordernis, das eine entsprechende Bezogenheit auf den ein z eIn e n Verletzten verlangte. In diesem Punkte bietet sich aber eine Parallele im Beleidigungsrecht an: Ein Teil der Lehre verneint eine Beleidigungsfähigkeit von Personenverbänden, da die Ehre individualgebunden sei, vgl. Krug, S. 209 ff., mit Nachweisen S. 55 ff. Dann dürfte auch der Entschädigungsanspruch nach § 188 StGB nur der Einzelperson zustehen. 118 Ausführlich Mittasch, besonders S. 84 ff. 119 Vgl. oben S.69.

H. Handlungsunrecht und Erfolgsunrecht

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anknüpft, nicht arbeiten. Keßler ist auch zuzugeben, daß die psychische Beziehung zum Gut die Voraussetzung eines "generellen Durchschnittsinteresses" bildet, das ja von konkreten Interessebeziehungen ausgeht. Nun ist der Gesetzgeber bei der allgemeinen Bewertung natürlich berechtigt, von dem generellen Sachverhalt auszugehen, daß z. B. der Eigentümer in der Regel seine Sache behalten will. Aber die Erklärung, daß es im Strafrecht auch im Einzelfall beim generellen Durchschnittsinteresse bleiben kann, ergibt sich nicht aus einer allgemeinen Struktur des U n r e c h t s, sondern aus der einseitigen Bezogenheit der strafrechtlichen Rechtsfolge. Für diese genügt es, wenn das Interesse des Verletzten als Interpretationsgrundlage besteht und den Sinngehalt des tatbestandmäßigen Verhaltens aufschlüsselt; dafür aber reicht das generelle Durchschnittsinteresse aus. Hier liegen aber auch die Grenzen eines handlungsbezogenen Unrechtsbegriffes. Als Interpretationsgrundlage ist das Interesse und seine Verletzung auch im Strafrecht unentbehrlich. Das Unrechtsurteil kann zwar ohne die Ver wir k I ich u n g des Erfolges gefällt werden, setzt aber die S i n n beziehung der konkreten Handlung auf einen konkreten Erfolg voraus. Diese Sinnbeziehung ist nicht identisch mit der norrnmotivierenden Funktion des Rechtsguts, sondern es geht um die Interpretation des konkreten Verhaltens. Eine Handlung, die nicht zum Erfolg geführt hat, kann eine Unrechtshandlung jedenfalls dann nicht sein, wenn sie von vornherein keine Tendenz zum Erfolg hatte, gleichgültig, an welchem SachlVerhalt diese Tendenz sich zeigt: an der inneren Einstellung des Täters wie beim Versuch (vor allem beim untauglichen) oder an der abstrakten und konkreten Gefährlichkeit der Handlung. Zwar ergibt sich der Begriff des so verstandenen Erfolges nicht immer aus dem Tatbestand; bei der Trunkenheitsfahrt (§ 316 StGB) liegt er z. B. in der hypothetischen Unfallfolge, die das Verbot verhüten will120 • Hat aber die Handlung keine Tendenz zum Erfolg, dann ist die Tat kein Unrecht. Aus diesem Grunde muß Stratenwerth widersprochen werden, der beim Problem des agent provocateur in verschiedenen Fällen den Unrechtscharakter der Verführungshandlung annehmen will und dies mit der Erwägung begründet, das strafrechtliche Unrecht liege im Handlungsunwert, so daß der Erfolg zurücktreten könne121 • Stratenwerth wHlalso nicht nur auf die Ver wir k120 In diesem Sinne ist z. B. auch § 330c StGB kein schlichtes Tätigkeitsdelikt, sondern die gebotene Hilfspflicht richtet sich auf die Abwendung eines schädlichen Erfolgs. Auch wenn dieser Erfolg nicht zum Tatbestand gehört, folgt aus der Beziehung auf ihn der Unrechtscharakter der unterlassenen Hilfeleistung (so mit Recht Welzel, Lehrbuch, S.183, und besonders Armin Kaufmann, Unterlassungsdelikte, S.207). 121 Stratenwerth, MDR 1953, 719 f.

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1ich u n g des Erfolges verzichten, sondern die Tat des Anstifters hat überhaupt keine objektive oder subjektive Tendenz zum Erfolge. Gerade das Gegenteil ist der Fall: Nicht die Tendenz zum Ein tri t t des Erfolges schlüsselt den Sinn des Verhaltens auf, sondern die Tat wird gerade mit der Tendenz zur Ver hin der u n g des Erfolges unternommen. Wollte man hier noch von Unrecht sprechen, würde man auf den Erfolg als Interpretationsgrundlage des tatsächlichen Geschehens verzichten. Damit wird jedoch die Grenze einer zulässigen Umformung des strafrechtlichen Unrechts überschritten. Bei solchen Taten fehlt es am verletzten Interesse122 • Nicht nur beim Versuch, sondern auch bei den Gefährdungsdelikten finden wir derartige Sonderfälle. Bei den abstrakten Gefährdungsdelikten wird der Unrechtsgehalt aus der generellen Erfolgstendenz der verbotenen Handlung gefolgert. War aber die Tat nach dem Urteil des verständigten Beobachters zur Zeit der Tat ungefährlich, so muß auch für dieses Verhalten das Prädikat "unrecht" entfallen. Allerdings kann man diese Regel nur mit großer Zurückhaltung anwenden, denn der Gefahrbegriff ist dehnbar, und das Verbot will oft gerade auch die unvorhergesehene Gefahr ausschalten. Der materielle Unrechtsgehalt kann daher nur in solchen Fällen verneint werden, in denen die Annahme einer Gefahr absurd wäre123 •

Wird der konkrete Erfolg aber als Interpretationsgrundlage des strafrechtlichen Unrechts anerkannt, muß er auch in jenen Fällen, in denen er mehr ist als dies, also da, wo seine Verwirklichung zum Tatbestand gehört, als Bestandteil des Unrechts anerkannt werden. In diesen Fällen kann er auch nicht einen minderen Rang im Unrechtssachverhalt einnehmen als die Handlung; Handlungsunwert und Erfolgsunwert ·sind dann gleichberechtigte Strukturen des Unrechts.

122 Ablehnend daher die h. M., auch unter den Finalisten, vgl. Wetzet, Lehrbuch, S. 105. Will man die Bestrafung dagegen mit H. Mayer, Lehrbuch (1953), S. 336, auf die Schuldteilnahmetheorie stützen, ist die Tendenz der Tat zum Erfolg gegeben: Der Erfolg liegt dann in der Verführung des Angestifteten, eine Konsequenz, die Stratenwerth aber gerade vermeiden will. 123 z. B.: Ein Fußgänger geht entgegen § 37 stVO über die Mitte der Fahrbahn; diese war aber durch Bauzäune für den Fahrzeugverkehr gesperrt. Eine Strafbarkeit ist zu verneinen, auch wenn der Passant den Bauzaun nicht gesehen hat. Dagegen kann es die Bestrafung nicht verhindern, wenn "weit und breit kein Fahrzeug zu sehen war", denn die Vorschrift will gerade dem Umstand Rechnung tragen, daß sich im modernen straßenverkehr schnell die Verkehrslage ändern kann; vgl. zu diesen Fragen OLG Hamm VRS 5, 634. Die Frage greift bereits in den Problemkreis des Ungehorsamsdeliktes und der Ordnungswidrigkeiten über, der noch zu behandeln ist, vgl. unten S.169 f. Es sei vorweg bemerkt, daß die Konstruktion des Ungehorsamsdeliktes an den hier dargelegten Gründen ebenfalls scheitert.

11.

Handlungsunrecht und Erfolgsunrecht

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Nur um eine Steigerung oder Minderung des U n r e c h t s gehaltes kann es sich daher handeln, wenn der Gesetzgeber dem konkreten Erfolg die Bedeutung eines Maßprinzips zuerkennt: Das Ausmaß der Strafdrohungen und auch der in der Praxis verhängten Einzelstrafen hängt ab vom Stadium der Verwirklichung des Geschehens und vom Ausmaß des Erfolges. Die Bedeutung des Ausmaßes der Folgen zeigt sich nirgendwo so deutlich wie bei den erfolgsqualifizierten Delikten, und das Stadium der Verwirklichung formt die Strafdrohung für den Versuch. Auch auf die unterschiedlichen Strafdrohungen bei der fahrlässigen Körperverletzung und der fahrlässigen Tötung ist mit Recht hingewiesen worden; und die Strafdrohungen der Gefährdungsdelikte sind durchweg milder als diejenigen der vergleichbaren Erfolgsdelikte. Als Maßprinzip kommt der vorstrafrechtliche, ·auf den Täter und den Verletzten bezogene Unrechtsbegriffalso voll zur Geltung. Damit stellt sich die Frage, wie es mit den dargestellten Besonderheiten des Strafrechts zu vereinbaren ist, daß die Verwirklichung des Erfolges, die für das Gegebensein von strafrechtlichem Unrecht zurücktreten konnte, für sein Ausmaß auf einmal wieder uneingeschränkte Bedeutung bean·· sprucht. Die Erklärung muß sich ebenfalls ,aus der Teleologie der strafrechtlichen Rechtsfolgen ergeben. Sie dürfte in dem von beiden Lehren in verschiedener Terminologie vorgetragenen Gedanken liegen, daß das strafrechtliche Unrecht das Rechtsgut gerade in seiner Allgemeingültigkeit bedroht. Die Erschütterung, die die Geltung des Rechtsgebots durch das Verhalten des Täters im Bewußtsein der anderen Normadressaten erfährt, bleibt vom Ausmaß der Folgen nicht unberührt; ein Abfallen von den Werten, das sich durch den konkreten Schaden besonders nachdrücklich in der Außenwelt abgezeichnet hat, vermag eher ein "böses Beispiel" zu geben als die unvollendete oder nicht folgenschwere Tat. Freilich ist die Erfolgskomponente als Maßprinzip nicht s t r u k t u re 11 notwendig wie die Erfolgskomponente als Interpretationsgrundlage. Der Gesetzgeber wäre nicht gehindert, die quantitativen Unterscheidungen im strafrechtlichen Unrecht allein nach dem Handlungsunwert zu treffen. Ein derartiges Strafrecht müßte etwa auf die fahrlässigen Erfolgsdelikte und konkreten Gefährdungsdelikte verzichten und statt dessen die einzelnen Sorgfaltspflichten in den Tatbeständen typisieren, also eine große Anzahl abstrakter Gefährdungsdelikte schaffen. Das erfolgsqualifizierte Delikt wäre unzulässig, die Strafe der entsprechenden Vorsatzdelikte müßte erhöht und ein Qualifikationstatbestand geschaffen werden, der Merkmale besonders gefährlicher und rücksichtsloser Verwirklichungsweisen enthielte124• Der Versuch wäre wie die Vollendung zu bestrafenusw. - Es bedarf keiner weiteren 124 Damit würde vermutlich eine neue Einbruchszone für Gesinnungsmerkmale geschaffen.

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Beispiele, um die mangelnde Praktikabilität eines derartigen Strafrechtssystems zu zeigen. Es wird daher auch von den Finalisten nicht verlangt l211 •

Wir halten daher -als Ergebnis fest, daß das Unrecht allgemein gesehen die Erfolgskomponente ebenso wie die Handlungskomponente umfaßt. Als Interpretationsgrundlage ist die Erfolgskomponente auch im Strafrecht unentbehrlich. Es genügt aber, daß die konkrete Handlung eine (sUlbjektive oder objektive) Tendenz zum Eintritt des konkreten Erfolges hat, der Eintritt des Erfolges selbst ist dagegen nicht für das Gegebensein von Unrecht begriffsnotwendig. Aus praktischen Erwägungen verwendet aber das Gesetz das Eintreten oder Ausbleiben des Erfolges sowie sein Ausmaß als Maßprinzip. Betrachten wir unter diesem Gesichtspunkt die Fälle, in welchen die Tat, nach Handlungs- und Erfolgsunwert betrachtet, verschiedene Rangstellen einnimmt: Die leicht fahrlässigen, folgenschweren Delikte, und ihr Gegenteil, den Versuch eines schweren Deliktes, ferner das vollendete, schwere Delikt, bei dem Irrtumslagen den Handlungsunwert mindern (der Dieb hält den echten Ring für falsch). Diese Gegensätze lassen sich innerhalb des Unrechtsbegriffes nicht aufheben, denn Handlungs- und Erfolgsunwert sind gleichrangige Strukturen des Unrechts, und das Ausmaß des Unrechts formt sich nach beiden Wertmaßstäben. Es bleibt hier zunächst dahingestellt, ob aus Gesichtspunkten au ß e r haI b des Unrechts, etwa der Schuld, oder aus straftheoretischen Erwägungen der eine Aspekt über den anderen als Übergewicht erhalten kann126• In n e r haI b des Unrechts können diese Fälle nicht auf eine gemeinsame Rangstufe gebracht werden: Eine quantitative Bestimmung des Einzelfalles ist bei ihnen unmöglich, jedoch mit der gerade für unser Thema wichtigen Ausnahme der exponierten Rangstellen. Bei ihnen gilt der Satz, daß bei gleichwertigen Komponenten der Fall nach jeder von ihnen in derselben Richtung exponiert sein muß. Für die Geringfügigkeit bedeutet dies, daß der Fall nach jeder Komponente geringfügig sein muß. Ordnen wir die Straftaten also nur nach dem Unrecht, dann ist das leicht fahrlässige, folgenschwere Delikt, der Versuch des schweren Delikts usw. kein Bagatelldelikt. Hier bedeutet also die Zweidimensionalität des Unrechts eine wesentliche Einschränkung des Begriffs der Geringfügigkeit, denn diese muß dann einer doppelten Bedingung genügen. Es ist eine eigentümliche Tatsache, daß die unreduzierbare Mehrdimensionalität einer Ordnung, die die Bestimmung des 125 Anders aber Kadecka, Monatsschrift für Kriminologie 1931, 71 f. Zur pr akt i s c h e n Notwendigkeit eines mehrdimensionalen Unrechtsbegriffes treffend Stratenwerth, SchwZStR 1963, 255 f. 126 Vgl. unten Abschnitt !lI 2.

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Einzelfalles in den Mittelpositionen verhindert, in den extremen Positionen die Begrenzung und Bestimmung des Einzelfalles sogar erleichtern kann. Das leicht fahrlässige, folgenschwere Delikt und die anderen Problemlagen, in denen Handlungsunwert und Erfolgsunwert unproportional sind, müssen aus dem thematischen Bereich der Bagatelldelikte jedenfalls dann ausscheiden, wenn der Begriff des Bagatelldelikts nur auf eine Ordnung der Tatbestände nach dem Unrechtsgehalt bezogen würde. Es bleibt aber die Frage offen, ob und wie sich dieser Sachverhalt ändert, wenn die Schuldkomponente in die Betrachtung einbezogen wird. Diese Frage soll in einem späteren Abschnitt untersucht werden. Vorher sind noch weitere Bedenken auszuräumen, die einem komplexen an Handlung und Erfolg anknüpfenden Unrechtsbegriff begegnen können. Sie betreffen die normentheoretische Begründung des Unrechts, das als Widerspruch gegen ein Verhaltensgebot aufgefaßt wird.

c) Die Bestimmungsfunktion des Rechtssatzes und der Erfolgsunwert Das stärkste Argument für ein eindimensionales Verhaltensunrecht ist die Erkenntnis, daß das Recht offenbar nur menschliches Verhalten gebieten oder verbieten kann, aber keine Erfolge127 • Ein komplexer Unrechtsbegriff ließe sich freilich bilden, wenn man die Bestimmungsfunktion des Rechtssatzes nur auf die Schuld bezöge und das Unrecht der "adressenlosen Bewertungsnorm" zuwiese 128 • Indessen scheint dieser Weg mit dem Wesen des Rechts als einer gestaltenden Macht nicht vereinbar; auch wir wollen im folgenden davon ausgehen, daß das Unrecht, vom Täter her gesehen, Ungehorsam gegen den Rechtssatz als Bestimmungsnorm ist129• Freilich ist heute unbestritten, daß die auf menschliches Verhalten bewgene Bestimmungsnorm ein Werturteil, eine Bewertungsnorm voraussetzt130 • Aber der Gegenstand der Bewertung ist viel umfangreicher als die Handlung: Das erste und weiteste Feld der Wertung ist die Ausbildung der Rechtsgüter; aus den Ereignissen, die sie schädigen, stellt die Unrechtshandlung einen Ausschnitt Vgl. oben Anm.54. Mezger, GS 89, 245 ff. Ebenso Arthur Kaufmann, Unrechtsbewußtsein, S.138 f.; v. Listz-Schmidt, S.175. Daß diese Autoren die Bewertungsnorm nur auf die Rechtsgutsversetzung beziehen, hat keine innere Notwendigkeit. Auch die Handlung kann, wie dargelegt, Substrat der Wertung sein (vgl. schon Rudotf Thierfetder, S. 16). 129 Vgl. vor allem Engisch, Einführung, S.28. 130 Dies ist die grundlegende Erkenntnis Mezgers, GS 89, 241. Arthur Kaufmann, a.a.O., macht allerdings aus diesem logischen einen axiologischen Vorrang: Die Sollensnorm sei "weiter nichts als das Resultat einer Wertnorm". - Dazu auch Münzberg, S.62. 127 128

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dar131 • Man hat versucht, den Erfolgsunwert in den Elementen zu sehen, die die Bewertungsnorm über die Bestimmungsnorm hinaus erfaßt132, also in der Rechtsgutverletzung133• Im Strafrecht mag das tatsächlich als Lösung ·ausreichen, denn das Strafrecht blickt nur auf den Täter, den die Gebote und Verbote, nicht die Gewährungen des Hechtes ansprechen. Die Lösung bleibt indessen mit einer Inkonsequenz belastet134 • Geht man davon aus, daß das Wesen des Unrechts im Widerspruch gegen die gestaltende Kraft des Rechts liegt - dies ist der Kern der Imperativenlehre, wie sie heute vertreten wird135 - und will man von hierher den Erfolg in das Unrecht einbeziehen, dann kommt es nicht darauf an, einen umfangreicheren Gegenstand der Bewertung nachzuweisen, sondern es ist zu zeigen, daß sich das Erfolgs-

Grundlegend: Armin Kaufmann, Normentheorie, S. 69 ff. Stratenwerth, SchwZStR 1963, 250; vgl. S.255: Es "müssen Handlungsunwert und Erfolgsunwert zusammentreffen, um das Unrecht in seinem voll e n Ausmaß zu begründen". Zu Unrecht widerspricht freilich Stratenwerth der "Identitätsthese" Armin Kaufmanns über den Gegenstand von Bestimmungsnorm und Bewertungsnorm in der Handlung. Auch Kaufmann erkennt den weiter reichenden, Sachverhaltswerte einbeziehenden Gegenstand der Bewertungsnorm an (Armin Kaufmann, a.a.O., S. 69 f.). Die Identität beim Aktunwert ist ganz bewußt unter dem Gesichtspunkt geschaffen, daß das Unrecht Normwiderspruch sei und deswegen die Norm sich nur auf Handlungen beziehen könne. Das Unrecht ist nicht als Bewertung auf die Handlung beschränkt, vielmehr ist das U n r e c h t der Begriff, der den Un wer t auf die Handlung als Bewertungsgegenstand reduziert. 133 Im Ergebnis ähnlich Engisch, Untersuchungen, S. 350. Das Unrecht ist Widerspruch gegen die Bestimmungsnorm; die Bewertungsnorm ist für die Strafwürdikeit von Belang und hat auch den Erfolgssachverhalt zum Gegenstand. 134 Gegen die Vernachlässigung der Gewährungen in der Imperativentheorie schon Adolf Merkel, Gesammelte Abhandlungen, Bd. 1, S.376, der von der "Zweiseitigkeit" des Rechts spricht, "vermöge welcher es bei der Gestaltung der Lebensverhältnisse regelmäßig auf einer Seite ein Sollen ... auf der anderen Seite ein Dürfen... begründet und also die Funktionen des Gebietens und Bindens mit denjenigen des Erlaubens und Gewährleistens in sich verbindet"; dazu auch Enzyklopädie, § 100, S. 64 f. Vgl. auch Binding, Abhandlungen, Bd.1, S.534; Normen, Bd.1, S.107, und besonders H. A. Fischer, S. 46 ff. 135 Vgl. Engisch, a.a.O.; Armin Kaufmann, a.a.O., S.76; Unterlassungsdelikte, S.2; Jescheck, ZStW 73, 206; Festschrift für Erik Wolf, S.480. Auf dieses "teleologische" Moment im Rechtssatz verlagert die neuere Imperativenlehre den Akzent, während es der älteren Lehre vor allem darum ging, die Alleinherrschaft der Imperative nachzuweisen (immerhin ist der Gedanke des teleologischen Moments schon bei Thon, vgl. S. XlXI; 5 ff., systembildend). Armin Kaufmann gibt hingegen die selbständige Rechtssatzqualität der Gewährungen und Distributionssätze des Rechts zu, wenn er sie auch im Ergebnis zu weitgehend als Werturteile charakterisiert (a.a.O., S. 263), als "Durchgangsstation bei der Formulierung der schließlich und endlich allein maßgebenden Bestimmungsnorm" (Stratenwerth, SchwZStR 1963, 250, mit kritischer Stellungnahme). 131

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un r e c h t nicht nur im Erfolgsun wer t erschöpft136 • Indessen ist der gewährende und verteilende Rechtssatz mehr als nur ein Werturteil. Auch der Rechtssatz, der sich auf das Rechtsgut bezieht, hat seine Adressatenseite, indem er das Rechtsgut jemandem zuordnet oder zuspricht und die Funktionen des Rechtsguts im Sozialprozeß vorzeichnet. Denn ebensowenig wie das Recht nur durch Zwang ordnet und gestaltet137, bedient es sich nur der strikten Form des Befehls. Es kann auch auf andere Weise als durch Imperative den Adressaten erreichen und benutzt, wo es angängig ist, lieber den freien Verlauf der wechselseitigen Interessen, welchen es aber überall ordnet und gestaltet, indem es Möglichkeiten des Austauschs und damit Impulse für rechtliches Verhalten gibt. Die Imperativenlehre stellt sich die Rechtsgüterordnung zu sehr als eine statische Welt vor138 ; in Wirklichkeit ist diese Ordnung dynamisch, Rechtsgüter sind in Funktion, im Einsatz und Austausch begriffen139• Das Bild des Eigentums nach § 1004 BGB: der Eigentümer, der seine Position "genießt" und durch Normen vor Störern geschützt wird, beschreibt nur eine Grenzlage; dagegen zeigen die auf Austausch und Entwicklung gerichteten §§ 433 ff., 985 ff. BGB die sozialgestaltende Funktion des Eigentums. Es ist freilich zuzugeben, daß auch diese "dynamische" Ordnung letztlich erst durch Normen, Erfüllungsgeibote bzw. -pflichten durchgesetzt wird, denn nur Normen können Anknüpfungspunkte der rechtlichen Zwangsandrohung sein, die die Ordmmg gewährleistet. Gestaltet und in Bewegung gehalten aber wird sie durch Normen nicht; dies geschieht durch jene Gewährungs- und Distributionssätze, die eben dadurch mehr als Werturteile sind140 • 136 Diesen Nachweis führt Stratenwerth nicht. Sein Unrechtsbegriff verbindet daher verschiedene Kategorien: Einmal geht es um den Widerspruch des Adressaten gegen die Bestimmungsnorm, einen "praktischen" Akt, das andere Mal um "Widerspruch" gegen die Bewertung, eine theoretische, "kognitive" Beurteilung (vgl. Armin Kaufmann, Normentheorie, S. 74 ff.). 137 Dies nachzuweisen war ein wichtiges Anliegen Thons, vgl. S. 5 ff., 7. Es ist auch für die Imperativenlehre grundlegend, denn nicht die Norm erzwingt ja das Verhalten (dazu schon Adolf Merket, Gesammelte Abhandlungen, Bd. 1, S. 378). 138 Auch Thon, S. 288 ff., spricht vom "Genuß" der durch Normen gesicherten Positionen. 13!J1 Vgl. auch Wetzet, Zstw 58, 515, der mit dem oben Anm.89 wiedergegebenen Beispiel gerade zeigen wollte, daß die Rechtsgüter "im sozialen Leben wirkend und Wirkungen empfangend" dastehen. Ganz ähnlich H. Mayer, Lehrbuch (1936), S. 105. 140 In Ausnahmelagen, wenn das freie Spiel der Interessen nicht genügt, um diesen Prozeß in Bewegung zu halten, geht der Gesetzgeber von der Anregung zum Imperativ über, z. B. bei den Vorschriften, die einen Kontrahierungszwang vorsehen. Vgl. auch den Enteignungstatbestand des § 85 Abs. 1 Ziff. 2 des Bundesbaugesetzes, der eine Enteignung von ungenutzten Grundstücken ermöglicht. Auch hinter den Anregungen des Gesetzes steht also der gestaltende Wille.

7 Krümpelmann

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1. Teil: Kap. 3: Komponenten des Bagatelldelikts

Dann aber ist das Unrecht, von der Erfolgsseite her und auf sein Verhältnis zum Rechtssatz hin betrachtet, nicht nur "Widerspruch"141 gegen die Bewertungsnorm. Die Einbuße des Verletzten stört vielmehr den Ablauf der vom Gesetzgeber gewollten Ordnung; die Dynamik der Güterordnung wird in Richtungen gelenkt, die den Zwecken des Gesetzes zuwiderlaufen. Der einzelne, jn dessen Disposition das Rechtsgut gestellt ist, wird an der vollen Entfaltung seiner Möglichkeiten verhindert. Vom Ganzen der Rechtsordnung her gesehen bedeutet die Einbuße des Verletzten eine Behinderung des Interessenspiels, dessen sich die Rechtsordnung zur Entfaltung des gesamten Sozialprozesses bedient. In dieser Sicht wird der Erfolgsunwert zum "erlittenen Unrecht". Das Erfolgsunrecht ist also ebenso wie das Handlungsunrecht m ehr als ein Widerspruch gegen Werturteile; auch erlittenes Unrecht widerstrebt den gestaltenden Kräften des Rechts. Zusammenfassend ist daher festzustellen, daß auch das Bestimmungsmoment des j={echts einem handlungs- und erfolgsbezogenen Unrechtsbegriff nicht widerspricht. Wir können uns daher jetzt der Frage zuwenden, ob und unter welcher Voraussetzung die Gleichrangigkeit von Handlungsunwert und Erfolgsunwert im Hinblick auf die Schuldkomponente -abgewandelt werden kann.

111. Probleme der Schuldkomponente 1. Der begriffliche Inhalt der Schuldkomponente

Das Strafgesetz gibt der Schuldkomponente an vielen Stellen auch für die Bildung der Tatbestände Bedeutung. Von Schuldmerkmalen im Tatbestand sprechen wir immer dann, wenn das Gesetz Umstände nennt, die dem Täter die Entscheidung zum rechtlichen Handeln erschweren, und wenn es diese Notlagen durch eine Strafmilderung anerkennt,also z. B. beim Notdiebstahl (§ 248 a StGB) , beim Notbetrug (§ 264a StGB) , bei der Kindestötung gleich nach der Geburt (§ 217 StGB) usw. Die größte Bedeutung aber beanspruchen die Schuldausschließungs- und Schuldmilderungsgründe des Allgemeinen Teils, vor allem § 51 StGB und die Regeln über die Behandlung des vermeidbaren und unvermeidbaren Verbotsirrtums. In Analogie zu §§ 52, 54 StGB lassen sich auch Regeln über die eingeschränkte Zumutbarkeit entwickeln; eine übergesetzliche Strafmilderung ist hier ,aber bisher nicht anerkannt worden. Indessen ist die Schuld abstufung nach allen diesen Grundsätzen die Ausnahme. Für den Regelfall geht das Gesetz 141 Treffend hat Armin Kaufmann, Normentheorie, S.79, ausgeführt, daß einem Werturteil im Grunde nichts "widersprechen", sondern nur "nicht unterfallen" kann.

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von der vollen Zurechnungsfähigkeit, der vollen Verbotskenntnis, der uneingeschränkten Zumutbarkeit aus. Der Grad der Schuld bemißt sich daher im allgemeinen nach dem Ausmaß des Unrechts ("abgeleitete Schuldbewertung")l. Der Inhalt der Schuldkomponente ergibt sich aus ihrer Beziehung auf den Tatbestand. Nur ein Schuldbegriff, der an das tatbestandsmäßige Unrecht und die gesetzlichen Schuldvorschriften gebunden ist, kann die Rangordnung der Tatbestände beeinflussen. Damit haben wir die Inhaltsbestimmung und die Begrenzung der Anzahl der Komponenten, folglich die Begrenzung der quantitativen Bestimmung nach außen hin erreicht2 • Nur Handlungsunwert, Erfolgsunwert und eben die Schuld, verstanden als Tatschuld, gelangen in die Betrachtung. Ausgeschlossen ist neben straftheoretischen und kriminalpolitischen Erwägungen oder überlegungen über die Opportunität der Strafverfolgung vor allem der individualisierende Schuldbegriff der Strafzumessung, der die Berücksichtigung außertatbestandsmäßigen Unrechts oder mildernder, aber gesetzlich nicht anerkannter Umstände (die anerkennenswerte Gesinnung) usw. ermöglicht oder sogar die Bezugnahme auf individualethische Maßstäbe erlaubt 3 • Alle diese Gesichtspunkte haben außer Betracht zu bleiben, wenn wir nach den Komponenten der Rangordnung der Tatbestände fragen, und solange wir den Begriff der Bagatelldelikte auf diese Rangordnung beziehen, kommen sie auch für den Begriff des Bagatelldeliktes nicht in Betracht. Dies ist wichtig gegenüber den nicht seltenen Versuchen, derartige Umstände ebenfalls einer Betrachtung 1 Vgl. oben S. 63. Es läuft auf eine unnötige Komplizierung hinaus, wenn Armin Kaufmann, auf dessen Ausführungen (Normentheorie, S. 194 ff.; vgl. auch oben S. 78 ff.) im übrigen durchweg verwiesen werden kann, eine Skala der Schuldgrade aufbaut, die bei der unteren Grenze der verminderten Zurechnungsfähigkeit beginnt; von dieser Marke aus werden alle anderen Schuldgrade als Steigerungen verstanden (a.a.O., S. 201, 218 f.). Der Ausgangspunkt der quantitativen Betrachtung ist an sich beliebig, aber er sollte nach praktischen Gesichtspunkten gewählt werden. Einmal dürfte die Untergrenze schwerer zu bestimmen sein als der Normalfall der vollen Tatverantwortlichkeit. Zum anderen läßt sich das Prinzip der abgeleiteten Schuldbewertung besser durchführen, wenn das Ausmaß des Unrechts für den Regelfall auch das Ausmaß der Schuld durchzeichnet. Dann wirkt die selbständige Schuldabstufung im Zusammenhang mit den Momenten rechtlichen Könnens nicht als steigernde, sondern nur als mindernde Komponente. (Auf die Frage der Gesinnungsmerkmale, die von manchen als schuldsteigernde Elemente angesehen werden, kann hier nicht eingegangen werden. Ihre Bedeutung tritt jedenfalls gegenüber den Schuldminderungsgründen, besonders denen des Allgemeinen Teils, erheblich zurück.) Diese Auffassung erleichtert die Bestimmung des Einzelfalls und entspricht überdies der gesetzlichen Terminologie. Im Ergebnis der quantitativen Betrachtung wirkt sich der andere Ausgangspunkt Kaufmanns nicht aus. 2 Vgl. oben S. 43 f. 3 Vgl. Spendet, Strafmaß, S. 221 ff.; zum individualethischen Bewertungsmaßstab auch Würtenberger, Geistige Situation, S. 62.

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1. Teil: Kap. 3: Komponenten des Bagatelldelikts

nach Handlungs- und Erfolgsunwert zu unterwerfen. Der Erfolgsunwert der Tat soll z. B. vermindert sein, wenn der Schaden wiedergutgemacht wird. Man versteht dann unter dem Erfolgsunwert die wirtschaftliche Endregelung des Schadensausgleichs4 • Die Wiedergutmachung soll aber auch für die Einsichtfähigkeit des Täters sprechen und wird insofern als schuldminderndangesehen5 • Alle diese Umstände stehen mit der Einzeltat, soweit sie im Tatbestand beschrieben ist, nicht in Beziehung. Verstehen wir den Begriff der Geringfügigkeit im Hinblick auf den einzelnen Tatbestand, dann müssen sie außer Betracht gelassen werden. Sie sind Strafzumessungsgründe im engeren Sinne6 , lassen sich jedoch mit der hier dargestellten Bedeutung von Handlungs- und Erfolgsunwert nicht verbinden. Große Schwierigkeiten ,aber bereitet der quantitativen Bestimmung das Verhältnis dieser Komponenten untereinander. Es ist zu fragen, ob die Schuldkomponente den Unrechtskomponenten überzuordnen ist, und ob sich etwa von dieser überordnung auch für die Frage des leicht fahrlässigen, folgenschweren Deliktes und der verwandten Fallgestaltungen besondere Ergebnisse ableiten lassen. 2. Das Verhältnis von Handlungsunwert, Erfolgsunwert und Schuld

Zwischen dem Handlungsunwert und dem Erfolgsunwert der Tat zeigen sich bei den vorsätzlichen Delikten deutliche Zusammenhänge. Bei ihnen wird der Erfolgsunwert vom Vorsatz umfaßt; damit verändert das Maß des Erfolgsunwerts auch den Handlungsunwert. Bei den Fahrlässigkeitsdelikten besteht diese Proportionalität häufig ebenfalls: Der schwere Erfolg geht meistens auf ein entsprechend gefährliches Verhalten zurück. Während aber die Proportionalität bei den Vorsatztaten eine durch wenige, systematisch zu erfassende Ausnahmen durchbrochene Regel ist, läßt sich für die Fahrlässigkeitsdelikte nur ein oft widerlegter Erfahrungssatz aufstellen, der kaum eine große Hilfe bedeutet. Es genügt der Hinweis auf den modernen Straßenverkehr: Oft genug führen kleine Verstöße zu schweren Folgen. Bei den Vorsatzdelikten ist die Proportionalität dagegen nur beim Versuch 'aufgehoben, Peters, Festschrift für Eb. Schmidt, S.506. Nachweise unten S.209. 6 Treffend Max Ernst Mayer, S.487: "Wenn die Rechtsfolge an einen außerhalb des gesetzlichen Tatbestandes liegenden Umstand anknüpft, ist die Vorschrift Strafbemessungsregel, dagegen enthält sie eine Bestimmung des gesetzlichen Strafmaßes, wenn die Rechtsfolge in einem Tatumstand, der ,zum gesetzlichen Tatbestand' gehört, ihre Voraussetzung findet." Vgl. auch Spendel, Strafmaß, S. 205. 4

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III. Probleme der Schuldkomponente

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ferner in Irrtumsfällen: Der Täter stiehlt einen Brillantring, den er aber für unecht gehalten hat, und dergleichen mehr7 • Der Handlungsunwert ist der Schuldkomponente untergeordnet, ohne daß sich Spannungen ergeben. Das Nähere folgt aus dem Gedanken der abgeleiteten Schuldbewertung, nach welchem die obere Grenze des Handlungsunwerts >auch die obere Grenze der Schuld bedeutet8 • Der kritische Punkt dieses ganzen Fragenkreises aber ist das Verhältnis der Erfolgskomponente zur Schuld in den Fällen, in denen die Proportionalität zwischen Handlungsunwert und Erfolgsunwert aufgehoben ist. Diese Frage ist im folgenden zu behandeln: Die selbständige Bedeutung der Erfolgskomponente als Maßprinzip scheint in solchen Fällen zu Widersprüchen mit der Schuldkomponente zu führen, in denen das Gesetz die Strafdrohung nach dem Erfolge formt, 'also etwa beim Versuch, bei der Staffelung der fahrlässigen Tötung gegenüber der fahrlässigen Körperverletzung und trotz der Fahrlässigkeitsvoraussetzung des § 56 StGB auch bei den erfolgsqualifizjerten Delikten. Wenn derselbe Grad der Fahrlässigkeit unterschiedlich danach bestraft wird, ob Folgen eingetreten sind oder nicht, oder wenn der Täter privilegiert wird, dessen Handlung nur durch äußere Umstände nicht zur Vollendung gelangt ist, dann hat der Erfolg tatsächlich für sich allein schon wichtigen Einfluß auf das Ausmaß der Strafe. In diesen Fällen muß also anscheinend das Prinzip der abgeleiteten Schuldbewertung versagen: Es gibt Ursachen für den unproportionalen Erfolg oder sein Ausbleiben, die nicht im Einwirkungsbereich des Täters 7 Entfällt der Handlungsunwert ganz (der Täter hält den fremden Mantel, den er wegnimmt, ohne Fahrlässigkeit für den eigenen), dann muß nach unserem Ausgangspunkt auch das Unrecht entfallen. Für den Angegriffenen kommt nicht Notwehr in Betracht, sondern die Abwehr ist in Analogie zu § 228 BGB gerechtfertigt. Diese Konsequenz wird allerdings auch von den Finalisten nicht gezogen; ablehnend etwa Maurach, Allgemeiner Teil, S. 233 f. (der allerdings in der Lehre von der Rechtswidrigkeit ohnehin mehr der traditonellen Lehre zuneigt), und vor allem Welzel, Lehrbuch, S.78, der ein Notwehrrecht auch dann geben will, wenn der Angriff nicht einmal auf einen Willensakt zurückgeht (Eigentumsverletzung durch Reflexbewegung). Sicherlich ist es nicht ganz befriedigend, menschliches Verhalten insoweit der Sachgefahr und dem Tierangriff gleichzustellen, aber es handelt sich eben nicht um direkte, sondern um analoge Anwendung. Die verschärfte Haftung nach dem Verhältnismäßigkeitsgedanken ist dagegen eher ein Gewinn. In derartigen Fällen ist ja der Angriff nicht dem sozialethischen Tadel unterworfen, den der Grundgedanke der Notwehr, daß das Recht dem Unrecht nicht zu weichen braucht, eigentlich darstellt. Eine größere Rücksichtnahme, in gewissen Grenzen auch ein Rechtsverzicht, ist dem Angegriffenen daher zuzumuten. - Vgl. zu diesen Fragen neuerdings Münzberg, S. 355 ff., der zu ähnlichen Ergebnissen gelangt. 8 Abweichendes gilt wieder für jene Meinung, die die Gesinnungsmerkmale als Schuldmerkmale auffaßt (vgl. oben Abschnitt I Anm. 3).

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1. Teil: Kap. 3: Komponenten des Bagatelldelikts

und also außerhalb des Schuldvorwurfs liegen9 • Die Widersprüche zwischen der Erfolgskomponente und der Schuldkomponente wären in der Tat nicht zu beseitigen, wenn der Erfolgsunwert die Strafe über das Maß der Schuld s t e i ger n müßte. Diese Voraussetzung ist jedoch durchaus fragwürdig. Gehen wir freilich davon aus, daß die Ahndung einer fahrlässigen Tat nach § 1 StVO, § 21 StVG immer schon die volle Sanktion darstellt, dann kann der hinzutretende Erfolg des § 230 StGB oder des § 222 StGB nur noch als schuld überschreitende Steigerungskomponente verstanden werden. Indessen ist der Gesetzgeber nicht gehalten, den Handlungsunwert jedesmal voll zu sanktionieren. Das Schuldprinzip setzt der Berücksichtigung des Erfolges im Strafrecht nur eine obere Grenze. Das Unrecht ist bei geringerem Erfolge oder beim Ausbleiben des Erfolges aber gemindert, mag auch der Handlungsunwert für sich betrachtet größer sein, und auf dieses geringe Unrecht bezieht sich die Schuld nach dem Prinzip der abgeleiteten Schuldbewertung10 ,11. Demnach dürfen wir zum Ausgangspunkt der Betrachtung im Beispiel nicht die Bestrafung nach § 1 StVO, § 21 StVG nehmen: Hier braucht der Handlungsunwert nicht voll sanktioniert zu werden, denn die Pflichtverletzung erschüttert die allgemeine Geltung des Rechtsgebotes weniger, wenn der Erfolg ausbleibt oder - wie bei § 230 StGB gegenüber § 222 StGB - leichter ist. Dagegen sind fahrlässige Verletzungen der Pflicht zur Beachtung des Rechtsguts "Leben" durchaus denkbar, die mit 5 Jahren Gefängnis im Höchstmaße nach dem Handlungsunwertauch dann nicht ungerecht bestraft wären, wenn der

9 Keinen Beifall verdient daher der Versuch von Stratenwerth, SchwZStR 1963, 254, die Vereinigung von Handlungs- und Erfolgsunwert gerade durch eine Abwandlung des Schuldbegriffs zu bewirken. 10 Ähnlich Dreher, Niederschriften, Bd. 2, S. 253; Gimbernat Ordeig, S. 161 ff.; Bockelmann, Niederschriften, Bd.5, S.85, der aber zu weit geht, wenn er den Erfolg als Strafausschließungsgrund bezeichnet und ihn aus den "Merkmalen der deliktischen Handlung" ausschließt (a.a.O., S.91). Damit wäre die Zugehörigkeit zum strafrechtlichen Unrecht geleugnet, das Handlungs- und Erfolgsunwert umfaßt (zutreffend Stratenwerth, SchwZStR 1963, S. 250 ff., Festgabe für den Schweizerischen Juristentag, S. 257). 11 Der Einwand Arthur Kaufmanns, Schuldprinzip, S.258, der Gedanke stelle nur eine formelle Rechtfertigung eines Verstoßes gegen den Schuldgrundsatz dar, denn die mildere Bestrafung der zufällig harmlosen Tat sei nichts anderes als die schwerere Bestrafung des bösen Erfolges (ähnlich Kadei!ka, Monatsschrift für Kriminologie 1931, 67) erscheint anfechtbar: Die Feststellung ist richtig nur unter der Vor aus set z u n g, daß die Strafe sich allein nach dem Erfolge richtet. Der Punkt, um den es eigentlich geht, die Schuld, und der (kriminalpolitisch ja auch durchaus inhaltsreiche) Gedanke, der die Vereinbarkeit des Erfolgsmaßstabes mit der Schuldkomponente begründen soll, nämlich daß die Schuld nicht die volle Sanktion erfordert, sind aus der Gleichung ausgeschlossen. - Damit läuft das Gegenargument Kaufmanns auf eine petitio principii hinaus.

III. Probleme der Schuldkomponente

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Erfolg nicht einträte12 . So gesehen steigert der Erfolgsunwert also nicht die Strafe über das Maß der Schuld hinaus; vielmehr begrenzt das geringere Ausmaß des Erfolges die nach dem Ausmaß des Handlungsunwerts unter dem einzigen Aspekt des Schuldgrundsatzes an sich bestehenden Sanktionsmöglichkeiten. Der Täter kommt bei ausgebliebenem Erfolg besser weg, ·als er es nach dem Maße seiner Schuld verdient. Welzels Argument, der Erfolg sei limitierendes Element des Strafrechts13, könnte also nicht nur für das Gegebensein, sondern in diesem Sinne auch für das Ausmaß des Unrechts Geltung beanspruchen. Beim Versuch des Deliktes sind alle Strafmöglichkeiten des Regelstrafrahmens und des Tatbestandes gegeben, wenn man nur den Handlungsunwert betrachtet. Aber das Ausmaß des Unrechts, das sich aus Handlungs- und Erfolgsunwert gemeinsam ergibt, ist geringer, und nach dem Prinzri.p der abgeleiteten Schuldbewertung sinkt dann auch die Schuld. Das Problematische liegt also nicht in u n t e r s chi e d li c h e n Strafen für Versuch und Vollendung, sondern im Gegenteil darin, daß die Strafmilderung nicht zwingend vorgeschrieben ist: Die fahrlässige Körperverletzung etwa kann auch bei noch so schwerem Verhaltensunwert nur im Rahmen des § 230 StGB bestraft werden. Nachdem der Gesetzgeber den Erfolg als Maßprinzip anerkannt hat, wäre freilich die einheitliche Handhabung der Maßprinzipienzu bevorzugen und eine gesetzliche Regelung zu begrüßen, welche ·die Strafmilderung beim Versuch zwingend vorschreibt, zumal damit die absolut herrschende Praxis der Gerichte nur bestätigt würde14 • Die Erfolgskomponente steht zu der Schuldkomponente also nur dann in Gegensatz, wenn der Erfolg statt der limitierenden Funktion eine selbständige, steigernde Wirkung hat. Das ist nicht schon dann anzunehmen, wenn im Hinblick auf einen eintretenden Erfolg der Strafrahmen vergrößert wird, da mit dem größeren Erfolg auch die Möglichkeit stärkerer Pflichtverletzungen einhergeht und die Ausdehnung rechtfertigt. Aber dieser Möglichkeit entspricht keine Notwendigkeit; der größere Erfolg k a n n auch bei geringem Handlungsunwert eintreten. Der Schuldgrundsatz wird ·also bei der unteren Grenze des Strafrahmens fraglich, denn es kommt darauf an, ob der Strafrahmen die aufgehobene Proportionalität zwischen Erfolgsunwert und Handlungsunwert nach unten hin zu korrigieren gestattet. Das Schuldprinzip ist daher nicht so sehr durch die Vergrößerung des Strafrahmens nach oben hin bedroht, sondern vor allem dann, wenn der Strafrahmen des 12 Dies vor allem bei den manchmal geringen Wertdifferenzen, die zwischen bedingt vorsätzlichen und bewußt fahrlässigen Taten bestehen können. 13 Vgl. oben S. 77 f. 14 Für obligatorische Milderung daher mit Recht Stratenwerth, Festgabe für den Schweizerischen Juristentag, S. 247 ff.

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Kap. 3: Komponenten des Bagatelldelikts

Erfolges wegen erhöhte untere Grenzen setzt15. Möglichkeiten des Konfliktes mit dem Schuldprinzip birgt aus diesem Grunde die Regelung der erfolgsqualifizierten Delikte in sich. Auch leichte oder in Notwehrüberschreitung begangene vorsätzliche Körperverletzungen, die für sich betrachtet keinen erheblichen Handlungsunwert haben, können infolge leichter Fahrlässigkeit zum Tode oder zu schweren Verletzungen führen. In solchen Fällen kann aber die tatsächliche Strafe nicht mehr auf den Handlungsunwert und die Schuld bezogen werden, denn die Mindeststrafe ist drei Jahre, bei mildernden Umständen (§ 228 StGB) drei Monate Gefängnis. Bei den erfolgsqualifizierten Delikten kann daher der Erfolg über die Steigerung des Unrechts und ohne Vermittlung der Schuld die Strafe steigern. Das Prinzip der abgeleiteten Schuldbewertung ist bei ihnen im Ausnahmefall aufgehoben16. In diesem Zusammenhang ist auch die Funktion des Erfolges als Tatbestandsmerkmal von Interesse. Er ist das gesetzestechnische Hilfsmittel, einen Umkreis von Pflichten festzulegen, die wegen der Vielfalt der Situationen nicht typisiert werden können. Ebenso wie der Gesetzgeber seine Verhaltensgebote in der Beziehung auf das Schutzobjekt ausarbeitet, wird die konkrete Pflicht in der Beziehung auf das konkrete Objekt entwickelt17• Auch bei den fahrlässigen Erfolgsdelikten wird im Tatbestand nicht nur die Unrechtsart, sondern in gewissem Umfang auch der Unrechtsgrad festgelegt18: Die unteren Grenzen werden von den unteren Grenzen des Strafrahmens bezeichnet. Dem Tatbestandsmerkmal des Körperverletzungserfolges in § 230 StGB kommt dann freilich eine doppelte Funktion zu: Er begrenzt einmal als "limitierendes Element" die Verletzungen von auf das Leben bezogenen Sorgfaltspflichten, bei denen es zur Tötung hätte kommen können, in denen es aber nur zur Verletzung des Angegriffenen gekommen ist. Zum anderen umreißt der Erfolg einen für § 230 StGB allein typischen Pflichtenkreis, der von dem des § 222 StGB auch qualitativ verschieden ist: Die Pflicht des Arztes, bei erheblichen Schmerzen ein schmerzstillendes 15 Bedenklich ist daher die Regelung der fahrlässigen Tötung im Entwurf 1962 (§ 138): Nach Abs.2 ist in besonders schweren Fällen die Untergrenze der Strafe sechs Monate Gefängnis. Dies ist in der Alternative der Ziff. 1 auch zu rechtfertigen, denn dort ist der Handlungsunwert qualifiziert (Leichtfertigkeit). In Ziff. 2 steigert sich jedoch der Erfolgsunwert (Tod vieler Menschen). Durchaus nicht immer ist mit diesem Erfolg eine entsprechende Steigerung des Handlungsunwerts verbunden, und die Begründung (S. 276) weist eigens darauf hin, daß diese Qualifikation auch bei leichtem Verschulden anzunehmen sei. Immerhin ergibt sich eine Korrekturmöglichkeit über die "minder schweren Fälle" nach § 138 Abs. 3. 16 über Korrekturmöglichkeiten im Rahmen der Strafaussetzung zur Bewährung vgl. unten S. 189. 17 Vgl. Welzel, Lehrbuch, S.118. lS Vgl. oben S. 55.

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Mittel zu verabfolgen, ist keine Pflicht gegenüber dem Leben, sondern gegenüber der Körperintegrität. Auch der Vergleich der unteren Grenzen des Strafrahmens des § 230 StGB und § 222 StGB zeigt die Schweredifferenz des Pflichtenkreises. Bei § 222 StGB ist als einzige Strafart im Strafrahmen die Gefängnisstrafe zugelassen. Auch die leichteste Verletzung einer -auf das Leben bezogenen Pflicht wiegt also gegenüber der fahrlässigen Körperverletzung schwerer, denn dort ist wahlweise noch Haftstrafe und Geldstrafe angedroht. Freilich enthält das übertretungsstrafrecht vor allem in den straßenverkehrsrechtlichen Gesetzen eine Fülle von typisierten Pflichten, die sich als Sorgfaltspflichten gegenüber Leben und Körperintegrität darstellen. Bei ihnen bleibt der Gesetzgeber bewußt unterhalb der Sanktion, die nach dem Handlungsunwert -angemessen wäre 19 • Unter dem Gesichtspunkt des Handlungsunwerts allein könnte grundsätzlich schon die lebensgefährliche oder gesundheitsgefährliche Handlung vom Gesetzgeber zum Vergehen erhoben werden, im Zusammenhang mit der Erfolgskomponente jedoch nur dann, wenn der Verhaltensunwert besonders gesteigert ist20 • Im Ergebnis ist festzuhalten: Dem Täter wird ein nach Handlungsund Erfolgskomponente gemeinsam bemessenes Unrecht vorgeworfen. Der Handlungsunwert ist mit dem Erfolgsunwert jedoch zu verrechnen, wenn die Schuldkomponente eine übergeordnete Bedeutung hat: Bleibt der Erfolgsunwert hinter dem Handlungsunwert zurück, mindert sich das Ausmaß des Unrechts und des Schuldvorwurfs, da sich der Vorwurf nach dem Gegenstand seiner Beziehung richtet. Bleibt der Handlungsunwert gegenüber dem Erfolgsunwert zurück, zerschneidet die Schuldkomponente den Unrechtsbegriff: Nur bis zum Ausmaß des Handlungsunwerts kann der Erfolgsunwert angerechnet werden, und über die Schuld im engeren Sinne kann der anzurechnende Teil des Unrechts 19 Damit zeigt sich eine wichtige Einschränkung für die Kategorie der übertretungen in ihrer Bedeutung als Maßstab bei der Bestimmung des Bagatellvergehens (vgl. oben S. 59). Wir waren davon ausgegangen, daß die Kategorie der übertretungen grundsätzlich nach den Maßstäben gebildet wird, die sich außerhalb des Rechts über die Geringfügigkeit ergeben. Nun erkennen wir, daß die übertretungen nicht einheitlich sind: Es werden bei ihnen zahlreiche Handlungspflichten typisiert, die unter dem Gesichtspunkt des Handlungsunwerts an sich erheblich, aber mit Rücksicht auf die Abstraktheit der Gefahr bzw. das Ausbleiben des Erfolges in die übertretungskategorie eingestuft worden sind. - Damit wird einmal die Bedeutung des Erfolges als Maßprinzip unterstrichen. Zum anderen zeigt sich, daß auch bei der Bestimmung des Bagatellvergehens eine vergleichbare Pflichtverletzung des übertretungsstrafrechts nicht ohne überprüfung die Geringfügigkeit des Handlungsunwerts anzeigt. Viele übertretungen der StVO sind als Maßstab der Geringfügigkeit untauglich. 20 Im einzelnen vgl. unten Kap. 4 I Anm. 56.

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Kap. 3: Komponenten des Bagatelldelikts

noch geringer erscheinen21 • - Das Prinzip der abgeleiteten Schuldbewertung gilt auch bei den fahrlässigen Erfolgsdelikten und beim Versuch; es unterwirft sich auch die Erfolgskomponente. Die Schuldkomponente k a n n damit tatsächlich zur beherrschenden Komponente der quantitativen Bestimmung werden. Es fragt sich allerdings, ob dieses mögliche übergewicht in allen Sachzusammenhängen, insbesondere bei der Bestimmung des Bagatelldelikts, Geltung beansprucht.

IV. Die Geringfügigkeit von Unrecht und Schuld Selbst wenn die Schuld auch für den Begriff des Bagatelldelikts die obere Grenze bestimmt und damit gegenüber den Komponenten des Handlungsunwerts und des Erfolgsunwerts die übergeordnete Stellung behauptet, kommt es selbstverständlich trotzdem noch auf die Begriffsbestimmung des Handlungsunwerts und des Erfolgsunwerts an. Denn bei den Vorsat~delikten hängt in den meisten Fällen vom Erfolgsunwert der Handlungsunwert und von diesem wieder die Schuld ab; beiJm fahrlässigen Erfolgsdelikt wird die Verhaltenspflicht erst aus den konkreten Möglichkeiten begründet, die sich zur Vermeidung des Erfolges in der konkreten Situation ergeben. Die Frage nach der Geringfügigkeit der Tat ist zuerst also nach sämtlichen drei Komponenten zu prüfen; im Ergebnis ist dann allerdings die Geringfügigkeit nur nach der Schuld im engeren Sinne zu bestimmen. Aber für den Regelfall kann auch unter der Voraussetzung des übergewichts der Schuldkomponente der Begriff des Bagatelldelikts auf den Versuch eines schweren Deliktes, auf die erhebliche, aber folgenlose oder nicht folgenschwere Gefährdung nicht angewendet werden. Das wäre nur in den selteneren Fällen möglich, in denen Schuldminderungselemente im engeren Sinne, also etwa die verminderte Zurechnungsfähigkeit, bei den Fahrlä:ssigkeitstaten die eingeschränkte individuelle Fähigkeit der Vorhersicht oder besondere Zumutbarkeitslagen die Geringfügigkeit zeigen. Das leicht fahrlässige, folgenschwere Delikt könnte dann aber Bagatelldelikt sein; ja sogar der vollendete Mord des vermindert Zurechnungsfähigen müßte bei entsprechender Minderung der Zurechnungsfähigkeit konsequenterweise als Bagatelldelikt -angesehen werden. 21 Freilich wird die Schuld als obere Grenze d~r Strafe vom Gesetz nur ermöglicht, aber nicht garantiert. Eine Garantie für den Einzelfall aber läßt sich im System relativ bestimmter Strafdrohungen auch nicht erreichen. Freilich ist zuzugeben, daß die Praxis der Strafzumessung bei den fahrlässigen Erfolgsdelikten oft zu einseitig am Erfolge orientiert ist und das Verschulden darüber vernachlässigt wird (vgl. auch Jescheck, Fahrlässigkeit, S. 11). - Zum Problem der Ausnahmen vom Schuldgrundsatz ausführlich Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 212 ff.

IV. Geringfügigkeit von Unrecht und Schuld

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Dann aber stellt sich freilich die Frage, ob ein derartiger Begriff des Bagatelldelikts überhaupt gesetzliche Funktionen übernehmen könnte. Diese Funktionen würden in erster Linie auf dem Gebiet der Strafzumessung liegen und in der Korrektur gesetzlicher Strafrahmen bestehen. Hier ist -allerdings die Gefahr von Widersprüchen in der gesetzlichen Wertung nicht zu übersehen. Die Schuldminderung über die Grenzen des Strafrahmens hinaus ist kasuistisch geregelt, etwa bei der verminderten Zurechnungsfähigkeit (§ 51 Abs.2 StGB), beim Verbotsirrtum und in einigen Fällen des Absehens von Strafe im Besonderen Teil1 • Besondere Zumutbarkeitslagen erlauben eine übergesetzliche, allgemeine Korrektur des Strafrahmens ebenfalls nicht, wie der Gesetzgeber durch eine kasuistische Regelung des Zumutbarkeitsproblems, insbesondere durch den Ausschluß eines allgemeinen Strafmilderungsgrundes der verminderten Zumutbarkeit deutlich zu erkennen gibt (vgl. §§ 52, 54 StGB)2. Eine Vorschrift, die den Bagatellbegriff zur Korrektur der Strafrahmen einsetzte und ihn nur auf die Schuld bezöge, müßte also notwendig mit diesen Regelungen kollidieren. Gegen das Übergewicht der Schuldkomponente spricht aber vor allem folgendes Argument: Wenn wir den Bagatellbegriff im Funktionszusammenhang der Strafzumessung sehen, dann wäre es in der Tat sinnlos, die quantitative Bestimmung nur unter den Gesichtspunkten des Handlungsunwerts, des Erfolgsunwerts und der Schuld vorzunehmen. Bei der Strafzumessung muß auch der Betrachtung des Sachverhalts nach anderen Komponenten (Vorleben, Verhalten nach der Tat usw.) Raum gegeben werden. In diesem Zusammenhang hat es auch keinen Sinn, den Begriff der Schuld allein auf den Tatbestand zu beziehen. Den Vorgang der Strafzumessung regiert ein individualisierender Schuldbegriff, der an tatbestandsmäßiges Unrecht nicht gebunden ist, sondern der eine umfassende Würdigung der Täterpersönlichkeit ermöglichen soll. Es hat dann ebensowenig Sinn, einen derartigen Begriff mit festen Rangstufen der Tatschwere zu verbinden, denn er läßt sich wegen der nicht feststehenden Zahl der Komponenten ohnehin nicht abschließend definieren; dies darf wegen der Individualisierungsaufgabe der Strafzumessung auch gar nicht der Fall sein. Es ist daher zu überlegen, ob nicht bei der Bestimmung des Bagatelldeliktes die Schuld und die Handlungs- und Erfolgskomponente des Unrechts sämtlich als gleichberechtigte Komponenten berücksichtigt werden sollten. Wir haben diese beiden Möglichkeiten in jüngster Zeit am Beispiel der Reform des Geringfügigkeitsbegriffes in § 153 StPO einander ablösen sehen: Der bis zum 30. April 1965 geltende § 153 StPO, 1 Darüber ausführlich im 2. Teil, Kap. 2 H. 2 Vgl. Maurach, Allgemeiner Teil, S. 324 fI.

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1. Teil:

Kap. 3: Komponenten des Bagatelldelikts

nach welchem die Geringfügigkeit der Tat nach Schuld und Folgen zu bestimmen war, ist einer Neufassung des Gesetzes gewichen, in der nur noch die Schuld als die leitende Komponente der Geringfügigkeit festgehalten wird 3 • In der alten Fassung hatte die Erfolgskomponente des Unrechts gegenüber der Schuld noch selbständige Bedeutung. Es galt der Satz, daß bei der exponierten Rangstufe der Geringfügigkeit der Fall nach jeder Komponente in gleicher Richtung exponiert sein muß: Damit war die Gleichwertigkeit der Komponenten für den Vorgang der Bestimmung des Bagatelldeliktsanerkannt. In der geltenden Fassung hat man dagegen der Schuldkomponente das übergewicht über die Handlungs- und insbesondere die Erfolgskomponente des Unrechts eingeräumt. Es wird noch eingehend zu überlegen sein, wie sich dieser Bedeutungswandel des Bagatellbegriffs mit der Funktion der Vorschrift verbinden läßt4 • In dieser Abhandlung wurde jedenfalls der Versuch unternommen, den Sektor der Strafzumessung mit seinen notwendigen Ungenauigkeitszonen zu vermeiden und einen Begriff des Bagatelldeliktes zu entwickeln, der den Umfang der Geringfügigkeit, wie ihn der Gesetzgeber mit der Kategorie der Übertretungen vorgezeichnet hat, allgemein umschreibt, so daß an ihm all e strafbaren Handlungen, besonders aber die Vergehen, gemessen werden können. Wir hatten den Begriff des Bagatelldelikts daher auf die Rangordnung der Tatbestände des Besonderen Teils bezogen. In diesem Zusammenhang aber hat das Unrecht die weitaus größere Bedeutung; um die Schuld geht es nur in den relativ wenigen Fällen, in denen typische Schuldmerkmale im Tatbestand erscheinen (§ 248 a StGB usw.). Im übrigen aber indiziert das Ausmaß des nach Handlungs- und Erfolgskomponente bemessenen Unrechts aber auch das regelmäßige Ausmaß des bei einer Tatbestandsverwirklichung zu erhebenden Schuldvorwurfs. Fragt man nach der Strafdrohung für einen neuen Tatbestand und geht es dabei um die Geringfügigkeit (Übertretung) oder Erheblichkeit (Vergehen), dann gelangt das Unrecht zum Vergleich; typische Schuldlagen kommen nur in wenigen Fällen zur Ausprägung. Bei den Vergehenstatbeständen hat der Begriff eines allgem€inen Bagatelldelikts eine Korrekturfunktion: Wenn die Tatbestandsmerkmale einen typischen Schwerebereich der zu subsumierenden Fälle vorzeichnen, dann soll der Bagatellbegriff dem Nachweis des Atypischen dienen: Mit der Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale ist der durch die Vergehensstufe indizierte, erhöhte Grad des Unrechts im Ausnahmefall nicht gegeben. Auch hierbei geht 3 Über die Entstehungsgeschichte des § 153 StPO, seine Reform und seine Bedeutung für das Problem des Bagatelldelikts ausführlich im 2. Teil, Kap.2IH. 4 Vgl. unten a.a.O.

IV. Geringfügigkeit von Unrecht und Schuld

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es um die Korrektur des Unrechtstypus, und nur in wenigen Fällen wird das typische Schuldmerkmal in die Betrachtung einbezogen. Gehen wir von dieser Begriffsbestimmung des Bagatelldeliktes aus, dann darf also die Schuld keine größere Bedeutung für den Vorgang der quantitativen Bestimmung beanspruchen als die Handlungs- und die Erfolgskomponente des Unrechts: Die Tat muß nach dem Handlungsunwert, nach dem Erfolgsunwert und nach der Schuld geringfügig sein. Die Beziehung der Schuld auf den Handlungsunwert bringt es mit sich, daß die Berücksichtigung der Schuld für den Regelfall sogar vernachlässigt werden kann. Die geringe Schuld reicht für sich allein nicht aus, um den Bagatellbegriff zu erfüllen: Ist der Handlungsunwert oder der Erfolgsunwert erheblich, so kann auch bei geringer Schuld kein Bagatelldeliktangenommen werden. Immerhin kann eine ergänzende Betrachtung nach der Schuldkomponente von Nutzen sein, wenn der Fall, nach Verhalten und Erfolg betrachtet, auf der Grenze liegt. Die Schuldkomponente muß jedoch dann einer besonderen Betrachtung unterzogen werden, wenn man auch eine Steigerung der Schuld im Zusammenhang mit Schuldelementen im engeren Sinne zugibt. Das wäre etwa der Fall, wenn man den Vorsatz nicht zum Unrecht, sondern zur Schuld rechnet, oder wenn man die erwähnten Gesinnungsmerkmale als Schuldmerkmale ansieht. Diese Frage kann hier indessen nicht weiter behandelt werden. Die Gleichwertigkeit der Unrechtskomponenten mit der Schuldkomponente für die Bestimmung des Bagatelldelikts bedeutet jedenfalls, daß das leicht fahrlässige, folgenschwere Delikt kein Bagatelldelikt sein kann, ebensowenig das vorsätzliche folgenschwere Delikt, in welchem der Verhaltensunwert durch Irrtumslagen gemindert oder die Schuld durch Schuldminderungselemente im engeren Sinne herabgesetzt ist. Insbesondere kann das leicht fahrlässige, folgenschwere Delikt, also etwa die leicht fahrlässige Tötung, nicht als atypische Verwirklichung des § 222 StGB verstanden werden. Die typische Tatschwere, die § 222 StGB bezeichnet, ist nur durch die Angabe des Erfolgsmerkmals umrissen, und der Nachweis des Atypischen kann nicht weiter reichen als die Typisierung selbst. Und der Erfolg selbst ist bei der fahrlässigen Tötung auch gar nicht abstufbar; es gibt, wie heute allgemein anerkannt ist, kein minderwertiges Menschenleben. Dagegen führt bei der fahrlässigen Körperverletzung der Gedanke, daß der Tatbestand sicherlich nicht um unbedeutender Prellungen, Kratzer usw. willen aufgestellt ist, zu dem Ergebnis, daß auch Bagatelldelikte in Betracht kommen. Mit der inhaltlichen Bestimmung der Komponenten der Schuld, des Handlungsunwerts und des Erfolgsunwerts sowie mit der Ermittlung

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1. Teil:

Kap. 3: Komponenten des Ba,gatel1delikts

ihrer Gleichwertigkeit haben wir die wichtigste Voraussetzung einer Begrenzung des Bagatelldelikts geschaffen: Die eigentlichen Unbestimmtheitsfaktoren der quantitativen Begriffe im Strafrecht, individualisierende Schuldmaßstäbe, straftheoretische Erwägungen usw., sind aus der Betrachtung ausgeschlossen. Die verbleibende Ungenauigkeit liegt im Spielraum des Begriffes "geringfügig" selbst. Diese Ungenauigkeit und die Schwierigkeit ihrer näheren Präzisierung wird - weil man die entscheidende Bedeutung der Komponenten auf die Definition des quantitativen Begriffs übersieht - im allgemeinen überschätzt. Wenn die Geringfügigkeit einer Unterschlagung von 5 Mark in Frage gestellt ist, weil das Vorleben den Täter belastet, oder wenn umgekehrt die Erheblichkeit einer Unterschlagung von 1000 Mark bezweifelt werden kann, weil der Täter in einer unverschuldeten Notlage oder -aus verständlichen Motiven handelte, dann ist jede Möglichkeit einer Begrenzung des Begriffes der Geringfügigkeit zerstört; dagegen kann die Ungewißheit, ob die Geringfügigkeit einer Unterschlagung schon bei 10 oder erst bei 20 Mark ausgeschlossen wird, durchaus hingenommen werden. Mit solchen Unbestimmtheitszonen haben wir es im Strafrecht ständig zu tun, mag es sich nun um Begriffe wie "unzüchtig", "Gewalt", "gr-ausam", oder um quantitative Bezeichnungen wie "geringe Menge", "unbedeutender Wert" usw. handeln. Nicht mehr als die Präzisierung derartiger Merkmale ist problematisch, wenn die Komponenten des Bagatellbegriffes feststehen. Wie auch dieser verbleibende Spielraum der Geringfügigkeit noch verkleinert werden kann, soll im nächsten Kapitel untersucht werden.

Viertes Kapitel

Ma.f3stäbe der Bestimmung des leichten Deliktes Der Vorgang der quantitativen Bestimmung findet den Abschluß darin, daß man die Gründe angibt, wegen welcher der eine Fall leichter ist ,als der andere und wegen welcher er in einer Rangordnung einen bestimmten Platz einnehmen muß. Der Umfang der Geringfügigkeit bei den selbständigen leichten Delikten hängt im Anfang von der Ermessensentscheidung des Gesetzgebers abl. Wichtig "ist vor allem, daß die Ermessensentscheidung über die Grenzen des Unrechtsgehalts der übertretungen auch die Grenzen für den Unrechtsgehalt des unselbständigen leichten Deliktes setzt. Wir müssen daher überlegen, wie und an welchen Maßstäben nachgewiesen werden kann, daß die Verwirklichung eines Vergehenstatbestandes den Unrechtsgehalt einer 'übertretung nicht überschreitet. I. Maßstäbe der Bestimmung des Bagatellvergehens Unsere Betrachtung muß von den Maßstäben ausgehen, die das Gesetz über den Unrechtsgrad gibt. Wir hatten festgestellt, daß die Vergehens- und Verbrechenstatbestände gegenüber den übertretungstatbeständen den Bereich der Erheblichkeit verkörpern. Die Merkmale des Vergehens- oder Verbrechenstatbestandes sind die typischen Merkmale erheblichen Unrechts. Damit finden wir im Tatbestand eine bestimmte Gradstufe als Anhaltspunkt der quantitativen Bestimmung. Zwar ist das unselbständige leichte Delikt die Ausnahme von dieser generellen Erheblichkeit, -aber gerade die Ausnahmestellung gibt uns die Möglichkeit, festzustellen, wie die einzelnen Tatbestandsverwirklichungen von der gesetzlich indizierten Erheblichkeit abweichen: Wenn das Gegebensein der Tatbestandsmerkmale an sich erhebliches Unrecht indiziert, der Fall aber trotzdem nicht erheblich ist, muß der Grund dafür in der Art und Weise liegen, wie die Merkmale des Tatbestandes im Fall verwirklicht sind. Der Tatbestand wird daher der erste Maßstab bei der Bestimmung des unselbständigen leichten Deliktes. Zunächst erfüllt er eine negative Funktion: Er begrenzt die Tatsachen, die für die Frage 1

Vgl. oben S. 58 ff.

112

1.

Teil: Kap. 4: Maßstäbe des leichten Delikts

der Geringfügigkeit berücksichtigt werden dürfen, auf solche Umstände, die sich dem Tatbestandsmerkmal begrifflich zuordnen lassen1 . Entsprechend seiner Mittelstellung zwischen den Allgemeinbegriffen des Unrechts und der Schuld, die er "individualisiert", und dem tatsächlichen Geschehen, das er "generalisiert"2, begrenzt er den Gegenstand der quantitativen Bestimmung nach zwei Richtungen: Einmal wird gewährleistet, daß das Geringfügigkeitsurteil nur nach den Gesichtspunkten des Handlungsunwertes, des Erfolgsunwertes und der Schuld gebildet wird. Da die Tatbestände nach diesen drei Gesichtspunkten geordnet sind, ist der subsumierbare Teil des Sachverhaltes gleichfalls darauf bezogen. Auch diese Gesichtspunkte werden durch die Tatbestände "individualisiert". Wir brauchen daher etwa bei der Frage der Geringfügigkeit eines Diebstahls nicht zu prüfen, ob z. B. der geleistete Schadensersatz begrifflich unter dem Gesichtspunkt des Erfolgsunwerts berücksichtigt werden kann, weil im Tatbestand die Wiedergutmachung ohnehin nicht in Erscheinung tritt3 • Aus der Fülle des tatsächlichen Geschehens, aus dem die Tatbestände die "charakteristischen Figuren"4 abheben und dadurch eine Auswahl treffen, werden nur diejenigen Umstände als Grundlage des quantitativen Bestimmungsvorgangs zugelassen, die einem Tatbestandsmerkmal subsumiert werden können. Besonders auch viele Umstände der subjektiven Tatseite fallen daher weg: Besondere Gesinnungen des Täters gegenüber dem Verletzten (Rache, Mitleid usw.), Überzeugungen, Charakterzüge, bestimmte Triebrichtungen usw. müssen für die Frage der Geringfügigkeit ·außer Betracht bleiben, wenn nicht durch ein Tatbestandsmerkmal die Prüfung solcher Umstände vorgeschrieben ist5 • Wenden wir uns von dieser negativen Funktion des Tatbestandes nunmehr den positiven Möglichkeiten zu, die er für die Bestimmung 1 Hier stellt sich das Problem der Doppelbewertung bei der Frage der Strafvoraussetzung und der quantitativen Bestimmung. Es ist in der Strafzumessungslehre anerkannt, daß das Gegebensein eines Tatbestandsmerkmals (z. B. "Tötung eines Menschen", § 222 StGB) nicht noch einmal als Grund einer Erhöhung oder Minderung der Strafe angegeben werden darf. Das ist zutreffend, bezieht sich aber nur auf das Gegebensein, nicht auf die Art und Weise der Verwirklichung des Tatbestandsmerkmals. Bei der Tötung gibt es allerdings keine Quantifikation, wohl aber etwa bei der Körperverletzung. Wenn man den Subsumtionsvorgang von der Bewertung der Art und Weise des Verwirklichtseins unterscheidet, kommt es gar nicht zu einer Doppelbewertung. Im Ergebnis ebenso Sauer, Allgemeine Strafrechtslehre, S. 255, bes. Anm. 6; Spendel, Strafmaß, S. 231 ff. 2 Vgl. dazu besonders GaHas, ZstW 67, 19. 3 Auf die wirtschaftliche "tatsächliche oder mögliche Endreglung" (Peters, Festschrift für Eb. Schmidt, S. 506) darf es also nicht ankommen. 4 Vgl. BeHng, Lehre vom Verbrechen, S.110. 5 z. B. "gewissenlos" in § 170 c StGB.

I.

Maßstäbe des Bagatellvergehens

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des Bagatelldeliktes eröffnet. Es gilt die Maßstäbe zu finden, an denen wir erkennen können, daß die Tatbestandsmerkmale in der Art ihrer Verwirklichung kein erhebliches Unrecht sind. Wenn der Grund der Geringfügigkeit in der Art der Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale liegt, so müssen wir zuerst diese spezielle Weise der Verwirklichung untersuchen. Viele Tatbestandsmerkmale ermöglichen für sich allein und ohne Bezug zu den übrigen eine quantitative Betrachtung der Tatmodalitäten nach der Verkehrsanschauung. Es hatte sich schon gezeigt, daß diese Verkehrsanschauungen als Kriterien bei der Bestimmung der strafrechtlichen Geringfügigkeit verwendet werden dürfen, denn sie haben auch den Gesetzgeber bei der Aufstellung der gesetzlichen Rangordnung motiviert6 • Wir wollen ihnen bei einigen Delikten, bei denen Bagatellformen besonders häufig sind, im einzelnen nachgehen. Dabei darf es nicht -allein auf die Minderungen, sondern es muß auch auf die Steigerungen ankommen. Das hat zunächst einen sachlichen Grund: Ein erschwerender Umst.and kann den durch andere Umstände indizierten Bagatellcharakter der Tat wieder aufheben. Zudem ,aber ist das Material der Fälle, deren Geringfügigkeit sich nach Unrecht und Schuld ergibt, zu wenig umfangreich, als daß sich daran das Problem der Steigerung oder Minderung -als Subsumtionsproblem zeigen ließe 7 • 1. Der Nachweis von Veränderungen der Schwere ,der Tat

Beim Diebstahl ergeben sich fast für jedes Tatbestandsmerkmal Möglichkeiten einer quantitativen Betrachtung. Vor allem hängt der Unrechtsgehalt der Tat vom wirtschaftlichen Wert der gestohlenen Sache ,ab 8 • 'Qualifizierungs- und Privilegierungstatbestände geben manchen Hinweis für die Beurteilung9 • Unrechtssteigerungen wegen der Art der Wegnahme werden in § 243 StGB gesetzlich ausgeprägt, aber auch wenn die Tat nicht alle, sondern nur einige qualifizierende oder privilegierende Voraussetzungen aufweist, ist sie trotzdem schwerer oder leichter. An § 243 StGB erinnern eine ganze Reihe von qualifizierten Begehungsformen, die aber noch unter § 242 StGB fallen, wie etwa das Abschneiden der Handtasche als Unterfall der Gewaltanwendung Vgl. oben S. 59 f. Insbesondere ist die Literatur zu den Begriffen der "minder schweren" oder "besonders leichten Fälle" und der "mildernden Umstände" meist unergiebig, da diese Begriffe im Sachzusammenhang der Strafzumessung stehen und somit ständig auf außerhalb des Unrechts und der Schuld liegende Kriterien zurückgegriffen wird. 8 Schönke-Schröder, Anm. VIII 4 (RdNr. 75) zu § 242. 9 Schönke-Schröder, Anm. IX 1 (RdNr. 47 f.) vor § 13; vgl. schon Zimmerl, Zur Lehre vom Tatbestand, S. 9 f. 6 7

8 Krümpelmann

114

1.

Teil: Kap. 4: Maßstäbe des leichten Delikts

gegen Sachen lO , die Wegnahme unter Verwendung besonderer Tricks, der Taschendiebstahl, die Benutzung von Werkzeugen usw. Häufig hängt die quantitative Beurteilung der Wegnahme von der Intensität der tatsächlichen Sachherrschaft ab, der Art des Gewahrsams, der mit der Wegnahme gebrochen wirdl l • Üb€r die Intensität des Gewahrsams bestehen Verkehrs anschauungen, auf die sich der Richter beziehen muß 12 • An verlorenen, verlegten und vergessenen Sachen ist Diebstahl möglich, wenn ein genereller Gewahrsam noch besteht13• Dennoch wiegt der Bruch eines solchen Gewahrsams weniger schwer. Dies gilt etwa für den Bruch des Gewahrsams der Postverwaltung an Gegenständen, die im Postgebäude verloren worden sind14, oder des Gastwirts an in der Gastwirtschaft vergessenen Sachen15 • Entwendet ein Ladenangestellter Gelder, die er von Kunden annimmt, begeht er Diebstahl, da Alleingewahrsam oder mindestens Mitgewahrsam des Geschäftsinhabers angenommen wird16 • Es liegt auf der Hand, daß hier ein weniger starkes Herrschaftsverhältnis verletzt wird, als wenn der nicht inkassoberechtigte Lehrjunge heimlich aus der Ladenkasse stiehlt. Auch bei der Person des Inhabers des Gewahrsams gibt es Unterschiede: Ist es ein Betrunkener17 oder ein Kind18 , wiegt die Tat leichter, als wenn der Gewahrsam eines Erwachsenen im Vollbesitz seiner Sinne gebrochen wird. Nicht anders liegen die Dinge beim Tatbestandsmerkmal der Zueignungsabsicht. Wer einen Kraftwagen nach der widerrechtlichen Benutzung dem Zugriff Dritter preisgibt, begeht Diebstahl, da er in Zueignungsabsicht handelt19 ; diese ist aber weniger stark, -als wenn er den Wagen verkaufen will. Genauso ist es bei der Zueignung im Tatbestand der Unterschlagung

(§ 246 StGB): Will der Täter eine fremde Sache, die er im Besitz hat,

als Kreditbasis benutzen20 , d. h. verpfändet er sie oder übereignet er sie zur Sicherung, so ist damit die Zueignung zwar manifestiert, aber doch weniger fest, als wenn er die Sache zu dauerndem Gebrauch behalten will. Mit dem Erfordernis der Rechtswidrigkeit der Zueignung 10

11 12

Schönke-Schröder, Anm. VIU 5 (RdNr. 78) zu § 242. Schönke-Schröder, Anm. vru 4 (RdNr. 74) zu § 242. Ebenso Schönke-Schröder, Anm. III 1 (RdNr.16) zu § 242, bei der Frage,

ob ein tatsächliches Herrschaftsverhältnis besteht. Das Gleiche gilt für die Intensität des Herrschaftsverhältnisses. 13 RGSt 12, 353 (357). 14 RG JW 1930, 3222. 15 RG GA 1918, 371. 16 Ständige Rechtssprechung seit RGSt 2, 1. 17 BGHSt 4, 210 f.; Schönke-Schröder, Anm. III 2 (RdNr.21) zu § 242. 18 Schönke-Schröder, a.a.O. (RdNr. 22). 19 Ständige Rechtssprechung, vgl. BGH VRS 14, 363. 20 Schönke-Schröder, Anm. VI 2 c (RdNr. 54) zu § 242, Anm. IV 2 (RdNr. 12) zu § 246.

I.

Maßstäbe des Bagatellvergehens

115

ergeben sich weitere quantitative Betrachtungsmöglichkeiten. Die Rechtswidrigkeit der Zueignung entfällt nach der herrschenden Lehre dann, wenn der Täter einen übereignungsanspruch hat; Rechtswidrigkeit wird jedoch angenommen, wenn der Täter ,aus einer Gattungssache Gegenstände wegnimmt, auf die speziell er keinen Anspruch hat (z. B. bestimmte Geldscheine)21. Dieser Fall wiegt leichter, als wenn eine Forderung überhaupt nicht besteht. Beim Betruge (§ 263 StGB) gelten für den Wert des Vermögensschadens die gleichen Gesichtspunkte wie für die Ermittlung des Sachwertes beim Diebstahl. Außerdem läßt die Art der Täuschungshandlung der quantitativen Auslegung viel Raum. Das Ausmaß der Täuschung wird davon beeinflußt, ob eine raffinierte, nur sehr schwer durchschaubare List ersonnen wird22 • Eine erhebliche Minderung bedeutet es, wenn der Täter gar keine positive Täuschungshandlung vornimmt, sondern durch schlüssiges Verhalten falsche Vorstellungen erweckt wie beim Zechbetrug: Der Täter verdeckt nur durch sozialtypisches Verhalten, Betreten der Wirtschaft und Bestellen der Speisen, seine fehlende Zahlungsfähigkeit oder Zahlungsabsicht23 • Ähnlich liegt es beim Kauf von Ware auf Kredit, bei dem die Absicht, die Ware nicht zu bezahlen, häufig ebenfalls nicht durch besondere Handlungen verschleiert wird 24 . Anders, wenn der Täter falsche Angaben über seine Kreditwürdigkeit macht; dann kommt es wieder darauf an, in welcher Form die Angaben gemacht werden. Die allgemeinen Auskünfte, mit denen sich viele Finanzierungsinstitute begnügen, geben vielfach keinen Grund, eine erhebliche Täuschungshandlung anzunehmen, z. B. wenn die Versicherung der Schuldenfreiheit auf einem Vordruck unterschrieben wird. Die mitwirkende Fahrlässigkeit des Getäuschten schließt die Täuschung nicht aus25 , ist aber von Einfluß auf die graduelle Beurteilung der Täuschungshandlung. Wenn unvollständige Auskünfte über die Vermögenslage gegeben werden26 , hängt die Schwere der Täuschung weiter davon ab, wie unvollständig die Auskunft war. Häufig ist der durch die Täuschung erregte Irrtum nur eines der Motive, aus denen sich der ,Betrogene zur Vermögensdisposition entschließt. Nimmt man mit der herrschenden Meinung auch in diesem Falle vollendeten Betrug an 27 , so ist doch das Ausmaß des Irrtums geringer, als wenn allein die Täuschung über den Irrtum zur Vermögensverfügung Vgl. BGH NJW 1962, 971; dabei ging es allerdings um einen Raub. Schönke-Schröder, Anm. XI 2 (RdNr. 137) zu § 263. 23 Vgl. dazu BayOblGSt 1957, 147. 24 Durch den Kaufabschluß selbst erfolgt die "Vorspiegelung von Zahlungsfähigkeit und Zahlungswilligkeit" , RG DStR 1939, 170. 25 Vgl. LG Hamburg NJW 1956, 392. 26 Schönke-,schröder, Anm. UI 2 a (RdNr.13) zu § 263. 27 BGHSt 13, 13; Maurach, Besonderer Teil, S.300. 21

22

8"

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1. Teil: Kap. 4: Maßstäbe des leichten Delikts

geführt hätte. Für die Rechtswidrigkeit des erstrebten Vermögensvorteils gilt das gleiche wie bei der Rechtswidrigkeit der Zueignungsabsicht beim Diebstahl. Bei den Urkundendelikten hängt die quantitative Beurteilung ganz wesentlich von der Bedeutung und der Beweiskraft der gefälschten Urkunde ab. "Die Rechtsgutsverletzung ist desto größer, je mehr Vertrauen eine Urkunde im Rechts- und Verkehrsleben genießt 28 ." Die Verkehrsauffassung hat eine :feste Rangordnung unter den verschiedenen Urkunden herausgebildet. Die Beweisbestimmung der Urkunde kann auf Gesetz, Herkommen oder Vereinbarung beruhen29 , danach ist auch ihre Bedeutung verschieden. Die umlaufsbestimmte Urkunde steht über der umlaufsgeeigneten 30 , ein privates Schriftstück unter der öffentlichen Urkunde. Vor allem steht das Beweiszeichen unter dem Schriftstück. Gerade bei der Fälschung von Beweiszeichen gibt es die meisten Bagatelldelikte des § 267 StGB 31 • Auch die Handlungsmodalitäten beeinflussen den Unrechtsgehalt. Eine Fälschung kann plump oder geschickt angefertigt sein; wichtig ist es auch, in welchem Umfang die Urkunde verfälscht worden ist. Die Absicht der Täuschung im Rechtsverkehr mindert oder steigert das Unrecht, je nachdem, zu welchen Zwecken die Täuschung dienen soll. Soll die falsche Urkunde einem Vermögensschwindel dienen, so wiegt die Tat - ganz abgesehen von der Verwirklichung oder Vorbereitung des Betrugstatbestandes - ,schwerer, als wenn der Student am Semesterende auf dem polizeilichen Abmeldeformular die Unterschrift seiner ehemaligen Wirtin fälscht, weil er zu bequem ist, sie eigens um die Unterschrift zu bitten. Hierher gehört auch der Fall, daß der Täter eine falsche Urkunde an Stelle der echten anfertigt, die ihm verlorengegangen ist 32 • In diesem Sinne ist auch bei den anderen Tatbeständen zu verfahren. Bei § 113 StGB (Widerstand gegen die Staatsgewalt) kommt es vor allem auf die Art der Widerstandshandlung 33 ,aber auch auf die Art der 28

29 30

Schönke-Schröder, Anm. XIV 2 (RdNr.101) zu § 267. Schönke-Schröder, Anm. 11 2 a (RdNr.9) zu § 267. \Schönke-Schröder, Anm. XIV 2 (RdNr. 101) zu § 267.

31 Vgl. den bekannten BierdeckeIfall, RG DStrZ 1916, 77; dagegen die Polemik H. Mayers, Gutachten Tatbestände, S. 274. 32 Schönke-Schröder, Anm. XIV 2 (RdNr.101) zu § 267. Ganz im Sinne des hier vorgeschlagenen Verfahrens bestimmt das schweizerische Bundesgericht (BGE 71/1945 IV, 212 ff.) den "besonders leichten Fall" der Urkundenfälschung (Art. 251 Abs.3 SchwStGB), wenn es nur die Berücksichtigung der Art der Urkunde, der Begehungsweise, der Tatfolgen und der Notsituation des Täters zuläßt, die Berücksichtigung des Schadensersatzes, eines baldigen Geständnisses oder anderweitiger belastender Rechtsfolgen der Tat verwirft. Der Begriff der "besonders leichten Fälle" ist Rechtsbegriff und kann nach Auffassung des Bundesgerichts auch die Deliktskategorie ändern. (BGE 71/ 1945 IV, 215, anders aber Logoz, Anm. 6 c zu Art. 251 SchwStGB). 33 Vgl. BayOblGSt JR 1957, 148: Stemmen der Füße gegen den Boden.

1. Maßstäbe des Bagatellvergehens

117

hoheitlichen Tätigkeit an. Bei der Verkehrsunfallfiucht ist die Art und Größe des Schadens34, ferner die Art der Beteiligung am Unfall zu berücksichtigen 35 • Bei den Aussagedelikten gibt es Unterschiede im Unrechtsgehalt vor allem bei § 153 StGB (falsche uneidliche Aussage), je nachdem, wieweit die Aussage von der Wahrheit abweicht und welche Bedeutung sie für die Entscheidung hat36 • Bei den Körperverletzungsdelikten ist besonders der Körperschaden einer quantitativen Beurteilung zugänglich, aber auch die Art der Handlung. Den Unrechtsgehalt der Hehlerei (§ 249 StGB) steigert oder mindert der Wert der erworbenen Sache oder die Art des Ansichbringens. Die verschiedenen Handlungsalternativen dieses Tatbestandes zeigen ,auch quantitative Unterschiede. Das Verheimlichen einer Sache wiegt nicht so schwer wie das Ankaufen. In der umstrittenen Frage, ob das Mitverzehren gestohlener Eßwaren Hehlerei ist 37, dürfte doch Einigkeit darüber bestehen, daß mindestens eine schwere Begehungsform ausscheidet. Auch qualifizierte Tatbestände können in Ausnahmefällen weniger schweres Unrecht, ja sogar Bagatellunrecht darstellen. In diesem Fall dürfen einmal die Merkmale des Grunddelikts kein erhebliches Unrecht darstellen, zum anderen muß der Nachweis erbracht werden, daß die Verwirklichung des qualifizierenden Merkmals keine wirkliche Erschwerung bedeutet. Sogar für die Verbrechenstatbestände des schweren Diebstahls lassen sich Beispiele finden: Schleicht sich der Täter in ein bewohntes Gebäude ein, um dort zur Nachtzeit zu stehlen (§ 243 Abs.1 Ziff. 7 StGB), so ist die 'Qualifizierung materiell sicherlich nicht gegeben, wenn das Gebäude ein hell beleuchtetes Geschäftsgebäude ist, in dem auch in Nachtschichten geal1beitet wird. Gleichwohl ist der Qualifikationstatbestand dem Wortlaut nach erfüllt38 • Beim Delikt der Trunkenheit im 34 Vgl. BGHSt 12, 253 f. Der "ganz unerhebliche Schaden" schließt den Begriff des Unfalls aus. Die Rechtsprechung zu dieser Frage ist zwar nicht ganz einheitlich, zeigt aber doch, daß die Ungenauigkeit derartiger Schätzungen in relativ engen Grenzen bleibt; OLG Hamburg VRS 29, 273: Sachschäden von 10 Mark an aufwärts sind "nicht ganz unbedeutend"; OLG Neustadt NJW 1960, 1483: Die Reparaturkosten eines Autos in Höhe von 14,75 DM stellen keinen ganz unerheblichen Schaden dar; nach OLG Hamm VRS 18, 113, müssen 25 Mark erreicht sein (vgl. aber OLG Hamm VRS 21, 47). Weitere Nachweise bei Floegel-Hartung, RdNr.6 zu § 142 StGB, und neuerdings OLG Stuttgart VRS 25, 430. 35 a. A. Schönke-Schröder, Anm. VIII 1 (RdNr.48) zu § 142, mit weiteren Nachweisen. 36 Auch Bagatellformen des § 153 StGB dürften daher möglich sein, auch wenn sie nach dem Gesetz nicht berücksichtigt werden können (Mindeststrafe drei Monate Gefängnis). 37 Vgl. Schönke-Schröder, Anm. V 1 e (RdNr.27) zu § 259, mit Nachweisen. 38 Da das Verbrechen die Möglichkeit einer Anerkennung von Bagatelldelikten ausschließt, muß nach § 243 Abs. 1 Ziff. 7 StGB eine Gefängnisstrafe verhängt werden, selbst wenn der Täter nur einen Groschen stiehlt. Vgl. auch die Beispiele von Dreher, ZStW 77, 235.

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1. Teil:

Kap. 4: Maßstäbe des leichten Delikts

Verkehr (§ 316 StGB) kommt es auf medizinisch-technische Maßstäbe an, nach denen der Einfluß des Blutalkoholgehalts auf die Fahrtüchtigkeit zu bewerten ist. Damit soll die Reihe der Beispiele abgeschlossen sein. Hingewiesen sei noch darauf, daß viele Vorschriften des Allgemeinen Teils, vor allem über den Versuch, die Beteiligungsformen und den Irrtum, den Grad des Unrechts oder der Schuld ändern können 39 • Indessen kann dies hier nicht weiter untersucht werden. Wenn auch die Möglichkeiten der Gradminderung in der Art und Weise sehr vielfältig sind, so lassen sich doch gewisse allgemeine Linien erkennen. Häufig stellt die Gradminderung einen Grenzfall der Subsumtion dar. Es ist sicher nicht unproblematisch, wenn der allgemeine Gewahrsam der Postbehörde als Gewahrsam im Sinne des § 242 StGB, die Bestellung des Zechprellers im Gasthaus als Betrugshandlung angesehen wird. Die Einbeziehung der Beweiszeichen in den Urkundenbegriff, die eine erhebliche Änderung der quantitativen Maßstäbe bedeutet, ist auch als Subsumtionsfrage kritisch40 • Es zeigt sich wieder, daß die Merkmale des Tatbestandes auf einen gewissen Schwerebereich abgestimmt sind. Besonders wichtig für die quantitative Betrachtung vieler Deliktsgruppen ist der Taterfolg, vor allem bei den Vermögens- und Körperverletzungsdelikten, denn hier läßt sich am besten die Beziehung zu allgemeinen Anschauungen des Verkehrslebens herstellen. Auch über die Art und Weise der Handlung bestehen solche Auffassungen. Bei den meisten Gefährdungsdelikten läßt sich an allgemeine Vorstellungen über den Grad der Gefahr anknüpfen. Besonders bei den Straßenverkehrsdelikten kommt es auf verkehrstechnische und kraftfahrzeugtechnische Maßstäbe, auf Erfahrungssätze über Straßenbeschaffenheit, Wetterlage, Sichtverhältnisse usw. an41 • 2. Der Nachweis der Geringfügigkeit

Es gibt also zahlreiche Kriterien. die in ihrem Zusammenhang betrachtet den Nachweis einer Änderung des vom Tatbestand indizierten Unrechtsgehalts ermöglichen. Die weitere Frage liegt nun aber darin, wann die Unrechtsminderung einen solchen Grad erreicht, daß man vom 39 z. B. der Umfang der Beihilfe im Hinblick auf die endgültige Tatausführung; die Intensität der Einflußnahme auf den Täter bei der Anstiftung. Auch das Stadium des Versuchs ist der weiteren Abstufung fähig; damit verändert sich auch der Unrechtsgehalt. 40 Maurach, Besonderer Teil, S. 451 f., lehnt die Anwendung des Tatbestandes der Urkundenfälschung auf die Fälschung von Beweiszeichen ab. 41 Auch gibt es naturwissenschaftlich exakte Maßstäbe, wie sich am Verfahren der Radarmessung, der Errechnung der Bremsreaktion usw. zeigt.

1. Maßstäbe des Bagatellvergehens

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geringfügigen Fall sprechen kann. Hier läßt sich freilich eine gewisse Ungenauigkeit im Ergebnis nicht mehr vermeiden. Sie läßt sich aber beträchtlich einschränken. Vor allem ist dies möglich, wenn allgemeine Verkehrsanschauungen nicht nur für die quantitative Bemessung, sondern speziell für die Gradstelle der Geringfügigkeit bestehen. Eine genaue Geringfügigkeitsbestimmung hängt dann davon ab, wie präzise diese Verkehrsanschauungen ,sind. Sie lassen sich häufig ganz konkret fassen und objektiv überprüfen. Die Geringfügigkeit des Wertes der gestohlenen Sache, die Geringfügigkeit des angerichteten Vermögensschadens ergeben sich aus einer wirtschaftlichen Betrachtung der Preisstruktur und des durchschnittlichen Einkommens. Auch in der Medizin bestehen relativ feste Vorstellungen über leichte und schwere Krankheiten und Verletzungen. Wenn die Verletzung nach kurzer ambulanter Behandlung folgenlos verheilt, war sie sicherlich unbedeutend42 • Der Zechpreller unternimmt keine besonderen Täuschungsmanöver, sondern bestellt äußerlich betrachtet wie jeder andere Gast; daran zeigt sich die Unerheblichkeit der Täuschungshandlung. Es gibt Bereiche, in denen über die Geringfügigkeit oder Erheblichkeit eines Sachwertes43, eines Körperschadens, die geringe Gefährlichkeit einer Handlung, die geringe Bedeutung einer Urkunde (Bierdeckelfall), ernsthafte Zweifel nicht bestehen können44 • Damit ist nicht unbedingt gesagt, daß die Unerheblich42 In der Judikatur ist anerkannt, daß die Beeinträchtigung des Körpers oder die Mißhandlung nicht ganz unerheblich sein darf (BGH 14, 269, 271; vgl. weitere Nachweise bei Schwarz-Dreher, Anm. 2 zu § 223. SchönkeSchröder, Anm. II 1 - RdNr.3 - zu § 223). Instruktiv ist das schweizerische Strafrecht, das den Vergehens tatbeständen der Körperverletzung (Art. 123, 125 SchwStGB) den übertretungstatbestand der Tätlichkeit gegenüberstellt (Art.126 SchwStGB). Zu dieser Unterscheidung, die gradueller Natur und von Fall zu Fall zu bestimmen ist (Schwander, S.314), gibt es eine reichhaltige Judikatur (ausführliche Nachweise bei Keller, S. 103 ff.). über das "Geringfügigkeitsprinzip" als Begrenzung des Tatbestandes der Nötigung (§ 240 StGB) Roxin, JuS 1964, 376. 43 Vgl. die Rechtsprechung zum Begriff des geringen oder unbedeutenden Wertes oder der geringen Menge in §§ 247, 248 a, 264 a, 370 Abs.l Ziff.5 StGB, der "nach dem Sprachgebrauch und der Verkehrsauffassung" auszulegen ist (BGHSt 6, 41, 43). - In der Rechtsprechung wurden z. B. als "geringwertig" anerkannt: 46 Heringe (RGSt 10, 3(8); 1 Flasche Cognac, 3 Flaschen Bier, zusammen im Werte von 15 Mark (OLG Hamburg NJW 1953, 396); dagegen nicht: 3 Mettwürste im Wert von 23,40 Mark (BGH bei Dallinger, MDR 1954, 336; weitere Nachweise bei Schwarz-Dreher, Anm.5 Ce zu § 370. - Der Satz der wöchentlichen Arbeitslosenunterstützung ist vom Bundesgerichtshof als Maßstab verworfen worden (BGHSt 6, 41; a. A. OLG Schleswig NJW 1953, 234). 44 Bei der Untersuchung der Tatbestandsmerkmale und des subsumierbaren Sachverhalts, nicht aber bei der quantitativen Bestimmung der Tat, läßt sich also mit Heck, S.52, 60, von einem festen Begriffskern und einem unbestimmten Begriffshof sprechen. - Die Gefahr der Ungenauigkeit ist viel größer, wenn die Gesichtspunkte nicht festliegen, unter denen die Sache als geringwertig erscheint. In der Rechtsprechung zeigt sich das bei der

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1. Teil: Kap. 4: Maßstäbe des leichten Delikts

keitauch immer offensichtlich sein muß. Über den geringen Wert eines gestohlenen Bildes, die Geringfügigkeit einer inneren Körperverletzung kann oft nur der Sachverständige Auskunft geben. Die Verwirklichung eines Tatbestandsmerkmals, die auf der Grenze zwischen Erheblichkeit und Geringfügigkeit liegt, bildet kein geeignetes Kriterium für den Nachweis der Geringfügigkeit des Falles, schließt die Geringfügigkeit aber auch nicht aus. Sie kann mit Hilfe anderer Kriterien noch nachgewiesen werden. Ist allerdings eines der Tatbestandsmerkmale in besonders gesteigerter Form verwirklicht worden, dann ist die Geringfügigkeit des gesamten Falles ausgeschlossen, auch wenn im übrigen Kriterien der Geringfügigkeit gegeben sind. Ein Zechbetrüger, der eine Zeche von 100 Mark macht, begeht kein Bagatelldelikt. überhaupt müssen die quantitativen Ergebnisse, die die Untersuchung für die einzelnen Tatbestandsmerkmale erbringt, für die quantitative Bestimmung der gesamten Tat in ihrem Zusammenhang und in ihrer Wechselbezüglichkeit gesehen werden45 • Dabei verhelfen wieder die übergeordneten Gesichtspunkte des Handlungsunwertes, des Erfolgsunwertes und der Schuld zur gerechten Gesamtwürdigung der Tat. Die quantitativen Einzelergebnisse drohenauseinanderzufallen, wenn nicht durch die Bewertung des Täterverhaltens und die Würdigung der Einbußen, die der Verletzte erleidet, die Tat wieder unter einheitliche Gesichtspunkte gebracht wird. Zu berücksichtigen ist auch, daß meistens ein Tatbestandsmerkmal oder eine Gruppe von Tatbestandsmerkmalen eine besonders beherrschende Funktion im Tatbestand hat: Die -anderen Merkmale beziehen sich me!:u oder weniger unselbständig darauf46 • Das ist beispielsweise die "fremde bewegliche Sache" beim Diebstahl. Von der Geringwertigkeit der gestohlenen Sache läßt sich daher auch auf einen geringen Handlungsunwert schließen, selbst wenn die Wegnahme nicht irgendwelche spezifischen Minderungsmomente enthält: Der Handlungsunwert ist deshalb geringer, weil die umstrittenen Frage, ob die Verhältnisse des Täters und besonders des Verletzten bei der Beurteilung Einfluß erhalten sollen (zustimmend Maurach, Besonderer Teil, S.218, mit zahlreichen Nachweisen). Die Erwägung des Bundesgerichtshofs (BGHSt 6, 41, 45), bei der Schädigung des Vermögens von Fürsorgeverbänden usw. sei nicht die Größe des Gesamtvermögens ausschlaggebend, sondern der Gedanke, daß derartige kleine Verstöße auch andere Personen zur Begehung solcher Taten verleiten könnten, ist sachlich richtig, gehört aber methodisch nicht zur Frage der Bestimmung der geringen Menge. Insgesamt betrachtet scheint es daher richtiger, die Geringwertigkeit objektiv zu bestimmen und die Verhältnisse der Beteiligten nicht zu berücksichtigen (ebenso Schönke-Schröder, Anm. V 1 c - RdNr. 18 zu § 370). 45 Dazu treffend OLG Hamm VRS 21, 47 (48), im Zusammenhang mit § 142 StGB. 46 Ähnlich auch Maurach, Allgemeiner Teil, S. 184 f.

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Maßstäbe des Bagatellvergehens

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Tat nach der Vorstellung des Täters ebenfalls nicht auf einen bedeutenden Eingriff in fremde Vermögenswerte gerichtet war. Der Grundsatz, daß der Unrechtsgehalt der Übertretungen auch die Grenzen für den Unrechtsgehalt der unselbständigen leichten Delikte setzt, gewinnt speziellere Bedeutung, wenn die Tatbestandsverwirklichung eines Vergehenstatbestandes eine solche Ähnlichkeit mit einem Übertretungstatbestand zeigt, daß der Unterschied nur noch formeller Natur ist. In einem solchen Fall kann man unmittelbar auf den Maßstab der typischen Geringfügigkeit des Übertretungstatbestandes Bezug nehmen. Stiehlt der Täter einen geringen Geldbetrag, um sich einige Lebensmittel zu kaufen (Diebstahl nach § 242 StGB), wiegt die Tat materiell betrachtet nicht schwerer, als wenn er gleich die Lebensmittel stiehlt und Mundraub nach § 370 Abs.1 Ziff.5 StGB, -also eine Übertretung, begeht 47 • Dem Tatbestand des Mundraubs muß man im Bereich der Vermögensdelikte schlechthin die Funktion eines Maßstabes zubilligen und vor allem seine Bedeutung auch für den Fall des Zechbetruges annehmen: Auch hier geht es in der Regel darum, daß sich der Täter einige Speisen in unbedeutender Menge und von unbedeutendem Werte zum alsbaldigen Verbrauch verschafft. Die Auffassung, Betrug sei im allgemeinen schwerer als Diebstahl48 , läßt sich mindestens für den Fall des Zechbetruges nicht halten. Vielmehr läßt sich die Geringfügigkeit des Zechbetruges geradezu aus einer Analogie zu § 370 Abs. 1 Ziff. 5 StGB erschließen49 • Hier zeigt sich, daß man bei der Bestimmung des unselbständigen leichten Deliktes Fallgruppen beobachten kann, die ein wichtiges Hilfsmittel bei der Feststellung des Bagatellcharakters ergeben. Es sind dies Handlungen bestimmter 'Qualität, denen ein geringfügiger Unrechtsgrad eigentümlich ist. Zutreffend ist bei einem ähnlichen Vorgang, der Bildung von gesetzlichen Beispielen bei der Erläuterung von besonders schweren Fällen im Entwurf 1962, von "Wertgruppenbildung" gesprochen worden 50 • An solchen Fallgruppen könnte sich die richterliche Abschätzung bei der Beurteilung von Grenzfällen ausgezeichnet orientieren 51 • Im Bereich des Betruges sind oft die Zechprellerei, der Fahr47 Dagegen Maurach, Besonderer Teil, S. 220, der aber bei der Entwendung von Biermarken und Lebensmittelgutscheinen § 370 Abs.1 Ziff.5 StGB für anwendbar hält. 48 Vgl. Schönke-Schröder, Anm. XI 2 (RdNr. 136) zu § 263. 49 Zur Verwandtschaft von Zechbetrug und Mundraub neuerdings BGHSt

20, 232. 50 Lange, Gutachten, S. 83 ff.

51 Ähnlich die überlegungen zu den methodischen Zusammenhängen des anglo-amerikanischen case-law mit der quantitativen Bestimmung bei Radbruch, Klassenbegriffe, S. 52 f. über die wichtige Funktion der Kriminologie bei der Fallgruppenbildung v. Weber, Strafzumessung, S. 24 ff.

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1. Teil:

Kap. 4: Maßstäbe des leichten Delikts

scheinbetrug, Einmietbetrügereien oder gewisse Formen des Ratenkaufs als geringfügige Fälle anzusehen. Bei den Urkundendelikten ist an die Fälschung gewisser Beweiszeichen zu denken. Eine solche Fallgruppenbildung, die Aufgabe der Rechtsprechung wäre, ist freilich deswegen schwierig, weil sich aus dem veröffentlichten Entscheidungsmaterial über die Schwere der Tat und besonders über den Begriff der Geringfügigkeit wenig entnehmen läßt. Immerhin ist es auch bei dieser Sachlage leichter, einen Zechbetrug in die Stufe der Geringfügigkeit einzuordnen als einen ganz atypischen Fall. Natürlich darf auch die Berücksichtigung solcher Fallgruppen nicht zum Schematismus führen. Läßt der Täter eine große Zeche anwachsen, ist die Zechprellerei kein Bagatelldelikt. Der Bagatellcharakter ist auch im kriminologisch häufigen Fall der fortgesetzten Zechprellerei nicht gegeben 52. Auch allgemeinere Prinzipien des übertretungsstrafrechts geben oft das Maß der Geringfügigkeit an: Ein Verhalten ist z. B. übertretung, weil es im wesentlichen den Verstoß gegen eine Formvorschrift bei geringer materieller Gefährlichkeit bedeutet, oder es handelt sich um Frühstadien einer Gefahr, die daher besonders gering ist53 ; auch Handlungen, die inhaltlich betrachtet besonders entfernte Vorbereitungshandlungen sind, finden sich nicht selten54 • Verletzungsdelikte oder konkrete Gefährdungsdelikte im übertretungsstr-afrecht deuten gewöhnlich auf die geringe Werthöhe des bedrohten Rechtsgutes oder die geringe Werthöhe der in den Bereich der Angriffshandlung tretenden Substrate des Rechtsgutes hin; das letztere hängt mit dem Grad der Abstraktion des Rechtsgutes zusammen5S • Man könnte hier etwa an das Feilhalten verwendeter Postwertzeichen (§ 364 Abs. 2 StGB) oder auch an das konkrete Gefährdungsdelikt des § 1 StVO denken. Allerdings können derartige Tatbestände nur nach einer Prüfung der ratio legis zum Maßstab genommen werden. Wir hatten gesehen, daß der Gesetzgeber oft darauf verzichtet, den Handlungsunwert voll zu sanktionieren, weil der Gesetzgeber dem Ausbleiben oder dem geringen Umfang des tatsächlichen Erfolges die Bedeutung eines Maßprinzips 52 Die Frage des Fortsetzungszusammenhangs kann hier nur ganz kurz behandelt werden. Problematisch ist sie vor allem deshalb, weil sich die Bestimmung der Geringfügigkeit auf die ein z ein e Tat erstreckt. Nun beruht aber gerade die Konstruktion des Fortsetzungszusammenhangs darauf, in den getrennten Handlungen eine dem Sinne nach bestehende Einheit zu zeigen. Diese "Einzeltat" ist aber dann im Unrechts gehalt schwerer. Zur Zusammenrechnung von Mengen bei Fortsetzungstat und Mittäterschaft vgl. Friedrich-Christian Schroeder, GA 1964, 225 ff. 53 Etwa das unterlassene Raupen nach § 368 Ziff. 2 StGB als Frühstadium einer Gefährdung der Weinernte. 54 Vgl. z. B. § 360 Abs. 1 Ziff.2 und 4 StGB. 55 Hierzu besonders Mattes, S.421.

11. Der Durchschnittsfall als Maßstab

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beilegt56. Daher kann auch für sich betrachtet mit erheblichem Unwert belastetes Verhalten in die Übertretungskategorie gelangen, dessen statistische Häufigkeit der Begehung mit der statistischen Häufigkeit des Erfolgseintrittsaußer Verhältnis steht. Ein solcher übertretungstatbestand ist freilich als Maßstab zur Bestimmung eines geringen Handlungsunwerts nicht geeignet. Ist aber z. B. eine geringe Körperverletzung auf einen falsch geparkten Wagen zurückzuführen, so läßt sich der geringe Verhaltensunwert des § 230 StGB durchaus in Analogie zu § 16 StVO erschließen. Freilich bleibt eine Zone der Ungenauigkeit zurück. Hier ist das Rechtsgefühl der letzte Grund, den man für die Geringfügigkeit des Unrechts angeben kann. Wir treffen wohl auch auf eine Grenze der sprachlichen Möglichkeiten bei der Mitteilung tatsächlicher Unterschiede. Aber auch der Richter entscheidet nicht nach "Belieben" oder "Ermessen", sondern nach gewissen Regeln, die allerdings mehr auf inneren, begrifflich nicht erfaßbaren Leitbildern beruhen, auf dem vom ständigen Umgang mit der Materie herrührenden Gefühl für die quantitative Bedeutung tatsächlicher Unterschiede. Im Ergebnis führt diese Art der Geringfügigkeit nicht zu ungerechten Ergebnissen57 • 11. Der Durchschnittsfall als Maßstab der Bagatellbestimmung (Nr. 75 Abs. 3 Satz 2 RiStV) Die Richtlinien für das Strafverfahrenl versuchen in Nr.75 Abs.3 Satz 2 den vergleichbaren Durchschnittsfall zum Maßstab der Bestimmung des Bagatelldeliktes zu machen. Die Vorschrift beschäftigt sich mit der Einstellung des Verfahrens wegen Geringfügigkeit nach § 153 StPO und erklärt: "Anhaltspunkte kann ein Vergleich mit dem durch56 Vgl. oben Kap. 3 111, Anm. 19. So sind z. B. die "sieben Todsünden" des Straßenverkehrs in § 315 c Abs.l Ziff.2 StGB (vgl. Hartung, S.76), die erhebliche Gefährdungen und damit erhebliches Verhaltensunrecht anzeigen, nur bei Hinzutreten des Erfolgsunwerts in Form der konkreten Gefährdung Vergehen. - Durch die Ausgestaltung des abstrakten Gefährdungsdeliktes der Trunkenheit im Verkehr (§ 316 StGB) zum Vergehen hat der Gesetzgeber gezeigt, daß er den Verhaltensunwert dieses Deliktes noch weit höher ansetzt als diese "sieben Todsünden", die ja für sich betrachtet übertretungen bleiben. Freilich ist bei gleichen Tatfolgen wieder die gleiche Strafe anl!edroht (§ 315 c Abs. 1 Ziff. 1 a StGB), aber auch der Verhaltensunwert der "sieben Todsünden" ist durch die Merkmale "grob verkehrswidrigen" und "rücksichtslosen" Handeins entsprechend qualifiziert. 117 Vgl. zur Frage der "sachverständigen Schätzung" Hempel-Oppenheim, S.52, mit dem Beispiel in Anm.3 (Versuche haben ergeben, daß das Alter von Menschen genauer "geschätzt" als auf Grund biologischer Kriterien ermittelt werden kann). 1 Bundeseinheitliche Fassung v. 1. 8. 1953.

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1. Teil: Kap. 4: Maßstäbe des leichten Delikts

schnittlichen Maß von Schuld und Folgen 2 bei gleichartigen Verfehlungen geben 3 ." Damit wird der vergleichbare Durchschnittsfall als ein möglicher Maßstab der Bestimmung des Bagatelldeliktes deutlich herausgestellt, auch wenn durch die vorsichtige Fassung der Vorschrift ("kann") ausgedrückt wird, daß dieser Maßstab nicht immer anwendbar sei 4 • Nun ist aber auch der vergleichbare Durchschnittsfall kein Begriff, dessen Bedeutung selbstverständlich wäre. Es ist die erste Anforderung, die man an den Maßstab der Geringfügigkeit stellen muß, daß er einfacher zu bestimmen ist als die Geringfügigkeit selbst; ferner, daß er einen gewissen Grad von Genauigkeit aufweist, denn alle Ungenauigkeiten des Maßstabes übertragen sich auch auf das Ergebnis der Geringfügigkeitsbestimmung. Wir wollen daher zunächst nachprüfen, wie der Begriff des Durchschnittsfalls inhaltlich zu verstehen ist. Der Durchschnittsfall ist ein statistischer Begriff. Man geht von der Vorstellung aus, daß bei der Betrachtung vieler Tatbestandsverwirklichungen die meisten Fälle in einem bestjmmten Schwerebereich liegen. Dieser Schwerebereich hat als Maßstab für die Bestimmung der Bagatelldelikte zu gelten. Das Kriterium, von welchem der Durchschnittsfall abhängt, ist statistischer Natur u : die Häufigkeit 6 • Da dieses Kriterium 2 Die Richtlinien sind auf die neue Fassung des § 153 stPO, die auf die Voraussetzung der unbedeutenden Tatfolgen verzichtet, noch nicht abgestimmt. :I Ähnlich die Begründung des Entwurfs 1962 zu § 63 über die minder schweren Fälle: Ein minder schwerer Fall sei nur dann anzunehmen, wenn die "Strafwürdigkeit der Tat gegenüber dem Durchschnittsfall wesentlich herabgesetzt ist" (Begründung, S.185 Spalte 2); ebenso Nagler, GS 90, 424; v. Hippel, Strafprozeß, S. 342 Anm. 3; Löwe-Rosenberg, Anm. 3 zu § 153; zweifelnd Eb.ßchmidt, Lehrkommentar, Bd.2, RdNr.3 zu § 153; v. Weber, Strafzumessung, S. 15 f. 4 Weitergehend aber Dreher, ZStW 77, 228 f., der den Durchschnittsfall für den einzig möglichen Vergleichsmaßstab der Bestimmung des Unrechts- und Schuldgrades hält. 5 Der Durchschnitt als statistischer Mittelwert ist zu unterscheiden vom Durchschnitt im Sinne des arithmetischen Mittels, bei dem man alle vorhandenen Werte addiert, um aus ihnen das Mittel zu bilden (vgl. die Berechnung der mittleren Tagestemperatur; den Durchschnitt als statistischen Mittelwert findet man z. B. bei dem "durchschnittlichen Leistungsvermögen des Sportlers"). Beide Arten der Durchschnittsbildung können zu den gleichen Werten führen, werden es aber häufig nicht tun, da beim statistisch ermittelten Durchschnitt die selten eintreffenden Werte außer Betracht bleiben. Der "Durchschnittsfall" im Sinne von Nr.75 RiStV kann als arithmetisches Mittel (als Mittel zwischen den leichtesten und schwersten Verwirklichungen des Tatbestandes) nicht verstanden werden, da der geringfügige Fall dann bereits Voraussetzung für die Ermittelung des Durchschnittsfalles wäre. Er soll jedoch gerade mit Hilfe des Durchschnittsfalles gefunden werden. Zur Unterscheidung von statistischem und arithmetischem

II. Der Durchschnittsfall als Maßstab

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die Beobachtung tatsächlich begangener Strafrechtsfälle voraussetzt, ist der Durchschnittsfall ein empirischer Begriff. Dieser empirische und statistische Charakter des Durchschnittsfalles muß grundsätzliche Bedenken gegen eine Verwendung als Maßstab der Geringfügigkeit nach sich ziehen. Wird die Geringfügigkeit im Hinblick auf den Durchschnittsfall bestimmt, so ist sie gleichfalls eine empirisch und statistisch ermittelte Größe. Die Geringfügigkeit ist jedoch normativ, nämlich als Rangstelle in der gesetzlichen Ordnung der Tatbestände zu verstehen. Die normative Ordnung der Tatbestände und die Ordnung der durchschnittlichen Tatbestandsverwirklichungen decken sich nicht notwendig 7 • Die Geringfügigkeit, die wir im Hinblick auf den Durchschnittsfall entwickeln, braucht also nicht die Geringfügigkeit in der Rangordnung der Tatbestände zu sein. Aber auch abgesehen von dieser grundsätzlichen Problematik ergeben sich Bedenken gegen die Genauigkeit des Durchschnittsfalles als Maßstab. Der Durchschnittsfall läßt sich selbst nicht hinreichend deutlich begrenzen, sondern er ist nur dann zu ermitteln, wenn die Möglichkeit besteht, einen repräsentativen Querschnitt aus tatsächlichen, nach ihrer Schwere beobachteten Fällen zu bilden8 • Die Voraussetzung einer solchen Betrachtungsweise ist eine ausgebildete kriminalistische Statistik, die aber in der erforderlichen Allgemeinheit nicht besteht. In den veröffentlichten Entscheidungen wird über die Schwere der Fälle kaum etwas mitgeteilt9 ; auch die Kommentare und Lehrbücher nehmen zu der Frage nur kurz Stellung10 • Der Durchschnittsfall kann daher nur geschätzt werden und wird abhängig von der jeweiligen Erfahrung des Richters: Der ältere Richter überblickt eine größere Zahl von Fällen und wird dadurch vielleicht zu ganz anderen Ergebnissen kommen als der eben erst eingesetzte Richter; ein Richter, der seine Erfahrungen im Amtsgerichtsbezirk einer Großstadt gesammelt hat, wird mit einem unzutreffenden "Durchschnitt" arbeiten, wenn er in einen ländMittel vgl. im Zusammenhang der Strafzumessung auch Dreher, über die gerechte Strafe, S.63; neuerdings ZStW 77, 229. 6 In diesem Sinne ist der Durchschnittsfall ein "quantitativer" Begriff in seiner ursprünglichen, an der Anzahl anknüpfenden Bedeutung (vgl. oben S.38). 7 Beispielsweise wird die gesetzliche Regelstrafe des schweren Diebstahls, die Zuchthausstrafe, nur noch im Ausnahmefall verhängt. Gegen die Verbindung normativer und statistischer Maßstäbe auch OLG Stuttgart DAR 1965, 134 (im Zusammenhang der Strafaussetzung zur Bewährung). 8 Vgl. auch v. Weber, Strafzumessung, S.18. 9 Die Entscheidungen zu Fragen der Strafzumessung bilden keine Ausnahme. Sie betreffen meistens nur das Problem, ob ein Umstand als Strafzumessungsgrund verwertet werden darf. 10 Als Ausnahme ist der Kommentar von Schönke-Schröder hervorzuheben.

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1. Teil:

Kap. 4: Maßstäbe des leichten Delikts

lichen Bezirk versetzt wird. Außerdem hat der Durchschnittsfall als statistischer Mittelwert nicht genügend scharfe obere und untere Grenzen, um Maßstab für den geringfügigen Fall sein zu können. Wenn durch die Häufigkeit der Verwirklichung ein bestimmter Schwerebereich ermittelt werden soll, dann muß dieser einen beträchtlichen Umfang haben und viele Gradabstufungen innerhalb seiner Grenzen zulassen, wenn er wirklich repräsentativ sein solll1. Es besteht keine allgemeingültige Vorstellung darüber, wie schwer der leichteste denkbare Fall sein muß, der noch als Durchschnittsfall angesehen werden kann, so daß der Durchschnittsfall in einem ~wissen Bereich beliebig hoch, beliebig niedrig angesetzt werden kann. Die auf diese Weise entstehende Willkürlichkeit überträgt sich auf die Bestimmung des geringfügigen Falles. Die Forderung, der geringfügige Fall müsse gegenüber dem Durchschnittsfall "wesentlich" herabgesetzt sein12 , beseitigt die Schwierigkeiten nicht, denn dann ist die Frage zu entscheiden, wann die Abweichung vom Durchschnittsfall wes e n t I ich ist. Alle Probleme der quantitativen Bestimmung, die durch den "Anhaltspunkt" des Durchschnittsfalles beseitigt werden sollten, kommen dabei wieder zum Vorschein. Der Durchschnittsfall als solcher ist ferner nur durch die Häufigkeit der Tatbestandsverwirklichungen inhaltlich festgelegt. Also müßte der Bagatellfall der seltene Fall sein. Es wäre indessen abwegig, wenn von der Erwägung des Richters: "Ein derart leichter Fall kommt nur selten vor", der Begriff des geringfügigen Falles abhinge. Anders wäre es, wenn die Häufigkeit der Tatbestandsverwirklichungen gewisse qualitative Eigenschaften offenbarte, deren Fehlen beim geringfügigen Fall nachgewiesen werden könnten. Darüber geht aber aus dem Begriff des Durchschnittsfalles selbst nichts hervor. Wir haben bereits gesehen, daß man im Gegenteil Fallgruppen typischer Bagatelldelikte bilden kann. Nach allem ist der Durchschnittsfall ein Begriff, der selbst die schwierigsten Probleme stellt, anstatt die Bestimmung der Geringfügigkeit zu erleichtern. Er ist daher als Maßstab der Bagatellbestimmung nicht geeignet13 • Der Blick auf die Praxis bestätigt dieses Ergebnis: Der Richter, der über die Geringfügigkeit eines Diebstahls entscheiden soll, wird sich kaum mit der überlegung aufhalten, wie schwer Diebstähle m eis t e n s sind, um dann zu prüfen, ob der vorliegende Diebstahl weniger oder "wesentlich" weniger schwer ist. Er wird vielmehr prüfen, welchen Wert das gestohlene Objekt verkörpert, welche besonde11 Es wäre z. B. wenig lohnend, nach dem am häufigsten verhängten einzelnen Strafmaß des Diebstahls zu fragen. 12 Entwurf 1962, Begründung, S. 185. 13 Spendel, strafmaß, S. 188, kommt zum gleichen Ergebnis für den Durchschnittsfall als Richtpunkt der strafzumessung.

III. "Bagatellfreie" Tatbestände

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ren Eigenarten die Diebstahlshandlung aufwies usw. und nach dem Ergebnis dieser Untersuchungen seine Entscheidungen fällen. Dabei steht er immer vor der Frage, welche dieser Besonderheiten des Falles er berücksichtigen darf, welche nicht. Nicht der Durchschnittsfall, sondern der Tatbestand ist also der wichtigste Maßstab für die Bagatellbestimmung.

III. "BagatelIfreie" Tatbestände Bei vielen Tatbeständen sind geringfügige Fälle nicht denkbar. Meistens zeigt sich dies bereits an der Strafdrohung. Der Strafrahmen der Verbrechenstatbestände läßt eine Überschneidung mit dem Strafrahmen der Übertretungen nicht zu. Das gleiche gilt für Vergehen, bei denen die Untergrenze des Einzelstrafrahmens auch bei mildernden Umständen oder in minder schweren Fällen drei oder mehr Monate beträgt, da dann die Umwandlung der Gefängnisstrafe in Geldstr·afe nach § 27 b StGB ausscheidee. Gesetzliche Möglichkeiten einer Bestrafung im Bagatellrahmen bestehen nicht. Ob wir jedoch alle Verbrechenstatbestände und die qualifizierten Vergehenstatbestände auch nach der Art des beschriebenen Verhaltens als "bagatellfrei" bezeichnen können, ist fraglich. Der Strafrahmen ist ja nur ein Hinweiszeichen, daß die Möglichkeit geringfügiger Tatbestandsverwirklichung nicht besteht. Da der innere Grund dafür im beschriebenen Verhalten selbst liegt, müßte die Untersuchung der Verbrechenstatbestände und 1 Abgesehen wird von den Strafmilderungsmöglichkeiten des Allgemeinen Teils (§§ 43, 49, 51 Abs.2 StGB), sowie von den Tatbeständen, bei denen besonders leichte Fälle möglich sind. Die Vergehensfälle des Strafgesetzbuches, bei denen die Anwendung von § 27 b StGB ausgeschlossen ist, sind folgende: § 90 a (Verstoß gegen ein Parteiverbot des Bundesverfassungsgerichts), § 96 Abs. 3 (Mißachtung von staat und Flagge in verfassungsverräterischer Absicht), § 96 a Abs.3 (Verwendung von Kennzeichen verbotener Organisationen in verfassungsverräterischer Absicht), § 97 (Verunglimpfung von staatsorganen), § 103 (Beleidigung fremder Staatspersonen), § 115 (Aufruhr), § 116 Abs. 2 (aufrührerischer Auflauf), § 118 (schwerer Forstwiderstand), § 122 (Gefangenenmeuterei), § 125 (Landfriedensbruch), § 133 Abs.2 (Gewahrsamsbruch in gewinnsüchtiger Absicht), § 153 (falsche uneidliche Aussage), § 164 Abs. 3 (falsche Anschuldigung in Vorteilsabsicht), § 170 (Eheerschleichung), § 187 a (politische üble Nachrede und Verleumdung), § 210 (Anreizung zum Zweikampf), § 223 b (Mißhandlung Abhängiger), § 245 a Abs.l (Verwahrung von Diebeswerkzeug durch Vorbestrafte), § 275 (Wertzeichenfälschung), § 292 Abs.2 (besonders schwere, tatbestandlich beschriebene Fälle der Wilderei, vgl. BGHSt 5, 211), § 293 Abs.3 (gewerbsoder gewohnheitsmäßige Fischwilderei), § 302 d (gewerbsmäßiger Kreditwucher), § 302 e (gewerbsmäßiger Sachwucher), § 311 a (Vorbereitung von Sprengstoffverbrechen), § 315 (Vorsätzliche Gefährdung des Bahn-, Schienenoder Luftverkehrs), § 321 (Beschädigung von Wasserbauten), § 327 Abs.2 (Verletzung von Seuchenschutzvorschriften mit Ansteckungsfolge), § 350 (Amtsunterschlagung), § 353 (übermäßige Abgabenerhebung), § 354 (Brieföffnung durch Postboten), § 356 (Parteiverrat).

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1. Teil:

Kap. 4: Maßstäbe des leichten Delikts

der qualifizierten Vergehenstatbestände nach ihrer Eigenart die Gründe zeigen, welche die Bagatellmöglichkeit ausschließen. Sie treffen dann möglicherweise auch bei Tatbeständen zu, bei denen die Bagatellfreiheit nicht unmittelbar aus der Strafdrohung zu erkennen ist. Zum anderen müßte sich zeigen, wann trotz der gesetzlichen 'Qualifikation materiell betrachtet dennoch die Möglichkeit geringfügiger Tatbestandsverwirklichung besteht. Allgemein läßt sich sagen, daß die Bagatellfreiheit von Tatbeständen auf den Wertvorstellungen beruht, die zur Aufstellung des Tatbestandes geführt haben; teilweise schließt bereits die Wortfassung des Tatbestandes geringfügige Verwirklichungen aus. In manchen Tatbeständen schützt das Strafrecht Werte, die sich einer quantitativen Betrachtung generell und unabhängig von ihrer jeweiligen Verkörperung entziehen. Vor allem ist an das Leben oder das werdende Leben zu denken 2 • Ein Tötungsdelikt, Taten, die nach § 218 StGB strafbar sind, müssen daher immer als erheblich angesehen werden. Es kann nicht darauf ankommen, ob ein alter oder ein junger Mann, ein Tagedieb oder ein sogenannter "wertvoller" Mensch getötet wird. Freilich lassen diese Delikte Abstufungen nach der Art der Angriffshandlung zu. Die Tötungsdelikte sind in ihren verschiedenen Tatbeständen nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ verschieden. Das gleiche gilt für die Verwirklichung der einzelnen Tatbestände. Auch im Bereich der fahrlässigen Tötung gibt es viele Handlungen, denen ohne die schwere Folge kein erheblicher Unwert beizumessen ist. Wird aber durch die Handlung gleichzeitig ein Menschenleben vernichtet, ist der Fall nicht mehr geringfügig 1 • Der Gedanke des absolut geschützten Rechtsgutes läßt also Bagatellfälle auch dann nicht zu, wenn sie nach dem Strafrahmen möglich wären. Auch die Abtreibung der Kindesmutter (§ 218 Abs.1 StGB) kann daher trotz des Strafrahmens niemals geringfügig sein. Bestrafungen, die materiell gesehen einer Übertretungsstrafe entsprechen, dürfen darum nicht aus dem Gedanken ver2 Folgt man der herrschenden Meinung, daß die medizinische Indikation der Schwangerschaftsunterbrechung einen Rechtfertigungsgrund bedeutet, so kommt es freilich zu einer graduierenden Betrachtungsweise absolut geschützter Güter: Das Leben der Mutter steht nach dieser Auffassung höher als das werdende Leben. Diese Betrachtungsweise ist aber nur bei der Kollision derartiger Rechtsgüter möglich. Das einzelne werdende Leben wird man dagegen nicht als höher oder geringer werten dürfen. Freilich gehen einige Strafrechtslehrer auch von Wertunterschieden des Menschenlebens aus, so z. B. Zimmerl, Auf des Strafrechts systems, S. 66 f.; vorsichtig Kern, ZstW 64, 277. Auch unter dem Gesichtspunkt der Strafzumessung, für die Zimmerls Ausführungen im wesentlichen gelten, darf das Leben nicht quantitativ betrachtet werden. Treffend dazu BayOblG NJW 1954, 1211; OLG Köln DAR 1963, 306; sowie Spendel, Strafmaß, S. 56 f., 64, mit Nachweisen aus der älteren Rechtssprechung. 3 Darüber ausführlicher oben Kap. 3 IV.

IH. "Bagatellfreie" Tatbestände

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minderten Unrechts, sondern nur aus unter dem Gesichtspunkt eines individualisierenden Schuldbegriffs und anderen Erwägungen zur Strafzumessung erklärt werden. Manche Strafgesetze schützen Werte, die zwar nicht die quantitative Betrachtungsweise schlechthin, aber doch den unteren Gradbereich ausschließen. Hierher gehört z. B. die freie geschlechtliche Selbstbestimmung bei den Sittlichkeitsdelikten oder die Sauberkeit der Rechtspflege, die die besondere Qualifikation des Tatbestandes der Rechtsbeugung rechtfertigt. Auch die Verhaltensweise schließt die Bagatellbetrachtung zuweilen aus. Der Meineid kann immer nur erhebliches Delikt sein. Auch wenn man das sakrale Moment der Eidesverletzung außer Betracht läßt4, so ist die Unwahrhaftigkeit der Aussage wegen der feierlichen Form der Wahrheitsbeteuerung doch immer besonders verwerflich5 , mag es auch auf die Aussage selbst nicht sehr ankommen. Der Schluß von der Erheblichkeit des vorsätzlichen Deliktes auf die Erheblichkeit der fahrlässigen Tat, der bei den Tötungsdelikten gezogen werden konnte, entfällt aber bei den Eidesdelikten. Der fahrlässige Falscheid kann im Ausnahmefall geringfügig sein. Der Unwert der Handlung liegt zwar auch hier in der nachlässigen Einstellung gegenüber der Wahrheits- und Eidespflicht, aber gerade die vorsätzliche Form der falschen eidlichen Beteuerung begründet die besondere Verwerflichkeit. Bezeichnenderweise kennt auch der Sprachgebrauch keinen fahrlässigen M ein eid.

Die Tatqualifikation der gewerbs- oder gewohnheitsmäßigen Handlung beseitigt die Bagatellmöglichkeit ebenso wie etwa der Bruch eines besonders engen Fürsorgeverhältnisses (vgl. § 221 Abs. 2 StGB). Bei vielen Gefährdungsdelikten kann das Ausmaß der tatsächlichen Gefahr nach den Naturgesetzen oder nach allgemeiner Erfahrung nur erheblich sein, wie z. B. beim Sprengstoff delikt nach § 311 StGB6 • Im allgemeinen scheiden auch für die Brandstiftung die Bagatellmöglichkeiten aus. Man wird das auch für die fahrlässige Brandstiftung annehmen müssen. Allerdings ergeben sich bei der einfachen Brandstiftung nach § 308 StGB Einschränkungen· wieder dadurch, daß diese Vorschriften teilweise auch dem Eigentumsschutz dienen. Wo der Gefährdungsgedanke nicht konsequent durchgeführt ist, sind geringfügige Delikte möglich, wie z. B. beim Anzünden einer zurückgebliebenen fremden Getreidegarbe auf freiem Feld, wenn die Gefahr der Brandausbreitung Maurach, Besonderer Teil, S. 636, 643. Welzel, Lehrbuch, S.476, 478. Kohlrausch-Lange, Anm.III vor § 153; Anm. I zu § 154. 4

5

6 Das Abbrennen von Feuerwerkskörpern und ähnliche "Kleinexplosionen" fallen daher nicht unter den Tatbestand, vgl. Schwarz-Dreher, Anm. 3 zu § 311; Lackner, JZ 1964, 675.

P Krümpelmann

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1. Teil: Kap. 4: Maßstäbe des leichten Delikts

nicht besteht. Die gleiche Einschränkung gilt für § 309 StGB. Es ergeben sich daher Bedenken gegen die Fassung des § 308 StGB, der für einen Verbrechenstatbestand quantitativ betrachtet zu verschiedene Möglichkeiten der Verwirklichung zuläßt7 • Schon die Wortfassung der Tatbestände schließt Bagatelldelikte aus, wenn das Unrech1.werhalten durch Merkmale beschrieben wird, die dem Wortlaut nach Steigerungen bezeichnen. Der Tatbestand der schweren Körperverletzung (§ 224 StGB) nennt die "d aue rn d e Entstellung in erheblicher Weise" und das "wichtige Glied"; dadurch entfällt eine geringfügige Verwirklichung. Häufiger ergeben sich diese Steigerungen erst aus dem Sinngehalt des Tatbestandsmerkmals. In dieser Weise ist die Tathandlung des ,,'Quälens" (§ 223 b StGB) zu verstehen. Treffend wird sie umschrieben als das Zufügen d aue rn der oder sich wiederholender er heb li c her Schmerzen8 • Ähnlich steht es mit der "Marterung" (§ 251 StGB)9. Beim Tatbestand der Giftbeibringung (§ 229 StGB) wird gefordert, daß das Gift im konkreten Fall die Gesundheit zu zerstören geeignet ist; geringere Giftmengen oder Gifte, die nur vorübergehendes Unwohlsein, Ohnmachten usw. verursachen, scheiden aus lO • Bei § 176 Abs.1 StGB (schwere Unzucht) sind Verhaltensweisen, die einer "gewissen äußeren Erheblichkeit entbehren", "aus dem Bereich des Unzüchtigen auszunehmen"l1. Ganz allgemein wird man sagen dürfen, daß es bei Delikten, die der Gesetzgeber als Verbrechen oder qualifiziertes Vergehen ausgestaltet hat, Ziel der Auslegung sein muß, geringfügige Fälle möglichst auszuscheiden12 • Ein geringfügiger Fall darf dann nach dem betreffenden Tatbestand nicht bestraft werden. Die angeführten Beispiele lassen erkennen, daß die Strafdrohung die Grenze der Geringfügigkeit nicht zuverlässig bezeichnet. Bagatellfälle sind manchmal auch da möglich, wo das Gesetz sie ausschließt, während sie bei manchen Tatbeständen ausscheiden, obwohl sie nach dem Strafrahmen denkbar sind. Darin liegt etwas Unbefriedigendes; es wäre schon ein Vorteil, wenn wenigstens die Verbrechen die Möglich7 Zur Konstruktion von §§ 308 ff. 8tGB vgl. Maurach, Besonderer Teil, 8.498. 8 RG JW 1938, 1879. 9 Vgl. Koh~rausch-Lange, Anm. II zu § 251. 10 BGH8t 4, 278; OLG Hamm HE8t 2, 292. 11 BGHSt 17, 280 (288). 12 Vgl. BGH LM Nr.8 zu § 176 Abs. 1 Ziff.3 8tGB, sowie das in der vorigen Anmerkung genannte Urteil, daß Nachweise aus der unveröffentlichten Judikatur enthält. Wie weit der Bundesgerichtshof diesen Gedanken auf andere Tatbestände ausdehnen wird, die das Merkmal der Unzüchtigkeit enthalten, bleibt abzuwarten.

IH. "Bagatellfreie" Tatbestände

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keit der geringfügigen Verwirklichung ausschlössen. Sicherlich sollte dies bei der Entstehung des Strafgesetzbuches auch so sein. Allein manche Verbrechenstatbestände sind zu weit gefaßt, als daß dieses Ziel erreicht worden wäre. Außerdem hat sich im Laufe der Zeit die kriminologische Erscheinungsform mancher Delikte so sehr gewandelt, daß die dargestellte Verbrechensart heute auch generell nicht mehr den Unrechts grad aufweist, den der Gesetzgeber einmal mit Recht dem Delikt beigemessen hat. Die Variationsbreite der möglichen Handlungen ist weiter geworden, was nicht ohne Rückwirkung auf den möglichen Unrechtsgehalt bleiben konnte. Demgegenüber dürfte es im Entwurf von 1962 gelungen sein, mindestens den Kreis der Verbrechen auf Tatbestände zu beschränken, bei denen die Möglichkeit der geringfügigen Verwirklichung von vornherein ausscheidet. Zuchthausstrafe sollte im Entwurf nur angedroht werden, "wo der Gesetzgeber eine Tat wegen ihrer außergewöhnlichen Schwere als besonders verwerflich bezeichnen will und wo eine solche Hervorhebung auch tatsächlich verdient ist"13. Aus diesem Grunde sind die Verbrechenstatbestände zunächst in der Anzahl verringert worden. Die Tatbestände, deren Schutzobjekt einen besonders hohen Wert darstellt, machen einen großen Anteil unter ihnen aus. Sodann sind die schon im geltenden Recht erkennbaren Möglichkeiten, durch die Wortfassung des Tatbestandes die Bagatellformen -auszuklammern, mehr ausgenutzt worden: Das Verbrechen ist vielfach erst die 'Qu!!lifikation eines Grundtatbestandes, wobei die Qualifikationsmerkmale in der Weise ausgewählt sind, daß sie nur als erhebliche Steigerung des Grundtatbestandes sinnvoll werden14. Freilich sind auch bei einigen Verbrechenstatbeständen des Entwurfs Bagatellfälle denkbar. Die Geldfälschung nach § 312 E 1962 ist Vel1brechen geblieben, obwohl hier relativ harmlose Fälle denkbar und häufig sind. Es ist fraglich, ob die Zahlung mit ausgeschnittenen und zusammengeklebten Reklamegeldscheinen oder ähnlich plumpe Handlungsformen nicht doch geringfügige Verwirklichungen dieses Tatbestandes sind. Ähnliche Fragen stellen sich bei vielen Vergehen mit qualifizierter Untergrenze, welche die Umwandlung der Gefängnisstrafe in Geldstrafe nach § 53 E 1962 ausschließt.

13 Jescheck, Niederschriften, Bd.5, S.43. 14 Vgl. etwa das Verhältnis der einfachen zur verbrecherischen Freiheitsberaubung, §§ 163, 164 a E 1962. 9"

Fünftes Kapitel

Das Problem einer quantitativen Begrenzung des Strafrechts I. Versuche einer quantitativen Begrenzung des Strafrechts (Wilhelm Sauer, Hellmuth Mayer) In den vorigen Kapiteln wurde versucht, den Begriff der Geringfügigkeit als Begriff in n e rh alb des strafrechtlichen Unrechts darzustellen. Er wird aber in Verbindung mit dem Gegenbegriff der Erheblichkeit verschiedentlich auch als Kriterium des strafrechtlichen Unrechts gegenüber dem Unrecht der anderen Rechtsgebiete, des Zivilrechts, Verwaltungsrechts usw. verwandt. Bei einigen Autoren handelt es sich um gelegentliche Äußerungen ohne besondere systematische Konsequenzen: Nach Welzel muß sich die Bestrafung auf die besonders schweren Verletzungen der "elementaren sozialethischen Pflichten" beschränken; das Strafrecht hat aus diesem Grunde fragmentarischen Charakter1 • Dieser Gedanke wird in ähnlicher Form von Würtenberger 2 , Peters 3 , Maurach 4 vorgetragen; wir begegnen ihm in der Formulierung Richard Langes, daß in den strafrechtlich relevanten Unrechtsausschnitten der Tatbestände die quantität des Unrechts gestaltet werde 5 • Nach Gallas wird das "Quantitative" zur "Ausgangsbasis für das sozialethische Unwerturteil"; man könne "eine Grenze feststellen", "von der an die Tat so verwerflich erscheint, daß es einer kriminellen Bestrafung bedarf"s. Etwas ausführlicher untersucht Sax7 das quantitative Kriterium. Wilhelm Sauers folgend, leitet er es 'aus dem Gedanken der Strafwürdigkeit ab. Eine Tat ist nach Sax strafwürdig nur dann, wenn sie 1 Welzel, Lehrbuch, S. 5 f. Der Gedanke ist besonders ausführlich von H. Mayer entwickelt worden, darüber im folgenden Text. 2 Würtenberger, Geistige Situation, S. 67 f. 3 Peters, Grundfragen der Strafrechtsform, S.35. 4 Maurach, Allgemeiner Teil, S. 24, 117 f. 5 Kohlrausch-Lange, Systematische Vorbemerkungen III 1 (S. 13). 6 Gallas, Niederschriften, Bd. I, S. 87, im Zusammenhang mit der Lehre von den Ordnungswidrigkeiten. 7 Sax, S. 923 fi. S Sauer, Allgemeine Strafrechtslehre, S. 19; dazu Lange, ZStW 63, 457; vgl. auch v. Weber, MDR 1956, 705 f.

I.

Versuche einer quantitativen Begrenzung

133

der Strafe bedarf und Strafe verdient, d. h. wenn keine andere geeignete Rechtsfolge als die Strafe zur Verfügung steht9 und das Verhalten so schwer wiegt, daß der mit der Strafe erfolgende Eingriff in die Freiheits- und Persönlichkeitssphäre des von ihr Betroffenen gerechtfertigt erscheintlO• In dieser allgemeinen Form entspricht die Auffassung, das Strafrecht verlange gesteigertes Unrecht, der herrschenden Meinung. Grundlegende Untersuchungen über das quantitative Kriterium finden sich in den Strafrechtssystemen von Wilhelm Sauerll und

Hellmuth Mayer 12 •

Für Sauer liegt das Unterscheidungsmerkmal zwischen Strafrecht und Zivilunrecht im Quantitativen: "Das Verbrechen ist ein schuldhaftes menschliches Verhalten von besonders schwerer Rechtswidrigkeit13." Das Unrecht des Strafrechts und das Unrecht des Zivilrechts sind zwar einheitlich zu verstehen14, unterscheiden sich aber nach der Betrachtungsweise. Das Unrecht als strafrechtliches Unrecht ist die Verletzung des öffentlichen Interesses, welches "in einem derartigen Maße, daß der Staat Strafe verhängt", dann verletzt ist, "wenn die Verletzung von dem Staat als eine be s 0 nd er s sc h wer e empfunden wird". Sauer fährt fort: "Das ist das einzige Kriterium für das strafbare Unrecht15." Die Dehnbarkeit des quantitativen Unterscheidungsmerkmals16 hat den Vorzug, daß dem Strafgesetzgeber die erforderliche Bewegungsfreiheit bleibt, um "den Bedürfnissen des Staates und seiner Glieder in weitgehendem Maße entgegenzukommen"17. Dennoch ist das Kriterium der besonderen Schwere nicht inhaltsleer, sondern besagt, daß der Staat nicht auf jedes Unrecht, sondern nur auf erhebliches die Strafe folgen läßt18. Als allgemeine Richtlinien für die Ermittlung des Grades 91

Dazu besonders Kohtrausch-Lange, Systematische Vorbemerkungen III 1

(S.12). 10

Sax, S.927.

Vor allem Sauer, Grundlagen des Strafrechts, S. 133 ff.; 215 ff.; 314 ff.; ferner Allgemeine Strafrechtslehre, S. 19, 28. 12 Vgl. von H. Mayer vor allem die Lehrbücher von 1936 (S. 72 ff.; 84 ff.) und 1953 (S. 56); Gutachten Tatbestände, S. 273 ff.; Gutachten Untreue, S. 338 f.; Strafrechtsreform, S. 105 ff.; Der Verbrechensbegriff, DStR 1938, 11

94ff.

13 'Sauer, Grundlagen, S.217. 14 Zur Entwicklung der Lehre von der Einheit des Unrechts vgl. Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, S . 56 ff., bes. S . 58; Maurach, Allgemeiner Teil, S.24. 15 Sauer, a.a.O., S. 133. 16 a.a.O., S. 134. 17 a.a.O., S. 138. 18 a.a.O., S. 134.

134

1. Teil:

Kap. 5: Quantitative Begren~ung des Strafrechts

des öffentlichen Interesses sind an~usehen19: Die Interessen des Einzelnen und der Allgemeinheit in ihrer Bedeutung für den Staat, das Verhalten des Einzelnen "gegenüber der Staatsgewalt, die Bindung des Einzelnen durch die "Lebensmächte"20, besondere generalpräventive Interessen 21, die praktische Durchführbarkeit. Generalpräventive Interessen sind auch bei den Polizeidelikten und Verwaltungsdelikten maßgebend. Sie sind für sich betrachtet nur leichtere Verletzungen des öffentlichen Interesses, aber da andere Mittel der Sanktion nicht zu Gebote stehen, muß der Verletzung um so mehr vorgebeugt werden. Außerdem können solche Delikte, in großer Zahl begangen, schweren Schaden stiften 22. Bei den für sich betrachtet leichteren Delikten muß also "in numerischer Hinsicht ein gewisser Grad von Gefährlichkeit für die Rechtsordnung und das Gemeinschaftsleben"23 gegeben sein. Auch die selbständigen leichten Delikte entsprechen daher bei Sauer dem quantitativen Verbrechensbegriff. Unselbständige leichte Delikte erkennt Sauer nicht an; die Delikte sind so zu bestrafen, "wie sie typisch ausgestaltet sind", also ein Vergehen als erhebliches Unrecht. In leichten Fällen handelt es sich dabei um "zum mindesten fiktive Verletzungen des öffentlichen Interesses"24. In späteren Arbeiten hat Sauer dieses System als Ganzes nicht mehr dargestellt. Daß er aber daran festhält, zeigt auch seine spätere Verbrechenslehre. An ihrem Anfang steht der Begriff der Strafwürdigkeit, von dem der Begriff des Verbrechens als rechtswidriges und schuldhaftes Wollen und Wirken "in schwerem Widerspruch mit Gerechtigkeit und Gemeinwohl" abgeleitet ist25 . Die Auffassung Hellmuth Mayers stimmt im Ausgangspunkt mit der Lehre Sauers überein, weicht dann aber in entscheidenden Punkten ab. Auch Mayer fragt nach dem Unterschied zwischen VeDbrechen und anderem Unrecht. Sein Verbrechensbegriff lautet: "Das Verbrechen ist Rechtsgüterverletzung, darüber hinaus aber unerträgliche Verletzung a.a.O., S. 134 ff. 20 Gemeint ist: In sittlicher und rechtlicher Hinsicht kann der strafrechtliche Eingriff einer "Lockerung der Sitten" vorbeugen (S.135). 21 z. B.: mit besonderer Heranziehung zu Steuerleistungen wächst die Neigung zur Mißachtung der Finanzhoheit; mit dem Anspannen der steuerlichen Anforderungen muß daher der Strafgesetzgeber gleichen Schritt halten (S. 136). 22 a.a.O., S. 314 ff. In der numerisch verstandenen Erheblichkeit liegt nach Mittermaier, ZStW 14, 7, ganz allgemein das Kriterium des strafrechtlichen Unrechts. Dagegen v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Bd.2, S.92. 23 a.a.O., S.137; ähnlich 317. 24 a.a.O., S. 134. 25 Allgemeine Strafrechtslehre, S. 28. 19

1. Versuche einer quantitativen Begrenzung

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der Sittenordnung26 . " Das Merkmal dieser Formel, das die Unterscheidung ermöglichen soll, liegt wie bei Sauer im Quantitativen. Es liegt nicht in der "Zusammengehörigkeit des Rechtlichen und Sittlichen", die sich zwar im Strafrecht besonders deutlich zeigt, denn die Tatbestände des positiven Rechts sind zugleich "hervorgehobene Beispiele einer Verletzung der Sittenordnung'