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German Pages 229 Year 2023
Die Frage nach dem Kunstwerkbegriff in Adornos ‹Ästheti scher Theorie› formuliert sich als die Frage nach dessen Mög lichkeit. Zugleich liegt mit der besonderen Krisenlage moder ner Kunst aber auch der Kunstwerkbegriff in der Krise. Um in dieser Krisenlage dennoch die Möglichkeit des Kunstwerks zu denken, gilt es seine Ungewissheit ernst zu nehmen. Die Untersuchung des Kunstwerkbegriffs in der ‹Ästhetischen T heorie› versucht ihn daher von zwei Richtungen her zu fas sen: Sie fragt nach der Herstellung von Kunstwerken, nach ihrer Produktion sowie nach der Kunsterfahrung, nach der Rezeption des Kunstwerks.
ISBN 978-3-7720-8781-3
Azzouz Die Andersheit des Kunstwerks
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Wacyl Azzouz
Die Andersheit des Kunstwerks Zu Theodor W. Adornos Kunstwerk begriff in der Ästhetischen Theorie
Die Andersheit des Kunstwerks
Basler Studien zur Philosophie 22
Herausgegeben von Gunnar Hindrichs
Wacyl Azzouz
Die Andersheit des Kunstwerks Zu Theodor W. Adornos Kunstwerkbegriff in der Ästhetischen Theorie
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DOI: https://doi.org/10.24053/9783772057816 © 2023 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: [email protected] CPI books GmbH, Leck ISSN 0941-9918 ISBN 978-3-7720-8781-3 (Print) ISBN 978-3-7720-5781-6 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0217-5 (ePub)
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Für meine Grosseltern
Inhalt
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Was ist ästhetische Theorie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
3
Produktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Material . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37 37 58 77 98
4
Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Ästhetische Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Ästhetisches Verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Ästhetische Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Wahrheitsgehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
113 113 142 158 182
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Die Andersheit des Kunstwerks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
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Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
Danksagung Das vorliegende Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Herbst 2021 an der Universität Basel angenommen wurde. Betreut und begutachtet wurde die Arbeit von Gunnar Hindrichs und Christoph Menke. Ihnen möchte ich für die wertvolle Unterstützung und die ertragreichen Dis‐ kussionen meinen grössten Dank aussprechen. Ohne die grosszügige Unterstützung verschiedener Institutionen wäre die Durchführung dieser Arbeit nicht möglich gewesen. Mein ausdrücklicher Dank gilt der eikones Graduate School, in deren Rahmen dieses Projekt entstanden ist. Für die finanzielle Unterstützung wie auch für die anregenden Diskussionen im wöchentlichen Forschungskolloquium sei der eikones Graduate School herzlich gedankt. Gefördert wurde dieses Projekt zudem durch eine Abschlussfinanzierung der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft Basel sowie durch die Druckkos‐ tenzuschüsse der Nachwuchsförderung der Universität Basel und des Max Geldner-Dissertationsfonds. Ihnen gebührt mein Dank. Und nicht zuletzt gilt mein Dank Stefan Selbmann vom Narr Francke Attempto Verlag, Michael Schwarz vom Adorno Archiv sowie Sarah Wiesendanger für das Lektorat der Erstfassung. Basel, im August 2022
Wacyl Azzouz
1 Einleitung Von der Andersheit des Kunstwerks zu sprechen, meint zweierlei. Erstens meint die Andersheit des Kunstwerks, dass das Kunstwerk das Andere ist. Und zweitens meint die Andersheit des Kunstwerks, dass das Kunstwerk seine eigene Andersheit zur Artikulation bringt. Die Andersheit des Kunstwerks besagt also einerseits, was das Kunstwerk ist und anderseits, was sich am Kunstwerk zeigt. Was aber die Rede von der Andersheit des Kunstwerks in diesem Doppelsinn für das Kunstwerk genau bedeutet, gilt es erst herauszuarbeiten. Zu klären wäre, wovon und wie das Kunstwerk das Andere ist. Und in seinem zweiten Sinn wäre zu klären, was sich als Andersheit am Kunstwerk zeigt und wie das Kunstwerk diese Andersheit an sich hervorzubringen vermag. Die vorliegende Arbeit versucht diesen Doppelsinn zu klären. Sie folgt dabei der These, dass Theodor W. Adornos Ästhetische Theorie diese Bestimmung für ihren Kunstwerkbegriff ausführt. Nach dem Kunstwerkbegriff in der Ästhetischen Theorie zu fragen, heisst demnach, sich über die Andersheit des Kunstwerks aufzuklären. Daher liegt es an den hier gemachten Ausführungen zu Adornos Kunstwerkbegriff, die Zweideutigkeit in der Formulierung von der Andersheit des Kunstwerks zu klären und zu ergründen. Es liegt daran zu verstehen, was der Doppelsinn in der Andersheit des Kunstwerks jeweils meint und wie die zwei Bedeutungen miteinander in Zusammenhang stehen. Die Frage nach dem Kunstwerkbegriff ist nun aber keine beliebige Frage. Sie drängt sich nur schon deshalb auf, da Adorno in der Ästhetischen Theorie unent‐ wegt vom Kunstwerk spricht. Es lässt sich kaum eine Passage finden, in der nicht in irgendeiner Weise vom Kunstwerk gesprochen wird. Und dennoch bleibt es, im Verhältnis zur Fülle der Aussagen über das Kunstwerk, weitgehend unklar, was Adorno genau mit der Rede vom Kunstwerk in der Ästhetischen Theorie im Sinn hat. Der Begriff ist dabei aber weder selbstverständlich noch bestünde an seiner Klärung kein Bedarf. In seiner Vorlesung des Wintersemesters 1959, in der er sich den Fragen der Ästhetik widmete, spricht Adorno vom Kunstwerk als einem «Objekt von einer vollkommen anderen Art»1 und hofft, dessen Konstitution in Zukunft genau darstellen zu können. Es ging ihm dabei um die Konstitution des Kunstwerks. Zwar bleibt nur zu vermuten, ob Adorno plante, die Ästhetische Theorie zum Schauplatz dieser Bemühungen zu machen, jenes
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Adorno, ÄVL, S. 303.
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1 Einleitung
Objekt vollkommen anderer Art in seiner «höchst merkwürdige[n] Logik»2 zur Darstellung zu bringen. Es lässt sich aber nicht von der Hand weisen, dass die Ästhetische Theorie wesentliche Stücke solcher Überlegungen versammelt. Wie eine solche Darstellung der Konstitution des Kunstwerks genau auszusehen hat, bleibt dabei aber weiterhin im Dunkeln. Auch die Ästhetische Theorie gibt hierzu keine klare Antwort. In ihren Äusserungen zum Kunstwerk deutet sie in die unterschiedlichsten Richtungen. Nur schwerlich lässt sich abschätzen, wohin sie führen, bevor sie bis in ihre letzte Konsequenz nachverfolgt werden. Es kann daher nicht im Voraus entschieden werden, welchen Linien nachzugehen ist, in denen die Ausführungen zum Kunstwerk in der Ästhetischen Theorie verstrickt sind. Aufgrund der vielfältigen Weisen und Kontexte, in denen Adorno über das Kunstwerk spricht – davon, wie es ist und was es tut – ist schwerlich zu entscheiden, welche Ausführungen die wesentlichen sind und wie sie in einen systematischen Zusammenhang zu bringen wären. Die spezifische Konstitution des Kunstwerks, der Adorno auf den Grund zu gehen hofft, kann daher für die Ästhetische Theorie in unterschiedlichster Weise befragt werden. Die Schwierigkeiten, die sich mit der Frage nach dem Kunstwerkbegriff in der Ästhetischen Theorie stellen, haben aber noch einen weiteren, äusserlichen Grund. Dieser liegt im Umstand, dass die Ästhetische Theorie Fragment geblieben ist. Darüber lässt sich nicht hinwegtäuschen.3 Briefliche Erwähnungen lassen keinen Zweifel daran, dass die Ästhetische Theorie, so wie sie uns vorliegt, nicht die Endfassung darstellt. So schrieb Adorno noch am 9. Februar 1968 an Paul Celan: «Unterdessen ist mein ästhetisches Buch im Rohentwurf vorhanden, aber das Wort roh ist dabei mit einem schweren Akzent zu versehen – kein Stein wird auf dem anderen bleiben, ein Ende ist noch nicht abzusehen.»4 Ein Jahr später liegen die Dinge nicht besser. So schrieb Adorno an Gershom Scholem, dass das letzte, dritte Stadium, in dem «die endgültige Organisation des Ganzen»5 zu leisten wäre, noch aussteht. Zur Durchführung ist es aber bekanntlich aufgrund des plötzlichen Tods Adornos, nur wenige Monate nach dem Brief an Scholem, nicht mehr gekommen. Es lassen sich daher nur Vermutungen anstellen, wie die Textstücke durch Adorno schlussendlich in ihrer endgültigen Form organisiert gewesen wären. 2 3 4 5
Ibidem, S. 303. Vgl. Rolf Tiedemann und Gretel Adorno, Editorisches Nachwort (= GS 7), Frankfurt am Main 2013, S. 537. Brief vom 9. Februar 1968 von Adorno an Paul Celan (Theodor W. Adorno und Paul Celan, Briefwechsel 1960–1968 (= Frankfurter Adorno Blätter 8), München 2003, S. 198). Brief vom 21. März 1969 von Adorno an Gershom Scholem (Theodor W. Adorno und Gershom Scholem, Theodor W. Adorno Gershom Scholem Briefwechsel 1939-1969 (= Briefe und Briefwechsel 8), Berlin 2015, S. 515).
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Die Herausforderungen, die sich mit dem weitgehend unsystematischen und fragmentarischen Charakter der Ästhetischen Theorie für die Erarbeitung eines Kunstwerkbegriffs stellen, sind für den methodischen Zugang und einer entsprechenden Darstellung des Kunstwerkbegriffs ernst zu nehmen. Es reicht nicht aus, lediglich die verstreuten Aussagen zum Kunstwerk in einen syste‐ matischen Zusammenhang zu bringen, ohne dabei noch die vielschichtigen Bedeutungsebenen, die in jedem Satz mitschwingen, zu bedenken. Albrecht Wellmer machte hierzu den Vorschlag zu einer, wie er es nennt, stereoskopi‐ schen Lektüre. Dabei geht es ihm «um die Herstellung eines räumlichen Bildes, welches die latente Tiefendimension der Texte sichtbar machte.»6 Eine solche Lektüre nimmt also die Ästhetische Theorie in ihren eigenen Differenzierungen ernst und versucht die Kategorien und Begriffe in ihrer Vielschichtigkeit greifbar zu machen. Anstatt bei einer äusseren Kritik stehen zu bleiben, läge es daran, den überspitzten Formulierungen und vermeintlich hermetischen Sätzen nachzugehen, um zu sehen, wohin sie führen. Wellmer spricht daher von einer Konzentration der Kritik, der es daran liegt, die «zentrale[n] Kategorien gleichsam von innen her in Bewegung zu bringen und aus ihrer dialektischen Starre zu lösen».7 Dies gilt ebenso für den Kunstwerkbegriff. Um ihn greifbar zu machen, müssen die verschiedenen Bedeutungsschichten in der Ästhetischen Theorie so herausgelöst werden, dass sich die Konturen eines solchen Begriffs abzu‐ zeichnen vermögen. Um welche Kategorien es sich dabei handelt, die nun für den Kunstwerkbegriff als zentral anzusehen und in Bewegung zu bringen sind, gehört selbst zur Erarbeitung des Kunstwerkbegriffs. Nach dem Kunstwerkbe‐ griff in der Ästhetischen Theorie zu fragen, heisst also, Adornos vielschichtige Ausführungen so in Bewegung zu setzen, dass sich ihre Bedeutungsschichten voneinander abheben und konturieren. Die folgende Arbeit hat sich zur Aufgabe gemacht, Adornos Ästhetische Theorie in dieser Weise nach dem Kunstwerkbegriff zu befragen. Um diesem Vor‐ haben gerecht zu werden, versucht die vorliegende Arbeit den Kunstwerkbegriff von zwei Seiten her zu fassen: von der Seite der Herstellung eines Kunstwerks, der Produktion, sowie von der Seite der Kunsterfahrung, von der Rezeption des Kunstwerks. Dadurch wird versucht, dem Kunstwerkbegriff in der Ästhetischen Theorie seine begriffliche Schärfe zu geben, indem einerseits verständlich 6
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Albrecht Wellmer, Wahrheit, Schein, Versöhnung. Adornos ästhetische Rettung der Moder‐ nität, Frankfurt am Main 1985, S. 44. Wellmer führt auch für den Begriff des Erhabenen in der Ästhetischen Theorie eine stereoskopische Lektüre durch. Vgl. hierzu Albrecht Wellmer, Adorno, die Moderne und das Erhabene, Frankfurt am Main 1999, S. 180ff. Wellmer, Wahrheit, Schein, Versöhnung, op. cit., S. 10.
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gemacht wird, wie das Kunstwerk in die Welt kommt, wie es gemacht wird, und anderseits, wie es rezipiert wird, worin seine spezifischen Erfahrungsund Verstehensvollzüge bestehen. Durch diese zwei Seiten hindurch soll sich das Kunstwerk in seiner Andersheit ausweisen, durch die es, so die These, letztendlich in der Ästhetischen Theorie seine Bestimmung hat. Diese Form der Darstellung fordert ihre Rechtfertigung. Sie lässt sich aber erst von der Sache her verständlich machen. Im Durchgang durch die zwei Seiten wird ersichtlich werden, ob sie es vermögen, den Kunstwerkbegriff in der Ästhetischen Theorie zur Darstellung zu bringen. Es muss daher erst geklärt werden, worum es sich bei der Ästhetischen Theorie eigentlich handelt und welche Rolle der Kunstwerkbegriff in ihr spielt. Daher verhandelt das folgende Kapitel (Kap. 2), worin der Anspruch der Ästhetischen Theorie liegt und auf welche Weise der Kunstwerkbegriff in diesen eingebunden ist. Hieraus wird sich die Frage nach dem Kunstwerkbegriff als die Frage nach dessen Möglichkeit in der spezifischen Krisenlage der modernen Kunst ausweisen. Im Anschluss daran gilt es die zwei Seiten, von denen sich das Kunstwerk fassen lässt, zu erarbeiten: seine Produktion (Kap. 3) sowie seine Rezeption (Kap. 4). Durch sie wird der Rahmen ausgemessen, in dem das Kunstwerk seinen Ort hat. Für die Produktion ist hierzu die eigentümliche Lage, in die das Kunstwerk sich als Produkt menschlicher Tätigkeit einschreibt, auszuführen. Es ist die Beschreibung des Doppelcharakters des Kunstwerks, seiner Autonomie (Kap. 3.1) und seine damit einhergehende Verstrickung in die gesellschaftlichen Verhältnisse (Kap. 3.2). Im Anschluss daran lassen sich die Bedingungen der Kunstproduktion unter dem Anspruch des Doppelcharakters klären: die künstlerische Arbeit (Kap. 3.3) und das künstlerische Material (Kap. 3.4). Damit kommen die Ausführungen zur Kunstproduktion an ihr Ende. Der zweite Teil der Arbeit wendet sich der Rezeption zu. Diese ist für Adorno auf den Wahrheitsgehalt der Kunstwerke ausgerichtet. Sie hebt dabei mit den für die Kunstwerke spezifischen Erfahrungs- und Verstehensvollzügen an. Daher gilt es in der Erörterung der Kunstrezeption zunächst die ästhetische Erfahrung (Kap. 4.1) und das ästhetische Verstehen (Kap. 4.2) in den Blick zu nehmen. Die Überlegungen zur ästhetischen Erfahrung und zum ästhetischen Verstehen führen dann zur Frage, um was für Erfahrungs- und Verstehensgehalte es sich genau handelt. Die ästhetische Transzendenz (Kap. 4.3) und letztendlich der Wahrheitsgehalt des Kunstwerks (Kap. 4.4) sollen hierzu die Antwort geben. Sind damit die Produktion und die Rezeption des Kunstwerks in der Ästhetischen Theorie erarbeitet, ist im Schlusskapitel (Kap. 5) die Andersheit des Kunstwerks vor dem Hintergrund der Kunstproduktion und der Kunstrezeption darzulegen. Der Durchgang durch die Bestimmung der Produktion und der Rezeption hat
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sich letztendlich als die Entfaltung der Andersheit des Kunstwerks zu zeigen, in der der Kunstwerkbegriff der Ästhetischen Theorie seine Bestimmung findet. Die Form der Darstellung findet darin ihre Rechtfertigung. Es mag durchaus andere Wege geben, den Kunstwerkbegriff in der Ästheti‐ schen Theorie herauszuarbeiten. Die Ästhetische Theorie hält genügend Ansätze offen, von denen aus sich Wege zu einem Kunstwerkbegriff bahnen. Es wird hier auch nicht der Anspruch erhoben, sämtliche Kategorien vollständig zu klären, die in irgendeiner Weise in der Ästhetischen Theorie den Kunstwerkbegriff betreffen. Nichtsdestotrotz erheben die hier gemachten Ausführungen den Anspruch, die grundlegende Struktur des Kunstwerkbegriffs in der Ästhetischen Theorie auszuführen und sie letztendlich als die Andersheit des Kunstwerks einzusehen. Mögen andere Wege andere Kategorien und Aspekte des Kunst‐ werkbegriffs in der Ästhetischen Theorie beleuchten – auch ihnen hätte der hier erarbeitete Kunstwerkbegriff die Grundlage abzugeben. Die grundlegende Struktur des Kunstwerkbegriffs bestimmt sich durch seine Andersheit und diese findet ihre Darstellung in der Produktion und Rezeption.
2 Was ist ästhetische Theorie? I. Philosophie der Kunst Es ist naheliegend, die Ästhetische Theorie als eine Philosophie der Kunst zu verstehen. Als eine solche hätte sie es mit Fragen zu tun, die den Bereich der Kunst, deren Kategorien, Begriffe und Eigenheiten betreffen. Das Motto, unter dem die Ästhetische Theorie hätte stehen sollen, bestätigt diese Annahme.8 Im Fragment von Friedrich Schlegel, das der Ästhetischen Theorie vorangestellt hätte werden sollen, heisst es: «In dem, was man Philosophie der Kunst nennt, fehlt gewöhnlich eins von beiden; entweder die Philosophie oder die Kunst.»9 Das geplante Motto stellt die Ästhetische Theorie also ins Feld einer Philosophie der Kunst, wie es zugleich mit ironischer Spitze dessen Unzulänglichkeit hervorhebt. Das Ästhetik-Buch, wie Adorno die Ästhetische Theorie im Entste‐ hungsprozess oft selbst genannt hat, ist also eine Ästhetik, die sich auf den Bereich der Kunst beschränkt. Ästhetik meint hier demzufolge nicht eine Ästhetik, wie sie Alexander Gottlieb Baumgarten, an ihren ursprünglichen Sinn erinnernd, als «Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis» (scientia cognitionis sensitivae)10 begründet hat. Adorno schliesst damit an der im Idealismus ge‐ machten Gleichsetzung von Ästhetik mit Kunstphilosophie an.11 Seit Schelling, so heisst es in der Ästhetischen Theorie, «hat das ästhetische Interesse sich auf die Kunstwerke zentriert.»12 Der Bezug auf diese Theorietradition zeigt sich nicht nur, indem Adorno die Kunst als den Gegenstand einer Ästhetik versteht, sondern auch indem die Ästhetische Theorie sich mit und an den idealistischen Ästhetiken kritisch abarbeitet. Daher stellt die Ästhetische Theorie eigentlich eine Ästhetik der Kunst und des Kunstschönen und nicht der Natur und des Naturschönen, noch weniger eine Wissenschaft sinnlicher Erkenntnis dar. Der Begriff der Natur und das Naturschöne spielen in der Ästhetischen Theorie zwar eine zentrale Rolle, es lässt sich aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die 8 9 10 11 12
So wurde es von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann im editorischen Nachwort vermerkt (siehe Tiedemann und Adorno, Editorisches Nachwort, op. cit., S. 544). Friedrich Schlegel, Kritische Fragmente (= Fragmente der Frühromantiker 1), Berlin/ Boston 2011, S. 9. Alexander Gottlieb Baumgarten, Theoretische Ästhetik, Hamburg 1983, §1, S. 2. Vgl. Christoph Menke, Wahrnehmung, Tätigkeit, Selbstreflexion. Zu Genese und Dialektik der Ästhetik, Frankfurt am Main 2002, S. 19. Adorno, ÄT, S. 97.
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2 Was ist ästhetische Theorie?
Ästhetische Theorie wesentlich an der Kunst interessiert ist und die Natur und das Naturschöne aus der Perspektive der Kunst in den Blick nimmt. Kunst und Natur sind als «pure Antithesen» aufeinander verwiesen, so dass «die Besinnung über das Naturschöne der Kunsttheorie unabdingbar» ist.13 Ist also in der Ästhetischen Theorie von Ästhetik die Rede, so meint sie Ästhetik gerade in diesem engeren, auf den Bereich der Kunst eingeschränkten Sinn.14 Bereits in Adornos Vorlesungen zur Ästhetik, in denen er Vorarbeiten und Themen behandelt, die später Eingang in die Ästhetische Theorie finden werden, wird Ästhetik als eine Philosophie der Kunst verstanden.15 Neben dem geplanten Motto weist auch der erste Satz der Ästhetischen Theorie die Kunst als ihr Thema aus: «Zur Selbstverständlichkeit wurde, daß nichts, was die Kunst betrifft, mehr selbstverständlich ist, weder in ihr noch in ihrem Verhältnis zum Ganzen, nicht einmal ihr Existenzrecht.»16 Damit ist die Kunst als Problemfeld, an dem sich die Ästhetische Theorie abzuarbeiten hat, umrissen. Sie bestimmt die Ästhetische Theorie als eine Philosophie der Kunst, die sich der in die Problemlage der Moderne geratenen Kunst annimmt. Adorno stellt in diesem Satz die geschichtliche Situation moderner Kunst als einen dreifachen Verlust ihrer Selbstverständlichkeit dar. Sie lässt sich daher als dreifache Rechtfertigungskrise verstehen: Denn erstens ist die Kunst in ihrem Selbstverständnis ungewiss geworden. Ihre Kategorien und Normen sind der Kunst selbst unsicher. Keinen eingeschliffenen Kanon vermag sie mehr zu verbürgen. Zweitens ist ihr Aussenbezug ungewiss geworden. Ihre Stellung zum Ganzen, ihr Ort in dem, was Adorno die Totalität der Gesellschaft nennt, ist ihr weder von der Kunst noch von der Gesellschaft eindeutig zugewiesen. Daher ist ihre gesellschaftliche Stellung ebenso unbestimmt wie ungewiss. Und drittens ist die Kunst damit auch in ihrer Daseinsberechtigung ungewiss geworden. Wofür sie gut sein soll, hätte sie erst noch auszuweisen. Die Ästhetische Theorie hat daher die in Ungewissheit geratenen ästhetischen Kategorien und Normen, die Verortung des Bereichs der Kunst im Gefüge gesellschaftlicher Totalität sowie die Daseinsberechtigung in diesem Gefüge kritisch auszuhandeln und auszumessen. 13 14 15
16
Ibidem, S. 98. Ruth Sonderegger sieht darin einen Grund für Adornos Festhalten am Begriff «Äs‐ thetik», denn er verstehe das Naturschöne gerade als einen integralen Teil der Kunst. (Vgl. Ruth Sonderegger, Ästhetische Theorie, Stuttgart/Weimar 2011, S. 415.) So führt Adorno die philosophische Ästhetik in der ersten Sitzung der Ästhetik-Vorle‐ sung von 1958/59 als auch in der frühen Einleitung der Ästhetischen Theorie, die sich weitgehend an der Ästhetik-Vorlesung orientiert, als eine philosophische Disziplin ein. (Vgl. Adorno, ÄVL, S. 9ff.; Adorno, ÄT, 493 ff.) Adorno, ÄT, S. 9.
2 Was ist ästhetische Theorie?
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Misst die Ästhetische Theorie den Bereich des Ästhetischen als den vermeint‐ lich ungewissen Bereich moderner Kunst aus, so hat sie ebenso die Differenz zum Ausserkünstlerischen kenntlich zu machen. Diese Differenz zeigt sich aber als genauso fraglich wie es schon für die innere Bestimmung der Kunst gegolten hat. Ist die Kunst in sich ungewiss geworden, hat sie über sich selbst keine Klarheit, umso strittiger ist es auch, worin die Kunst ihre Grenze hat. Das Eigentümliche des Bereichs der Kunst, die sich in der dreifachen Recht‐ fertigungskrise befindet, hat in der Ästhetischen Theorie auch seine Grenzen auszuweisen. Die Eigenheiten der Kunst müssen daher erst in Aushandlung mit geschichtsphilosophischen und gesellschaftstheoretischen Überlegungen ihren Ort angeben. Die Kunst wäre abzugrenzen von dem, was Adorno in der Ästhetischen Theorie meist die empirische Realität nennt. Sofern sich die Ästhetische Theorie also als eine Philosophie der Kunst versteht, hätte sie ihren Bezug zum ausserästhetischen aufzuklären. Bekanntlich wird das Feld der Kunst von Adorno auf einen sehr exklusiven Bereich eingeschränkt. Wie wir sehen werden, verläuft diese Linie nicht, wie es Adorno oft zum Vorwurf gemacht wurde, seinen eigenen Präferenzen entsprechend, sondern hat deren Grund in der ausserkünstlerischen Verfügungsmacht, von der die Kunst sich gerade freimachen muss. Der Ungewissheit der Kunst theoretisch zu begegnen, heisst eben nicht der Kunst den Freipass zu einem anything goes zu geben, sondern den Bereich der Kunst aus der Ungewissheit heraus zu bestimmen. Es kann zwar als ausgemacht gelten, dass die Ästhetische Theorie eine philosophische Aushandlung der modernen Kunst darstellt, doch scheint damit die Bestimmung dessen, wovon die Ästhetische Theorie nun handelt, noch nicht gänzlich ausgesprochen zu sein. Die eigentümliche Art, wie die Ästhetische Theorie von Kunst spricht, hat unterschiedlichste Interpretationen über ihre eigentliche Motivation herausgefordert. Ob nun die Ästhetische Theorie als eine Philosophie der Kunst das letzte Wort behält, gilt es noch zu prüfen, denn die Ästhetische Theorie verleitet leicht zur Annahme, dass sie zwar von Kunst handelt, durch die Behandlung der Kunst aber etwas über die Kunst Hinausge‐ hendes zur Diskussion stellt. Die philosophische Erforschung der Kunst dient in dieser Deutung einem anderen Interesse. Die Annahme, dass Adorno in seiner Ästhetik eigentlich sein Projekt einer Vernunft- und Gesellschaftskritik weiterführt, auf dessen Gehalte die moderne Kunst sich abklopfen lässt, scheint ebenso berechtigte Argumente zu haben, wie sie im üblichen Sinne nur als eine Philosophie der Kunst zu verstehen wäre. So wird die Ästhetische Theorie dann im Blick auf Adornos Philosophie als die Weiterführung theoretischer Konsequenzen verstanden, in denen die philosophischen Bemühungen, etwa der Negativen Dialektik, im Besonderen aber der Dialektik der Aufklärung,
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2 Was ist ästhetische Theorie?
aufgegriffen sind. Diese Indienstnahme der Ästhetik zu vernunft- und gesell‐ schaftskritischen Absichten hat Zustimmung wie Ablehnung gleichermassen motiviert. Zustimmend heisst es etwa, dass erst die Ästhetische Theorie, in ihrer Form einer Philosophie der Kunst, es vermag in letzter Konsequenz die Antworten auf die vernunft- und gesellschaftskritischen Absichten theoretisch auszuarbeiten.17 Ablehnend dagegen formuliert etwa Jürgen Habermas den Vorwurf, dass letztendlich aus den Einsichten der Dialektik der Aufklärung, sofern man sie denn noch mitgehen will, man einsehen muss, dass es, «wenn überhaupt, einen Vernunftfunken nur noch in der esoterischen Kunst gibt.»18 Die Ästhetische Theorie wird hier nicht als ein Ausweg angesehen, in der sich vernunft- und gesellschaftskritische Absichten auflösen, sondern im Gegenteil als eine «Flucht in die Ästhetik».19 In diesen Interpretationen steht nicht die moderne Kunst zur Aushandlung, sondern sie stellt den Schauplatz einer anderen Verhandlung dar. Die Ästhetische Theorie wäre demnach mehr als eine Philosophie der Kunst oder etwas anderes als eine Philosophie der Kunst. Eine weitere Deutung nimmt ihren Ausgang am Titel einer Ästhetischen Theorie, der zu weiteren Spekulationen über ihren eigentlichen Gehalt veran‐ lasste. Die eigenwillige Darstellungsweise der Ästhetischen Theorie wird hierbei gerade als die konsequente Durchführung ihres Programms angesehen. Die Idee, dem Ästhetik-Buch den Titel Ästhetische Theorie zu geben, geht noch auf Adorno zurück. In einem Brief vom 4. Februar 1969, nur wenige Monate vor seinem Tod, schrieb Adorno an Samuel Beckett: «Mein Buch – es wird nun endgültig Ästhetische Theorie heißen – ist die letzten Monate recht befriedigend vorwärts gekommen […].»20 An die von Adorno getroffene Wahl des Titels schliesst sich eine Deutung der Ästhetischen Theorie an, die im Versuch besteht, den Titel in seiner Doppeldeutigkeit ernst zu nehmen. Das heisst, dass die Ästhetische Theorie als eine Theorie verstanden werden muss, die selbst ästhe‐ 17 18
19 20
Vgl. Peter Uwe Hohendahl, Autonomy of Art. Looking Back at Adorno’s Ästhetische Theorie, S. 136; siehe auch Friedmann Grenz, Adornos Philosophie in Grundbegriffen. Auflösung einiger Deutungsprobleme, Frankfurt am Main 1974, S. 182ff. Jürgen Habermas, Dialektik der Rationalisierung, Frankfurt am Main 1985, S. 172; vgl. auch Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt am Main 1985, S. 85f.; Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Han‐ delns, Bd. 1, Frankfurt am Main 1995, S. 514ff., sowie Thomas Baumeister und Jens Kulenkampff, Geschichtsphilosophie und philosophische Ästhetik. Zu Adornos ‹Ästheti‐ scher Theorie›, S. 104. Burkhardt Lindner und W. Martin Lüdke, Kritische Theorie und ästhetisches Interesse. Notwendige Hinweise zur Adorno-Diskussion, Frankfurt am Main 1980, S. 12. Brief vom 4. Februar 1969 von Theodor W. Adorno an Samuel Beckett (Rolf Tiede‐ mann, ‹Gegen den Trug der Frage nach dem Sinn›. Eine Dokumentation zu Adornos Beckett-Lektüre (= Frankfurter Adorno Blätter 3), München 1994, S. 25).
2 Was ist ästhetische Theorie?
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tisch sei. So stellte etwa Rüdiger Bubner diese Doppeldeutigkeit des Titels einer Ästhetischen Theorie als selbstverständliches Kennzeichen ihrer inhaltlichen Absicht voraus. Bubner schreibt hierzu: «Der schillernde Titel einer ‹Ästhetischen Theorie› meint bekanntlich nicht allein theoretische Ästhetik als Unterabteilung eines umfassenden Theoriegebäudes. Viel‐ mehr soll das Ästhetischwerden der Theorie selbst, die Konvergenz von Erkenntnis und Kunst Thema sein.»21
Wie schon für Habermas zieht auch nach Bubner die Ästhetische Theorie die in der Dialektik der Aufklärung angelegten Konsequenzen. Für Bubner stellt das Ästhetischwerden von Theorie gerade einen Prozess dar, der selbst aus den philosophischen Überlegungen einer kritischen Theorie erwachsen sei und zu einer «Aufhebung von Theorie in Ästhetik»22 geführt habe. Das Ästhetischwerden wird hier als philosophische Konsequenz gedacht und durch die Doppeldeutigkeit des Titels offen ausgesprochen. Im Gegensatz zu Bubners Vorwurf des Ästhetischwerdens der Theorie als einer, wie schon für Habermas, Flucht in die Ästhetik, wurde die Doppeldeu‐ tigkeit des Titels einer Ästhetischen Theorie ebenso als deren Legitimierung verstanden. Das Ästhetischwerden der Theorie wird hier gerade als Schlüssel zu deren Verständnis und Rechtfertigung genommen. Je nachdem, wie man die These der Ästhetisierung von Theorie verstehen mag, wird sie als für den Gegenstand angemessene Theorieform verstanden.23 In ihrer Zuspitzung ver‐ steht die These von der Doppeldeutigkeit des Titels einer Ästhetischen Theorie, dass sie selbst als ein Kunstwerk verstanden werden will, oder zumindest einen Kunstcharakter hat.24 Ihr geht es dann wesentlich um die Form der Darstellung einer Ästhetischen Theorie, die sich ihrem Gegenstand gleichmacht. Gewiss ist die Behauptung nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Je nachdem 21 22 23 24
Rüdiger Bubner, Kann Theorie ästhetisch werden? Zum Hauptmotiv der Philosophie Adornos, Frankfurt am Main 1989, S. 71. Ibidem, S. 71. Zu einem ausführlichen Überblick möglicher Lesarten der Ästhetischen Theorie als ästhetisch verfasste Theorie siehe Andrea Sakoparnig, Was und wozu ist Adornos Ästhetische Theorie?, Berlin/Boston 2017, S. 97–154, hier besonders S. 101ff. In diesem Sinne wird in einer Skizze zu einer geplanten textkritischen Edition der Ästhetischen Theorie die Bemühung angestrebt, den Kunstcharakter der Ästhetischen Theorie hervortreten zu lassen. (Vgl. Martin Endres/Axel Pichler/Claus Zittel, ‹Noch Offen›. Prolegomena zu einer Textkritischen Edition der Ästhetischen Theorie Adornos (= Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft 27), 2014, S. 194.) Jüngst stellt auch Bazon Brock überspitzt die Forderung, die Ästhetische Theorie müsse selbst als ein Kunstwerk verstanden werden. (Vgl. Bazon Brock, Die Ästhetische Theorie ist ein Kunstwerk und nicht Wissenschaftsgetue, Berlin/Boston 2019.)
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was unter der Formulierung des Ästhetischwerdens oder -seins von Theorie verstanden wird, ob als konsequenter Irrweg oder Erfüllung theoretischer Forderungen, können mitunter überzeugende Argumente angeführt werden. Mit Rückgriffen auf Theorieanforderungen aus früheren Texten Adornos, etwa der konzentrischen und parataktischen Darstellungsform, kann die Ästhetische Theorie durchaus als konsequente Durchführung theoretischer Anforderungen begriffen werden.25 Obwohl die Ästhetische Theorie Züge einer Ästhetisierung von Theorie aufweist, so verführt diese Annahme zu einem voreiligen Fehlurteil.26 Einerseits verleitet sie zur problematischen Schlussfolgerung, dass die Ästhetische Theorie selbst ein Kunstwerk, oder zumindest ein Kunstwerkähnliches sei. Ihre Sätze, sofern die Ästhetische Theorie von Kunst handelt, hätte man daher auf sie selbst anzuwenden. Sie hätte daher in ihrer Durchführung die «Verschränkung von Darstellung und Dargestelltem»27 ernst zu nehmen. Dass sie diesem Anspruch aber nicht gerecht werden kann, scheint mit genauerem Blick in die Ästhetische Theorie in zweierlei Hinsicht offensichtlich. Erstens lässt sich schwerlich darüber hinwegtäuschen, dass die Ästhetische Theorie ihrem eigenen Kunstwerkbegriff nicht gerecht zu werden vermag. Im Durchgang durch die Bestimmungen des Kunstwerks in der Ästhetischen Theorie sollte deutlich werden, dass sie ihrem eigenen Anspruch nicht standhalten kann. Und zweitens hebt Adorno in der Ästhetischen Theorie immer wieder die Differenz zwischen Philosophie und Kunst hervor. Mögen sie zwar aufeinander verwiesen sein, ihre Differenz lässt sich dadurch nicht aufheben.28 Wie sich noch zeigen wird, liegt die Rechtfertigung der Ästhetischen Theorie gerade in dieser Differenz begründet. Die Verwässerung dieser Differenz würde daher die Legitimation der Ästhetischen Theorie, von der sie Ausgang nimmt, untergraben. Die verschiedenen Deutungen mögen ihre berechtigten Argumente haben. So mag es richtig sein, dass sich die Ästhetische Theorie um eine konzentrische und 25
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In einem Brief an Herbert Marcus äussert sich Adorno bezüglich der Arbeit an der Ästhetischen Theorie, dass er nach der Negativen Dialektik «nicht mehr in der traditionellen Form des Erst-Nachher schreiben» könne, «sondern in gewisser Weise nur noch parataktisch». (Brief von Adorno an Herbert Marcuse vom 24.1.1969, zitiert nach Stefan Müller-Doohm, Adorno. Eine Biographie, Frankfurt am Main 2003, S. 715.) Auch das ist nicht so selbstverständlich wie es oft behauptet wird. Letztendlich verbergen sich unter der eigenwilligen Darstellungsform durchaus systematische Ansprüche. Darauf hat bereits Otto Karl Werckmeister hingewiesen. (Siehe Otto Karl Werckmeister, Das Kunstwerk als Negation. Zur geschichtlichen Bestimmung der Kunsttheorie Theodor W. Adornos, Frankfurt am Main 1971, S. 7.) Endres/Pichler/Zittel, ‹Noch Offen›, op. cit., S. 194. Vgl. u. a. Hermann Schweppenhäuser, Aspekte eines aufgeklärten Kunstbegriffs (= Frankfurter Adorno Blätter 2), München 1993, S. 112ff.
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parataktische Darstellung bemüht und damit Züge eines Ästhetischseins der Theorie vorantreibt. Es mag auch richtig sein, dass in der Ästhetischen Theorie Linien einer Vernunft- und Gesellschaftskritik, die Adorno in früheren Schriften angelegt hat, weitergeführt und auf dem Feld der Kunst ausgehandelt werden. Das Versäumnis dieser Deutungen liegt aber darin, dass die eigentliche Frage, wovon die Ästhetische Theorie nun handelt, voreilig übergangen wird.29 Ist die Ästhetische Theorie eine Philosophie der Kunst, so wäre zunächst zu klären, wovon überhaupt die Rede ist, wenn die Ästhetische Theorie von Kunst spricht. Obgleich die Ästhetische Theorie noch in so enger Korrespondenz mit anderen Schriften Adornos steht, stellt sie sich letztendlich doch als eine Philosophie der Kunst dar, die sich vorweg weder auf Vernunft- und Gesellschaftskritik reduzieren lässt noch das letzte Wort in ihrem Ästhetischsein hat. Das Problem einer Deutung, wovon denn die Ästhetische Theorie nun handelt, hätte daher mit der Frage zu beginnen, wie Adorno die Kunst in ihrer Krise zu fassen versucht. Zwar wissen wir vom ersten Satz der Ästhetischen Theorie, dass die Kunst sich selbst ungewiss geworden ist, und sich daher vorweg einer Bestimmung entzieht, nichtsdestotrotz gibt Adorno die Richtung an, von der aus der Bereich der Kunst erst auszumessen wäre und von der aus die Ästhetische Theorie zu lesen wäre. Erst vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwiefern die Ästhetische Theorie keine Philosophie der Kunst ist oder wodurch sie über eine solche hinausgeht. Diese Richtung, von der die Kunst her zu verstehen und von der aus die Problemlage der Ästhetischen Theorie zu fassen wäre, führt Adorno gegen ein gängiges Vorurteil der Kunst ein. Adorno bespricht zu Beginn der Ästhetik-Vorlesung von 1958/59, was in der Durchführung einer Ästhetik als Kunst zu verstehen sei. Hierin positioniert sich Adorno gegen die Vorstellung, die Kunst sei allein dem Bereich des Irrationalen, des Unbewussten oder der Gefühle zuzurechnen und stehe so der Rationalität entgegen: «Also die Kunst ist nicht etwa einfach unter den Begriff der Vernunft oder der Rationalität zu subsumieren, sondern ist diese Rationalität selber, nur in Gestalt ihrer Andersheit, in Gestalt – wenn Sie wollen – eines bestimmten Widerstandes dagegen.»30
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Auf die Ungewissheit dessen, wovon denn nun die Ästhetische Theorie handelt, hat bereits früh Karl Markus Michel hingewiesen, jedoch ohne den Anspruch zu erheben, darauf eine Antwort zu geben. Vielmehr gibt er ein Panorama an (subjektiven) Lektüreund Gegenlektüre-Vorschlägen. (Vgl. Karl Markus Michel, Versuch, die ‹Ästhetische Theorie› zu verstehen, Frankfurt am Main 1980.) Adorno, ÄVL, S. 22.
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Vielmehr als dass die Kunst als eine «Domäne der Irrationalität»31 dem Ratio‐ nalen gegenübersteht, stellt Adorno die These auf, dass Kunst selbst Rationa‐ lität sei, aber gerade in derjenigen Gestalt, in der sie selbst ein Widerstand gegen Rationalität ist. Es lässt sich freilich darüber streiten, welcher der vielen Bestimmungen der Kunst in der Ästhetischen Theorie, wenn überhaupt, ein her‐ vorragenden Stellenwert beizumessen sei. Mit Blick auf die Ästhetik-Vorlesung scheint der Bestimmung der Kunst als Rationalität in Gestalt ihrer Andersheit denjenigen Gesichtspunkt der Kunst anzugeben, von der aus die Ästhetische Theorie versucht, das Feld der Kunst auszumessen.32 In veränderter Form findet sich dieser Ausgangspunkt in der Ästhetischen Theorie wieder. In der Diskussion über Mimesis und Rationalität schreibt Adorno: «Kunst ist Rationalität, welche diese kritisiert, ohne ihr sich zu entziehen; kein Vorra‐ tionales oder Irrationales, wie es angesichts der Verflechtung jeglicher menschlichen Tätigkeit in die gesellschaftliche Totalität vorweg zur Unwahrheit verurteilt wäre.»33
Diese Bestimmung, dass Kunst Rationalität in ihrer Andersheit sei, als Wider‐ stand und Kritik gegen diese selbst, muss in seiner ganzen Tragweite ernstge‐ nommen und im Blick auf die dreifache Rechtfertigungskrise der Kunst bezogen werden. Besagte eine der Rechtfertigungskrisen der Kunst, dass der Ort der Kunst im Ganzen ungewiss sei, so sehen wir nun, dass Adorno aus der Totalität der Gesellschaft die Konsequenz für die Kunst gezogen hat. Die Kunst müsste sich in der gesellschaftlichen Totalität gegen die gesellschaftliche Totalität behaupten. Dieses Verständnis von Kunst als selbstkritische Rationalität leitet das ganze Unternehmen der Ästhetischen Theorie genauso an, wie es ihr Zustand dreifacher Ungewissheit tut. Die Probleme einer Ästhetik sind für Adorno daher anderer Art. Sie er‐ schöpfen sich nicht einfach in den Fragen, ob die Ästhetische Theorie eine ästhetisch verfasste Ästhetik sei, ob sie nicht eigentlich eine Flucht in die Ästhetik darstellt oder primär gar keine Philosophie der Kunst ist. Die Ästheti‐ sche Theorie hat nicht vornehmlich ihre Darstellungsform als Problem, sondern befragt als Philosophie der Kunst die spezifische Problemlage der ästhetischen Moderne. Für die Ästhetische Theorie als eine Philosophie der Kunst stellt sich
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Ibidem, S. 21. Die Bedeutung dieses Satzes für Adornos Vorhaben einer Ästhetischen Theorie kann insofern vermutet werden, da er ihn in der Bearbeitung des Transkripts für die Ästhetische Theorie gleich vierfach angestrichen hat. Darf man den Anmerkungen des Herausgebers glauben, so hat Adorno keinen anderen Satz mit so viel Nachdruck gekennzeichnet. (Vgl. Adorno, ÄVL, Anm. 35, S. 400.) Adorno, ÄT, S. 87.
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daher die Schwierigkeit, dass ihr Gegenstand sich gegen eine theoretische Durchdringung sträubt. Die in die Krise geratene Kunst ist nicht nur ungewiss geworden, sondern widerstrebt als Rationalität in Gestalt ihrer Andersheit gerade der theoretischen Erfassung. Diese Problemlage muss daher als nächstes angegangen werden. II. Probleme der Ästhetik Will die Ästhetische Theorie den Bereich der Kunst als Rationalität in Gestalt ihrer Andersheit, in der geschichtlichen Situation ihrer dreifachen Rechtferti‐ gungskrise in ihrem Möglichkeitsraum ausmessen, so hat sich eine solche Äs‐ thetik den daraus folgenden Problemen zu stellen. Die Kunst als Rationalität in Gestalt ihrer Andersheit untergräbt ihre theoretische Ausmessung, da Theorie stets rational verfasst ist. Eine Ästhetik ist aber nur als Theorie möglich. Die Probleme der Ästhetik liegen daher in einem doppelten Anspruch der Ästhetik, der im vorgesehenen Motto von Schlegel zum Ausdruck kommt. Das Zitat von Schlegel darf dabei gerade nicht in der oben ausgeführten Deutung der Doppeldeutigkeit des Titels einer Ästhetischen Theorie missverstanden werden.34 Es geht nicht darum, Philosophie und Kunst aneinander anzugleichen und in einer Art von Mischform durchzuführen. Der schlechte Kompromiss von Kunst und Philosophie soll gerade vermieden werden. Vielmehr gilt es in der Ausformulierung einer Philosophie der Kunst, wie es die Ästhetische Theorie ist, weder ihr philosophisches Programm zugunsten einer Kunstähnlichkeit zu opfern noch über die Kunst hinweg theoretische Verallgemeinerungen zu betreiben. Sie hat daher einerseits den Forderungen von philosophischer Theoriebildung nachzukommen, denn die Ästhetische Theorie will ja gerade Theorie sein und nicht selbst zur Kunst werden, anderseits muss sie aber der Kunst, von der sie handelt, gerecht werden. Wir haben gesehen, dass eine solche Ästhetisierung der Theorie weder von Adorno intendiert war noch dazu taugt, zum eigentlichen Programm der Ästhetischen Theorie erhoben zu werden. Die Probleme der Ästhetik sind aber nicht nur theoretischer Art, sondern liegen ebenso in ihrer geschichtlichen Lage, von der aus die Theorie anhebt. Hat Adorno die geschichtliche Lage der Kunst als eine dreifache Ungewissheit beschrieben, so wirkt sich dieser Zustand der Krise auch auf eine Ästhetik aus, 34
Zur Missdeutung des Schlegel-Zitates als Ausdruck der Doppeldeutigkeit des Titels der Ästhetischen Theorie siehe Vittorio Hösle, Zur Geschichte der Ästhetik und Poetik, Basel 2013, S. 95ff. In anderer Weise versteht Ruth Sonderegger das Schlegel-Zitat als Resümee eines in der Ästhetischen Theorie fortgesetzten Schlegel-Bezugs. (Vgl. Ruth Sonderegger, Für eine Ästhetik des Spiels. Hermeneutik, Dekonstruktion und der Eigensinn der Kunst, Frankfurt am Main 2000, S. 226ff.)
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die sie versucht theoretisch zu durchdringen. Die geschichtliche Situation der Kunst betrifft die Ästhetik ebenso, nicht nur weil die dreifache Ungewissheit in einer Ästhetik theoretisch erfasst und reflektiert werden müsste, sondern auch, weil mit ihrem Gegenstand ebenso die Ästhetik ihre Rechtfertigung einbüsst. Die Ästhetische Theorie steht und fällt daher mit der Möglichkeit ihres Gegenstands. Der Frühen Einleitung folgend, geht daher von der Ästhetik «ein Ausdruck des Veralteten»35 aus. Adorno beruft sich an dieser Stelle auf einen Lexikoneintrag von Ivo Frenzel zum Begriff ‹Ästhetik›.36 Dieser stellt in jenem Artikel einen doppelten Grund fest, weshalb es die Ästhetik bis anhin nicht zu einem gesi‐ cherten Bestand geschafft hat, sondern sich stattdessen in einen wechselhaften Theorienpluralismus aufgefächert habe. Dieser doppelte Grund besteht nach Frenzel einerseits in der Schwierigkeit bis hin zur Unmöglichkeit, Kunst syste‐ matisch mittels philosophischer Kategorien aufzuschliessen, sowie anderseits in ihrer Abhängigkeit von erkenntnistheoretischen Vorentscheidungen.37 Adorno stimmt Frenzels Diagnose soweit zu, dass es der Ästhetik an gesichertem Bestand fehle, hält aber in Frenzels Analyse den Zustand für noch nicht zureichend erklärt. Dieser vermeintlich unzeitgemässe Zustand der Ästhetik sei vielmehr damit zu erklären, dass sich die Ästhetik in der Lage zweier Alterna‐ tiven befindet, in die sie durch die dreifache Rechtfertigungskrise der Kunst geraten ist.38 Sind die ästhetischen Kategorien erst einmal explizit fragwürdig geworden, so kann eine Ästhetik nicht mehr länger über ihre Fragwürdigkeit hinwegtäuschen. So teilt sich die geschichtliche Lage an die theoretischen Forderungen einer Ästhetik mit. Ästhetik gilt also nicht deshalb als veraltet, weil sie von Voraussetzungen abhängig ist, die sich ihrer Einflussnahme entziehen, sondern weil die ästhe‐ tische Moderne sie in die missliche Lage geführt hat, sich zwischen zwei schlechten Alternativen entscheiden zu müssen. So führt Adorno in der Frühen Einleitung weiter aus: «Philosophische Ästhetik geriet in die fatale Alternative zwischen dummer und trivialer Allgemeinheit und willkürlichen, meist von konventionellen Vorstellungen abgezogenen Urteilen.»39 Die Ästhetik befindet sich daher in der misslichen Lage, einerseits theoretisch verfasst zu sein, was sie
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Adorno, ÄT, S. 493. Adorno paraphrasiert dieselbe Stelle aus Ivo Frenzels Lexikoneintrag bereits zu Beginn der ersten Sitzung der Ästhetik-Vorlesung von 1958/59. (Vgl. Adorno, ÄVL, S. 9; Adorno, ÄT, S. 493.) Vgl. Ivo Frenzel, Ästhetik, Frankfurt am Main 1967, S. 15f. Adorno, ÄT, S. 493f. Ibidem, S. 494.
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nur in der Allgemeinheit von Begriffen tun kann, zugleich aber in enger Korre‐ spondenz mit den Kunstwerken zu stehen, die sich einer solchen begrifflichen Durchdringung gerade widersetzen. Es liegt der Ästhetischen Theorie nicht daran sich auf die eine oder andere Seite der Alternativen zu schlagen. Würde sie sich auf die Seite der Allgemeinheit schlagen, so würde sie nicht mehr an die Kunst heranreichen. Sie würde als abgehobene Theorie unter dem Niveau der Kunst verbleiben. Als Philosophie der Kunst würde sie ihrem Gegenstand nicht mehr gerecht werden. Entschiede sie sich für das Besondere einzelner Werke, so wäre ihre theoretische Kraft eingebüsst. Sie würde als Kunstkritik unter das Niveau von Theoriebildung fallen. Die Probleme der Kunst teilen sich so der Ästhetik als Forderungen mit, die von der Ästhetischen Theorie gerade zu lösen wären, statt sich für die eine oder andere der Alternativen zu entscheiden. Der Ästhetik liegt daher, wie es in der Frühen Einleitung heisst, eine immanente Not zugrunde, nämlich dass eine Ästhetik «weder von oben noch von unten konstituiert werden kann; weder aus den Begriffen noch aus der begrifflosen Erfahrung.»40 Die geschichtliche Konstellation fordert die Ästhetik heraus, einerseits den Zerfall der traditio‐ nellen ästhetischen Kategorien einzugestehen, sich aber anderseits nicht mit kunstkritischen Übungen einzelner Werke zu begnügen. Der geschichtlichen Situation der dreifachen Rechtfertigungskrise der Kunst hat eine Ästhetik sich zu stellen, sofern sie überhaupt philosophische Ästhetik bleiben will. Die gegenläufigen Alternativen haben sich deshalb der Theoriebildung mitzuteilen, indem sie die eigentliche Problemlage der Ästhetischen Theorie bilden. Vor dieser Problemlage fragt die Ästhetische Theorie also nach der Kunst. Die Ausgangslage verkompliziert sich aber noch mehr. Will die Ästhetische Theorie die Kunst als Rationalität in Gestalt ihrer Andersheit verstanden haben, so erweist sich die Problemlage als unauflöslich: «Der Ästhetik haftet der Makel an, daß sie mit ihren Begriffen hilflos hinter einer Situation der Kunst hertrabe, in der diese gleichgültig was aus ihr wird, an den Begriffen rüttelt, die kaum von ihr weggedacht werden können. Keine Theorie, auch nicht die ästhetische, kann des Elements von Allgemeinheit entraten. Das führt sie in
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Ibidem, S. 510; vgl. ibidem, S. 522 und S. 524. An dieser Stelle findet sich ein Satz, der als Umformulierung des Schlegel-Zitats gelesen werden kann. Die Umformulierung zielt dann offensichtlich nicht auf eine Ästhetisierung von Theorie, sondern auf ein dialektisches Verfahren von induktiver und deduktiver Methode der Ästhetik. Adornos Umformulierung lautet dort: «So wenig Ästhetik hinter der Kunst zurückbleiben darf, so wenig darf sie hinter der Philosophie zurückbleiben.» (Ibidem, S. 510.)
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Versuchung, Partei zu ergreifen für Invarianten von eben der Art, wie die emphatisch moderne Kunst sie attackieren muß.»41
Die Problemlage der Ästhetik ist also dahin zugespitzt, dass der Versuch, die Kunst theoretisch zu bestimmen, von der modernen Kunst, um die sich Adorno erst bemühen will, selbst immer schon untergraben wird. Die moderne Kunst verurteilt die Ästhetik zur theoretischen Unzulänglichkeit. Es wird ersichtlich worin die Tragweite liegt, die Kunst als Rationalität in Gestalt ihrer Andersheit zu verstehen. Die theoretische Arbeit einer Ästhetik sieht sich nicht einfach mit der Frage konfrontiert, wie mit rationalen Mitteln sich einem irrationalen Bereich theoretisch zu bemächtigen wäre. Die Lage der Ästhetik ist eine andere. Die theoretischen Bemühungen stehen nicht einfach dem irrationalen Bereich der Kunst gegenüber, der sich gleichgültig gegen die Theorie hält. Die theoretischen Bemühungen sollen gerade die Rationalität in der Gestalt einer Widerständigkeit gegen sich selbst zur theoretischen Aushandlung bringen. Die zentralen ästhetischen Begriffe, um die sich eine Ästhetik bemühen müsste, stellen sich widerspenstig gegen die Theorie, welche sie erst versucht zu fassen.42 Ein solches ästhetisches Grossprojekt, wie es die Ästhetische Theorie sein möchte, scheint also zum Scheitern verurteilt. Ein solches Projekt müsste konsequenterweise unter seinem eigenen Anspruch zurückbleiben, und zwar genau aufgrund der Probleme, die es selbst einbekennt. Und trotzdem hielt Adorno an seiner Möglichkeit und Dringlichkeit fest.43 III. Rechtfertigung der Ästhetik Genau in den Problemen der Ästhetik liegt für Adorno ihre Rechtfertigung. Ihre geschichtlichen wie auch theoretischen Schwierigkeiten fordern gerade nach einer Ästhetik, welche die Probleme in sich aufnimmt und reflektiert. Dies meint aber nicht einfach, dass eine aktuellere Ästhetik gefordert ist, da die älteren Ästhetiken von Entwicklungen innerhalb des Kunstbetriebs und seinen Erzeugnissen eingeholt wurden und als veraltet gelten. Es liegt ihr nicht daran, lediglich der Vollständigkeit halber den neuesten Entwicklungen der Kunst eine philosophische Rechtfertigung zu liefern, da diese von der älteren Ästhetik nicht mehr eingefangen werden können. Die Rechtfertigung liegt vielmehr in der spezifischen geschichtlichen Situation der dreifachen Rechtfertigungskrise der 41 42 43
Ibidem, S. 504. Vgl. ibidem, S. 170. Genau unter dieses Programm hat Adorno seine Ästhetik-Vorlesung von 1958/59 ge‐ stellt. In ihr soll die von der Zeit dringend geforderte Möglichkeit einer philosophischen Ästhetik dargetan werden. (Vgl. Adorno, ÄVL, S. 10.)
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Kunst begründet, durch welche die Ästhetische Theorie erst in ihre Problemlage gebracht wurde. Die Kunst fordert in der Situation ihrer Krise eine Ästhetik heraus, in der die traditionellen Kategorien in ihrer Unzulänglichkeit reflektiert werden. Mit dem dreifachen Verlust der Selbstverständlichkeit der Kunst liegt es einer Ästhetik eben nicht daran, einen etablierten Bereich der Kunst theoretisch auszumessen, sondern in ihrer Ungewissheit erst nach seiner Möglichkeit zu fragen. Erinnern wir uns daran, dass die Rechtfertigungskrise nicht nur das Selbstverständnis der Kunst betrifft, sondern auch ihren Ort im gesellschaftlichen Gefüge, wie überhaupt ihr Existenzrecht. Darin kehrt die Kunst nach Adorno gerade ihr kritisches Potential nach aussen. Und sie tut dies als Rationalität in Gestalt selbstkritischer Widerständigkeit. Diese kritische Wendung der Kunst verlangt daher nach einer philosophischen Untersuchung, durch welche die kritischen Potentiale der Kunst erst eingesehen werden und sich begrifflich zur Artikula‐ tion bringen. Damit verschiebt sich auch der Bewertungsmassstab der Kunst. Für Adorno bedeutet diese kritische Wendung, die Kunst primär nach ihrer Wahrheit zu befragen. Eine Ästhetik fragt deshalb nach dem Wahrheitsgehalt der Kunst. Die Ästhetische Theorie ist daher wesentlich eine Wahrheitsästhetik und keine Ästhetik des Schönen. Sie misst die Kunst an ihrem Wahrheitsgehalt. Philosophisch wird die Kunst durch ihren Wahrheitsgehalt. Dieser allein legitimiert nach Adorno überhaupt erst eine Ästhetik. So heisst es über den Wahrheitsgehalt in der Ästhetischen Theorie: «Der [Wahrheitsgehalt, W.A.] ist allein durch philosophische Reflexion zu gewinnen. Das, nichts anderes rechtfertigt Ästhetik.»44 Wäre die Kunst sich selbst in ihrer Stellung innerhalb der gesellschaftlichen Totalität und damit auch in ihrem Existenzrecht nicht problematisch, so hätte die Kunst eine Ästhetik, die die Kunst nach ihrer Wahr‐ heit befragt, gar nicht erst nötig. Ist die ästhetische Moderne aber gerade durch die dreifache Rechtfertigungskrise der Kunst bestimmt, so hat eine Ästhetik nicht einfach einen etablierten Bereich, wie kontrovers er in sich auch immer diskutiert sein mag, zu rechtfertigen, sondern sie hat den Bereich der Kunst in seiner Fragwürdigkeit anzunehmen. Die Rechtfertigung der Ästhetik liegt dabei gerade darin, dass die Kunst ihren Wahrheitsgehalt nicht selbst auszusprechen vermag, von dem gesagt wurde, dass er allein durch philosophische Reflexion zu gewinnen sei. Was zuvor in der immanenten Not der Ästhetik als begrifflose Erfahrung bezeichnet wurde, kann nun dahin gedeutet werden, dass es einer Ästhetik daran liegt, diese begrifflich aufzuschliessen, ohne sie aber einfach ins Feld des Begrifflichen zu übersetzen. Dass Kunst selbst philosophisch wurde,
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Adorno, ÄT, S. 193.
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heisst daher, dass sie aufgrund ihres Wahrheitsgehalts eine philosophische Deutung herausfordert. Die Kunst ist somit auf die Philosophie angewiesen. In der Kunst sind Potentiale angelegt, die von einer philosophischen Deutung zu artikulieren wären. Sowenig wie Theorie ästhetisch wird, meint auch das Phi‐ losophischwerden von Kunst nicht, dass Philosophie und Kunst sich angleichen, dass Kunst zur Philosophie wird oder die Philosophie zur Kunst. Die Konvergenz von Philosophie und Kunst liegt ja gerade nur in ihrem Wahrheitsgehalt, ohne dabei ineinander überzugehen. Ihre Differenz ist von einer Ästhetik aufrecht‐ zuerhalten, genauso wie die Kunst sich nicht einreden darf, selbst Philosophie zu sein. Philosophisch ist die Kunst, indem sie sich durch ihren Wahrheitsgehalt als philosophischer Gegenstand aufdrängt. Wie die Kunst ihren Wahrheitsgehalt selbst nicht ausspricht, so kehrt die Kunst als Gegenstand der philosophischen Untersuchung ihre Widerständigkeit entgegen. Die Ästhetik kann nicht einfach ihren Gegenstand positiv bestimmen. So heisst es von ihr: «Ihr Gegenstand bestimmt sich als unbestimmbar, negativ. Deshalb bedarf Kunst der Philosophie, die sie interpretiert, um zu sagen, was sie nicht sagen kann, während es doch nur von Kunst gesagt werden kann, indem sie es nicht sagt.»45
Eine Ästhetik hätte also der Negativität der Kunst insofern Rechnung zu tragen, als sie die Negativität ihres Gegenstandes nicht übergeht. Da er sich eben nicht positiv ausformulieren lässt, hat die Ästhetik die Kunst in ihrer Unbestimmbar‐ keit zu bestimmen. Dies wäre die Form, in der es eine Ästhetik vermag, sich der Kunst anzunehmen, ohne ihren theoretischen Anspruch zu opfern. Sie würde dann die Kunst nicht von oben her in vorgeformte Kategorien pressen. Ästhetik hätte den Wahrheitsgehalt der Kunst in seiner Widerständigkeit zu fassen. Eine solche Wahrheitsästhetik wird zu einer negativen Wahrheitsästhetik, indem sie um des Wahrheitsgehalts willen die Negativität ihres Gegenstandes respektiert: «Damit beugt Ästhetik sich dem, was ihr Gegenstand, gleich einem jeden, unmittelbar zunächst will. Jedes Kunstwerk bedarf, um ganz erfahren werden zu können, des Gedankens und damit der Philosophie, die nichts anderes ist als der Gedanke, der sich nicht abbremsen läßt.»46
Es scheint nun so, als bemühe sich die Ästhetische Theorie um die Deutung von Kunstwerken um ihres Wahrheitsgehalts willen. Ästhetik wäre dann Interpretation von Werken ihres Wahrheitsgehalts wegen. So hiess es ja, dass die Kunst der Philosophie bedarf, da sie von sich aus den Wahrheitsgehalt nicht
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Ibidem, S. 113. Ibidem, S. 391.
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auszusprechen vermag. Eine Ästhetik hätte dann gerade in der Negativität der Kunstwerke ihre Deutung vorzunehmen und diese Negativität zu artikulieren. Ästhetik wäre dann in der ästhetischen Moderne in Kunstkritik einzelner Werke übergegangen und damit gar keine Ästhetik mehr im Sinne einer Philosophie der Kunst. Wenn dem so wäre, dann hätte die Ästhetische Theorie sich die schlechte Alternative der Deutung einzelner Kunstwerke ausgesucht, ohne noch den Anspruch auf Allgemeinheit erheben zu können. Sie wäre dann vielmehr das, was man eine materiale Ästhetik nennen könnte, eine, die in je einzelnen Werken versucht in philosophischer Deutung den Wahrheitsgehalt zu fassen.47 Die Ästhetische Theorie erhebt aber weder den Anspruch, eine solche materiale Ästhetik zu sein, noch vollzieht sie eine solche. In dieser Weise, von der die Ästhetische Theorie selbst immer wieder von Ästhetik spricht, wäre sie selbst keine Ästhetik. Rechtfertigt der Wahrheitsgehalt der Kunst erst eine Ästhetik, so hätte sie sich aber zugleich auch davor zu hüten, wiederum in eine der fatalen Alternativen zu geraten, von der sie ausgegangen war und durch die hindurch sie sich erst legitimiert hat. Eine Ästhetik moderner Kunst hätte dann zwar ihre Dringlichkeit ausgewiesen, ihre Durchführung steht aber immer noch im Ungewissen. Die Ästhetische Theorie als eine Philosophie der Kunst muss daher in einer anderen Weise verstanden werden. IV. Theorie der Ästhetik Die Ästhetische Theorie ist keine Ästhetik, die sich in Werke vertieft, um ihren Wahrheitsgehalt aufzuschliessen. Ihr liegt es vielmehr daran, den in der dreifachen Rechtfertigungskrise befindlichen Bereich der Kunst in seiner Möglichkeit auszumessen. Dafür hätten sich die traditionellen ästhetischen Kategorien in ihrer Ungewissheit einer erneuten kritischen Reflexion zu stellen. Was die Ästhetische Theorie also selbst immer wieder von einer Ästhetik fordert und als ihre Rechtfertigung angibt, nämlich in Interpretationsarbeit den Wahrheitsgehalt aufzuschliessen, bringt sie nicht zur Durchführung. Ihr Programm gleicht vielmehr einer Ästhetik, die sich von oben her konstituiert, während sie eine Ästhetik von unten predigt. Liegt die Rechtfertigung der Ästhetik in der Konvergenz des Wahrheitsge‐ halts von Kunst und Philosophie, so löst die Ästhetische Theorie die damit ein‐ hergehende Forderung, sich in die Werke zu vertiefen, nicht ein. Die spärlichen
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Von einer materialen Ästhetik spricht Adorno in einer Fussnote in Bezug auf seinen Ver‐ such über Wagner. Dort ging es Adorno folgend gerade darum, die «autonomen, zumal die formalen Kategorien der Kunst gesellschaftlich und inhaltlich zum Sprechen» zu bringen. (Ibidem, S. 421.)
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und knappen Sätze zu einzelnen Kunstwerken mögen Belege dafür sein. Kaum können sie als das verstanden werden, was Adorno selbst von einer solchen materialen Ästhetik fordert und wie er sie selbst an anderen Stellen durchaus durchgeführt hat. Eine solche materiale Ästhetik würde es zwar vermögen über einzelne Kunstwerke oder über das Œuvre einer Künstlerin zu sprechen.48 Sind darin auch immer Erkenntnisse gewonnen, die die Kunst im Ganzen betreffen, sie vermögen den Bereich der Kunst nie in seiner Gänze auszumessen.49 Zwar wurde die Ästhetische Theorie in der dreifachen Rechtfertigungskrise der Kunst in die Lage zweier schlechten Alternativen gedrängt, doch sie ver‐ mochte sich zumindest darüber aufzuklären. Obwohl die Ästhetische Theorie ihre missliche Lage einbekennt, verwirft sie nicht einfach die Bemühungen um eine Ästhetik und mit ihr die ästhetischen Kategorien. Darin versteht sich die Ästhe‐ tische Theorie als eine Philosophie der Kunst im traditionellen Sinn, indem sie an ihren Kategorien festhält. Die Ästhetische Theorie hält aber den traditionellen ästhetischen Kategorien zugleich den kritischen Spiegel der modernen Kunst entgegen, die dadurch bestimmt wurde, dass sie sich widerständig gegen die begriffliche Festsetzung in Invarianten stellt. Ästhetik diktiert so der Kunst nicht mehr von oben her ihre Kategorien, sondern befragt kritisch die traditionellen Kategorien zum Zeitpunkt ihrer Krise. Die Rücksprache mit den Kunstwerken wird so zur Voraussetzung einer Ästhetik, wie sie die Ästhetische Theorie sein möchte. Dies macht Adorno in der Ästhetischen Theorie deutlich: «Unabdingbar setzt Ästhetik die Versenkung ins einzelne Werk voraus.»50 Was sie als Voraus‐ setzung hat, führt sie aber selbst nicht durch. Mögen diese Voraussetzungen an anderer Stelle geleistet sein, in der Ästhetischen Theorie finden sie nur noch in verkürzten und thesenhaften Sätzen Eingang.
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Im Gegensatz zu den zahlreichen Texten zu einzelnen Werken und Künstlerinnen, kann in der Ästhetischen Theorie nicht mehr von einer materialen Auseinandersetzung mit einzelnen Werken die Rede sein. Dass Adorno im Besonderen die Musik als Ausgang genommen hat, um über die Kunst im Ganzen nachzudenken, ist von ihm selbst offen ausgesprochen. So heisst es etwa in einer Notiz aus den Beethoven-Fragmenten: «Vielleicht ist der strenge und reine Begriff von Kunst überhaupt nur der Musik zu entnehmen […].» (Adorno, BPM, S 26.) Auffällig sind auch die vielen schleichenden Verschiebungen in Adornos Texten, die zunächst von Musik oder anderen einzelnen Gattungen handeln, dann aber fortlaufend sich zu Sätzen über die Kunst im Ganzen wandeln. So etwa im Schönberg-Kapitel in der Philosophie der neuen Musik, besonders aber in Kriterien der neuen Musik (vgl. Theodor W. Adorno, Kriterien der neuen Musik (= GS 16), Frankfurt am Main 2003, S. 182ff.) und im Fragment über Musik und Sprache (vgl. Theodor W. Adorno, Fragment über Musik und Sprache (= GS 16), Frankfurt am Main 2003, S. 254). Adorno, ÄT, S. 268.
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Die Aushandlung des Möglichkeitsraums von Kunst in jener geschichtlichen Situation, in der die Kunst selbst in dreifacher Weise fragwürdig geworden ist, wird in der Ästhetischen Theorie unter der Voraussetzung der philosophischen Deutung moderner Kunstwerke vollzogen. Der Unterschied zwischen einer materialen Ästhetik und dem Projekt einer Ästhetischen Theorie wird daher in der Ästhetischen Theorie selbst ausgehandelt. Sie klärt sich also in ihrer misslichen Lage zwischen den zwei schlechten Alternativen auch über sich selbst auf. Wird die Ästhetische Theorie in dieser Weise verstanden, so wird auch ersichtlich, warum sich Adorno vermeintlich nicht auf die Kunstproduktionen der 1950er und 1960er Jahre bezieht. Die Ästhetische Theorie versucht ja gerade nicht, das Kunstgeschehen dieser Zeit theoretisch einzufangen.51 Ihr Ansatz ist ein anderer. Sie setzt dort an, wo die Kunst durch ihre Krise ihr kritisches Potential als Rationalität in Gestalt ihrer Andersheit hervorkehrt und wendet dieses kritische Potential zurück auf die ästhetischen Kategorien. Der Titel einer Ästhetischen Theorie ist daher in anderer Weise zu verstehen. Er ist nicht als ein Hinweis dafür zu nehmen, dass es sich um eine ästhetisch verfasste Theorie, noch, dass es sich um eine traditionelle oder eine materiale Ästhetik handelt. Weder wird Theorie selbst zum Ästhetischen noch schlägt sich die Theorie auf eine Seite der schlechten Alternativen. Nimmt man den Anspruch der Ästhetischen Theorie ernst, so wäre eine weitere Deutung vorzuschlagen. In diesem Vorschlag ist das Projekt der Ästhetischen Theorie vielmehr das einer Theorie, die den Möglichkeitsraum und die Kategorien nicht nur der Kunst, sondern auch einer materialen Ästhetik ausmisst. In der Ästhetik-Vorlesung von 1958/59 spricht Adorno analog zur Physik von Grundlagenforschung, die angesichts der Ungewissheit sämtlicher materiellen und theoretischen Bedingungen für den Bereich der Kunst ihre Dringlichkeit anmeldet. Durchzuführen wären sie «von Menschen […], die sich einbilden, etwas von Kunst und von Theorie zu verstehen».52 Daher lässt sich die Ästhetische Theorie als eine Theorie der Ästhetik ver‐ stehen. Führte die Doppeldeutigkeit des Titels einer Ästhetischen Theorie noch in die Irre, so lässt sich in der Umformulierung zu einer Theorie der Ästhetik eine neue Doppeldeutigkeit gewinnen, die dem Gehalt der Ästhetischen Theorie näherkommt. Ästhetische Theorie als Theorie der Ästhetik ist dann eine Theorie, die sowohl den Bereich des Ästhetischen zum Gegenstand hat als sich auch durch den Bereich des Ästhetischen, nämlich mit den Kunstwerken selbst formuliert. In einer solchen Theorie würde es erst ausstehen, in kritischer 51 52
Es ist kaum zu übersehen, dass Adorno wesentliche Strömungen und Formen der Kunst unbehandelt lässt. So ist etwa in keinem einzigen Text die Rede von Readymades. Adorno, ÄVL, S. 24.
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Reflexion der ästhetischen Kategorien und Begriffe die Möglichkeit von Kunst auszuformulieren. V. Begriff des Kunstwerks Wird Ästhetische Theorie so verstanden, so kommt dem Kunstwerkbegriff, da er in eigentümlicher Weise in die Problemlage der Ästhetischen Theorie verwickelt ist, eine besondere Stellung zu. Ein Kunstwerkbegriff, der sich mit der Kunst in der dreifachen Rechtfertigungskrise befindet, ist von der damit verbundenen Problemlage nicht ausgenommen. Bemüht sich die Ästhetische Theorie um einen Kunstwerkbegriff, so müsste auch von ihm gelten, dass er der Kunst nicht von oben her diktiert wird. Und ebenso gilt für ihn, dass seine Konzeption die kritische Reflexion der modernen Kunst in sich aufnehmen muss. Der Begriff des Kunstwerks erhält daher in der Ästhetischen Theorie eine ambivalente Rolle. Einerseits muss er sich genauso der kritischen Prüfung moderner Kunst stellen wie schon alle anderen ästhetischen Begriffe und Kategorien, anderseits benennt der Kunstwerkbegriff aber genau diejenige Instanz, nämlich das Kunstwerk, von der die Theorie dauernd in Frage gestellt wird. Ein solcher Kunstwerkbegriff hätte also auch jenes Moment in sich aufzunehmen, das ihn selbst fortwährend in Frage stellt. Trotz diesen Schwierigkeiten hält Adorno aber an einem Kunstwerkbegriff fest, von dem eigentlich schon in den 1960er Jahren behauptet wurde, dass seine Werkform sich im Zerfall befinde; wie zweifelhaft es auch erscheinen mag, ob es ein solches Werkideal in der Kunst jemals wirklich gab.53 Daher macht etwa Bubner den Vorschlag, in seiner Abrechnung mit den nachidealistischen Ästhetiken, den Werkbegriff überhaupt zu verwerfen. Mit der modernen Kunst und ihrer Emanzipationsbewegung machen sich Tendenzen breit, die auf die Überwindung der Werkeinheit des klassischen Kunstwerkbegriffs zielen. Eine Ästhetik, die einfach über die Krise des Werkbegriffs hinwegschaut, macht sich nach Bubner für einen wesentlichen Zug der ästhetischen Moderne blind. Äs‐ thetiken, die einen unveränderten Werkbegriff unterstellen oder gar emphatisch hervorheben, seien daher wenig geeignet, die gegenwärtige Kunst begrifflich einzufangen.54 Mit Blick auf die Nachkriegskunst scheint daher die Abwendung vom Kunstwerkbegriff und dessen Ersetzung durch andere Begriffe, etwa jenen der ästhetischen Erfahrung, theoretisch erforderlich.
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Vgl. Hans Belting, Der Werkbegriff der künstlerischen Moderne, München 2004. Vgl. Rüdiger Bubner, Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik, Frankfurt am Main 1989, S. 33f.
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Den Kunstwerkbegriff zu verwerfen würde das Projekt einer Ästhetischen Theorie untergraben, denn mit diesem steht ebenso das werkzentrierte Interpre‐ tieren und Verstehen in der Krise.55 Ohne einen angemessenen Kunstwerkbegriff lässt sich schwerlich noch von einem Wahrheitsgehalt sprechen, der nach einer philosophischen Deutung der Werke fragt. Ohne einen Kunstwerkbegriff geht daher auch die Rechtfertigung einer Ästhetik verloren. Mit dem Kunstwerkbe‐ griff geht der Wahrheitsgehalt der Werke verloren, so wie es dann auch keiner philosophischen Ästhetik mehr bedarf, die ihn zu fassen versucht. Für einen Kunstwerkbegriff gilt es in einem solchen Vorhaben, wie es die Ästhetische Theorie darstellt, in ihrer dreifachen Rechtfertigungskrise seine Möglichkeit auszuloten. Zu zeigen wäre, dass ein Kunstwerk unter den Bedin‐ gungen ihrer dreifachen Ungewissheit überhaupt möglich ist. Die Frage nach dem Kunstwerk wird so zur Frage nach der Möglichkeit von Kunstwerken. Sie hätte dabei das einzulösen, was Adorno von der Kunst behauptet, nämlich dass sie Rationalität in Gestalt ihrer Andersheit, dass sie rationaler Widerstand gegen die Rationalität sei. Die Ausformulierung eines Kunstwerkbegriffs würde dann bedeuten klarzumachen, wie sie die dreifache Rechtfertigungskrise zu bewältigen vermag, ohne dabei den Eigensinn der Kunst preiszugeben. Es geht Adorno also nicht darum, die gegenwärtige Kunst auf den Begriff zu bringen. Ihm geht es um einen Begriff der Kunst und des Kunstwerks, von dem seit der Moderne im Modus der Krise gesprochen werden muss, und zwar weil, wie es an anderer Stelle heisst, «die Kündigung der Kunst durch die Kunst […] eins ist mit der Idee von Kunst.»56 Fragt Adorno in der Ästhetischen Theorie nach der Möglichkeit von Kunst und Kunstwerken, so ist weder die gegenwärtige Kunst noch eine Theorietradition ihr Massstab. Die Kunst hätte sich selbst den Massstab zu geben. Demzufolge nimmt der Kunstwerkbegriff in der Ästhetischen Theorie eine entscheidende Rolle ein. Indem vom Kunstwerk ein Wahrheitsgehalt behauptet wird, der eine philosophische Ästhetik erst rechtfertigt, hängt an der Möglich‐ keit des Kunstwerks ebenso der Wahrheitsgehalt ab. Nur verwirklicht, das heisst als Kunstwerk, kann der Wahrheitsgehalt gedeutet werden. Die Ästhetische Theorie legitimiert sich aber nicht einfach selbst, indem sie einen Kunstwerkbe‐ griff voraussetzt, von dem sie abhängt und durch den sie ihre Rechtfertigung
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Vgl. Karlheinz Stierle, Ästhetische Rationalität. Kunstwerk und Werkbegriff, München 1997, S. 18f. Theodor W. Adorno und Hans Mayer, Über Spätstil in Musik und Literatur. Ein Rund‐ funkgespräch (= Frankfurter Adorno Blätter 7), München 2001, S. 144. Adorno spricht an jener Stelle zwar vom Spätstil, allerdings lässt sich die Aussage, wie sich noch zeigen wird, durchaus für die Ästhetische Theorie in Dienst nehmen.
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erhält. Der Kunstwerkbegriff wird in der Ästhetischen Theorie nicht einfach vorweggenommen. Fragt die Ästhetische Theorie nach der Möglichkeit von Kunst in ihrer dreifachen Rechtfertigungskrise, so fragt sie nach der Möglichkeit ihrer Verwirklichung im Kunstwerk. So ungewiss wie die Kunst, so ungewiss ist auch das Kunstwerk. Die Möglichkeit von Kunstwerken wäre also erst in einer Ästhetischen Theorie durchzudenken. Vom Kunstwerk wird daher nicht einfach gesagt, wie es ist, sondern es wird in seiner prekären Lage erst der Prüfung unterzogen, wie es denn überhaupt sein könnte.
3 Produktion Nach der Möglichkeit des Kunstwerks zu fragen, heisst zuerst nach der Mög‐ lichkeit seiner Produktion zu fragen. Das Kunstwerk ist stets ein Gemachtes und als ein Gemachtes muss das Kunstwerk erst hergestellt werden. Die Möglichkeit des Kunstwerks hat deshalb ihre erste Bedingung in der Produktion. Das Kunstwerk ist aber nicht einfach irgendein Gemachtes. In ihrer dreifachen Rechtfertigungskrise bringt die Kunst ihre Produkte erst in eine ganz bestimmte Lage, die es zunächst zu erörtern gilt. Die Beschreibung dieser bestimmten Lage verortet das Kunstwerk im Gefüge menschlicher Produkte und weist damit den Unterschied zu anderem Gemachtem aus. Adornos Rede vom Doppelcharakter bringt diese spezifische Lage des Kunstwerks zum Ausdruck. Daher werden im Folgenden zuerst die zwei Seiten des Doppelcharakters besprochen: die Autonomie und die Gesellschaft. Ist die eigentümliche Lage des Kunstwerks im Gefüge menschlicher Produkte beschrieben, so sind damit die eigentlichen Bedingungen der Kunstproduktion aber dennoch nicht vollständig erarbeitet, denn zur Produktion von Kunst‐ werken gehört ebenso die spezifische Form ihrer Arbeit und ihres Materials. Erst wenn die spezifisch künstlerische Arbeit und das spezifisch künstlerische Material es auch vermögen, ihre Werke als spezifisch künstlerische Produkte hervorzubringen, kann die Möglichkeit des Kunstwerks nachvollzogen werden. Daher gilt es, im Anschluss an den Doppelcharakter die künstlerische Arbeit und das künstlerische Material in den Blick zu nehmen.
3.1 Autonomie I. Unabhängigkeit und Eigengesetzlichkeit Die eigentümliche Lage des Kunstwerks im Gefüge menschlicher Produkte zu fassen, heisst, das Kunstwerk nach seinem Ort zu befragen. Das Kunstwerk nach seinem Ort zu befragen meint dabei, dass das Kunstwerk darin bestimmt wird, worin es sich von anderen Artefakten menschlicher Tätigkeit unterscheidet. Die Antwort auf diese Frage lässt das Kunstwerk verorten. Es lässt sich als Produkt künstlerischer Tätigkeit von anderen Erzeugnissen produktiver Arbeit als Kunstwerk unterscheiden. Diese Bestimmung soll dem Kunstwerk seinen Ort zuweisen, insofern damit das «wo» geklärt werden soll, in das sich das
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Kunstwerk als Seiendes einschreibt. Dieser Ort ist nach Adorno für das authenti‐ sche Kunstwerk als autonomer Bereich zu bestimmen. Als Autonomes bestimmt sich das Kunstwerk gegen gesellschaftliche Funktionalisierung und dessen Verwertbarkeit. Das autonome Kunstwerk ist funktionslos und damit nutzlos. Die Frage nach der Autonomie des Kunstwerks unterscheidet sich folglich von der Frage nach der Autonomie der Künstlerin, der Autonomie ästhetischer Erfahrung ebenso wie von der Frage nach der Autonomie des Kunstsystems und dessen Institutionen. Dagegen soll hier die These der Autonomie der Kunst in der Ästhetischen Theorie dahingehend verstanden werden, dass sie den Bereich der Kunst durch die in künstlerischer Tätigkeit hergestellten Kunstwerke begreift. Diese Form künstlerischer Tätigkeit bringt in ihren Produkten, den Kunstwerken, erst den autonomen Bereich der Kunst hervor. Dieser autonome Bereich folgt seiner Eigenlogik und lässt sich als solcher nicht von ausserkünstlerischen Zugriffen bestimmen, leiten oder verstehen. Dies kann in zweierlei Hinsicht verstanden werden: Erstens besagt die Au‐ tonomie der Kunst, dass sich ihre Erzeugnisse nicht in ausserästhetischen Funktionszusammenhängen befinden und zweitens, dass sie in ihrer Logik nur ihrer Eigengesetzlichkeit Folge zu leisten hat. Die These der Autonomie der Kunst als der Ort des Kunstwerks hat demnach zwei Seiten. Sie ist die Autonomie gegenüber dem Ausserkünstlerischen, die Beschreibung der Beziehungslosig‐ keit gegen aussen. Ebenso ist sie die Autonomie ihrer inneren Durchbildung, ihrer Beziehung gegen innen. Die Autonomie der Kunst versteht sich demnach als ihre Unabhängigkeit sowie als ihre Eigengesetzlichkeit. Soll das Kunstwerk seinen Ort als autonomes einnehmen, so ist dies zunächst in seiner historischen Entwicklung zu erörtern. Das Kunstwerk als autonomes ist in der Geschichte der Kunst ein Spät-Gewordenes und ebenso darin ein Unge‐ wisses.57 Die Bestimmung seines geschichtlichen Ortes zeigt darin auch die Krise der Kunst an. Die geschichtliche Entwicklung hin zur Frage nach der Autonomie der Kunst ist für Adorno die Frage nach der geschichtsphilosophischen Kate‐ gorie der Tradition im Zuge ihrer Auflösung durch Rationalisierungsprozesse und der damit einhergehenden Herausbildung autonomer Geltungsbereiche. II. Tradition und Rationalität Weist die Ästhetische Theorie ihren geschichtlichen Ausgangspunkt mit den «re‐ volutionären Kunstbewegungen um 1910»58 aus, so erweist sich die Frage nach der Bestimmung ihres geschichtlichen Ortes als weitaus komplizierter, als es 57 58
Vgl. Adorno, ÄT, S. 9ff. Ibidem, S. 9.
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an dieser Stelle abzulesen wäre. Vielmehr liegt diesem Ausgangspunkt der Ästhetischen Theorie ein Vorbote zugrunde, der den Horizont moderner Kunst erst eröffnet. Diese grundlegende Aushandlung lässt sich mit dem Übergang von Tradition und Rationalität als Modi gesellschaftlicher Vermittlungslogiken und deren Verhältnis zueinander bezeichnen. Der Name für diese Problem‐ stellung ist die Moderne. Ihr geschichtlicher Ort liegt bekanntermassen im 19. Jahrhundert, ihre gesellschaftliche Entsprechung im Übergang von einer feudalen Gesellschaftsordnung zu einer bürgerlichen Form der Organisation gesellschaftlicher Verhältnisse. Insofern zeichnet sich bei Adorno das moderne Kunstwerk als autonomes aus. Wurde der Umstand festgehalten, dass die Ästhetische Theorie eine Ästhetik moderner Kunst sein soll, die aber ihren Ausgangspunkt explizit an den Anfang des 20. Jahrhunderts setzt, so sehen wir uns mit der Merkwürdigkeit konfrontiert, in geschichtlicher Linie dem langen 19. Jahrhundert seine Bestimmung zu geben. Auch wenn sich aus Adornos Schriften keine klare geschichtliche Linie rekonstruieren lässt, so lässt sich zumindest eine logische Folge geschichtlicher Grundbedingungen ausmachen, anhand derer die Problematik und Verständlichkeit der Autonomie ersichtlich wird.59 Die Aushandlung der geschichtlichen Situation moderner Kunst findet sich also in der Bestimmung des Verhältnisses von Tradition und Rationalität. Die formale Bestimmung der Tradition ist ihrer etymologischen Herkunft nach die der Weitergabe.60 Ihr Medium ist die «vorgegebene, unreflektierte Verbindlichkeit sozialer Formen, die Gegenwart des Vergangenen».61 Damit steht, wie Adorno Max Weber und Werner Sombart folgend festhält, Tradi‐ tion im Widerspruch zur Rationalität, ist mit ihr unvereinbar.62 Vielmehr ist Rationalität gerade die Absage an die Form traditionaler Kontinuität. Ist das Prinzip der Tradition die Weitergabe von Glied zu Glied, Form geschichtlicher Kontinuität, so ist es für die Rationalität jenes des Tausches von Äquivalenten.63 59
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Werckmeister skizziert Adornos geschichtliche Linie wie folgt: «Nach seinem sche‐ matischen Geschichtskonzept geht der bürgerlichen Phase, historisch vage, eine ‹feu‐ dale› voraus, dieser eine nur noch begriffliche ‹mystische›, die ihrerseits an eine ‹ma‐ gische› Phase grenzt, ohne deutlich von ihr unterschieden zu sein.» (Werckmeister, Das Kunstwerk als Negation, op. cit., S. 13). Zum Überblick der verschiedenen Traditionsbegriffe vgl. etwa Aleida Assmann, Zeit und Tradition. Kulturelle Strategien der Dauer, Köln 1999, S. 63ff. Theodor W. Adorno, Über Tradition (= GS 10.1), Frankfurt am Main 2003, S. 310. Vgl. Adorno, ÄT, S. 38. An anderer Stelle hält Adorno bereits fest, dass «wesentlich Tradition – nach Sombart und Max Webers Lehre ein Vorbürgerliches, essentiell unver‐ einbar mit bürgerlicher Rationalität» sei. (Theodor W. Adorno, Theorie der Halbbildung (= GS 8), Frankfurt am Main 2003, S. 105.) Adornos Verweis auf Werner Sombart macht an dieser Stelle ersichtlich, inwiefern das Verhältnis von Tradition und Rationalität in der Gegenüberstellung des vermeintlich
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Als solches lässt sich das Verhältnis, das es zu erläutern gilt, auf folgende Formel bringen: Tradition wird nicht wie in einer Kette einer Epochenfolge von der Moderne abgelöst, sondern Rationalität verneint die Tradition und ihre Logik der Weitergabe von Glied zu Glied als Ganzes. Der Übergang vom Feudalismus zur bürgerlichen Gesellschaft vollzieht sich als der Übergang von Tradition hin zu Rationalität als grundlegender Organisationsstruktur gesellschaftlicher Verhältnisse. Dieser Übergang meint jenen Prozess, den Max Weber mit dem Begriff der Entzauberung der Welt beschreibt. Die Entzauberung der Welt besagt nach Weber, dass die Verstehbar‐ keit der Lebensbedingungen jederzeit möglich wäre, dass diese sich prinzipiell berechnen und beherrschen lassen. Die magischen Mittel zur Einflussnahme auf verbogene Mächte und Geister wurden ersetzt durch den berechnenden und beherrschenden Blick rationaler Verstehbarkeit. Mit der Entzauberung der Welt meint Weber demnach die im Prozess der Rationalisierung liegende Tendenz, in welcher die Ordnung der Lebensbedingungen uns im Versuch ihrer Verstehbarkeit erscheinen.64 Adorno sieht das Eigentliche der Entzauberung der Welt gerade in dieser Tendenz der Rationalität, die darin besteht, sich auf sämtliche Bereiche der Gesellschaft auszuweiten und sie damit beherrschbar macht.65 Ist dieser Prozess für Adorno damit weitgehend als fortschreitende Naturbeherrschung im Sinne der Dialektik der Aufklärung zu verstehen, so liegt ihm auf geschichtlicher Ebene ein Bruch zugrunde. Dieser Bruch steht systematisch an jener Stelle, an der das für die Macht des Bürgertums eingesetzte Instrument der Naturbeherrschung sich zu einer Form von Herrschaft etabliert und sich letztendlich gegen sich selbst wendet.66
64 65 66
traditionslosen nordamerikanischen Kontinents mit Europa zu verstehen ist. (vgl. Adorno, Über Tradition, op. cit., S. 310f.) So heisst es bei Sombart: «Die Vereinigten Staaten von Amerika sind für den Kapitalismus Kanaan: Das Land der Verheißung. […] [W]ie in einem bewußten Vorbereitungsdienst sind jahrhundertelang die Männer gebildet worden, die nun in den letzten Menschenaltern bestimmt waren, dem Kapi‐ talismus in den Urwald hinein die Wege zu ebnen. ‹Mit Europa fertig› waren sie hinübergezogen in die ‹neue Welt›, mit dem Willen, sich ein neues Leben aus rein rationalen Elementen zurecht zu zimmern: sie hatten allen Ballast europäischen Wesens in der alten Heimat gelassen, alle überflüssige Romantik und Sentimentalität, alles feudal-handwerkliche Wesen, allen ‹Traditionalismus› und hatten nur mit hinüber ge‐ nommen, was der Entfaltung kapitalistischer Wirtschaft förderlich und dienstlich war […].» (Werner Sombart, Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus?, Tübingen 1906, S. 7f.) Vgl. Max Weber, Wissenschaft als Beruf (= Max Weber-Gesamtausgabe I/17), Tübingen 1992, S. 86f. Vgl. Theodor W. Adorno, Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft (1964) (= NaS IV/12), Frankfurt am Main 2008, S. 18. Vgl. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, DA, S. 112.
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Tradition und Rationalität verstehen sich also demnach als sich gegenseitig ausschliessende Prinzipien. Zwar erwächst Rationalität in traditionalen Verhält‐ nissen, wendet sich aber in ihrer Konsequenz gegen sie.67 Rationalität wendet sich gegen Tradition in Form der Negation. Negation an Tradition ist sie gerade darin, dass sie die grundlegende Bestimmung der Tradition, der «Gegenwart des Vergangenen», ihren zeitlichen Sinn der Weitergabe von Wissen, Eigentum und Macht als Generationenzusammenhang sprengt und auflöst. Dieser Verlust an zeitlicher Kontinuität, für welchen die Tradition steht, hat auf gesellschaftlicher Ebene ihren Grund im Prinzip des Tausches von Äquivalenten. Denn für Adorno besagt der Tausch von Äquivalenten, dass sich Gleiches gegen Gleiches in Rechnung stellt und in diesem restlos aufgeht. Sein Sinn ist die mathematische Gleichung, die keinen Rest kennt. Im Tauschprinzip gibt es keine Zeit. Da jegliches von einem anderen gleichgesetzt wird, ist in ihm ein Werden als Grund von Zeitlichkeit nicht gegeben. Es kennt nur die Gleichzeitigkeit der Gleichung. Somit ist auch jeder Akt, der sich nach dem Prinzip des Tausches von Äquivalenten vollzieht, selbst als zeitlos zu verstehen.68 Dies hat für die Produktionsbedingungen und Verfahren weitreichende Konsequenzen: «Mit dem Gegensatz von feudalem Traditionalismus zu radikaler bürgerlicher Ratio‐ nalität wird am Ende Erinnerung, Zeit, Gedächtnis von der fortschreitenden bürger‐ lichen Gesellschaft als irrationale Hypothek liquidiert im Gefolge der fortschreitenden Rationalisierung der industriellen Produktionsverfahren, die mit anderen Rudimenten des Handwerklichen auch Kategorien wie die der Lehrzeit reduziert, das Muster qualitativer, aufgespeicherter Erfahrung, deren es kaum mehr bedarf.»69
Somit zeigt sich die Auflösung zeitlicher Kontinuität ebenso auf der Ebene der Produktion. Haben Produktionsprozesse stets Dauer, so sind sie aufgrund ihrer Logik des Tausches von Äquivalenten zeitlos: «Aus der industriellen Produktion verschwindet denn auch die konkrete Zeit.»70 Was bleibt, sind in Zyklen orga‐ nisierte repetitive Produktionsmuster immer gleicher Erzeugnisse, die sich darin gegen die traditionale Kontinuität der Weitergabe stellen. Ihre Logik besteht in der wiederholenden, gleichförmigen Produktion hin zur Statik. Auf der Ebene der Produktion zeigt sich der Übergang von der Tradition zur Rationalität als jener von der handwerklichen Produktion hin zu technischen Verfahren indus‐ trieller Produktion. Und dies gilt ebenso für die künstlerischen Bedingungen 67 68 69 70
Vgl. Adorno, Über Tradition, op. cit., S. 310. Vgl. Theodor W. Adorno, Über Statik und Dynamik als soziologische Kategorien (= GS 8), Frankfurt am Main 2003, S. 230. Ibidem, S. 230f. Ibidem, S. 230.
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der Produktion: «Längst hat die Technik die Hand, die sie schuf und die sich in ihr verlängert, vergessen lassen. Angesichts der technischen Produktionsweisen ist Handwerk so wenig mehr substantiell, wie etwa der Begriff der handwerk‐ lichen Lehre noch gilt, die für Tradition, und gerade auch die ästhetische, sorgte.»71 In diesem Sinne kann der in der Ästhetischen Theorie formulierte Widerspruch «handwerklich-traditionaler Anweisungen» und «Metier in der Moderne» verstanden werden.72 Seinen Grund hat er in der Unvereinbarkeit von Tradition und bürgerlicher Gesellschaftsordnung und ihrer grundlegenden Veränderung der zeitlichen Struktur. Ist also ihre untergründige Bewegung der These der Dialektik der Aufklärung geschuldet, so zeigt sich ihr geschichtlicher Umschlag auf der Ebene der gesell‐ schaftlichen Organisation, in der Frage nach ihrer Herrschaftsform und mit ihr in der Frage nach der Legitimierung von Herrschaft. Hier schliesst sich demnach der Feststellung der These der Entzauberung der Welt eine zweite Überle‐ gung Webers an. Es stellt sich die Frage der Herrschaftsform, wie sie Weber in seiner Herrschaftstypologie darlegte. In der Etablierung der bürgerlichen Gesellschaftsform formieren sich demnach also die Legitimierungsvorgänge neu, zugunsten eines «Glaubens an die Legalität gesatzter Ordnung» gegen den «Alltagsglauben an die Heiligkeit von jeher geltender Traditionen».73 Ihre Grundlage ist die Etablierung der Rationalität in Form des Prinzips äquivalenter Tauschverhältnisse. Darin begründet sich ebenso ihre Unvereinbarkeit mit der Tradition. Schlägt die Rationalisierung in Herrschaft um, so ist sie nicht nur eine andere Form gesellschaftlicher Organisation, sondern die Verneinung von Tradition als solcher. Ihr Wesentliches ist antitraditionalistisch. Stellt sich für Adorno die Frage nach der Tradition in der Ästhetischen Theorie, so lässt sie sich im Hinblick auf die Kunst in zwei Richtungen verstehen. Erstens lässt sich nach der Tendenz der Rationalisierung autonomer Geltungs‐ bereiche fragen und zweitens nach dem neuen Verhältnis zur verlorenen Tradition. Die mit Weber und Sombart beschriebenen gesellschaftlichen und ökonomischen Veränderungen wirken sich unweigerlich auf den Begriff der Tradition aus: «Tradition als Medium geschichtlicher Bewegung hängt in ihrer Beschaffenheit von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen ab und verändert mit ihnen sich qualitativ.»74 Dies bestimmt also den Begriff der
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Adorno, Über Tradition, op. cit., S. 310. Adorno, ÄT, S. 71. Für die Behandlung des Begriffs «Metier» siehe Kapitel 3.3 in dieser Arbeit. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie (Unvollendet 1919–1920) (= Max Weber-Gesamtausgabe I/23), Tübingen 2013, S. 453. Adorno, ÄT, S. 38.
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Tradition in einer nicht traditionalistischen Gesellschaft neu. Damit aber ist auch für die Kunst, selbst Teil gesellschaftlicher Praxis, ihr eigener Begriff der Tradition mitgedacht. Greifen die veränderten Vorzeichen gesellschaftlicher Verhältnisse – «wozu die Realität sich auswuchs»75 – in die grundlegende Bestimmung dessen ein, was Kunst ist, so hat sie sich damit qualitativ verändert. Wäre Kunst im traditionellen Sinne noch gestützt von einem Kanon verbindli‐ cher Formen und Kategorien, so bricht mit dem Begriff der Tradition ebenso ihre Verbindlichkeit zusammen. Die Verbindlichkeit traditional geformter Au‐ torität weicht damit der durch die Etablierung bürgerlicher Gesellschaft ein‐ geführten Logik rationaler Legitimierungsstrukturen. Versteht sich diese in ihrer Gesamtheit als ein Funktionszusammenhang, so verliert die Kunst als funktionslose ihren gesellschaftlichen Grund. Dies spricht sich im Verlust der Selbstverständlichkeit der Kunst als Rechtfertigungskrise aus. Was also als die Möglichkeit autonomer Kunst als eigenen Geltungsbereich schafft, bringt zugleich auch seine Krise hervor. Bedingung des autonomen Kunstwerks ist die bürgerliche Gesellschaft in ihren Produktionsbedingungen. Die Befreiung der Werkproduktion von kunstfremden Funktionszusammenhängen bringt aufgrund ihrer grundlegenden geschichtlichen Bewegung die Auflösung der Verbindlichkeitsformen künstlerischer Verstehensprozesse und künstlerischer Handlungsanleitungen. Für Adorno beantwortet sich also die Frage nach der Autonomie der Kunst nicht allein mit der Rationalisierungstendenz, durch die sämtliche Geltungsbereiche des gesellschaftlichen Lebens sich in unabhängige und selbstregulierende Sphären aufteilen. Was als Befreiung der Kunst von ihr fremden Funktionszusammenhängen verstanden werden kann, eröffnet erst die Frage nach der Bestimmung ihrer Autonomie. Sind mit dem Verfall verbindlicher Formen der Tradition ebenso jene der Kunst selbst angegriffen, so weiss sie selbst nicht, wogegen sie sich zu behaupten hätte. Mit ihr sind auch ihre schlechten Alternativen mitgegeben, «falsche Tradition»76 als Substitute für das schlechte Gewissen der bürgerlichen Gesellschaft. Damit weisen sich die gesellschaftlichen Verhältnisse im Lichte der von Weber beschriebenen Rationalisierungsprozesse in einem neuen begrifflichen Rahmen aus. Die eigentliche Wendung zum autonomen Kunstwerk ist damit aber weder einfach gegeben noch ausgesprochen. Weiss die Kunst im Zuge ihrer eigenen Rechtfertigungskrise weder ex nihilo sich einen Begriff zu geben, so kann sie noch weniger in der Befreiung von ihr fremden Funktionszu‐ sammenhängen ihre Rechtfertigung aus sich ziehen. Dies gerade besagt die
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Ibidem, S. 10. Adorno, Über Tradition, op. cit., S. 313.
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Rechtfertigungskrise. Wäre mit der Rationalisierung und Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Geltungsbereiche auch für die Kunst ihr Bereich bestimmt und gerechtfertigt, so wäre jegliche Rede einer Rechtfertigungskrise der Kunst überflüssig. Adornos These besagt aber, dass die Kunst im Zuge von Ratio‐ nalisierungsprozessen der Gesellschaft zu ihrer Funktionslosigkeit entkleidet wurde. Damit wird das Kunstwerk als solches asozial, denn es findet im gesellschaftlichen Funktionszusammenhang keinen Ort. Dies bringt die Kunst zu ihrer Autonomie, formuliert sie aber damit nicht aus. Haben Tradition und Rationalität den Rahmen für das autonome Kunstwerk bestimmt, so vermag allein die Veränderung der Kategorie der Tradition in einer wesentlich nicht‐ traditionalistischen Gesellschaft nicht von sich aus die Kunst zur Autonomie zu bringen.77 Den Vollzug der Autonomie der Kunst hat diese selbst zu leisten. Die Operation des Kunstwerks als autonomes ist erst in der Aushandlung seiner Autonomie gegen sein heteronomes zu beschreiben. III. Baudelaire und Warenwelt Für die Formulierung der Autonomie der Kunst braucht es eine spezifische Form künstlerischer Praxis. Hierfür steht bei Adorno wesentlich Charles Bau‐ delaire.78 Für Adorno ist Baudelaire der literarische «Prototyp der Moderne»79, an welchem sich die Überführung der Kunst zu einer autonomen aufzeigen lässt. Die eigentliche Wendung, die Adorno mit Baudelaire in Zusammenhang bringt, findet sich bereits in einem kurzen Text zu Alban Bergs Wein-Arie. So heisst es in der Berg-Monografie: «Den Avantgardisten Berg hat die Idee der Moderne gelockt, wie sie in der Lyrik und den theoretischen Schriften des Dichters zum ersten Mal ihr Selbstbewußtsein gewann.»80 Berg hatte ein «Flair für zurückliegende Urphänomene der eigenen Idee»81, so Adorno, und meint damit seine Inanspruchnahme und Bearbeitung von Baudelaires Zyklus Le vin.
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Helmut Fuhrmann nennt in Auseinandersetzung mit Adornos Traditionsbegriff drei Fehlformen: Vergötzung der Vergangenheit, Verleugnung der Vergangenheit und Ideo‐ logisierung der Vergangenheit. (Vgl. Helmut Fuhrmann, Theodor W. Adornos Theorie der ästhetischen Tradition, Würzburg 2009, S. 90ff.) Dem wiederholten Bezug auf Baudelaire als historischen Ausgangspunkt der ästheti‐ schen Moderne bleibt Adorno einer genaueren Erläuterung schuldig. Inwiefern hier Walter Benjamins Ausführungen zu Baudelaire die eigentliche Referenz darstellen, bleibt ebenso ungewiss. (Vgl. hierzu auch Robert Kaufman, Lyric Commodity Critique, Benjamin Adorno Marx, Baudelaire Baudelaire Baudelaire.) Theodor W. Adorno, Wagner und Bayreuth (= GS 18), Frankfurt am Main 2003, S. 220. Theodor W. Adorno, Berg (= GS 13), Frankfurt am Main 2003, S. 463. Ibidem, S. 464.
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Was für Adorno Baudelaire zum Urphänomen macht, zum Prototyp der Moderne, ist sein Verhältnis zur Warenwelt. In diesem Verhältnis selbst liegt die eigentliche Bewegung der sich selbstbewusst gewinnenden Moderne. Ver‐ steht sich für Adorno die bürgerliche Gesellschaft als eine durch Rationalität organisierte und begründete Organisationsstruktur, so gibt sie sich in ihrer Kunst Surrogate der real verlorenen Tradition. Diese Formen bürgerlicher Kunst versucht die Kunst zu einem vermeintlichen Ersatz für dasjenige zu gewinnen, was im Niedergang mit der Tradition verloren ging. Die Kunst ist darin Ersatzfunktion für das, was das Prinzip bürgerlicher Gesellschaft nicht mehr zu leisten vermag und von ihr zugleich verwehrt wird.82 Dies tut sie in Form einer abstrakten Negation zur Gesellschaft. Baudelaire wird hingegen in seiner Korrespondenz mit der Warenwelt in seinen künstlerischen und theoretischen Arbeiten als bestimmte Negation gegen diese verstanden. Abstrakt bleibt die Negation darin, dass sie indifferent gegen ihr Anderes bleibt. Dagegen versteht sich die bestimmte Negation Baudelaires gerade darin, dass sie sich selbst nur in der Aushandlung gegen ihr Anderes gewinnt. Darin besteht sein Bezug zur Moderne, in dem er sich dem im Begriff der Moderne liegenden Widerspruch selbst stellt. Adorno versucht also die Autonomie des Kunstwerks in Aushandlung mit der Heteronomie des Marktes zu denken. Was demnach als Moderne verstanden werden soll, kann nur durch die Erfahrung der Ware hindurch sein Profil gewinnen und gerade nicht in abstrakter Weise als Ersatzfunktionen in «seligen Gefilden jenseits der Ware».83 Die Warenform, an welcher sich das Kunstwerk erst als autonomes profilieren kann, ist aber ihrer eigenen Bestimmung entsprechend als ein gesellschaftliches Verhältnis zu verstehen. Bekanntlich hat Marx im Kapital die Ware durch den Doppelcharakter von Gebrauchswert und Tauschwert bestimmt. Die Seite des Gebrauchswertes einer Ware bezeichnet dabei ihre Nützlichkeit, in welcher Hinsicht diese auch immer liegen mag. Nach welcher Eigenschaft die Waren sich als nützlich erweisen spielt hierbei keine Rolle, wesentlich ist nur, dass sie irgendwelche Bedürfnisse befriedigen: «Die Nützlichkeit eines Dings macht es zum Gebrauchswert.»84 Die andere Seite der Ware, den Tauschwert, hat eine Ware dagegen dadurch, dass sie in Austauschverhältnissen zu anderen Waren steht. Waren werden daher nicht einfach nur zu irgendwelchen nützlichen Dingen, sondern die Produktion von Waren ist auf das Begehren anderer ausgerichtet. Marx nennt ihn daher gesellschaftlichen Gebrauchswert: «Um Ware zu produzieren, muss er [die Pro‐ 82 83 84
Vgl. Adorno, Über Tradition, op. cit., S. 311ff. Vgl. Adorno, ÄT, S. 443. Karl Marx, Das Kapital I (= Marx Engels Werke 23), Berlin 1962, S. 50.
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duzentin, W.A.] nicht nur Gebrauchswert produzieren, sondern Gebrauchswert für andre, gesellschaftlichen Gebrauchswert.»85 Da die Waren als Gebrauchs‐ wert für andere produziert werden, treten sie in Tauschverhältnisse. Ist der Gebrauchswert an die qualitativen Eigenschaften eines Produktes gebunden, so stellt er den stofflichen Träger für den Tauschwert dar. Zum stofflichen Träger ist der Tauschwert ein rein relationales Verhältnis, nämlich das zu anderen Waren, in denen es im Tauschverhältnis seinen Wert zu äussern vermag. Waren sind also deshalb ein Doppeltes, da sie nicht nur einen Gebrauchswert haben, sondern in Tauschverhältnisse eingebunden sind. Kann der Wert einer Sache aber nur in einem von ihm verschiedenen ausgedrückt werden, so müssen sie zur Vergleichbarkeit auf ein Gemeinsames gebracht werden, denn vergleichen lässt sich nur Gleiches. Dieses Vergleichbare ist die in die Produkte investierte Arbeit. Dabei lässt sich das verausgabte Arbeitsquantum, in welchem die Waren ihre Vergleichbarkeit finden, in der aufgewendeten Zeit bemessen. Der Tauschwert ist also die Gleichsetzung abstrakter menschlicher Arbeit mit anderen Waren als ihrem Äquivalent. Als solcher ist der Tauschwert aber nicht auf eine eigentliche Qualität der Ware zu bringen. Er ist lediglich die Seite der Ware, in der sich der Wert einer Ware zum Ausdruck bringt. Deshalb ist die Ware nützliches Ding und Wertding zugleich. Das Spezifische der Warenform liegt also nach Marx in ihrer gesellschaft‐ lichen Bestimmung ihres Tauschwertes als abstrakte Arbeit und der damit verbundenen Gleichsetzung menschlicher Arbeit im Arbeitsprozess.86 Die Wa‐ renform liegt somit in den Produktionsbedingungen begründet. Sind diese Bedingungen jedoch in der künstlerischen Produktion gegenüber der ausser‐ künstlerischen nicht verschieden, ist künstlerische Arbeit ebenso gesellschaft‐ liche Arbeit, so sind es ebenso ihre Produkte.87 Kunstwerke haben damit selbst Warencharakter. Dem wird Baudelaire gerade gerecht. Darin hat das Kunstwerk eine nicht-künstlerische Seite, der sich Baudelaire öffnet und die er in das Kunstwerk einschliesst. Für Adorno liegt genau hierin das so Entscheidende im Verständnis der Moderne bei Baudelaire. In der Berg-Monografie schreibt Adorno: «Moderne bei Baudelaire ist, nach ihrer gegenständlichen Seite, die Welt der Waren. Ihr muß, nach der Baudelaireschen Konzeption, der Artist ebenso sich überlassen, wie seine Autonomie behaupten.»88 Der Artistin ist also die widersprüchliche Arbeit auferlegt, sich der empirischen Realität aus‐ zuliefern, zugleich aber in ihrer künstlerischen Tätigkeit auf der autonomen 85 86 87 88
Ibidem, S. 55. Ibidem, S. 88. Vgl. Adorno, ÄT, S. 350f. Adorno, Berg, op. cit., S. 464.
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Durchführung zu beharren. Die eigentliche Aufgabe für das Verständnis der Autonomiekonzeption Adornos ist gerade, diese gemeinhin entgegenlaufenden Seiten in ihrem Zusammenhang zu denken. Darin ist für Adorno Baudelaire das Modell. Die Ästhetische Theorie formuliert diesen Zusammenhang von Warenwelt und Kunstwerk an Baudelaire folgendermassen: «Sein Werk hat seinen Augenblick daran, daß es die überwältigende Objektivität des Warencharakters, die alle menschlichen Residuen aufsaugt, synkopiert mit der dem lebenden Subjekt vorgängigen Objektivität des Werkes an sich: das absolute Kunstwerk trifft sich mit der absoluten Ware.»89
Das absolute Kunstwerk versteht sich als das sich selbstgenügsame, das kein anderes bedarf, um ein Kunstwerk zu sein. Das absolute Kunstwerk besagt dabei nicht, dass es das Absolute sei, denn als solches wäre es ein Herleitungsloses. Ist das Kunstwerk seinem Begriff nach aber immer schon ein durch künstlerische Tätigkeit hervorgebrachtes Seiendes, so meint das absolute Kunstwerk vielmehr das autonome Kunstwerk. Autonomie meint es deshalb, da es sich in seiner Unabhängigkeit und Selbstgesetzlichkeit aus Funktionszusammenhängen und Kontingenzen zurücknimmt und damit sich als selbstgenügsam und notwendig gibt.90 Darin ist das absolute Kunstwerk als die «dem lebenden Subjekt vorgän‐ gige Objektivität des Werkes an sich» anzusehen. Das absolute Kunstwerk wartet somit weder auf seine Deutung, noch lässt es sich in einen Begriff von ästhetischer Erfahrung auflösen. Ebenso ist es nicht in der Intention der Künstlerin zu suchen oder in den Umständen seines Entstehens zu fassen. Es steht als «Werk an sich» für sein Werk-Sein selbst ein.91 Darin aber übersteigt das absolute Kunstwerk sich selbst und macht sich seinem Entgegengesetzten gleich – der Ware: «Aber das rational durchgebildete Kunstwerk kassiert kraft eben seiner absoluten Au‐ tonomie die Differenz vom empirischen Dasein; gliche, ohne sie nachzuahmen, seinem Widerpart, den Waren sich an. Von den vollkommen zweckrationalen Gebilden wäre
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Adorno, ÄT, S. 39. Vgl. Gunnar Hindrichs, Metaphysik als Ästhetik, S. 146ff. Polemisch äussert sich Richard Wagner in diesem Sinne gegen den Begriff des absoluten Kunstwerks: «Das absolute Kunstwerk, das ist: das Kunstwerk, das weder an Ort und Zeit gebunden noch von bestimmten Menschen unter bestimmten Umständen an wiederum bestimmte Menschen dargestellt und von diesen verstanden werden soll, – ist ein vollständiges Unding, ein Schattenbild ästhetischer Gedankenphantasie.» (Richard Wagner, Eine Mittheilung an meine Freunde (= Gesammelte Schriften und Dichtungen 4), Leipzig 1872, S. 292. Hervorhebung im Original)
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es nicht mehr zu unterscheiden außer dadurch, daß es keinen Zweck hat, und das freilich dementiert es.»92
In welchem Sinne trifft sich nun das absolute Kunstwerk mit der absoluten Ware? Marx selbst bestimmt die absolute Ware als «selbständiges Dasein des Tauschwertes».93 Dies birgt nach Marx aber selbst einen Widerspruch in sich, denn die Ware ist gerade bestimmt in ihrem Doppelcharakter von Gebrauchs‐ wert und Tauschwert. Nach Marx ist es also sinnlos von einer Ware zu sprechen, die selbst keinen Gebrauchswert aufweist: «Endlich kann kein Ding Wert sein, ohne Gebrauchsgegenstand zu sein. Ist es nutzlos, so ist auch die in ihm enthaltene Arbeit nutzlos, zählt nicht als Arbeit und bildet daher keinen Wert.»94 Es ist aber gerade die abstrakte Arbeit, die sich im Tauschwert an die Ware heftet und dadurch als Ware bestimmt. Verliert eine Ware noch das Mindeste an Gebrauchswert, ihr Nützliches, so eignet sie sich nicht mehr zum Tausch und verliert damit ihren Tauschwert. Als absolute Ware ist sie keine Ware mehr. Adorno beschreibt in diesem Sinne die absolute Ware als «jenes gesellschaft‐ liche Produkt, das jeden Schein des Seins für die Gesellschaft abgeworfen hat, den sonst Waren krampfhaft aufrecht erhalten»95 – und darin sind nach Adorno absolute Waren Kunstwerke. Dies ist der Ort, an dem sich absolutes Kunstwerk und absolute Ware treffen.96 So wie die absoluten Waren keine Spur des nützlichen Gebrauchswertes tragen, so zeichnet sich das autonome Kunstwerk ebenso befreit von jeglichem Nutzen für die Gesellschaft aus. Sowohl die absolute Ware als auch das als autonom zu bezeichnende absolute Kunstwerk werden zum nutzlosen Ding. Hat sich aber in einer bürgerlichen Gesellschaft das Tauschprinzip als Herrschaft behauptet, so wäre gerade die Absage an jenes mit der Nutzlosigkeit besagt. «Fürs Herr‐ schaftslose steht ein nur, was jenem nicht sich fügt; für den verkümmerten Gebrauchswert das Nutzlose.»97 Damit wäre die auf die Spitze getriebene Ware, jene die sich dem Gebrauchswert völlig entledigt hätte, Einstand gegen die gesellschaftliche Herrschaft des Tauschprinzips. Sofern also der Gebrauchswert in der absoluten Ware vollständig dem Tauschwert weicht, so verschiebt sich der Genuss des Gebrauchswertes hin zum Tauschwert, wenn sie noch Ware sein soll. Die absolute Ware bedarf für ihren Genuss nicht der materialen Qualitäten, die eigentlich ihren Gebrauchswert darstellt. Wird also anstelle des 92 93 94 95 96 97
Adorno, ÄT, S. 323. Karl Marx, Das Kapital I, op. cit., S. 152. Ibidem, S. 55. Adorno, ÄT, S. 351. Ibidem, S. 351. Ibidem, S. 337.
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Gebrauchswertes der Tauschwert konsumiert, so liegt der eigentliche Genuss im Akt des Tausches selbst. Darin bleibt auch die absolute Ware verkäuflich, ebenso wie das absolute Kunstwerk sich in die Warenwelt eingliedert. Darin trifft sich die absolute Ware mit dem absoluten Kunstwerk an jenem Punkt, an dem sie sich im Lichte der Warenwelt auf ihren reinen Tauschwert reduzieren. In ihrem eigenen Überstieg verkehren sie sich in ihr anderes: das absolute Kunstwerk wird zur Ware, die absolute Ware wird zum Kunstwerk. Heisst es aber, dass Baudelaires Werk die «überwältigende Objektivität des Warencharakters» mit der «Objektivität des Werkes an sich» synkopiert, so hebt sich damit ihr Unterschied heraus. Sie sind nicht einfach gleichzusetzen, sondern treffen sich in ihrem jeweiligen Überstieg mit ihrem Anderen, indem sie es zugleich überbieten. Was hier von Adorno als «treffen» bezeichnet wird, meint eine Gleichheit in der Differenz des absoluten Kunstwerks mit der absoluten Ware in ihrer Absage an jeglichen Gebrauchswert.98 Nach Adorno formuliert das Werk Baudelaires gerade diesen Umstand, indem es der Über‐ macht der Warenwelt misstraut, zugleich aber nicht der Naivität sich hingibt, den Warencharakter des Kunstwerks zu leugnen. Warenwelt und Autonomie des Kunstwerks stehen also in ihrem jeweiligen Überstieg im Verhältnis. Dem Konzept eines autonomen Kunstwerks, welches sich im Voraus vollends frei sagt von jeglichen fremden Bezügen, wird hier die Absage erteilt. Gerade im Gegenteil, aus dem der Kunst heteronomen, der Warenwelt, kann sich ihre Autonomie erst errichten. Dies ist die spezifische Operation des autonomen Kunstwerks, welche Adorno an dieser Stelle Baude‐ laire als Modell zuschreibt. Ist es doch gerade die Warenwelt, welche durch Tauschverhältnisse bestimmt wird, so lässt sich ein doppelter Heteronomiever‐ dacht formulieren. Einerseits gerät die Kunst durch ihre Abhängigkeit von der Warenwelt in Heteronomie, anderseits nimmt sie in sich selbst heteronom Strukturiertes auf, die Logik des Tausches, in dem alles für ein anderes steht. Es würde damit nicht dem Anspruch der Unabhängigkeit und der Eigengesetz‐ lichkeit entsprechen. Es würde vielmehr in der Abhängigkeit der Warenwelt stehen, so wie ihre Eigengesetzlichkeit sich der Logik des Tauschverhältnisses überlässt. Dies ist aber gerade das Scharnier, welches Adorno mit dem Namen Baudelaire modellhaft beabsichtigt hervorzuheben und auf die Formel des
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Stewart Martin schreibt in seinem längeren Kommentar zu dieser Passage: «This is a dialectical mediation of extremes: the artwork reveals its identity and difference from the commodity at the point of their mutual absolutization.» (Stewart Martin, The Absolute Artwork Meets the Absolute Commodity, S. 19.) Vgl. hierzu auch Fredric Jameson, Late Marxism. Adorno or the Persistence of the Dialectic, London/New York 1990, S. 167ff.
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Selbstbewusstseins zu bringen versucht. Die in der Berg-Monografie angeführte Figur des Selbstbewusstseins bezeichnet demnach also eine Reflexionsbewe‐ gung innerhalb der warenförmigen Produktionsweise, sodass künstlerische Produktion autonomer Kunstwerke ihre eigenen Bedingungen zugleich in Nähe und Distanz bringt. Kann sich die künstlerische Produktion nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie selbst gesellschaftliche Arbeit ist und sich in den Produktionsbedingungen von jener der Waren nicht prinzipiell unterscheidet, so kann sie – und dies ist gerade ihre herausragende Stellung gegen die Warenwelt – in der Form einer Distanzierung sich als Kunstwerk gegen die empirische Realität stellen. Die Produktivkräfte in den Kunstwerken machen nur «durch ihre konstitutive Absentierung von der realen Gesellschaft»99 das Kunstwerk zum Kunstwerk. Die Behauptung der Autonomie lässt sich nur durch und damit gegen die Heteronomie der Warenwelt durchsetzen. Dies ist die spezifische Operation moderner Kunst als autonome. Ermöglicht sich die Autonomie der Kunst wesentlich in der Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse, so hat sich die Autonomie der Kunst auch an ihnen auszuweisen. Damit stellt sich als Angelpunkt der Autonomie die Ware heraus. Ihre schlechten Alternativen hierzu sind Engagement und L’art pour l’art. IV. Engagement, L’art pour l’art, Kulturindustrie Wie wir gesehen haben, stellt sich Adornos Autonomieverständnis gegen eine engagierte Kunst sowie gegen eine Kunst um der Kunst willen, L’art pour l’art. Kunst soll also weder explizit Position zu politischen und gesellschaftli‐ chen Verhältnissen beziehen, noch sich vermeintlich von jeglichem Bezug zu gesellschaftlichen Verhältnissen frei glauben.100 Ist Adornos Anspruch an das moderne Kunstwerk als autonomes kritischer Einspruch zu sein, so lässt sich bis hierhin folgende These aufstellen: Engagierte Kunst ist ihrer Absicht nach kritischer Einspruch, kann aber nicht autonom sein; L’art pour l’art ist autonom, kann aber gerade deshalb nicht kritisch wirken. Damit qualifiziert sich weder engagierte Kunst noch jene, die unter dem Diktum des L’art pour l’art steht, für den von Adorno erhobenen Anspruch einer autonomen und zugleich kritischen Kunst. Adorno stellt aber den Anspruch von autonomer und kritischer Kunst noch stärker. Autonomie und kritisches Potential werden nicht einfach als zwei notwendige und hinreichende Bedingungen für die von ihm geforderte Kunst 99 100
Adorno, ÄT, S. 351. In der Ästhetischen Theorie bezeichnet Adorno daher das Engagement als «unmittelbare Parteinahme» (ibidem, S. 473).
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beansprucht, sondern sie bedingen sich gerade gegenseitig. Nur eine autonome Kunst kann unter gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen noch kritischer Einspruch sein und umgekehrt lässt sich die Autonomie der Kunst nur als kritischer Einspruch realisieren. Damit formuliert sich die angeführte These zur engagierten Kunst und dem L’art pour l’art-Prinzip ebenso neu. Sie könnte nun folgendermassen lauten: engagierte Kunst kann ihre Absicht, kritischer Einspruch zu sein, nicht einlösen, da sie ihre Autonomie preisgibt; das L’art pour l’art-Prinzip kann seine Autonomie nicht behaupten, weil es sich von jeglichem kritischen Anspruch fernhält. Klar wird an dieser Stelle aber auch, dass eine autonome und zugleich kritische Kunst die engagierte oder l’art pour l’art noch nicht völlig ausschliesst. Denn es lässt sich durchaus noch denken – und dies scheint auch Adornos Gedanke zu sein – dass die Kunst gerade deshalb kritischer Einspruch gegen die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse darstellt, weil sie sich als autonome behauptet. In Adornos Worten: «Indem sie sich als Eigenes in sich kristallisiert, anstatt bestehenden gesellschaftlichen Normen zu willfahren und als ‹gesell‐ schaftlich nützlich› sich zu qualifizieren, kritisiert sie die Gesellschaft, durch ihr bloßes Dasein […].»101 Zugleich ist damit aber eine spezifische Form des Kunstwerks als «bloßes Dasein» gemeint, denn so heisst es ebenso: «Durchaus unideologisch ist Kunst wohl überhaupt nicht möglich. Durch ihre blosse Antithese zur empirischen Realität wird sie es nicht […]. Was Ideologie ist am l’art pour l’art-Prinzip, hat seinen Ort nicht in der energischen Antithese der Kunst zur Empirie sondern in der Abstraktheit und Fazilität jener Antithese.»102 Das Verständnis eines autonomen Kunstwerks besteht demnach nicht ledig‐ lich in seiner Absage an die Empirie, in seiner antithetischen Haltung gegen die Gesellschaft, sondern bestimmt sich gerade darin, wie es diese Position einnimmt. Dies wird dem L’art pour l’art-Prinzip gerade zum Vorwurf gemacht, da es sich lediglich in abstrakter Weise gegen die empirische Welt stellt. Es macht sich «in abstrakter Negation den χωρισμός der Kunst zu ihrem Ein und Allem».103 L’art pour l’art ist für Adorno also jenes Prinzip, welches die Trennung zwischen empirischer Realität und Kunst als absolut setzt und sich den Anspruch auf Reinheit auferlegt. Darin liegt aber gerade auch sein Verrat. Ist Kunst vermeintlich nicht unideologisch zu haben, so hat sie zugleich aber ihr Potential kritisch zu sein und darin ihre wahren und unwahren
101 102 103
Ibidem, S. 335. Ibidem, S. 351f. Ibidem, S. 16.
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Anteile ausweisbar zu machen. Darin liegt ihre Möglichkeit zur Wahrheit.104 Dieser «Umschlag von Ideologie in Wahrheit» findet aber gerade nicht auf der Ebene des äusserlichen Verhältnisses des Kunstwerks zu seinem Anderen statt, zur empirischen Realität, sondern ist für Adorno Sache des ästhetischen Gehalts.105 Hier also liegt das Verhängnis des L’art pour l’art-Prinzips. Es bezieht die Stellung gegen die Gesellschaft rein abstrakt, nicht durch seinen ästhetischen Gehalt, als bestimmte Negation gegen sie. Scheint das L’art pour l’art-Prinzip zunächst schlechthin die Verwirklichung der Autonomie der Kunst zu sein, so zeigt sich, dass es ihm nach Adorno nicht nur an kritischem Potential fehlt, sondern dass es sich in seinem Versuch der Behauptung von Autonomie selbst in die heteronomen Strukturen eingliedert, von denen es sich gehofft hat loszusagen. Gibt sich die Kunst um der Kunst willen als autonome, so verdeckt sie in diesem Anspruch selbst ihr Verhängnis in die Warenwelt. Das Kunstwerk wird dann selbst zur Ideologie. Ideologie wird es, indem es sich dem Ideologischen seiner eigenen Form nicht stellt. Dies ist gerade die versäumte Möglichkeit in Wahrheit umzuschlagen. Schlimmer noch: Indem die Kunstwerke sich, anders als wir es an Adornos Ausführungen zu Baudelaire versucht haben zu erörtern, nicht der Warenwelt stellen, sondern diese in abstrakter Negation aussparen, qualifizieren sie sich selbst zur Ware.106 Dies ist gerade ihr ideologischer Charakter. Vielmehr bewährt sich eine autonome Kunst nach Adorno darin, wie Burkhardt Lindner kommentiert, «daß sie die empirische Alltagsrealität transzendiert, ohne sich deshalb in ein idealistisches Jenseits zur Gesellschaft zu flüchten.»107 Dies gerade stellt die engagierte Kunst gegen jene des L’art pour l’art-Prinzips.108 Wie die Opposition von engagierter Kunst zu L’art pour l’art anfangs angeführt wurde, so zeigt sich ihre jeweilige Aushebelung. Adorno schreibt hierzu: «Jede der beiden Alternativen negiert mit der anderen auch sich selbst: engagierte Kunst weil sie, als Kunst notwendig von der Realität abgesetzt, die Differenz von dieser durchstreicht; die des l’art pour l’art, weil sie durch ihre Verabsolutierung auch jene
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So schreibt Adorno in der Ästhetischen Theorie: «Nichts ist begriffen, dessen Wahrheit oder Unwahrheit nicht begriffen wäre, und das ist das kritische Geschäft.» (Ibidem, S. 194.) Ibidem, S. 351. Vgl. ibidem, S. 352. Burkhardt Lindner, ‹Il faut être absolument moderne›. Adornos Ästhetik, ihr Konstrukti‐ onsprinzip und ihre Historizität, S. 267. Vgl. ibidem, S. 266.
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unauslöschliche Beziehung auf die Realität leugnet, die in der Verselbstständigung von Kunst gegen das Reale als ihr polemisches Apriori enthalten ist.»109
Was Adorno an dieser Stelle formuliert, ist der Vorwurf der Blindheit gegen die Differenz zwischen empirischer Realität und Kunst. Beide vermögen die Diffe‐ renz nicht zu denken und darin sind gerade engagierte Kunst sowie L’art pour l’art weder autonom noch kritische Stimme gegen die bestehenden Verhältnisse. Mehr noch, ihre Indifferenz gegen die Abgrenzung von der empirischen Realität lässt sie umso leichter in die kulturindustriellen Produkte eingliedern, denn in ihrer Indifferenz bleibt auch jeglicher Widerstand gegen die Verwaltungsme‐ chanismen aus.110 Erst in einer Reflexion auf ihre eigene Unterscheidung von der empirischen Realität könnte die Kunst sich zugleich als autonome und kritische behaupten. Dies ist gerade nach Adorno Baudelaires Geste seines Verständnisses des L’art pour l’art. Zeigt sich am Ende das «hoffnungslos veraltete Prinzip l’art pour l’art» als Kitsch, so ist Baudelaires Interpretation des L’art pour l’art gerade als bestimmte Negation gegen die Empirie deren Rettung als autonome Kunst.111 Somit erweist sich am Verhängnis engagierter Kunst und dem L’art pour l’art-Prinzip die Kulturindustrie als die eigentliche Form von Produktion und Verteilungslogik gegen die sich die autonome Kunst zu behaupten hat. Als «fal‐ sche» Alternativen stehen Engagement und L’art pour l’art selbst als Versuche oppositioneller Produktionsverfahren gegen diejenigen der Kulturindustrie, erweisen sich aber in Konsequenz als mit dieser kompatibel. Somit verortet sich also das autonome Kunstwerk nicht gegen engagierte Kunst, denn es soll ge‐ nauso kritisch sein, noch gegen das L’art pour l’art-Prinzip, denn sein Anspruch ist genauso selbstgenügsam. Vielmehr verlangt das autonome Kunstwerk nach seiner dialektischen Durcharbeitung, um sich seinem eigentlichen Gegenspieler zu stellen, der Kulturindustrie. Kulturindustrie bezeichnet zunächst nichts anderes als eine bestimmte Form der Produktion und Verteilungsmechanismen von im weitesten Sinne verstandenen Kulturgütern. Ihr Kennzeichen ist die Standardisierung. Dies ist mit «Industrie» im Wort «Kulturindustrie» gemeint.112 Als Standardisierung bezeichnet sie die planvolle Herstellung von Produkten, die zuvor nach Sparten eingeteilt, die in ihrer Struktur gleich sind und mindestens vermögen, sich inei‐ 109 110 111 112
Theodor W. Adorno, Engagement (= GS 11), Frankfurt am Main 2003, S. 410. So führt Adorno zu Sartre aus: «Die Komplexion von handfestem plot und ebenso handfester, destillierbarer Idee trug Sartre den großen Erfolg zu und machte ihn, ganz gewiß gegen seinen integren Willen, der Kulturindustrie akzeptabel.» (Ibidem, S. 415.) Adorno, ÄT, S. 475. Vgl. Theodor W. Adorno, Résumé über Kulturindustrie (= GS 10.1), Frankfurt am Main 2003, S. 339.
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nanderzufügen. Dies fügt sie zu einem beinahe lückenlosen System zusammen, für den der Name «Kulturindustrie» einsteht. Haben sich Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung eben gegen den in ihren Entwürfen verwendeten Begriff der Massenkultur und für jenen der Kulturindustrie ent‐ schieden, so hat dies darin seinen Sinn.113 Das mit Kulturindustrie benannte zeichnet sich gerade in dieser planvollen Organisation hin zu einem fast lückenlosen System aus und nicht durch eine aus den Massen herausgebildeten Kultur, einer Volkskunst: «Kulturindustrie ist willentliche Integration ihrer Ab‐ nehmer von oben», es macht die Massen zu «Anhängsel[n] der Maschinerie».114 Als solche folgt die Kulturindustrie wesentlich der Logik des Marktes, ihre eigentliche Perspektive ist die des Profits und die Kalkulation der Steigerung desselben, Rationalität und Tauschprinzip. Mit ihrer Logik des Tauschprinzips von Äquivalenten geht zugleich eine die autonome Kunst wesentliche zerset‐ zende Kraft einher: die Tendenz der Nivellierung. Wie erörtert, kann für Adorno die autonome Kunst nur als solche bestehen, sofern sie die eigene Differenz gegen das ihr Heteronome, die empirische Realität, in ihrer Durchbildung mitreflektiert und nicht lediglich abstrakt sich gegen diese absetzt. Darin ist die Kulturindustrie gerade ihr eigentlicher Ge‐ genspieler. Sie selbst ist ihrer eigenen Logik verpflichtet. Die Kulturindustrie schliesst sämtliche Differenzen als Sparten zu einem System zusammen, indem sie sie unter ein und dieselben Rhythmen der Produktion und Verteilungslogik subsumiert. Kulturindustrie ist gerade blind gegen die von Adorno angeführte Absentierung des Kunstwerks gegen die reale Gesellschaft. Kulturindustrielle Produkte sind daher nicht nur in derselben Schrift geschrieben wie sie ihnen die Rhythmik des Tauschprinzips vorgibt, sondern tendieren mit ihm zu einem Gesamtsystem: «Sie zwingt auch die jahrtausendlang getrennten Bereiche hoher und niederer Kunst zusammen. Zu ihrer beider Schaden. Die hohe wird durch Spekulation auf den Effekt um ihren Ernst gebracht; die niedrige durch ihre zivilisatorische Bändigung um das ungebärdig Widerstehende, das ihr innewohnte, solange die gesellschaftliche Kontrolle nicht total war.»115
Was hier also zur Diskussion steht, ist weniger die Qualität von kulturindustri‐ ellen Produkten gegenüber authentischen Kunstwerken, sondern wesentlich, dass die Kulturindustrie im Begriff ist, diese Differenz also solche wegzuleugnen und damit auch deren gesellschaftliche Grundlage. Dieser Verschleierung gilt 113 114 115
Vgl. ibidem, S. 337. Ibidem, S. 337. Ibidem, S. 337.
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die ganze Kritik an der Kulturindustrie, sowie die Formulierung dieser Kritik im autonomen Kunstwerk. Denn die Unterscheidung von leichter und ernster Kunst, so schreiben Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung, hat in ihrer «Spaltung selbst die Wahrheit», sofern sich an ihr die gesellschaft‐ lichen Bedingungen ihrer Trennung ablesen liessen: «sie spricht zumindest die Negativität der Kultur aus, zu der die Sphären sich addieren.»116 Leichte und ernste Kunst waren damit Ausdruck einer Klassengesellschaft, an deren Unterscheidung sich der Klassengegensatz ablesen liess. Das Falsche der Kul‐ turindustrie liegt damit in der Nivellierungstendenz gegen die Lesbarkeit realer gesellschaftlicher Verhältnisse, ohne diese selbst zu versöhnen. Darin befindet sich also der Sinn der Schärfung der Autonomie an der Heteronomie. Das autonome Kunstwerk kann sich genau nur darin als autonomes bezeichnen, sofern es der Nivellierung der Kulturindustrie standhält. Und darin begründet sich ebenso seine kritische Stimme. V. Autonomie der Kunst Demnach ist für Adorno das autonome Kunstwerk also jenes, das sich als die selbstbewusste Bewegung der Moderne im Produktionsprozess künstlerischer Arbeit hervorbringt. Das autonome Kunstwerk ist also jenes, das den χωρισμός, die Trennung zur empirischen Realität als Warenwelt, selbst in sich aufnimmt und reflektiert. Anders gesprochen: das autonome Kunstwerk weiss über seine eigene Autonomie Bescheid. Dies ist aber nur möglich in der Auseinander‐ setzung mit seinem Anderen. Die Distanz zur empirischen Realität gewinnt das autonome Kunstwerk nur durch die Nähe zu dieser. Der Widerstand der Kunstwerke, mit dem sie ihre Position gegen die Gesellschaft behaupten, besteht sowohl in der abstossenden Haltung der Gesellschaft sowie in der Abwehr der Kunstwerke gegen die Gesellschaft. Sie kommen ihrem Gehalt nach aus der Gesellschaft, um in einer reflexiven Bewegung in ihrer Formbildung sich als autonomes Werk gegen die Gesellschaft zu stellen. Darin bedroht sich ihre Autonomie und setzt das Kunstwerk wiederum in ein relatives Verhältnis zu seinem Anderen: «In seiner Differenz vom Seienden konstituiert das Kunstwerk notwendig sich relativ auf das, was es als Kunstwerk nicht ist und was es erst zum Kunstwerk macht.»117 Autonom bleibt das Kunstwerk aber darin, dass es diese Differenz in sich selbst setzt und nicht lediglich in einem abstrakten und damit äusserliches Verhältnis besteht. Das Kunstwerk ist als autonomes sich selbst die Unterscheidung zu seinem Anderen. 116 117
Horkheimer und Adorno, DA, S. 157. Adorno, ÄT, S. 19.
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Der Sinn des autonomen Kunstwerks zeigt sich damit also gerade darin, dass es sich die Autonomie durch sein anderes selbst gibt. Gibt sich die Aufklärung als Rationalisierung ihrer Tendenz nach totalitär, so steht der Kunst kein autonomer Bereich frei, den sie zu beziehen hätte.118 Dies meint, dass Autonomie sich an der Heteronomie zu schärfen hätte. Sie lässt sich nur als bestimmte Negation gegen das Prinzip des Tausches von Äquivalenten und damit in ihrer Produktion gegen die Warenwelt gewinnen. Darin nimmt sie aber zugleich auch ihre kritische Position ein, indem sie gegen die Heteronomie einen ihr unmöglichen Ort besetzt, eben jenen der Autonomie. Daran lässt sich der Doppelcharakter der Kunst verständlich machen. Besagt dieser, dass Kunst «Autonomie und fait social»119 sei, so hat dieses «und» einen bestimmten Sinn. Die Verbindung von Autonomie und fait social sagt, dass die Autonomie der Kunst nur als fait social zu haben ist, zugleich aber als sozialer Tatbestand gegen diesen selbst ihre Autonomie behauptet. Das autonome Kunstwerk ist gesellschaftlich asozial. Der Prozess, in welchem das autonome Kunstwerk zu einem Asozialen geworden ist, lässt sich an zwei Stellen festmachen: erstens im Aufkommen der bürgerlichen Gesellschaft als Verhältnis zwischen Tradition und Rationalität und dessen Problemstellung – und zweitens als kulturindustrieller Nivellie‐ rungsprozess. Es ist die gesellschaftliche Formierung des Problems der Moderne und ihre Zuspitzung zum Äussersten. Ist mit Baudelaire nach Adorno das Modell für die Moderne gesetzt, so stellt die Zuspitzung kulturindustrieller Verwaltungsmechanismen den Anfangspunkt der Ästhetischen Theorie dar. Diese Zuspitzung fordert die Kunst dahin heraus, dass sie ihrem kritischen Anspruch nach sich auf Wahrheit hin ausrichtet. Ihre Alternative wird zur Ideologie. Adorno zeichnet diese Entwicklung in der Philosophie der neuen Musik nach: «In der Potentialität der letzten Phase der Musik meldet sich ein Wechsel des Standortes an. Sie ist nicht länger Aussage und Abbild eines Inwendigen, sondern ein Verhalten zur Realität, die sie erkennt, indem sie nicht länger im Bilde sie schlichtet. Damit verändert sich bei äußerster Isolierung ihr gesellschaftlicher Charakter. Die traditionelle Musik hatte mit der Verselbstständigung ihrer Aufgaben und Techniken vom gesellschaftlichen Grunde sich gelöst und war ‹autonom› geworden. […] Nicht bloß fehlt der Musik als solcher der eindeutig gegenständliche Inhalt, sondern je reiner sie ihre Formgesetze ausbildet und ihnen sich überläßt, um so mehr dichtet sie zunächst gegen die manifeste Darstellung der Gesellschaft sich ab, in der sie ihre Enklave hat. Gerade dieser Abdichtung verdankt sie ihre gesellschaftliche Beliebtheit. 118 119
Vgl. Horkheimer und Adorno, DA, S. 22. Adorno, ÄT, S. 340.
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Sie ist Ideologie, insoweit sie sich als ein ontologisches Ansichsein jenseits der gesellschaftlichen Spannung behauptet.»120
Meldet sich die Autonomie als neuer Standort an, so liegt in ihm ebenso das Potential der Ideologie. Ihre Überführung in ein kritisches Geschäft kann sie aber nur erreichen, wenn sie ihre Autonomie der Gesellschaft selbst abmüht. So heisst es weiter in der Philosophie der neuen Musik: «Die Isolierung der radikalen modernen Musik rührt nicht von ihrem asozialen, sondern ihrem sozialen Gehalt her, indem sie durch ihre reine Qualität und um so nachdrücklicher, je reiner sie diese hervortreten läßt, aufs gesellschaftliche Unwesen deutet, anstatt es in den Trug der Humanität als einer bereits schon gegenwärtigen zu verflüchtigen. Sie ist keine Ideologie mehr.»121
Das autonome Kunstwerk behauptet sich demnach in seinem zweifachen Bezug gegen das ihm heteronome und lässt sich darin verorten. Es behauptet sich in seinem äusseren Bezug, in dem es der empirischen Realität aus heteronomen Strukturen einen autonomen Bereich abgewinnt. So zwingt es ihr den Bereich der Kunst als einen von anderen Diskursen unabhängigen ab. Zugleich spiegelt das Kunstwerk aber diese befreiende Bewegung hin zur Unabhängigkeit in seine eigene Durchbildung hinein. Das autonome Kunstwerk macht sich der eigenen Unabhängigkeit bewusst in der Eigenlogik seiner Durchbildung. Dies ist der kunstimmanente Sinn der Autonomie, ihre Eigengesetzlichkeit. Die Eigengesetzlichkeit ist damit aber bedingt von ihrer Unabhängigkeit, sowie diese sich wiederum nur durch ihre Eigengesetzlichkeit zu behaupten vermag. Der Versuch der Lösung dieser in gegenseitiger Abhängigkeit sich befindenden Bedingungen der Autonomie ist die Aufgabe der Durchbildung des autonomen Kunstwerks. Demnach ist das autonome Kunstwerk in seinem Doppelcharakter nur von der Gesellschaft selbst her zu verstehen. Gewinnt das autonome Kunstwerk seine Autonomie nur dadurch, dass es sich weder vermeintlich frei gegen die Gesellschaft stellt, abstrakt ihr Anderes ist, noch, dass es als Anderes in die Gesellschaft versucht einzuwirken, ihr engagiert entgegentritt, so besteht das autonome Kunstwerk gerade in der Markierung der Differenz als Selbstrefle‐ xion. Haben wir eingangs nach dem Ort des Kunstwerks gefragt und haben darin festgehalten, dass für Adorno der Ort des modernen Kunstwerks als autonomer Bereich zu verstehen ist, so haben wir in dieser Weise einen Begriff der Autonomie der Kunst und des Kunstwerks gewonnen, der auf einen Nicht-Ort 120 121
Adorno, PM, S. 122f. Ibidem, S. 124.
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verweist. Das autonome Kunstwerk ist die Markierung dieses Nicht-Ortes in der Gesellschaft. Dies vollzieht es als die Reflexion seiner Grenzen gegen den Funktionszusammenhang der empirischen Realität. Diesen Nicht-Ort kann das Kunstwerk nur als bestimmte Negation zur empirischen Realität einnehmen. Der Sinn eines solchen Nicht-Ortes lässt sich aber nur durch die Erarbeitung eines Begriffs der Gesellschaft erläutern. Worin die kritische Stimme der Kunst als Einspruch gegen die empirische Realität überhaupt ihre Berechtigung hat, lässt sich nur im Versuch klarmachen, den gesellschaftlichen Verhältnissen die Notwendigkeit einer Kritik aufzuzeigen, sowie diesen exklusiv als den Ort autonomer Kunst zu bestimmen. Nur so wird klar, inwiefern die kritischen Potentiale der Gesellschaft sich nicht mehr in dieser formulieren lassen. Darin erschöpft sich ebenso die Abrechnung mit der engagierten Kunst. Ohne einen solchen Begriff der Gesellschaft hat die Frage nach dem Ort der Kunst keinen Halt, da das autonome Kunstwerk sein So-Sein wesentlich in der Gesellschaft hat. Daher ist die Frage nach der Autonomie der Kunst nicht zu verstehen ohne die Frage nach der Gesellschaft. Die Verortung des Kunstwerks zeigt sich demnach in ihrem Doppelcharakter von Autonomie und fait social. Ist das Kunstwerk als Artefakt ein Produkt künstlerischer Tätigkeit, so behauptet es seine besondere Stellung als jenes, das in der Gesellschaft deren nicht-gesellschaftlichen Ort besetzt. Darin ist das Kunstwerk nach Adorno autonom. Seine Autonomie gewinnt es aber nur in der Selbstsetzung seiner Autonomie. Oder stärker ausgedrückt: Das autonome Kunstwerk ist die Behauptung seiner eigenen Autonomie gegen das ihm Heteronome, es ist selbst die Artikulation dieser Differenz.
3.2 Gesellschaft I. Totalität der Gesellschaft Dem Kunstwerk ist die Gesellschaft sein Anderes. Das besagt die Autonomie des Kunstwerks. Will das Kunstwerk seine Autonomie behaupten, so hat es sich gegen sein Anderes unabhängig zu machen, um darin eigengesetzlich zu verfahren. Die Verfasstheit der Gesellschaft bestimmt darin die entscheidenden künstlerischen Strategien, mit denen es das Kunstwerk zu seiner Autonomie bringt. Daher ist die Frage nach der Gesellschaft und ihrer Verfasstheit mit der Frage nach dem Kunstwerkbegriff der Ästhetischen Theorie verbunden. Zu verstehen, wie das Kunstwerk als autonomes verfasst ist, wie es seine Differenz gegen die Gesellschaft zu setzen vermag, heisst also auch zu verstehen, worin
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seine Autonomie sich behauptet. Daher ist in das Verständnis der These der Autonomie des Kunstwerks das Verständnis der Gesellschaft eingeschrieben.122 Zu verstehen, was und wie Gesellschaft gegenwärtig verfasst ist, heisst für Adorno, sie theoretisch zu fassen.123 Der Nachdruck auf Theorie hat dabei einen spezifischen Sinn. Zunächst grenzt sich Adorno damit von den empirischen und von ihm sogenannt positivistischen Untersuchungen der Gesellschaft ab. Mit blossen Fakten, so wie es etwa einer rein empirischen Sozialforschung vorschwebt, vermag man allein nichts Wesentliches über die Gesellschaft auszusagen. Anders verhält es sich nach Adorno dagegen mit einer Theorie der Gesellschaft. Für sie heisst Verstehen der Gesellschaft das Wesen der Gesell‐ schaft zu deuten. Adornos Emphase auf eine Theorie der Gesellschaft meint hier also auch, dass sie sich nicht mit dem «Trug der Erscheinungen» begnügt, wie er es unter anderem einer verkürzten empirischen Sozialforschung vorwirft. Das Wesen zu deuten steht damit im Gegensatz zu einer reinen Abbildung der «Fassade der Gesellschaft», der zunächst zu misstrauen sei.124 Damit will Adorno der empirischen Forschung aber nicht eine vollständige Absage erteilen. Gemeint ist, dass eine theoretische Betrachtung der Gesellschaft über die blossen Fakten hinauszugehen hätte, ohne aber dabei den empirischen Befunden gegenüber gleichgültig zu sein. Am Unterschied von Trend und Tendenz, den Adorno in einer seiner Vorlesungen erläutert, lässt sich fasslich machen, wie das Verhältnis zwischen empirischen Daten und Theorie fruchtbar gemacht werden kann.125 Der Begriff des Trends bezeichnet für Adorno die Prognose einer Entwick‐ lung, sofern die Dinge in gleicher Weise weiterverlaufen, so wie sie sich gerade beobachten lassen. Der Trend bildet daher bloss eine Erwartungshaltung ab, die
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Eine in sich geschlossene Gesellschaftstheorie findet sich bei Adorno nicht. Vielmehr erstrecken sich seine soziologischen Bemühungen über eine Vielzahl von Texten, aus denen sich im weitesten Sinn ein Theorierahmen ausarbeiten lässt. Vgl. hierzu u. a. Sighard Neckel, Die Verwilderung der Selbstbehauptung. Adornos Soziologie. Veralten der Theorie – Erneuerung der Zeitdiagnose, Frankfurt am Main 2005, S. 189f. Die Durchführung und Möglichkeit einer Theorie der Gesellschaft bliebt dabei für Adorno selbst problematisch (vgl. u. a. Adorno, Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft (1964), op. cit., S. 43ff.; Theodor W. Adorno, Philosophie und Soziologie (1960) (= NaS IV/6), Frankfurt am Main 2011, S. 196f.; 200 f.) Theodor W. Adorno, Soziologie und empirische Forschung (= GS 8), Frankfurt am Main 2003, S. 196; vgl. auch Theodor W. Adorno, Theorie der Gesellschaft. Stichworte und Entwürfe zur Vorlesung 1949/50 (= Frankfurter Adorno Blätter 8), München 2003, S. 126. Der Begriff der Tendenz, wie er u. a. in der Vorlesung Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft skizziert wird, spielt auch für die Ästhetik eine wichtige Rolle. Gemeint ist die Rede von der Tendenz des Materials. Der Begriff der Tendenz wird uns daher an späterer Stelle nochmals beschäftigen. Vgl. hierzu Kapitel 3.4 in dieser Arbeit.
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in die Zukunft hinein verlängert wird. Der Begriff der Tendenz meint dagegen etwas anderes. Mit ihm wird versucht, Entwicklungen zu beschreiben, die sich aufgrund wesentlicher Gesetzmässigkeiten einer Gesellschaft abzeichnen. Deshalb liegt der Bezug der Tendenz zu einer Theorie der Gesellschaft darin, dass nicht mit den Mitteln der Statistik eine empirische Faktenlage hochge‐ rechnet wird, sondern versucht wird, eine den Fakten zugrundeliegende Bewe‐ gung weiterzuführen.126 Tendenz meint also nicht ein von den reinen Fakten Unabhängiges, sondern geht gerade durch die konkreten Ausformungen der Gesellschaft hindurch, indem die Tendenz die Bewegungs- und Strukturgesetze gesellschaftlicher Verhältnisse einzufangen versucht.127 Mit dem Begriff der Tendenz wird versucht, die wesentlichen Gesetzmässigkeiten und strukturellen Grundbedingungen zu fassen, durch welche das, was der Fall ist, selbst erst in ihre Ordnung gebracht wird: «Theorie will benennen, was insgeheim das Getriebe zusammenhält.»128 Dass die Gesellschaft durch Theorie erfasst wird, dass sie also nach ihren wesentlichen Gesetzmässigkeiten befragt wird, hat aber nur seine Gültigkeit, sofern die gesellschaftliche Wirklichkeit einer Theorie überhaupt angemessen ist.129 Für Adorno ist eine Theorie der Gesellschaft nur dann sinnvoll, sofern von ihr ein Wesentliches in Theorie zu deuten wäre. Daher erklärt sich Adornos relativ enger Gesellschaftsbegriff.130 Der Begriff der Gesellschaft ist, Adorno folgend, erst spät, um die Wende vom 18. ins 19. Jahrhundert, zu jenem Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion geworden. Erst mit der Entwicklung des bürgerlichen Zeitalters, so Adorno, sei Soziologie als ein kritisches Unter‐ nehmen möglich, da mit verschärfter Spannung zwischen gesellschaftlichen Institutionen und den von ihnen eingefassten Menschen die Gesellschaft in ihrer Kontingenz thematisch wird.131 Deshalb ist für Adorno «[d]ie Erfahrung vom widerspruchvollen Charakter der gesellschaftlichen Realität […] kein beliebiger Ausganspunkt, sondern das Motiv, das die Möglichkeit von Soziologie
126 127 128 129 130 131
Adorno, Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft (1964), op. cit., S. 37ff. (Von der dritten Sitzung sind keine Transkriptionen der Tonbandaufnahmen vor‐ handen. Es liegt nur eine Nachschrift von Hilmar Tillack vor.) Vgl. Adorno, Philosophie und Soziologie (1960), op. cit., S. 102. Adorno, Soziologie und empirische Forschung, op. cit., S. 196. Vgl. Adorno, Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft (1964), op. cit., S. 41. So gibt es nach Adorno für im Weberschen Sinne traditionalistische Gesellschaften keine Theorie. Vgl. ibidem, S. 40. Theodor W. Adorno, Gesellschaft. Erste Fassung eines Soziologischen Exkurses (= Frank‐ furter Adorno Blätter 8), München 2003, S. 144f.
3.2 Gesellschaft
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überhaupt erst konstituiert.»132 Entsprechend hält Adorno in seiner Vorlesung Einleitung in die Soziologie fest, dass es gerade Aufgabe der Soziologie wäre, «ge‐ sellschaftliche objektive Strukturgesetze»133 zu erkennen. In einer späteren Sit‐ zung hebt Adorno weiter hervor, dass das Wesentliche, auf das eine Theorie der Gesellschaft abzielt, die «objektiven Bewegungsgesetze der Gesellschaft» sind, in die sich die Menschen verstricken.134 Der Begriff der Gesellschaft, von der eine Theorie ihre Bewegungsgesetze zu erkennen hätte, ist dabei als Funktionsbegriff zu verstehen. Gesellschaft ist daher für Adorno kein klassifikatorischer Begriff, unter den alle anderen gesellschaftlichen Gebilde subsumiert werden.135 Der Begriff der Gesellschaft beschreibt dagegen gerade das Beziehungsgeflecht in dem und durch das die Mitglieder der Gesellschaft sich zusammenschliessen: «Mit Gesellschaft meint man eine Art von Gefügen zwischen Menschen, in dem alles und alle von allen abhängen; in dem das Ganze sich erhält nur durch die Einheit der von allen Mitgliedern erfüllten Funktionen, und in dem jedem einzelnen grund‐ sätzlich eine solche Funktion zufällt, während zugleich jeder einzelne durch seine Zugehörigkeit zu dem totalen Gefüge in weitem Maße bestimmt wird. Der Begriff der Gesellschaft ist also ein Funktionsbegriff, der mehr die Verhältnisse zwischen seinen Elementen und die Gesetzmäßigkeiten solcher Verhältnisse bezeichnet als die Elemente oder die bloße Deskription ihrer Verhältnisse als solcher.»136
Eine Theorie der Gesellschaft hätte also diese funktionellen Verhältnisse der Elemente der Gesellschaft in ihren Gesetzmässigkeiten aufzuspüren und zu beschreiben. Da sämtliche Verhältnisse ihrer Elemente durch sie vermittelt sind und die Gesellschaft sich als deren Gesamtheit versteht, wird Gesellschaft als Totalität bezeichnet.137 Die Totalität der Gesellschaft ist ihren Fakten insofern vorgeordnet, da durch sie die Fakten erst ihre funktionale Eingliederung er‐ 132 133 134
135 136 137
Theodor W. Adorno, Zur Logik der Sozialwissenschaften (= GS 8), Frankfurt am Main 2003, S. 564. Theodor W. Adorno, Einleitung in die Soziologie (1968) (= NaS IV/15), Frankfurt am Main 2003, S. 25. Vgl. ibidem, S. 42. Vom Bewegungsgesetz spricht auch Marx im Vorwort der ersten Ausgabe des ersten Bandes des Kapitals. Dort heisst es, dass es «der letzte Endzweck dieses Werks [sei], das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen […].» (Karl Marx, Kapital I, op. cit., S. 15.) Vgl. Theodor W. Adorno, Gesellschaft (= GS 8), Frankfurt am Main 2003, S. 9; vgl. hierzu auch Marc Nicolas Sommer, Das Konzept einer negativen Dialektik. Adorno und Hegel, Tübingen 2016, S. 149ff. Adorno, Gesellschaft. Erste Fassung eines Soziologischen Exkurses, op. cit., S. 143. (Her‐ vorhebung im Original) Zur Totalität als Vermittlungsbegriff siehe Sommer, Das Konzept einer negativen Dia‐ lektik, op. cit., S. 70ff.
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fahren und so überhaupt erst als soziale Tatsachen verstanden werden können. Die vermeintlich «unqualifizierten Daten» sind eben immer schon «durch den Zusammenhang der gesellschaftlichen Totalität strukturiert […].»138 Das darf aber nicht so missverstanden werden, als wäre die gesellschaftliche Totalität etwas, das von den Fakten abgehoben und getrennt sei. Die gesellschaftliche Totalität produziert und reproduziert sich erst durch die von ihr zusammenge‐ fassten Momente hindurch.139 Gesellschaftliche Totalität bezeichnet also die Gesamtheit der funktionalen Verhältnisse der so zur Einheit zusammengefassten Mitglieder. Ihr Wesen liegt daher in ihren objektiven Bewegungsgesetzen der Gesellschaft, die in den sozialen Phänomenen zum Ausdruck kommen, aber nicht mit ihnen gleichzu‐ setzen sind. Alles was zurecht als gesellschaftlich bezeichnet werden kann, ist deshalb durch die gesellschaftliche Totalität vermittelt und in sie eingefasst. Deshalb liegt kein Gesellschaftliches ausserhalb der gesellschaftlichen Totalität. Als solche kennt sie kein gesellschaftliches Aussen und kein gesellschaftliches Anderes.140 Das betrifft ebenso das Kunstwerk. Ist für Adorno das Kunstwerk sowohl autonom als auch ein gesellschaftliches, so ist auch das Kunstwerk in den gesellschaftlichen Funktionszusammenhang eingefasst, gegen den es seine Autonomie erst behaupten muss. Die gesellschaftliche Wirklichkeit, von der es in den Erörterungen zur Autonomie hiess, dass sie durch Rationalisierung zu einem Funktionszusammenhang umgestaltet wurde, ist also als Totalität zu verstehen. Darin fügt sich das Kunstwerk genauso ein, wie es sich durch Autonomie zugleich auch aus ihr herausnimmt. Die Ästhetische Theorie fasst die Gesellschaft unter diesem Gesichtspunkt. Sie versteht die gesellschaftliche Totalität als Funktionszusammenhang, an den eine Theorie der Gesellschaft die Frage nach seinen objektiven Bewegungsund Strukturgesetzen stellt. Um nun zu verstehen, wie das Kunstwerk in der gesellschaftlichen Totalität als Funktionszusammenhang selbst als ein Ge‐ sellschaftliches auftritt, gilt es, die Gesellschaft als Funktionszusammenhang genauer zu bestimmen.
138 139 140
Adorno, Zur Logik der Sozialwissenschaften, op. cit., S. 548f. Vgl. ibidem, S. 549; ebenfalls Theodor W. Adorno, Einleitung zum ‹Positivismusstreit in der deutschen Soziologie› (= GS 8), Frankfurt am Main 2003, S. 292. Damit ist nicht gemeint, dass es nichts ausserhalb der Gesellschaft gäbe. Die Gesell‐ schaft hat ein Anderes, es ist ihr nur nicht als Gesellschaftliches bekannt. Der Name für das Andere der Gesellschaft ist bei Adorno Natur. (vgl. u. a. Adorno, ÄT, S. 104.)
3.2 Gesellschaft
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II. Gesellschaft als Funktionszusammenhang Die Gesellschaft als Totalität stellt sich für Adorno als ein Funktionszusam‐ menhang dar. In der so verfassten Gesellschaft als Funktionszusammenhang liegen ebenso die Gründe dafür, dass der Ort des autonomen Kunstwerks sich im Funktionszusammenhang als Nicht-Ort erweist. Die Totalität des Funktionszusammenhangs kennt keinen Ort, der nicht durch eine Funktion bestimmt ist. Darin lag gerade der Sinn, von der gesellschaftlichen Totalität als Funktionszusammenhang zu sprechen. Dabei meint Gesellschaft als Funktions‐ zusammenhang aber nicht einen funktionalistischen Begriff von Gesellschaft, mit dem in Bezug stehende Einzelfunktionen geordnet werden. Der Begriff der Gesellschaft ist für Adorno in diesem Sinne eben nicht klassifikatorisch zu verstehen, das heisst nicht als ein Begriff, in dem Einzelnes einfach unter Klassen subsumiert wird. Die gesellschaftliche Totalität als Funktionszusammenhang zu bestimmen, meint vielmehr, dass nur das Bestand hat, was in ihm eine Funktion erfüllt.141 Hat die Kunst nach ihrer Emanzipation auch ihre gesellschaftlichen Funktionen verloren, so wird ihr Ort im gesellschaftlichen Funktionszusam‐ menhang nicht mehr vorweg erfasst. Die durch die Emanzipation verlorene Funktion der Kunst lässt sich auch nicht einfach zurückgewinnen, ohne damit ihre Autonomie aufzugeben, noch lässt sich eine Funktion vortäuschen, ohne hinter ihrem eigenen Anspruch zurückzubleiben.142 Da dem Kunstwerk vorweg keine Funktion im Funktionszusammenhang zugewiesen wird, bleibt es als unbestimmtes funktionslos im Funktionszusammenhang.143 Von der Autonomie des Kunstwerks her haben wir die Kunst bereits in ihrer Funktionslosigkeit beschrieben. Wurde die Autonomie des Kunstwerks in ihrem doppelten Bezug als Unabhängigkeit und Eigengesetzlichkeit verstanden, so wurde verständlich, dass das Kunstwerk keine äussere Funktion bezieht. Die Au‐ tonomie zeigte sich als die Absentierung von der empirischen Realität. Der Sinn der Autonomie ist es, sich gegen den äusseren Anspruch abzudichten, indem das autonome Kunstwerk selbst die Differenz zu seinem anderen in sich einschreibt und ausformuliert. Dies ist aber nur möglich, sofern die Autonomie als ein bestimmter Widerstand gegen seine Funktionalisierung verstandenen wird. Die spezifische Operation des autonomen Kunstwerks hatte sich darin eben von der vermeintlichen Autonomie des L’art pour l’art-Prinzips unterschieden, indem es sich nicht gleichgültig gegenüber dem zeigte, wovon sie sich abzusetzen
141 142 143
Vgl. Joseph F. Schmucker, Adorno. Logik des Zerfalls, Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, S. 43f. Vgl. Adorno, ÄT, S. 9; S. 45. Bekanntlich verwendet Adorno hierfür die Formulierung von der Funktion der Funk‐ tionslosigkeit. (Siehe ibidem S. 336f.; S. 475.)
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versuchte. Alles, was sich widerstandslos in den Funktionszusammenhang in‐ tegrieren lässt, wird von diesem auch einverleibt. Die gesellschaftliche Totalität als Funktionszusammenhang ist also genauso konsequent in ihrer Intoleranz gegenüber all demjenigen, das keine Funktion bezieht, wie sie unbeirrt versucht, alles in ihren Vermittlungszusammenhang hineinzuziehen. Wie alles im Funk‐ tionszusammenhang ein Gesellschaftliches ist, genauso ist alles, was sich ihrer Vermittlung entzieht, das Andere der Gesellschaft. Es steht daher noch aus, genauer zu klären, wie nun das autonome Kunstwerk beides zugleich sein kann, als Gesellschaftliches das Andere der Gesellschaft und umgekehrt als das Andere der Gesellschaft ein Gesellschaftliches. Hierfür muss aber zunächst verstanden werden, was es überhaupt heisst, im Funktionszusammenhang zu stehen und damit, was darin überhaupt mit Funktion gemeint ist. Was als Funktion gilt, ist aus der Gesellschaft als Funktionszusammenhang zu verstehen. Der Gesellschaftsbegriff wurde von Adorno als ein Funktionsbegriff bestimmt, da er an den objektiven Verhältnissen seiner Elemente und deren Gesetzmässigkeiten interessiert ist. Was darin mit Funktion genau gemeint ist, wird in der Ästhetischen Theorie von Adorno nur in einer Nebenbemerkung bestimmt: Funktionieren oder Funktion sein, heisst ein Für-anderes-Sein.144 Was Funktion ist, ist demnach nicht an sich.145 Unter dieser Bestimmung von Funk‐ tion wird klar, wieso der Prozess der Rationalisierung die Gesellschaft zu einem Funktionszusammenhang umgestaltet. Im Übergang von der Tradition zur Rationalität, so sind wir Adorno gefolgt, hat sich der Tausch von Äquivalenten als Grundprinzip des Modus gesellschaftlicher Vermittlungslogik durchgesetzt. Indem im Tausch von Äquivalenten etwas in einer Gleichung mit etwas anderem verrechnet wird, steht seiner Logik entsprechend alles für etwas anderes. Im Tauschverhältnis ist also alles nicht für sich, sondern für etwas anderes, ein Füranderessein. In dieser Bestimmung von Funktion wandelt der Tausch von Äquivalenten alles in Funktionen um. Der Logik des Äquivalenttausches ist es also grundlegend eingeschrieben, alles auf den Wert einer Funktion zu reduzieren. Alles unter dem Tauschprinzip stehende wird nicht an sich erfasst, sondern als ein Für-anderes nach seiner Funktion bemessen. Damit wird auch alles im Funktionszusammenhang stehende austauschbar, denn wer oder was eine Funktion erfüllt, ist dem Funktionszusammenhang gleichgültig. Wer oder was also im Funktionszusammenhang steht, ist Träger einer Funktion und entsprechend seiner Funktion austauschbar.146 144 145 146
Ibidem, S. 97; vgl. auch Adorno, Gesellschaft, op. cit., 12f. Vgl. Adorno, ÄT, S. 288. Hierin wird ersichtlich, wie das Tauschprinzip mit dem Leistungsprinzip in Zusammen‐ hang steht. Vgl. hierzu auch Adorno, Tradition, op. cit., S. 310.
3.2 Gesellschaft
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Dem steht das autonome Kunstwerk entgegen, da es im Rückzug aus dem Funktionszusammenhang «durch die Unvertauschbarkeit seiner eigenen Existenz» dem «abstrakten und universalen Funktionszusammenhang» entge‐ gensteht.147 Die Autonomie des Kunstwerks besteht dann darin, sich dem gesellschaftlichen Funktionszusammenhang so zu entziehen, dass es gegen den Abstraktionsprozess des Tausches mit seiner blossen Existenz, und nicht nach seinem Inhalt oder irgendwelcher in es gelegte Intention als Funktionsloses entgegensteht. Damit ist das Kunstwerk asozial, in dem Sinne, dass es zur Selbsterhaltung der gesellschaftlichen Totalität als Funktionszusammenhang keinen Beitrag leistet. Was im Funktionszusammenhang keine Funktion bezieht und so der Selbsterhaltung des Funktionszusammenhangs nicht dient, ist vom Funktionszusammenhang ausgeschlossen. Gesellschaftliche Totalität als Funk‐ tionszusammenhang bedeutet daher für alles, was Mitglied von Gesellschaft ist, von der Erfüllung seiner Funktion abhängig zu sein, wie umgekehrt der Funk‐ tionszusammenhang sich nur durch die Mitglieder erhält: «Das Ganze erhält sich nur vermöge der Einheit der von seinen Mitgliedern erfüllten Funktionen. Generell muß jeder Einzelne, um sein Leben zu fristen, eine Funktion auf sich nehmen und wird gelehrt, zu danken, solange er eine hat.»148 Der gesellschaftliche Funktionszusammenhang erhält sich also nur durch seine Mitglieder, reproduziert sich erst durch sie, denn er ist ja nichts anderes als der Zusammenhang der durch sie erfüllten Funktionen. Das Abhängigkeits‐ verhältnis ist aber insofern einseitig, da der Funktionszusammenhang nicht im Dienst seiner Mitglieder und deren Bedürfnisse steht, umgekehrt aber die Mitglieder unumgänglich vom Funktionszusammenhang abhängen. Das heisst, sie vermögen sich nur als Funktionen, als ein Füranderessein, am Leben zu erhalten. Sie müssen sich also in den Abstraktionsprozess der Vermittlungs‐ logik des Funktionszusammenhangs einfügen. Umgekehrt ist es aber dem Funktionszusammenhang gleichgültig, wer oder was eine Funktion erfüllt. Dem Tauschprinzip kommt so ein Primat zu, da alles im Funktionszusammenhang der Tauschabstraktion unterworfen ist. Die Beschreibung der Gesellschaft als Funktionszusammenhang gründet daher im Tausch: «Das, was Gesellschaft eigentlich zu einem Gesellschaftlichen macht, wodurch sie im spezifischen Sinn sowohl begrifflich konstituiert wird, wie auch real konstituiert wird, das ist das Tauschverhältnis, das virtuell alle Menschen, die an diesem Begriff von Gesellschaft teilhaben, zusammenschließt […].»149
147 148 149
Adorno, ÄT, S. 203. Adorno, Gesellschaft, op. cit., S. 10. Adorno, Einleitung in die Soziologie (1968), op. cit., S. 57.
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Gesellschaft als Funktionszusammenhang hat also seine Voraussetzung im Tauschverhältnis, durch das er die Mitglieder der Gesellschaft entsprechend des Tauschprinzips zusammenschliesst. Dieser funktionale Zusammenhang, in dem alles mit allem im Zusammenhang steht, ist deshalb auch nicht eine der Sache nachträgliche Abstraktion der Theoriearbeit.150 Die gesellschaftliche Struktur ist durch das Tauschprinzip, in dem alles ein Füranderessein ist, objektiv als Abstraktion zu verstehen. Mit der Behauptung des Tauschprinzips als Herr‐ schaft in der bürgerlichen Gesellschaft wird daher objektiv alles auf Gleichheit reduziert, um es in der Gleichung des Tausches von Äquivalenten einzuordnen. Das «Abstraktionsverhältnis der gesellschaftlichen Objektivität»151 hat daher seine Wirklichkeit im Tauschprinzip, das bereits den Übergang einer feudalen Gesellschaftsordnung zur bürgerlichen Gesellschaft bedingte. Die gesellschaft‐ liche Totalität als Funktionszusammenhang ist daher im Tauschverhältnis be‐ gründet, wie es sich in der bürgerlichen Gesellschaft zur Herrschaft ausgebildet hat. Die Abstraktion des Tauschvorganges stellt erst die Vergesellschaftung des Funktionszusammenhangs her. Nimmt sich das autonome Kunstwerk gerade aus diesem Funktionszusam‐ menhang heraus, so hat es sich wesentlich aus dem Tauschverhältnis heraus‐ zunehmen. In den Ausführungen zu Baudelaire und der Warenwelt haben wir gesehen, dass für Adorno das autonome Kunstwerk sich in bestimmter Negation zur Warenwelt ausformt. In der dialektischen Überkreuzung der absoluten Ware mit dem absoluten Kunstwerk bezieht die autonome Kunst den gesellschaftlichen Nicht-Ort nur durch die Heteronomie der Waren- und Tauschwelt hindurch. Das Kunstwerk kann seine Autonomie nur als bestimme Negation gegen die funktionale Integration behaupten. Die Funktionslosigkeit des Kunstwerks ist daher nur als Suspension des gesellschaftlichen Funktions‐ zusammenhangs möglich. Das autonome Kunstwerk wird durch die Suspension, durch dessen bestimmte Negation vom Funktionszusammenhang, zu einem funktionslosen. Funktionslosigkeit ist nur als Emanzipation vom Funktionszu‐ sammenhang möglich. Hat sich die Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft von den kunstfremden Funktionszusammenhängen emanzipiert, so ist sie als autonome zu nichts zu gebrauchen. Für das autonome Kunstwerk ist daher auch der Begriff des Kunst‐ genusses ein schlechter Kompromiss, da es so wieder in den heteronomen Funk‐ tionszusammenhang sich eingliedern lässt, von dem es sich erst freimachte.152 Ist es nicht einmal mehr zur sensuellen Lust gut, so ist es im gesellschaftlichen 150 151 152
Vgl. ibidem, S. 58. Ibidem, S. 77. Adorno, ÄT, S. 28.
3.2 Gesellschaft
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Funktionszusammenhang völlig wertlos. Es erweist sich auch in dieser Hinsicht als nutzlos und damit für den Funktionszusammenhang als überflüssig. Es lässt sich also auch in dieser Hinsicht nicht auf eine Funktion, ein Füranderessein, bringen. Die Gesellschaft als Funktionszusammenhang ist also ein Funktionszusam‐ menhang, in dem alles unter das Tauschgesetz subsumiert wird. Diesem Begriff von Gesellschaft, der sich für Adorno als Funktionszusammenhang erweist, entspricht der Gesellschaftsbegriff der bürgerlichen Gesellschaftsordnung. Und als solcher ist der Funktionszusammenhang antifeudal. Die als Funktionszusam‐ menhang organisierte gesellschaftliche Totalität bildet durch das Tauschprinzip nicht nur ein ungleiches Abhängigkeitsverhältnis, in dem die Mitglieder der Gesellschaft von dieser gerade noch geduldet werden, er entfremdet sie zugleich auch von sich selbst. Der Funktionszusammenhang duldet kein An-Sich. Alles in ihm wird zu einem Füranderessein. Der gesellschaftliche Funktionszusam‐ menhang wird durch das Tauschprinzip aber nicht nur zur Totalität von Füranderesseienden, sondern er macht sie zugleich auch zur antagonistischen Gesellschaft. III. Tauschprinzip und Antagonismus Den Tausch als Organisationsprinzip gesellschaftlicher Verhältnisse zu be‐ greifen, heisst für Adorno konsequenterweise die Gesellschaft als Funktions‐ zusammenhang aufzufassen. Die Totalität des Vermittlungsprozesses gesell‐ schaftlicher Verhältnisse stellte sich als die des Tauschprinzips heraus.153 Die Totalität des Funktionszusammenhangs ist in ihrer Vermittlung von Allem zu einem Füranderessein, die Durchsetzung des Tauschprinzips als die grundle‐ gende Vermittlung gesellschaftlicher Verhältnisse. Mit der Durchsetzung des Tauschprinzips als Organisationsprinzip gesellschaftlicher Verhältnisse ist aber auch der Klassengegensatz mitgesetzt. Adorno knüpft hier an die Marxsche Idee an, dass mit der Etablierung des Tauschprinzips in der bürgerlichen Gesellschaft nicht nur die Mitglieder im Funktionszusammenhang zu einem Füranderessein werden, sondern durch die mit dem Tauschprinzip sich etablie‐ rende kapitalistische Produktionsweise auch der Gegensatz von Kapital und Arbeit mitgesetzt wird. Die in der kapitalistischen Produktionsweise liegende Entwicklungstendenz, so Marx, treibt Produktionsmittel und Arbeit immer
153
Vgl. Theodor W. Adorno, Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? (= GS 8), Frankfurt am Main 2003, S. 369; vgl. hierzu auch Deborah Cook, Adorno, Habermas, and the Search for a Rational Society, London 2004, S. 27f.
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weiter auseinander.154 Adorno übernimmt den Begriff der Klasse und den Klassengegensatz aber nicht einfach dogmatisch, sondern konfrontiert sie mit den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen. Einerseits besteht mit dem Tausch als Organisationsprinzip auch der Gegensatz von Arbeit und Kapital fort und mit ihm ebenso der Klassengegensatz. Anderseits kann gegenwärtig aber kaum von den im sich zuspitzenden Klassengegensatz mitgedachten Konsequenzen die Rede sein, weder von einem Klassenbewusstsein noch von der Verelendung des Proletariats.155 Daran hätte sich ein Begriff von Klasse anzupassen.156 Nach Adorno ist das Proletariat weitgehend in die Gesellschaft integriert und daher in gewissem Sinn selbst Teil des Bürgertums geworden.157 Es hat daher mehr zu verlieren als bloss seine Ketten, wie es am Ende des Kommunistischen Manifests heisst.158 Die Proletarierin hat heute, so formuliert es Adorno klischeehaft, «ihr Kleinauto oder ihr Motorrad»159 zu verlieren. Das gilt es eben in einer Theorie der Gesellschaft mitaufzunehmen. Adorno war es also durchaus bewusst, dass die Prognosen der Klassentheorie im Lichte der Gegenwart wenig Halt haben, der Begriff der Klasse zur Beschreibung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse galt ihm dennoch weiterhin als angemessen:160 «Alle Gesellschaft ist noch Klassengesellschaft, wie in Zeiten da deren Begriff aufkam […]. Obwohl die Prognose der Verelendung über eine lange Periode hin sich nicht bewahrheitete, ist das Verschwinden der Klasse Epiphänomen.»161 Als Epiphänomen bezeichnet Adorno das Verschwinden der Klassen, weil im Tausch, als dem grundlegenden Organisationsprinzip, der Klassengegensatz eingeschrieben bleibt und damit Arbeit und Kapital weiterhin auseinandertreiben.162 Adorno folgt hierin also Marx, indem er am Klassengegensatz in seinen soziologischen und gesellschaftstheoretischen Bemühungen festhält, ohne aber mit den damit zusammenhängenden Prognosen mitzugehen. Sofern sich also 154 155 156 157 158 159 160 161 162
Karl Marx, Das Kapital III (= Marx Engels Werke 25), Berlin 1964, S. 892. Vgl. auch Susan Buck-Morss, The Origin of Negative Dialectics. Theodor W. Adorno, Walter Benjamin and the Frankfurt Institute, New York 1979, S. 28ff. Vgl. Theodor W. Adorno, Reflexionen zur Klassentheorie (= GS 8), Frankfurt am Main 2003, S. 377f.; S. 383ff. Adorno, Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft (1964), op. cit., S. 52ff. Karl Marx und Friedrich Engels, Manifest der kommunistischen Partei (= Marx Engels Werke 4), Berlin 1977, S. 493. Adorno, Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft (1964), op. cit., S. 65. Vgl. Adorno, Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?, op. cit., S. 355. Adorno, Gesellschaft, op. cit., S. 15. So sieht auch Marx, dass mit dem Anwachsen des Kapitals sich das materielle Leben der Arbeiterin verbessern kann, aber stets auf Kosten ihrer gesellschaftlichen Lage. Vgl. Karl Marx, Lohnarbeit und Kapital (= Marx Engels Werke 6), Berlin 1961, S. 416.
3.2 Gesellschaft
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mit der bürgerlichen Gesellschaft unter dem Tauschprinzip Warentausch und Markt durchgesetzt haben, ist die Gesellschaft durch den Klassenantagonismus gekennzeichnet. Wie es Adorno schon darum ging, in einer Theorie der Gesell‐ schaft die objektiven Bewegungsgesetze aufzudecken, so ist auch dieser «ob‐ jektive Antagonismus»163 in den Grundstrukturen der Gesellschaft begründet und nicht bloss mit ihren Manifestationen gleichzusetzen. Im Anschluss an Marx hebt Adorno gerade hervor, dass Klasse durch die objektive Stellung zu den Produktionsmitteln bestimmt wird, das heisst durch ihre Verfügbarkeit oder Unverfügbarkeit.164 Daher rührt auch Adornos Kritik an den Schichtund Konflikttheorien, mit denen versucht wurde, sich vom Klassenbegriff zu verabschieden. Diese Theorien verstellen gerade den Blick für den eigentlichen Antagonismus, den Klassengegensatz, den eine Theorie der Gesellschaft her‐ auszuarbeiten hätte.165 Aufgrund der gegenwärtigen Produktionsverhältnisse ist die Gesellschaft für Adorno immer noch aus Marxscher Perspektive in den Blick zu nehmen: «Stets noch sind die Menschen, was sie nach der Marxischen Analyse um die Mitte des 19. Jahrhunderts waren: Anhängsel der Maschinerie, nicht mehr bloß buchstäblich die Arbeiter, welche nach der Beschaffenheit der Maschinen sich einzurichten haben, die sie bedienen, sondern weit darüber hinaus metaphorisch, bis in ihre intimsten Regungen hinein genötigt, dem Gesellschaftsmechanismus als Rollenträger sich einzuordnen und ohne Reservat nach ihm sich zu modeln.»166
Wie die Mitglieder des Funktionszusammenhangs nur als Träger von Funk‐ tionen geduldet werden, so sind sie darin als blosse Rollenträger zu verstehen, da die Gesellschaft als Funktionszusammenhang ein Zusammenhang aus Füran‐ deresseienden darstellt. Im Funktionszusammenhang ist also nichts mit sich identisch, sondern eben ein Füranderessein. Das Identitätsprinzip, das im Tausch steckt, drängt die Mitglieder «zur Auslöschung ihrer Identität».167 Darin zeigt
163 164 165
166 167
Theodor W. Adorno, Anmerkungen zum sozialen Konflikt heute (= GS 8), Frankfurt am Main 2003, S. 185. Vgl. Adorno, Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?, op. cit., S. 358; Adorno, Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft (1964), op. cit., S. 57f. Vgl. u. a. Adorno, Anmerkungen zum sozialen Konflikt heute, op. cit.; Adorno, Spätka‐ pitalismus oder Industriegesellschaft?, op. cit., S. 355f.; siehe auch Matthias Benzer und Juljan Krause, Exposing Antagonism. Adorno and the Possibilities of Sociology, Hoboken 2020, S. 292ff. Adorno, Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?, op. cit., S. 361. Adorno, Gesellschaft, op. cit., S. 13.
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sich, wie sehr die Menschen im Funktionszusammenhang als blosse Agenten ihrer Funktion agieren.168 Der Funktionszusammenhang als Tauschgesellschaft ist also deshalb als antagonistisch zu bezeichnen, da sie vom Klassenkonflikt durchzogen ist. Dieser ist der bürgerlichen Gesellschaft insofern eingeschrieben, da im Zuge der Ausweitung des Tauschprinzips auf lebendige Arbeit sich das Tausch‐ prinzip «zwangsvoll in objektive Ungleichheit, die der Klassen»169 verkehrt. Der Antagonismus der Gesellschaft, von dem Adorno auch in der Ästhetischen Theorie spricht, soll also einen objektiven Gegensatz anzeigen, der in den Grund‐ strukturen der Gesellschaft begründet liegt. Es handelt sich nicht, wie etwa in den Schichttheorien behauptet, um «Verallgemeinerungen von Befunden an einzelnen Individuen.»170 Und da die Gesellschaft durch das Tauschprinzip zu einer antagonistischen wird, ist der Antagonismus der Gesellschaft wesentlich. Der Antagonismus ist der Tauschgesellschaft also nicht etwas Äusserliches, das sie loswerden könnte. Die Gesellschaft erhält sich vielmehr durch den Antagonismus.171 Nun ist auch das autonome Kunstwerk ein Gesellschaftliches. Seine gesell‐ schaftliche Seite entspricht daher ebenfalls der oben beschriebenen antagonis‐ tischen Totalität als Funktionszusammenhang. Die Gesellschaft ist dabei eine Totalität, da das universale Tauschverhältnis alle Momente zusammenschliesst. In einer solchen Totalität sind alle Momente durch das Tauschprinzip vermittelt und bringen die Mitglieder als Funktionsträger in ein Abhängigkeitsverhältnis, in dem sie unter dem Zwang des Funktionszusammenhangs stehen. Die Gesell‐ schaft ist aber als antagonistische Totalität ebenso durch das Klassenverhältnis bestimmt.172 Das autonome Kunstwerk auch als ein gesellschaftliches zu verstehen, stellt es also in den Kontext der antagonistischen Tauschgesellschaft, von der es sich durch seine Autonomie herausnimmt. Das autonome Kunstwerk entzieht 168
169 170 171 172
Adorno nimmt an dieser Stelle zustimmend auf Marx‘ Begriff der Charaktermaske Bezug, da jener den Rollenbegriff gesellschaftlich ableitet. Vgl. ibidem, S. 13; ebenso Theodor W. Adorno, Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit (1964/65) (= NaS IV/13), Frankfurt am Main 2006, S. 102. Adorno, Einleitung zum ‹Positivismusstreit in der deutschen Soziologie›, op. cit., S. 307. Adorno, Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?, op. cit., S. 355. Vgl. etwa Adorno, Anmerkung zum sozialen Konflikt heute, op. cit., S. 183; Adorno, Gesellschaft, op. cit., S. 14f. Vgl. Adorno, Theorie der Gesellschaft, Stichworte und Entwürfe zur Vorlesung 1949/50, op. cit., S. 127f. Zum Verhältnis von Totalität und Antagonismus vgl. auch Dirk Braunstein, ‹Gleich ist zugleich nicht gleich›. Adornos rettende Kritik des Tausches, Bielefeld 2018; Stefano Petrucciani, Adorno’s Criticism of Marx’s Social Theory, Farnham 2015.
3.2 Gesellschaft
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sich damit wesentlich dem Funktionszusammenhang. Es verortet sich aber nicht nur ausserhalb des gesellschaftlichen Funktionszusammenhang, sondern nimmt zugleich auch die gesellschaftlichen Antagonismen in sich auf. Es ist damit nicht nur ein gesellschaftliches durch seine antithetische Stellung zur Gesellschaft, sondern nimmt als gesellschaftliches auch deren Bewegungs- und Strukturgesetze in sich auf. Im Folgenden gilt es daher zu verstehen, inwiefern die Aufnahme der gesellschaftlichen Antagonismen in die Kunst diese selbst ausserhalb des gesellschaftlichen Funktionszusammenhangs verortet. IV. Verortung Die gesellschaftlichen Widersprüche gehen also in die Kunstwerke ein. Offen‐ sichtlich ist damit nicht gemeint, dass die gesellschaftlichen Widersprüche in den Werken thematisch gemacht werden. Sie sprechen nicht einfach die Antagonismen der Gesellschaft explizit aus. Der kritische Ort der Kunst liegt daher nicht in inhaltlicher Opposition gegen gesellschaftliche Missstände. Wie Adorno an Kafka festhält, ist das Gesellschaftliche an den Kunstwerken nicht in ihrem behandelten Stoff zu suchen: «Gesellschaftlich entscheidet an den Kunstwerken, was an Inhalt aus ihren Formstrukturen spricht.»173 Die Kunstwerke werden nicht durch die Behandlung gesellschaftlicher Gegenstände zu einem Gesellschaftlichen. Eine solche Behandlung gesellschaftlicher Gegen‐ stände hält Adorno für «die oberflächlichste und trügerischste».174 Genauso werden sie es auch nicht durch eine äusserliche Bestimmung gesellschaftlicher Institutionen. Beides geht offensichtlich gegen die Autonomie. Vielmehr gehen die Widersprüche der Gesellschaft als Formprobleme in die Kunst ein. Dazu heisst es in der Ästhetischen Theorie: «Die ungelösten Antagonismen der Realität kehren wieder in den Kunstwerken als die immanenten Probleme ihrer Form. Das, nicht der Einschuß gegenständlicher Momente, definiert das Verhältnis der Kunst zur Gesellschaft. Die Spannungsverhält‐ nisse in den Kunstwerken kristallisieren sich rein in diesen und treffen durch ihre Emanzipation von der faktischen Fassade des Auswendigen das reale Wesen.»175
Der gesellschaftliche Gehalt der Kunstwerke liegt in ihrer Form, in die die ge‐ sellschaftlichen Antagonismen eingehen und zu den Formproblemen der Werke werden. In der Absetzung vom gesellschaftlichen Funktionszusammenhang, von der empirischen Realität, arbeitet sich das Kunstwerk in Eigengesetzlichkeit 173 174 175
Adorno, ÄT, S. 342. Ibidem, S. 341. Ibidem, S. 16.
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an den gesellschaftlichen Widersprüchen ab. Durch die Emanzipation hat die Kunst die ungelösten Antagonismen gerade zu ihren eigenen gemacht. Sie kehren verwandelt als die immanenten Probleme der Form im Werk wieder. Das gesellschaftliche an den Kunstwerken ist also mehr das Wie ihrer Durchbildung als das Was ihres Gehalts. So schreibt Adorno über Van Goghs Stuhl mit Pfeife: «Tatsächlich kann der gemalte Stuhl etwas sehr Wichtiges sein […]. Im Wie der Malweise können unvergleichlich viel tiefere, auch gesellschaftlich relevantere Erfahrungen sich niederschlagen als in treuen Portraits von Gene‐ ralen und Revolutionshelden.»176 Das Verhältnis der Kunst zur Gesellschaft ist somit dadurch bestimmt, dass in die Werke gesellschaftliche Widersprüche so eingehen, dass in der Formstruktur der Werke sich ihr gesellschaftlicher Charakter zeigt. Die ungelösten Widersprüche der Gesellschaft gehen in der Absetzung der Kunst von der Gesellschaft in den Eigensinn der Kunstwerke als deren Probleme ein. Sie werden zu den Problemen der Kunst. Die Gesellschaft und ihre Widersprüche kommen daher in den Kunstwerken nur schattenhaft vor. Sie sind nicht explizit ausgesprochen.177 Das gesellschaft‐ liche Moment der Kunst liegt also darin, dass in ihr die Bewertungsgesetze der Gesellschaft und ihre Widersprüche in sie aufgenommen werden und im Kunstwerk sich so in Eigengesetzlichkeit entfalten, dass das Gesellschaftliche in den Formstrukturen der Kunstwerke zugleich deren Autonomie versichert. In den Kunstwerken werden die wesentlichen Bewegungsgesetze der gegenwär‐ tigen Gesellschaft weitergeführt, ihren Tendenzen so nachgegangen, dass die in ihnen angelegten Widersprüche zu den Formproblemen der Kunstwerke werden, ohne aber dass die Kunstwerke hierzu den Blick auf die Gesellschaft zu wenden hätten. Darin eben verfahren sie in Eigengesetzlichkeit. Zugleich setzen sich die Kunstwerke durch ihre Funktionslosigkeit von der Gesellschaft ab. Als Funktionslose stehen sie ausserhalb des Funktionszusammenhangs. Sie werden als Funktionslose daher auch nicht von den Bewegungsgesetzen der Gesellschaft erfasst. So behaupten sie die andere Seite der Autonomie: ihre Un‐ abhängigkeit. Bringt sich das autonome Kunstwerk in die antithetische Stellung zur Gesellschaft, so geht sie also nicht einfach in deren Bewegungsgesetzen auf und steht unter deren Zwängen, sondern hält ihr eigenes Bewegungsgesetz der Gesellschaft entgegen:178 «Gesellschaftlich an der Kunst ist ihre immanente Bewegung gegen die Gesellschaft, nicht ihre manifeste Stellungnahme.»179 176 177 178 179
Ibidem, S. 225. Ibidem, S. 336. Ebenso spricht Adorno davon, dass «Gesellschaft einzig verdunkelt, wie in den Träumen in sie [die Kunst, W.A.] eingelassen wird […].» (Ibidem, S. 336.) Ibidem, S. 291. Ibidem, S. 336.
3.2 Gesellschaft
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Deshalb spricht die Ästhetische Theorie davon, dass das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft seinen Ort «in ihrem Ansatz und dessen Entfaltung, nicht in unmittelbarer Parteinahme, im heute sogenannten Engagement»180 hat. Die gesellschaftlichen Antagonismen gehen so in die Produktion der Werke ein, dass sie sich in ihrer autonomen Entfaltung als Formprobleme antithetisch zum ge‐ sellschaftlichen Zusammenhang herausbilden. Gesellschaftliches wird in seiner künstlerischen Ausformung zur Antithese der Gesellschaft. Das Kunstwerk ist also ein Gesellschaftliches, in der Weise, dass es sich als gesellschaftliches ausserhalb des gesellschaftlichen Funktionszusammenhangs setzt. Daher ist für Adorno das Kunstwerk als Gesellschaftliches mehr als irgendeine unmittelbare Parteinahme. Das Kunstwerk ist die autonome Entwindung eines Gesellschaft‐ lichen von der Gesellschaft. Haben wir gesehen, dass Adorno die Gesellschaft als Totalität versteht, so dass sich in ihr alles unter der Vermittlungslogik des Tauschprinzips zu einem Funktionszusammenhang zusammenschliesst, so stellt die Entwindung des autonomen Kunstwerks aus dem Funktionszusammenhang die Leistung dar, durch die es den Nicht-Ort des Funktionszusammenhangs einzunehmen vermag. Das Kunstwerk verortet sich selbst, indem es durch seine Entwindung gegen den Funktionszusammenhang dessen Nicht-Ort bezieht. Daher ist es nicht die in Teilbereichen verwaltete Gesellschaft, welche die Kunst als eigenen Sonder‐ bereich im gesellschaftlichen Funktionszusammenhang bestimmt. Kunstwerke, als selbstverortende, sind durch die totalisierende Tendenz der Gesellschaft als das Andere der Gesellschaft bestimmt. Gesellschaftlich bestimmt ist das autonome Kunstwerk durch seinen Ausschluss, den es in seiner Entwindung je selbst zu leisten hat. Die zunehmende Totalisierung der Gesellschaft verschärft dabei nur noch die Gegenposition der Kunstwerke: «Je totaler die Gesellschaft, je vollständiger sie zum einstimmigen System sich zusammenzieht, desto mehr werden die Werke, welche die Erfahrung jenes Prozesses aufspeichern, zu ihrem Anderen.»181 Der damit einhergehende Fortschritt an subsumtionslogischer Or‐ ganisation, auch sämtlicher kultureller Bereiche, will daher in ihr auch der Kunst ihren Platz zuweisen. Umso mehr hat sich das autonome Kunstwerk dagegen zu sträuben. Deshalb ist auch jegliche «soziologische Ortsbestimmung»182, die ver‐ sucht, unter dem «Primat der Verwaltung»183 der Kunst ihren Ort zuzuweisen, nicht dazu geeignet, der gesellschaftlichen Verortung des autonomen Kunst‐ werks gerecht zu werden. Der Ort des autonomen Kunstwerks bestimmt sich 180 181 182 183
Ibidem, S. 473. Ibidem, S. 53. Ibidem, S. 371. Ibidem, S. 372.
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ja durch seine Entwindung aus der gesellschaftlichen Verfügungsgewalt. Der Ortsbestimmung von Kunst durch Verwaltung entgeht daher das wesentliche der Kunstwerke: «Die Souveränität des topographischen Blicks, der die Phänomene lokalisiert, um ihre Funktion und ihr Existenzrecht zu überprüfen, ist usurpatorisch. Sie ignoriert die Dialektik von ästhetischer Qualität und funktionaler Gesellschaft.»184
Der gesellschaftliche Funktionszusammenhang versucht verwaltend dem au‐ tonomen Kunstwerk seinen funktionalen Ort in seinem Zusammenhang vor‐ zuschreiben. Die Dialektik zwischen ästhetischer Qualität und funktionaler Gesellschaft, von der hier die Rede ist, liegt aber darin, dass sich das Kunstwerk als gesellschaftliches gerade so seinen autonomen Eigenbereich gegen die Ortsbestimmung der funktionalen Gesellschaft ausbildet, dass er vom Funkti‐ onszusammenhang nicht mehr eingeholt werden kann. Der Ort des Kunstwerks in der Gesellschaft ist also durch seinen Doppelcha‐ rakter von Autonomie und fait social bestimmt. Den Nicht-Ort, den das Kunst‐ werk innerhalb des gesellschaftlichen Funktionszusammenhangs einnimmt, nimmt es erst als die dialektische Entwindung eines Gesellschaftlichen durch die ästhetische Eigengesetzlichkeit hindurch ein. V. Doppelcharakter der Kunst Der Doppelcharakter der Kunst als autonom und fait social beschreibt also, dass durch die Autonomie die Kunst in bestimmter Negation sich gesellschaftlich verortet, und zwar so, dass sie als Gesellschaftliches der Gesellschaft entgegen‐ steht. Die Kunstwerke machen dabei ihren Doppelcharakter geltend, indem sie sich aus der gesellschaftlichen Totalität des Funktionszusammenhangs zu ent‐ winden vermögen. Die von Émile Durkheim entlehnte Formulierung des «fait social», des sozialen Tatbestands, dessen sich Adorno in der Ästhetischen Theorie bedient, hebt noch eine bestimmte Bedeutung hervor.185 Wie Durkheim ausführt, unterscheiden sich soziale Tatbestände als Tatbestände eigener Gattung, da sie ihr Substrat in der Gesellschaft haben. Eine spezifische Eigenschaft des Gesellschaftlichen liegt dabei darin, dass es einen gewissen Zwang gegen den je Einzelnen ausübt.186 Adorno spricht in der Vorlesung Philosophie und Soziologie vom «eigentümliche[n] Charakter des Impenetrablen, uns Entgegengesetzten,
184 185 186
Ibidem, S. 372. Zum Verhältnis zwischen Adorno und Durkheim vgl. Julia Christ, Critique of politics. Adorno on Durkheim, besonders S. 334f. Émile Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, Frankfurt am Main 2019, S 107.
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in dem sich das manifestiert, was wir, im Gegensatz vor allem zur Psychologie, nun eigentlich für den Gegenstand der Soziologie halten.»187 Dieser Zwangscha‐ rakter, den Durkheim betont, hebt das Gesellschaftliche dadurch hervor, indem es sich von jeglichem Psychologischen, bloss Subjektiven unterscheidet. Soziale Tatbestände stehen uns als Fremdes, über das wir nicht unmittelbar verfügen, entgegen. Sie leiten sich eben aus gesellschaftlicher Objektivität ab.188 Wird die eine Seite des Doppelcharakters von Adorno nun als fait social bezeichnet, so liegt darin auch angelegt, dass die Kunstwerke nach dieser Seite ein Moment gesellschaftlicher Objektivität darstellen. In diesem Moment ist daher auch das Widerständige angelegt, das jeglichem sozialen Tatbestand zukommt. Nun liegt es aber am autonomen Kunstwerk, diese Widerständigkeit gegen sich selbst zu wenden. Das wäre seine Autonomie. Diese Wendung ist deshalb eine Wendung gegen sich selbst, da das Kunstwerk seine Widerständigkeit nicht unvermittelt und äusserlich auf die Gesellschaft, sondern immanent auf seine eigene Gesellschaftlichkeit bezieht. Die Kunst ist also nicht einfach gesellschaftlich, weil die Produktion von Kunstwerken in gesellschaftliche Prozesse und Institutionen eingebunden ist, und auf der anderen Seite autonom, weil sie durch ihren Produktionsprozess sich von eben jenen gesellschaftlichen Zusammenhängen frei macht. Der Doppelcharakter formt sich vielmehr in der autonomen Durchbildung aus. Das Kunstwerk hat nur deshalb einen Doppelcharakter, weil es autonom ist: «Der Doppelcharakter der Kunst als autonom und fait social teilt ohne Unterlaß der Zone ihrer Autonomie sich mit.»189 Die Autonomie ist gegenüber ihrer gesellschaftlichen Herkunft nicht gleich‐ gültig, denn die Autonomie des Kunstwerks ist die Autonomie gegen ihre Gesellschaftlichkeit. Wie die gesellschaftlichen Antagonismen sich den Kunst‐ werken als deren Formprobleme mitteilen und die Kunstwerke sich durch diese innerhalb des gesellschaftlichen Funktionszusammenhangs gegen diesen setzen, wird der dialektische Zusammenhang von Autonomie und Gesellschaft‐ lichkeit in den Werken ausgetragen. Er ist ihnen nicht äusserlich, er ist nicht der Rahmen, in dem die Kunstwerke sich bewegen, sondern der Doppelcharakter ist selbst das Bewegungsgesetz des autonomen Kunstwerks. Dass das autonome Kunstwerk autonom genannt wird, bezeichnet also nicht nur eine Seite des Doppelcharakters der Kunst, sondern in der Autonomie der Kunstwerke liegt ihr Doppelcharakter. Der Doppelcharakter ist deshalb in die Autonomie des Kunstwerks eingeschrieben, da sich die Autonomie des Kunstwerks als nichts 187 188 189
Adorno, Philosophie und Soziologie (1960), op. cit., S. 74. Vgl. Adorno, Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft (1964), op. cit., S. 151f. Adorno, ÄT, S. 16.
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anderes herausgestellt hat, als die Behauptung seiner eigenen Autonomie gegen die gesellschaftliche Heteronomie. Das vermag das Kunstwerk aber nur als gesellschaftliches. Die Stellung zur Gesellschaft ist daher auch keine äussere Beziehung, sondern den Kunstwerken immanent. Der gesellschaftliche Funkti‐ onszusammenhang ist gegen das, was in ihm keine Funktion erfüllt, blind und vermag es daher auch nicht zu fassen. Das Kunstwerk entwindet sich zwar aus dem Funktionszusammenhang, aber als gesellschaftliches entzieht es sich nie in völliger Gleichgültigkeit vom Funktionszusammenhang: «Der Doppelcharakter der Kunst als eines von der empirischen Realität und damit dem gesellschaftlichen Wirkungszusammenhang sich Absondernden, das doch zugleich in die empirische Realität und die gesellschaftlichen Wirkungszusammenhänge hinein‐ fällt, kommt unmittelbar an den ästhetischen Phänomenen zutage. Diese sind beides, ästhetisch und faits sociaux.»190
Sie sind eben beides zugleich: im gesellschaftlichen Wirkungszusammenhang wie zugleich sich von diesem absondernd. Dass Kunstwerke Gesellschaftliches sind, hat daher einen doppelten Sinn. Es meint einerseits ihre Stellung inner‐ halb des gesellschaftlichen Funktionszusammenhangs. In bestimmter Negation gegen die Gesellschaft ist das Kunstwerk in seiner Negation durch die Gesell‐ schaft bestimmt. Das Kunstwerk bezieht in einem ihm äusserlichen Verhältnis zur Gesellschaft Stellung, und zwar so, dass es dessen Antithese darstellt. Ander‐ seits ist das Kunstwerk ein gesellschaftliches, da es selbst aus gesellschaftlichen Verhältnissen, Prozessen und Materialien hervorgeht. Das Kunstwerk ist seiner Herkunft nach immer schon ein gesellschaftliches.191 Es ist daher auch imma‐ nent ein gesellschaftliches, denn keine seiner Bedingungen steht ausserhalb der gesellschaftlichen Verhältnisse. Der Doppelcharakter besteht darin, dass die Autonomie und Gesellschaftlichkeit im Kunstwerk immer zugleich sind. Diese zwei Seiten sind im Kunstwerk so auszutragen, das es stets beides ist, ohne dass das eine Moment das andere aufhebt. Der Doppelcharakter des Kunstwerks steht so in einem permanenten Selbstkonflikt. Als ein gesellschaftliches muss es um seiner Autonomie willen sich gegen sich selbst abarbeiten. Das autonome
190 191
Ibidem, S. 374f. Um die Widerständigkeit gegen die Gesellschaft zu behaupten, müsse das autonome Kunstwerk, so Alexander García Düttmanns Lesart der Autonomie der Kunst bei Adorno, «in einem Außen entspringen, an einem Ort, der nicht in der Gesellschaft angesiedelt werden kann.» (Alexander García Düttmann, Love Machine. Der Ursprung des Kunstwerks, Konstanz 2018, S. 40.) Wie sich zeigte, kann das autonome Kunstwerk aber nur dann seine Widerständigkeit behaupten, sofern es selbst ein gesellschaftliches ist.
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Kunstwerk entwindet sich dem gesellschaftlichen Funktionszusammenhang, indem es gegen sich selbst widerständig wird. Wie aber ein Gemachtes es vermag, in dieser Weise seinen Doppelcharakter auszuformen, steht noch aus. Mag durch den Doppelcharakter der Ort des Kunstwerks in der Totalität des gesellschaftlichen Funktionszusammenhangs bestimmt sein, so muss nun geklärt werden, wie und woraus nun ein Kunstwerk überhaupt gemacht wird, so dass es als gesellschaftliches sich gegen die Gesell‐ schaft absetzt. Sind Kunstwerke stets Gemachtes, Artefakte, so lässt sich ein Kunstwerkbegriff unter den Vorzeichen der Produktion nur erfassen, sofern die Begriffe künstlerischer Tätigkeit und des künstlerischen Materials geklärt sind.
3.3 Arbeit I. Künstlerische Tätigkeit Kunstwerke müssen gemacht werden, sie können sich nicht selbst setzen. Sie sind nicht Naturprodukte, sondern Produkte des Geistes und werden als solche durch ein Subjekt hervorgebracht. Kunstwerke sind somit Artefakte und als solche Produkte menschlicher Tätigkeit.192 Und zwar müssen sie so gemacht werden, dass sie sich durch den geforderten Doppelcharakter von Autonomie und fait social verwirklichen. Darin unterscheiden sie sich von anderen Produkten des Geistes, solchen, die für einen bestimmten Zweck oder Gebrauch hergestellt werden. Kunstwerke sind keine Gebrauchsgegenstände. Sollen die Produkte dieser Tätigkeit dem Anspruch des Doppelcharakters genügen, so müssen sie so gefertigt sein, dass sie nicht Teil der empirischen Realität werden. So ist gerade die Autonomie des Kunstwerks zu verstehen. Die Doppeldeutigkeit der Autonomie als Unabhängigkeit und Eigengesetzlichkeit bestimmt die Elemente des Kunstwerks in Eigengesetzlichkeit und macht sie dadurch unabhängig von der empirischen Realität. Sämtliche Elemente eines Kunstwerks erfahren ihre Bestimmung durch das Kunstwerk und sind so nicht auf etwas ausserhalb von ihm verwiesen. Die Kunstwerke bestimmen sich also nicht durch den Funktionszusammenhang, als welchen Adorno die Gesellschaft beschreibt, sondern durch ihre Absage an sie. Die Künstlerin ist dabei jenes Subjekt, welches diese Tätigkeit vollzieht. Somit ist die Künstlerin die Vollfüh‐ rerin der künstlerischen Tätigkeit, sie ist das künstlerische Subjekt. Nimmt die Künstlerin den Anspruch ernst, den das autonome Kunstwerk an ihre Tätigkeit 192
Vgl. Adorno, ÄT, S. 14.
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stellt, so sieht sie sich in ihrem Tun mit einer grundlegenden Schwierigkeit konfrontiert: Es ist ihr unmöglich, sich auf einen verbindlichen Kanon an Regeln und Formen zu berufen, da dieser durch keine Tradition mehr verbürgt wird, sie darf zugleich aber auch nicht beliebig vor sich hinarbeiten. Dies verbietet sich gerade durch Adornos Einsicht in die Negation der Tradition durch Rationalität. Das Autonom-Werden der Kunst liegt gerade darin begründet und fordert darin das autonome Kunstwerk heraus. Lässt sich die Autonomie der Kunst aus veränderten gesellschaftlichen Bedingungen erklären, so bleibt aber die Anforderung der Autonomie des Kunstwerks in seiner spezifischen Herstellung weiterhin ungewiss. Weder Regelkanon noch Handlungsanleitung leiten die Künstlerin in ihrer künstlerischen Tätigkeit an. Dies als freudigen Aufbruch unbegrenzter künstlerischer Möglichkeiten anzusehen, scheint von ihrer Schattenseite überboten zu werden: «[A]llerorten freuten die Künstler weniger sich des neu gewonnen Reiches der Freiheit, als daß sie sogleich wieder nach vorgeblicher, kaum je tragfähiger Ordnung trachteten.»193 Der Künstlerin bleibt daher verwehrt, ihre Tätigkeit durch Tradition anleiten zu lassen und zu rechtfertigen. Tradition ist nur noch als «falsche Tradition»194 möglich, da ihre gesellschaftliche Grundlage nicht mehr besteht. Ebenso darf die Künstlerin die Autonomie des Kunstwerks nicht preisgeben, da diese erst die Möglichkeit der Kunst, kritischer Einspruch zu sein, darstellt. Die Schwierigkeit für die Künstlerin in der künstlerischen Tätigkeit besteht also darin, dass sie einerseits dem historischen Stand der Kunst als autonom-ge‐ wordene gerecht werden muss, anderseits aber nicht wissen kann, wie ihre künstlerische Tätigkeit sich anleiten lässt. Die zuvor angesprochene Rechtferti‐ gungskrise der Kunst verschiebt sich hier also auf die Ebene der künstlerischen Tätigkeit und stellt sich der Künstlerin in der Ungewissheit des Wie ihrer Arbeit. Die Forderung einer Regelhaftigkeit der künstlerischen Tätigkeit steht also einer vermeintlichen Regellosigkeit der autonom gewordenen Kunst gegenüber. Das Problem, mit dem sich die künstlerische Tätigkeit konfrontiert sieht, liegt nach Adorno also darin, dass der Künstlerin weder eine Anleitung gegeben ist, noch dass sie sich selbst anleiten könnte. So heisst es in seiner Ästhetik-Vorlesungen von 1958/59: «Denn wir können uns heute nicht einmal eine Regel selbst stellen, wenn nicht durch diese Gestelltheit der Regel bereits etwas wie ein Automatismus, etwas Willkürliches sich herstellen soll; sondern wir müssen einer Regel gehorchen, die wir uns nicht
193 194
Ibidem, S. 9. Adorno, Über Tradition, op. cit., S. 313.
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einmal selbst stellen können – geschweige, daß sie uns objektiv gestellt wäre –, sondern die in der Sache liegt.»195
Die Rechtfertigungskrise der Kunst ist dadurch gekennzeichnet, dass jegliche dem Werk äusserliche Regel unverbindlich wurde. Keine objektiv gestellte Regel kann ihre Legitimation durch Tradition noch verbürgen. Ist die Kunst autonom geworden, so lässt sich auf keinen objektiven Regelkanon verweisen. Ebenso verbietet sich für Adorno aber auch die Möglichkeit, sich eine Regel für die künstlerische Tätigkeit selbst zu geben. Setzt sich die Künstlerin die Regeln ihrer Tätigkeit selbst, so stehen diese willkürlich dem Werk entgegen. Werden die Regeln dem Kunstwerk äusserlich vorgegeben, so gleicht die Regelfolge einem, wie Adorno es bezeichnet, Automatismus und beschneidet das Kunstwerk in seiner Autonomie. Adornos Forderung, die Anleitung der künstlerischen Tätigkeit aus der Sache selbst zu gewinnen, um so der Autonomie des Kunst‐ werks gerecht zu werden, führt in die widersprüchliche Lage, Regeln zu folgen, die erst aus der Regelfolge erarbeitet werden. Die Ratlosigkeit künstlerischer Tätigkeit verschärft sich somit nochmals. Verschärft wird sie eben dadurch, dass die Künstlerin nicht weiss, worauf ihre Tätigkeit hinzielt, zugleich aber ihre Tätigkeit sich in einem Werk zu erschöpfen hat. Das Problem, mit dem sich die künstlerische Tätigkeit in der Forderung des autonomen Kunstwerks konfrontiert sieht, wird so ersichtlich. Es liegt im Widerspruch der künstlerischen Tätigkeit, jener Regelhaftigkeit unbeirrt zu folgen, welche die künstlerische Tätigkeit als Mass erst in Form des Kunstwerks hervorbringt. Ist das Kunstwerk vom Gebrauchsgegenstand zu unterscheiden, so lässt sich gerade in keiner Weise vorgängig das Mass der künstlerischen Tätigkeit herleiten. Vom autonomen Kunstwerk kann nicht gesagt oder gewusst werden, was es ist, da es sich gerade durch seine Funktionslosigkeit auszeichnet und sich so vom Gebrauchsgegenstand unterscheidet. Das Gelingen eines Ge‐ brauchsgegenstandes, seine Herstellung, lässt sich zumindest daran messen, ob er seinen Zweck erfüllt. Das autonome Kunstwerk hat durch seinen Eigensinn das Mass nur an sich selbst: besteht das Kunstwerk nicht, so gibt es auch kein Mass, an dem es sich messen liesse. Was Adorno also von der Künstlerin abverlangt, ist einer Regel zu folgen, die in der Sache selbst liegt. Die Sache, in der die Regel zu finden wäre, wird aber erst durch deren eigene Regelfolge hervorgebracht. Für Adorno gilt es, diesen Widerspruch ernst zu nehmen und nicht aufzulösen, indem die Autonomie oder der Begriff des Kunstwerks überhaupt aufgegeben werden. Adorno beharrt damit auf der aristotelischen Unterscheidung, dass Herstellung (ποίησις) stets 195
Adorno, ÄVL, S. 340.
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auf ein Werk (ἔργον) gerichtet ist und sich darin von Handeln (πρᾶξις) unter‐ scheidet.196 Adorno hält an der Werkgerichtetheit der künstlerischen Tätigkeit fest, obwohl die damit verbundene Regelhaftigkeit mit der Krise der Kunst nicht mehr garantiert ist.197 Das Tun der Künstlerin ist für Adorno also auf die Hervorbringung eines Kunstwerks hin ausgerichtet. Zugleich lässt sich im strengen Sinn aber nicht angeben, worin dieses Kunstwerk bestehen soll, noch nach welchen Regeln es sich herstellen liesse. Adorno hält einerseits an einer Regelästhetik fest – Kunstwerke sind nicht Produkte des Zufalls –, zieht aber zugleich die Konsequenz, dass die Moderne genau die Aufhebung der Möglichkeit jeglicher Regelästhetik darstellt. Als Ort möglicher Aushandlung dieser Paradoxie der künstlerischen Tätig‐ keit lässt sich das schöpferische Subjekt denken. Stellt sich für Adorno das Problem der künstlerischen Tätigkeit in der Paradoxie der Gleichzeitigkeit von Regelfolge und Regelhervorbringung, so scheint sich mit dem Geniebegriff eine Möglichkeit der Lösung dieses Problems aufzutun. II. Das schöpferische Subjekt Eine gängige Vorstellung von künstlerischer Tätigkeit besagt, dass die Künst‐ lerin in absichtsvoller Weise ihre Kunstwerke so hervorbringt, dass ihre Inten‐ tion im Werk zum Ausdruck kommt. Die Künstlerin ist schöpferisch tätig, indem sie ihre Intention im Kunstwerk zum Ausdruck bringt. Dies würde heissen, dass das Verständnis eines Kunstwerks mit dem Erkennen der Intention der Künstlerin gleichzusetzen wäre. So scheint es offensichtlich, dass durch den Rückgriff auf die Intention der Künstlerin, diese sich die Regeln ihrer künstlerischen Tätigkeit selbst gibt und so dem Anspruch des Doppelcharakters der Kunst nicht genügen kann. Ob ein Kunstwerk mehr oder weniger geglückt ist, misst sich dann an dem, was von der Künstlerin beabsichtigt wurde. Ihre Absicht leitet ihre künstlerische Tätigkeit an, wie sie auch zum Richtmass des
196
197
Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik (= Werke 6), Berlin/Boston 2020, 1094a1ff. Adorno selbst verweist an keiner einzigen Stelle in der Ästhetischen Theorie oder anderen Schriften zur Ästhetik auf die aristotelische Unterscheidung zwischen Herstellen und Handeln. Lediglich in seiner Vorlesung über Aristoteles verweist er in einem freilich ganz anderen Zusammenhang darauf (vgl. Theodor W. Adorno, Metaphysik. Begriff und Probleme (1965) (= NaS IV/14), Frankfurt am Main 2006, S. 144f.) Dagegen sieht etwa Georg W. Bertram die Kunst wesentlich auf Praxis bezogen. Die gesellschaftliche Seite der Kunst versteht Bertram bei Adorno daher auch als eine normativ-evaluative Erkundung menschlicher Praxis. (vgl. Georg W. Bertram, Kunst als menschliche Praxis. Eine Ästhetik, Berlin 2014, S. 216).
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Kunstwerks wird.198 Hat das Kunstwerk seinen Doppelcharakter zu behaupten, so kann dieser eben nicht in der Intention der Künstlerin begründet werden. Dieser Rückgriff auf die Intention verbietet die Autonomie und wurde von Adorno darin festgehalten, dass die Rechtfertigungskrise der Kunst es ebenso der Künstlerin verbietet, die Regel aus sich zu setzen. Die künstlerische Tätig‐ keit darf sich nicht an der Intention, an der subjektiven Idee der Künstlerin orientieren. Ihre Absicht kann keine Anleitung zur künstlerischen Tätigkeit geben. Es verbietet sich aus der Forderung nach Autonomie sowie ihrem Anspruch auf Wahrheit. Wäre die Frage nach dem, was ein Kunstwerk ist, mit Verweis auf die Absicht der Künstlerin zu beantworten, so wäre damit nicht nur die Autonomie des Kunstwerks dahin – denn es würde so zum Abbild des Subjekts oder dessen subjektiver Idee – sondern würde darüber hinaus das Werk ebenso zum Willkürlichen erklären, nämlich zur Willkürlichkeit der von der Künstlerin gesetzten, subjektiven Idee. Ist Adornos Anspruch an die Kunst der Wahrheit verpflichtet, so kann sie nichts Willkürliches sein, sondern es wäre von den Kunstwerken gefordert, dem Objektivitätsanspruch der Kunst gerecht zu werden. Die Künstlerin ist darin weniger schöpferisch tätig, als sie vielmehr dem zu gehorchen hat, was die Sache von ihr will.199 Dies bezeichnet für Adorno gerade den Unterschied zwischen Kunstpsychologie und Ästhetik. Geht es Adorno in einer Ästhetik darum, den Anspruch an das Werk zu stellen, so ist die Kunstpsychologie auf «das Verhältnis der einzelnen Menschen zu dieser Sache»200 gerichtet. Dies spricht nach Adorno den Unterschied zwischen objektiv-ästhetischer Art und psychologischer Art aus.201 Eine Ästhetik hat nicht von der Künstlerin zu handeln, sondern hat auf die Sache zu gehen, auf das Kunstwerk selbst. Nicht nur widerspricht die Anleitung der künstlerischen Tätigkeit durch die Intention der Autonomie und dem Wahrheitsanspruch der Kunstwerke, vielmehr macht die Berufung auf die Intention das Kunstwerk geradezu überflüssig: «Wie wenig der Wahrheitsgehalt mit der subjektiven Idee, der Intention des Künstlers zusammenfällt, zeigt die einfachste Überlegung. Kunstwerke existieren, in denen der
198 199 200 201
In dieser Weise versteht u. a. Richard Wollheim die Intention der Künstlerin als entscheidend. Vgl. Richard Wollheim, Art and its Objects, Cambridge 2015, S. 47ff. Vgl. Adorno, ÄVL, S. 110. Ibidem, S. 26. Der Vorwurf richtet sich hauptsächlich gegen Wilhelm Dilthey. Adorno spricht der sogenannten Kunstpsychologie nicht grundlegend ihren Wert ab, stellt sich aber gegen eine Verkürzung der Ästhetik auf jene. Diese Vorbehalte verschärfen sich zunehmend und erhalten in der Ästhetischen Theorie ihre endgültige Zuspitzung. Vgl. hier eine noch gemässigtere Haltung in ibidem, S. 26ff.
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Künstler, was er wollte, rein und schlackenlos herausbrachte, während das Resultat zu mehr nicht geriet als zum Zeichen dessen, was er sagen wollte, und dadurch verarmt zur verschlüsselten Allegorie. Sie stirbt ab, sobald Philologen aus ihr wieder herausgepumpt haben, was die Künstler hineinpumpten, ein tautologisches Spiel, dessen Schema etwa auch viele musikalische Analysen gehorchen.»202
Die Kunstwerke werden auf ein, wenn auch raffiniertes, Kommunikationsmittel der subjektiven Idee der Künstlerin verkürzt. Sie sind darin tautologisch und überflüssig, denn sie gehen als Mitteilung darin auf, was zuvor als ihr Gehalt in sie hineingelegt wurde. Dieser Vorstellung unterliegt nach Adorno aber die Verwechslung von Intention und Gehalt und daraus folgend die Vorstellung, durch eine philologische Vorgehensweise dem Kunstwerk seinen Gehalt ablesen zu können: «Das philologische Verfahren, das mit der Intention den Gehalt als Sicheres in der Hand zu haben sich einbildet, richtet sich immanent dadurch, daß es aus den Kunstwerken tautologisch das herausholt, was zuvor in sie hineingesteckt ward […].»203 Missversteht sich Intention als Gehalt der Kunst‐ werke, eben als jenes was die Künstlerin versuchte absichtsvoll im Kunstwerk auszuhandeln, so wird dasjenige übergangen, was erst im Kunstwerk selbst hervorgeht und sich nicht rückübersetzen lässt in irgendein Gemeintes. Dies wäre nach Adorno aber gerade als Gehalt der Kunstwerke zu bezeichnen. Es bezeichnet etwas Objektives, «ohne Rücksicht auf den Produzierenden», etwas, das «durch das Kunstwerk selber zwingend sich darstellt».204 Somit kann die Intention als subjektive Idee der Künstlerin nicht zur Lösung des Problems der Regellosigkeit des autonomen Kunstwerks dienen. Mögen auch Intentionen in das Kunstwerk einfliessen, so machen sie nicht den Gehalt der Werke aus, sondern fliessen als Stoffe in sie ein.205 Darin liegt gerade das Missverständnis. Es verkürzt das Werk darauf, eben jene Intention, welche die Künstlerin zuvor in das Werk gelegt hat, zu kommunizieren. Das Kunstwerk spricht so nur das aus, was sich in seiner Entschlüsselung vollständig übersetzen lässt. Es verkommt so zur reinen Vermittlung der Intention, die sich in ihrer Übersetzung zu einem Überflüssigen macht. Das Kunstwerk wird so zum Unverbindlichen wegerklärt und in seinem eigentlichen und eigenen Gehalt verkannt. Die Kunstwerke unterliegen so dem Mass der Intention der Künstlerin. Sie haben sich aber selbst zum Mass zu nehmen und nicht die Künstlerin und
202 203 204 205
Adorno, ÄT, S. 194f. Ibidem, S. 226. Adorno, ÄVL, S. 216. Vgl. ibidem, S. 216f.
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ihre Absichten. Subjektivität bleibt allerdings eine notwendige Bedingung des Kunstwerks, denn das Kunstwerk vermag sich als ein gemachtes, das es immer auch ist, nicht selbst zu setzen. Die Subjektivität soll unter der Forderung der Autonomie nicht den Gehalt des Kunstwerks bestimmen. Diesen gewinnt das Kunstwerk erst durch Objektivation. Daher lässt sich das Kunstwerk nicht auf die Intention der Künstlerin verkürzen. Lässt sich für Adorno die Anleitung zur künstlerischen Tätigkeit nicht aus der Intention gewinnen, so ist das künstlerische Subjekt als schöpferisches Subjekt noch nicht völlig zu verwerfen, da es sich noch als Genie vorstellen lässt. Das Genie unterscheidet sich nun darin, dass es in seiner künstlerischen Tätigkeit von seiner Intention nicht weiss und damit nicht vollständig über sie verfügt. Das Genie als schöpferisches Subjekt zu verstehen steht demnach der absichtsvollen Künstlerin, die versucht ihre Intention im Kunstwerk zu verwirklichen, in solcher Weise entgegen, dass das Genie gerade kein Wissen über das Wie seiner künstlerischen Tätigkeit verfügt. Und dennoch schöpft das Genie das Kunstwerk ebenso willentlich aus sich heraus wie die Intention es vermochte die künstlerische Tätigkeit anzuleiten. In dieser Weise versucht Kant dem Problem künstlerischer Tätigkeit entge‐ genzukommen. Denn auch Kant sieht sich mit dem Problem der Regellosig‐ keit der künstlerischen Tätigkeit konfrontiert. Kunstwerke müssen für Kant absichtsvoll von einer Künstlerin hervorgebracht werden, aber stets so, dass sie nicht von Regeln angeleitet werden, die einen Begriff zu ihrem Bestimmungs‐ grund machen.206 Denn würden sie gar keine Regeln voraussetzen, dann wäre die schöne Kunst nichts als Produkt des Zufalls und kann als solche nicht als schön bezeichnet werden. Damit ein Kunstwerk als schöne Kunst gelten kann, muss es Gegenstand eines ästhetischen Urteils sein können. Ästhetische Urteile haben ihren Bestimmungsgrund aber nicht in einem Begriff, vielmehr ist er subjektiv: Der Bestimmungsgrund der schönen Kunst ist ein Gefühl.207 Kant löst das Problem der schönen Kunst, dass sie einerseits ihren Bestimmungsgrund nicht in einem Begriff hat, anderseits aber auch nicht einfach regellos ist, im Geniebegriff auf. So schreibt Kant zur schönen Kunst: «Also kann die schöne Kunst sich selbst nicht die Regel ausdenken, nach der sie ihr Product zu Stande bringen soll. Da nun gleichwohl ohne vorhergehende Regel ein Product niemals Kunst heißen kann, so muß die Natur im Subjecte (und durch die
206 207
Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft (= Akademie-Ausgabe Bd. 5), Berlin 1913, § 46, S. 307f. Vgl. ibidem, § 1, S. 203; § 15, S. 227f.
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Stimmung der Vermögen desselben) der Kunst die Regel geben, d. i. die schöne Kunst ist nur als Product des Genies möglich.»208
Schöne Kunst ist deshalb nur als Produkt des Genies möglich, da das Genie dasjenige Talent darstellt, welches erst das künstlerische Subjekt zur Produktion von schöner Kunst befähigt. Da die Produkte der schönen Kunst für Kant zwar keine Naturprodukte sind, so sind sie aber so, als wären sie Natur. Damit ist gemeint, dass die Zweckmässigkeit in jener Form so sein muss, dass sie zugleich vom Zwang willkürlicher Regeln frei scheint.209 In den Werken der schönen Kunst darf die Zweckmässigkeit nicht absichtlich scheinen, obwohl sie als Produkte menschlicher Tätigkeit zweckmässig sind. Daher bestimmt Kant die schöne Kunst folgendermassen: «[S]chöne Kunst muß als Natur anzusehen sein, ob man sich ihrer zwar als Kunst bewußt ist.»210 Schöne Kunstwerke sollen für Kant also mit den Regeln übereinkommen, nach denen sie werden, was sie sind, aber so, dass nicht durchscheint, wie die Künstlerin sich die Regelfolge erschlossen hat. Kant bestimmt diese Bedingung der schönen Kunst, die als Natur erscheinen kann, als eine Pünktlichkeit ohne Peinlichkeit: «Als Natur aber erscheint ein Product der Kunst dadurch, daß zwar alle Pünktlichkeit in der Übereinkunft mit Regeln, nach denen allein das Product das werden kann, was es sein soll, angetroffen wird; aber ohne Peinlichkeit, ohne daß die Schulform durchblickt, d. i. ohne eine Spur zu zeigen, daß die Regel dem Künstler vor Augen geschwebt, und seinen Gemüthskräften Fesseln angelegt habe.»211
Und weil der schönen Kunst ebenso eigen ist, dass sie sich nicht durch äusser‐ liche Regeln anleiten lassen darf, da sie sonst begriffliche Bestimmung erfährt, so kann Kunst nur als schöne Kunst zum Gegenstand eines ästhetischen Urteils werden. Daher löst Kant das Problem der künstlerischen Tätigkeit mit dem Be‐ griff des Genies auf, denn es ist das Genie, das die schöne Kunst als Pünktlichkeit ohne Peinlichkeit hervorzubringen vermag. Das Genie als «Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel gibt»212, liefert erst die Erklärung, wie es möglich ist, dass auch Produkte menschlicher Tätigkeit neben Naturgegenständen als schön bezeichnet werden können. Durch das Genie vermag die Natur der Kunst
208 209 210 211 212
Ibidem, § 46, S. 307. Vgl. ibidem, § 45, S. 306. Ibidem, § 45, S. 306. Ibidem, § 45, S. 307. Ibidem, § 46, S. 307.
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ihre Regeln zu geben. Gibt die Natur durch das Genie der Kunst die Regeln, so ist für Kant die schöne Kunst nur durch ein Genie hervorzubringen. Hier setzt Adornos Kritik am Geniebegriff an. Für Adorno ist an diesem Verständnis des Geniebegriffs falsch, dass es das Genie unreflektiert mit dem kreativen Subjekt gleichsetzt. Vielmehr wäre der Geniebegriff nach Adorno auf seine geschichtsphilosophische Objektivität zu bringen.213 Es gilt dabei an der idealistischen Überhöhung die wahren und falschen Momente des Geniebegriffs herauszuarbeiten. Im Geniebegriff wurde der Versuch unternommen, im Bereich der Kunst dem Einzelnen «unmittelbar das Vermögen zum übergreifenden Authentischen zu attestieren».214 Der Geniebegriff führt so für Adorno die Unterscheidung von Subjekt und Individuum im Bereich der Kunst wieder zusammen. Zwar stimmt Adorno zu, dass das Authentische, das «Verpflichtende», das «universale Mo‐ ment», nur durch seine Vereinzelung sich objektivieren könne, dies ist aber stets durch ein einzelnes empirisches Individuum vermittelt. Die unreflektierte Zusammenführung dieser zwei Seiten ist deshalb aber für Adorno problema‐ tisch, da sie das Genie im Bereich der Kunst wie eine Tatsache behandelt.215 Unhinterfragt erscheint so die Künstlerin als Schöpferin, die vermeintlich aus dem Nichts und auf unerklärliche Weise Werke zu schaffen vermag: «Genie soll das Individuum sein, dessen Spontaneität mit der Tathandlung des absoluten Subjekts koinzidiert. Soviel ist richtig daran, wie die Individuation der Kunstwerke, vermittelt durch Spontaneität, das an ihnen ist, wodurch sie sich objektivieren. Falsch aber ist der Geniebegriff, weil Gebilde keine Geschöpfe sind und Menschen keine Schöpfer.»216
Ist es nach Adorno richtig, dass Kunstwerke sich durch ihre Individuation objektivieren und daher immer durch eine Künstlerin hervorgebracht werden, so wird diese richtige Einsicht des Geniebegriffs gleich wieder eingezogen, indem das Genie mit jenem einzelnen Individuum gleichgesetzt und daher verwechselt wird. Dies stellt für Adorno die unreflektierte Zusammenführung des Subjekts mit dem Individuum im Genie dar: «Im Geniebegriff wird mit idealistischer Hybris die Idee des Schöpfertums vom transzendentalen Subjekt an das empirische, den produktiven Künstler zediert.»217
213 214 215 216 217
Vgl. Adorno, ÄT, S. 254. Ibidem, S. 254. Ibidem, S. 254f. Ibidem, S. 255. Ibidem, S. 255.
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Die Kritik muss für Adorno aber hier ansetzen, da die Genieästhetik dieses Verhältnis von Individuum und Subjekt «blindlings, undialektisch in jenes Indi‐ viduum versetzt», das nun zugleich auch Subjekt sein soll.218 Darin liegt Adornos Kritik an Kants Geniebegriff. Für Adorno unterschlägt so der Geniebegriff gerade das «Moment des endlichen Machens, der τέχνη an den Kunstwerken», zugunsten «ihrer absoluten Ursprünglichkeit».219 Indem das Problem der künst‐ lerischen Tätigkeit, der Gleichzeitigkeit von Regelfolge und Regelsetzung, an ein Naturtalent delegiert wird, wird die Frage ihres Zustandekommens an eine Instanz verwiesen, die sich nicht weiter bestimmen lässt. Das Genie setzt aus sich die Regeln, und zwar frei von jeglichem Regelzwang. Worin aber das Talent besteht, welches nach Kant im Genie der Kunst die Regeln gibt, muss im Dunkeln bleiben. Was am Geniebegriff aber für Adorno zu retten wäre, ist die Möglichkeit, wirklich autonome Kunstwerke hervorzubringen. Nur ist das Geniale des Genies nicht als etwas Subjektives zu verstehen, als etwas, das der Künstlerin durch irgendein Naturtalent zukommt, sondern in den Werken selbst angelegt. Für Adorno heisst genial vielmehr «eine Konstellation treffen».220 Adorno versteht das Geniale also nicht im schöpferischen Subjekt, das irgendwie seine Schöpfung hervorzubringen vermag, sondern in einem gewissen Entsprechen, über dessen Korrespondenz die Künstlerin aber nicht verfügt. Das Genie, welches Kant noch durch ein Talent bestimmte, zeigt nach Adorno ein ichfremdes Moment an. Dieses Ichfremde ist aber weder in einer geheimnisvollen, schöpferischen Kraft oder Anlage im Subjekt zu suchen noch als irgendeine absolute Ursprünglichkeit zu verstehen. Die Frage nach der künstlerischen Tätigkeit zeigt sich also im Lichte der von Adorno geforderten Autonomie des Kunstwerks als nicht lösbar über das künstlerische Subjekt, in dem Sinne, als dass es die Regeln seiner Tätigkeit unmittelbar aus sich schöpfen könnte. Dieses Problem lässt sich weder in der Setzung einer subjektiven Idee der Künstlerin noch in Form eines schöpferischen Subjekts auflösen. Vielmehr liegt im Geniebegriff jenes Missverständnis vor, in welchem die technischen Vermögen der Künstlerin mit der Schöpfung eines Kunstwerks aus dem Nichts verwechselt wurden. Adorno verweist in dieser Hinsicht an mehreren Stellen auf einen Satz Beethovens, nach welchem «viele der Wirkungen, welche man gemeinhin dem Naturgenie des Komponisten zuschriebe, […] in Wahrheit einzig
218 219 220
Ibidem, S. 254f. Ibidem, S. 255. Ibidem, S. 256.
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der geschickten Verwendung des verminderten Septimakkords zu danken»221 sei. In dieser Beethoven zugeschriebenen Aussage sei gerade durch dessen Nüchternheit «alles Geschwätz von Schöpfertum»222 verurteilt. Adornos Kritik des Geniebegriffs zielte gerade darauf ab, dass die Künstlerin sowenig Schöp‐ ferin ist wie ihre Werke Geschöpfe sind. III. Metier und Technik Das künstlerische Subjekt ist kein schöpferisches Subjekt. Vielmehr weist das künstlerische Subjekt sich in seinen bestimmten Fertigkeiten der Verfahren aus. Das so geglaubte Naturgenie liegt im Verfahren der künstlerischen Tätigkeit selbst und nicht im Subjekt. Dies hat der Geniebegriff gerade unterschlagen, indem er die Künstlerin zu einer Schöpferin überhöht, die etwas aus dem Nichts schafft. Adornos Kritik am Geniebegriff versucht daher den Widerspruch, der sich für das autonome Kunstwerk in der künstlerischen Tätigkeit stellt, in ihren Verfahrensweisen aufzulösen. Die Künstlerin bringt also nicht als Schöpferin die Kunstwerke hervor, sondern bringt durch ihre Verfahrensweisen die Kunstwerke hervor, und zwar so, dass deren Regelhaftigkeit seiner ei‐ genen Objektivität folgt. Die Objektivität besteht in ihrer Notwendigkeit eines So-und-nicht-anders. Diese Verbindlichkeit der Kunstwerke lässt sich aber nicht mehr durch eine Tradition garantieren, wie ebenso die Genieästhetik für Adorno nicht die künstlerische Tätigkeit zu fassen vermochte. Stattdessen soll die Technik dem «Verfall der traditionalen Verfahrungsweisen»223 die Ver‐ bindlichkeit zurückgeben. So bringt die Künstlerin Fähigkeiten mit sich, mit denen sie in ihrer künstlerischen Tätigkeit der Konzeption gerecht wird.224 Sie vermag eben jene Konstellation zu treffen, welche der Kantische Geniebegriff durch eine Pünktlichkeit ohne Peinlichkeit zustande bringen will. Soll die künstlerische Tätigkeit ein autonomes Kunstwerk hervorbringen, so lassen sich die Verfahrensweisen auch nicht mehr als lern- und lehrbare Anweisung verstehen. Zwar lassen sich die Fertigkeiten lehren und erlernen, sie dienen aber nicht mehr als Anweisung der künstlerischen Tätigkeit. Sie stellen so nur das Potential für die künstlerische Tätigkeit dar, ohne aber ihre konkrete
221 222 223 224
Ibidem, S. 320; vgl. hierzu auch Adorno, EM, S. 419; sowie Adorno, BPM, S. 121; S. 188; S. 253; S. 255. Adorno, ÄT, S. 320. Ibidem, S. 94. Vgl. ibidem, S. 71.
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Ausführung anzuleiten. Sie lassen sich so besser als eine gewisse Könnerschaft oder ein gewisses Sachverständnis begreifen.225 Die Gesamtheit dieser Fähigkeiten nennt Adorno Metier. Als Gesamtheit dieser Fähigkeiten meint Metier aber gerade etwas anderes als es traditio‐ nell handwerkliche Anweisungen bezeichnen. Es ist nicht mehr gebunden an eine Tradition, sondern verfügt gerade über die Gesamtheit möglicher Verfahrensweisen künstlerischer Tätigkeit.226 Metier fasst gerade das Ganze der Fähigkeiten unter sich.227 In der Verfügung über die Gesamtheit möglicher Verfahrensweisen ist die künstlerische Tätigkeit nicht mehr gebunden an eine äusserliche Vorgabe ihrer Verfahren, sondern steht als Mittel zur Fertigung jeglicher Werke zur Verfügung. Als die Verfügung über die Gesamtheit der Verfahrensweisen bildet das Me‐ tier die Unterscheidung zwischen Handwerk und Technik. Darin liegt auch sein wesentlich Neues gegenüber dem traditionellen Handwerk. Diese Gesamtheit an Fähigkeiten unterscheidet sich in der Moderne von «handwerklich-traditio‐ nalen Anweisungen» grundlegend.228 Diese grundlegende Verschiedenheit von Handwerk und Technik liegt in der Loslösung der Verfahrensweisen von ihrem Kontext, in dem sie sich ursprünglich erst entwickelten. Versteht sich Metier als die Versammlung technischer Verfahrensweisen in einer Könnerschaft, so löst sie sich in der Versammlung gerade von jenen Zwecken ab, in welchen die einzelnen Verfahrensweisen eingebunden waren und sich ausbildeten. Dies verneint die Logik der Tradition. Stehen die Verfahrensweisen als Bestand zur Verfügung, so hebt es die Tradition auf. Einzelne Verfahrensweisen sind nicht mehr an einzelne Zwecke gebunden, sondern stehen für jegliche Zwecke zur Verfügung. Ihre Rechtfertigung haben die Verfahrensweisen nicht mehr in einer Tradition verbürgt. Im Lichte von Rationalität messen sich die Verfahrensweisen an ihrer Effizienz, an der Funktion, die sie für irgendeinen Zweck besser oder schlechter zu erfüllen vermögen. Im Lichte von Rationalität versteht sich Metier als Technik. Meint Adorno zwar, dass in «der Sprache der Kunst» die «Ausdrücke wie Technik, Metier, Handwerk» synonym seien, so widerspricht er dieser Behaup‐ tung an mehreren Stellen in der Ästhetischen Theorie, an denen der Unterschied
225 226 227 228
Adorno bezeichnet das Metier an anderer Stelle u. a. als «Sachverständnis für die handwerklichen und technischen Fragen». (Theodor W. Adorno, Funktionalismus heute (= GS 10.1), Frankfurt am Main 2003, S. 375.) Vgl. auch Edward Campbell, Boulez, Music and Philosophy, Cambridge 2010, S. 93ff. Vgl. Adorno, ÄT, S. 71. Ibidem, S. 71.
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gerade explizit hervorgehoben wird.229 Bezeichnet Metier für Adorno das Ganze der Fähigkeiten der künstlerischen Tätigkeit, so kann in dieser allgemeinen Be‐ stimmung Metier als synonym mit Handwerk und Technik verstanden werden. Liegt mit den veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen von Tradition zu Rationalität ebenso das Ganze der Fähigkeiten in anderer Weise vor, so zeigt dies den Unterschied zwischen traditionellem Handwerk und dem Ganzen als rational-technisch verfügbaren Verfahrensweisen an. Das technische Metier leitet nicht an, sondern steht als Könnerschaft zur Verfügung. Unterscheidet sich Metier in der Moderne von traditionaler Anweisung, so zeigt Metier aber doch an, dass die Künstlerin nicht als eine Tabula rasa ans Werk herantritt, sondern die Gesamtheit an Fähigkeiten mit in die künstlerische Tätigkeit hineinträgt. Das Kunstwerk bleibt ein gemachtes und der Begriff der Technik fasst diesen Umstand als Bedingung der Kunst zusammen: «Konstitutiv jedoch für die Kunst ist Technik, weil in ihr sich zusammenfaßt, daß jedes Kunstwerk von Menschen gemacht ward, daß sein Kunsthaftes ihr Produkt wird.»230 Technik ist eben jenes «Moment des endlichen Machens»231 an den Kunstwerken, welches der Geniebegriff versuchte zu unterschlagen. Dieses Moment des endlichen Machens, für welches die Technik einsteht, ist gerade das ichfremde Moment, das im Geniebegriff als Naturtalent missver‐ standen wurde. Die Künstlerin bringt dieses Moment zwar mit sich und trägt es so ins Werk wie das Genie sein Talent, es ist ihr aber nicht angeboren, sondern sie hat es sich als eine Könnerschaft angeeignet. Und so stellt es gerade die «potentielle Gegenwart des Kollektivs im Werk»232 dar. Was mit dem Geniebegriff zuvor als Naturtalent verstanden wurde, versteht Adorno also als die Verfügung über eine gewisse künstlerische Könnerschaft, die sich das künstlerische Subjekt anzueignen vermag und somit darüber verfügt. Der Technik ist für Adorno eigen, dass sie einerseits den Subjekten angeeignet ist, zugleich aber auch dem Subjekt äusserlich bleibt. So schreibt Adorno in der Einleitung in die Musiksoziologie: «In ihr [der Technik; W.A.] verkörpert sich in der Kunst, als ein den menschlichen Subjekten Kommensurables und zugleich ihnen gegenüber Selbständiges, der gesellschaftliche Stand der Produktivkräfte einer Epoche, wie das griechische Wort es anzeigt.»233 Die Technik bleibt aber noch in einem weiteren Sinn dem künstlerischen Subjekt fremd. Es bleibt die angeeignete Technik etwas Fremdes, da das Metier als technische Fertigkeit 229 230 231 232 233
Ibidem, S. 322. Ibidem, S. 317. Ibidem, S. 255. Ibidem, S. 71. Adorno, EM, S. 418.
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selbst die Tätigkeit anleitet. Sie bleibt der Künstlerin in der Herstellung eines autonomen Kunstwerks fremd, da das technische Vermögen nicht als Mittel zur Verwirklichung irgendeiner Intention dient. Die Künstlerin verfügt zwar über die technischen Fähigkeiten, die sie sich angeeignet hat, sie sind ihr darin eigen, bleiben ihr aber so auf zweierlei Weisen immer auch fremd. Sie bleiben ihr erstens der Herkunft nach fremd: Die Künstlerin eignet sich durch die Technik den gesellschaftlichen Stand der Produktivkräfte einer Epoche an, der ihr als ein Selbständiges gegenübertritt. Und zweitens verfügt sie in der künstlerischen Tätigkeit nicht über die angeeig‐ nete Könnerschaft, da die Forderung an die künstlerische Tätigkeit genau darin liegt, dass denjenigen Regeln zu gehorchen sei, die in der Sache selbst liegen. In der künstlerischen Tätigkeit verfügt die Künstlerin daher nicht herrschaftlich über ihre Fertigkeiten. Die Künstlerin verfährt mit ihren Fertigkeiten nicht nach einem von ihr gesetzten Zweck. Dies ermöglicht die künstlerische Tätigkeit als ein angeleitetes Tun zu verstehen, aber gerade so, dass sie dem Anspruch des Doppelcharakters gerecht wird. Die technischen Verfahren bringen so nicht einfach einen Gebrauchsgegenstand hervor, der im Voraus durch ein Wozu bestimmt ist, sondern eben ein Kunstwerk. Genau darin liegt der wesentliche Unterschied. Und sie schaffen dies, ohne auf die Intention der Künstlerin zurückzugreifen oder irgendeine Form von Genialität ins künstlerische Subjekt hineinzudenken. Mit Technik ist aber nicht nur eine bestimmte Verfügung über Fertigkeiten gemeint, sondern Technik heisst zugleich immer auch Materialbeherrschung. Die Technik bezeichnet jenes Moment der Kunst, das das Material zu formen weiss, in der Weise, dass es im Kunstwerk seine Bestimmung erhält.234 Als Ma‐ terialbeherrschung beschreibt Technik jene Fertigkeiten, die das Material für die künstlerische Tätigkeit verfügbar macht. Technik erschliesst der künstlerischen Tätigkeit gerade erst das künstlerische Material. Die künstlerische Tätigkeit meint also unter der Perspektive von Technik «Meisterschaft als Herrschaft»235, indem sie erst der künstlerischen Tätigkeit ihren Materialbestand bereitstellt, an dem sich die Künstlerin abarbeiten kann. Es ist aber ebenso die Technik, wodurch sich die Kunstwerke zweckmässig organisieren.236 Die Technik ermöglicht nicht nur die künstlerische Tätigkeit, indem sie der Künstlerin erst ihr Material bereitstellt, sondern auch indem sie das Kunstwerk in sich zweckmässig organisiert. Die Technik legitimiert in letzter Konsequenz erst das Material des Kunstwerks als Material, in dem es ihm 234 235 236
Vgl. Adorno, ÄT, S. 313; S. 316; auch Adorno, ÄVL, S. 85. Adorno, PM, S. 66. Vgl. Adorno, ÄT, S. 321.
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im Kunstwerk seine zweckmässige Funktion zuweist. Das Material bestimmt sich erst im Werk als Material des Werkes. Dies macht die Technik gerade, weil sie auf Rationalität verpflichtet ist. Hatte unter den Bedingungen der Tradition das Kunstwerk sich vor einem Kanon an Regeln und Formen zu rechtfertigen, so fragt die Technik nach der Funktion. Was seine Funktion im Werk nicht erfüllt, wird technisch falsch.237 Die künstlerische Tätigkeit als Technik integriert und stellt ihr Material so zur Verfügung, indem sie ihm im Kunstwerk ihre genaue Funktion zuweist. Das Material ist nur das Material des Kunstwerks, sofern es eine Funktion in ihm zu erfüllen vermag. Und umgekehrt erschliessen sich die einzelnen Funktionen im Kunstwerk erst aus der zweckmässigen Anordnung des Materials. In der Verfügung über das künstlerische Material vermittelt die Technik als ichfremdes Element in der künstlerischen Tätigkeit zwischen Gesellschaft und Kunst. Die Technik erschliesst der künstlerischen Tätigkeit das Material auf solche Weise, dass es im Kunstwerk ein Gesellschaftliches auszusprechen vermag. Die Technik ermöglicht so für Adorno die Aneignung eines Fremden, das in der künstlerischen Tätigkeit zur Entfaltung gebracht werden kann. In dieser Aneignung eignet sich das Subjekt den bereits genannten «gesellschaft‐ lichen Stand der Produktivkräfte einer Epoche»238 an, den die Technik verkör‐ pert: «Technik verkörpert aber stets einen gesamtgesellschaftlichen Standard. Sie vergesellschaftet auch den vermeintlich einsamen Komponisten; er muss den objektiven Stand der Produktivkräfte achten.»239 Diesen Gedanken führt Adorno in der Ästhetischen Theorie weiter und treibt ihn auf die Spitze. Wird gängig die Technik im Sinne von Naturbeherrschung als ein Werkzeug, als «verlängerten Arm des Subjekts»240 verstanden, so dreht Adorno diesen Gedanken für die künstlerische Tätigkeit um. Die Formel lautet für die Künstlerin nun: «Hat man das Werkzeug einen verlängerten Arm genannt, so könnte man den Künstler verlängertes Werkzeug nennen, eines des Übergangs von der Potentialität zur Aktualität.»241 Stellt das naturbeherrschende Subjekt die Technik als Werkzeug in seinen Dienst, um welche Absicht auch immer zu verwirklichen, so stellt sich in der künstlerischen Tätigkeit dieses Verhältnis also gerade umgekehrt dar. Die Künstlerin stellt sich in den Dienst der Technik – als dem gesellschaftlichen Stand der Produktivkräfte einer Epoche – und fungiert darin als Vollzugsorgan 237 238 239 240 241
Vgl. ibidem, S. 298. Adorno, EM, S. 418. Ibidem, S. 419. Adorno, ÄT, S. 51. Ibidem, S. 249.
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eines ihr Fremden, eben genau jener angeeigneten Fertigkeiten, die sich im Begriff der Technik zusammenfassen. Die vermeintliche Originalität des Genies zeigt sich demnach für Adorno in der Ichfremdheit der Technik, dem Wort Beethovens nach im verminderten Septakkord. Darin vollzieht die Künstlerin ein Gesellschaftliches. Sie wird durch ihre vermeintliche Originalität zum «Exe‐ kutor einer gesellschaftlichen Tendenz».242 Technik trägt so gerade die Möglichkeit zur Verwirklichung des Doppel‐ charakters von Autonomie und fait social in sich. Seitdem Technik nicht mehr «unmittelbar am gesellschaftlichen Gebrauch sich maß»243, wurde sie zur Produktivkraft, nicht nur der materiellen Produktion, sondern eben auch der künstlerischen. Dies zeichnet die Technik gerade aus, da sie als Bestand für jegliche Zwecke zur Verfügung steht. Darin befreit sich die Technik und stellt sich als autonome dar, zugleich ist sie aber auch die soziale Kraft, die sich in Fortschritt ausdrückt: «Der Doppelcharakter der Technik dort, als eines autonom, nach dem Kanon rationaler Wissenschaft sich Bewegenden, und einer sozialen Kraft, ist auch der der musikalischen.»244 Das autonome Moment in der Technik liegt also darin, dass sie sich losgelöst hat vom unmittelbar gesellschaftlichen Gebrauch, an dem sie gemessen wurde. Zugleich aber hat sie ihre gesellschaftliche Seite, da sie einerseits ihrer Herkunft nach auf die Gesellschaft zurückverwiesen ist und anderseits in sie als soziale Kraft einwirkt. In ihr liegt als solche schon die gesellschaftliche Tendenz, welche die Künstlerin durch die Technik selbst zur Entfaltung bringen kann. Darin liegt die kritische Wendung des Kunstwerks, wie sie schon von der Autonomie gefordert wurde. Seine Wendung liegt in seinem Verhältnis zur Gesellschaft, an der es als ihr Anderes ihr kritisches Potential gegen sie wendet. Es wendet aber nicht ein Irrationales gegen die rationale Verfassung der Gesellschaft, sondern Rationalität in ihrer Andersheit. Die Technik ist daher nicht eine andere in der künstlerischen Tätigkeit, aber sie vollzieht sich in der künstlerischen Tätigkeit auf solche Weise, dass sie sich in Autonomie von der gesellschaftlichen Verfügung absetzt. Das künstlerische Subjekt wird so in der künstlerischen Tätigkeit zu einem gesellschaftlichen Subjekt, indem es in seiner künstlerischen Tätigkeit als privates Subjekt zurücktritt. Das künstlerische als gesellschaftliches Subjekt bringt das Kunstwerk also in einer passiven Haltung, in einer Rücknahme seiner 242 243 244
Adorno, EM, S. 420. In ähnlicher Weise ist in der Ästhetischen Theorie von der Künst‐ lerin als «Exekutor einer kollektiven Objektivität des Geistes» die Rede. (Adorno, ÄT, S. 402f.) Adorno, EM, S. 420. Ibidem, S. 420f.
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selbst hervor. Es nimmt sich zurück zugunsten eines Gesellschaftlichen, das sich in der künstlerischen Tätigkeit erst zu entfalten vermag. Dies schliesst die Künstlerin insofern nicht aus, als sie immer noch die minimale Instanz ist, die das Kunstwerk zur Realisierung selbst noch braucht: «Jenes Totum der ins Kunstwerk hineingetragenen Kräfte, scheinbar ein bloß Sub‐ jektives, ist die potentielle Gegenwart des Kollektivs im Werk, nach dem Maß der verfügbaren Produktivkräfte: fensterlos enthält es die Monade. Am drastischesten wird das an kritischen Korrekturen durch den Künstler. In jeder Verbesserung, zu der er sich genötigt sieht, oft genug im Konflikt mit dem, was er für die primäre Regung hält, arbeitet er als Agent der Gesellschaft, gleichgültig gegen deren eigenes Bewußtsein.»245
Die ins Werk hineingetragenen Kräfte werden als Technik durch die Künstlerin im Werk entfaltet. Sie gehören aber nicht der Künstlerin als Privatperson an: «Der subjektive Prozeß der Hervorbringung ist nach seiner privaten Seite gleichgültig.»246 Die Künstlerin bringt durch die angeeignete Technik nicht etwas Privates ins Werk, sondern eben «die potentielle Gegenwart des Kollek‐ tivs». Durch die Technik kann das künstlerische Subjekt ein Gesellschaftliches entfalten, das der Künstlerin weder ganz zuzuschreiben ist, noch ihr vollständig zugänglich wäre. An der Korrektur gegen ihren Willen, zu der sie sich aber genötigt fühlt, lässt sich das fremde Moment in der künstlerischen Tätigkeit erahnen. Damit bewahrheitet sich für Adorno das künstlerische Subjekt gerade als gesellschaftliches: «Das künstlerische Subjekt an sich ist gesellschaftlich, nicht privat.»247 IV. Das gesellschaftliche Subjekt Die Künstlerin bleibt als jene Instanz bestehen, die die künstlerische Tätigkeit vollführt. Sie gibt sich dabei aber weder selbst die Regeln ihrer Tätigkeit noch zeigt sie sich als Schöpferin, als Naturtalent oder Genie. Der Begriff der Technik weist die Künstlerin gerade in ihrer vollziehenden Funktion aus. Sie nimmt durch ihr technisches Metier die Funktion eines Werkzeugs an, das zur Lösung ebenso technischer Probleme dient. Künstlerische Tätigkeit versteht sich dem‐ nach als Problemlösung. Und Problemlösung heisst hier eine «Konstellation treffen». Die Konstellation zu treffen heisst aber eine objektive Lösung auszu‐ führen, die in der Problemstellung selbst angelegt ist. In den bereits genannten 245 246 247
Adorno, ÄT, S. 71. Ibidem, S. 249. Ibidem, S. 343.
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widerwilligen Korrekturen der Künstlerin zeigt sich dies. Im Begriff der Technik lässt sich nach Adorno dieses Treffen einer Konstellation – der Auflösung selbstgestellter Probleme – in ihrem gesellschaftlichen Charakter bestimmen. Die Künstlerin führt dabei in ihrer künstlerischen Tätigkeit nur ein Minimales aus. Sie vermittelt zwischen dem Problem, das im Material vorgezeichnet ist und der Lösung, die ebenso als Potential im Material bereitliegt.248 So ist die Rede von der Künstlerin als verlängertes Werkzeug zu verstehen. Der so bezeichnete Schöpfungsakt der Künstlerin wird damit auf «ein Infinitesimales, auf eine Art von Grenzübergang reduziert, der freilich nicht weggedacht werden kann, der aber im Grunde nichts anderes bedeutet als eben die Freiheit, dem, was die Sache rein von sich aus will, ohne Hochmut, ohne Eitelkeit und mit äußerster Konzentration sich zu überlassen».249 So scheint klar zu sein, dass die Künstlerin nicht aufgrund ihrer sozialen Position ein gesellschaftliches Subjekt darstellt. Die künstlerische Tätigkeit vollzieht ein Gesellschaftliches nicht durch den Ort, den die Künstlerin inner‐ halb der Gesellschaft bezieht. Die Künstlerin ist in ihrer Tätigkeit vielmehr dazu angehalten, Werke zu schaffen, die eine bestimmte Stellung zu und in der Gesellschaft einnehmen. Das bestimmt gerade die Autonomie des Kunstwerks. Darauf ist die Form künstlerischer Tätigkeit verpflichtet. Das Zurücktreten der Privatheit der Künstlerin zugunsten eines Gesellschaftlichen liegt gerade in der Form ihrer Tätigkeit, die sich in ihrem technischen Metier ausdrückt. Darin vollzieht sie ein ihr Fremdes. Die Rede von der Ichfremdheit, von der zuvor gesprochen wurde, bezeichnet gerade diesen Umstand. Die Künstlerin stellt eben nichts als die genannte Verlängerung eines Werkzeugs dar: sie überführt durch die Technik als das ihr fremde Element deren gesellschaftlichen Gehalt. Die Künstlerin spricht so nicht aus einem bestimmten Milieu, aus einer bestimmten gesellschaftlichen Position den gesellschaftlichen Gehalt der Kunstwerke aus, sondern sie überführt diesen lediglich. Darin unterscheidet sich die künstlerische Produktion von der materiellen Produktion. Künstlerische und materielle Produktion gleichen sich in der Moderne aber auch an, da beide eine «bewußte Verfügung über ihre Mittel»250 darstellen. Dies hat der Begriff der Technik gezeigt. Sie stehen aber auch im Widerspruch, denn die künstlerische Tätigkeit spannt die Technik nicht zur Produktion eines Vorgegebenen ein, sondern entfaltet die in die Technik eingeschriebene gesellschaftliche Tendenz. Adorno sieht diesen Gedanken im Besonderen bei Valéry formuliert, wel‐ cher «den Widerspruch der künstlerischen Arbeit als solcher zu den heute 248 249 250
Vgl. ibidem, S. 249. Adorno, ÄVL, S. 110. Adorno, ÄT, S. 58.
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herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen der materiellen Produktion»251 in seiner ganzen Schärfe auszusprechen vermochte. Das Problem spricht sich darin aus, dem Kunstwerk gerecht zu werden, ohne dabei aber hinter den veränderten technischen Bedingungen der Verfahrensweisen zurückzufallen. Gilt es für die Künstlerin auf der Höhe des gesellschaftlichen Stands der Produktivkräfte zu sein, zugleich aber nicht den Doppelcharakter der Kunst zu verraten, so hat die Künstlerin in ihrer künstlerischen Tätigkeit zum Werkzeug der technischen Fertigkeiten zu werden: «Der Künstler soll sich zum Instrument umschaffen: selbst zum Ding werden, wenn er nicht dem Fluch des Anachronismus inmitten einer verdinglichten Welt verfallen will.»252 Der Vorstellung der Künstlerin als einem schöpferischen Subjekt wird so nochmals entgegenhalten, dass der Gehalt – die im Kunstwerk entfaltete Wahrheit – «eine von der Sache erzwungene Gesetzmäßigkeit hat» und eben nicht in der «viel berufene[n] schöpferische[n] Freiheit des Künstlers» zu suchen sei.253 Die Künstlerin ist den technischen Verfahrensweisen verpflichtet. Die Verfahrensweisen tragen selbst das Gesell‐ schaftliche in die Kunstwerke hinein. Es ist nicht die Künstlerin durch Intention, Genie oder soziale Stellung. Die künstlerische Tätigkeit zeigt sich so als gesellschaftliche Arbeit.254 Ge‐ sellschaftlich ist die Tätigkeit, weil sie die Tendenz des gesellschaftlichen Standes der Produktivkräfte durch die Technik vermittelt im Werk entfaltet und verwirklicht. Die künstlerische Tätigkeit ist daher nicht zu unterscheiden von gesellschaftlicher Arbeit, da sie selbst auf gesellschaftliche Verhältnisse verwiesen bleibt. Künstlerische Tätigkeit unterscheidet sich aber in ihrer spezifischen Weise, wie sie Technik in ihrer Arbeit zur Anwendung bringt. Die künstlerische Tätigkeit unterscheidet sich also nicht in ihren einzelnen Fertigkeiten von anderen Formen der Arbeit, sondern in der Weise, wie die Künstlerin sich zur Technik stellt. Sie spannt ihr technisches Metier eben gerade nicht in irgendwelche Zwecke ein, sondern stellt sich unter die Technik als deren Vollführerin. Nur so vermag die Künstlerin ein gesellschaftlich Gemachtes in Autonomie hervorzubringen. Als Arbeit kann die künstlerische Tätigkeit angesehen werden, da sie sich in einem Arbeitsprodukt erschöpft. Die künstlerische Tätigkeit ist ein Herstellen. Mit Arbeit ist darüber hinaus aber auch gemeint, dass sie sich an einem Material abarbeitet. In der künstlerischen Tätigkeit wird das noch unbestimmte Material zur Bestimmung gebracht. Es wird dabei aber so zur Bestimmung gebracht, wie 251 252 253 254
Theodor W. Adorno, Der Artist als Statthalter (= GS 11), Frankfurt am Main 2003, S. 121. Ibidem, S. 122. Ibidem, S. 122. Hierzu Ulrich Ruschig, Zum Begriff der Technik bei Horkheimer und Adorno, 199 ff.
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es das Kunstwerk von sich aus will. Die künstlerische Tätigkeit lässt sich also als gesellschaftliche Arbeit und die Kunstwerke als deren Produkte verstehen.255 Die Arbeit der Künstlerin vollzieht sich so, dass sie nicht als privates Subjekt irgendeine eigene Intention im Werk verwirklicht, sondern, dass die künstlerische Tätigkeit von einem gesellschaftlichen Subjekt ausgeht. Und weil die künstlerische Tätigkeit von einem gesellschaftlichen Subjekt vollzogen wird, verwirklicht sich im Kunstwerk ebenso auch nicht irgendeine subjektive Absicht der Künstlerin, sondern selbst ein Gesellschaftliches. Das künstlerische Subjekt als ein gesellschaftliches zu verstehen, meint damit also, dass es jene Form von gesellschaftlicher Arbeit darstellt, in der sich das autonome Kunstwerk verwirklicht, obwohl oder gerade weil das autonome Kunstwerk sich jeglicher gesellschaftlichen Verfügung zu entziehen vermag. Die so geforderte Arbeit stellt sich für die Künstlerin als eine passive Aktivität dar, in der sie sich in ihrer Tätigkeit aktiv zurücknimmt, um die gesellschaftliche Tendenz zur Entfaltung zu bringen: «Der Künstler, der das Kunstwerk trägt, ist nicht der je Einzelne, der es hervorbringt, sondern durch seine Arbeit, durch passive Aktivität wird er zum Statthalter des gesellschaftlichen Gesamtsubjekts.»256 V. Arbeit als Vollzug Die künstlerische Tätigkeit bringt das Kunstwerk hervor. Sie verwirklicht das Werk. Die künstlerische Tätigkeit versteht sich so als gesellschaftliche Arbeit der Künstlerin. Dies macht das Spezifische der künstlerischen Tätigkeit aus. Ihre Arbeit vollzieht daher auch ein Gesellschaftliches. Versteht sich künstlerische Arbeit als Vollzug, so wird deutlich wie weit Adorno das private Subjekt auf ein Minimalstes reduziert: «Nicht einmal in der faktischen Produktion der Kunst‐ werke entscheidet die Privatperson. […] Das je eingreifende einzelmenschliche Subjekt ist kaum mehr als ein Grenzwert, ein Minimales, dessen das Kunstwerk bedarf, um sich zu kristallisieren.»257 Die Künstlerin vollzieht in ihrer Tätigkeit etwas, was nicht in ihrer Macht liegt. Sie antwortet dabei auf ein Rätsel, dessen Lösung vom Rätsel selbst schon vorgezeichnet ist. Weder das Rätsel noch dessen Lösung liegen an ihr. So vermag das Kunstwerk sich von der Künstlerin zu lösen, seinem Autonomieanspruch gerecht zu werden und sich zugleich als ein gesellschaftlich Gemachtes zu verstehen: «Die Verselbständigung des Kunstwerks dem Künstler gegenüber ist keine Ausgeburt des Größenwahns von l’art pour l’art, sondern der einfachste Ausdruck seiner 255 256 257
Vgl. u. a. Adorno, ÄT, S. 14; S. 337; S. 350. Adorno, Der Artist als Statthalter, op. cit., S. 126. Adorno, ÄT, S. 250.
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Beschaffenheit als eines gesellschaftlichen Verhältnisses, das in sich das Gesetz seiner eigenen Vergegenständlichung trägt: nur als Dinge werden die Kunstwerke zur Antithesis des dinghaften Unwesens.»258
Und hält Adorno zuvor fest, dass das Subjekt durch Arbeit und nicht durch Mitteilung in der Kunst zum Seinen gelangt, so ist dies gerade ein gesellschaft‐ liches Subjekt, das sich in der Arbeit nach seinem eigenen Mass zu verwirklichen weiss.259 Es kommt zu sich selbst, da es selbst das Subjekt seiner Arbeit ist. Es bedarf lediglich der Künstlerin, dieses Potential zu verwirklichen – die Arbeit des gesellschaftlichen Subjekts an seiner Stelle zu vollziehen. Kunstwerke sind als Artefakte auf subjektive Vermittlung angewiesen. Sie machen sich nicht selbst. Die Künstlerin vermittelt aber nicht ihre Subjektivität, sondern vollzieht etwas Objektives in ihrer Arbeit. Damit soll die Künstlerin nicht kleingeredet werden. Adorno betont stets die Anstrengungen und Mühen, mit der die künstlerische Arbeit verbunden ist. Dies ist aber ebenso kein Grund, die Künstlerin und ihre Werke masslos zu erhöhen und sie zu einer «Art von kleinem lieben Gott»260 zu machen. So wird man weder der Künstlerin noch dem Kunstwerk gerecht. Man verkennt so nur wie wenig das Kunstwerk der Künstlerin gehört, wie wenig es in ihrer Hand liegt, was sie vollzieht. Und zugleich wird verkannt, wie sehr das Kunstwerk etwas Objektives ausspricht und eben nicht dem Schöpfungsakt der Künstlerin sich verdankt.261 Die künstlerische Arbeit kann sich aber nicht ohne Material vollziehen. Die Technik vermittelt zwar selbst das künstlerische Material der künstlerischen Tätigkeit – es erschliesst der Künstlerin erst das künstlerische Material – doch sie kann das Material nicht aus dem Nichts als solches bestimmen. Und somit ist die Frage, was ein Kunstwerk ist, in letzter Instanz an sein Material verwiesen. Erst das Material gibt die Grundlage für die künstlerische Arbeit. Das Material ist dasjenige, woran sich die Künstlerin erst abarbeiten kann. Erst das Material gibt den Widerstand, an dem sich die künstlerische Arbeit betätigt: «Im Produktionsprozeß sieht er einer Aufgabe sich gegenüber, von der es schwer fällt zu sagen, ob er auch nur diese sich stellt; der Marmorblock, in dem eine Skulptur, die Klaviertasten, in denen eine Komposition darauf warten, entbunden zu werden, sind für jene Aufgabe wahrscheinlich mehr als Metaphern. Die Aufgabe tragen ihre
258 259 260 261
Ibidem, S. 250. Vgl. ibidem, S. 249. Adorno, ÄVL, S. 109. Vgl. ibidem, S. 109f.
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objektive Lösung in sich, wenigstens innerhalb einiger Variationsbreite, obwohl sie nicht die Eindeutigkeit von Gleichungen besitzen.»262
Das Material ist die Bedingung der künstlerischen Arbeit. Die Technik kann diese Grundlage nicht sein, da sie nichts anderes ist als ein gesellschaftliches Verhältnis. Aber als gesellschaftliches Verhältnis vermag sie das Material so zu vermitteln, dass es erst die Möglichkeit zur künstlerischen Arbeit eröffnet, die sich letztendlich im autonomen Kunstwerk erschöpft.
3.4 Material I. Tendenz des Materials Hat sich gezeigt, dass die künstlerische Arbeit in einem Zurücktreten der Künstlerin besteht, indem die technische Verfügung der Verfahrensweisen nicht in einen ihnen äusserlichen Zweck eingespannt wird, so bleibt immer noch die Leerstelle bestehen, woran die Künstlerin sich denn zu betätigen hätte. Die künstlerische Tätigkeit kann nur dann etwas ins Werk setzen, sofern sie sich an etwas betätigt. Diese Leerstelle nimmt das Material ein. Das Material ist also dasjenige, womit die Künstlerin arbeitet. Das Material ist «alles ihnen Gegenübertretende, worüber sie zu entscheiden haben.»263 Die Künstlerin ar‐ beitet sich in ihrer künstlerischen Tätigkeit am künstlerischen Material ab. Das Material der Kunst ist also das, «was geformt wird», dasjenige «womit die Künstler schalten».264 Es ist die Gesamtheit aller für die künstlerische Tätigkeit zur Verfügung stehenden Mittel zur Realisierung des Kunstwerks. Was als Material verstanden wird, bestimmt Adorno also zunächst von der Seite der künstlerischen Tätigkeit her. In dieser ersten Bestimmung wird alles, was in der künstlerischen Tätigkeit zur Durcharbeitung kommt, zum Material der Kunstproduktion. Das Problem der künstlerischen Tätigkeit liegt aber gerade darin, dass die künstlerische Tätigkeit erst vom Material her ihre Anleitung zur künstlerischen Produktion erhalten sollte. Damit sollte ja gerade die künstleri‐ sche Tätigkeit als Materialbeherrschung vermieden werden. Daher bedarf das künstlerische Material einer genaueren Bestimmung. Als unbestimmter Stoff kann das Material die künstlerische Tätigkeit nicht anleiten.
262 263 264
Adorno, ÄT, S. 249. Ibidem, S. 222. Ibidem, S. 222.
3.4 Material
99
Das künstlerische Material wird in dieser ersten allgemeinen Bestimmung als der für die technischen Verfahrensweisen verfügbare Stoff festgehalten. Diese Bestimmung erscheint zunächst trivial, denn sie besagt nichts weiteres, als dass das Material künstlerischer Arbeit künstlerisches Material sei. Sie hat aber einen weiteren Sinn. Ist alles Material, womit die Künstlerin arbeitet, so versteht Adorno das Material in seinem weitesten Sinn, denn es umfasst eben alles, was der Künstlerin in ihrer Tätigkeit gegenübertritt. Damit ist aber weder gesagt, dass alles Beliebige der Künstlerin gegenübertritt und so überhaupt als künstlerisches Material in den Blick kommt, noch wodurch sich etwas erst zu einem solchen Material qualifiziert. Das künstlerische Material braucht daher eine weitere Bestimmung. Das künstlerische Material findet seine weitere Bestimmung, indem es für Adorno nicht einfach ein Beliebiges ist. Vielmehr ist das Material der Kunst der Künstlerin vorgegeben und stellt Forderungen an diese, an denen sie sich abzumühen hat. Es ist gerade darin von einem Natur- oder Rohstoff zu unterscheiden. Es ist nicht einfach unbestimmter und beliebiger Stoff, über den die technischen Verfahren herrschaftlich verfügen würden. Nicht alles ist also einfach schon ein künstlerisches Material, weil die technische Verfügung über dieses zu walten vermag. Das künstlerische Material hat sich erst als ein künstlerisches zu qualifizieren, bevor es der Künstlerin überhaupt erst als Material künstlerischer Arbeit sich anbietet. Was sich der künstlerischen Tätigkeit als Material anbietet und was davon ausgeschlossen ist, ist dabei weder die Entscheidung der Künstlerin noch durch die technische Verfügbarkeit bestimmt. Die Künstlerin verfügt also nicht einfach frei über ihr Material. Das künstle‐ rische Material stellt sich nicht als blosses Natur- oder Rohmaterial dar, sondern wird von Adorno immer schon als ein geschichtliches und gesellschaftliches verstanden.265 Wie schon in der Erläuterung zur Gesellschaft beschrieben, ist das Kunstwerk in seinem Doppelcharakter ein gesellschaftliches. Dies gilt umso mehr für das künstlerische Material. Das künstlerische Material ist erst durch gesellschaftliche und geschichtliche Vermittlung zum künstlerischen Material geworden. In diesem Sinne empfängt die Künstlerin das Material.266 Was sich der Künstlerin als brauchbares Material empfiehlt, ist geschichtlich und gesellschaftlich entstanden und unterliegt nicht alleine der Verfügungsgewalt der Künstlerin noch derjenigen der technischen Verfahren. Sofern die Künstlerin 265 266
Das Material ist daher nicht einfach als ein Substrat einer geschichtlichen Tendenz zu verstehen, sondern die Tendenz ist eine Eigenschaft des Materials. Vgl. hierzu Reinhard Kapp, noch einmal. Tendenz des Materials, Berlin/Wien 1982. Vgl. Adorno, ÄT, S. 223.
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3 Produktion
also dem Anspruch des Doppelcharakters der Kunst gerecht werden will, hat die künstlerische Tätigkeit den geschichtlichen und gesellschaftlichen Spuren des künstlerischen Materials Rechnung zu tragen: «Von dem abstrakt verfügbaren Material ist nur äußerst wenig konkret, als ohne mit dem Stand des Geistes zu kollidieren, verwendbar. Material ist auch dann kein Naturmaterial, wenn es den Künstlern als solches sich präsentiert, sondern geschichtlich durch und durch.»267
Was also wirklich, konkret, als Material in der künstlerischen Arbeit zur Verfügung steht, hat mit dem geschichtlichen und gesellschaftlichen Stand des Geistes stimmig zu sein.268 Im geschichtlichen Gang entsteht und vergeht das künstlerische Material. In diesem Sinne, so schreibt Adorno in der Philosophie der neuen Musik, «verengt und erweitert sich mit dem Gang der Geschichte»269 das künstlerisch verfügbare Material. Es kommt nicht zu jeder Zeit Jegliches als künstlerisches Material in Frage. Durch die Verengung und Erweiterung des zur Verfügung stehenden Materialbestands empfängt die Künstlerin dem Stand des Geistes entsprechend ihr künstlerisches Material. Was sich für die künstlerische Arbeit als brauchbar erweist, was sich ihr als Probleme und Fragen aufdrängt, ist eben in diesem Sinne geschichtlichen und gesellschaftlichen Ursprungs. Adorno spricht daher von einer Tendenz des Materials. Sie meint also die mit dem geschichtlichen Gang laufende Verengung und Erweiterung des für die künst‐ lerische Tätigkeit verfügbaren Materials. Die Tendenz des Materials bezeichnet den Wandel des sich aufdrängenden und zurücknehmenden künstlerischen Materials. Wie wir zuvor bereits gesehen haben, bezeichnet Adorno mit Tendenz in seinen gesellschaftstheoretischen Überlegungen das Wesentliche einer Gesell‐ schaft, ihre Bewegungs- und Strukturgesetze, die eine Theorie der Gesellschaft aufzudecken hätte. In dieser Weise ist auch Adornos Begriff der Tendenz des Materials zu verstehen. Er meint dann in einem weiteren Sinn mehr als nur die Erweiterung und Verengung des künstlerischen Materialbestands. Ist das künstlerische Material selbst ein gesellschaftliches, so ist auch seine Tendenz eine gesellschaftliche. Die Tendenz der Gesellschaft, ihre Bewegungs- und Strukturgesetze, sind ebenso diejenigen des künstlerischen Materials. War in der Auseinandersetzung mit dem Doppelcharakter davon die Rede, dass die Widersprüche der Gesellschaft als Formprobleme in die Kunst eingehen, so 267 268 269
Ibidem, S. 223. Vgl. hierzu auch Christoph Menke, Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida, Frankfurt am Main 1991, S. 159f. Adorno, PM, S. 38.
3.4 Material
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lässt sich mit dem Begriff der Tendenz des Materials nun genauer fassen, wie diese ihren Weg in die Kunstwerke finden. Die Verengung und Erweiterung des künstlerischen Materialbestands ist daher nicht eine äusserliche Bestimmung, sondern als Tendenz des Materials der Kunst und den Kunstwerken immanent. Daher steht in der autonomen Durchbildung der Kunstwerke Gesellschaftliches zur Behandlung, auch noch da, wie Adorno schreibt, «wo beide nichts mehr voneinander wissen und sich gegenseitig befehden.»270 Das Material unterliegt nicht einfach der gesellschaftlichen Tendenz, indem es äusserlich durch die gesellschaftlichen Verhältnisse zum künstlerischen Material qualifiziert oder disqualifiziert wird, sondern die Kunst qualifiziert ihr künstlerisches Material selbst durch ihre immanente Tendenz hindurch. Das Material der Kunst wird nicht einfach zu einem solchen erhoben, durch welche Instanz auch immer, sondern macht sich durch seine Tendenz seine eigene Geschichte. Das künstlerische Material, an dem die Künstlerin ihre künstlerische Tätig‐ keit ausübt, welches sie bearbeitet und formt, ist also weder ein beliebiges – denn es hat sich gesellschaftlich und geschichtlich als solches qualifiziert – noch ist es gleichgültig gegen seine Bearbeitung – denn es eröffnet gewisse Gestaltungsmöglichkeiten, wie es andere ebenso ausschliesst. Daher übt die Tendenz des Materials, wie Adorno es bezeichnet, einen Zwang im doppelten Sinn auf die künstlerische Produktion aus. Zwang übt die Tendenz des Materials aus, da das Material der künstlerischen Produktion weder ein beliebiges ist noch in beliebiger Weise verarbeitet werden soll: «Die unter unreflektierten Künstlern verbreitete Vorstellung von der Wählbarkeit des Materials ist insofern problematisch, als sie den Zwang des Materials und zu spezifischem Material ignoriert, der in den Verfahrungsweisen und ihrem Fortschritt waltet. Auswahl des Materials, Verwendung und Beschränkung in seiner Anwendung, ist ein wesentliches Moment der Produktion.»271
Unreflektiert ist die Künstlerin dann gerade darin, dass sie das Material unbe‐ fragt in ihrer künstlerischen Tätigkeit bearbeitet, ohne dessen Tendenz zu berücksichtigen. Welches Material nach seiner Tendenz wie zu bearbeiten sei, wird nicht in den Blick genommen. Die Künstlerin nimmt sich dann gerade nicht zurück, sondern nimmt das Material als einen unbestimmten Stoff, indem sie das Material unreflektiert in ihrer Tätigkeit verarbeitet. Nimmt die Künstlerin dagegen das Material ihrer Arbeit ernst, dann wird sie vom künstlerischen Material in ihrer künstlerischen Tätigkeit normativ herausgefordert.
270 271
Ibidem, S. 40. Adorno, ÄT, S. 222.
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3 Produktion
Informiert uns die Philosophie der neuen Musik darüber, was Adorno unter der Tendenz des Materials versteht und inwiefern damit Forderungen an die künst‐ lerische Tätigkeit einhergehen, so gilt es aber ebenso dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Formulierung einer Tendenz des Materials in der Ästhetischen Theorie nicht mehr vorkommt.272 Adorno hat den Gedanken einer Tendenz des Materials aber nicht einfach fallengelassen oder ihn exklusiv für die neue Musik reserviert. Vielmehr treibt Adorno in der Ästhetischen Theorie die Tendenz des Materials, wie bereits den Gedanken des Zurücktretens der Künstlerin, auf die Spitze. Was sich in der Ästhetischen Theorie ändert, ist nicht ein anderes Verständnis davon, was das künstlerische Material sei, noch was Adorno mit Tendenz meint, sondern die Tendenz des Materials wird gewissermassen bis in ihre letzte Konsequenz gedacht. In der Ästhetischen Theorie übersteigt sich die Tendenz des Materials zur Entqualifizierung des Materials. Um diesen Gedanken zu verstehen, gilt es aber zuvor den Begriff des Materials und seine Tendenz noch genauer zu fassen. Das künstlerische Material wird in der Ästhetischen Theorie ebenso, wie in der Philosophie der neuen Musik, als sedimentierter Geist beziehungsweise als sedimentierte Subjektivität ver‐ standen. Darin ist der Gedanke enthalten, dass das künstlerische Material als ein vorgeformtes, als ein Produkt aus vorgängiger künstlerischer Arbeit, eine kontinuierliche Weiterarbeit an künstlerischer Arbeit darstellt.273 Die Tendenz des Materials hat ihre Begründung dann im Umstand, dass das Material der Kunst ein kontinuierlicher Prozess von Arbeit und Weiterarbeit am Material ist. Jedes Kunstwerk arbeitet so am Material weiter und stellt nicht nur Lösungen dar, sondern formuliert mit jeder Arbeit am Material ebenso neue künstlerische Probleme. In diesem Fortgang zeigt sich die Tendenz des Materials als Erweite‐ rung und Verengung in der permanenten und immanenten Weiterarbeit am Material.
272
273
Dies wurde durchaus registriert, wenn auch nicht weiter behandelt. Vgl. hierzu Nikolaus Urbanek, Spiegel des Neuen. Musikästhetische Untersuchungen zum Werk von Friedrich Cerhas, Bern 2005, S. 42. Üblicherweise werden spätere Schriften als Erweiterungen des Materialbegriffs der Philosophie der neuen Musik angesehen. Etwa Lambert Zuidervaart, Adorno’s Aesthetic Theory. The Redemption of Illusion, Cambridge 1991, S. 94f. In kritischer Absicht dagegen etwa Carl Dahlhaus, Adornos Begriff des musikalischen Materials, Stuttgart 1974. Gunnar Hindrichs formuliert es für das musikalische Material folgend: «[M]usikalische Arbeit ist Arbeit an musikalischer Arbeit.» (Gunnar Hindrichs, Die Autonomie des Klangs. Eine Philosophie der Musik, Berlin 2014, S. 51.)
3.4 Material
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II. Sedimentierter Geist Sprechen wir von der Tendenz des Materials, so wird Tendenz in ihrer Veren‐ gung und Erweiterung des Materialbestands, wie ebenso in ihren je eigenen Forderungen an seine Verarbeitung verstanden. Vom künstlerischen Material geht daher ein Zwang aus, welcher die Künstlerin in ihrer Arbeit anleitet. Womit die Künstlerin arbeitet und wie sie mit ihrem Material zu verfahren hat, drängt sich ihr vom künstlerischen Material her als die Probleme der Kunst auf. In der künstlerischen Tätigkeit, in welcher es die Künstlerin mit den Forderungen des Materials zu tun hat, hat sie es immer auch mit Gesell‐ schaft zu tun. Wir haben gesehen, dass Adorno in der Philosophie der neuen Musik die Tendenz des Materials im Sinne seiner gesellschaftstheoretischen Überlegungen mit dem Begriff des Bewegungsgesetzes in Verbindung bringt. So heisst es in der Philosophie der neuen Musik, wie schon entsprechend in Adornos soziologischen Schriften, dass das Verständnis von Musik «in der Erkenntnis der Bewegungsgesetze des Materials»274 aufzusuchen sei.275 Die Anforderungen, welche die Künstlerin vom Material her erfährt, sind nicht in irgendwelchen unveränderlichen Eigenschaften zu suchen. Und so heisst es weiter in der Philosophie der neuen Musik: «Die Forderungen, die vom Material ans Subjekt ergehen, rühren vielmehr davon her, daß ‹Material› selber sedimentierter Geist, ein gesellschaftlich, durchs Bewußtsein von Menschen hindurch Präformiertes ist.»276
Dass das künstlerische Material nicht Naturmaterial ist, liegt also darin, dass es selbst schon ein Produkt von Arbeit ist. Es ist daher vorgeformt und nicht einfach ein Rohmaterial. Dass das Material präformiert ist, heisst also, dass es erst zu einem kunstfähigen Material gemacht wurde. Damit schlägt sich der Zwang, von dem zuvor die Rede war, im Material als Forderungen an die Künstlerin nieder. Zu einem künstlerischen wird das Material also gemacht, indem es in der Arbeit am Material «durchs Bewußtsein von Men‐ schen hindurch» zu sedimentiertem Geist wird, das wiederum an die daran anschliessende künstlerische Arbeit neue Forderungen stellt. Folglich ist das künstlerische Material, an dem sich die Künstlerin abarbeitet, als sedimentierter Geist nicht einfach auf seine physische Beschaffenheit zu reduzieren. Denn als
274 275 276
Adorno, PM, S. 39. Entsprechend ist in der Ästhetischen Theorie vom Bewegungsgesetz der Kunst die Rede: «Deutbar ist Kunst nur an ihrem Bewegungsgesetz, nicht durch Invari‐ anten.» (Adorno, ÄT, S. 12.) Adorno, PM, S. 39; vgl. hierzu auch Adorno, ÄT, S. 512.
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sedimentierter Geist ist die Arbeit am künstlerischen Material die Vertiefung in ein Gesellschaftliches. Daher lag es Adorno daran, hervorzuheben, dass die Kunst von ihrem Bewegungsgesetz, wie schon die Gesellschaft, bestimmt wird und sich nicht auf Invarianten reduzieren lässt. Die Philosophie der neuen Musik führt weiter aus: «Daher ist die Auseinandersetzung des Komponisten mit dem Material die mit der Gesellschaft, gerade soweit diese ins Werk eingewandert ist und nicht als bloß Äußerliches, Heteronomes, als Konsument oder Opponent der Produktion gegenüber‐ steht.»277
Die Beschäftigung mit dem künstlerischen Material als eine Auseinanderset‐ zung mit der Gesellschaft zu bezeichnen, ist also so zu verstehen, dass die Künst‐ lerin allein in der Auseinandersetzung mit dem Material, in der Erforschung der Probleme und Potentiale des Materials, welches sich ihr als künstlerisches Material aufzwingt, bereits mit Gesellschaftlichem zu tun hat. In dieser Weise ist es zu verstehen, dass die Kunst durch die Tendenz des Materials ihre eigene Geschichte macht. Das künstlerische Material in seiner geschichtlichen und gesellschaftlichen Bestimmung als sedimentierter Geist wird zu einer kunstim‐ manenten Beschäftigung mit der Gesellschaft, ohne dabei aber unmittelbar auf die Gesellschaft verwiesen zu sein. Der Doppelcharakter der Kunst, die autonome Entfaltung des Kunstwerks als ein gesellschaftliches, findet darin seine Möglichkeit. Das künstlerische Material als sedimentierter Geist entfaltet also ein gesellschaftliches, ohne dabei aber wiederum von der gesellschaftlichen Verfügungsgewalt eingeholt zu werden. Mit dem Material als sedimentiertem Geist beschreibt Adorno also den Umstand, dass das Material der Kunst durch Subjektivität vorgeformtes Material ist und so die Arbeit an geleisteter Arbeit darstellt. Das künstlerische Mate‐ rial ist nicht nur deshalb in geschichtliche und gesellschaftliche Verhältnisse eingebunden, weil die Künstlerin und die künstlerische Arbeit immer schon in gesellschaftliche Verhältnisse integriert sind, sondern im Besonderen, weil das zum künstlerischen qualifizierte Material selbst ein gesellschaftliches ist. Das künstlerische Material entfaltet dieses Gesellschaftliche als sein eigenes Bewegungsgesetz in der künstlerischen Arbeit: «Als ihrer selbst vergessene, vormalige Subjektivität hat solcher objektive Geist des Materials seine eigenen Bewegungsgesetze.»278 Das Material als vorgeformtes wird zum sedimentierten
277 278
Adorno, PM, S. 40. Ibidem, S. 39.
3.4 Material
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Geist und nimmt daher sein eigenes Bewegungsgesetz an, das eben erst seine Tendenz auszumachen vermag. Dies darf nicht missverstanden werden. Adornos Ausführungen zur Tendenz des Materials als sedimentiertem Geist machen zunächst den Anschein, als ob ein gewisser Zeitgeist, gewisse gesellschaftliche Konventionen und Vorstel‐ lungen auf die Materialwahl und die Materialbehandlung rückwirken. Dann aber wären die Werke nicht mehr als autonom zu bezeichnen, sondern wären wieder durch einen äusseren Zwang bestimmt. Die Werke und ihr Material passen aber nicht einfach zu ihrer und in ihre Zeit, indem die Künstlerin zwischen Gesellschaft und Werk vermittelt, sondern im Material schlägt sich Gesellschaftliches so nieder, dass die Tendenz in der künstlerischen Tätigkeit von der Künstlerin erst zu entfalten wäre. Die Vermittlung zwischen der Gesellschaft und dem Kunstwerk ist dem Kunstwerk immanent. Das Verhältnis zwischen dem Kunstwerk, seinem Material und der Gesellschaft ist daher viel enger und zugleich distanzierter zu denken. In der immanenten Vermittlung der Gesellschaft im Kunstwerk ist die Kunst einerseits näher an der Gesell‐ schaft, anderseits entfernt sich die Kunst zugleich auch vom gesellschaftlichen Zeitgeist. Dem widerspricht aber nicht, dass Kunstwerke immer auch ein Gesellschaftliches sind: «Gesellschaftlich ist die Objektivität der Sache selbst, nicht ihre Affinität zu den Wünschen der jeweils etablierten Gesellschaft […].»279 Das Kunstwerk ist gerade nicht Teil der Gesellschaft, es fällt nicht in den Zeitgeist, ist nicht Ausdruck dessen was der Zeitgeist als Kunst haben will. Das gesellschaftliche der Kunstwerke ist die Objektivität der Sache selbst und das meint, dass die Kunstwerke unbeirrt der Tendenz des Materialzwangs folgen und nicht irgendeinem Zeitgeist. Autonom ist das Kunstwerk dabei, weil es den Zwang des Materials als gesellschaftliches Sediment ohne gesellschaftlichen Zwang entfaltet. Die geschichtliche und gesellschaftliche Spur ist in das künstlerische Material selbst eingeschrieben. Und gerade so vermag es das Kunstwerk, diese Sedimente – die das künstlerische Material sind – deren eigenen Tendenz nachspürend, autonom zu entfalten. Die Vermittlung zwischen Gesellschaft und dem Kunst‐ werk findet deshalb für Adorno «nicht äußerlich, in einem dritten Medium zwischen Sache und Gesellschaft […] [statt], sondern innerhalb der Sache.»280 Adorno führt diesen Gedanken weiter aus: «Die gesellschaftliche Totalität hat in der Gestalt des Problems und der Einheit der künstlerischen Lösung sich sedimentiert, ist darin verschwunden. Weil in ihr 279 280
Adorno, EM, S. 417. Ibidem, S. 409.
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Gesellschaft sich verkapselt hat, folgt sie, indem sie autonom sich entfaltet, auch der gesellschaftlichen Dynamik, ohne auf sie hinzublicken, ohne direkt mit ihr zu kommunizieren.»281
Das Kunstwerk entfaltet also in seiner autonomen Durchbildung ein Gesell‐ schaftliches, das im künstlerischen Material sich niedergeschlagen hat. Wie diese Vermittlung, die nicht über ein Drittes verläuft, genau zu verstehen ist, gilt es aber noch genauer zu erläutern.282 III. Vermittlung Die Tendenz des Materials ist die der Gesellschaft. Bereits in den Ausführungen zur Autonomie und zur Gesellschaft haben wir gesehen, dass die Kunstwerke sich selbst als Gesellschaftliches in bestimmter Negation von der gesellschaftli‐ chen Verfügungsmacht abheben. Dabei fällt auch das künstlerische Material der Künstlerin nicht von aussen zu, sondern ist für Adorno ein bereits durch künstle‐ rische Arbeit vorgeformtes Material. Als geschichtliches und gesellschaftliches Sediment äussert das künstlerische Material die gesellschaftliche Tendenz im Zwang von Materialwahl und Materialbehandlung in Form künstlerischer For‐ derungen. Adorno versteht diese Ablagerung geschichtlicher und gesellschaft‐ licher Tendenz aber nicht vermittelt in einem Dritten, etwa der Künstlerin, die zwischen Gesellschaft und Kunst vermitteln würde, sondern ihre Aushandlung findet in der Sache, im Kunstwerk, selbst statt. Wie nun aber ein Klang, ein Akkord, ein Pinselstrich, ein Versmass an sich Sediment jenes geschichtlichen und gesellschaftlichen Stands sein kann, bleibt noch unverständlich. Es scheint bis hierhin verständlich zu sein, dass durch künstlerische Arbeit das Material nicht blosses Naturmaterial ist, sondern sedimentierter Geist. Das künstlerische Material hat so immer auch seine geistige Schicht. Die Frage, wie denn nun das stoffliche Substrat an sich Sediment des geschichtlichen und gesellschaftlichen Stands sein kann, erwies sich daher als die falsche Frage. Mit dem Begriff der Tendenz des Materials hat sich die Frage nach der Vermittlung von Kunst und Gesellschaft von der Befragung des Materials als Naturmaterial hin zur Befragung des Materials als einem Geistigen gewendet. Das Material ist dann sedimentierter Geist. Kunstwerke, wie ebenso ihr Material, haben aber stets auch ihre stoffliche, ihre sinnliche Seite.
281 282
Ibidem, S. 409. Zur monadologischen Vermittlung von Kunstwerk und Gesellschaft bei Adorno siehe Andreas Pradler, Das monadische Kunstwerk. Adornos Monadenkonzeption und ihr ideengeschichtlicher Hintergrund, Würzburg 2003, S. 150ff.
3.4 Material
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Mit einer weiteren Formulierung, jener des Trieblebens der Klänge, auf die Adorno zurückgreift, bringt er die stoffliche, sinnliche Seite mit in den Blick.283 Die Rede vom Triebleben der Klänge scheint zunächst nur eine andere Formu‐ lierung für die Tendenz des musikalischen Materials zu sein. So schreibt Adorno etwa, dass Schönberg, von dem er meist im Zusammenhang vom Triebleben der Klänge sprach, eben jenem Triebleben der Klänge nachspürt, er den Klängen mehr nachhorcht, als dass er sie veranstaltet.284 Auch hier geht es also darum, dem Material dahin zu folgen, wo es von sich aus hinwill. Wie schon in der Rede von der Tendenz des Materials ist das Triebleben der Klänge nicht irgendeiner Idee oder Intention zu unterwerfen. Mit dem Rückgriff auf die psychoanalyti‐ sche Begrifflichkeit des Trieblebens hebt Adorno aber jene weitere, sinnliche Schicht des Materials hervor. Denn Triebe sind nicht einfach nur Geistiges, so wie es die Tendenz des Materials anmuten liess. Sie sind vielmehr, wie es bei Freud heisst, ein Begriff «der Abgrenzung des Seelischen vom Körperlichen.»285 Aus dieser stofflichen Seite des künstlerischen Materials lässt sich aber keine Intention herauslesen. Ihr ist es gerade eigen, nicht geistig zu sein. Zur Tendenz kommt das Material eben erst, sofern es durch ein Bewusstsein hindurch zu einem künstlerischen Material wird. Erst durch die Arbeit am Material wird es zu sedimentiertem Geist. Diese andere Seite der «intentionslosen Stoffe und Schichten», von denen Adorno sagt, dass sie durch «die Bewegung der neuen Musik» freigelegt wurden, kehrt das künstlerische Material in der Emanzipation der Kunst aber gerade nach aussen.286 Das Material ist nicht einfach Substrat geistiger Vermittlung, sondern wird durch die künstlerische Arbeit hindurch selbst zum künstlerischen Material. Bieten sich die intentionslosen Stoffe und Schichten als künstlerisches Material an, so wird in der Befreiung der Kunst aus vorgegebenen Zwecken auch das künstlerische Material vermeintlich zu einem Beliebigen. Das künstlerische Material vermag es dann eben nicht, der autonomen Kunst die Regeln ihrer Durchbildung anzuweisen. Das künstlerische 283
284 285
286
Die Idee eines Trieblebens der Klänge bringt Adorno im Besonderen mit Ernst Kurths Musikpsychologie in Verbindung. Vgl. hierzu Adornos Rezension zu Kurths Musikpsy‐ chologie: Theodor W. Adorno, Ernst Kurths ‹Musikpsychologie› (= GS 19), Frankfurt am Main 2003, S. 350ff. Vgl. hierzu auch Lukas Haselböck, Zur Aktualität der Musiktheorie Ernst Kurths, Saarbrücken 2010, S. 163ff. Vgl. Theodor W. Adorno, Der dialektische Komponist (= GS 17), Frankfurt am Main 2003, S. 201; Theodor W. Adorno, Über einige Arbeiten Arnold Schönbergs (= GS 17), Frankfurt am Main 2003, S. 329. Sigmund Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (= Studienausgabe 5), Frankfurt am Main 1972, S. 76; vgl. hierzu besonders Larson Powell, Das Triebleben der Klänge. Musik und Psychoanalyse am Beispiel der ‹Philosophie der neuen Musik›, Frankfurt am Main 1998, S. 128ff. Adorno, PM, S. 102.
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Material ist so von der Problemlage der künstlerischen Moderne nicht ausge‐ nommen. In dieser Situation steht die Künstlerin nicht vor einer Fülle offener Möglichkeiten, sondern vielmehr «vis-à-vis de rien.»287 Das Material bleibt aber auch dann noch ein präformiertes, wenn die inten‐ tionslose Schicht im Zuge der Emanzipation der Kunst freigelegt wurde. Damit die intentionslose Schicht des künstlerischen Materials überhaupt in den Blick kommt, hat dieses sich erst zum künstlerischen Material zu qualifizieren. Auch dann wird das künstlerische Material noch durch die Arbeit am Material zu einem solchen gemacht, wenn die Künstlerin das künstlerische Material als ein intentionsloses empfängt, denn erst durch die Arbeit am künstlerischen Material wurde es zu einem solchen vermittelt. Da Adorno, wie eingangs ausgeführt, den Materialbegriff nun weiter fasst, nicht nur ein Klang, eine Farbe, ein Wort, sondern auch Tonverhältnisse, eine Maltechnik oder ein Versmass als Material begreift, so ist die Frage nach dem Material eben nicht auf ihre intentionslose Schicht als Naturmaterial zu verengen. Adorno hebt in der Philosophie der neuen Musik vielmehr hervor, dass dem Tonmaterial an sich kein «ontologisches Eigenrecht»288 zukommt. Dies trifft auch dann noch zu, wenn sich das künstlerische Material als ein solches aufdrängt. Deshalb lässt es sich auch nicht aus irgendwelchen physiologischen Einsichten des Ohres oder aus Obertonverhältnissen gewinnen.289 So ist das Material der Kunst nichts, das sich physikalisch auf eine Bestimmung bringen lässt, sondern tritt der Künstlerin auch dann noch als Forderung heran, wenn es seine intentionslose Schicht nach aussen kehrt.290 Das Problem der Vermittlung zwischen Gesellschaft und Kunst erhält in dieser Zuspitzung eine eigentümliche Wendung. Die Tendenz, die im Material aufzusuchen wäre, ist nun so zugespitzt, dass sie die intentionslose Schicht nach aussen kehrt und sich damit zum künstlerischen Rohstoff vermittelt. Seine Tendenz wird damit richtungslos. Beide Momente, die in der Kunstproduktion wesentlich sind, die künstlerische Arbeit und ihr Material, heben sich in ihrer Überspitzung also selbst auf. So verstrickt sich die Produktion des Kunstwerks erneut in Probleme. Wie bereits ausgeführt, liegt die von Adorno geforderte Rücknahme der Künstlerin im Problem begründet, dass das Kunstwerk in seiner Autonomie sich seine Regel selbst zu geben hat und diese weder von der Inten‐
287 288 289 290
Adorno, ÄVL, S. 24. Adorno, PM, S. 39. Ibidem, S. 39; vgl. auch Adorno, ÄT, S. 434f. Daher heisst es auch in der Philosophie der neuen Musik: «Kein Akkord ist ‹an sich› falsch, schon weil es keine Akkorde an sich gibt, und weil jeder das Ganze, auch die ganze Geschichte in sich trägt.» (Adorno, PM, S. 42.)
3.4 Material
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tion der Künstlerin noch von der Tradition äusserlich in die Werkproduktion hereingetragen werden darf. Und weiter haben wir gesehen, dass so das Material und seine vermeintliche Tendenz die eigentliche Anleitung der künstlerischen Tätigkeit zu geben hätte. Bis hierhin wird verständlich, unter der Annahme des künstlerischen Materials als sedimentiertem Geist, wie das Kunstwerk zu seinem gesellschaftlichen Gehalt kommt. Legt sich aber in der Zuspitzung der Tendenz des Materials ihre intentionslosen Schicht frei, dann gibt es in der Rücknahme der Künstlerin nichts mehr, in deren Tendenz die Technik sich zu stellen und zu entfalten vermag. Die Tendenz und ihre Forderungen, die vom künstlerischen Material ausgehen, liegen nun darin, das künstlerische Material als ein Naturmaterial zu verstehen. Hat sich die Tendenz des Materials selbst ausgeebnet, in ihre Tendenzlosigkeit verkehrt, so scheint damit auch die Möglichkeit des Kunstwerks untergraben. Die Vermittlung von Gesellschaft und Kunst müsste dann in einem Dritten geleistet werden oder das künstlerische Material bleibt genauso stumm wie die Künstlerin auf dessen Anweisungen wartet. IV. Entqualifizierung des Materials Statt von einer Tendenz des Materials ist in der Ästhetischen Theorie von der Entqualifizierung des Materials die Rede. Adorno schreibt: «Die Entqualifizierung des Materials, an der Oberfläche dessen Enthistorisierung, ist selber seine geschichtliche Tendenz als die subjektiver Vernunft. Ihre Grenze hat sie daran, daß sie im Material dessen geschichtliche Bestimmung hinterläßt.»291
Die Entqualifizierung steht der Idee einer Tendenz des Materials aber gerade entgegen, denn mit ihrer Entqualifizierung wird das Material zu einem belie‐ bigen, wogegen die Tendenz des Materials gerade darin lag, gewisses Material als künstlerisches Material zu qualifizieren und anderes zu disqualifizieren. Die Tendenz des Materials bestand in der Verengung und Erweiterung des Materi‐ albestands und dem damit einhergehenden Zwang der Materialwahl und Mate‐ rialbehandlung. Daher spricht Adorno von einer scheinbaren Enthistorisierung, denn mit ihrer Entqualifizierung geht ihre geschichtliche Tendenz verloren. Ohne die Tendenz des Materials fällt das Material aus seinem fortlaufenden Zusammenhang von Arbeit und Weiterarbeit am Material der Kunst heraus. Ohne Tendenz ist das Material gleichgültig gegen seine Verwendung. Die Ent‐ 291
Adorno, ÄT, S. 223. Zum Begriff der subjektiven Vernunft siehe auch Max Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (= Gesammelte Schriften 6), Frankfurt am Main 1991, S. 27ff.
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qualifizierung des Materials bedeutet daher auch, dass der zweifache Zwang des Materials verloren geht. In seiner Entqualifizierung wäre das Material also ein tendenzloses und damit gleichgültiges Material. Es wäre so zu jenem passiven Naturmaterial verkommen, an dem die Technik als Materialbeherrschung sich bedient. Der Gedanke greift aber tiefer, denn Adorno versteht die Entqualifizierung des Materials selbst als Tendenz. Die Enthistorisierung, so heisst es im obigen Zitat, erweist sich nur als oberflächliche. Wie oben bereits ausgeführt, ist das Material auch dann kein Naturmaterial, wenn es sich der Künstlerin als ein solches zeigt. Auch dann bleibt es noch «geschichtlich durch und durch.»292 Auch als ein vermeintliches Naturmaterial wurde das künstlerische Material zu einem solchen. Als Naturmaterial zeigt sich das künstlerische Material gerade seinem geschichtlichen und gesellschaftlichen Stand entsprechend. Die Entqualifizierung des Materials findet eben darin ihre Grenze am Material, indem sie die vermeintliche Enthistorisierung selbst in die Geschichte des Materials einschreibt. Zeigt sich das künstlerische Material als Naturmaterial, so ist es als sedimentierter Geist ein Naturmaterial. Als tendenzloses Naturmaterial tritt dieses der Künstlerin als ein dem gesellschaftlichen und geschichtlichen Stand des Geistes entsprechendes entgegen. Von der totalisierenden Tendenz der Gesellschaft als Funktionszusammenhang, in dem alles zu einem Fürander‐ essein wird, bleibt auch das künstlerische Material nicht unberührt. Mit der Emanzipation der Kunst von jeglichen ausserkünstlerischen Funktionen hat das künstlerische Material ebenso seine Selbstverständlichkeit verloren. Die dreifache Rechtfertigungskrise, mit der Adorno in der Ästhetischen Theorie anhebt, zieht sich bis in die tiefsten Schichten des Materials durch: «Mit den Kategorien haben auch Materialien ihre apriorische Selbstverständlichkeit verloren, so die Worte der Dichtung. Der Zerfall der Materialien ist der Triumph ihres Füranderesseins.»293 Das Material ist daher nicht einfach tendenzlos, sondern seine Tendenz liegt gerade in seiner Tendenzlosigkeit. Die Tendenz der Entqualifizierung, von der Adorno spricht, ist die von subjektiver Vernunft. Entsprechend der gesellschaftlichen Verfasstheit als einem Funktionszusammenhang ist die Ten‐ denz subjektiver Vernunft als herrschaftliche Verfügung über das Material als blossem Stoff zu verstehen. Sie bringt das Material unter die von ihr gesetzten Zwecke und macht es darin zu einem Füranderessein. Es handelt sich also deshalb um eine Entqualifizierung, da das künstlerische Material als ein Füran‐
292 293
Adorno, ÄT, S. 223. Ibidem, S. 31.
3.4 Material
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deressein seiner eigenen geschichtlichen Tendenz entledigt wird. Damit bringt erst die subjektive Vernunft das künstlerische Material zur Bestimmung, indem sie es zu einem Füranderessein macht. Was gegen die Idee der Tendenz des Materials geht, nämlich der inneren Tendenz des Materials nachzuspüren und diese zu entfalten, ist aber gerade die Erfüllung ihrer Tendenz. Denn die Tendenz des künstlerischen Materials ist ihre Entqualifizierung. In der Tendenz der Entqualifizierung wird das künstlerische Material auf seine stoffliche Schicht gebracht, um es erst für eine Qualifizierung durch subjektive Vernunft verfügbar zu machen. Das Material der Kunst ist also nicht einfach ein qualitätsloser Stoff, an dem sich die Künstlerin verfügend betätigt, sondern die Tendenz des Materials fordert die Künstlerin zur Materialbeherrschung heraus. Deshalb kann die Tendenz der Entqualifizierung des Materials als die Tendenz zur Tendenzlosigkeit verstanden werden. Sie ist ihre geschichtliche Tendenz. Die Künstlerin empfängt das künstlerische Material also als ein Naturmaterial. Als ein solches tritt das Material nun nicht mit dem Zwang zur Materialwahl und Materialbehandlung an die Künstlerin heran, sondern mit dem Zwang, es durch seine eigenen Zwecke zur Bestimmung zu bringen. Der Tendenz der Entqualifizierung ist der Zwang zur Materialbeherrschung eingeschrieben. Da die Kunstwerke aber der Forderung ihrer autonomen Durchbildung nach‐ zukommen haben, hätten sie die Tendenz der Tendenzlosigkeit im Werk zur Entfaltung zu bringen. Die autonome Durchbildung der Kunstwerke hiesse, der Tendenz des Ma‐ terials zu folgen. Das Material bildet so den Grund künstlerischer Tätigkeit, aus der die Kunstwerke erst hervorgehen. Die Bedingungen der Produktion von Kunstwerken finden daher im Material ihren Schluss. Wie ein autonomes Kunstwerk überhaupt möglich ist, hat so seinen letzten Bezugspunkt im Mate‐ rial. Dieses aber wurde in seiner geschichtlichen Tendenz zur Entqualifizierung getrieben. Seine Bewegungsgesetze ebnen daher zur Gleichgültigkeit aus. Die Kunst untergräbt ihre eigene Bedingung, indem sie in ihrem geschichtlichen Gang die Tendenz des Materials im Zuge ihrer Emanzipation ebenfalls in eine Krise stürzt. Die Tendenz hat sich in der Befreiung der Kunst in ihre Tendenzlosigkeit verkehrt. Das künstlerische Material wirkt als letzter Grund künstlerischer Produktion auf diese zurück. Die Forderung zur Autonomie, von der ausgegangen worden war, verkehrt sich damit zur Heteronomie. Denn der autonomen Durchbildung der Kunstwerke bis ins künstlerische Material hinein spiegelt sich lediglich der gesellschaftliche Zwang der Naturbeherrschung und des Füranderesseins zurück. Der Verfügungsmacht des gesellschaftlichen Funktionszusammenhangs scheint auch das autonome Kunstwerk sich nicht entziehen zu können. Der Ver‐
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3 Produktion
such, in negativer Bestimmung durch die heteronomen Strukturen gesellschaft‐ licher Verhältnisse hindurch ein autonomes Kunstwerk herzustellen, erweist sich damit als zum Scheitern verurteilt. Die Möglichkeit des Kunstwerks, nach der eingangs gefragt wurde, zeigt sich von der Produktion her gedacht als nicht durchführbar. Die Künstlerin folgt entweder dem Anspruch des autonomen Kunstwerks und geht der Tendenz des Materials nach. Dann untergräbt sie aber zugleich wieder die Autonomie, denn das entqualifizierte Material stellt lediglich die Forderung an die Künstlerin, es heteronom zur Bestimmung zu bringen. Oder die Künstlerin stellt sich gegen die Forderung heteronomer Bestimmung, die das künstlerische Material stellt. Dann verharrt das künstlerische Material in seiner künstlerischen Unbestimmtheit und es kommt gar nicht erst zur Kunstproduktion. Damit scheint das autonome Kunstwerk unmöglich zu sein. Entweder gibt es seine Autonomie auf oder das Werk kommt erst gar nicht zustande. Von der Seite der Produktion her lässt sich die Möglichkeit von Kunstwerken, so wie Adorno sie versucht zum Zeitpunkt ihrer Krise zu fassen, nicht verständ‐ lich machen. Vielmehr zeigt sich, dass sie an ihrem eigenen Anspruch scheitern. Wird vom Kunstwerk der Doppelcharakter von Autonomie und fait social eingefordert, lässt sich die Möglichkeit des Kunstwerks in der Produktion nicht nachzeichnen. Die Produktion von Kunstwerken muss in letzter Konsequenz scheitern, denn der Versuch ihre Möglichkeit auszuweisen, führt nur noch ihre Unmöglichkeit aus. Soll aber weiterhin nach der Möglichkeit von Kunstwerken gefragt werden, so ist nicht nur nach ihrer Produktion und ihren Bedingungen zu fragen. Kunstwerke werden nicht nur gemacht, sondern auch erfahren. Anstatt also der Möglichkeit von Kunstwerken in ihrer Produktion nachzu‐ gehen, wäre die Rezeption von Kunstwerken zu befragen. Ist für Adorno Kunst Rationalität in Gestalt ihrer Andersheit, so ist die Frage nicht nur, wie ein Kunstwerk gemacht wird, sondern auch wie seine Rezeption zu denken ist. Mit der geschichtlichen Tendenz subjektiver Vernunft als der Entqualifizierung des künstlerischen Materials setzte sich eben jene Rationalität durch, von der das Kunstwerk die Gestalt in ihrer Andersheit darstellen soll. Die Widerständigkeit hätte sich daher ebenso in der Erfahrung von Kunstwerken auszuweisen.
4 Rezeption Die Produktion und ihre Bedingungen haben in letzter Konsequenz das Mate‐ rial in seiner geschichtlichen Tendenz der Entqualifizierung durchschaut. Die Kunstproduktion steht so vor dem Problem, die Möglichkeit des Kunstwerks nicht mehr verständlich machen zu können. Kunstwerke werden aber nicht nur hergestellt, sondern sind ebenso Gegenstand einer bestimmten Rezeption. In Folge des Unvermögens der Produktion wäre daher die Rezeption von Kunstwerken zu befragen. Den Begriff des Kunstwerks unter dem Gesichtspunkt der Rezeption zu fassen heisst, ihn zunächst von seiner spezifischen Erfahrung her zu verstehen. Die ästhetische Erfahrung ist aber in der Ästhetischen Theorie mit einem weiteren Rezeptionsvollzug verstrickt: dem ästhetischen Verstehen. Der zweite zu klärende Begriff der Rezeption ist demnach das ästhetische Verstehen. Im Anschluss an die Erörterungen zu den zwei Vollzugsweisen der Rezeption, dem Erfahren und dem Verstehen von Kunstwerken, lässt sich nun nach ihrem Gehalt fragen. Dieser ist zunächst das Mehr, der geistige Gehalt der Kunstwerke, das, was an den Kunstwerken diese zugleich auch immer schon übersteigt. Daher gilt es in einem nächsten Schritt, die ästhetische Transzendenz in den Blick zu nehmen. In letzter Konsequenz geht die Rezeption jedoch auf den Wahrheitsgehalt. Die Ausführungen zur Rezeption haben deswegen mit dem Wahrheitsgehalt zu schliessen.
4.1 Ästhetische Erfahrung I. Doppeldeutigkeit ästhetischer Erfahrung Die für Kunstwerke spezifische Erfahrung wird üblicherweise als ästhetische Er‐ fahrung bezeichnet. Sie unterscheidet sich von anderen Arten von Erfahrungen dadurch, dass sie sich als ästhetisch ausweist. Ob dabei das Spezifische der ästhetischen Erfahrung wesentlich dem Gegenstand der Erfahrung geschuldet ist oder in der spezifischen Einstellung der Erfahrenden liegt, als eine den Kunstwerken angemessene Haltung, bleibt in der Rede von ästhetischer Erfah‐ rung vorerst noch offen, wie auch noch offenbleibt, worin genau das spezifisch Ästhetische besteht. Ästhetische Erfahrung kann demnach in einem engeren Sinn gemeint sein, nämlich so, dass es nur den Kunstwerken eigen ist, Anlass
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4 Rezeption
zu einer ästhetischen Erfahrung zu sein. Ästhetische Erfahrung meint dann Kunsterfahrung. Ein Kunstwerk wäre dann dasjenige, das eine bestimmte Erfahrung provoziert, welche als ästhetisch zu bezeichnen ist. Im anderen Sinn wird die ästhetische Erfahrung so verstanden, dass sie einer bestimmten mentalen Einstellung geschuldet ist und daher auch in Auseinandersetzung mit anderem, nicht nur mit Kunstwerken, zustande kommen kann. Der ästhe‐ tischen Erfahrung geht dann ein mentaler Zustand voraus, der üblicherweise als aesthetic attitude bezeichnet wird und durch welchen die Erfahrung sich von anderen Erfahrungen unterscheidet. Sie hätte dann ihren Grund in jener bestimmten Einstellung, die eingenommen wird und nicht im Kunstwerk.294 Soll Adornos Forderung nach dem Doppelcharakter der Kunstwerke auch für die Überlegungen zur ästhetischen Erfahrung ihre Geltung behalten, so können wir die ästhetischen Erfahrungen ebenso auf diese zwei Weisen befragen. Ei‐ nerseits kann ästhetische Erfahrung vom autonomen Kunstwerk her verstanden werden. Das Kunstwerk, das sich durch seine Autonomie aus dem empirischen Bereich herausnimmt, schafft gerade den Bereich für die ästhetische Erfahrung. Sie hat ihren Grund im Kunstwerk, weil sich das Kunstwerk bei Adorno durch seine bestimmte Negation gegen die heteronome Verfügungsmacht gesellschaft‐ licher Verhältnisse auszeichnet und so zu einer spezifischen Erfahrung führt. In der anderen Weise wäre ästhetische Erfahrung dann so verstanden, dass sie aus einer spezifischen Einstellung hervorgeht, in der das zu erfahrende als autonom aufgefasst wird. Kunstwerke sind dann nicht an sich autonom, sondern werden durch die spezifisch ästhetische Einstellung als autonome in den Blick genommen. Die Ästhetische Theorie hält nicht nur am Kunstwerkbegriff fest, sondern denkt auch die ästhetische Erfahrung vom Kunstwerk her. Das Verhältnis zwischen Erfahrungssubjekt und Erfahrungsobjekt wird von Adorno aber weitaus verwickelter gedacht, als es sich in einer einfachen Parteinahme für die eine oder andere Seite darstellt. Liegt der Grund zur spezifischen ästhetischen Erfahrung im Kunstwerk, so stellt sich die Erfahrung nicht einfach unmittelbar ein, genauso wenig wie eine ästhetische Einstellung jegliches zu Erfahrendes in das Objekt einer ästhetischen Erfahrung zu verwandeln vermag. Erst eine bestimmte Beschaffenheit der Kunstwerke ist in der Lage eine ästhetische Erfahrung hervorzurufen, sofern sich die Rezipientin in entsprechender Weise darauf einlässt. Der Doppelcharakter der Kunstwerke bleibt daher ebenso die Voraussetzung für die ästhetische Erfahrung, so wie sie Adorno für die Kunst
294
Zum Überblick siehe Stefan Deines/Jasper Liptow/Martin Seel, Kunst und Erfahrung. Eine theoretische Landkarte, Berlin 2013.
4.1 Ästhetische Erfahrung
115
beansprucht. Die Kunst hält daher einen spezifischen Erfahrungsgehalt bereit, der in den Kunstwerken erfahren werden kann und durch den Nicht-Ort im gesellschaftlichen Funktionszusammenhang bestimmt wird.295 Um nun den Kunstwerkbegriff von der Rezeption her zu verstehen, soll die spezifische Erfahrung, die wir in den Kunstwerken machen und als ästhetische bezeichnen, auf den Bereich der Kunst und ihre Werke beschränkt werden. Die Art der Erfahrung, die im Kunstwerk gemacht wird, hat sich daher von anderen Erfah‐ rungen zu unterscheiden, gerade weil Kunstwerke sich von anderen Artefakten und von der Natur unterscheiden. Aus den Ausführungen zur Produktion wissen wir, dass Adorno das Kunst‐ werk so versteht, dass es sich aus der empirischen Realität herausnimmt. Darin unterschied sich das Kunstwerk als Gemachtes von anderen Artefakten. Das Kunstwerk fällt nicht in den gesellschaftlichen Funktionszusammenhang, sondern verortet sich durch seine Widerständigkeit gegen sich selbst ausserhalb der Gesellschaft. Dies hat sich auch der ästhetischen Erfahrung mitzuteilen. Daher setzt Adorno in der Frühen Einleitung der Ästhetischen Theorie den Begriff der ästhetischen Erfahrung mit dem Doppelcharakter der Kunst in Verbindung. Denn wenn Kunst sowohl als autonome zu verstehen ist und damit «verselbständigt der Gesellschaft gegenübertritt»296, zugleich aber selbst ein Gesellschaftliches ist, dann hat sich dies in der Erfahrung von Kunstwerken niederzuschlagen. Die Kunst, so schreibt Adorno, «schreibt ihrer Erfahrung das Gesetz vor.»297 Ästhetische Erfahrung als Kunsterfahrung hat für Adorno so ihren eigentlichen Grund im Kunstwerk, denn der Doppelcharakter der Kunstwerke leitet die ästhetische Erfahrung erst an. Der Doppelcharakter der Kunstwerke muss sich also selbst in seinem spannungsvollen Verhältnis in die Erfahrung einschreiben. Ist für Adorno das einzig noch authentische Kunstwerk in der Ästhetischen Theorie das autonome Kunstwerk, so stellt auch die ästhetische Erfahrung sich in den Gegensatz zur ausserästhetischen Erfahrung. Ästhetische Erfahrung wäre dann dadurch gekennzeichnet, dass sie die Erfahrung dessen ist, was als Gesellschaftliches ausserhalb des gesellschaftlichen Funktionszusammenhangs zu bestehen vermag, ohne durch die Kulturindustrie oder andere Formen gesell‐ schaftlicher Verwertungsmacht vereinnahmt zu werden. Ästhetische Erfahrung wäre dann wesentlich die Erfahrung des Doppelcharakters der Kunstwerke. Die Spezifik ästhetischer Erfahrung der Kunst liegt also darin, dem autonomen Eigensinn der Kunstwerke gewahr zu werden, um dadurch zugleich ihren 295 296 297
Vgl. hierzu Menke, Die Souveränität der Kunst, op. cit., S. 269ff. Adorno, ÄT, S. 518. Ibidem, S. 518.
116
4 Rezeption
gesellschaftlichen Gehalt zu fassen. Bezieht sich ästhetische Erfahrung hier also auf den Bereich der Kunst, so liegt das spezifische der ästhetischen Erfahrung darin, dass sich Kunstwerke in den Gegensatz zur empirischen Realität zu setzen vermögen. Die Differenz der Autonomie, welche die autonome Kunst artikuliert, wird zum Erfahrungsgehalt. Würde sich die ästhetische Erfahrung nicht von einer ausserästhetischen Erfahrung unterscheiden, so wäre von der Seite der Rezeption her auch die Unterscheidung des Kunstwerks von anderen Artefakten einkassiert. Die Widerständigkeit der Autonomie wird so zum Kennzeichen ästhetischer Erfahrung. Für eine ästhetische Erfahrung wird aber nicht einfach nur ein Kunstwerk erfahren, sondern es wird in einer bestimmten Weise erfahren. Das Kunstwerk zeichnet die Erfahrung nicht alleine als eine ästhetische aus, indem es durch seinen Doppelcharakter den Erfahrungsgehalt bereithält, sondern es wird auch auf ästhetische Weise erfahren. Ästhetische Erfahrung meint nicht nur die Erfahrung eines Ästhetischen, sondern auch eine dem Kunstwerk angemessene Weise des Erfahrens. Die Erfahrende hat daher ebenso ihren Anteil an der ästhetischen Erfahrung, mag für Adorno der eigentliche Grund ästhetischer Er‐ fahrung noch so sehr im Kunstwerk liegen. Die Rezipientin wird zwar von einem Kunstwerk zu einer ästhetischen Erfahrung herausgefordert, lässt sie sich aber nicht darauf ein, so wird sie auch keine ästhetische Erfahrung machen. Sie muss sich in einer spezifischen Weise zum Kunstwerk verhalten. Adorno schliesst an dieser Stelle an Kant an, der eine Haltung des interesselosen Wohlgefallens gegenüber der Kunst fordert.298 Diese Haltung, die die Rezipientin gegenüber dem Kunstwerk einzunehmen hat, heisst bei Kant deshalb interesselos, da es in ihr nur darum geht, «ob die bloße Vorstellung des Gegenstandes in mir mit Wohlgefallen begleitet sei, so gleichgültig ich auch immer in Ansehung der Existenz des Gegenstandes dieser Vorstellung sein mag.»299 Eine ästhetische Erfahrung ist dann also dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht von irgendeinem Interesse angeleitet ist, denn, so führt Adorno weiter aus, «in dem Augenblick, wo man zu einem Objekt unmittelbar als einem der Praxis sich verhält, wo man es also, grob gesagt, in irgendeinem Sinn verschlingen, sich zueignen will, da ist diese spezifische ästhetische Beziehung überhaupt nicht existent oder sie ist von Grund auf gestört.»300 Die spezifische ästhetische Beziehung, in der erst eine ästhetische Erfahrung zustande kommt, stellt daher an beide Seiten ihre Forderung. Schreibt das Kunstwerk der Erfahrung das Gesetz vor, so kommt es eben erst dann zu einer ästhetischen Erfahrung, sofern die Rezipientin es 298 299 300
Vgl. Adorno, ÄVL, S. 54. Kant, Kritik der Urteilskraft, op. cit., § 2, S. 205. Adorno, ÄVL, S. 54; Vgl. auch Adorno, ÄT, S. 460.
4.1 Ästhetische Erfahrung
117
zulässt, die im Kunstwerk angelegte Möglichkeit der Erfahrung zu entfalten, ohne es dabei in irgendeiner Weise zu vereinnahmen. Liegt für Adorno einer ästhetischen Erfahrung das Kunstwerk zugrunde, stellt es ihren eigentlichen Grund dar, dann spielt die subjektive Seite der ästhetischen Erfahrung also ebenso eine entscheidende Rolle, denn die Rezipientin kann eine ästhetische Erfahrung nur dann machen, wenn sie sich zum Kunstwerk in angemessener Weise in Beziehung setzt. Die Rezipientin ist aber nicht nur einfach der passive Teil im Zustandekommen ästhetischer Erfahrung, sondern trägt ihren Anteil zu einer ästhetischen Erfahrung, wie sich noch zeigen wird, in einer aktiven Rücknahme bei. In dieser aktiven Rücknahme gleicht die Rezipientin der Künstlerin, für die es bereits galt, in der künstlerischen Tätigkeit nur als minimale Instanz zur Realisierung des Kunstwerks zu fungieren. Erfahrungen werden von Subjekten gemacht, worin auch immer die Gehalte dieser Erfahrungen liegen mögen. Dabei bestimmt die Form der Subjektivität, die den Erfahrungen zugrunde liegt, erst was unter Erfahrung zu verstehen ist und gibt daher auch dem spezifisch Ästhetischen einer ästhetischen Erfahrung seine Klärung. Ein Kunstwerk kann noch so sehr zu einer ästhetischen Erfah‐ rung herausfordern, letztendlich wird sie erst von der Rezipientin vollzogen. Haben wir gesehen, dass Adorno das spezifische der Produktion von Kunst‐ werken darin sieht, dem Autonomieanspruch der Kunst gerecht zu werden und sich darin ihr Doppelcharakter ausarbeitet, so gilt es dies in die Frage nach der ästhetischen Erfahrung so miteinzubeziehen, dass das autonome Kunstwerk als Grund ästhetischer Erfahrung gedacht wird. Gibt das Kunstwerk mit seinem Doppelcharakter der ästhetischen Erfahrung das Gesetz vor, dann gilt es nun der Frage nachzugehen, wie die Rezipientin dem vom Kunstwerk vorgegebenen Gesetz überhaupt Folge leisten kann. II. Konstitutive Subjektivität Sowohl die Künstlerin als auch die Rezipientin sind in den gesellschaftlichen Funktionszusammenhang eingebunden. Weder die Künstlerin noch die Rezipientin stehen daher ausserhalb der gesellschaftlichen Verfügungsmacht. Zwar sind beide, die Künstlerin und die Rezipientin, auf etwas bezogen, was ausser‐ halb des Funktionszusammenhangs steht, nämlich auf das Kunstwerk, das heisst aber nicht, dass sie sich dadurch aus dem Zusammenhang herausnehmen. Das produzierende und rezipierende Subjekt ist das im Funktionszusammenhang integrierte Subjekt. Es gilt daher in den Überlegungen zur ästhetischen Erfah‐ rung vom gleichen Subjekt auszugehen, das schon dem Produktionsprozess der Künstlerin zugrunde lag. Es handelt sich dabei um das Subjekt bürgerlicher Gesellschaft, das sich gerade dadurch auszeichnet, dass es in den durchs Tausch‐
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4 Rezeption
prinzip bestimmten Funktionszusammenhang eingefasst ist. Die Künstlerin, die sich in der künstlerischen Tätigkeit zurückzunehmen hatte, ist daher keine andere, sondern von gleicher Subjektform, wie es die Rezipientin ist, die den Kunstwerken gegenübertritt. Es ist daher ebenso das Subjekt ästhetischer Erfahrung. Im geschichtlichen Übergang von Tradition zu Rationalität als grundlegende Vermittlungslogik gesellschaftlicher Verhältnisse, im Zuge dessen sich auch die gesellschaftlichen Verhältnisse bürgerlicher Ordnung herausbildeten, ent‐ wickelte sich ebenso jenes Subjekt heraus, wie es Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung in einer «Urgeschichte des Subjekts»301 umrissen haben. Es handelt sich dabei also um die von Horkheimer und Adorno beschrie‐ bene Genese des Subjekts im Gang fortschreitender Naturbeherrschung. In ihrem Programm, in welchem sie die Aufklärung unter dem Ziel verstehen, «den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen»302, versuchen sie jene Genese nachzuzeichnen. Das sich darin herausbildende Subjekt, das mit der Einsetzung der Menschen als Herren einhergeht, herrscht für Horkheimer und Adorno dabei letzten Endes aber nicht nur über die Natur, sondern über‐ führt damit die Natur zugleich in eine «bloße Objektivität»303, in der sie als disqualifizierter, als chaotischer Stoff, sich in ein neues Verhältnis zu ihm setzt. In diesem neuen Verhältnis bringt das Subjekt die disqualifizierte Natur erst zur Bestimmung.304 Horkheimer und Adorno sehen darin eine Nivellierung der Unterschiede der Natur hin zu «der einen Materie»305, Unterschiede, die in der magischen, verzauberten Welt noch vorherrschend waren, mit zunehmender Rationalisierung und Verwissenschaftlichung aber verflüssigt werden: «Die mannigfaltigen Affinitäten zwischen Seiendem werden von der einen Bezie‐ hung zwischen sinngebendem Subjekt und sinnlosem Gegenstand, zwischen rationaler Bedeutung und zufälligem Bedeutungsträger verdrängt.»306 Die tota‐ litäre Tendenz der Aufklärung treibt also ein Weltverhältnis voran, in welchem die Macht der Naturbeherrschung, die diesem Weltverhältnis zugrunde liegt, das eigene Dasein von der Realität scheidet und zugleich alle anderen Unterschiede verschlingt.307 Die fortschreitende Naturbeherrschung, als die sich die Aufklä‐ rung erweist, setzt die Menschen so als Herren ein, dass sich die Natur nur 301 302 303 304 305 306 307
Adorno, ND, S. 186. An anderer Stelle ist auch die Rede von der «Urgeschichte der Subjektivität» (siehe Horkheimer und Adorno, DA, S. 73; Adorno, ÄT, S. 172). Horkheimer und Adorno, DA, S. 19. Ibidem, S. 15. Vgl. ibidem, S. 25ff. Ibidem, S. 26. Ibidem, S. 27. Vgl. ibidem, S. 24.
4.1 Ästhetische Erfahrung
119
noch als passiver und unbestimmter Stoff zur Bearbeitung anbietet. Die Natur wird zum unbestimmten und passiven Material, an dem sich ein aktives Subjekt betätigen kann. Das Subjekt, um dessen Urgeschichte Horkheimer und Adorno in der Dia‐ lektik der Aufklärung bemüht sind, ist also dasjenige fortschreitender Rationa‐ lisierung, das alles unter den Blick der Naturbeherrschung setzt. Die Rezipientin ist somit als naturbeherrschendes Subjekt zu denken, das sich mit fortschrei‐ tender Aufklärung geschichtlich herausbildete. Als naturbeherrschendes Sub‐ jekt nimmt die Rezipientin auch das Kunstwerk nicht von der nivellierenden Tendenz der Aufklärung aus. Wie alles andere unterliegt auch das Kunstwerk dem Versuch, unter die Bestimmungen des sinngebenden Subjekts gebracht zu werden. «Das Erwachen des Subjekts»308, von dem Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung sprechen, meint daher das Erwachen eines naturbeherrschenden Subjekts, das sich über die Natur setzt und sie so zum Gegenstand seiner Herrschaft macht. Das naturbeherrschende Subjekt über‐ höht sich in seiner Herausbildung zur massgebenden Ordnungsinstanz: «Als Gebieter über Natur gleichen sich der schaffende Gott und der ordnende Geist. Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen besteht in der Souveränität übers Dasein, im Blick des Herrn, im Kommando.»309 Das Verhältnis von ordnendem Geist, von sinngebendem Subjekt, und der von ihm beherrschten Natur unterliegt dem Prinzip der Macht. Ihre Beziehung ist eine der Herrschaft. Daher erscheint dem Subjekt alles, womit es auch immer zu tun hat, als «Substrat von Herrschaft».310 Dass das Subjekt erst alles zur Bestimmung bringt, dass es als ordnender Geist das qualitätslose Material, den chaotischen Stoff erst in seine Ordnung bringt, meint damit also, dass sich die Natur ihm nur noch als eine unterschiedslose Einheit gegenüberstellt, an der sich der sinngebende Geist zu betätigen hat. Was sich in diesem Sinne als die bürgerliche Subjektivität erweist, kann daher als konstitutive Subjektivität verstanden werden, von deren Trug Adorno in der Vorrede der Negativen Dialektik spricht.311 Als konstitutive kann sie deshalb verstanden werden, da erst aus ihr heraus alles zur Bestimmung gebracht wird, denn in ihrem herrschaftlichen Weltbezug kommt alles nur als qualitätsloses, erst noch zu bestimmendes vor. So wird es zum konstituierenden Subjekt, denn eben erst durch das konstitutive Subjekt baut sich «die objektive Welt aus
308 309 310 311
Ibidem, S. 25. Ibidem, S. 25. Ibidem, S. 25. Vgl. Adorno, ND, S. 10.
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4 Rezeption
einem unqualifizierten Material auf oder erzeugt sie […].»312 Daher schliesst Adorno seine eigenen Überlegungen zum naturbeherrschenden Subjekt an das transzendentale Subjekt der Kantischen Erkenntnistheorie an. Denn in Kants Erkenntnistheorie, so meint Adorno, wird die ganze Realität zum Produkt der Arbeit des Denkens als Spontaneität.313 In diesem Sinne versteht Adorno das Material der Erkenntnis in der Kritik der reinen Vernunft als ein solches, welches durch die Formen der Bewusstseinseinheit widerstandslos und uneingeschränkt in Form gebracht wird.314 Das Subjekt kann gewissermassen unbeschränkt seine Souveränität gegenüber dem unbestimmten Material ausüben. Adorno führt hierzu in seiner Kant-Vorlesung aus: «Und das ist eigentlich das, daß durch diese Unbestimmtheit des Materials der Geist gewissermaßen souverän mit ihnen verfahren kann, – vorausgesetzt, daß er nur überhaupt irgendwas zu beißen hat, es braucht nach gar nichts zu schmecken, er muß bloß zu beißen haben, das genügt eigentlich schon.»315
Darin begründet sich für Adorno das Herrschaftliche dieses Subjekts, seine Souveränität gegenüber dem «ganz abstrakten Etwas»316, welches erst durch das Subjekt zu seiner Erfahrung verarbeitet wird. Dies hat für Adorno aber ebenso seine andere Seite. Darin liegt der Trug der konstitutiven Subjektivität. Mit dem Anwachsen der subjektiven Macht gegenüber der Natur als blosser Objektivität macht sich das konstitutive Subjekt die Welt als sein Produkt nicht nur zu eigen, sondern wird im selben Zug selbst
312 313 314
315
316
Theodor W. Adorno, Zu Subjekt und Objekt (= GS 10.2), Frankfurt am Main 2003, S. 744. Vgl. Theodor W. Adorno, Kants ‹Kritik der reinen Vernunft› (1959) (= NaS IV/4), Frankfurt am Main 1995, S. 175; vgl. auch Adorno, ND, S. 178. In der Vorlesung zu Kants Kritik der reinen Vernunft hebt Adorno hervor, dass diese Lesart durchaus eine interpretative Leistung voraussetzt. So heisst es in Adornos Kant-Vorlesung: «Die Qualitätslosigkeit, die Unbestimmtheit des Materials der Er‐ kenntnis verleiht ihm Kant zufolge – unausdrücklich; das steht nicht in der ‹Kritik der reinen Vernunft›, sondern wir müssen uns diese Dinge vorstellen – eine Art von Plas‐ tizität, die es nun in der Tat erlaubt, diese Gegebenheiten miteinander zu verknüpfen, ohne daß sie von sich aus uns dabei irgendwelche Schwierigkeiten bereiten.» (Adorno, Kants ‹Kritik der reinen Vernunft› (1959), op. cit., S. 150f.) Ibidem, S. 151. Ebenso schroff heisst es in Adornos Vorlesung zur Erkenntnistheorie von 1957/58: «Da kommt also dieses Zeugs, also dieses Material meiner Sinne, […] irgendwie angeflogen; und dann sind irgendwelche Formen, in die kommen sie herein und dadurch springt dann, nachdem sie durch die Formen durchgegangen, am Ende die Welt heraus.» (Theodor W. Adorno, Erkenntnistheorie (1957/58) (= NaS IV/1), Berlin 2018, S. 323.) Adorno, Kants ‹Kritik der reinen Vernunft› (1959), op. cit., S. 151.
4.1 Ästhetische Erfahrung
121
zum Objekt. Das «Anwachsen von Subjektivismus und Verdinglichung»317, so führt Adorno aus, macht im Gang fortschreitender Rationalisierung nicht nur die Welt immer mehr zu der unseren Welt, sondern die Herrschaft wendet sich ebenso auf das konstitutive Subjekt zurück: «Je selbstherrlicher das Ich übers Seiende sich aufschwingt, desto mehr wird es unvermerkt zum Objekt und widerruft ironisch seine konstitutive Rolle.»318 Das konstitutive Subjekt steht daher so in einer Machtbeziehung zur Natur, dass es nicht nur über diese zu herrschen vermag, sondern selbst wiederum in die Machtstrukturen eingebunden ist, so dass sich die konstitutive Rolle des Subjekts zugleich wieder aufhebt. Die Subjektform der bürgerlichen Gesellschaft ist also genauso das Produkt der Vermittlungslogik des gesellschaftlichen Funktionszusammenhangs. Das im Tausch enthaltene Identitätsprinzip, das zur gesellschaftlichen Vermittlungs‐ logik wurde, integriert seine Mitglieder also nicht nur als Füranderesseiende in den Funktionszusammenhang und spannt sie so selbst in die Verfügungsmacht subjektiver Vernunft ein, sondern die gesellschaftliche Wirklichkeit affiziert auch die Form seiner in ihm eingefassten Subjekte. In dieser Weise sieht Adorno in der Kantischen Erkenntnistheorie nicht nur die Welt als Produkt der Arbeit des Denkens als Spontaneität, indem sich eine aktive Arbeit an einem passiven Naturmaterial betätigt, sondern damit ebenso den realen gesellschaft‐ lichen Arbeitsprozess reflektiert, und zwar so, dass das auf sich reflektierende Bewusstsein in seiner Untersuchung auf denselben Begriff von Rationalität stösst, wie er schon den gesellschaftlichen Arbeitsprozessen zugrunde liegt.319 Das transzendentale Subjekt wird so zum Spiegelbild realer gesellschaftlicher Verhältnisse. So schreibt Adorno in der Negativen Dialektik: «Was seit der Kritik der reinen Vernunft das Wesen des transzendentalen Subjekts ausmacht, Funktionalität, die reine Tätigkeit, die sich in den Leistungen der Einzelsubjekte vollzieht, und diese zugleich übersteigt, projiziert freischwebende Arbeit aufs reine Subjekt als Ursprung.»320 Der Tausch von Äquivalenten als Vermittlungs‐ logik gesellschaftlicher Verhältnisse schlägt sich so im transzendentalen Subjekt nieder, dass es sich «als die ihrer selbst unbewußte Gesellschaft dechiffrieren»321 lässt.
317 318 319 320 321
Ibidem, S. 176. Adorno nennt dieses Anwachsen auch die «bürgerliche Anti‐ nomie» (ibidem, S. 176). Adorno, ND, S. 178. Ibidem, S. 261. Siehe hierzu auch Alfred Sohn-Rethel, Warenform und Denkform. Versuch über den gesellschaftlichen Ursprung des ‹reinen Verstandes›, Wien 1971. Adorno, ND, S. 179. Ibidem, S. 179.
122
4 Rezeption
Adorno denkt also das die Welt konstituierende Subjekt, das erst alles zur Bestimmung bringt, im Zuge der Aufklärung selbst als ein historisch gewach‐ senes. Das konstituierende Subjekt ist aber nicht einfach der theoretische Ausdruck eines Zeitgeistes, in dem sich gesellschaftliche Verhältnisse niederge‐ schlagen haben, sondern trifft die wirkliche Subjektivität, so wie sie unter den Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft gegeben ist. Das transzendentale Subjekt erfährt in Adornos Interpretation daher seine Korrektur wie auch seine Berechtigung. Seine Korrektur bekommt es in seiner Historisierung. Das Subjekt wird nicht als ewiges und unveränderliches verstanden, sondern wird eben in seiner Genese rückgebunden an gesellschaftliche Bedingungen. Seine Berechtigung hat das transzendentale Subjekt aber, insofern es eben das wirkliche Subjekt unter den Bedingungen bürgerlicher Gesellschaftsordnung darstellt. Die fortscheitende Rationalisierung der Welt im Zuge der Aufklärung hat daher ihre Entsprechung im konstitutiven Subjekt. Beherrschte Natur hat ihr Gegenstück im naturbeherrschenden Subjekt. Das transzendentale Subjekt sowie der lebendige Einzelmensch sind darin aber gleichermassen ideologisch verklärt. Das transzendentale Subjekt ist darin ideologisch verklärt, da es als das erste behauptet wird, eben als das die Welt konstituierende Subjekt, indem es einer unbestimmten Objektivität gegenüber‐ steht. Dabei übersieht es nach Adorno aber, dass es selbst nur als ein Produkt des gesellschaftlichen Abstraktionsprozesses hervorgegangen ist und daher eben gerade nicht das erste darstellt, sondern selbst ein Abgeleitetes ist, und zwar als eine Abstraktion von lebendigen Einzelwesen.322 Der lebendige Einzelmensch, das empirische Subjekt, ist aber nicht weniger ideologisch: «In gewissem Sinn ist, was freilich der Idealismus am letzten zugestünde, das transzendentale Subjekt wirklicher, nämlich für das reale Verhalten der Menschen, und die Gesellschaft, die daraus sich bildete, bestimmender als jene psychologischen Individuen, von denen das transzendentale abstrahiert ward und die in der Welt wenig zu sagen haben; die ihrerseits zu Anhängseln der sozialen Maschinerie, am Ende zur Ideologie geworden sind. Der lebendige Einzelmensch, so wie er zu agieren gezwungen ist und wozu er auch in sich geprägt wurde, ist als verkörperter homo
322
Vgl. Adorno, Zu Subjekt und Objekt, op. cit., S. 744. Wie Adornos Kant-Interpretation insgesamt etwas Eigenwilliges hat, so ist auch an dieser Stelle fragwürdig, ob Adorno Kant gerecht zu werden vermag. Vgl. hierzu Jan Weyand, Adornos kritische Theorie des Subjekts, Lüneburg 2001, S. 46f. Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Adornos Kant-Auslegung siehe auch Carl Braun, Kritische Theorie versus Kritizismus. Zur Kant Kritik von Theodor W. Adornos, Berlin/New York 1983.
4.1 Ästhetische Erfahrung
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oeconomicus eher das transzendentale Subjekt, denn der lebendige Einzelne, für den er sich doch unmittelbar halten muß.»323
Darin liegt das realistische am Idealismus. Das transzendentale Subjekt ist eben insofern wirklicher, denn es beschreibt den realen Primat gegenüber dem lebendigen Individuum, das im Geflecht der abstrakten Tauschbeziehungen des gesellschaftlichen Funktionszusammenhangs nur noch als Anhängsel vor‐ kommt: «Ist die maßgebende Struktur der Gesellschaft die Tauschform, so konstituiert deren Realität die Menschen; was sie für sich sind, was sie sich dünken, ist sekundär.»324 Folgen wir an dieser Stelle der Dialektik der Aufklä‐ rung, in der durch das Erwachen des Subjekts alles zum Substrat von Herrschaft wird und erst unter deren Bestimmungen gebracht werden muss, so gilt dies ebenso für den lebendigen Einzelnen, der nun selbst als ein Stück Natur und somit als sekundäres in den Blick kommt. Adorno versteht daher in seiner Deutung der Kritik der reinen Vernunft das konstitutive Subjekt zwar als ein Abgeleitetes, zugleich aber auch als das Primäre, als dasjenige, durch das ein unbestimmtes qualitätsloses Material erst zu seiner Bestimmung kommt. Die Überhöhung des konstitutiven Subjekts wird so zur anderen Seite der realen Macht des gesellschaftlichen Funktionszusammenhangs: «Je mehr die einzelnen Menschen real zu Funktionen der gesellschaftlichen Totalität durch deren Verknüpfung zum System herabgesetzt werden, desto mehr wird der Mensch schlechthin, als Prinzip, mit dem Attribut des Schöpferischen, dem absoluter Herrschaft, vom Geist tröstlich erhöht.»325
Die wirkliche Ohnmacht, in der sich die einzelnen lebendigen Menschen als Anhängsel und in Abhängigkeit zum Funktionszusammenhang befinden, hat ihre andere Seite in der Überhöhung der Menschen zur absoluten Herrschaft, wie sie nach Adorno eben im transzendentalen Subjekt zum Ausdruck kommt. Wie sich gezeigt hat, betrifft die fortschreitende Rationalisierung aber nicht nur die Strukturen gesellschaftlicher Ordnung, sondern mit ihr ebenso die darin eingefügten Subjekte. Aufklärung als fortschreitende Naturbeherrschung ist mit der Genese dieses Subjekts also so verwoben, dass es einerseits zu seiner herrschaftlichen Überhöhung kommt. Anderseits liefert sich das Subjekt aber umso mehr der gesellschaftlichen Verfügungsmacht aus. Wird nun aber in Adornos Sinn das moderne Kunstwerk als die Artikulation des Anderen der Gesellschaft, als Rationalität in Gestalt ihrer Andersheit, 323 324 325
Adorno, Zu Subjekt und Objekt, op. cit., S. 745. Ibidem, S. 745. Ibidem, S. 744.
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4 Rezeption
verstanden und gilt es dies in die Bestimmung ästhetischer Erfahrung so hineinzunehmen, dass das Kunstwerk der Erfahrung gerade ihr Gesetz vorgeben soll, dann entzieht sich das Kunstwerk nicht nur der Verfügungsmacht des gesellschaftlichen Funktionszusammenhangs, sondern auch der Konstitutions‐ arbeit des konstitutiven Subjekts. Das konstitutive Subjekt, das die Rezipientin immer auch ist, konstituiert aber erst alle inhaltliche Erfahrung. Ästhetische Erfahrung ist demnach nicht nur die Erfahrung eines Widerstandes gegen Rationalität, in welcher der gesellschaftliche Funktionszusammenhang verfasst ist, sondern ebenso gegen die Rationalität, in der das erfahrende Subjekt als ordnender Geist seine Erfahrung erst strukturiert.326 Denn der ordnende Geist ist von derselben Rationalität, wie sie schon den gesellschaftlichen Strukturen zugrunde liegt. Das Kunstwerk entzieht sich nicht nur dem gesellschaftlichen Funktionszusammenhang, sondern auch dem ordnenden Geist des konstitu‐ tiven Subjekts. Daher ist eine ästhetische Erfahrung auch von der Erfahrung kulturindust‐ rieller Produkte zu unterscheiden. Diese fügen sich ja gerade in der Weise in den gesellschaftlichen Funktionszusammenhang ein, sodass sie in ihrer Produktions- und Verteilungslogik selbst eine Form der Integrationsleistung des gesellschaftlichen Funktionszusammenhangs darstellen. Zwar nehmen damit die kulturindustriellen Produkte, wie Horkheimer und Adorno es im Kulturindustriekapitel ausführen, der Rezipientin die «kategoriale Arbeit» ab, indem sie durch deren «Schema»327 ersetzt wird, aber sie operieren dabei in derselben Logik wie sie dem gesellschaftlichen Funktionszusammenhang und dem konstitutiven Subjekt zugrunde liegt.328 Kulturindustrielle Erfahrung ist daher im Gegensatz zur ästhetischen Erfahrung nicht widerständig, sondern im Gegenteil, die Bestätigung konstitutiver Subjektivität durch ihre Entlas‐ tung. Eine ästhetische Erfahrung nimmt dem konstitutiven Subjekt dagegen nicht einfach die Arbeit ab, sondern lässt sie an ihrem Anderen scheitern. Ästhetische Erfahrung ist demnach als die Erfahrung von Widerständigkeit des grundlegenden Weltbezugs konstitutiver Subjektivität zu verstehen. Das spezifische einer ästhetischen Erfahrung bestünde dann also in der Erfahrung dieser Widerständigkeit. In der Produktion hat sich die Rationalität in Gestalt ihrer Andersheit als die Widerständigkeit gegen die heteronome Verfügung des gesellschaftlichen Funktionszusammenhangs artikuliert. In der Rezeption wird
326 327 328
Vgl. auch Adorno, Kants ‹Kritik der reinen Vernunft› (1959), op. cit., S. 37ff. Horkheimer und Adorno, DA, S. 227. Vgl. hierzu Rodrigo Duarte, Schema und Form. Wahrnehmung und ästhetische Betrach‐ tung bei Adorno, Wiesbaden 2017.
4.1 Ästhetische Erfahrung
125
nun das Kunstwerk der Erfahrung zum Widerständigen, indem es den naturbe‐ herrschenden Weltbezug konstitutiver Subjektivität zum Scheitern bringt. In ästhetischer Erfahrung erfährt das Erfahrungssubjekt die Widerständig‐ keit gegen seine konstitutive Leistung. Daher kommt es in der ästhetischen Erfahrung zur Erschütterung des Subjekts, denn es ist dem Kunstwerk eigen, sich der Bestimmung des konstitutiven Subjekts zu entziehen. Scheitert das konstitutive Subjekt daran, so vermag es auch seine eigene Bestimmung nicht mehr zu behaupten, nämlich alles erst zur Bestimmung zu bringen. In der ästhetischen Erfahrung wird das erfahrende Subjekt erschüttert.329 Ästhetische Erfahrung wird für die konstitutive Subjektivität zur Erfahrung des Scheiterns ihres Herrschaftsanspruchs, dem Anspruch, alles zur Bestimmung zu bringen. Wie es aber das Kunstwerk vermag, konstitutive Subjektivität in ästhetischer Erfahrung zu erschüttern, gilt es nun genauer zu erläutern. Hierfür spielt der Begriff des Erhabenen die entscheidende Rolle, der in der Ästhetischen Theorie eine Umdeutung erfährt. III. Das Erhabene Das konstitutive Subjekt erfährt nach Adorno also im ästhetischen Objekt die Widerständigkeit gegen seine eigene Form der Rationalität. Ästhetische Erfahrung ist die Erfahrung, in der die Souveränität des Subjekts durch ein ihr Widerspenstiges zum Scheitern gebracht wird. Es scheint daher wenig verwun‐ derlich, dass das Erhabene, so wie es in Kants Kritik der Urteilskraft konzipiert ist, für Adornos Verständnis einer ästhetischen Erfahrung eine wesentliche Rolle spielt. Zwar scheint der Begriff des Erhabenen in der Ästhetischen Theorie oberflächlich eher eine nebensächliche Rolle zu spielen, nichtsdestotrotz wurde in der Literatur seine Wichtigkeit hervorgehoben.330 So führt die Kategorie des Erhabenen etwa Wolfgang Welsch folgend gerade ins Zentrum der Ästhetischen Theorie. Das Erhabene stellt nach Welsch die Matrix, das Implizite, den Kern und Code der modernen Kunst dar.331 Dass die Kategorie des Erhabenen dabei in der Ästhetischen Theorie eine Umformulierung durchläuft, scheint offensichtlich.
329 330
331
Zu Recht erhebt Gunnar Hindrichs daher den Begriff der Erschütterung zum Zentral‐ begriff der ästhetischen Erfahrung bei Adorno. Siehe Gunnar Hindrichs, Scheitern als Rettung. Ästhetische Erfahrung nach Adorno, Berlin 2020. Die gängige Referenz hierzu ist: Wellmer, Adorno, die Moderne und das Erhabene, op. cit. Zur Kritik an seiner versöhnungstheoretischen Auflösung siehe u. a. Espen Hammer, The Touch of Art. Adorno and the Sublime, sowie Surti Singh, The Aesthetic Experience of Shudder. Adorno and the Kantian Sublime, London/New York 2015. Wolfgang Welsch, Adornos Ästhetik. Eine implizite Ästhetik des Erhabenen, Stuttgart 2010, S. 121f.; 123; 146.
126
4 Rezeption
Die Widerständigkeit erfährt das Subjekt der Ästhetischen Theorie folgend gerade an einem Objekt, das aus künstlerischer Tätigkeit hervorgegangen ist. Das Erhabene in der Ästhetischen Theorie ist das Erhabene in der Kunst‐ erfahrung. Kant hingegen behielt bekanntlich die Kategorie des Erhabenen allein dem Naturschönen vor.332 In der Konfrontation mit dem Naturschönen, so Kant, kommt es im Gefühl des Erhabenen zu einem «schnellwechselnden Abstoßen und Anziehen»333, einem Schwanken zwischen Lust und Unlust. Mit der Unlust stellt sich zugleich eine Lust ein. In Betracht auf die Unterscheidung zwischen einem Mathematisch- und einem Dynamisch-Erhabenen stellt sich dieses Schwanken zwischen Lust und Unlust also auf zwei Weisen dar: Das Mathematisch-Erhabene schwankt zwischen der Unlust an der Dissonanz von Einbildungskraft und Vernunft und der Lust in der Einsicht in die «Überlegen‐ heit der Vernunftbestimmungen unserer Erkenntnisvermögen über das größte Vermögen der Sinnlichkeit».334 Für das Dynamisch-Erhabene besteht dagegen das Schwanken zwischen Lust und Unlust darin, dass wir zwar «als Naturwesen betrachtet […] unsere physische Ohnmacht»335 erfahren, damit zugleich aber auch die Einsicht in die «Überlegenheit über die Natur»336 gewinnen. Das Wohlgefallen, das im Erhabenen liegt, gründet gerade in diesem Wechselspiel. Daher schreibt Kant, dass das Wohlgefallen am Erhabenen, anders als das Wohlgefallen am Schönen, eine «negative Lust»337 genannt werden könne. Negativ ist die Lust, da sie nicht direkt, sondern indirekt aus dem Wechsel von Anziehung und Abstossung hervorgeht. Adorno ist wesentlich an diesem In-sich-Erzittern interessiert, an dem Schwanken zwischen Macht und Ohnmacht, zwischen Überwältigung und Widerstand.338 Dieses «zwischen Natur und Freiheit in sich Erzitternde», das Kant mit dem Gefühl des Erhabenen zu fassen wusste, werde gerade «von jeder genuin ästhetischen Erfahrung registriert.»339 Um Adornos Versuch, den Begriff des Erhabenen für die moderne Kunst fruchtbar zu machen, gilt es daher, das Erhabene in dieser Verschiebung zu fassen. Die wesentliche Umdeutung
332
333 334 335 336 337 338 339
Kant behält das Erhabene dem Naturschönen vor, insofern der Gegenstand der Natur «zur Darstellung einer Erhabenheit tauglich sei» und nicht selbst als erhaben zu nennen ist (Kant, Kritik der Urteilskraft, op. cit., §23, S. 245.; vgl. auch ibidem §28, S. 264). Kant, Kritik der Urteilskraft, op. cit., §27, S. 258. Ibidem, §27, S. 257. Ibidem, §28, S. 261. Ibidem, §28, S. 261. Ibidem, §23, S. 245. Vgl. Adorno, ÄVL, S. 53f. Adorno, ÄT, S. 172.
4.1 Ästhetische Erfahrung
127
gegenüber der Kantischen Konzeption liegt also zunächst in der Erschliessung des Erhabenen für die Gegenstände der Kunst. Diese Verschiebung der Kategorie des Erhabenen hin zur Kunst hat dabei ihre historische Dimension. Adorno spricht hierzu in einer Fussnote von einer «historischen Grenze», die in der Kantischen Ästhetik am sichtbarsten in der Lehre des Erhabenen zu finden sei, da er sie einzig dem Bereich der Natur zurechnete.340 Im 18. Jahrhundert kam es zu dieser Verschiebung des Verhältnisses von Kunstschönem und Naturschönem, in welchem die Kunst eine zunehmende Vergeistigung erfährt. Die Kunst gerät als Sinnliches aus dem Blick und wird stattdessen als Geistiges, als Idee ins Auge gefasst.341 Bekanntermassen schliesst Hegel dann das Naturschöne aus seiner Ästhetik aus, insofern es für ihn keinen eigenständigen Gegenstand wissenschaftlicher Behandlung mehr darzustellen vermag.342 Die Kantische Ästhetik des Erhabenen steht dabei für Adorno gerade an jener Übergangsphase, denn in ihr sei, so führt Adorno in seiner Ästhetik-Vorlesung von 1958/59 aus, «noch jene Angst und jenes Grauen vor der pathetischen Natur fühlbar, aber gleichzeitig schon assoziiert jenem Gefühl eben des Erhabenen, das den Grund abgibt für die Erfahrung der Schönheit dieser Momente.»343 Die «Invasion des Erhabenen in die Kunst»344 führt also dieses dialektische Moment des Schwankens von Lust und Unlust, von Anziehen und Abstossen in die Erfahrung von Kunstwerken ein. Das Erhabene beschreibt daher weder eine Erfahrung am Naturschönen noch eine Sondersphäre der Kunst, sondern wird so zum Signum für die Kunst insgesamt. Das Erhabene wird in der Ästhetischen Theorie zur Struktur der modernen Kunst überhaupt.345 Daher sieht Adorno die eigentliche Formulierung der ästhetischen Erfahrung bei Kant dann auch im Naturschönen und im Begriff des Erhabenen gefasst und weniger im sinnlichen Wohlgefallen des Kunstschönen.346 Mit der historischen Verschiebung der Kategorie des Erhabenen in den Be‐ reich der Kunst verändert sich aber auch ihr Begriff. Das Gefühl des Erhabenen wird im autonomen Kunstwerk zu einem anderen, denn im Kunstwerk ist die Rezipientin gerade mit der Widerständigkeit ihrer eigenen Rationalität 340 341 342 343 344 345 346
Ibidem, S. 496. Vgl. ibidem, S. 292; Adorno, ÄVL, S. 36f. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I (= Werke 13), Frankfurt am Main 1970, S. 13ff. Adorno, ÄVL, S. 49. Adorno, ÄT, S. 292. Wolfgang Welsch hält richtigerweise fest, dass Adorno in aller Selbstverständlichkeit die Struktur des Erhabenen ebenso für das Schöne der Kunst gelten lässt. (Welsch, Adornos Ästhetik, op. cit., S. 121f.) Vgl. Adorno, ÄVL, S. 53f.
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4 Rezeption
konfrontiert und nicht mit einem Naturobjekt, an dem sie ihre Überlegenheit zur Erfahrung bringt. Mit fortschreitender Naturbeherrschung wurde die Natur zu einem unterschiedslosen Stoff nivelliert, über den sich der ordnende Geist herrschaftlich zu behaupten vermag. Deshalb wird die Rezipientin auch nicht mehr ins Schwanken gebracht, denn von der Natur geht keine Furcht mehr aus. Dagegen scheitert die naturbeherrschende Rationalität des ordnenden Geistes aber am autonomen Kunstwerk, denn das Kunstwerk erwies sich in seiner Autonomie genau als die Artikulation einer Widerständigkeit gegen jene Rationalität, mit der die Natur erst beherrscht wurde. Was sich nach Kant im Erhabenen hervorhebt, nämlich die Überlegenheit der Vernunftbestim‐ mungen über die Natur, verkehrt sich daher zu einem Erhabenen, in dem die naturbeherrschende Rationalität nicht mehr als Vermögen der Rezipientin in ihrer Überlegenheit auftritt, sondern im Scheitern ihr eigenes Unvermögen ausweist. Die Erschütterung im Erhabenen wird zur Erschütterung konstitutiver Subjektivität. In der veränderten Beziehung, in die das konstitutive Subjekt sich zur Natur stellt, hat es ebenso durch die Herrschaft über die Natur ihr die Furcht genommen. Durch die rationale Beherrschung der Natur erscheint sie nicht mehr als furchteinflössende Übermacht. Aber wie wir gesehen haben, wurde die Herrschaft des ordnenden Geistes über die Natur dadurch eingekauft, dass die Herrschaft des gesellschaftlichen Funktionszusammenhangs sie wiederum gegen seine Mitglieder wendet. Der Erweiterung des Erhabenen für die Kunst ist der Überstieg der Naturbeherrschung zur Selbstbeherrschung eingeschrieben. Konstitutive Subjektivität und die Kategorie des Erhabenen stehen daher in einem veränderten Zusammenhang. Im Erhabenen wird die Überlegenheit des ordnenden Geistes auf diesen so zurückgewendet, dass in der Erfahrung der Wi‐ derständigkeit seine eigene Naturhaftigkeit hervortritt, die im gesellschaftlichen Funktionszusammenhang nur noch als Anhängsel vorkommt. Die Umdeutung der Kategorie des Erhabenen meint somit nicht nur ihre historische Erweiterung auf den Bereich der Kunst, sondern damit einhergehend ihre Veränderung. Unter den durch das Tauschprinzip bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen hat sich die naturbeherrschende Rationalität in der Weise gegen sich selbst gewendet, dass in der gesellschaftlichen Macht das konstitutive Subjekt in seiner Überhöhung gerade so erschüttert wird, dass es seiner eigenen Naturhaftigkeit gewahr wird: «Erhaben sollte die Größe des Menschen als eines Geistigen und Naturbezwingenden sein. Enthüllt sich jedoch die Erfahrung des Erhabenen als Selbstbewußtsein des
4.1 Ästhetische Erfahrung
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Menschen von seiner Naturhaftigkeit, so verändert sich die Zusammensetzung der Kategorie erhaben.»347
Mit der Verschiebung vom Naturschönen zum modernen Kunstwerk verkehrt sich das Erhabene also so, dass es die Naturhaftigkeit des Menschen im Schei‐ tern der konstitutiven Subjektivität zur Erfahrung bringt. Diese historische Veränderung der Kategorie des Erhabenen, wie sie sich durch die zunehmende gesellschaftliche Macht und in der abnehmenden Furcht vor der Natur vollzieht, wird daher durch die «Transplantation in die Kunst»348 über sich hinausge‐ trieben. Das Erhabene treibt über sich hinaus und wird zum Komischen. Zum Komischen wird das Erhabene, da es nun in seiner eigenen Herrschaft gebrochen wurde. Die Überhöhung zur absoluten Herrschaft des ordnenden Geistes, die, wie wir gesehen haben, selbst nur ein Trost dafür war, dass die Menschen nur noch als Füranderesseiende im gesellschaftlichen Funktionszu‐ sammenhang vorkommen, wird in ihrer eigentlichen Nichtigkeit offenkundig. Hinter der Übermacht der Natur schaut nicht die eigentliche Überlegenheit der Vernunft hervor, so wie es das Erhabene bei Kant meint, sondern hinter dem Scheitern der Konstitutionsleistung am autonomen Kunstwerk blicken die eigene Naturhaftigkeit und deren reale Nichtigkeit für den gesellschaftlichen Funktionszusammenhang hervor. Die von Adorno in der Ästhetischen Theorie vorgenommene Umdeutung des Erhabenen kann also als eine materialistische Umdeutung verstanden werden. Diese Umdeutung besteht eben gerade darin, dass im Erhabenen nicht die Überlegenheit über die Natur erfahren wird, sondern das konstitutive Subjekt seiner eigenen Naturhaftigkeit gewahr wird. In Adornos Umdeutung der Kategorie des Erhabenen wird die Rezipientin in der ästhetischen Erfahrung so erschüttert, dass ihr ihre Rückbindung an die Natur einsichtig wird. In der ästhetischen Erfahrung wird «die in die Negation umgeschlagene Autorität»349 zur Erschütterung der konstitutiven Subjektivität. IV. Naturhaftigkeit des Subjekts Dass die Rezipientin in der ästhetischen Erfahrung ihrer eigenen Naturhaftig‐ keit gewahr wird, heisst, dass sich diejenige Seite an ihr hervorkehrt, die vom gesellschaftlichen Funktionszusammenhang ausgeschlossen wurde. Was Natur ist, ist selbst durch die Gesellschaft als das Andere der Gesellschaft
347 348 349
Adorno, ÄT, S. 295. Ibidem, S. 293. Adorno, BPM, S. 73.
130
4 Rezeption
vermittelt.350 Für die Rezipientin heisst das dann also, dass sie in der ästhetischen Erfahrung des Anderen der Gesellschaft gewahr wird, desjenigen, das selbst keine Funktion einnimmt, das selbst nicht ein Füranderessein ist. Dieses andere, der lebendige Einzelmensch, von dem es zuvor hiess, dass er im gesellschaft‐ lichen Funktionszusammenhang zum Anhängsel dieser Maschinerie wurde, soll sich nun in der ästhetischen Erfahrung als jene Seite hervorkehren, von welcher der gesellschaftliche Funktionszusammenhang das konstitutive Subjekt erst abstrahierte. Von einer materialistischen Wendung des Erhabenen in der Ästhetischen Theorie zu sprechen, meint dann gerade diese Rückbindung eines Allgemeinen, eines Bewusstseins überhaupt, in den je lebendigen Einzelnen. Der lebendige Einzelmensch, welcher der totalisierenden Tendenz des unter dem Tauschprinzip stehenden gesellschaftlichen Vermittlungsprozesses zum Opfer gefallen ist, kehrt sich in der Kunsterfahrung durch die Erschütterung konsti‐ tutiver Subjektivität hervor. Dass das konstitutive Subjekt in der ästhetischen Erfahrung scheitert, meint dann, dass sein scheinbares Primat gegenüber seiner empirischen, lebendigen Seite, am Kunstwerk als Schein eingesehen wird. Das vermeintlich Erste, das konstitutive Subjekt, zeigt sich selbst als ein Abgeleitetes, als das Produkt einer Abstraktion. Das konstitutive Subjekt, welches die Welt erst zur Bestimmung bringt, setzt daher schon den lebendigen Einzelnen voraus, von dem es sich erst durch eine Abstraktion gewonnen hat.351 Was hier also in der ästhetischen Erfahrung als Erschütterung der konstitu‐ tiven Subjektivität der Rezipientin auftritt, ist als eine Kritik am Idealismus und seiner Überhöhung des Subjekts als dem Ersten zu verstehen. Die mate‐ rialistische Umdeutung des Erhabenen wendet sich daher kritisch gegen die idealistische Hybris des konstitutiven Subjekts. Der Materialismus meint dann also keine metaphysische These, die der Materie das Primat zuspricht, sondern vielmehr ein kritisches Geschäft.352 Die materialistische Umdeutung will die Naturhaftigkeit des ordnenden Geistes zu Bewusstsein bringen.353 In Adornos
350 351 352
353
Vgl. Adorno, ÄT, S. 104. Adorno, Kants ‹Kritik der reinen Vernunft› (1959), op. cit., S. 218ff. Vgl. hierzu auch Alfred Schmidt, Begriff des Materialismus bei Adorno, Frankfurt am Main 1983, S. 27f. Adorno spricht hier vom «philosophischen Recht des Materialismus», das darin liegt, dass der Materialismus «gegenüber der sehr problematischen Abstraktion in der feinen, differenzierten, kritischen Philosophie daran erinnert, daß sie ihre Kategorien ebenso wie ihre Gegebenheiten von vornherein schon in einer gewissen Weise zurecht‐ stutzt.» (Theodor W. Adorno, Philosophische Terminologie II (1962/63), Frankfurt am Main 1974, S. 176.) Vgl. Albrecht Wellmer, Über Negativität und Autonomie der Kunst. Die Aktualität von Adornos Ästhetik und blinde Flecken seiner Musikphilosophie, Frankfurt am Main 2005, S. 238f.
4.1 Ästhetische Erfahrung
131
Umdeutung des Erhabenen, in dem sich das «Selbstbewußtsein des Menschen von seiner Naturhaftigkeit»354 vergewissert, erfährt das konstitutive Subjekt in seinem Scheitern eine Widerständigkeit, in der es sich nicht mehr als das Erste glauben kann. Diesen Rückbezug auf den lebendigen Einzelnen, der sich nach Adorno im Erhabenen der Kunsterfahrung auftut, fasst er mit dem Bild des Weinens. Wie das Weinen hat auch die Erfahrung der eigenen Naturhaftigkeit etwas Lösendes, Befreiendes. In der Ästhetischen Theorie heisst es dann: «Weniger wird der Geist, wie Kant es mochte, vor der Natur seiner eigenen Supe‐ riorität gewahr als seiner eigenen Naturhaftigkeit. Dieser Augenblick bewegt das Subjekt vorm Erhabenen zum Weinen. Eingedenken von Natur löst den Trotz seiner Selbstsetzung: ‹Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder!› Darin tritt das Ich, geistig, aus der Gefangenschaft in sich selbst heraus. Etwas von der Freiheit leuchtet auf, welche die Philosophie mit schuldhaftem Irrtum dem Gegenteil, der Selbstherrlichkeit des Subjekts, vorbehält.»355
Das Weinen wird hier also zum Kennzeichen eines Augenblicks, in dem der Durchbruch durch die eigene Überlegenheit gegenüber der Natur eine Erleich‐ terung darstellt. Das Weinen zeigt gerade diese Erleichterung an. Adorno geht es also weniger darum, dass die Rezipientin sich über ihre Leibhaftigkeit aufklärt, dass sie selbst ein lebendiger Teil einer wie auch immer positiv gemeinten Natur ist, sondern als ein Negatives, in der das konstitutive Subjekt seine eigene Grenze, seine «Gefangenschaft in sich selbst» im Scheitern an seiner eigenen Macht zur Erfahrung bringt. Weinen meint dann eine Lösung und nicht vornehmlich die Erinnerung an die eigene Leiblichkeit. Bereits in der Philosophie der neuen Musik griff Adorno auf das Faust-Zitat zurück, um diese Erfahrung der Befreiung und Loslösung von den Verhärtungen naturbeherrschender Rationalität zu beschreiben.356 Dort heisst es: «Der Mensch, der sich verströmen läßt im Weinen und einer Musik, die in nichts mehr ihm gleich ist, läßt zugleich den Strom dessen in sich zurückfluten, was nicht er selber ist und was hinter dem Damm der Dingwelt gestaut war.»357 Mit dem Selbstbewusstsein der eigenen Naturhaftigkeit ist also nicht einfach Unfreiheit gemeint. Im Scheitern des naturbeherrschenden Subjekts fällt die Rezipientin nicht einfach zurück in den furchteinflössenden Naturzusammen‐ 354 355 356 357
Adorno, ÄT, S. 295. Ibidem, S. 410. Gemeint ist der Satz: «Die Thräne quillt, die Erde hat mich wieder!» aus Goethes Faust. (Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Eine Tragödie, Tübingen 1808, S. 55.) Adorno, PM, S. 122.
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4 Rezeption
hang, von dem sich das konstitutive Subjekt im Zuge der Aufklärung erst herausbildete. Dass die Rezipientin in einer ästhetischen Erfahrung ihrer Naturhaftigkeit bewusst wird, meint vielmehr den Durchbruch durch die Übermacht des gesellschaftlichen Funktionszusammenhangs, in welchem die Mitglieder der Gesellschaft lediglich zu Funktionen herabgesetzt wurden. Die ästhetische Erfahrung ist daher erschütternd und befreiend zugleich. In der Erschütterung befreit sich das konstitutive Subjekt von seiner eigenen, auf es selbst zurückgebogenen Rationalität, zugleich wird in der Befreiung von der Herrschaft ihrer eigenen Rationalität die Rezipientin in ihrer vermeintlichen Souveränität erschüttert. In der ästhetischen Erfahrung erzittert daher die Rezipientin zwischen Macht und Ohnmacht. Das Erhabene wird dann für Adorno zum Weinen, indem es gerade diese zwei Momente in sich fasst. Es schwankt zwischen dem befreienden, lösenden Moment und der Einsicht in den Schein der selbstherrlichen Souveränität des Subjekts. In der ästhetischen Erfahrung erfährt die Rezipientin nicht ein Objekt, sondern klärt sich über sich selbst auf. Die ästhetische Erfahrung weist die Rezipientin daher auf etwas anderes. Ästhetische Erfahrung besteht eben nicht darin, die Intention oder die Idee, die in ein Kunstwerk hineingetragen wurde, zu entziffern. Damit wäre das Kunstwerk als Vermittlung subjektiver Gehalte verfehlt. Vielmehr hat Adornos materialistische Umformulierung des Erhabenen die ästhetische Erfahrung auf das erfahrende Subjekt so zurückgebogen, dass es in der Erfahrung seiner eigenen Rationalität in Gestalt ihrer Andersheit in seiner Konstitutionsleistung zum Scheitern gebracht wird. Die Naturhaftigkeit des Subjekts kehrt sich im Scheitern dann gerade deshalb hervor, da in der Erfahrung der Widerständigkeit das Subjekt sich nicht als das dem gesellschaftlichen Funktionszusammenhang gemässe Subjekt zu behaupten vermag. Im Scheitern kehrt sich daher die vom Funktionszusammenhang nur noch als Anhängsel geduldete Seite hervor. Das Subjekt bringt im Scheitern also jene Seite in die Erfahrung, die von der Gesellschaft als ihr Anderes ausgeschlossen ist: die Natur. Da die Natur aber nur negativ bestimmt ist, ist auch die Erfahrung der Naturhaftigkeit des Subjekts nur als die Erfahrung eines Negativen zu haben. Deshalb lässt sich ihr Gehalt nicht mehr positiv bestimmen. In der ästhetischen Erfahrung erfährt das Subjekt im Scheitern gerade die Negativität seiner eigenen Form der Rationalität. Die Naturhaftigkeit ist nur in ihrer Negativität zur Erfahrung zu bringen und dies ist wiederum nur im Scheitern konstitutiver Subjektivität zu bewerkstelligen. Die Erfahrung der Kunstwerke ist so auch von ihrer Bestimmung als auto‐ nome und damit als Negation zum gesellschaftlichen Funktionszusammenhang, mitbestimmt. Der Ort des Kunstwerks im gesellschaftlichen Funktionszusam‐
4.1 Ästhetische Erfahrung
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menhang als Nicht-Ort, wie wir ihn in der Bestimmung der Produktionsbedin‐ gungen gefasst haben, schreibt sich der ästhetischen Erfahrung ein. Wird das Gesetz der Erfahrung vom Kunstwerk vorgegeben, dann ist damit nicht nur gemeint, dass der Zusammenhang der einzelnen Momente im Kunstwerk der Erfahrung die Bahn vorgibt, sondern auch, dass seine Bahn sich der gesellschaft‐ lichen Verfügungsmacht zu entziehen vermag. Das durch den gesellschaftlichen Funktionszusammenhang ausgeschlossene wird also im Kunstwerk so zur Erfahrung gebracht. In der ästhetischen Erfahrung bestimmt daher konstitu‐ tive Subjektivität nicht herrschaftlich über ein Werk, bringt es nicht unter ihre Bestimmungen, sondern erfährt im Widerständigen ihre eigene Unzuläng‐ lichkeit. Dies hob gerade die von Adorno vorgenommene Umdeutung der Kategorie des Erhabenen hervor. Dabei erweisen sich die Kunstwerke gerade als Erscheinungen, die sich nicht weiterhin im gesellschaftlichen Zusammenhang fassen lassen. Sie treten eben als das auf, was vom Funktionszusammenhang ausgeschlossen und damit auch von konstitutiver Subjektivität tabuisiert wird. Die im Kunstwerk vollzogene kritische Wendung gegen seine eigene Gesell‐ schaftlichkeit wird in der ästhetischen Erfahrung zur Wendung gegen die Konstitutionsleistung des Subjekts, denn dieses verfährt gerade in derselben Rationalität wie sie den realen gesellschaftlichen Verhältnissen zugrunde liegt. Darin besteht das Widerständige in der ästhetischen Erfahrung. Die Rezipientin wird aber nicht einfach ohne eigene Mühe erschüttert. Es verlangt von der Rezipientin äusserste Anstrengung, die konstitutive Subjekti‐ vität und den gesellschaftlichen Funktionszusammenhang zu durchbrechen. Das Kunstwerk mag zwar der Erfahrung das Gesetz vorgeben, zu vollziehen hat es aber die Rezipientin gegen sich selbst. Die Erschütterung des erfahrenden Subjekts hat die Rezipientin selbst zu vollziehen. Sich auf das Werk einzulassen, um damit selbst zurückzutreten, ist die Arbeit der Rezipientin. V. Anstrengung und Ich-Schwäche Damit ist ästhetische Erfahrung der naturbeherrschenden Rationalität gegen‐ läufig. Soll die Rezipientin in der Rezeptionsarbeit ihre Negativität hervor‐ kehren, dann tut sie dies, indem sie das gegen ihre Vollzugsweise Wider‐ spenstige erfährt. In der ästhetischen Erfahrung liegt wesentlich, dass die Konstitutionsleistung des Subjekts durchbrochen wird. Daher muss die Rezip‐ ientin für eine ästhetische Erfahrung gegen sich selbst arbeiten. Die natur‐ beherrschende Rationalität des konstitutiven Subjekts muss also durch das Kunstwerk so umgeformt werden, dass die vermeintliche Stärke des konstitu‐ tiven Subjekts sich in seiner Unfreiheit ausweist. Dieser Durchbruch in der Arbeit gegen die eigene Konstitutionsleistung ist gerade der Kern ästhetischer
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4 Rezeption
Erfahrung. Um aber die eigentliche Vollzugsweise zum Scheitern zu bringen, ist von der Rezipientin äusserste Anstrengung gefordert. Die Anstrengung, die in einer angemessenen Rezeption gefordert ist, hat sich nicht einfach an einem Widerstand abzuarbeiten, sondern muss die eigene Funktionsweise zum Scheitern bringen. Eine ästhetische Erfahrung vermag erst dann zu glücken, wenn das konstitutive Subjekt sich durch seine Anstrengung in Erschütterung bringt. Der Widerstand gegen eine ästhetische Erfahrung im Sinne der Ästhetischen Theorie hat aber auch seine psychologische Seite. Diejenige Seite des Subjekts, von der «das transzendentale abstrahiert ward und die in der Welt wenig zu sagen»358 hat, steht ebenso im Dienst des gesellschaftlichen Funktionszusam‐ menhangs. Mag sie zwar für den Funktionszusammenhang keine wesentliche Rolle spielen, so erkennt sie gewissermassen doch an, dass sie nur noch als geduldetes Anhängsel der Funktion vorkommt und von ihr abhängig ist. Auch diese empirische Seite der im gesellschaftlichen Funktionszusammenhang eingefassten Mitglieder widersteht daher der ästhetischen Erfahrung, obwohl sie eigentlich in ihrem Interesse wäre. Adorno greift hierbei auf den Begriff der Ich-Schwäche zurück, so wie er in Hermann Nunbergs Überlegungen zu Freuds Modell der drei Instanzen von Ich, Es und Über-Ich bearbeitet wurde. Freud sieht dabei das Ich in der Aufgabe einer Versöhnung von «Triebforderungen und den Einsprüchen der Realität», die letzten Endes von der «relative[n] Stärke der Ichorganisation» abhängt.359 Nunberg greift darin die Frage auf, worin die Stärke bzw. Schwäche des Ichs genau besteht, indem er die verschiedenen Beziehungen in den Blick nimmt, in denen das Ich im Drei-Instanzen-Modell eingebunden ist und sich entsprechend als stärker oder schwächer zeigt. Hat das Ich nun die Aufgabe zwischen Innenund Aussenwelt, zwischen den Triebforderungen und der Realität zu vermitteln, so hat das Ich darin eine, wie Nunberg es nennt, «synthetische Funktion» zu übernehmen. Die Stärke des Ichs hängt dann von der Unversehrtheit dieser Funktion ab.360 Nunberg verstand seine eigenen Ergebnisse weitgehend als eine Vorarbeit zur Erarbeitung eines einheitlichen Gesamtbildes.361 Nichtsdestotrotz ist Adorno wesentlich an einer ganz bestimmten Beziehung interessiert, nämlich an jener des Ichs zum Über-Ich, so wie sie Nunberg in seinen Erörterungen der einzelnen 358 359 360 361
Adorno, Zu Subjekt und Objekt, op. cit., S. 745. Sigmund Freud, Die Frage der Laienanalyse. Unterredungen mit einem Unparteiischen (= Studienausgabe Ergänzungsband), Frankfurt am Main 1975, S. 332f. Hermann Nunberg, Ichstärke und Ichschwäche, S. 53. Vgl. ibidem, S. 60f.
4.1 Ästhetische Erfahrung
135
Beziehungen ausarbeitete. Durch ein schwaches Ich, durch das Unvermögen des Ichs, seine synthetische Funktion auszuüben und so das Über-Ich zu integrieren, wird das Über-Ich in einem gewissen Sinn zu einem Fremdkörper: «Weakness in the ego is expressed in the inability to build up a consistent and enduring set of moral values within the personality; and it is this state of affairs, apparently, that makes it necessary for the individual to seek some organizing and coordinating agency outside of himself.»362 In der Reduktion zu Funktionen im gesellschaftlichen Funktionszusammenhang wird diese Ich-Schwäche durch die gesellschaftlichen Verhältnisse vorangetrieben.363 Es handelt sich um ein schwaches Ich, da es nicht ein festes, beharrendes Ich darstellt, sondern eben ein Ich, dass sich wesentlich um Anpassung an die Aussenwelt bemüht.364 Adornos Verständnis von der Ich-Schwäche meint dann also Individuen, die durch die Orientierung an anderen angeleitet sind und daher in permanenter äusserlicher Anpassung bestehen.365 Es ist ein Individuum, das durch die «Unfähigkeit zur Abweichung von dem, was alle tun»366 bestimmt wird. Die Herausbildung eines schwachen Ichs liegt dabei für Adorno wesentlich in den gesellschaftlichen Verhältnissen. Zwar wurde der Begriff von der Psy‐ choanalyse eingeführt, für Adorno handelt es sich aber nicht einfach um eine psychologische Tatsache, um ein neurotisches Phänomen.367 Die eigentliche Grundlage der Ich-Schwäche stellt vielmehr die wirkliche Ohnmacht, wie die Menschen real in den gesellschaftlichen Funktionszusammenhang als ein blosses Füranderessein integriert sind, dar: «Ichschwäche heute ist höchst rea‐ litätsgerecht: daher ihre bestürzende Gewalt.»368 Die Ohnmacht, zu der der ge‐ sellschaftliche Funktionszusammenhang seine Mitglieder zusammenschliesst, forciert so also auch die Ich-Schwäche.
362 363 364 365
366 367 368
Nevitt Sanford/Theodor W. Adorno/Else Frenkel-Brunswik/Daniel J. Levinson, The Measurement of Implicit Antidemocratic Trends, New York 1950, S. 234. Vgl. Helmut Dahmer, Adornos Blick auf die Psychoanalyse, Berlin 2015, S. 174f. Vgl. etwa Adorno, Einleitung in die Soziologie (1968), op. cit., S. 99. Adorno bringt den Begriff der Ich-Schwäche in der Ästhetischen Theorie und in seiner Vorlesung Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit mit David Riesmans Begriff des «other-directed» zusammen, der genau diese internalisierte Ausrichtung auf andere als Leitlinie für das individuelle Leben zu fassen versucht. Fälschlicherweise ist in der Ästhetischen Theorie von «outer-directed» die Rede. Vgl. Adorno, ÄT, S. 177; Adorno, Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit (1964/65), op. cit., S. 13; David Riesman, The Lonely Crowd, New Haven 1969, S. 19ff. Theodor W. Adorno, Sexualtabu und Recht heute (= GS 10.2), Frankfurt am Main 2003, S. 538. Vgl. Theodor W. Adorno, Kann das Publikum wollen? (= GS 20.1), Frankfurt am Main 2003, S. 343f. Ibidem, S. 344.
136
4 Rezeption
Aus dieser Schwächung des Ichs zieht wiederum die Kulturindustrie ihre Kraft.369 Wie bereits vermerkt, bedient die Kulturindustrie die Rezipientin in ihren vorgefertigten Schemata von oben. Die Kulturindustrie bedient die Rezipientin so, indem sie ihr die Arbeit abnimmt. Das Pendant zur Kunst‐ rezipientin ist daher die kulturindustrielle Konsumentin. In diesem Sinne beschreibt Adorno in seiner Hörertypologie den Unterhaltungshörer, dem psychologisch die Ich-Schwäche eigentümlich sei und der lediglich «als Gast von Rundfunkveranstaltungen begeistert auf Lichtsignale [reagiert], die ihn dazu animieren»370 zu applaudieren. Das kulturindustrielle Produkt gibt der Rezipientin etwas, bedient sie, mag es auch nur Ablenkung und Zerstreuung sein. Die Herausforderung zur Anstrengung ist von der Kulturindustrie nicht vorgesehen. Das autonome Kunstwerk hingegen erschüttert die Rezipientin. Das Kunst‐ werk, durch das es die Rezipientin mit Anstrengung zu einer ästhetischen Erfahrung bringt, hat es nicht auf Unterhaltung, auf die Befriedigung einer Lust oder auf vergnügliche Zerstreuung abgesehen. Im Gegenteil: nur durch grösste Anstrengung vermag die Rezipientin in der Erschütterung die eigene Ohnmacht zur Negation zu bringen.371 Als die Artikulation von Rationalität in Gestalt ihrer Andersheit holt das Kunstwerk die Rezipientin nicht in ihrer Ich-Schwäche ab und arbeitet so im Dienst des gesellschaftlichen Funktionszusammenhangs, das Kunstwerk bestätigt die Rezipientin eben gerade nicht, indem es entlastet, sondern fordert sie selbst zur Arbeit heraus. In diesem Zusammenhang greift Adorno in der Ästhetischen Theorie auf das Konzept der Ich-Schwäche und deren Abwehrmechanismen zurück und bringt es mit dem Begriff der «intolerance of ambiguity» in Verbindung. Diese Haltung beschreibt Adorno als «Unduldsam‐ keit gegen das Ambivalente, nicht säuberlich Subsumierbare; am Ende gegen das Offene, von keiner Instanz Vorentschiedene, gegen Erfahrung selbst.»372 Liegt der Kern einer ästhetischen Erfahrung darin, sich vom Werk her die Bahn vorzugeben und damit auch in der Unwissenheit, wo die Erfahrungsbahn hinführt, ist die Abwehrhaltung, die mit der Ich-Schwäche einhergeht, gerade gegen dieses Unbekannte und Ungewisse des autonomen Kunstwerks gerichtet. Die Erschütterung des Subjekts in der ästhetischen Erfahrung meint daher auch die psychologische Anstrengung, die gesellschaftlich vorgegebenen Identifika‐ tionsmuster zu durchbrechen.
369 370 371 372
Vgl. Adorno, ÄT, S. 355. Adorno, EM, S. 195. Vgl. Adorno, ÄT, S. 364. Ibidem, S. 176.
4.1 Ästhetische Erfahrung
137
Der Durchbruch ist daher ein doppelter. Die Anstrengung, die Arbeit, die von der Rezipientin vom Kunstwerk her gefordert wird, richtet sich einerseits gegen das naturbeherrschende Subjekt und dessen vermeintlichen Primat, wie anderseits gegen die in der Ich-Schwäche begründete psychologische Abwehr. Die Anstrengung zur ästhetischen Erfahrung hat so ihre zwei Seiten: Einerseits betrifft sie die Überhöhung des konstitutiven Subjekts. Dieses soll in seinem Scheitern gerade seiner Naturhaftigkeit gewahr werden. Anderseits hat die Arbeit der Rezipientin gegen die gesellschaftlich bedingte Ich-Schwäche und die damit verbundene psychologische Abwehr anzugehen. Zur ästhetischen Erfahrung gehört ebenso die Anstrengung, sich ins Offene, nicht schon Vorent‐ schiedene zu wagen. Gibt in der ästhetischen Erfahrung das Kunstwerk das Gesetz vor, so darf das eben nicht dahingehend missverstanden werden, dass das Werk die Rezipientin dadurch entlastet, indem es ihr die eigentliche Rezeptionsarbeit abnehmen würde. Das Kunstwerk ist eben weder eine «tabula rasa subjektiver Projek‐ tionen»373 noch nimmt es der Rezipientin die Arbeit ab. Im Gegenteil: Das vorgegebene Gesetz, die Bahn, die das Kunstwerk der Rezipientin zur ästheti‐ schen Erfahrung vorzeichnet, ist gerade der Auftrag, gegen sich zu arbeiten. Die Rezipientin hat sich dem Kunstwerk so zu öffnen, dass sie sich die Erfahrung des Kunstwerks von dessen innerem Zusammenhang her zu erarbeiten hat. Die Anstrengung, die die Rezipientin auf sich zu nehmen hat, liegt daher in der Überantwortung ans Objekt. Dies ist aber keine passive Aufgabe der Rezipientin, sondern nur in höchster Anstrengung zu haben.374 Die ästhetische Erfahrung ist daher letzten Endes von dieser anstrengenden Arbeit der Über‐ antwortung ans Objekt gekennzeichnet. VI. Vorrang des Objekts In der ästhetischen Erfahrung kommt es also durch die Anstrengung der Rezipientin zu einer Erschütterung, in der sich in Negativität die Naturhaftigkeit des Subjekts auftut. Die ästhetische Erfahrung bricht so das idealistische Primat des Subjekts. In der Überantwortung ans Objekt, die als anstrengende Arbeit der Rezipientin aufgegeben ist, soll die subjektive Konstitutionsarbeit zum Scheitern gebracht werden. In der ästhetischen Erfahrung tut sich daher anstelle des Vorrangs des Subjekts das auf, was Adorno den Vorrang des Objekts nennt. Der Vorrang des Objekts meint dann aber nichts anderes als die Negativität, in welcher der Vorrang des Subjekts sich als falsche Überhöhung zeigt. Dabei 373 374
Ibidem, S. 33. Vgl. Hindrichs, Scheitern als Rettung, op. cit., S. 155f.
138
4 Rezeption
darf er nicht in der Weise missverstanden werden, als wäre er einfach die Ersetzung des Subjekts in seinem Vorrang durch das Objekt. Der Vorrang des Objekts tritt daher nicht einfach an die Stelle des Vorrangs des Subjekts, sondern will vielmehr die Hierarchie beseitigen, die mit dem Vorrang des Subjekts mitgesetzt wurde.375 Brian O’Connor spricht daher vom Vorrang des Objekts als einer «polemical rejection of subject philosophy – the priority of the subject.»376 Im Vorrang des Objekts soll sich zeigen, dass das konstitutive Subjekt eben nicht als das Erste, alles qualitätslose erst bestimmende, verstanden werden kann. Vom konstitutiven Subjekt wissen wir, dass sein behaupteter Vorrang darin liegt, dass es die objektive Welt erst zur Bestimmung bringt, sie erst aus sich heraus erzeugt. Würde dieser Vorrang einfach durch das Objekt ersetzt werden, so fiele man lediglich zurück in einen naiven Realismus, in dem die Objekte unreflektiert das Primat im Erfahrungsvollzug zugesprochen bekommen, so als hätte man es mit Dingen an sich zu tun. Für Adorno geht es im Vorrang des Objekts aber vielmehr um das Verhältnis von Subjekt und Objekt und deren gegenseitige Vermittlung. Der Vorrang des Objekts ist nur innerhalb dieser Verflechtung zu verstehen, innerhalb der Dialektik von Subjekt und Objekt.377 Weder Subjekt noch Objekt können daher angemessen ausserhalb ihres Zusammenhangs isoliert betrachtet werden, sondern müssen stets in ihrer gegenseitigen Vermittlung verstanden werden. Subjekt und Objekt sind immer schon durcheinander vermittelt, sie sind nicht unabhängig voneinander zu denken. Dabei stehen sie aber nicht in einem symmetrischen Verhältnis, denn sie sind in je unterschiedlicher Weise durcheinander vermittelt. In der Negativen Dialektik schreibt Adorno: «Vermöge der Ungleichheit im Begriff der Vermittlung fällt das Subjekt ganz anders ins Objekt als dieses in jenes. Objekt kann nur durch Subjekt gedacht werden, erhält sich aber diesem gegenüber immer als Anderes; Subjekt jedoch ist der eigenen Beschaffenheit nach vorweg auch Objekt. Vom Subjekt ist Objekt nicht einmal als Idee wegzudenken; aber vom Objekt Subjekt.»378
Die Asymmetrie im Verhältnis von Subjekt und Objekt liegt also darin, dass das Subjekt seinem Sinn nach stets auch Objekt ist, wohingegen dem Sinn von Objekt nicht mitgegeben ist, dass es auch Subjekt sei. Zunächst versteht sich
375 376 377 378
Vgl. Adorno, ND, S. 182. Brian O’Connor, Adorno’s Negative Dialectic. Philosophy and the Possibility of Critical Rationality, Cambridge 2004, S. 52. (Hervorhebung im Original) Vgl. Theodor W. Adorno, Zur Theorie der geistigen Erfahrung (= NaS IV/16), Frankfurt am Main 2007, S. 248. Adorno, ND, S. 184. Vgl. hierzu auch Adorno, Zu Subjekt und Objekt, op. cit., S. 746ff.
4.1 Ästhetische Erfahrung
139
also das Objekt als dasjenige, was dem Subjekt als Anderes gegenübersteht. Es wird so durch das Subjekt bestimmt, wie das Subjekt durch das ihm gegenüber‐ stehende Andere bestimmt wird.379 Subjekt und Objekt sind aber auch noch in anderer Weise durcheinander vermittelt. Marc Nicolas Sommer unterscheidet daher in Bezug auf den Vorrang des Objekts zwischen einer modalen und einer substantiellen Vermittlung. Das Objekt ist modal durch das Subjekt vermittelt, nämlich in Hinblick auf das Objekt als dessen Erkenntnisobjekt. Das Objekt wird so durch das Subjekt als Erkenntnisobjekt konstituiert. Dagegen ist das Subjekt substantiell durch das Objekt vermittelt. Das Subjekt ist wesentlich von der Vermittlung durchs Objekt betroffen, denn das Subjekt ist selbst schon immer auch Objekt. Daher ist das Subjekt stets in die Vermittlung verwickelt und kann sich nicht als ein vom Objekt unabhängiges behaupten.380 Der Vorrang des Objekts tut sich daher nur in dieser gegenseitigen Vermittlung auf, indem das Subjekt in einer Reflexion auf die eigene Konstitutionsarbeit sein vermeintliches Primat als blossen Schein einsieht: «Vorrang des Objekts bedeutet die fortschrei‐ tende qualitative Unterscheidung von in sich Vermitteltem, ein Moment in der Dialektik, nicht dieser jenseitig, in ihr aber sich artikulierend.»381 Der Vorrang des Objekts meint dann gerade die Abschaffung der mit dem Primat des Subjekts mitgesetzten Hierarchie.382 Die Verwicklung von Subjekt und Objekt, in deren Dialektik sich der Vor‐ rang des Objekts artikuliert, gilt insofern für die Kunst, da auch in ihr der Vorrang des Objekts nicht zu verwechseln ist mit dem Versuch, sie aus «ihrer subjektiven Vermittlung herauszubrechen und ihr Objektivität von außen her zu infiltrieren.»383 Daher meint der Vorrang des Objekts in der ästhetischen Erfah‐ rung keinen naiven Realismus. Kunstwerke werden genauso wenig unmittelbar erfahren, wie es schon für die empirische Realität galt. Die Rezipientin ist in der Kunsterfahrung nicht einfach ein anderes Subjekt, nur weil das Kunstwerk sich aus dem Funktionszusammenhang entzieht. Und trotzdem meint der Vorrang des Objekts in der Kunst einen Vorrang des Kunstwerks. Dem Kunstwerk kommt insofern ein Vorrang zu, da es weder von der Produktion noch von der Rezeption her zu verstehen ist, sondern diese jeweils vom Werk selbst angeleitet sind. Weder die Produktion noch die Rezeption können als eigenständige Grössen
379 380 381 382 383
In der Negativen Dialektik ist die Rede von einer gegenseitigen Konstitution, durch die Subjekt und Objekt zugleich auch auseinandertreten (vgl. Adorno, ND, S. 176). Vgl. Sommer, Das Konzept einer negativen Dialektik, op. cit., S. 240f. Adorno, ND, S. 185. Vgl. hierzu auch Anke Thyen, Negative Dialektik und Erfahrung. Zur Rationalität des Nichtidentischen bei Adorno, Frankfurt am Main 1989, S. 207ff. Adorno, ÄT, S. 478.
140
4 Rezeption
verstanden werden: «Vorrang des Objekts heißt im ästhetischen Gebilde der der Sache selbst, des Kunstwerks, über den Hervorbringenden wie über den Empfangenden.»384 Kunstwerke, dies ergab sich aus den Produktionsbedingungen, nehmen sich aber aus der empirischen Realität aus. Daher verändert sich auch die Rede vom Vorrang des Objekts für die Kunst: «Die epistemologische Kritik des Idealismus, die dem Objekt ein Moment von Vormacht verschafft, ist nicht simpel auf die Kunst zu übertragen.»385 Dass die erkenntnistheoretische Kritik am Idealismus sich nicht einfach auf die Kunst übertragen lässt, wird durch den Doppelcha‐ rakter der Kunstwerke klar. Dem Doppelcharakter der Kunstwerke folgend, ist das Kunstwerk ein Gesellschaftliches, das es vermag, seine Widerständigkeit gegen seine eigene Gesellschaftlichkeit zu wenden. In diesem Widerstand gegen die gesellschaftliche Verfügungsmacht steht das Kunstwerk für das von ihr Unterdrückte ein. Der Vorrang des Objekts artikuliert sich in der Kunst daher in anderer Weise, denn in ihr kommt das durch den gesellschaftlichen Prozess verdrängte bereits zur Artikulation. Daher heisst es dann in der Ästhetischen Theorie: «Der Vorrang des Objekts behauptet ästhetisch allein sich am Charakter der Kunst als bewußtloser Geschichtsschreibung, Anamnesis des Unterlegenen, Verdrängten, vielleicht Möglichen. Der Vorrang des Objekts, als potentielle Freiheit dessen was ist von der Herrschaft, manifestiert sich in der Kunst als die Freiheit von den Objekten.»386
Liegt es im Doppelcharakter der Kunstwerke, dass sie sich der gesellschaftlichen Verfügungsmacht zu entziehen wissen, so stehen sie eben für das ein, was durch den Funktionszusammenhang ausgeschlossen wurde. Die spezifische Gestalt des Kunstwerks ist dann nicht einfach Objekt, das einem Subjekt als Anderes entgegensteht, sondern die Artikulation dessen, was in diesem Anderen nicht aufgeht. Das Kunstwerk artikuliert das Andere dieses Anderen. So entzieht sich das Kunstwerk aber der Vermittlungslogik, in deren Dialektik wir den Vorrang des Objekts erst ausgemacht haben. Das Subjekt kann daher auch nicht auf seine Konstitutionsarbeit reflektieren und so in der Erinnerung an seine eigene Objekthaftigkeit sich über den Vorrang des Objekts aufklären. Die Kunstwerke führen dagegen weg vom Objekt. Der Vorrang des Objekts verkehrt sich in der Kunst so zu einer Freiheit von den Objekten. Das Kunstwerk bietet sich nicht als Objekt für das Subjekt an, sondern entzieht sich gewissermassen als Objekt.
384 385 386
Ibidem, S. 479. Ibidem, S. 384. Ibidem, S. 384.
4.1 Ästhetische Erfahrung
141
Dies tut das Kunstwerk aber nicht, indem es einfach nichts ist, sondern indem es die Funktionsfähigkeit des konstitutiven Subjekts zum Scheitern bringt. Diesem Entzug des Kunstwerks als Objekt steht nun aber die Arbeit der Überantwortung ans Objekt, die zuvor geforderte Arbeit der Rezipientin, ent‐ gegen. Das Kunstwerk scheint so jeglicher Überantwortung zuwiderzulaufen. Die Überantwortung ans Objekt wird so zur Überantwortung an ein sich ständig entziehendes Objekt. Durch diesen permanenten Entzug bestimmt das Kunst‐ werk aber gerade die ästhetische Erfahrung. Das Kunstwerk als sich permanent entziehendes Objekt bringt das konstitutive Subjekt erst zur Erschütterung, indem es dessen Konstitutionsleistung in eine unendliche Verzögerung hinein‐ treibt. Die Überantwortung ans Objekt wird so überhaupt erst zur subjektiven Anstrengung gegen sich zu arbeiten. Darin unterscheidet sich die ästhetische von einer nicht-ästhetischen Erfahrung. Als ein negatives Geschehen besteht ästhetische Erfahrung in der selbstnegierenden Arbeit des nicht-ästhetischen Erfahrens.387 Die Kennzeichnung von Erfahrung als ästhetisch liegt für Adorno also weder in der Bestätigung der Konstitutionsleistungen des Subjekts und dessen Über‐ höhung noch in einer unmittelbaren Erfahrung eines Objekts, dem so das Primat zugesprochen wird. In der Arbeit der Rezipientin am Kunstwerk bricht sich vielmehr das Subjekt-Objekt-Verhältnis naturbeherrschender Rationalität. Die Rezipientin wird in der Kunsterfahrung durch höchste subjektive Anstrengung in einen unendlichen Entzug des Kunstwerks als dessen Erfahrungsobjekt hineingezogen, so dass das Subjekt zur Erschütterung gebracht wird. Die ei‐ gentliche Konstitutionsleistung des geschichtlich vorliegenden Subjekts wird so über sich hinausgetrieben, wie wir es in Adornos Umformulierung der Kategorie des Erhabenen gesehen haben. Ihrer Naturhaftigkeit wird die Rezipientin aber nicht in einem Akt der Reflexion auf ihre Konstitutionsarbeit gewahr, sondern indem sie zum Scheitern gebracht wird. Was ein Kunstwerk ist, lässt sich so aber nicht sagen. Die ästhetische Erfahrung bestimmt das Kunstwerk nur als einen permanenten Entzug. Es bleibt daher unbestimmt. Das Vermögen, das das Kunstwerk zur Bestimmung bringen sollte, scheitert schliesslich an ihm. Das Kunstwerk bleibt daher weiterhin unverständlich. Seine Negativität verzögerte ja gerade jegliches Begreifen und überführte es in einen unendlichen und unabschliessbaren Prozess. Daher hat die ästhetische Erfahrung nicht das letzte Wort. Ästhetische Erfahrung verschränkt sich vielmehr mit einer weiteren Reflexion, in der die ästhetische Erfahrung nochmals eingeholt wird. Diese weitere Reflexion ist das ästhetische
387
Vgl. Menke, Die Souveränität der Kunst, op. cit., S. 47ff.
142
4 Rezeption
Verstehen. Ästhetische Erfahrung wird selbst nochmals in einem ästhetischen Verstehensprozess eingefangen. Der Begriff der ästhetischen Erfahrung ist dabei mit dem des Verstehens untrennbar verknüpft. In der Frühen Einleitung hebt Adorno hervor, dass das Verstehen zu seiner Idee hat, «daß man durch die volle Erfahrung des Kunstwerks hindurch seines Gehalts als eines Geistigen innewerde.» Adorno führt weiter aus: «Verstanden werden Kunstwerke erst, wo ihre Erfahrung die Alternative von wahr und unwahr erreicht oder, als deren Vorstufe, die von richtig und falsch. Kritik tritt nicht äußerlich zur ästhetischen Erfahrung hinzu sondern ist ihr immanent.»388 Damit ist auch schon die Fluchtlinie, auf die hin die Rezeption ausgerichtet ist, angezeigt: Sie hebt mit der ästhetischen Erfahrung an und versucht, im Verstehen den Wahrheitsgehalt des Kunstwerks zu erfassen.
4.2 Ästhetisches Verstehen I. Analyse Mit der ästhetischen Erfahrung ist die Frage nach dem Kunstwerk auf dessen Verstehen verwiesen. Die ästhetische Erfahrung mag zwar die angemessene Erfahrung eines Kunstwerks darstellen, sie vermag aber nicht zu fassen, was ein Kunstwerk ist, denn sie bleibt gewissermassen sprachlos zurück. Die Erschüt‐ terung des Subjekts – in der die ästhetische Erfahrung im autonomen Kunstwerk nach Adorno zu münden hat – kam eben gerade deshalb zustande, da sich das Kunstwerk einer eigentlichen Bestimmung entzog. Vom Kunstwerk lässt sich so lediglich sagen, dass es dasjenige ist, das konstitutive Subjektivität zum Scheitern zu bringen vermag. Es öffnet sich deshalb eine weitere Ebene in der Rezeption, die eng mit der ästhetischen Erfahrung verwoben ist. Das Hören eines Musikstücks, das Betrachten eines Gemäldes, das Lesen eines Romans führt nur dann zu einer ästhetischen Erfahrung – so wie sie Adorno als eine Erschütterung des Subjekts versteht – sofern sich das Hören, Betrachten oder Lesen als eine bestimmte Verhaltensweise des Verstehens darstellt. Das Ver‐ stehen wird so zu einer integralen Voraussetzung von ästhetischer Erfahrung. Zugleich führt das Verstehen von Kunstwerken aber auch über die ästhetische Erfahrung hinaus, denn es will das Kunstwerk erfassen, woran die ästhetische Erfahrung wesentlich zu scheitern hat. Die ästhetische Erfahrung wäre so die Ausgangslage für das ästhetische Verstehen. 388
Adorno, ÄT, S. 515.
4.2 Ästhetisches Verstehen
143
Dieses so innig verwobene Verhältnis zwischen der ästhetischen Erfahrung und dem Verstehen von Kunstwerken ist aber bei Weitem nicht selbstverständ‐ lich. Will Adorno die ästhetische Erfahrung als eine Form der Hingabe an das Kunstwerk verstanden haben, als die Anstrengung zur Überantwortung an ein sich permanent entziehendes Objekt, so steht dies im Widerspruch zu den Forderungen des Verstehensbegriffs. Dieser versteht sich üblicherweise als diejenige Beziehung zum Kunstwerk, in der es zu einer Art von Aneignung oder Gleichmachung mit dem verstehenden Subjekt kommt. Verstehen heisst etwas begreifen, es zu erfassen, es sich anzueignen. Ästhetische Erfahrung steht daher nach Adorno der geforderten Distanz und Dinglichkeit des Verstehensbegriffs entgegen.389 Diesen Widerspruch hat das Verstehen des Kunstwerks selbst wieder in sich aufzunehmen. Es stellt daher zur ästhetischen Erfahrung eine weitere Reflexion an. Diese Arbeit einer weiteren Reflexion im Rezeptionsprozess kann zunächst als Analyse der Kunstwerke verstanden werden. Sie dient dabei jenem Verstehen der Werke, das sich der ästhetischen Erfahrung weder verschliesst noch mit ihr gleichzusetzen wäre, sondern versucht, in und mit ihr den in‐ neren Zusammenhang der Kunstwerke nachzuvollziehen und zu begreifen. Ästhetische Erfahrung scheint aber dem gängigen Verständnis von Analyse in der Kunst entgegenzulaufen. Gegen das Dynamische einer ästhetischen Erfahrung, die der Lebendigkeit des Kunstwerks gerecht zu werden vermag, steht das Leblose, Tote einer Analyse quer.390 Von der Analyse von Werken zu sprechen scheint daher der Erfahrung der Werke eher entgegenzuarbeiten, als dass sie zueinander in enger Korrespondenz stehen würden. Dem immanenten Mitvollzug eines Kunstwerks in der ästhetischen Erfahrung scheint die Analyse ein dem Kunstwerk äusserliches Verfahren darzustellen. In den Ausführungen zur ästhetischen Erfahrung in der Ästhetischen Theorie haben wir aber gesehen, dass Erfahrung von Kunst für Adorno nicht einfach eine passive, sinnliche Form der Wahrnehmung ist, sondern ein Geschehen, zu dem es nur durch äusserste geistige Anstrengung kommt. Die Zusammenführung von der Arbeit der Analyse als einer wesentlich intellektuellen Tätigkeit mit der Erfahrungsebene wird vor dem Hintergrund des Begriffs der ästhetischen Erfahrung in der Ästhetischen Theorie einsichtig. In einer solchen Verwicklung von ästhetischer Erfahrung und dem Verstehen stellt sich für Adorno aber auch die Analyse in anderer Weise dar.
389 390
Vgl. Adorno, ÄVL, S. 198. Vgl. Theodor W. Adorno, Zum Problem der musikalischen Analyse (= Frankfurter Adorno Blätter 7), München 2001, S. 73.
144
4 Rezeption
Die geforderte Autonomie der Kunst hob das Kunstwerk von der empirischen Realität ab und bildete dadurch einen eigenen Zusammenhang seiner Elemente. Weil es autonom ist, werden die Einzelmomente in eigener Weise ins Kunstwerk integriert. Es stellt so einen Zusammenhang dar, der sich nach der Eigenlogik des Werkes bildet und damit zu einer eigenen Sphäre wird, die sich von der empirischen Realität abhebt. Dies hat die Analyse zu berücksichtigen. Eine Analyse der Kunstwerke, die lediglich ihre Einzelmomente hervorhebt ohne ihren Eigensinn, durch den die Einzelmomente erst vermittelt sind, mitzube‐ denken, wird dem Anspruch des Kunstwerks nicht gerecht. Zugleich hat die Analyse aber auch auf das Ganze zu gehen. Das Ganze aber ist, wie Adorno es in Hegelscher Formulierung ausdrückt, «selber das Verhältnis zwischen dem Ganzen und seinen Einzelmomenten.»391 Die Analyse in Bezug auf die Musik wird daher folgend beschrieben: «Sowenig die Analyse Elementaranalyse sein darf, sowenig darf sie von einem starren und übergeordneten Begriff der Ganzheit aus die Einzelmomente vernachlässigen und zum Gleichgültigen herabsetzen. Geht man wirklich vom Ganzen aus, so ist dabei ebenso die Aufgabe, von dort aus die Logik der Einzelmomente, also die Konkretion der musikalischen Augenblicke zu ergreifen, wie man, wenn man von den Elementen ausgeht, verstehen muß, wie diese von sich aus, und vielfach auch in Widerspruch zueinander und durch diesen Widerspruch hindurch, das Ganze erzeugen.»392
Wie es Adorno hier an der Musik ausführt, sind die Einzelmomente und das Ganze, der Gesamtzusammenhang, so durcheinander vermittelt, dass Teil und Ganzes sich jeweils erst gegenseitig zur Bestimmung bringen. Dieser doppelten Bewegung hat eine Analyse nachzugehen: von den Einzelmomenten zum Ganzen hin, und vom Ganzen her die Einzelmomente bestimmend. Daher sind die Kunstwerke wesentlich Prozess. Das durcheinander vermittelte Verhältnis von seinen Einzelelementen zum Ganzen entfaltet sich erst im Kunstwerk. Die Einzelmomente sind im Kunstwerk deshalb auch nicht einfach «Gegeben‐ heiten», auf die eine Analyse stösst, sondern «eher Kraftzentren, die zum Ganzen treiben».393 Dieses dynamische Moment des Kunstwerks muss daher auch die Analyse wesentlich anleiten: «Analyse reicht darum erst dann ans Kunstwerk heran, wenn sie die Beziehung seiner Momente aufeinander pro‐
391 392 393
Ibidem, S. 85. Vgl. hierzu etwa Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik. Erster Band. Die objektive Logik (1812/13) (= Gesammelte Werke 11), Hamburg 1978, S. 354ff. Adorno, Zum Problem der musikalischen Analyse, op. cit., S. 85. Adorno, ÄT, S. 266.
4.2 Ästhetisches Verstehen
145
zessual begreift, nicht durch Zerlegung es auf vermeintliche Urelemente redu‐ ziert.»394 An Adornos Hörertypologie lässt sich dieses prozessuale Moment der Kunst‐ werke verdeutlichen, auf das eine Analyse zu gehen hat. In ihrer Abstufung ist die Hörertypologie nicht als ein Spektrum gesellschaftlicher Schichten zu lesen. An ihr lässt sich vielmehr ablesen, zu welchem Grad sich die Hörerin auf die Werke und deren inneren Zusammenhang einzulassen vermag.395 Die zwei äussersten Pole dieses Spektrums bilden dabei das strukturelle Hören der Expertin und das atomistische Hören der Unterhaltungshörerin. Die Expertin bestimmt Adorno als diejenige Hörerin, die mit vollem Bewusstsein sich dem Musikwerk hinwendet. Es ist das, was Adorno als adäquates und strukturelles Hören bezeichnet, denn der Expertin entgeht nicht nur nichts, sie vermag es auch im Verlauf des Werkes den inneren Zusammenhang zu fassen: «Während er dem Verlauf auch verwickelter Musik spontan folgt, hört er das Aufeinander‐ folgende: vergangene, gegenwärtige und zukünftige Augenblicke so zusammen, daß ein Sinnzusammenhang sich herauskristallisiert.»396 Es handelt sich also deshalb um ein adäquates Hören, da dieser Idealtypus von Hörerin die einzelnen Augenblicke so fasst, dass ihr Zusammenhang mitgedacht und mitvollzogen wird, so wie es das Werk selbst entfaltet. Die Hörerin folgt dem Verlauf des Werkes. Dagegen steht die Unterhaltungshörerin am anderen Ende des Spek‐ trums. Es handelt sich hierbei um ein atomistisches Hören, das im Gegensatz zum strukturellen Hören auf «sinnlich reizvolle Augenblicke»397 geht. Dieser Typus von Hörerin hört die Musik lediglich als Unterhaltung und zeichnet sich dadurch aus, dass sich ihr Musik «nicht [als] Sinnzusammenhang sondern [als] Reizquelle»398 darstellt.399 Dem adäquaten Hören der Expertin steht insofern die Unterhaltungshörerin entgegen, da erstere den Sinnzusammenhang der Werke aus der Eigenbewegung und Eigenlogik der Werke zu fassen vermag. In diesem Sinne ist das Hören der Sache adäquat, denn die Rezipientin folgt der Bahn des Musikwerkes und ihrem Verlauf. Eine angemessene Analyse hätte diese Zusammenhänge der Einzelmomente im Kunstwerk mitzubedenken. Analyse meint dann nicht ein angeleitetes Verfahren, in dem die Einzelmomente 394 395 396 397 398 399
Ibidem, S. 262. Adorno hebt selbst hervor, dass der sozialen Differenzierung innerhalb der skizzierten Typologie kein allzu grosses Gewicht zuzusprechen sei (vgl. Adorno, EM, S. 197). Ibidem, S. 182. Theodor W. Adorno, Der getreue Korrepetitor (= GS 15), Frankfurt am Main 2003, S. 246. Adorno EM, S. 193. Die Unterhaltungshörerin nimmt gerade die Anstrengung der Überantwortung ans Werk nicht auf sich, sondern ist psychologisch durch die Ich-Schwäche ausgezeichnet (vgl. ibidem, S. 195).
146
4 Rezeption
und ihre Zusammenhänge analytisch herauspräpariert werden, sondern den immanenten Mit- und Nachvollzug der Logik des Zusammenhangs der Einzel‐ momente des Kunstwerks selbst. Die Analyse fühlt dem Bewegungsgesetz des Kunstwerks nach. Ein Kunstwerk zu verstehen heisst somit nicht einfach die Bedeutung der Werke angeben zu können, sondern den Mitvollzug des Sinnzusammenhangs der Werke in den Blick zu nehmen. Die Analyse soll gerade auf das gehen, was sich nicht übersetzen lässt, auf das, was sich erst in der Analyse entfaltet.400 Die Analyse stellt sich so in den Dienst des Verstehens von Kunstwerken, indem sie der Bemühung verpflichtet ist, den inneren Zusammenhang der Werke als Zusammenhang zu begreifen: «Ein Kunstwerk verstehen, das heißt eben nicht, verstehen, was sozusagen dahintersteckt, was das Kunstwerk bedeutet, sondern das Kunstwerk selbst verstehen, die von einem Akkord zum anderen, von einer Farbe zur anderen, von einem Vers zum anderen führt.»401 Was sich also mit Adornos Begriff des strukturellen Hörens hervorhebt, ist, dass die analytische Arbeit von den werkimmanenten Strukturen angeleitet werden soll.402 Das Verstehen der Werke geht stets auf die Werke selbst und nicht auf ein wie auch immer verstandenes Dahinterliegendes, ein dem Werk irgendwie Vorgängiges, etwa die subjektive Intention der Künstlerin.403 Der Begriff der Analyse weist daher auf das, was sich in der Analyse als der innere Zusammenhang der Kunstwerke hervortut, indem sie den Prozess der Vermittlung von Einzelmoment zum Ganzen versucht zu fassen. Sie hebt eben nicht nur die Elemente heraus, sondern soll deren Zusammenhang erhellen. So führt die Analyse auf eine weitere Schicht des Verstehens, die über eine erste oberflächliche Beschreibung oder eine äusserliche Analyse hinausgeht. Adorno spricht in der Frühen Einleitung von einer darüberhinausgehenden zweiten Schicht, die «das Verstehen der Intention des Werkes, das, was es von sich aus bekunden will […]»404 darstellen würde. Die Intention des Werkes, von der Adorno hier spricht, meint dabei weder die subjektive Idee der Künstlerin noch den Wahrheitsgehalt der Werke, auf den das ästhetische Verstehen letztendlich hinzielt, sondern das, was im prozessualen Geschehen im Kunstwerk vom Werk selbst zur Artikulation kommt. Will die Analyse diese weitere Schicht
400 401 402 403 404
Vgl. Adorno, Zum Problem der musikalischen Analyse, op. cit., S. 80. Adorno, ÄVL, S. 199. Vgl. hierzu Gianmario Borio, Werkstruktur und musikalische Darstellung. Reflexionen über Adornos Interpretationsanalysen, Tutzing 2007, S. 201ff. Vgl. Adorno, ÄT, S. 194f. Ibidem, S. 515.
4.2 Ästhetisches Verstehen
147
erfassen, so hat sie diesen inneren, prozesshaften Zusammenhang der Werke zu verstehen. Das Verstehen von Kunstwerken hebt also analytisch an. Die Analyse der Kunstwerke, sofern sie dem autonomen Kunstwerk gerecht werden soll, geht nicht einfach auf die Einzelmomente der Werke, sondern will den Prozess zwischen Einzelmoment und Ganzem, den werdenden Zusammenhang des Kunstwerks erfassen. Das von der Analyse angeleitete Verstehen der Kunst‐ werke ist deshalb auf den inneren Zusammenhang der Kunstwerke verwiesen. II. Innerer Zusammenhang Kunstwerke zu verstehen, heisst also den Prozess des inneren Zusammenhangs der Kunstwerke zu fassen. Darauf hat die Analyse der Kunstwerke zu gehen. Anhand der Hörertypologie haben wir gesehen, dass die dem Kunstwerk adäquate Weise der Rezeption eine strukturelle ist, da diese auf den inneren Zusammenhang der Kunstwerke geht. Sie vermag das Fortlaufen der Einzelmo‐ mente im Kunstwerk in seiner Einheit zu begreifen. Verstehen von Kunstwerken heisst dann, durch die Analyse die eigenlogischen Zusammenhänge zu erfassen, die sich wiederum aus dem dialektischen Prozess von Einzelmomenten und Ganzem entfalten. Was sich in diesem prozessualen Geschehen zwischen Einzelmoment und Ganzem im Kunstwerk artikuliert, diese weitere Schicht der Kunstwerke, nennt Adorno an anderer Stelle auch dessen geistigen Gehalt.405 Dieser Gehalt ist also weder schon im Voraus entschieden noch lässt er sich unmittelbar benennen. Er ist ein Werdender, der erst im Prozess des Kunstwerks wird. Das, was Adorno als den geistigen Gehalt der Kunstwerke bezeichnet, konstituiert sich also erst «durch das hic et nunc des Kunstwerks, durch seine spezifischen Konfigurationen, durch die Momente, die das Kunstwerk in sich enthält, und durch die Totalität, zu der diese Momente sich zusammenschließen.»406 Der geistige Gehalt der Kunstwerke ist also insofern ein Werdender, da er sich erst im Prozess des inneren Zusammenhangs des Kunstwerks bildet. So stellt er gerade diese weitere Schicht dar, da er aus der Konfiguration der Einzelmomente hervorgeht, als etwas, das zugleich über die Einzelmomente hinausgeht. Der innere Zusammenhang der Kunstwerke, dem die Analyse zu folgen hat, wird dadurch gerade zu einem Sinnvollen, da in ihm die Einzelmomente im Fortgang des Zusammenhangs zur Bestimmung kommen. Der innere Zusammenhang
405 406
Vgl. Adorno, ÄVL, S. 216ff. Ibidem, S. 221.
148
4 Rezeption
wird so als sinnvoller erst verstehbar, denn was es am Kunstwerk zu verstehen gibt, ist sein Sinn: «Dadurch, daß eine Reihe von verschiedenen Momenten innerhalb eines Kunstwerks in eine Beziehung zueinander treten, die sie sowohl vereint und an ihnen eine Synthesis vollzieht, die auf der anderen Seite sie aber auch unterscheidet, ihre Gegensätze festhält, ja, unter Umständen in ausdrücklichen Gegensatz überhaupt setzt, dadurch wird das Kunstwerk unmittelbar als ein Sinnvolles erfahren.»407
Ein Kunstwerk als ein Sinnvolles erfahren, heisst dann, seinen inneren Zu‐ sammenhang, die Synthesen und Gegensätze der Einzelmomente, verstehend mitzuvollziehen. In diesem Prozess vermitteln sich die Einzelmomente durchs Ganze hindurch, sodass sie in einem sinnvollen Zusammenhang stehen. Der geistige Gehalt, den es im Verstehensprozess zu fassen gilt, wird erst durch den Zusammenhang der Einzelmomente im Kunstwerk erzeugt. Der Zusam‐ menhang ist nun somit als Sinnzusammenhang zu bezeichnen, da in ihm die Einzelmomente zu einem sinnvollen Zusammenhang vermittelt werden und daher der Sinn und dessen Einheit nicht statisch, sondern prozessual sind.408 Sinnvoll wird der innere Zusammenhang, da die Einzelmomente im fortlaufenden Zusammenhang des Kunstwerks zu ihrer Bestimmung kommen und so einen von der empirischen Realität abgehobenen Sinnzusammenhang erzeugen. Erst als Sinnzusammenhang ist das Kunstwerk der verstehenden Rezeption zugänglich, denn erst ein Sinnvolles kann überhaupt verstanden werden. Die Analyse der Werke, indem sie auf die innere Struktur und Zusammen‐ hänge der Einzelmomente geht, eröffnet uns erst das Werk für dessen Verstehen. Zugleich hat sie aber ihren Grund in der ästhetischen Erfahrung. Die Analyse der Werke ging ja gerade von der Erfahrung der Werke aus. Da ein Kunstwerk adäquat zu erfahren heisst, dass man es mitvollzieht und in einem gewissen Sinn im Mitvollzug erneut hervorbringt, gibt uns anderseits die Analyse erst die Möglichkeit an die Hand, das Kunstwerk ästhetisch zu erfahren. Adornos Ausführung, dass man den geistigen Gehalt nur dann zu fassen vermag, wenn durch die volle Erfahrung hindurch gegangen wird, kann nun so verstanden werden, dass der verstehende Mitvollzug der Kunstwerke nur durch das sich gegenseitig bedingende Erfahren und Verstehen der Kunstwerke möglich ist. Das Erfahren von Kunstwerken ist daher ein verstehendes Erfahren, wie das Verstehen der Kunstwerke ein erfahrendes Verstehen ist.
407 408
Ibidem, S. 222. Vgl. Adorno, ÄT, S. 262.
4.2 Ästhetisches Verstehen
149
Die Analyse der Kunstwerke hat uns bereits über den Zusammenhang der Einzelmomente im Werk aufgeklärt. Der Zusammenhang der einzelnen Momente im Werk wurde im strukturellen Rezipieren adäquat gefasst. Adäquat gefasst wurde der Zusammenhang der Werke für Adorno deshalb, weil sich der Zusammenhang aus der Sache selbst ergeben hat und der Eigenlogik des autonomen Kunstwerks folgte. Darin fasst die Rezeption die zweite Schicht, den geistigen Gehalt. Der Zusammenhang der Werke fügt sich also nicht einer äusseren Bestimmung, sondern hat sich rein immanent aus seiner Entfaltung ergeben und sich zur Einheit, zu einem Ganzen zusammengefügt. Der Zusam‐ menhang, auf den die Analyse geht und dessen Prozess sie im Mitvollzug zu verstehen versucht, ist deshalb der innere Zusammenhang der Kunstwerke, da er die immanente Entfaltung des Kunstwerks ausmacht: die immanente Vermitt‐ lung von Einzelmomenten und Ganzem. Das Kunstwerk hebt sich als innerer Zusammenhang nicht nur vom gesellschaftlichen Funktionszusammenhang ab, als Sinnzusammenhang konstituiert er zugleich auch seinen eigenen geistigen Gehalt, den das Verstehen zu begreifen versucht. Der innere Zusammenhang ist also ein Strukturzusammenhang, in dem sich die Einzelmomente und das Ganze so durcheinander vermitteln, dass sie sich zu einem Sinnzusammenhang zusammenschliessen. Da die Vermittlung der Einzelmomente und des Ganzen sich als eine immanente Vermittlung im Kunstwerk vollzieht, konstituiert sich der Zusammenhang immanent. Durch das verwickelte Verhältnis von ästhetischer Erfahrung und dem Verstehen kann der geistige Gehalt aber nicht einfach als ein Fertiges begriffen werden. Der geistige Gehalt, als zweite Schicht, ist nur im und durch den Prozess des Zusammenhangs zu haben. Die Überantwortung ans Kunstwerk, die für das Zustandekommen einer ästhetischen Erfahrung gefordert wurde, verschränkt sich also mit dem Verstehen der Kunstwerke, damit das Verstehen erst den geistigen Gehalt zu begreifen vermag. Der innere Zusammenhang der Kunstwerke lässt sich daher auch nur von innen her fassen und verstehen. Die Analyse des inneren Zusammenhangs der Kunstwerke muss sich daher als eine immanente Reflexion vollziehen. III. Immanente Reflexion Der innere Zusammenhang der Kunstwerke lässt sich nur immanent verstehen. Der Zusammenhang hat sich ja gerade immanent durchgebildet und kann sich daher im rezipierenden Mitvollzug nicht auf eine äusserliche Anleitung stützen oder einfach in ein Ausserästhetisches übersetzt werden. Das Ineinander von ästhetischer Erfahrung und dem Verstehen vollzieht sich daher letzten Endes als eine immanente Reflexion.
150
4 Rezeption
Hat das Verstehen nun auf die Sache selbst zu gehen, auf den inneren Zusam‐ menhang der Kunstwerke, so spricht Adorno in der Ästhetik-Vorlesung von 1958/59 von einer immanenten Reflexion als einem «intellektiven Verhältnis zur Sache selbst».409 Diese immanente Reflexion grenzt sich von einer äusserlichen Reflexion ab, welche auf externe Mittel zurückgreifen und so den Vermittlungs‐ prozess äusserlich ans Werk herantragen würde. Adornos Beispiel hierfür ist etwa die historische Reflexion, in der das Verstehen eines Kunstwerks von seinem geschichtlichen Ort her verstanden wird.410 Adorno meint mit der imma‐ nenten Reflexion dagegen gerade die grosse Anstrengung der Überantwortung ans Kunstwerk, in der sich dann die Analyse über den inneren Zusammenhang des Kunstwerks in seinem Mitvollzug aufklärt. Als immanente Reflexion geht die Rezeption der Kunstwerke also über eine bloss sinnliche Wahrnehmung hinaus, indem in ihr die Einzelmomente in ihrer Bestimmung durch den inneren Zusammenhang erfasst werden. Zum Verstehen von Kunstwerken gehört also dazu, dass nicht nur die unmittelbaren gegenwärtigen Einzelmomente präsent sind, sondern zugleich auch woher sie kommen und wohin sie im Fortgang des inneren Zusammenhangs treiben. In jedem Einzelmoment des Kunstwerks schwingt die Erinnerung, woher dieses kommt, und die Erwartung wohin es dieses treibt, mit.411 Deshalb trägt der verstehende Mitvollzug nicht noch äusserlich etwas ans Werk heran, sondern versucht den inneren Zusammenhang für ein sinnvolles Erfahren aufzuschliessen. Diesen inneren Mitvollzug, der im Fortgang die Zusammenhänge und Ge‐ gensätze der Einzelmomente erfasst, bezeichnet Adorno auch als «immanente Erkenntnis der Sache selber».412 In der Ästhetischen Theorie steht diese imma‐ nente Erkenntnis insofern mit der ästhetischen Erfahrung in Verbindung, da diese wiederum auf die Erfahrung zurückwirkt: «Die Erfahrung wird mit deren unbeirrter Erkenntnis unvergleichlich viel reicher.»413 Das Verstehen der Kunstwerke, das durch die volle Erfahrung hindurchgeht, sich in den prozessualen Fortgang des Werkes vertieft und ihn mitvollzieht, geht nicht nur von der ästhetischen Erfahrung aus, um von ihr aus den geistigen Gehalt zu fassen, sondern verändert damit auch die Wahrnehmung der sinnlichen Schicht im Kunstwerk: 409 410
411 412 413
Adorno, ÄVL, S. 301. Vgl. ibidem, S. 301. Zu einer kurzen Darstellung von Adornos Forderung einer analyti‐ schen Reflexion über Musik im Gegensatz zu deren unreflektierten Geschichtsbezügen in den Musikwissenschaften vgl. Claus-Steffen Mahnkopf, Adorno und die musikalische Analytik, Frankfurt am Main 1998. Vgl. Adorno, ÄT, S. 138; Adorno, ÄVL, S. 299. Adorno, ÄVL, S. 301. Adorno, ÄT, S. 463.
4.2 Ästhetisches Verstehen
151
«Das intellektiv am Werk erkannte strahlt auf dessen sinnliche Wahrnehmung zurück. Solche subjektive Reflexion ist dadurch legitimiert, daß sie den immanenten Reflexi‐ onsprozeß gleichsam nochmals vollzieht, der objektiv im ästhetischen Gegenstand stattfindet und keineswegs dem Künstler bewußt sein müßte.»414
Die Kunsterfahrung wird also dadurch reicher, da sie nicht einfach beim sinnlichen Eindruck stehenbleibt, sondern den durch den inneren Zusammen‐ hang der Werke vollzogenen dialektischen Prozess von Einzelmoment und Ganzem im Mitvollzug erneut erzeugt. Die subjektive Reflexion, den Mitvollzug des inneren Zusammenhangs, den die Rezipientin vollzieht, führt aber der Zusammenhang der Sache selbst durch. Die von der Rezipientin vollzogene Reflexion ist daher nichts anderes als die immanente Reflexion des Kunstwerks selbst, der sie immanent im Werk nachgeht. Das «reflektierende Verhalten zum Kunstwerk» ist keine äusserliche Reflexion, sondern der Nachvollzug des immanenten Reflexionsprozesses, weil es das im Kunstwerk Gedachte, das in ihm Vermittelte «immer zugleich auch mitdenk[t]».415 Das Erinnerende und Erwartende im Mitvollzug ist daher das Mitdenken des Vermittlungsprozesses von Einzelmoment und Ganzem des Kunstwerks. Die immanente Reflexion der Kunstwerke als den Mitvollzug des inneren Zu‐ sammenhangs der Kunstwerke zu verstehen, meint daher in der Rezeption das Nachgehen der immanenten Vermittlung der einzelnen sinnlichen Momente, die durch das Kunstwerk selbst vollzogen sind. Adorno spricht deshalb auch von der Lebendigkeit des Kunstwerks. Im Mitvollzug des Prozesses des inneren Zusammenhangs wird das Kunstwerk in seine Lebendigkeit überführt. Lebendig wird der Mitvollzug des Kunstwerks – der Erfahrungs- und Verstehensprozess der Rezeption – da in ihm die Bewegung der Einzelmomente in ihrer eigenen Bewegung, wo sie von sich aus hin wollen, mitverfolgt wird. Das Kunstwerk wird daher in der Rezeption vom Objekt her lebendig.416 Im Verstehen der Kunstwerke wird ja nichts anderes vollzogen als die Kunstwerke selbst. Das Verstehen der Kunstwerke ist von Adorno durch die Analyse hindurch auf den immanenten Mitvollzug des inneren Zusammenhangs verwiesen, der der immanenten Reflexion des Kunstwerks nachfolgt und sie so erneut vollzieht. Der Mitvollzug macht damit das Werk und seine Momente gerade nicht zu einem leblosen Substrat der Analyse, sondern begreift es in seiner Lebendigkeit. Darin werden der aktive und passive Anteil des Subjekts im Verstehensprozess miteinander verbunden. Die subjektive Anstrengung der Überantwortung ans 414 415 416
Ibidem, S. 463. Adorno, ÄVL, S. 202. Vgl. Adorno, ÄT, S. 262; Adorno, ÄVL, S. 301.
152
4 Rezeption
Kunstwerk, wie bereits zur ästhetischen Erfahrung ausgeführt wurde, wird in der Verschränkung mit dem Verstehen zum verstehenden Mitvollzug des inneren Zusammenhangs des Kunstwerks. Zum Verstehenden Mitvollzug wird sie, indem die intellektuelle Leistung des Mitdenkens des Kunstwerks vollbracht wird. Zugleich nimmt sich aber das Subjekt in seiner konstitutiven Leistung zurück und überlässt dem inneren Zusammenhang in seinem Fortgang die Be‐ stimmung der Einzelmomente. So vermag sich in der Rezeption die Lebendigkeit vom Werk her zu entfalten. Die Rezipientin befindet sich deshalb auch im Verstehen des Kunstwerks in einer aktiven Rücknahme, in der das Verstehen des Werkes von dessen innerem Zusammenhang selbst angeleitet wird. Die Anstrengung der Rezipientin besteht also, wie bereits die Anstrengung der ästhetischen Erfahrung, in einer aktiven Rücknahme ihrer eigenen Subjek‐ tivität. Das Verstehen von Kunstwerken ist deshalb ein anderes Verstehen als das ausserästhetische Verstehen. Das ästhetische Verstehen bestimmt nicht das Kunstwerk, es identifiziert es nicht als dieses oder jenes, sondern lässt die Einzelmomente durch den Mitvollzug des inneren Zusammenhangs sich selbst bestimmen. Die Verstehens- und Erfahrungsprozesse überlassen sich dem Prozess der Kunstwerke, die den Prozess des Verstehens anleiten und vollziehen. Die Rezipientin vollzieht damit den lebendigen Prozess der Kunstwerke ledig‐ lich mit, als dass sie ihn selbst hervorbringen würde. Die Rezipientin wird im Verstehen der Werke – was so viel heisst wie ihren lebendigen inneren Zusam‐ menhang mitzuvollziehen – in ihrem ausserästhetischen Verstehen beschnitten. Was es am Kunstwerk zu verstehen gibt, lässt sich nur im Kunstwerk und daher ästhetisch erfassen. Zielt das Verstehen der Kunstwerke auf die im Kunstwerk vollzogene im‐ manente Reflexion ab, auf den inneren Zusammenhang der Kunstwerke, so zeichnet sich das Verstehen dadurch als ein ästhetisches aus, da in ihm nicht ein dem Kunstwerk äusserlicher Verstehensprozess zur Anwendung kommt, sondern das Verstehen nur den inneren Zusammenhang des Kunstwerks mit‐ vollzieht. Was das ästhetische Verstehen dadurch zu begreifen vermag, ist daher auch nichts anderes als diesen Prozess selbst. Den inneren Zusammenhang des Kunstwerks als Sinnzusammenhang zu begreifen, den geistigen Gehalt der Kunstwerke zu fassen, ist daher nur die subjektive Reflexion, in welcher die Rezipientin die immanente Reflexion des Kunstwerks erneut vollzieht. Deshalb wird, wie schon in der ästhetischen Erfahrung das konstitutive Subjekt zum Scheitern gebracht wurde, auch im ästhetischen Verstehen der ausserästhetische Verstehensprozess ausgehebelt. Denn im Gegensatz zum ausserästhetischen
4.2 Ästhetisches Verstehen
153
Verstehen liegt das Verstandene nicht in einem Resultat vor, sondern meint den Prozess, der der innere Zusammenhang des Kunstwerks ist.417 Das ästhetische Verstehen als immanente Reflexion vermag so aber auch nicht zu sagen, was das Kunstwerk ist. Das ästhetische Verstehen kann weder sagen, was ein je einzelnes Kunstwerk noch was ein Kunstwerk überhaupt sei. Damit das ästhetische Verstehen das Kunstwerk in seiner Totalität zu fassen wüsste, müsste neben dem Mitvollzug der immanenten Reflexion auch das Kunstwerk als Ganzes verstanden werden. Der innere Zusammenhang müsste dann nicht nur immanent verstanden werden, sondern müsste den inneren Zusammenhang als Ganzes in den Blick bekommen. Dies kann das ästhetische Verstehen aber nicht, da es immer nur die immanente Reflexion des inneren Zusammenhangs mitvollzieht. Ausserhalb des ästhetischen Verstehens bleibt das Kunstwerk deshalb weiterhin unverständlich. IV. Rätselcharakter Das Verstehen der Kunstwerke hat daher auch seine andere Seite. Diese Seite bestimmt sich durch den Rätselcharakter. Wird mit dem Heraustreten aus dem Mitvollzug der Kunstwerke der «Vertrag mit ihrem Immanenzzusammen‐ hang» gebrochen, dann tritt der Rätselcharakter hervor, der im Mitvollzug nicht in den Blick zu kommen vermag.418 Das ästhetische Verstehen ist nicht in der Lage, ausserhalb des inneren Zusammenhangs das Kunstwerk zu begreifen. Die immanente Reflexion verlangt daher nach einer weiteren Reflexion, die versucht, auf die Frage des Rätselcharakters – «Ja, was soll das Ganze eigentlich, was ist das eigentlich?»419 – eine Antwort zu geben. Ausserhalb des inneren Zusammenhangs kann das ästhetische Verstehen nichts fassen und so bleibt das Kunstwerk als Ganzes weiterhin unverständlich. Wie schon in der ästhetischen Erfahrung verbleibt auch das ästhetische Verstehen in der Immanenz des Kunstwerks. Der Vollzug des ästhetischen Verstehens ist deshalb aber nicht einfach überflüssig. Der verstehende Mitvollzug vermochte es zwar nicht, das Kunstwerk in seiner Ganzheit in den Blick zu bekommen, es ausserhalb seines inneren Zusammenhangs zu fassen, aber der verstehende Mitvollzug hat die Frage nach dem Ganzen, nach dem Was und dem Wozu in den Blick genommen. Erst durch die immanente Reflexion hindurch wurde das Unvermögen, das
417 418 419
Vgl. Menke, Die Souveränität der Kunst, op. cit., S. 48f. Adorno, ÄT, S. 182f. Adorno, ÄVL, S. 33. In der Ästhetischen Theorie wird die Frage des Rätselcharakters auch als die Frage nach dem Wozu des Kunstwerks formuliert (siehe Adorno, ÄT, S. 183; auch Adorno, ÄVL, S. 247).
154
4 Rezeption
Kunstwerk ausserhalb des inneren Zusammenhangs zu verstehen, eingesehen. Die mit diesem Unvermögen verbundenen Fragen des Was und des Wozu lassen sich nicht mehr aus dem inneren Zusammenhang heraus beantworten, denn sie zielen gerade auf das Ganze des Zusammenhangs und nicht auf den Zusammenhang der einzelnen Momente innerhalb des Kunstwerks ab. Daher tritt der Rätselcharakter gerade dann hervor, sobald die Rezipientin aus dem Mitvollzug heraustritt. Der Rätselcharakter steht der ästhetischen Erfahrung und dem ästhetischen Verstehen darin gerade entgegen. Zugleich wird der Rätselcharakter aber erst durch den immanenten Erfahrungs- und Verstehens‐ vollzug konstituiert. In der aktiven Rücknahme, durch die sich die ästhetische Erfahrung und das ästhetische Verstehen auszeichnen, hat der Erfahrungs- und Verstehensvollzug daher ständig in äusserster Anspannung zu bleiben. «Sobald jedoch die Erfahrung der Kunstwerke im mindesten erschlafft, präsentiert sie ihr Rätsel als Fratze. Unablässig wird die Erfahrung der Kunstwerke vom Rätselcharakter bedroht.»420 Der innere Mitvollzug der Kunstwerke steht also ständig in der Gefahr, in die ausserästhetischen Erfahrungs- und Verstehensvollzüge zurückzufallen und so das ästhetische Erfahren und Verstehen wieder zu verschliessen. Dadurch ändert sich aber nicht einfach der Modus des Erfahrens und Verstehens. Der Rückfall in das ausserästhetische Erfahren und Verstehen des Kunstwerks ist selbst durch das ästhetische Erfahren und Verstehen vermittelt. Erst in der Erinnerung des Mitvollzugs des inneren Zusammenhangs und dessen Verschliessung kehrt das Kunstwerk für den ausserästhetischen Blick seinen Rätselcharakter hervor.421 Der Rätselcharakter, der sich durch diesen Wechsel einstellt, hat also seinen Ort weder im inneren Zusammenhang und Mitvollzug noch in einer Aussenperspektive. Der Rätselcharakter hat seinen Ort vielmehr in der Differenz von Innen- und Aussenperspektive. Daher liegt das Rätselhafte der Kunstwerke in der Konfrontation des inneren Mitvollzugs und dem Versuch eines ausserästhetischen Verstehens.422 Die Frage, die der Rätselcharakter der Kunstwerke stellt, ist also die Frage nach dem Ganzen, die Frage nach dem, was es ist und wozu es ist. In der immanenten Reflexion des ästhetischen Verstehens konnte die Frage nach dem Ganzen nicht beantwortet werden. Hierzu hätte die Rezeption wiederum eine ausserästhetische Position einzunehmen, von der aus sich das Kunstwerk 420 421 422
Adorno, ÄT, S. 189. Adorno schreibt daher in der Ästhetischen Theorie: «Der Rätselcharakter ist der Schauer als Erinnerung, nicht als leibhafte Gegenwart.» (Ibidem, S. 426.) Vgl. hierzu Alexander García Düttmann, Teilnahme. Bewusstsein des Scheins, Konstanz 2011, S. 75; Menke, Die Souveränität der Kunst, op. cit., S. 198.
4.2 Ästhetisches Verstehen
155
dem Verstehen erneut verschliesst. Dem autonomen Kunstwerk, so haben uns Adornos Ausführungen gezeigt, liegt es aber gerade daran, sich dem Funktions‐ zusammenhang, welchen die gesellschaftliche Totalität bildet, zu entziehen. Das Kunstwerk ist gerade dadurch bestimmt, dass es sich von der empirischen Realität abhebt und sich als autonome Sphäre gegen den gesellschaftlichen Funktionszusammenhang durchbildet. Der Rätselcharakter hebt daher diese Absonderung der Kunstwerke erneut in der Rezeption der Kunstwerke hervor. Der Rätselcharakter ist deshalb dem autonomen Kunstwerk eingeschrieben, denn das Kunstwerk wird für Adorno nur durch seinen Entzug aus dem gesell‐ schaftlichen Funktionszusammenhang zum Kunstwerk. Der ausserästhetische Erfahrungs- und Verstehensvollzug reicht deshalb auch nicht an die Kunstwerke heran, denn das Kunstwerk besteht nur durch seine Widerständigkeit gegen die empirische Realität und damit auch gegen deren Erfahrungs- und Verste‐ hensvollzüge. Zugleich ist der ästhetische Erfahrungs- und Verstehensvollzug aber auch nicht in der Lage, das Was und Wozu des Kunstwerks zu fassen. Durch diese Diskrepanz zwischen dem verstehenden immanenten Mitvollzug und einer äusserlichen Bestimmung hebt sich die Unverständlichkeit als Rätsel‐ charakter des Kunstwerks erst ins Bewusstsein der Rezeption. Das Verstehen der Kunstwerke, durch das sich der Rätselcharakter erst hervorkehrt, wird daher selbst problematisch. Das Verstehen der Kunstwerke verkehrt sich durch den Rätselcharakter der Werke in deren Unverständlichkeit: «Nicht ist der Rätselcharakter der Kunst dasselbe, wie ihre Gebilde zu verstehen, nämlich sie objektiv, in der Erfahrung von innen her, nochmals gleichsam hervorzu‐ bringen, so wie die musikalische Terminologie es anzeigt, der ein Stück interpretieren soviel heißt, wie es sinngemäß spielen. Verstehen selbst ist angesichts des Rätsel‐ charakters eine problematische Kategorie. Wer Kunstwerke durch Immanenz des Bewußtseins in ihnen versteht, versteht sie auch gerade nicht, und je mehr Verständnis anwächst, desto mehr auch das Gefühl seiner Unzulänglichkeit, blind in dem Bann der Kunst, dem ihr eigener Wahrheitsgehalt entgegen ist.»423
Fühlt das Verstehen der Kunstwerke dem inneren Zusammenhang der Kunst‐ werke nach, bringt es das Werk von innen noch einmal hervor, so greift das Verstehen zugleich über sich hinaus. Da der Rätselcharakter in der Differenz von Innen- und Aussenperspektive besteht, von ästhetischem und ausseräs‐ thetischem Erfahrungs- und Verstehensvollzug, wächst mit dem ästhetischen Verstehen auch der Rätselcharakter an, denn umso mehr das Kunstwerk ästhe‐ tisch verstanden wird, umso grösser wird auch die Differenz, in welcher der
423
Adorno, ÄT, S. 184.
156
4 Rezeption
Rätselcharakter seinen Ort hat. Das ästhetische Verstehen treibt deshalb das ausserästhetische Unverständnis erst hervor. Die Bahn des Verstehens schreitet zur Unverständlichkeit fort. Das Verstehen von Kunstwerken verlangt daher nach einer weiteren Refle‐ xion, in der auch noch die Unverständlichkeit in den Verstehensprozess inte‐ griert wird. In dieser weiteren Reflexion soll die Unverständlichkeit, die sich aus der Differenz zur immanenten Reflexion hervorkehrte, mitreflektiert werden. Was hier also ansteht, ist eine Reflexion, die sich über die immanente Reflexion aufklärt, selbst aber nicht blind im Immanenzzusammenhang verharren darf. Dieses Problem scheint aber deshalb gerade unlösbar zu sein, da die Aufklärung des inneren Zusammenhangs der Kunstwerke nicht einfach in die Aussenper‐ spektive wechseln kann, um das Kunstwerk in seiner Ganzheit in den Blick zu bekommen, ohne damit zugleich auch das Verstehen des inneren Zusammen‐ hangs zu verschliessen. Ohne das Verstehen des inneren Zusammenhangs kann aber auch das Kunstwerk in seiner Ganzheit nicht mehr verstanden werden. Entzieht sich der innere Zusammenhang als Sinnzusammenhang, bricht das ästhetische Verstehen mit dem Wechsel in die Aussenperspektive ab, dann bleibt nur der Rätselcharakter zurück, der nur noch den Entzug eines Verstandenen anzeigt. Diese weitere Reflexion hätte also den Entzug, das Verstehen in seiner Negation zu begreifen. Daher reicht auch die Expertin, wie es die Hörertypologie vorstellt, nicht voll‐ ständig an die Kunstwerke heran. Ihr entgeht eben gerade der Rätselcharakter, da sie die Kunst zu einem Selbstverständlichen macht.424 Der Rätselcharakter der Kunstwerke hebt aber gerade die in ihrer geschichtlichen Situation einge‐ schriebene Unverständlichkeit hervor. Der Verlust der Selbstverständlichkeit der Kunst verbietet der Rezipientin daher auch den Rückgriff auf jegliche Tradition, die das Kunstwerk noch in den Horizont des Verstehbaren zu stellen in der Lage gewesen wäre. Deshalb ist der Expertin vorzuwerfen, dass sie nur die eine Seite des Verstehens zu fassen vermag, die Seite des Unverständlichen aber nicht in den Blick bekommt. In diesem Sinne schreibt Adorno: «Kennerschaft ist adäquates Verständnis der Sache und borniertes Unverständnis des Rätsels in eins, neutral zum Verhüllten.»425 Ein adäquates Verstehen der Kunstwerke müsste aber ihre andere Seite ebenso begreifen. Das Verstehen der Kunstwerke schliesst daher ebenso das Verstehen ihrer Unverständlichkeit mit ein. Um den Rätselcharakter in den Blick zu nehmen, gilt es also, den Umschlag des ästhetischen Verstehens des Kunstwerks in dessen Unverständlichkeit im 424 425
Vgl. hierzu Eberhard Ortland, Rätselcharakter, Kommentar, Kritik. Kunstwerk und ästhetische Reflexion bei Adorno, S. 59f. Adorno, ÄT, S. 185.
4.2 Ästhetisches Verstehen
157
Heraustreten aus dem Bann der Werke zu reflektieren. Der Rätselcharakter zeigt sich also genau dort, wo sich das Kunstwerk wieder verschliesst, aber weiterhin verstanden werden möchte. Darauf zielt der Begriff des Rätsels ab. Mit ihm ist eben gemeint, dass es als Rätsel stets nach seiner Lösung fragt. Diese Ambivalenz im Verstehen der Kunstwerke darf nicht einfach zur Seite geschoben werden, sondern es gilt, sie in der Rezeption auszutragen. Beide Seiten, sowohl der immanente Mitvollzug wie auch das vom Werk gestellte Rätsel des Was und des Wozu, gehören zum Verstehen der Kunstwerke dazu. Das Verstehen der Kunstwerke besteht nicht nur im verstehenden Mitvollzug, sondern schliesst das Verstehen des Rätselcharakters mit ein. Deshalb hat das Verstehen der Kunstwerke sowohl das durch den Mitvollzug Verstandene, den inneren Zusammenhang der Kunstwerke, als auch noch deren Unverständlich‐ keit, den Rätselcharakter zu verstehen. Adorno formuliert es in der Ästhetischen Theorie folgendermassen: «Das Rätsel lösen ist soviel wie den Grund seiner Unlösbarkeit angeben: der Blick, mit dem die Kunstwerke den Betrachter anschauen. Die Forderung der Kunstwerke, verstanden zu werden dadurch, daß ihr Gehalt ergriffen wird, ist gebunden an ihre spezifische Erfahrung, aber zu erfüllen erst durch die Theorie hindurch, welche die Erfahrung reflektiert.»426
Die Forderung, den Grund der Unlösbarkeit des Rätsels der Kunstwerke anzu‐ geben, ist also in einer weiteren Reflexion einzuholen, da die Unverständlichkeit in der Differenz von innerem Mitvollzug und der ausserästhetischen Perspektive besteht, die selbst nicht mehr im ästhetischen Verstehen verstanden werden kann. Ist diese weitere Reflexion aber, wie Adorno schreibt, durch die Theorie hindurch zu vollziehen, so wird damit das Verstehen der Kunstwerke selbst zum Gegenstand der Reflexion. Das ästhetische Verstehen verkehrt sich aber nicht einfach nur in seine Unverständlichkeit, sondern begreift den inneren Zusammenhang als Sinnzu‐ sammenhang. Das ästhetische Verstehen hat so seine positive wie negative Seite. In seiner positiven Seite heisst das Verstehen von Kunstwerken ihre weitere Schicht, den geistigen Gehalt zu fassen. Es begreift darin dasjenige, was in der immanenten Reflexion über die blossen Einzelmomente hinausgeht. Diese positive Seite ist also das, was durch den inneren Zusammenhang der Einzel‐ momente diese jeweils übersteigt. Sie ist daher als ästhetische Transzendenz zu bezeichnen. Die negative Seite hat das ästhetische Verstehen dagegen am Rätselcharakter, der die Unverständlichkeit der Kunstwerke hervorkehrt. Sie
426
Adorno, ÄT, S. 185.
158
4 Rezeption
stellt deshalb eine weitere Reflexion dar, da in ihr nicht ein positiver Gehalt erfasst wird, sondern der Grund der Unverständlichkeit auf die Fragen des Was und des Wozu ausgewiesen wird. Da die negative Seite, die Unverständlichkeit des Kunstwerks, die sich durch den Rätselcharakter zeigt, die Reflexion auf den Verstehensprozess darstellt, um so über den Grund der Unverständlichkeit aufzuklären, wird sie sich letztendlich als den Wahrheitsgehalt des Kunstwerks erweisen. Damit ist in der negativen Seite des ästhetischen Verstehens auch die letzte Bestimmung der Rezeption gefunden, auf den hin die Analyse schon ausgerichtet war.427
4.3 Ästhetische Transzendenz I. Mehr Das ästhetische Verstehen hat sich als zweiseitig erwiesen. Im Mitvollzug des inneren Zusammenhangs lässt sich der geistige Gehalt der Kunstwerke fassen. Das ästhetische Verstehen hat sich für Adorno gerade darin ausgezeichnet, dass es als immanente Reflexion den inneren Zusammenhang in seiner Ver‐ mittlung von Einzelmoment und Ganzem nachvollzieht. Zugleich treibt der verstehende Mitvollzug der Kunstwerke aber auch dessen Negation hervor: den Rätselcharakter. Bricht der verstehende Mitvollzug des Kunstwerks ab, so zeigt sich vermittelt durch den abgebrochenen Mitvollzug der Rätselcharakter des Kunstwerks. Bei beiden Seiten handelt es sich also um eine Überstiegsfigur, denn sowohl der im verstehenden Mitvollzug erfasste geistige Gehalt als auch der Rätselcharakter gehen als ein Mehr am Kunstwerk hervor. Sie sind daher als ästhetische Transzendenz zu bezeichnen. Sie überschreiten die bloss sinnliche Erscheinung der Kunstwerke. Das ästhetische Verstehen begreift daher ein Mehr, etwas, was die Kunstwerke nur in ihrer spezifischen Vermittlung von Einzelmomenten und Ganzem hervorbringen. Auf der negativen Seite zeigte sich das Mehr der Kunstwerke als deren Rätsel. Der Rätselcharakter übersteigt das Kunstwerk, da er die Unverständlichkeit des geistigen Gehalts der Kunst‐ werke ausserhalb des inneren Zusammenhangs darstellt. Der Rätselcharakter stellt gerade nichts anderes dar als das unverständliche Mehr, die Negation des im ästhetischen Verstehen erfassten geistigen Gehalt. Da der Rätselcharakter negativ auf das ästhetische Verstehen verwiesen ist, steht er in Abhängigkeit von der positiven Seite des ästhetischen Verstehens. Für die vom Rätselcharakter 427
Vgl. Adorno, Zum Problem der musikalischen Analyse, op. cit., S. 78ff.
4.3 Ästhetische Transzendenz
159
geforderte weitere Reflexion, in der auch noch die Unverständlichkeit erfasst wird, gilt es daher zuerst die ästhetische Transzendenz in ihrer positiven Seite genauer zu bestimmen. Dass die Kunstwerke über sich hinausgehen, dass sie mehr sind als ihre blosse sinnliche Erscheinung, liegt in ihrem inneren Zusammenhang. Die Ausfüh‐ rungen zum ästhetischen Verstehen haben uns gezeigt, dass durch die autonome Durchbildung der Kunstwerke, in der Absetzung vom gesellschaftlichen Funk‐ tionszusammenhang, der innere Zusammenhang der Kunstwerke sich zugleich auch zu einem Sinnzusammenhang übersteigt. Indem die Einzelmomente im Kunstwerk im fortlaufenden Zusammenhang zu ihrer Bestimmung kommen, hob sich das Kunstwerk von der empirischen Realität ab und bildete sich zu einem Sinnzusammenhang durch. Deshalb hat sich der innere Zusammenhang als Sinnzusammenhang erwiesen und sich so für die verstehende Rezeption erst erschlossen. Und deshalb müssen Kunstwerke, um überhaupt Kunstwerke sein zu können, eine Transzendenz aus sich heraus, über sich selbst hinaus, her‐ stellen. Adorno schreib hierzu: «Kunstwerke werden sie in der Herstellung des Mehr; sie produzieren ihre eigene Transzendenz […].»428 Indem die Kunstwerke sich überschreiten, sind sie also auch immer mehr als das, was sie zunächst sind, blosse sinnliche Erscheinung. Als autonome stellen die Kunstwerke die Transzendenz, ihr Mehr, über ihre sinnliche Erscheinung selbst her. Wären die Kunstwerke einfach blosse Erscheinung, so würden sie keinen eigenen autonomen Sinnzusammenhang darstellen und wieder an die Empirie verfallen. Weder hätte das ästhetische Verstehen so am Kunstwerk irgendeine weitere Schicht zu fassen, noch wäre es ein Rätsel. Dann würde es aber auch nicht mehr dem Anspruch, den die Ästhetische Theorie an das Kunstwerk stellt, genügen. Daher gehört das Mehr notwendig zum autonomen Kunstwerk. Adorno spricht deshalb von einer Entkunstung, sofern das Kunstwerk es nicht zur Transzendenz bringt. Die Kunst wird dann ihrem eigenen Begriff nicht gerecht.429 Dieses Mehr der Kunstwerke ist aber nicht einfach mit ihrem inneren Zusammenhang gleichzusetzen, der im Erfahrungs- und Verstehensprozess prozessual mitvollzogen wird, noch stellt das Kunstwerk einfach den Schauplatz seiner Transzendenz dar.430 Das Kunstwerk übersteigt sich selbst durch die im inneren Zusammenhang vollzogene Vermittlung seiner Einzelmomente und setzt das Mehr als sein Anderes. Adorno schreibt in der Ästhetischen Theorie:
428 429 430
Adorno, ÄT, S. 122. Vgl. ibidem, S. 122. Vgl. ibidem, S. 122.
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4 Rezeption
«Zur Beschreibung des Mehr reicht die psychologische Definition der Gestalt, der zufolge ein Ganzes mehr sei als seine Teile, nicht hin. Denn das Mehr ist nicht einfach der Zusammenhang sondern ein Anderes, durch ihn Vermitteltes und trotzdem von ihm Gesondertes. Die künstlerischen Momente in ihrem Zusammenhang suggerieren, was nicht in diesen fiele.»431
Das Mehr, das die Kunstwerke übersteigt, ist nicht einfach das Ganze, der innere Zusammenhang als Sinnzusammenhang, sondern wie Adorno hervorhebt, ein Anderes, das sich durch den Zusammenhang vermittelt und sich erst über und durch den Zusammenhang als Anderes abhebt. Deshalb hat Adorno auch vom geistigen Gehalt als einer weiteren Schicht gesprochen. Diese weitere Schicht geht zwar aus dem inneren Zusammenhang hervor, ist nur in dessen Vermittlung von Einzelmomenten und Ganzem zu fassen, sie transzendiert zugleich aber den Zusammenhang und wird dadurch erst zu einem Mehr. II. Sinn Dieses Mehr, das ein Anderes ist, kann zunächst als der Sinn des Kunstwerks verstanden werden. Mit der Hörertypologie haben wir bereits gesehen, dass für Adorno der innere Zusammenhang eines Musikwerks sich dann als ein Sinnzu‐ sammenhang herauskristallisiert, wenn in jedem Einzelmoment die Erinnerung, woher es kommt, und die Erwartung, wohin es will, miterfasst wird. In jedem einzelnen Augenblick wird dessen Zusammenhang mitgedacht und vermittelt, sodass durch das Ganze jeder Einzelmoment zu einem sinnvollen wird. Diese Vermittlung von Einzelmoment und Ganzem machte das Kunstwerk überhaupt erst zu einem für das ästhetische Verstehen Verständlichen. Und da das Mehr notwendig zum autonomen Kunstwerk gehört, um überhaupt ein Kunstwerk zu sein, transzendiert es seine blosse sinnliche Erscheinung zu einem Sinnvollen. Mit dem immanenten Mitvollzug des ästhetischen Verstehens wurde dies bereits angezeigt. Ein Kunstwerk verstehen heisst seinen Sinn zu fassen. Und den Sinn zu fassen hiesse wiederum, im inneren Zusammenhang des Kunstwerks das zu fassen, was mehr ist als die in ihm eingefassten Einzelmomente, was diese durch ihren Zusammenhang sinnvoll übersteigt. Der innere Zusammenhang der Kunstwerke wird damit selbst sinnhaft, denn er vermag es in seinem Fortlaufen der Einzelmomente sich sinnvoll zu übersteigen. Erst der Sinn stiftet die Einheit des Kunstwerks, indem er die Einzelmomente im Werk so in einen Zusammenhang überführt, dass sie im Gesamtgefüge des Werks ihre Bestimmung erhalten. Zur Einheit bringt der Sinn das Kunstwerk,
431
Ibidem, S. 122.
4.3 Ästhetische Transzendenz
161
weil er die Einzelmomente in sinnvoller Weise in einen Zusammenhang bringt und dadurch zugleich auch alles aus dem Werk ausschliesst, was in ihm nicht seine Bestimmung erfährt. Der Zusammenhang der Einzelmomente wird aber nicht durch eine äussere Bestimmung in die Werke getragen, sondern ergab sich als immanente Reflexion des inneren Zusammenhangs. Die Einheit, die der Sinn dabei stiftet, ergibt sich also aus den Einzelmomenten und ihrer Vermittlung durchs Ganze. Die einzelnen sinnlichen Momente im Kunstwerk erhalten so ihre Bedeutung, ihren Sinn in der Beziehung zu allen anderen Einzelmomenten und zum Ganzen. Und das Ganze wiederum konstituiert sich durch die Einzelmomente und ihrer Beziehung zueinander. So bringt der Sinn die Kunstwerke zur Einheit. Der Sinn der Kunstwerke bezieht sich demnach auf das Verhältnis von Teil und Ganzem, von der Mannigfaltigkeit der Einzelmomente der Kunstwerke und ihrer im Zusammenhang vollzogenen Einheit. Was den Sinn eines Kunstwerks ausmacht, so heisst es bereits in der Philosophie der neuen Musik, ist deshalb «nichts anderes als der Zusammenhang».432 Der Sinn wird zwar durch den inneren Zusammenhang bewerkstelligt, er macht den Sinn aus, deswegen ist er aber nicht schon mit ihm gleichzusetzen. Denn der Sinn ist ein Mehr und als ein Mehr ist er auch ein Anderes. Gleichwohl kommt der Sinn dem Kunstwerk nicht äusserlich zu. Er ist daher nicht als eine dem Werk externe Bedeutung misszuverstehen, auf die die Einzelmomente verweisen würden.433 Der Sinn ist ein Mehr, das ein Anderes ist, das zugleich aber ein Anderes im Kunstwerk ist. Er besteht weder ausserhalb des Werkes noch ist er mit der sinnlichen Schicht identisch zu setzen. Adorno führt es für die Musik folgendermassen aus: «[U]nd alles, was in Musik mit Grund sinnvoll genannt werden kann, hat Anspruch darauf, weil es als Einzelheit über sich hinausgeht und auf das Ganze sich bezieht, so wie umgekehrt, das Ganze die bestimmte Forderung nach diesem Einzelnen in sich schließt. Solches Hinausweisen der ästhetischen Teilmomente über sich selber, während sie zugleich gänzlich im Raum des Kunstwerks verbleiben, wird als Sinn des Kunstwerks empfunden. Als ästhetischer Sinn: als mehr denn die Erscheinung und zugleich als nicht mehr denn diese.»434
Im inneren Zusammenhang, in dem Einzelmomente und Ganzes durchein‐ ander vermittelt sind, weisen also diese Einzelmomente über sich hinaus. 432 433 434
Adorno, PM, S. 120f. Darin unterscheidet sich die Musik gerade von Sprache: «Ihre Sprachähnlichkeit erfüllt sich, indem sie von der Sprache sich entfernt.» (Adorno, Fragment über Musik und Sprache, op. cit., S. 256.) Adorno, PM, S. 121.
162
4 Rezeption
Dabei verweisen die Einzelmomente aber nicht auf etwas, das ausserhalb des Kunstwerks wäre. Die Einzelmomente drücken nicht eine dem Kunstwerk äusserliche Bedeutung aus, sondern erhalten ihre Bestimmung im Kunstwerk. Die Einzelmomente werden durch den Fortgang des Kunstwerks zu einem Sinnvollen. Sie sind deshalb nur im Kunstwerk sinnvoll, da sie sich erst im Ganzem als etwas verstehen lassen.435 Im inneren Zusammenhang bestimmen sich die Einzelmomente zu einem Verstehbaren, sie werden verstehbar als etwas, was mehr ist als blosse sinnliche Unmittelbarkeit. Im Hinausweisen über sich verbleiben die Einzelmomente daher auch «im Raum des Kunstwerks», denn ausserhalb des Kunstwerks haben die Einzelmomente keinen Sinn. Ein Klang, ein Wort, ein Pinselstrich haben nur innerhalb des Kunstwerks, in dessen inneren Zusammenhang sie sinnvoll integriert sind, ihren Sinn. Daher ist die Rede vom Mehr als einer weiteren Schicht auch nicht wörtlich zu nehmen. In der Besprechung des ästhetischen Verstehens war bereits die Rede davon, dass jenes Moment, das nur durch intellektuelle Arbeit im Kunst‐ werk aufgeht, auf die sinnliche Wahrnehmung zurückstrahlt.436 Die Rezipientin nimmt nicht einfach eine unmittelbare Schicht des Kunstwerks wahr und darüber hinaus ihren Sinn als eine weitere, davon getrennte und sich über sie erhebende Schicht. Der Sinn ist nur das Sinnvollwerden der Einzelmomente durch den inneren Zusammenhang des Kunstwerks. Vom Sinn des Kunstwerks zu sprechen meint daher, dass die Einzelmomente im Kunstwerk als etwas verständlich werden. Die unmittelbare Wahrnehmung wird durch die intellek‐ tuelle Arbeit im Kunstwerk so vermittelt, dass an ihr und durch sie ein Mehr aufgeht: «Die ideale Wahrnehmung von Kunstwerken wäre die, in welcher das dergestalt Vermittelte unmittelbar wird; Naivität ist Ziel, nicht Ursprung.»437 Der Sinn erhebt sich also in der Weise über die bloss sinnliche Erscheinung, stellt ein Mehr dar, indem die im inneren Zusammenhang vermittelten Einzelmomente selbst unmittelbar werden. Indem der Sinn aber dafür verantwortlich ist, dass das Kunstwerk einen eigenen, von der empirischen Realität abgesonderten Bereich des ästhetischen Verstehens darstellt, behauptet er sich «durchs Kunstwerk als präsent […], ohne daß er es doch wirklich wäre.»438 Das Kunstwerk stellt durch seinen Zusammenhang seinen Sinn als ein Mehr, als ein Anderes, her und hebt sich damit zugleich auch von der empirischen Realität ab. Damit ist auch der Sinn nichts, das jenseits des Kunstwerks seine Wirklichkeit hätte. Denn ausserhalb 435 436 437 438
Vgl. Hindrichs, Die Autonomie des Klangs, op. cit., S. 185ff. Vgl. Adorno, ÄT, S. 463. Ibidem, S. 502. Ibidem, S. 161.
4.3 Ästhetische Transzendenz
163
des Kunstwerks verlieren die Einzelmomente ihre Bestimmung. Jenseits des Kunstwerks verschliesst sich ihr Sinn. Das Verstehen der Kunstwerke hat uns in dieser Hinsicht bereits mit dem Rätselcharakter konfrontiert. Im Heraustreten aus dem Bann der Kunstwerke, in welchem sich das ästhetische Verstehen vollzieht, bleibt das Kunstwerk als ein Unverständliches zurück. Der Zusam‐ menhang als Ganzes lässt sich selbst nicht mehr als sinnvoll einfangen. Dies gilt eben auch für den Sinn, der seine Wirklichkeit damit verliert, dass versucht wird, ihn ausserhalb des Kunstwerks zu erfassen.439 Der Sinn der Kunstwerke besteht also nur im und durch den Sinnzusam‐ menhang, weswegen der Sinn der Einzelmomente auch nur ästhetisch ver‐ standen werden kann. Er hat sich deswegen auch als nicht-wirklicher erwiesen. Der Sinn, als nicht-wirklicher, verweist so auf den Schein. Adorno schreibt deshalb vom Sinnzusammenhang als dem «Organon des Scheins»440 an den Kunstwerken. Gemeint ist damit, dass der Sinnzusammenhang selbst, indem er die Einzelmomente des Kunstwerks zu einer Einheit integriert, durch welche das Kunstwerk seinen Sinn als gegenwärtig behauptet, ihn zugleich auch als Schein herstellt. Die Einzelmomente werden im Sinnzusammenhang zu einem Sinnvollen, indem sie als etwas verständlich werden. Der Sinn behauptet sich dann als Gegenwärtiges, ohne aber wirklich zu sein, denn er ist nur im Mitvollzug der Kunstwerke. Damit ist der Sinn mit dem Schein der Kunstwerke verwickelt: «Sinn, der den Schein bewerkstelligt, hat als Oberstes am Schein‐ charakter teil.»441 Der Sinn ist also nicht wirklich, sondern nur durch das Kunstwerk behauptet. Daher wird der Sinn selbst zum Schein, ohne dass der Schein dadurch den Sinn schon vollständig bestimmen würde. Der Sinn bewerkstelligt zwar den Schein, geht deswegen aber nicht vollständig in ihm auf. Der Sinn ist nicht nur eine scheinhafte Behauptung des Kunstwerks, sondern das, was verstehend fassbar ist. Mit dem Sinnvollwerden der Einzelmomente kehren diese erst etwas hervor, was mehr ist als ihre sinnliche Schicht, mehr ist als ihr Erscheinen. Deshalb spricht die Ästhetische Theorie nicht nur vom Schein, sondern auch vom Wesen, das der Sinn hervorkehrt: «Denn der Sinn eines Kunstwerks ist zugleich das im Faktischen sich versteckende Wesen; er zitiert zu Erscheinung, was diese sonst 439
440 441
Der Rätselcharakter verwies auf die Unverständlichkeit des Was und Wozu des Kunst‐ werks. Dagegen spricht Adorno von einer Trauer um den Sinn, der nicht wirklich, sondern nur ein scheinbarer Sinn ist: «Daß diesem, wann immer er im Kunstwerk sich manifestiert, Schein gesellt bleibt, verleiht aller Kunst ihre Trauer; sie schmerzt, desto mehr, je vollkommener der geglückte Zusammenhang Sinn suggeriert; gestärkt ist die Trauer vom O wäre es doch.» (Ibidem, S. 161.) Ibidem, S. 161. Ibidem, S. 161.
164
4 Rezeption
versperrt.»442 Darin liegt für Adorno überhaupt der Zweck, die «Momente be‐ ziehungsvoll sprechend zu gruppieren».443 Der Sinnzusammenhang als «Träger des geistigen Moments am Kunstwerk», so heisst es in der Ästhetik-Vorlesung von 1958/59, ist so «zunächst das Verborgene […], das nicht Unmittelbare», das erst durch das Ganze hindurch die unmittelbare, sinnliche Schicht zu einem Sinnvollen vermittelt.444 Das Mehr als Sinn meint also das durch den Zusammenhang der Werke Sinnvollwerden der Einzelmomente und der damit einhergehenden Integration zur Einheit. Die Einzelmomente übersteigen sich, weil sie im inneren Zusam‐ menhang als etwas verständlich werden, was mehr ist als ihre bloss sinnliche Erscheinung. Sinn haben, sinnvoll sein, sagt in diesem Zusammenhang, dass die Einzelmomente im Kunstwerk als etwas Verständliches begreifbar sind. Zugleich bleibt aber ihr Sinn ein ästhetischer, denn auch er hat seine Wirklich‐ keit nur im Kunstwerk. Der ästhetische Sinn ist daher nur vom ästhetischen Verstehen fassbar. Die ästhetische Transzendenz, das Mehr, ist daher nicht nur der Sinn. Er enthüllt nicht nur das «im Faktischen sich versteckende Wesen» an den Erscheinungen, sondern setzt sich zugleich auch selbst als Schein. Das Mehr ist als Sinn kein wirkliches, sondern ein Nichtseiendes, das erscheint. Daher ist das Mehr der Kunstwerke nicht nur als Sinn, sondern auch als Schein zu betrachten. III. Schein In jener Passage der Ästhetischen Theorie, in der Adorno vom Sinn als Schein spricht, wird vom Schein noch in einer weiteren Weise gesprochen. Der Schein versteht sich nicht nur als den Schein des Sinns, sondern darüber hinaus auch als den Schein der ästhetischen Einheit. Dass auch die ästhetische Einheit ein Schein sei, meint dann, dass das Kunstwerk nur eine scheinbare Einheit ist. Durch seine ästhetische Einheit hebt sich das Kunstwerk vermöge seiner autonomen Durchbildung von der empirischen Realität ab. Es setzt sich als Sinnzusammenhang, als sinnvolle Einheit in den Gegensatz zur empirischen Realität. Das Kunstwerk erscheint aber lediglich als eine sinnvolle Einheit, die sich von der empirischen Realität abhebt. So wird auch das Kunstwerk als ein sinnvolles Ganzes nur als wirklich behauptet, ohne es doch zu sein. Damit ist aber nicht nur gemeint, dass das Kunstwerk in der Abhebung von der empirischen Realität für diese keine Wirklichkeit hat und daher als Schein zu 442 443 444
Ibidem, S. 161. Ibidem, S. 161. Adorno, ÄVL, S. 184.
4.3 Ästhetische Transzendenz
165
verstehen ist. Der Schein der ästhetischen Einheit ist dem Kunstwerk vielmehr immanent. Das Kunstwerk muss, um überhaupt Kunstwerk zu sein, sich der totalisierenden Tendenz des gesellschaftlichen Funktionszusammenhangs ent‐ ziehen, in welchem alles zu einem Füranderessein integriert wird. Dies kann das Kunstwerk aber nur, insofern es sich als ein Ansichsein dem Füranderessein des gesellschaftlichen Funktionszusammenhangs entgegenstellt. Ein Gemachtes kann aber kein Ansichsein sein.445 Das Kunstwerk ist aber stets ein Gemachtes und so ist auch seine Einheit eine gemachte.446 Im Doppelcharakter wurde dieser Umstand bereits mit dem Begriff des fait social beschrieben. Die Autonomie der Kunstwerke hat sich dort nur als die Widerständigkeit gegen die eigene Gesell‐ schaftlichkeit gezeigt. Die Kunstwerke müssen ihre Autonomie, und damit ihr Ansichsein, erst gegen die gesellschaftliche Heteronomie behaupten. Deshalb ist auch erst der innere Zusammenhang, der sich als ein Sinnzusammenhang erweist, die Einheit des Kunstwerks, durch die es sich von der empirischen Realität abzuheben vermag. Die Integration des Sinnzusammenhangs zu einer Einheit, die sich als ein Ansichsein ausgibt, wird damit durch ihr Gesetzt-Sein stets unterlaufen.447 Das Kunstwerk arbeitet deshalb gegen sich: «Sinnzusam‐ menhang, Einheit wird von den Kunstwerken veranstaltet, weil sie nicht ist, und als veranstaltete das Ansichsein negiert, um dessentwillen die Veranstaltung unternommen wird […].»448 Deshalb ist für Adorno die ästhetische Einheit nur Schein. Ist die ästhetische Einheit selbst nur Schein, so ist auch das Wesen, von dem es zuvor hiess, dass der Sinn es zur Erscheinung zitiere, betroffen. Denn so wird das Wesen, das der Sinn zur Erscheinung bringt, von der Kunst selbst zum «Unwesen verklagt».449 Der Schein ereilt auch noch sein Gegenstück, das Wesen. So erscheint im Schein dann auch nicht mehr das Wesen, dem es nach
445
446 447 448 449
«Als organisiertes ähnelt es, ganz wortgerecht, dem Organismus in der Funktion von Ganzem und Teil. Durch die fortschreitende Ähnlichkeit mit Lebendigem entfernt es sich aber vom Artefakt, das es doch bleibt. Das virtuell gänzlich Durchgestaltete, darin jeder Zug dem Ganzen dient und das Ganze als Inbegriff der Züge sich konstituiert, läßt als sein Ideal durchscheinen, was als Kunstwerk nicht sein kann, ein sich selbst Erhal‐ tendes, Ansichseiendes: immer mehr wird es zum Schein dessen, was sein apriorischer Scheincharakter ihm zu werden nie gestattet. Je vollkommener es ein Gemachtes ist, desto weniger präsentiert es sich als solches.» (Theodor W. Adorno, Vers une musique informelle (= GS 16), Frankfurt am Main 2003, S. 525f.) Vgl. Adorno, ÄT, S. 160f.; hierzu auch Thomas Huhn, Adorno’s Aesthetics of Illusion. Vgl. Adorno, ÄT, S. 164f. Ibidem, S. 162. Ibidem, S. 161.
166
4 Rezeption
dem berühmten Satz Hegels, wesentlich sei zu scheinen und erscheinen.450 Was nun im Schein scheint und erscheint ist nicht mehr ein Verborgenes, dem der Schein erst seine Wirklichkeit geben würde, sondern selbst ein Scheinhaftes. Demnach verwickelt sich in der Ästhetischen Theorie das Kunstwerk in den Schein, der selbst nicht mehr der Schein eines Wesens ist, sondern der eines Scheinhaften. Der Sinnzusammenhang, als «Organon des Scheins»451 integriert nicht nur die Einzelmomente zu scheinbar sinnvollen, sondern wird in seiner Einheit selbst zum Schein: «Einheit ist Schein, so wie der Schein der Kunstwerke durch ihre Einheit konstituiert wird.»452 Der Schein bewerkstelligt sich selbst. Der Schein stellt aber in der Negation des Wesens zumindest dessen Möglichkeit vor. Wenn auch das, was erscheint, selbst nicht das versteckte Wesen ist, so bringt es in seinem Erscheinen dennoch seine Möglichkeit hervor. Indem es erscheint, wird auch seine Möglichkeit mitgesetzt, dass es sein könnte. Der Schein der Kunstwerke meint also den Schein des ästhetischen Sinns, sowie den Schein der ästhetischen Einheit, die so ineinander sind, dass sie nun die Möglichkeit eines «nicht gegenwärtigen Wesens»453 vorstellen. In der immanenten Bestimmung des Scheins der ästhetischen Einheit wird aber auch der äussere Bezug der ästhetischen Einheit ein anderer. Die Durchbil‐ dung des Kunstwerks als Autonomes, dessen Autonomie gerade darin bestand, sich von der empirischen Realität abzuheben, wies sich als ein Sinnzusammen‐ hang aus. Der Schein bezieht sich daher auch auf die äussere Beziehung der Kunstwerke, auf ihren Nicht-Ort innerhalb des gesellschaftlichen Funktions‐ zusammenhangs. Darin wurde bereits eingesehen, dass das Kunstwerk als Sinnzusammenhang ausserhalb seines Vollzugs keine Wirklichkeit hat. Deshalb vermochte das ausserästhetische Verstehen seinen Sinn auch nicht mehr zu fassen. Die Negation des Verstehens und des Sinns wurde dabei von Adorno bereits mit den Titeln des Rätselcharakters des Unverständlichen und der Trauer um den Sinn versehen. Die Kunstwerke sind deshalb aber nicht einfach nichts, ein in der Luft hängender Scheinzusammenhang, noch gehen sie einfach in die Empirie über. Als gemachte Gebilde haben sie ein Sein, auch wenn sie sich durch ihre Autonomie aus der empirischen Realität herausnehmen. Ihr Sein steht aber zwischen dem Ansichsein – was das Kunstwerk sein will, aber als Gemachtes nicht sein kann – und dem Füranderessein, gegen
450 451 452 453
Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, op. cit., S. 21. Zum Verhältnis von Erscheinen des Wesens in der Kunst und Hegels Bestimmung des Wesens als Reflexion, siehe Gunnar Hindrichs, ‹Der Schein ist dem Wesen wesentlich›, Freiburg/München 2014. Adorno, ÄT, S. 161. Ibidem, S. 455. Ibidem, S. 161.
4.3 Ästhetische Transzendenz
167
das es seine Durchbildung zu stellen hat. Das Kunstwerk stellt sich in der Entwindung aus dem gesellschaftlichen Funktionszusammenhang in dessen Gegensatz. Mit seinem immanenten Anspruch ein Ansichsein zu sein steht es im Widerspruch mit der Vermittlung zu einem Füranderessein im Funktionszu‐ sammenhang. In ihm kommt das Kunstwerk aber dennoch, wenn auch nur als dessen Negation, vor. Das Kunstwerk stellt daher ein Daseiendes und Sinnvolles vor, das es aber nur als Schein ist. Als solches Daseiendes und Sinnvolles ist es nur als Nicht-Ort im gesellschaftlichen Funktionszusammenhang, eben als dessen Negation, indem sich das Kunstwerk als ein eigener Sinnzusammenhang ihm entgegenstellt. Daher ist der Schein der Kunstwerke der Schein eines Nichtseienden. Entwindet sich das Kunstwerk so den Tausch- und Verwertungs‐ zusammenhängen der Gesellschaft, muss es in derselben Bewegung aber noch ihren immanenten Widerspruch aushalten, den das Kunstwerk durch seinen ästhetischen Schein austrägt. Die Kunstwerke bringen also ein Nichtseiendes zur Erscheinung: Sie kehren das Unwirkliche ihrer Wirklichkeit hervor.454 Daher behauptet Adorno auch, dass ein jedes Kunstwerk ein Oxymoron sei, denn seine Wirklichkeit ist dem Kunstwerk genauso unwirklich. Die Verwicklung in den Schein, in die das Kunstwerk geraten ist, bringt dessen Widerstreit seiner Wirklichkeit und Unwirklichkeit hervor: «Tatsächlich ist jedes Kunstwerk ein Oxymoron. Seine eigene Wirklichkeit ist ihm unwirklich, gleichgültig gegen das, was es wesentlich ist, und gleichwohl seine notwendige Bedingung; unwirklich ist es erst recht in der Wirklichkeit, Schimäre. […] Wirklichkeit und Unwirklichkeit der Kunstwerke überlagern sich nicht wie Schichten sondern durchdringen gleichermaßen alles an ihnen. Nur soweit ist das Kunstwerk wirklich als Kunstwerk, genügt sich selbst, wie es unwirklich ist, unterschieden von der Empirie, deren Stück es doch auch bleibt.»455
Dabei überlagern sich die Schichten nicht, wie es schon zuvor für den Sinn nicht der Fall war, sondern sind ebenso durcheinander vermittelt. Das Mehr, die weitere Schicht, ist auch als ästhetischer Schein nur durch die sinnliche Schicht und dessen spezifischen Zusammenhang, in den das Kunstwerk die Einzelelemente bringt, vermittelt. Jedes Einzelmoment im Kunstwerk ist daher selbst von der Wirklichkeit und der Unwirklichkeit des Kunstwerks durchzogen. Jedes Einzelmoment hat im Kunstwerk seine Wirklichkeit in der Unwirklichkeit des Scheins. Das Kunstwerk gründet deshalb seine eigene Wirklichkeit in
454 455
Vgl. ibidem, S. 123. Ibidem, S. 414; vgl. auch ibidem, S. 123.
168
4 Rezeption
seiner Unwirklichkeit. So bezieht das Kunstwerk durch den ästhetischen Schein Stellung gegen die empirische Realität. Als Schein negiert das Kunstwerk die empirische Realität und setzt ihr zugleich eine Wirklichkeit eigener Art entgegen: «Kunst vollzieht den Einspruch gegen die Realität durch ihre Objek‐ tivation.»456 Wir wissen aber, dass Adorno das Kunstwerk wesentlich als ein Werden versteht, als ein Prozesshaftes, das die Rezipientin mitzuvollziehen hat. Erst im sinnvollen Werden, im Vermittlungsprozess von Einzelmoment und Ganzem wird das Kunstwerk zum Kunstwerk. Die Lebendigkeit des Kunstwerks, die im rezipierenden Mitvollzug vom Objekt her kommt, ist ebenso nicht vom Schein ausgenommen. Auch der lebendige Prozess des Kunstwerks, sein Werden, ist ästhetischer Schein. Indem die Kunstwerke als Gemachte ihren Prozess zugleich objektivieren, fixieren sie den Prozess der Kunstwerke und negieren darin auch das Werden der Werke. Das Werden wird zu einem Als-ob, zu einem Schein herabgesetzt. Darin sind die Kunstwerke also in einem weiteren Sinn scheinhaft, nämlich in ihrem Prozesscharakter: «Indem ein Text, ein Gemälde, eine Musik fixiert wird, ist das Gebilde tatsächlich vorhanden und täuscht das Werden, das es einschließt, seinen Gehalt, bloß vor; noch die äußersten Spannungen eines Verlaufs in ästhetischer Zeit sind soweit fiktiv, wie sie in dem Gebilde ein für allemal vorentschieden sind […].»457
Durch die Objektivation der Kunstwerke wird der Prozesscharakter nur zu einem scheinbaren, denn auch das Werden der Kunstwerke wird nur vom Kunstwerk behauptet. Adorno begreift den ästhetischen Schein also in der Weise, dass in ihm etwas zum Vorschein kommt, vom dem das Kunstwerk zugleich seine Wirklichkeit behauptet. Der Schein ist aber ein Unwirkliches. Deshalb behauptet sich im Schein die Wirklichkeit eines Unwirklichen, indem es zur Erscheinung kommt.458 Ist das Kunstwerk nun in den Schein verwickelt, so hat das Kunstwerk daher seine Wirklichkeit in einem Unwirklichen. Seine Verwicklung hat mit dem Sinn angehoben. Der ästhetische Schein meinte zunächst den Schein des ästhetischen Sinns. Dieser stellte sich als Schein dar, da er nur vom Kunstwerk behauptet wurde. Deshalb meint der ästhetische Schein darüber hinaus auch den Schein der ästhetischen Einheit, denn die ästhetische Einheit wurde nur durch den ästhetischen Sinn bewerkstelligt, der sich selbst als Schein herausgestellt hat. Und zuletzt ist auch das Werden der 456 457 458
Vgl. ibidem, S. 414. Ibidem, S. 163; vgl. auch ibidem, S. 414. Erhellend zum Begriff des ästhetischen Scheins und seiner begrifflichen Mehrdeutig‐ keit, siehe Josef Früchtl, Schein (= Studienausgabe 5), Stuttgart 2010.
4.3 Ästhetische Transzendenz
169
Kunstwerke vom Schein bestimmt, denn in der Objektivation der Kunstwerke ist schon alles vorentschieden und das Werden der Werke nur behauptet. Der ästhetische Schein macht so auch noch den Schein des ästhetischen Werdens der Kunstwerke aus. Auf allen drei Ebenen des Scheins – dem Schein des Sinns, dem Schein der Einheit und dem Schein des Werdens –, die das Kunstwerk durchziehen, erweist er sich als für das Kunstwerk konstitutiv. Das Mehr der Kunstwerke, das den Kunstwerken notwendig zukommt, damit sie sich als Kunstwerke zu behaupten vermögen, zeigt sich als die Verwicklung in den Schein. Dass das Mehr ein Schein ist, heisst dann, dass sich das Kunstwerk darin transzendiert, dass es ein Nichtseiendes zur Erscheinung bringt: «In jedem genuinen Kunstwerk erscheint etwas, was es nicht gibt.»459 IV. Krise des Sinns, Krise des Scheins In der geschichtlichen Situation der Kunst, welche die Ästhetische Theorie versucht auszumessen, geraten der ästhetische Sinn sowie der ästhetische Schein ins Wanken. Die dreifache Rechtfertigungskrise der Kunst zieht auch den ästhetischen Sinn und den ästhetischen Schein in die Krise. Mit der Autonomie hob sich das Kunstwerk als ein sinnvolles vom gesellschaftlichen Funktionszu‐ sammenhang ab. Damit wurde es aber zur Aufgabe des Kunstwerks, sich selbst um seinen Sinn zu kümmern. Mit diesem Problem sah sich bereits die Künstlerin konfrontiert. Ihr war es aufgegeben, das Kunstwerk zur Artikulation zu bringen, ohne dem Werk äusserlich eine Intention oder Idee einzulegen. Dabei trat die Künstlerin in der künstlerischen Tätigkeit in eine aktive Rücknahme, in welcher sie die gesellschaftlich und geschichtlich vermittelte Tendenz des Materials in ein Kunstwerk überführt. In der geschichtlichen Lage der Moderne versteht die Ästhetische Theorie das künstlerische Material aber als ein entqualifiziertes Material. Die gesellschaftliche und geschichtliche Tendenz des künstlerischen Materials, so hat sich gezeigt, ist seine Tendenzlosigkeit. Das künstlerische Material bietet sich daher der Künstlerin als Naturmaterial an. Deshalb blieb der Kunstproduktion nur übrig, entweder die Autonomie aufzugeben oder aber gar nicht erst mit der Kunstproduktion beginnen zu können. Die Krise des Sinns bestimmt sich in diesem Dilemma: «Das heißt, es [das Material, W.A.] gibt von sich aus keinen Sinn mehr her, und der Künstler vermag andererseits einen Sinn, etwas positiv Sinnhaftes, von sich aus auch nicht ihm einzuhauchen.»460
459 460
Adorno, ÄT, S. 127. Adorno, ÄVL, S. 117.
170
4 Rezeption
Es ist daher wenig verwunderlich, dass Adorno in der Ästhetischen Theorie den Sinn und den Schein wesentlich im Modus der Krise bespricht.461 Mit der Entqualifizierung des Materials wird auch dem Sinn und damit dem Schein der Boden entzogen. Ist es die Aufgabe des Materials, dem Sinnzusammenhang die Impulse zu geben, indem aus dessen Tendenz heraus der Fortgang der Einzelmomente zu einem Sinnzusammenhang zu entwickeln wäre, so fehlen diese Impulse dem Kunstwerk in der Moderne. Dem Sinnzusammenhang fällt es daher immer schwerer, sich zu einer sinnvollen Einheit zusammenzufügen. Die Krise des Sinns und des Scheins ist deshalb durch das Autonom-Werden der Kunst und durch die Emanzipation des konstitutiven Subjekts bedingt. Wie wir gesehen haben, verkommt die Natur im Zuge der Aufklärung, so Adorno, zunehmend zu einem unqualifizierten Material, dem das Subjekt als ordnender Geist gegenübersteht und es erst in seine Ordnung bringt. Durch den Rationalisierungsprozess der Aufklärung wird das konstitutive Subjekt zur sinngebenden Instanz, das unqualifizierte Material zu seinem Substrat. Die Krise des Sinns wird daher durch die Krise des ausserästhetischen Sinns motiviert. Zwar wird der Sinn der Kunstwerke durch ihre autonome Durchbildung erst hergestellt, er steht aber durch das künstlerische Material als sedimentierter Geist zugleich auch mit dem ausserästhetischen Sinn in Korre‐ spondenz. Das künstlerische Material, das in den Produktionsbedingungen der Kunstwerke sich am Ende als ein zum tendenzlosen Naturmaterial Vermitteltes auswies, reicht so in die Rezeption hinein. Die Tendenz der Tendenzlosigkeit zieht noch die ästhetische Transzendenz mit in die Krise. Die Krise des ausser‐ ästhetischen Sinns trägt über das künstlerische Material seine Konsequenz bis ins Kunstwerk hinein.462 Mit der Aushöhlung des ästhetischen Sinns wendet sich das Kunstwerk auch gegen seinen immanenten Sinn. Die Wendung gegen seinen eigenen Sinn schreibt sich als die Krise des Sinns in die Kunstwerke ein. In «[k]ritische[r] Selbstreflexion», so schreibt Adorno in der Ästhetischen Theorie, geht das Kunstwerk gegen «all die Momente in ihm, die herkömmlich Sinn bekräftigen; damit aber auch gegen den immanenten Sinn der Werke und ihre sinnstiftenden Kategorien.»463 Der Sinn, den die Kunstwerke bewerkstelligen, ist eben gerade
461
462 463
In einer Randnotiz vermerkte Adorno zwar die Wichtigkeit des Sinnbegriffs in der Ästhetischen Theorie. Es ist jedoch auffällig, dass Adorno hauptsächlich über den Sinn in seiner Krise schreibt. (Vgl. Adorno, Schein – Form – Subjekt – Prozeßcharakter – Kunstwerk. Textkritische Edition der letzten bekannten Überarbeitung des III. Kapitels der ‹Kapitel-Ästhetik› (= Band 1, Ts17893–18084), Berlin/Boston 2021, Ts17935.) Vgl. Adorno, ÄT, S. 229; S. 505ff.; Adorno, Metaphysik (1965), op. cit., S. 170ff. Adorno, ÄT, S. 229.
4.3 Ästhetische Transzendenz
171
durch das Material hindurch motiviert und daher nicht alleine vom Kunstwerk bestimmt. In der Produktion von Sinn reproduziert das Kunstwerk daher auch immer einen Sinn. Die Wendung gegen den Sinn geht mit einer Wendung gegen jeglichen Sinn im Kunstwerk einher: «Indem die Kunstwerke unerbittlicher stets den sinnstiftenden Zusammenhang abklopfen, wenden sie sich gegen diesen und gegen Sinn überhaupt.»464 Adorno versteht die Sinnkrise der Kunst also in der Skepsis gegenüber jeglichem Sinn. Es gibt keinen Sinn, der dem Kunstwerk nicht vorweg schon verdächtig wäre. In der Ästhetik-Vorlesung von 1958/59 verdeutlicht Adorno dies. Mit der Krise des Sinns kommt es zur Verkehrung derjenigen Frage, mit der sich ein jedes Kunstwerk konfrontiert sieht. Diese war früher die Frage nach dem, «wie ein Sinn in Kunst sich realisieren kann».465 Kommt der Sinn aber in die Krise, so muss sich auch die Frage, mit der es die Kunst zu tun hat, verändern. «Im Gegensatz dazu heißt es heute: Wie kann ein reines Material, wie können reine Materialvorgänge wiederum sinnvoll werden?»466 Die Frage hat sich also von der Frage nach dem Wie der sinnvollen Gestaltung des Kunstwerks zur Frage nach dem Was ihres sinnvollen Gehaltes gewandelt. Die Kunst kann nicht mehr von einem irgendwie schon gegebenen Sinn ausgehen und sich nur noch um dessen künstlerische Gestaltung kümmern, sondern muss sich in der künstlerischen Gestaltung selbst um ihren Sinn bemühen. Das Problem, mit dem es das Kunstwerk zu tun hat, seine Einzelmomente sinnhaft in einen Zusammenhang zu setzen, bringt die Kunstwerke zur Absage an den Sinn.467 Das Kunstwerk kann aber nicht einfach auf seinen Sinn ver‐ zichten. Ohne Sinn, ohne sein Mehr, kann sich ein Kunstwerk nicht von der empirischen Realität abheben und wäre dann gar kein Kunstwerk mehr. Das Kunstwerk kann in der Krise seines Sinns nicht einfach aus der Not heraus irgendeinen Sinn behaupten. Dieser Weg bleibt dem Kunstwerk verwehrt, sofern es seine Autonomie nicht aufgeben will. Es bleibt dem Kunstwerk aber immer noch die Negation des Sinns zur Artikulation zu bringen. Dann wäre weder die Autonomie des Kunstwerks verfehlt noch würde es das Material stumm zurücklassen. Für Adorno liegt hier die eigentliche Wendung, durch die das moderne Kunstwerk sich in der Krise des Sinns zu erhalten vermag.
464 465 466 467
Ibidem, S. 229. Adorno, ÄVL, S. 117. Ibidem, S. 118. Dies ist auch die Frage, die nach Adorno die Zwölftontechnik an die Komponistin stellt. (Vgl. Adorno, PM, S. 67f.) Vgl. Adorno, ÄT, S. 229f.
172
4 Rezeption
So schliesst sich das «konsequent Sinn negierende Werk»468 gerade durch die Negation des Sinns zu einem Sinnzusammenhang zusammen: «Die Schwelle aber zwischen authentischer Kunst, welche die Krise des Sinns auf sich nimmt, und einer resignativen, aus Protokollsätzen im wörtlichen und übertragenen Verstande bestehenden ist, daß in bedeutenden Werken die Negation des Sinns als Negatives sich gestaltet, in den anderen stur, positiv sich abbildet. Alles hängt daran, ob der Negation des Sinns im Kunstwerk Sinn innewohnt oder ob sie der Gegebenheit sich anpaßt; ob die Krise des Sinns im Gebilde reflektiert ist, oder ob sie unmittelbar und darum subjektfremd bleibt.»469
Die Krise des Sinns auf sich zu nehmen bedeutet für das Kunstwerk also, dass es die Negation des Sinns, die das Kunstwerk vom Material her auferlegt bekommt, so in einen Zusammenhang zu bringen vermag, dass die Negation des Sinns zum Sinn des Kunstwerks sich gestaltet. Das Kunstwerk muss zugleich den ästhetischen Sinn negieren wie hervorbringen. Genau in dieser Weise sieht Adorno Becketts absurde Stücke als Verhandlungen über Sinn, in welchen der Sinn selbst in einer bestimmten Negation über sich hinaustreibt.470 In Becketts Werken wird die Sinnlosigkeit im Werk durch den Sinnzusammenhang: «Wie sein Werk beherrscht wird von der Obsession eines positiven Nichts, so auch von einer gewordenen und dadurch gleichsam verdienten Sinnlosigkeit, ohne daß darum doch diese als positiver Sinn reklamiert werden dürfte.»471
Adorno hebt diesen Umschlag des Sinns ins Sinnlose bereits in seinem Versuch über Becketts Endspiel hervor. In der Deutung des Endspiels ging es Adorno gerade darum, die Unverständlichkeit, mit der das Werk die Rezipientin her‐ ausfordert, zu verstehen. Den Sinn des Endspiels verstehen heisst, in ihm dann «konkret den Sinnzusammenhang dessen nach[zu]konstruieren, daß es keinen hat.»472 Die Negation des Sinns als Sinn der Kunstwerke zu begreifen ist also nicht mit der Abwesenheit von jeglichem Sinn gleichzusetzen. Gäbe es keinen Sinn, so gäbe es auch nichts zu verstehen. Wird die Negation des Sinns aber selbst im Kunstwerk zu seinem Sinn, dann lässt sich die Abwesenheit von Sinn auch verstehend fassen. Deshalb lässt sich ein Sinnzusammenhang nach‐ konstruieren, auch wenn dieser nichts anderes als die Negation von jeglichem
468 469 470 471 472
Ibidem, S. 231. Ibidem, S. 231. Vgl. ibidem, S. 230; ebenso Theodor W. Adorno, Versuch, das Endspiel zu verstehen (= GS 11), Frankfurt am Main 2003, S. 320. Adorno, ÄT, S. 230. Adorno, Versuch, das Endspiel zu verstehen, op. cit., S. 283.
4.3 Ästhetische Transzendenz
173
Sinn offenbart.473 Der Sinnzusammenhang bewahrt deshalb in bestimmter Ne‐ gation auch noch die Kategorie des Sinns. Der Sinn, den der Sinnzusammenhang in der Krise des Sinns bewerkstelligt, ist dann aber nichts anderes als seine Negation – «daß kein Sinn sei».474 Mit der Krise des Sinns werden die Kunstwerke auch in die Krise des Scheins getrieben.475 Der Sinnzusammenhang, der das Kunstwerk zur Einheit zusam‐ menschliesst, hat nun als seinen Sinn, dass kein Sinn sei. Die Kunstwerke haben deshalb ihre Einheit aus der Negation des Sinns herzustellen. Damit verschärft sich aber auch der innere Widerspruch der Kunstwerke, sowohl ein Ansichsein sein zu wollen, zugleich aber auch ein Gemachtes zu sein. Dem Kunstwerk geht es in der Wandlung der Frage, wie denn reine Materialvorgänge sinnvoll werden können, umso mehr um die Bewerkstelligung von Sinn und dessen Zusammenhang, als es diesen bereits vom Material her entfalten könnte. Das Kunstwerk muss deshalb umso mehr seine Einzelmomente durcheinander ver‐ mitteln, denn für sich alleine sind sie völlig unbestimmt. Dies bezeichnet Adorno als die Gravitation zum Amorphen.476 Denn nimmt man die Einzelmomente des Kunstwerks genauer in den Blick, so zerfliessen sie ins unbestimmte: «Wähnt man die Details der Kunstwerke unmittelbar in Händen zu halten, so zerrinnen sie ins Unbestimmte und Ununterschiedene: so sehr sind sie vermittelt.»477 Für Albrecht Wellmer zeigt sich dieser Zusammenhang der Negation des Sinns und seiner Verwicklung mit dem ästhetischen Schein überhaupt als die Aufgabe des modernen Kunstwerks: «Das moderne Kunstwerk muß in ein und derselben Bewegung ästhetischen Sinn hervorbringen wie ihn negieren; es muß die Negation des Sinns als Sinn artikulieren, gleichsam auf dem hauchdünnen Grat zwischen affirmativem Schein und scheinloser Antikunst balancieren.»478 Was Wellmer hier als Balanceakt beschreibt, meint gerade die Notwendigkeit des Kunstwerks, sich zu einem Sinnzusammenhang durchzubilden, zugleich aber als Schein mit sich selbst im Widerspruch zu stehen. Einerseits muss das
473
474 475 476 477 478
Daher scheinen Hans Heinz Holz und Hellmut Federhofer in ihrer Kritik am eigentli‐ chen Punkt vorbeizugehen, dass aus der Negativität keinen Sinn mehr zu gewinne wäre. Siehe Hans Heinz Holz, Das theologische Geheimnis der ästhetischen Theorie Th. W. Adornos, S. 869; Hellmut Federhofer, Das negative Kunstwerk in der Musikphilosophie Adornos, S. 258ff. Adorno, ÄT, S. 235. Zu einer gesellschaftsgeschichtlichen Herleitung der Krise des Scheins vgl. Hartmut Scheible, Wahrheit und Subjekt. Ästhetik im bürgerlichen Zeitalter, Bern/München 1984, S. 474ff. Adorno, ÄT, S. 155. Ibidem, S. 155. Wellmer, Wahrheit, Schein, Versöhnung, op. cit., S. 18.
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4 Rezeption
Kunstwerk am Sinn festhalten, denn seine Einheit, und damit seine Autonomie, hängt vom Sinn ab; anderseits lehnt sich das Kunstwerk gegen seinen Schein auf, denn mit der Organisation, durch die der Schein bewerkstelligt wird, steigt auch seine Gravitation ins Amorphe. Davon rührt «[d]ie Empfindlichkeit gegen Schein», denn «[j]edes Moment ästhetischen Scheins führt heute ästhetische Unstimmigkeit mit sich, Widersprüche zwischen dem, als was das Kunstwerk auftritt, und dem, was es ist.»479 Die «Rebellion gegen den Schein», angetrieben vom schlechten Gewissen seiner «Hybris, mehr zu sein als Kunst», droht daher wieder in «bloße Dinghaftigkeit zurückzufallen», in scheinlose Antikunst.480 Die Kunst entgeht der Krise des Scheins daher auch nicht, indem sie sich des Scheins entledigt, so wenig wie die Krise des Sinns in der Absage an jeglichen Sinn überwunden wird. Die Krise lässt sich weder wegleugnen, so als wäre nach der alten Frage zu verfahren, wie denn ein vermeintlich schon Sinnvolles sich im Kunstwerk verwirklichen kann, noch indem auf Sinn und Schein gänzlich verzichtet wird. Im ersten Fall hätte man dem Kunstwerk Anachronismus vorzuwerfen, im zweiten Fall wäre es gar kein Kunstwerk mehr.481 Aus der Krise kann sich das Kunstwerk nur dann entwinden, wenn es durch die Krise hindurch geht. Was die Krise des Scheins beschreibt, ist also nicht nur der Umstand, dass das Kunstwerk durch den inneren Widerspruch von Ansichsein und Gemachtsein bestimmt ist, sondern dass es damit in Versuchung kommt, diesen Widerspruch zu überlisten.482 Er lässt sich aber nicht überlisten, ohne dass das Kunstwerk sich zugleich auch aufgeben würde, denn das Kunstwerk ist an seinen Schein gebunden. Ohne ästhetische Transzendenz, ohne das Mehr, das der Schein auch immer ist, verfällt das Kunstwerk zurück in die Empirie, wird zu einem Ding unter Dingen. Ohne seinen Überstieg, ohne das, was mehr ist als das Kunstwerk, zerfällt es wieder. Sein ganzes Sein hängt von seiner Transzendenz ab. Um nun den Durchgang durch die Krise des Scheins genauer zu bestimmen, gilt es noch eine weitere Figur des Mehrs der Kunstwerke einzuführen. Die ästhetische Transzendenz ist neben dem Sinn und dem Schein noch als der Geist der Kunstwerke zu verstehen. Mit ihm zeigt Adorno eine weitere Krise an, die als die Dissoziation des Geistes bezeichnet werden kann.
479 480 481 482
Adorno, ÄT, S. 156. Ibidem, S. 157f. Vgl. ibidem, S. 158f. Vgl. Huhn, Adorno’s Aesthetics of Illusion, op. cit., S. 182.
4.3 Ästhetische Transzendenz
175
V. Spätstil und Dissoziation des Geistes In der Rede vom geistigen Gehalt haben wir bereits einen ersten begrifflichen Hinweis auf den Geist der Kunstwerke gemacht. Dieser geistige Gehalt der Kunstwerke, so haben wir dort festgehalten, bildet sich im Vermittlungsprozess der Einzelmomente und dem Ganzen als diejenige Schicht, die das ästhetische Verstehen zu fassen versucht. Der geistige Gehalt war damit der Ausgangspunkt für die Überlegungen zur ästhetischen Transzendenz. Der Geist des Kunstwerks hat deshalb seinen Ort in der Vermittlung von Einzelmoment und Ganzem. Mit ihm wird die im Kunstwerk vollzogene Ver‐ mittlung von sinnlichen und geistigen Momenten beschrieben. Was man als die Faktizität der Werke bezeichnen mag, nämlich, dass sie in Erscheinung treten, ist so in sich vermittelt, dass sie mehr als ihre Erscheinung ist, dass an der Faktizität ein nichtfaktisches aufgeht, zugleich aber in der Weise, dass sie sich nicht von der Erscheinung abzutrennen vermag. Damit unterscheidet sich der Geist nicht wesentlich vom Sinn und vom Schein. Auch sie haben ihren Ort in der Vermittlung der Einzelmomente, im Überstieg der Einzelmomente zu einem Mehr. Daher geht auch der Geist gerade nur am Sinnlichen auf, ist aber nicht mit ihm identisch.483 So hält Adorno in der Ästhetik-Vorlesung von 1958/59 fest: «Das heißt, daß es nichts Geistiges im Kunstwerk gibt, das nicht zugleich auch sinnlich wäre, und daß es nichts Sinnliches im Kunstwerk gibt, das nicht zugleich auch geistig wäre, ohne daß dabei aber nun das Geistige und das Sinnliche jemals einfach ineinander aufgingen.»484
Sind Sinnliches und Geistiges im Kunstwerk so miteinander vermittelt, dass das eine stets das andere ist, sie zugleich aber auch nicht einfach ineinander aufgehen, so ist der Geist eines Kunstwerks weder als über den sinnlichen Momenten schwebend sich vorzustellen noch als untergründiger Konstrukti‐ onsplan zu verstehen. Vielmehr ist nach Adorno der Geist im Kunstwerk versinnlicht, wie umgekehrt die Materialschicht vergeistigt ist. Was nun die Ästhetische Theorie als den Geist der Kunstwerke versteht, ist genau diese Ver‐ mittlung selbst: «Der Geist der Kunstwerke ist ihre immanente Vermittlung».485 Gemeint ist hier eine Vermittlung im, nach Adorno, «strengen Sinne», eine, die besagt, «daß ein jedes dieser Momente im Kunstwerk evident zu seinem eigenen Anderen wird.»486 Evident werden jegliche Momente im Kunstwerk zu
483 484 485 486
Vgl. Adorno, ÄT, S. 134. Adorno, ÄVL, S. 166. Adorno, ÄT, S. 134. Ibidem, S. 134.
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4 Rezeption
ihrem Anderen, da der Sinn eines jeden einzelnen Moments im Kunstwerk nur als Versinnlichtes seine Geltung erhält, wie umgekehrt die sinnlichen Momente nur durch den durch sie konstituierten Sinnzusammenhang ihre Berechtigung als integraler Teil des Kunstwerks erhalten. Zwar heisst es in der Ästhetischen Theorie, dass der Geist zum Konstruktionsprinzip der Kunstwerke wurde, dies ist aber genau in dem Sinne zu verstehen, dass sowohl Konstruktionsprinzip und Geist, oder der Geist als Konstruktionsprinzip, eben aus dem in der Konstruktion verarbeiteten Material erst hervorgeht. Werden meint hier ein Prozesshaftes.487 Und so ist der Geist der Werke nicht einfach ihr Konstruktionsprinzip, welches dem Werk vorausgeht, sondern der Geist der Werke entfaltet sich selbst erst im Prozess der Werke, so wie auch der Geist erst aus dem inneren Zusammenhang der Einzelmomente hervorgeht.488 Mit dieser Bestimmung des Geistes der Kunstwerke geht aber ein wesentli‐ cher Anspruch einher. Damit erhebt sich nämlich der Anspruch des gelungenen Kunstwerks als einer vollständigen und damit geglückten Vermittlung aller seiner disparaten Elemente zu einem Ganzen: Das gelungene Kunstwerk kann jenes genannt werden, welches sich als vollständig und stimmig organisierter Zusammenhang erweist, als Sinnzusammenhang, in dem jedes Einzelmoment sich vor dem Ganzen verständlich macht, seinen Sinn erhält, wie umgekehrt das Ganze ebenso nur durch die Einzelmomente sich zur Einheit zusammenschliesst. Der nach Adorno einzige kritikwürdige Begriff der Klassizität lässt sich genau als dieser Anspruch des immanenten Gelingens vollständiger Vermittlungsar‐ beit verstehen. In diesem Sinne heisst es in der Ästhetischen Theorie, nachdem Adorno mögliche andere Verständnisse des Begriffs der Klassizität verwirft: «Endlich heißt Klassizität soviel wie immanentes Gelingen, die gewaltlose wie immer auch zerbrechliche Versöhnung des Einen und des Mannigfaltigen. Sie hat nichts mit Stil und Gesinnung zu tun, alles mit dem Gelingen […].»489
Für Adorno steht an der Spitze dieser Forderung des gelungenen Kunstwerks beispielhaft der Beethoven der mittleren, der klassisch-heroischen Phase. Die Frage, die jegliche Musik betrifft, nämlich, wie denn ein Ganzes sein kann, «ohne daß dem Einzelnen Gewalt angetan wird»490, beantwortet Adorno in einer seiner Notizen zu Beethoven damit, dass sie im Gelingen bei Beethoven zu finden sei. Und so heisst es in der eben genannten Notiz: «Das Gelingen bei Beethoven besteht darin, daß bei ihm, und ihm allein, das Ganze niemals dem 487 488 489 490
Vgl. ibidem, S. 180. Vgl. ibidem, S. 274. Ibidem, S. 242f. Adorno, BPM, S. 62.
4.3 Ästhetische Transzendenz
177
Einzelnen äußerlich ist, sondern allein aus dessen Bewegung hervorgeht oder vielmehr diese Bewegung ist.»491 Adorno schreibt Beethoven also zu, dass in seiner klassischen mittleren Phase das Einzelne nicht in einem bereits vorgegebenen Ganzen seinen Ort, seine Funktion zugewiesen bekommt und in diesem Sinne zwischen ihnen vermittelt, sondern dass die Vermittlung, die Bewegung selbst erst aus der Bewegung des Einzelnen hervorgeht. Das Ganze, die konkrete Vermittlung, ist selbst ein Werden, es ist die Bewegung selbst. Dass ein jedes Einzelne seinen Sinn erhält, liegt im Ganzen, das Ganze aber ist nur das Werden durch das Einzelne hindurch und kann nicht im Voraus oder im Nachhinein behauptet werden. Diese Forderung erweist sich ebenso als der Massstab des Gelingens, den wir als die klassizistische Forderung nach einem vollständig und stimmig organisierten Zusammenhang und in dessen gewalt- und zwanglosen Vollzug eingesehen haben. Wäre es gerade der Anspruch des klassizistischen Kunstwerks, die geglückte vollständige Vermittlung von Einzelnem und Ganzem herzustellen, dann hiesse das so viel wie, dass die Materialvorgänge darin sinnvoll werden, dass sämtliche sinnlichen Momente im Sinnzusammenhang ihre Bestimmung finden. Das Kunstwerk wird dann durch seine Transzendenz von Sinn und Schein zum gelungenen Kunstwerk. Damit wäre die Forderung nach bruchloser und gewaltloser Einheit der Kunstwerke, von der zuvor die Rede war, einge‐ löst.492 Dieser Anspruch an das gelungene Kunstwerk wird aber durch den geschicht‐ lichen Stand untergraben. Mit der Entqualifizierung des Materials sind Sinn und Schein in die Krise gekommen. Adorno spricht daher auch von der «Nichtigkeit des Beginns»493, an dem der Anspruch des gelungenen Kunstwerks mit in die Krise kommt. Wird das gelungene Kunstwerk als geglückte Vermittlung all seiner Momente zur bruchlosen Einheit verstanden, indem all seine Momente integraler Bestandteil des Werkes werden, so verbirgt sich darin schon der Vorrang der Idee der Totalität, die Priorität des Ganzen.494 Die Entqualifizierung des Materials ist deshalb die Verwirklichung des klassizistischen Ideals, wie es dieses zugleich aufhebt. Die Lösung liegt gerade in der Entqualifizierung des Materials, indem das Einzelne zum Nichtigen gemacht wird, zu noch
491 492 493 494
Ibidem S. 49. Vgl. Adorno, ÄT, S. 219. Adorno, BPM, S. 26; ebenso Theodor W. Adorno, Über das gegenwärtige Verhältnis von Philosophie und Musik (= GS 18), Frankfurt am Main 2003, S. 156. Vgl. Theodor W. Adorno, Versuch über Wagner (= GS 13), Frankfurt am Main 2003, S. 49; Adorno, BPM, S. 46.
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4 Rezeption
unverarbeiteter Natur.495 Zugleich hat sich das Kunstwerk so aber auch in die Krise des Sinns und des Scheins verwickelt. Der Anspruch des gelungenen Kunstwerks wird also darin eingekauft, dass das Einzelne zwar den Anspruch erhebt, etwas zu sein, aber an sich gerade nur ein Nichtiges ist. Das Einzelne als Nichtiges realisiert erst durch das Ganze seinen Anspruch, ein Sinnvolles zu sein. Adorno bringt dies auf die Formel: «Das Ganze löst das falsche Versprechen des Einzelnen ein.»496 Wird jedes Einzel‐ moment nur im Ganzen zu dem was es ist, was sein falsches Versprechen heissen mag, ist es aber an sich eben ein zum Nichtigen entqualifiziertes Material, so lässt sich verständlich machen, wieso Adorno von den Werken als einem «Kontinuum des Nichts»497 spricht. Die Werke bilden also einen Zusammenhang von Nichtigem und geben darin den Schein vor, sich zu einem Seienden zu bestimmen.498 Erweist sich der Anspruch des klassizistischen Kunstwerks als Selbsttäu‐ schung, als «Trug im eigenen Prinzip»499, so wird der Anspruch an das ge‐ lungene Werk selbst fragwürdig. Er liess sich nur durch die Nichtigkeit des Einzelnen einkaufen. Die Fragwürdigkeit kommt im Vollzug selbst zu Tage, in dem ein Stil, eine Sprache, sich auskomponiert, sich ausformuliert und darin an die eigene Grenze stösst. Das klassizistische Kunstwerk stösst gerade darin an seine Grenze, da es den Anspruch einer aus sich selbst heraus erzeugenden Totalität einsieht und nicht mehr zu halten vermag. Darin besteht die Krise des Scheins. Seine vorgestellte Bruchlosigkeit kann nur erschlichen werden durch die Entqualifizierung des Materials. Für Adorno ist es dann gerade Beethoven, der bis an die Grenze seines eigenen Anspruchs vorgestossen ist und dieser sich ihm als nicht mehr tragbar zeigte. Seinem kritischen Genius ist die Vorstellung der Totalität, des Ganzen als ein Werden durch seine Momente hindurch, «als einer schon geleisteten unerträglich»500 geworden. Beethovens Werk hat das eigene Prinzip bis an sein Äusserstes durchgearbeitet. Darin aber liegt die Frage begründet, worauf der Spätstil die Antwort zu geben versucht. Der Spätstil stellt sich der Frage, wie es möglich ist, der nun eingesehenen Selbsttäuschung, dem Trug im eigenen Prinzip zu entkommen, ohne aber dabei sich dem Empirismus, der Kontingenz oder der Psychologie
495 496 497 498 499 500
Vgl. u. a. Adorno, BPM, S. 47. Ibidem, S. 46. Adorno, ÄT, S. 276. Vgl. ibidem, S. 276. Ibidem, S. 442. Adorno, BPM, S. 36.
4.3 Ästhetische Transzendenz
179
zu überlassen.501 Allgemeiner formuliert könnte die Frage nun lauten: Wie ist Klassizismus ohne Klassizismus, wie ist Gelingen ohne Gelingen möglich, und in letzter Konsequenz: Wie ist Kunst ohne Kunst möglich? Das, was sich in diesem Sinne als Spätstil bezeichnen lässt, ist die Wendung auf sein eigenes Prinzip, die Reflexion auf dessen Selbsttäuschung als Selbstkritik. Der Spätstil antwortet also darin auf die genannte Frage, indem er sich als kritischen Einspruch am Gelingen des Kunstwerks erweist. Darin liegt das Späte des Spätstils. Er folgt nicht einem neuen Prinzip, er ist nicht ein «anderer» Stil, sondern er ist das Letzte eines Stiles, er ist die kritische Geste in der sich ein Stil, ein Prinzip, selbst ausspricht. Diese kritische Wendung auf den Anspruch des Gelingens spricht damit in einem klassizistischen Verständnis den Spätwerken selbst ihren Werkcharakter ab, so wie es Adorno unter anderem anhand von Beethovens letzten Quartetten beschreibt.502 Denn in ihnen löst sich der klassizistische Anspruch des Gelingens nicht ein, vielmehr sind sie im Sinne eines Spätstils kritische Gesten gegen jenen Begriff des Gelingens. In ihrem Misslingen, in ihrem Nicht-mehr-Werk-Sein liegt aber gerade ihr Gelingen. Sie gelingen gerade darin, als sie die Möglichkeit des gelungenen klassizistischen Kunstwerks bis an seine Grenze bringen und darin sich seine eigene Unmöglichkeit artikuliert.503 Das Misslingen oder Schei‐ tern ist damit kein Unvermögen der Künstlerin, sondern liegt in der Konsequenz ihres eigenen Anspruchs begründet, sie liegt im Späten offen zu Tage. Das Späte der Kunst besteht also darin, ihre eigene Unmöglichkeit des Gelingens einzugestehen. Das Scheitern wird selbst zum Index des Gelingens. Ihr Ausdruck zeigt sich im brüchigen und fragmentarischen, indem es die Unmöglichkeit des Gelingens ausformuliert. Versteht sich der Geist, wie eingangs beschrieben, gerade als die Kraft des Zu‐ sammenhalts der disparaten Momente, als die Kraft, den sinnlichen Momenten ihren Sinn im Gesamtzusammenhang zu verleihen und in diesem selbst als Geist hervorzugehen, so könnte die These des brüchigen und fragmentarischen des Spätstils als ein Nachlassen eben jener synthetischen Kraft verstanden werden. In einem Rundfunkgespräch mit dem Literaturwissenschaftler Hans Mayer hält Adorno aber genau das Gegenteilige als Grundzug eines jeden Spätstils fest, den er mit Vergeistigung bezeichnet. Demnach zeichnet den Spätstil eine zunehmende Vergeistigung aus, die besagt, dass Sinnliches in den Kunstwerken in zunehmendem Masse Träger von Geistigem wird.504 Zugleich 501 502 503 504
Vgl. ibidem, S. 123. Vgl. ibidem, S. 106. Vgl. ibidem, 149f. Adorno und Mayer, Über Spätstil in Musik und Literatur, op. cit., S. 135.
180
4 Rezeption
meint es aber nicht mehr die in eine Identität bringende Vermittlung der sinnlichen Momente zur Totalität hin, sondern gerade ihre Polarisierung. Wurde die Totalität nach dem klassizistischen Ideal als im Voraus geleistet durchschaut und darin in ihrem eigenen Anspruch als Selbsttäuschung entlarvt, so meint Vergeistigung im Späten, dass das Einzelne, das Material selbst zur Sprache gebracht wird.505 Das Einzelne emanzipiert sich von seiner Nichtigkeit unter dem Diktat einer vorgegebenen Totalität. Darin verkündet sich gerade das Ideal des klassizistischen Gelingens, indem anstelle der synthetischen Kraft des Geistes seine Polarisierung tritt. Die späten Werke dissoziieren in ihre Extreme, sie kehren ihre eigene Brüchigkeit nach aussen. Weder bezeichnet das Späte der Kunst also irgendeinen biographischen oder psychologischen Zug, der auf die Altersschwäche der Künstlerin verweist, sondern wie Adorno es im bereits genannten Rundfunkgespräch bezeichnet, eine «innere Entwicklungstendenz der Sprache eines Künstlers».506 Es ist, wie es in einer Notiz zu Beethoven heisst, «ein Aufbegehren gegen das idiomatische Element im Idiomatischen».507 Das Späte zeigt darin die genannte Fragwürdig‐ keit an, indem es die immanenten Brüche nicht mehr verdeckt, zur Totalität ausbügelt, sondern selbst thematisch werden lässt. Dadurch sind, wie Adorno in einem frühen Text zu Beethovens Spätstil schreibt, die Spätwerke «durch‐ furcht, gar zerrissen».508 Und so heisst es weiter, mit dem Bild von überreifen Früchten gesprochen: «[S]ie pflegen der Süße zu entraten und weigern sich herb, stachelig dem bloßen Schmecken; es fehlt ihnen all jene Harmonie, welche die klassizistische Ästhetik vom Kunstwerk zu fordern gewohnt ist […].»509 Die Reife der späten Werke spricht dabei aber gerade das Ungenügen des eigenen Anspruchs des klassizistischen, harmonischen Kunstwerks aus. Vergeistigung heisst nun nicht mehr die Durchdringung mit Geist, sondern Polarisierung. Das Späte misst sich nicht mehr am Gelingen, sondern am Miss‐ lingen. Der Geist der Kunst wird darin dissoziativ, er bricht auf, er fragmentiert, aber er spricht darin auch die Wahrheit aus: «Desintegration ist die Wahrheit der integralen Kunst»510, heisst es formelhaft in der Ästhetischen Theorie über den Spätstil; an anderer Stelle: «Dissonanz ist die Wahrheit über Harmonie.»511
505 506 507 508 509 510 511
Vgl. Adorno, BPM, S. 268. Adorno und Mayer, Über Spätstil in Musik und Literatur, op. cit., S. 136. Adorno, BPM, S. 53. (Hervorhebung im Original) Ibidem, S. 180. Ibidem, S. 180. Adorno, ÄT, S. 455. Ibidem, S. 168.
4.3 Ästhetische Transzendenz
181
Der Spätstil spricht deshalb die Wahrheit aus, da er den zuvor genannten «Trug im eigenen Prinzip» selbst zum Sprechen bringt. Den Geist der Kunst im Späten als dissoziativen Geist zu verstehen, heisst demnach nicht ein Weniger an Geist, nicht einen Vorrang der sinnlichen Momente zu behaupten. Vielmehr überbietet das Späte das klassizistische, das harmonisch-gelungene Kunstwerk, indem es seinen eigenen Anspruch darin an Geist übersteigt und seine eigene Unzulänglichkeit selbst zum Erscheinen bringt: Das Kunstwerk spricht seine eigene Unmöglichkeit aus. Spätwerke sind gerade nicht geistverlassen, nicht Gebilde, die ihre sinnlichen Momente hervortreten lassen und brüchig werden, weil die vermittelnde Kraft des Geistes ihren Zusammenhang, ihr Gewebe nicht mehr zu bewerkstelligen vermag, im Gegenteil, es ist gerade wie Adorno in der Ästhetischen Theorie behauptet, der «Durchbruch des Geistes durch die Gestalt».512 Der Geist bricht durch die Gestalt, indem er sich in selbstkritischer Wendung eingesteht, dem eigenen Anspruch nicht gerecht werden zu können. Bezeichnet Adorno im Besonderen Beethovens Spätstil als Prototypen eines Spätstils, spricht aber im Zusammenhang vom Spätstil ebenso von Hölderlin, Schönberg, gar von Rembrandt und Michelangelo, so meint er weitaus mehr damit: Es liegt im Begriff, in der Idee von Kunst selbst.513 Das Späte der Kunst meint die Kündigung der Kunst durch die Kunst und diese Kündigung durch ihr Spätes ist eins mit der Idee von Kunst selbst. Endet Adornos kurzer Text über Beethovens Spätstil mit der Behauptung, dass in der Geschichte der Kunst Spätwerke die Katastrophen sind, so kann dies nun dahin verstanden werden, dass sie missglücken, scheitern, dass sie Unglücke sind, Ruinen, die ihr Missglücken aber selbst zur Sprache bringen. Ihr Geist, ihr Mehr, an den die Kunst gebunden ist, sofern sie Kunst sein will, bricht selbst auf, polarisiert sich vielmehr in seine disparaten Momente, als dass er sie integrieren würde. Er macht sie so selbst zu Bedeutendem: Der dissoziative Geist der Kunst bezeichnet das Späte der Kunst. Er spricht die in der Idee der Kunst selbst angelegte Aufkündigung der Kunst als Kunst aus. Daher kommt das Kunstwerk nicht unbeschadet durch seine Krise. Die Krise des Sinns und des Scheins bricht in der Dissoziation des Geistes auf. Das Kunstwerk hält aber an seiner Transzendenz fest. Es stellt nun aber seinen Sinn als den von Sinnlosigkeit vor. Und ästhetische Einheit kehrt in der Dissoziation des Geistes ihre Brüchigkeit, ihre Risse und Furchen nach aussen. Was das Kunstwerk so zur Erscheinung bringt, ist daher sein eigenes Unvermögen, dem
512 513
Ibidem, S. 139. Adorno und Mayer, Über Spätstil in Musik und Literatur, op. cit., S. 143.
182
4 Rezeption
eigenen Anspruch gerecht zu werden. Diese Krise des Scheins spricht sich selbst noch als Schein aus. Die positive Seite des ästhetischen Verstehens erfasst daher selbst ein Nega‐ tives: die Negation des Sinns. Im verstehenden Mitvollzug der immanenten Reflexion des Kunstwerks erfasst die Rezipientin daher den im und durch den Sinnzusammenhang sich entwickelnden Sinn, dass keiner mehr sei. Darin kehren die Kunstwerke durch die Dissoziation ihres Geistes selbst die Krise der Kunst nach aussen und bringen sie zur Erscheinung.
4.4 Wahrheitsgehalt I. Deutung als Kritik Mit der ästhetischen Transzendenz verlässt die Rezeption den Bereich des Ästhetischen. Sie geht nun über zum Wahrheitsgehalt der Kunstwerke. Dieser ist nicht – wie es für die Erfahrung, das Verstehen und die Transzendenz der Fall war – ein ästhetischer Wahrheitsgehalt, denn die Rezipientin geht nunmehr in Distanz zum immanenten Mitvollzug des Kunstwerks.514 Damit ist aber nicht gemeint, dass der Wahrheitsgehalt ausserhalb des Kunstwerks wäre, das Kunst‐ werk diesen nur vermittelt. Vielmehr ist die Rezeptionsarbeit nicht mehr eine vollständig ästhetische, sondern nimmt einen ausserästhetischen Blickwinkel in das Rezeptionsgeschehen mit hinein. Die Bahn der Rezeption führt, so haben wir es anhand des Rätselcharakters besprochen, ins Unverständliche, das nur noch in einer weiteren Reflexion eingeholt wird, selbst aber nicht mehr innerhalb des ästhetischen Mitvollzugs geleistet werden kann. Die Rezipientin hat deshalb, um den Wahrheitsgehalt zu fassen, den Bereich des Ästhetischen zu überschreiten. Der Wahrheitsgehalt ist aber dem ästhetischen Erfahren und Verstehen gegenüber nicht gleichgültig. Er bleibt der Wahrheitsgehalt des Kunstwerks, um dessen Willen die Rezeption überhaupt erst anhob. Daher lässt sich der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke auch nicht fassen, ohne den ästhe‐ tischen Durchgang, die Erfahrung und das Verstehen des Kunstwerks durch das Kunstwerk.515 Der Rätselcharakter erschliesst sich aber dennoch nicht im Ästhetischen, sondern ist einer philosophischen Reflexion aufgegeben. Durch
514 515
Vgl. Adorno, ÄT, S. 189. Vgl. Christoph Menke, Die Kraft der Kunst, Berlin 2013, 67f.
4.4 Wahrheitsgehalt
183
die «Bedürftigkeit seines Rätselcharakters» wendet sich jedes Kunstwerk an die «deutende Vernunft».516 Die Rezeption der Kunstwerke hat durch die ästhetische Erfahrung und durch das ästhetische Verstehen der Kunstwerke in der Krise der ästhetischen Transzendenz ihren positiven Gehalt gefunden. Die ästhetische Transzendenz ist aber noch nicht ihr Wahrheitsgehalt. Sie ist zwar insofern für den Wahrheits‐ gehalt konstitutiv, da auch der Wahrheitsgehalt nur immanent zu gewinnen ist, dennoch meint das Erfassen des Wahrheitsgehalts etwas anderes als den Sinn der Kunstwerke mitzuvollziehen. Die Rezeption gewinnt den Wahrheits‐ gehalt immanent, aber in dem Sinne, dass eine ausserästhetische Reflexion in sie Eingang findet. Dadurch geht aber gerade etwas auf, was Adorno den Wahrheitsgehalt der Kunstwerke nennt, der in einer rein ästhetischen Rezeption nicht fassbar war. Dieser Wahrheitsgehalt der Kunstwerke, so haben wir eingangs festgehalten, hat das Unternehmen jeglicher Ästhetik und somit auch einer Ästhetischen Theorie erst gerechtfertigt.517 Hätten Kunstwerke keinen Wahrheitsgehalt, so hätte sich auch keine philosophische Reflexion um sie zu kümmern. Ist nun die Rezeption der Kunstwerke in letzter Konsequenz auf den Wahrheitsgehalt der Kunstwerke gerichtet, dann hat sie also auch noch diese nicht-ästhetische Dimension in sich aufzunehmen. Die Kunstwerke sind deshalb auf ihre Deutung angewiesen. Durch ihren Rätselcharakter fordern sie die Rezeption zur Deutung heraus, in der versucht wird, das noch Unverständliche zu interpretieren. Wären die Kunstwerke in diesem Sinn keine Rätsel, die ihre Lösung fordern, sondern einfach da, wie andere Dinge einfach da sind, dann wäre auch ihre Abhebung von der empi‐ rischen Realität zunichte.518 Die Deutung, die sich durch den Rätselcharakter in der Rezeption aufdrängt, löst das Rätsel aber weder auf, sodass es den Rätselcharakter danach nicht mehr gäbe, noch ist die Deutung ein Geschäft subjektiver Beliebigkeit, so als stünde es jeder Auslegung frei, dem Kunstwerk eine eigene «wahre» Interpretation zu geben. Deshalb muss die Rezeption auch mit einer philosophischen Deutung der Kunstwerke einhergehen, da es das Geschäft der Philosophie ist, sich, der Hegelschen Formulierung folgend, um «die wissenschaftliche Erkenntnis der Wahrheit»519 zu bemühen. Dabei ist für Adorno die philosophische Arbeit in der Rezeption von Kunstwerken aber nicht einfach noch eine mögliche zusätzliche Vertiefung ins Kunstwerk, sondern 516 517 518 519
Adorno, ÄT, S. 193. Vgl. ibidem, S. 193; S. 498. Vgl. ibidem, S. 193f. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830) (= Werke 20), Hamburg 1992, S. 5.
184
4 Rezeption
ebenso Bedingung für die ästhetische Erfahrung: «[G]enuine ästhetische Erfah‐ rung muß Philosophie werden oder sie ist überhaupt nicht.»520 Die philosophische Deutung vollzieht sich dabei als Kritik. Damit schliesst sich die Kritik mit dem Verstehen zusammen. Mit dem Verstehen schliesst sich die Kritik zusammen, da es ihr um nichts anderes geht, als was Kritik ihrem ursprünglichen Sinn nach meint: zu unterscheiden, zu urteilen. Dass das Verstehen von Kunstwerken eins sei mit ihrer Kritik, meint dann, dass der verstehende Mitvollzug mit dem Urteilen über das Kunstwerk einhergeht. Und was im Verstehensprozess mitunterschieden wird, worüber mitgeurteilt wird, ist das Richtig- und Falschsein, das Wahr- und Unwahrsein.521 Geht es also um den Wahrheitsgehalt, so muss die Rezeption ihre Erfahrungs- und Verstehensvollzüge zu einem kritischen Geschäft werden lassen: «Den Wahr‐ heitsgehalt begreifen postuliert Kritik. Nichts ist begriffen, dessen Wahrheit oder Unwahrheit nicht begriffen wäre, und das ist das kritische Geschäft.»522 Diese weitere Reflexion, die mit der Kritik, mit der Deutung in die Rezeption kommt, ist also auch vom ästhetischen Verstehen kein streng gesondertes Verfahren, wie es schon für die ästhetische Erfahrung gegolten hat. Wie bereits die Erfahrung und das Verstehen der Kunstwerke ineinander gehen, so ist auch noch die philosophische Kritik in das Rezeptionsgeschehen eingebunden.523 Wenn es also in der Ästhetischen Theorie heisst, dass Verstehen eins sei mit Kritik, dann ist damit nicht gemeint, dass sie identisch wären, sondern dass sie sich im selben Zug in der Rezeption mitvollzieht.524 Um dieses kritische Moment in der Rezeption genauer zu bestimmen, ist zunächst die Kritik vom Kommentar zu unterscheiden. Diese Unterscheidung übernimmt Adorno aus Benjamins Text zu Goethes Wahlverwandtschaften.525 Darin schreibt Benjamin: «Die Kritik sucht den Wahrheitsgehalt eines Kunst‐ werks, der Kommentar seinen Sachgehalt.»526 Die Unterscheidung zwischen Kommentar und Kritik veranschaulicht Benjamin weiter, indem er in einem
520 521 522 523 524 525
526
Adorno, ÄT, S. 197. Vgl. ibidem, S. 391. Ibidem, S. 194. Vgl. Adorno, ÄVL, S. 204f. Adorno, ÄT, S. 391. Diesen Text hat Adorno bereits in einer unveröffentlichten Fassung von Benjamin selbst zur Lektüre erhalten und ihn bis in die späten Sechziger für einen seiner wichtigsten Texte gehalten. (Vgl. Adorno, Zu Benjamins Gedächtnis (= GS 20.1), Frankfurt am Main 2003, S. 169f.) Walter Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften (= Gesammelte Schriften I.1), Frank‐ furt am Main 1991, S. 125.
4.4 Wahrheitsgehalt
185
Gleichnis von der Kommentatorin als einer Chemikerin und von der Kritikerin als einer Alchemistin spricht: «Will man, um eines Gleichnisses willen, das wachsende Werk als den flammenden Scheiterhaufen ansehn, so steht davor der Kommentator wie der Chemiker, der Kritiker gleich dem Alchemisten. Wo jenem Holz und Asche allein die Gegenstände seiner Analyse bleiben, bewahrt für diesen nur die Flamme selbst ein Rätsel: das des Lebendigen. So fragt der Kritiker nach der Wahrheit, deren lebendige Flamme fortbrennt über den schweren Scheitern des Gewesenen und der leichten Asche des Erlebten.»527
In diesem Gleichnis ist der Chemikerin also lediglich die Analyse des Holzes und der Asche möglich, wohingegen es der Alchemistin um die Flamme, um das Lebendige geht. Es ist also die Aufgabe der Kritikerin, sich dem Lebendigen des Kunstwerks, dessen Wahrheit anzunehmen.528 Dieses Verfahren der Kritik, so wie es Benjamin in seinem Wahlverwandtschaften-Text durchführt, wird dann auch in der Ästhetischen Theorie, als «großartigstes Modell, am großar‐ tigsten Gegenstand»529 immanenter Kritik gelobt.530 Und von ihr sagt Adorno weiter, dass sie «die Brüchigkeit kanonischer Gebilde in ihren Wahrheitsgehalt hinein»531 verfolge. Heisst Kritik also den Wahrheitsgehalt in den Kunstwerken herauszulesen, so tut sie dies nur im Vollzug durch das Kunstwerk. So heisst es in der Ästhetischen Theorie: «Indem Kritik aus Konfigurationen in den Kunstwerken deren Geist herausliest und die Momente miteinander und dem in ihnen erscheinenden Geist konfrontiert, geht sie über zu seiner Wahrheit jenseits der ästhetischen Konfiguration. Darum ist Kritik den Werken notwendig. Sie erkennt am Geist der Werke ihren Wahrheitsgehalt oder scheidet ihn davon.»532
Soll Kritik als Vollzug der Unterscheidung von richtig und falsch, wahr und unwahr, den Wahrheitsgehalt am Geist der Werke begreifen, so tut sie das durch den Prozess des Kunstwerks hindurch – das heisst: im erfahrenden und verstehenden Mitvollzug des Kunstwerks. Die Kritik kann nur durch die Einzel‐ 527 528 529 530 531 532
Ibidem, S. 126. In diesem Sinne spricht Adorno in der Ästhetischen Theorie auch von einem «chemisch reinen Verhalten zur Kunst» (Adorno, ÄT, S. 401). Ibidem, S. 444. Zur Unterscheidung zwischen einer immanenten und einer höheren Kritik, wie sie Adorno im Besonderen in seinen musikalischen Schriften einführt, siehe Guido Kreis, Die philosophische Kritik der Musikalischen Werke, Stuttgart/Weimar 2011. Adorno, ÄT, S. 444. Ibidem, S. 137.
186
4 Rezeption
momente und ihren Zusammenhang über das Werk an dessen Wahrheitsgehalt hinreichen. In der kritischen Rezeption greift die Kritikerin aber auch über die ästhetische Konfiguration hinaus, indem sie die Einzelmomente und ihre Vermittlung zum Ganzen hin auf ihr richtig und falsch, auf ihr wahr und unwahr hin befragt. Das Kunstwerk wird deshalb nicht nur mitvollzogen, sondern sein Mitvollzug wird selbst noch kritisch befragt. Die kritische Rezeption folgt nicht nur den Einzelmomenten, erinnernd und erwartend, sondern prüft den Zusammenhang der Einzelmomente auf ihr richtig und falsch, ihr wahr und unwahr. Was aber in der kritischen Unterscheindung der Rezeption als richtig und falsch, als wahr und unwahr aufgefasst wird, scheint weiterhin unklar zu sein. Genauso blieb bis hierhin unklar, um was für eine Wahrheit und Unwahrheit es sich hier handeln soll. In der 16. Sitzung seiner Ästhetik-Vorlesung von 1958/59 geht Adorno gerade dieser Frage nach, indem er einige Überlegungen zu einer Ästhetik ohne den Begriff der Schönheit ausführt. Ist ein Kunstwerk nicht einmal mehr der Schönheit verpflichtet, so verliert es auch noch seine letzte Legitimierung vor der Rezipientin, den Grund, wofür das Kunstwerk denn überhaupt da sei; und die Frage des Rätselcharakters tritt erneut auf: «[W]ozu ist dann das Ganze eigentlich da?»533 An die Stelle der Schönheit tritt die Wahrheit. Adorno versucht dabei drei Bedeutungen des Begriffs der Wahrheit, wie er in der Kunst möglicherweise zu denken wäre, herauszuarbeiten. Als erstes kann die Wahrheit der Kunst im Sinne eines Naturalismus verstanden werden. Die Wahrheit würde dann in der vollständigen Wiedergabe der empirischen Wirklichkeit bestehen. In einem zweiten Sinn versteht sich die Wahrheit der Kunst als psychologische Wahrheit oder als die Wahrheit des Ausdrucks. In ihr würde die Wahrheit eben in einem Ausdruck, in irgendwelchen inneren Regungen liegen. Und schliesslich kann in einem dritten Sinn die Wahrheit der Kunst als die Richtigkeit der Werke aufgefasst werden. Diese Vorstellung der Wahrheit der Kunstwerke an ihre Richtigkeit oder Falschheit zu binden, findet Adorno einerseits eine Selbstverständlichkeit, wie er sie aber anderseits auch als falsch ansieht. Selbstverständlich ist sie, da ein Kunstwerk in sich stimmig durchorganisiert sein muss, um als Kunstwerk aufgefasst werden zu können. Die Bedeutung von Wahrheit als Richtigkeit krankt nach Adorno aber daran, dass sie nicht hinreichend dafür ist, dass es sich um ein Kunstwerk handelt. Wahrheit als Richtigkeit ist gewissermassen vorästhetisch.534
533 534
Adorno, ÄVL, S. 247. Vgl. ibidem, S. 247ff.
4.4 Wahrheitsgehalt
187
Dass Adorno sich auf keinen dieser drei Begriffe künstlerischer Wahrheit ver‐ pflichtet, scheint offensichtlich. Das autonome Kunstwerk kann seine Wahrheit nicht in einem Äusserlichen finden, auf das hin die Kritikerin das Werk prüft. Das Kunstwerk würde sich so wieder von einem ihm Äusserlichen abhängig machen, auf dessen Bezug hin seine Wahrheit besteht.535 Das Kunstwerk hat deshalb seinen Wahrheitsgehalt aus sich herauszubilden. Dieser muss ein innerästhetisches Geschehen darstellen. Darauf zielt die deutende Kritik gerade ab. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Wahrheit nicht an einem dem Werk Äusserlichen misst, sondern nur an ihrem eigenen Anspruch, an ihrem eigenen Zusammenhang. So gesehen könnte die Wahrheit des Kunstwerks in dessen Stimmigkeit liegen.536 Die Einzelmomente sind dann so in ein Kunstwerk integriert, dass sie zusammenpassen, dass sie einen stimmigen Zusammenhang bilden.537 Auf blosse Stimmigkeit lässt sich der Wahrheitsgehalt deshalb aber auch nicht reduzieren, denn er ist mehr als die blosse Einsicht in die Stimmigkeit des inneren Zusammenhangs des Kunstwerks. Zwar haben die Kunstwerke, um überhaupt einen Wahrheitsgehalt zu haben, stimmig zu sein, um aber den Wahrheitsgehalt zu fassen, hat die Rezeption diesen auch noch vom stimmigen inneren Zusammenhang zu scheiden. Daher ist der Geist der Kunst auch nicht mit dem Wahrheitsgehalt der Kunstwerke gleichzusetzen, wie er schon nicht mit dem Schein gleichzusetzen war.538 Hier schliesst sich die Kritik, die auf den Wahrheitsgehalt zu gehen hat, an die zuvor in Beethovens Spätstil hervorgehobene Kritik am Klassizitätsideal an, also an dasjenige, das Adorno als das einzige der Kritik würdige verstand.539 Das Klassizitätsideal hat sich in letzter Konsequenz im dissoziativen Geist der Werke aufgesprengt, darin aber zugleich seine eigene Wahrheit, nämlich die Unmöglichkeit seines eigenen Ideals hervorgekehrt. Dadurch brachte das 535 536 537
538 539
So etwa Rüdiger Bubners Vorwurf an die Wahrheitsästhetiken. (Vgl. Bubner, Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik, op. cit.) In dieser Weise spricht etwa Guido Kreis von einer ästhetischen Konvenienz. (Vgl. Guido Kreis, Ästhetische Wahrheit, Berlin 2014.) Adorno, ÄVL, S. 247ff. Spricht Adorno in der Ästhetik-Vorlesung von 1958/59 von einer quasi mathematischen Richtigkeit, so führt er in den Kriterien der neuen Musik die Vielschichtigkeit der Richtigkeit des musikalischen Werkes explizit aus. So heisst es dort: «Für die neue Musik wird es zentral auf jenen Begriff von Richtigkeit ankommen; darauf, ihn nicht mit irgendwelchen vorkünstlerischen, vorgeistigen Materialbestim‐ mungen, mit abstrakten Ordnungen der Tonvorgänge zu verwirren. In der Tat herrscht Überfluß an Kompositionen, die nach dem Maß handfest kontrollierbarer Ordnungen richtig sind, künstlerisch aber unrichtig oder unsinnig; Musik hat viele Schichten von Richtigkeit.» (Adorno, Kriterien der neuen Musik, op. cit., S. 174.) Vgl. Adorno, ÄT, S. 165f. Vgl. ibidem, S. 243.
188
4 Rezeption
Kunstwerk noch seine eigene Krise zur Erscheinung. Damit verändert sich aber auch der Wahrheitsgehalt des Kunstwerks, denn die durchs Kunstwerk gehende Kritik hat einen anderen Anspruch, nicht mehr jenen des Klassizitätsideals, an dem sie ihre Unterscheidung, ihr Urteil vollzieht. Ist das Kunstwerk durch seine eigene Krise gegangen, dann hat das die kritische Rezeption aufzunehmen. Das kritische Verfahren der Rezeption scheidet die Wahrheit des modernen Kunstwerks in anderer Weise. II. Natur als Nichtseiendes Das Kunstwerk ist an den Widerspruch von Ansichsein und Gemachtsein gebunden. Diesen immanenten Widerspruch hat das Kunstwerk aber insofern auszuhalten, als dass das Kunstwerk nicht auf seinen Schein verzichten kann, ohne sich zugleich auch als Kunstwerk aufzugeben. Das Problem liegt dabei darin, dass sich das Kunstwerk als ein stets Gemachtes den Anschein eines Ansichseins zu geben hat. In dieses Problem ist nun auch der Wahrheitsgehalt verwickelt. Denn auch der Wahrheitsgehalt kann kein gemachter sein. Das Kunstwerk hat deshalb als ein Gemachtes seine ganze Bemühung darauf auszurichten, das zur Sprache zu bringen, «was selbst nicht das Gemachte wäre».540 Das Kunstwerk kann als Gemachtes das Wahre, das selbst nicht ein Gemachtes ist, nicht wirklich, sondern nur scheinhaft zur Sprache bringen. Die Frage nach der Wahrheit eines Gemachten ist daher die nach «dem Schein und nach seiner Errettung als des Scheins von Wahrem.»541 Deshalb ist die Frage nach der Wahrheit in der Kunst die Frage nach dem Schein. Gerade in dieser Verwicklung des Scheins mit der Wahrheit des Kunstwerks steht für Adorno die Wahrheit mit der Natur in Beziehung: «Hier hat die Idee von Kunst als der Wiederherstellung unterdrückter und in die geschichtliche Dynamik verflochtener Natur ihren Ort. Die Natur, deren imago Kunst nachhängt, ist noch gar nicht; wahr an der Kunst ein Nichtseiendes. Es geht ihr auf an jenem Anderen, für das die identitätssetzende Vernunft, die es zu Material reduziert, das Wort Natur hat.»542
Das Kunstwerk als Artefakt ist also auf Natur verwiesen, da das Kunstwerk ein Nichtseiendes zu seiner Wahrheit hat. Als Schein bringt das Kunstwerk auch das Wahre nicht als ein Wirkliches hervor. Ebenso ist die Natur ein Nichtseiendes. Und zwar ist sie dies für die identitätssetzende Vernunft, in der die Natur ein 540 541 542
Vgl. ibidem, S. 198. Ibidem, S. 198. Ibidem, S. 198.
4.4 Wahrheitsgehalt
189
erst noch zu Bestimmendes ist. Will das Kunstwerk die Natur als Nichtseiendes zur Sprache bringen, so hat es die Natur in anderer Weise hervorzubringen. In ihm ist Natur nicht einfach blosses Rohmaterial, das in der Produktion einem äusserlichen Zweck untergeordnet wird, sondern ein Nichtseiendes, das als Nichtseiendes zur Sprache kommt. Das Kunstwerk nimmt so «die Interessen der Natur gegen die Naturbeherrschung»543 wahr, ohne aber selbst deswegen Natur zu sein. Die Produktion der Kunstwerke hat demnach zur Aufgabe, in seiner Konstellation als Gemachtes das nicht Gemachte zu treffen. Das Kunstwerk steht deshalb als Gemachtes im Widerspruch zu seinem eigenen Wahrheitsge‐ halt, der nur ein Nichtgemachtes sein kann. Das Kunstwerk ist auf seinen Wahrheitsgehalt hin ausgerichtet, der aber immer schon etwas anderes ist als das gemachte Kunstwerk: «Ein jedes Kunstwerk geht als Gebilde in seinem Wahrheitsgehalt unter; durch ihn sinkt das Kunstwerk zur Irrelevanz hinab, und das ist allein den größten Kunstwerken vergönnt.»544 Ist der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke nur durch ihr Gemachtsein hervorgebracht und ist ihr Gemachtsein auf den Wahrheitsgehalt ausgerichtet, dann sind die gelungensten Kunstwerke diejenigen, die durch ihren Wahrheitsgehalt zurücktreten. Das Kunstwerk ist aber immer noch dem Schein verpflichtet. Dabei stellt das Kunstwerk etwas vor, das zwar als Schein nicht ist, ein Nichtseiendes, das aber so erscheint, dass es seine Verwirklichung verspricht. Mit der Rede vom Ver‐ sprechen ist gemeint, dass das Kunstwerk die Möglichkeit eines Nichtseienden zwar anzeigt, aber als dessen blosser Schein seine Wirklichkeit zugleich auch versäumt.545 Das Versprechen ist lediglich der Schein einer Wirklichkeit, die selbst noch nicht ist. Das Kunstwerk ist deshalb nicht auch schon selbst die Wahrheit, sondern verspricht die Wahrheit lediglich durch seinen Wahrheits‐ gehalt.546 Es ist dem Schein verpflichtet und kann seine Wahrheit daher auch nur versprechen. Wenn die Wahrheit dagegen verwirklicht wäre, die das Kunstwerk als seinen Wahrheitsgehalt verspricht, dann wäre auch das Kunstwerk nicht wirklich. Ist das im Schein Versprochene verwirklicht, so sind der Schein und damit auch das Kunstwerk nicht mehr.547 So lässt sich nun auch Adornos Formel «Wahrheit hat Kunst als Schein des Scheinlosen»548 verständlich machen. Ein Kunstwerk, das keinen Schein hat,
543 544 545 546 547 548
Adorno, ÄVL, S. 77. Adorno, ÄT, S. 199. Vgl. ibidem, S. 128f. Deshalb ist die Kunst auch nicht mit Natur gleichzusetzen. Sie will aber einlösen, was Natur verspricht (vgl. ibidem, S. 103). Vgl. ibidem, S. 199. Ibidem, S. 199.
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4 Rezeption
ist kein Kunstwerk. Sein Schein, sofern dem Kunstwerk Wahrheit zukommen soll, ist aber der eines Scheinlosen, nämlich der eines Nichtseienden, der von Natur. Scheinlos ist die Natur als Nichtseiendes, weil sie unter der Totalität des Tauschprinzips keine Wirklichkeit hat. Natur kommt unter jener nur als das noch zu bestimmende Rohmaterial vor. Das Kunstwerk hat deshalb zur Aufgabe, in seinem Schein das vom Tauschprinzip Ausgeschlossene zur Erscheinung zu bringen. Um die Natur im Schein als Scheinloses zu bewahren, kann das Kunstwerk seinen Wahrheitsgehalt nur als ein Nichtseiendes haben. Die Figur, die das Kunstwerk auszumachen hat, ist daher vom geschichtlichen Stand, von der Totalität des Tauschprinzips, mitbestimmt. Das Nichtseiende, das das Kunstwerk als seine Wahrheit ausspricht, ist deshalb auch kein von ihm Gemachtes. Die Natur, die im Kunstwerk zur Sprache kommt, wird nicht vom Kunstwerk zu einem Nichtseienden gemacht, sondern gerade im Gegenteil: Sie wird vom Kunstwerk als Nichtseiendes im Schein bewahrt. Haben die Kunstwerke ihre Wahrheit als Schein des Scheinlosen, so ist ihr Wahrheitsgehalt der von Natur. Durch die Krise des Scheins und der damit verbundenen Dissoziation des Geistes verändert sich nun aber auch die Artikulation des Wahrheitsgehalts. Mit der Kritik am Klassizitätsideal, den das Kunstwerk im Späten vollzieht, hat sich das Kunstwerk kritisch gegen seinen eigenen Anspruch gewandt. Das Späte, so hiess es zuvor, spricht die Wahrheit dadurch aus, dass es den Trug im eigenen Prinzip zum Sprechen bringt. Im Durchgang durch seine Krisen spricht das Kunstwerk die Krise selbst aus, es gesteht den Trug im eigenen Prinzip ein, das durch die Einlösung des falschen Versprechens der Einzelmomente erkauft wurde. Was an den Kunstwerken wahr ist, dass ihre Einheit nur durch die Nichtigkeit des Naturmaterials erkauft wurde, soll im Späten nun selbst zur Sprache kommen. Der Natur zur Sprache verhelfen hiesse dann, die Einzelmomente daraus zu befreien, als was das Klassizitätsideal durchschaut wurde; nämlich aus dem Vorrang der Idee der Totalität, aus der Priorität des Ganzen. Der Natur zur Sprache verhelfen heisst also, die Einzelmomente aus der Naturbeherrschung des Klassizitätsideals zu befreien. Die Natur wurde aber erst zu einem Nichtseienden bestimmt. Die Natur, die im Kunstwerk zur Sprache kommt, ist nicht irgendeine reine, unvermittelte Natur, sondern wurde bereits durch die Gesellschaft vermittelt. Natur ist nichts anderes als der Name für das Andere, für dasjenige, das vom gesellschaftlichen Funktionszusammenhang ausgeschlossen wird und daher für den gesellschaft‐ lichen Funktionszusammenhang nichtig ist. Die Natur wird durch die Totalität des Tauschprinzips zu einem Nichtseienden. Sie ist deshalb stets auf die Totalität des Tauschprinzips verwiesen, durch das sie als Negiertes erst zu ihrem Anderen
4.4 Wahrheitsgehalt
191
und damit zur Natur wurde. Die Natur, die das Kunstwerk hervorbringt, ist also immer schon eine, die durch den Vermittlungsprozess des gesellschaftlichen Funktionszusammenhangs ausgeschlossen ist. Soll die Natur im Kunstwerk zur Sprache kommen, so tut sie das als ein zum Nichtseienden Vermitteltes. Das Kunstwerk kann daher die unterdrückte Natur, die Natur als Nichtseiendes, auch nur in ihrer Negativität zur Sprache bringen.549 Wenn Kunst die Rationalität in ihrer Andersheit und zugleich ein gewisser Widerstand gegen diese Rationalität ist, dann ist das Kunstwerk, so Adorno, der Versuch, diese Andersheit durch die Natur als Nichtseiendes zur Sprache zu bringen. Im Kunstwerk spricht sich das entqualifizierte Material selbst aus. Das Späte der Kunst vollzieht in der Dissoziation des Geistes gerade diese selbstkritische Geste gegen das naturbeherrschende Moment des eigenen Klassizitätsideals. Die kritische Rezipientin hat deshalb nicht zur Aufgabe, das Kunstwerk an seinem Anspruch zu messen, ob es gelungen ist oder nicht. Denn das Kunstwerk vollzieht bereits die Einsicht in sein eigenes Unvermögen. Die selbstkritische Wendung des autonomen Kunstwerks wird zum Richtmass, an dem sich die kritische Rezeption vollzieht. Die Frage lautet nun nicht mehr, ob das Kunstwerk gelungen ist, ob das Kunstwerk es schafft, seinem eigenen Ideal gerecht zu werden, sondern ob es ihm gelingt, das Unvermögen, seinem eigenen Ideal gerecht zu werden, zur Artikulation zu bringen. Die nichtseiende Natur spricht sich in dieser Wendung des Kunstwerks als Negation seiner selbst aus, da das Kunstwerk jene Schicht nach aussen kehrt, die in der Naturbeherrschung des Klassizitätsideals als Nichtseiendes untergeht. Die Rezeption, die in letzter Konsequenz auf den Wahrheitsgehalt der Kunstwerke geht, ist daher auf ein Nichtseiendes verwiesen. III. Geschichtliche und gesellschaftliche Wahrheit Was der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke nun genau sein soll, bleibt weiterhin noch erklärungsbedürftig. So wissen wir nun, dass Adorno die Rezeption in letzter Konsequenz als ein kritisches Geschäft versteht, in dem es um den Wahr‐ heitsgehalt der Werke geht. Die Rezeption ist dadurch kein rein immanenter Vollzug mehr, denn in dieser weiteren Reflexion, die als philosophische Kritik in den Erfahrungs- und Verstehensprozess mitinvolviert ist, wird der Erfahrungsund Verstehensprozess mitreflektiert. Und weiter haben wir gesehen, dass der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke die Natur als ein Nichtseiendes in ihrer Negativität zur Sprache bringen soll.
549
Vgl. Adorno, ÄVL, S. 125f.
192
4 Rezeption
Hervorgegangen ist die Problematik des Wahrheitsgehalts aber aus einer anderen Lage, nämlich vom Rätselcharakter. Diesen haben wir als die nega‐ tive Seite des ästhetischen Verstehens bestimmt. In der negativen Seite des ästhetischen Verstehens, in welcher sich die Unverständlichkeit durch das Heraustreten aus dem immanenten Mitvollzug auftat, forderte das Rätsel nach seiner Lösung. Das Rätsel zu lösen, so führte es Adorno aus, würde aber bedeuten, den Grund seiner Unlösbarkeit anzugeben. Letztendlich ging es im Rätselcharakter also darum, den Grund der Unverständlichkeit aufzuklären, der in jener weiteren Reflexion auf den Erfahrungs- und Verstehensprozess nachzuvollziehen wäre. In der kritischen Rezeption sollte gerade der Grund für die Unverständlichkeit ausgewiesen werden. Der Wahrheitsgehalt spricht deshalb auch keine positive Wahrheit aus, denn es geht in ihm darum, über die Unverständlichkeit, die sich im ausserästhetischen Verstehen auftut, aufzu‐ klären. Der Wahrheitsgehalt ist so auf den geschichtlichen und gesellschaftlichen Stand verwiesen. Dieser Verweis hat seinen Grund schon darin, da das aus‐ serästhetische Verstehen von gleicher Rationalität ist, wie es die realen gesell‐ schaftlichen Verhältnisse sind. Seinen wesentlichen Grund hat der Bezug zum geschichtlichen und gesellschaftlichen Stand aber im künstlerischen Material. Dass Adorno den Wahrheitsgehalt geschichtlich und gesellschaftlich begreift, gilt es aber richtig zu verstehen. Denn Adorno meint damit gerade «kein äußeres Schicksal»550, das den Werken widerfährt, sondern er versteht Geschichte und Gesellschaft als den Werken immanent. Das Kunstwerk macht nicht irgend‐ eine Wahrheit zu seinem Wahrheitsgehalt, sondern kann nur seine eigene hervorkehren. Dies hat sich bereits von der Seite der Produktion gezeigt. Dem Kunstwerk ist mit der Verengung und Erweiterung des künstlerischen Materi‐ albestands, der Tendenz des Materials, der geschichtliche und gesellschaftliche Stand eingeschrieben. In der autonomen Entfaltung des künstlerischen Mate‐ rials macht das Kunstwerk die geschichtliche und gesellschaftliche Tendenz, die sich als Sediment im Material niedergeschlagen hat, zu seiner eigenen Sache. Die autonome Entfaltung bedeutete für das Kunstwerk aber auch, dass es sich gegen die heteronome Verfügungsmacht des gesellschaftlichen Stands wider‐ ständig zeigt. Das Kunstwerk wendet sich deshalb gegen seine gesellschaftliche Seite. Diese Widerständigkeit wurde mit dem Doppelcharakter beschrieben. Was das Kunstwerk dabei in letzter Konsequenz als seinen eigenen Wahrheits‐ gehalt hervorkehrt, so haben wir gesehen, ist die Aussprache des Unvermögens seinem eigenen Anspruch gerecht zu werden. Das Kunstwerk hat deshalb ein
550
Adorno, ÄT, S. 285.
4.4 Wahrheitsgehalt
193
Negatives zu seinem Wahrheitsgehalt. Und weiter hat sich gezeigt, dass sich dieses Negative als die nichtseiende Natur erweist, welcher im Kunstwerk zur Sprache verholfen werden soll. Das Kunstwerk setzt keinen positiven Gehalt, der sich als wahr erweist, sondern sagt durch sein Gemachtsein, was ein Nichtgemachtes wäre. Das Kunstwerk spricht mit der Natur das Andere der Gesellschaft aus, und als solches spricht das Kunstwerk seine Wahrheit nicht in begrifflich bestimmender Sprache aus. Wie es sich am Doppelcharakter der Kunstwerke zeigte, kann das Kunstwerk das Andere der Gesellschaft aber nur dadurch zur Erscheinung bringen, indem es sich seiner eigenen Gesellschaftlichkeit entgegenstellt. Und das tut das Kunstwerk als Widerständigkeit gegen sein Gemachtsein: «Kunst möchte mit menschlichen Mitteln das Sprechen des nicht Menschlichen reali‐ sieren.»551 Deshalb bringt das Kunstwerk die Natur auch nicht meinend, nicht begrifflich zum Sprechen, denn als ein begrifflich Verfasstes wäre die Natur wiederum unter die Herrschaft subjektiver Vernunft geraten.552 Die Natur bleibt auch da noch stumm, wo sie im Kunstwerk zur Sprache kommt. Würde das Kunstwerk die Natur derart zum Sprechen bringen, so dass sie positiv ausge‐ sprochen wäre, dann wäre sie in eine begriffliche Bestimmung überführt und nicht mehr die Natur als Nichtseiendes. Die Natur kommt daher im Kunstwerk nur in ihrer Negativität zur Sprache.553 Die Idee der Kunst, Natur zur Sprache zu verhelfen, wäre also, die Natur als die noch nicht durch subjektive Vernunft in Bestimmung gebrachte Natur zur Aussprache zu bringen. So steht das Kunstwerk erneut vor einer widersprüchlichen Aufgabe. Einer‐ seits soll es der Natur zur Sprache verhelfen, zugleich scheint die Natur aber überhaupt nichts zu artikulieren, ohne dass sie dabei bereits irgendwie zur Be‐ stimmung gebracht, irgendwie schon begrifflich erfasst wäre. Der Widerspruch liegt also darin, dass die Natur als ein nicht schon Begriffenes zur Sprache kommen soll, sobald es aber zur Sprache kommt, sich selbst durchstreicht. Die Rede davon, dass der Wahrheitsgehalt sich in Negation ausspricht, bleibt deshalb einer genaueren Klärung schuldig. Die Kunst sagt also etwas, sie spricht etwas aus, und trotzdem lässt sich das Artikulierte, das, was das Ausgesprochene meint, nicht begreifen. Das Kunstwerk verhilft der Natur zwar zur Sprache, zugleich bleibt die Natur aber auch in ihrem Aussprechen durch die Kunst noch stumm. Auch im Kunstwerk meint die Natur nichts. 551 552 553
Ibidem, S. 121. Vgl. hierzu Stefan Deines, Mitteilung und Mimesis. Zur Sprache der Kunst nach Benjamin und Adorno, Frankfurt am Main/New York 2016, S. 82ff. Darin verfehlt etwa Martin Seel die Negativität des Kunstwerks. (Vgl. Martin Seel, Adornos Philosophie der Kontemplation, Frankfurt am Main 2004, S. 64ff.)
194
4 Rezeption
Adorno nimmt sich diesem Problem im Fragment über Musik und Sprache an.554 In jenem kurzen Text attestiert er der Musik eine Sprachähnlichkeit, die zunächst darin besteht, dass die Musik sowohl ihrer Struktur nach sprachähnlich ist, als auch, dass die Musik etwas zur Artikulation bringt. Auch die Musik sagt etwas. Sie tut dies aber nicht mit Begriffen, wie es die meinende Sprache macht, sondern «benutzt wiederkehrende Siegel», die weitgehend von der Tonalität geprägt wurden.555 Im Bruch mit der Tradition, und damit einhergehend mit dem tonalen System, schärft sich die Sprachähnlichkeit zur Kritik gegen die «ge‐ ronnenen Formeln und ihre Funktion»556, zu denen sich die sprachähnlichen Momente der Musik verfestigt haben: «Heute ist das Verhältnis von Sprache und Musik kritisch geworden.»557 In diesem kritischen Verhältnis kehrt die Sprachähnlichkeit der Musik nun eine andere Schicht hervor. Adorno schreibt: «Gegenüber der meinenden Sprache ist Musik eine von ganz anderem Typus. In ihm liegt ihr theologische Aspekt. Was sie sagt, ist als Erscheinendes bestimmt zugleich und verborgen. Ihre Idee ist die Gestalt des göttlichen Namens.»558
Die Musik eine Sprache von ganz anderem Typus zu nennen, in welchem ein theologischer Aspekt liegt, hebt hervor, dass die Musik, wie die Sprache auch, etwas sagt, aber als «intentionslose Sprache».559 Das Kunstwerk unternimmt den «wie immer auch vergebliche[n] menschliche[n] Versuch, den Namen selber zu nennen, nicht Bedeutungen mitzuteilen.»560 Den Namen zu nennen hiesse dann, etwas in jener Weise auszusprechen, sodass es nicht schon durch eine begriffliche Vorlage in Form gebracht wurde. Die Namen sind für Adorno jene, «welche die Sache nicht kategorial überspinnen».561 Stattdessen spricht sich mit dem Namen «das schlechterdings nicht Vertauschbare»562 aus. Die in‐ tentionslose Sprache bringt demnach, Adorno folgend, etwas zur Erscheinung, ohne dabei dem Erscheinenden eine gewollte Bedeutung beizulegen. Was zur Erscheinung gebracht wird, spricht sich selbst aus, wie es Adorno an mehreren
554 555 556 557 558 559 560 561 562
Vgl. auch Hindrichs, Die Autonomie des Klangs, op. cit., S. 252ff. Adorno, Fragment über Musik und Sprache, op. cit., S. 251. Ibidem, S. 252. Ibidem, S. 252. Ibidem, S. 252. Ibidem, S. 252. Ibidem, S. 252. Adorno, ND, S. 61. Theodor W. Adorno, Minima Moralia (= GS 4), Frankfurt am Main 2003, S. 261.
4.4 Wahrheitsgehalt
195
Stellen etwa für die Tiere behauptet: «So scheint ein Nashorn, das stumme Tier, zu sagen: ich bin ein Nashorn.»563 Die Kunstwerke sind also darin sprachähnlich, dass sie durchaus etwas sagen. In den Ausführungen zum ästhetischen Sinn ist bereits ersichtlich geworden, dass das Kunstwerk nicht einfach ein sinnfreies und unzusammenhängendes Gebilde ist. Macht es aber den Versuch der Natur zur Sprache zu verhelfen, so artikuliert es keine Mitteilung, keine Aussage, sondern versucht durch seinen Zusammenhang die Natur beim Namen zu nennen. Der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke ist das, was das Kunstwerk als Gemachtes in seiner Durchbildung als Nichtgemachtes hervorkehrt: «Ihr nicht gesetzter Wahrheitsgehalt darf ihr Name heißen.»564 Der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke liegt also in der Sprache des Nichtgemachten, der Natur, die das Kunstwerk als Gemachtes versucht hervorzubringen. Das Kunstwerk bringt damit sein Gegenteil als seinen Wahrheitsgehalt hervor, nämlich das Nichtgemachte, um dessen Willen das Kunstwerk überhaupt erst gemacht wird: «Natur mittelbar der Wahrheitsgehalt von Kunst, bildet unmittelbar ihr Gegenteil. Ist die Sprache der Natur stumm, so trachtet Kunst, das Stumme zum Sprechen zu bringen, dem Mißlingen exponiert durch den unaufhebbaren Widerspruch zwischen dieser Idee, die verzweifelte Anstrengung gebietet, und der, welcher die Anstrengung gilt, der eines schlechthin Unwillentlichen.»565
Das Kunstwerk vermittelt seine Einzelmomente also derart, dass in ihm die Natur zur Sprache kommt. Zugleich erweist sich damit der Wahrheitsgehalt, der kein Gemachtes sein kann, als das Gegenteil des Kunstwerks. Dieser Gegensatz zwischen dem Kunstwerk und seinem Wahrheitsgehalt ist gemeint, als zuvor die Rede davon war, dass die Kunstwerke als Gebilde am eigenen Wahrheitsgehalt untergehen. Ist damit die Struktur des Wahrheitsgehaltes an den Kunstwerken aufgezeigt, so hat dieser sich aber immer noch als geschichtlicher und gesellschaftlicher Wahrheitsgehalt auszuweisen. Daher gilt es nun, sich wieder dem Bezug des Kunstwerks zur Gesellschaft zuzuwenden. Der Wahrheitsgehalt der Kunst ist ein geschichtlicher und gesellschaftlicher Wahrheitsgehalt, da im Kunst‐ werk sich die in der Tendenz des Materials entfaltenden gesellschaftlichen Momente in ihrer Unwahrheit aussprechen. Geht das moderne Kunstwerk 563 564 565
Adorno, ÄT, S. 171f. Ebenso ist in der Minima Moralia vom Nashorn die Rede: «Ich bin ein Nashorn, bedeutet die Figur des Nashorns.» (Adorno, Minima Moralia, op. cit., S. 261.) Adorno, ÄT, S. 200. Ibidem, S. 121.
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4 Rezeption
nun dazu über, die Kritik am Klassizitätsideal zu artikulieren, ist hierdurch die Kritik am gesellschaftlichen Zustand mitgesetzt. Das Kunstwerk spricht im Scheitern an seinem eigenen Anspruch nicht nur den Trug im eigenen Prinzip aus, sondern auch den Trug an der gesellschaftlichen Vermittlungslogik, am Tauschprinzip. Im Kunstwerk spricht sich noch der Antagonismus der Tauschgesellschaft aus. Im klassizistischen Ideal der Kunst, in der gewaltlosen Versöhnung des Einen und des Mannigfaltigen, spiegelt sich die Totalität des gesellschaftlichen Funktionszusammenhangs. Die Einsicht, dass das gelungene Werk durch die Nichtigkeit des Einzelnen eingekauft wurde, schlägt sich in den im autonomen Kunstwerk durchgearbeiteten gesellschaftlichen Widersprüchen nieder, die durch das künstlerische Material als Formprobleme in die Kunst Eingang fanden.566 Folglich arbeitet sich das Kunstwerk autonom an den ge‐ sellschaftlichen Widersprüchen ab. Sein Wahrheitsgehalt spricht demnach ein Gesellschaftliches aus. Ebenso wie Adorno das Gesellschaftliche der Kunst nicht darin sieht, dass in den Werken soziale Konflikte thematisch werden, so wenig spricht das Kunst‐ werk seinen Wahrheitsgehalt mitteilend aus. Das Kunstwerk zum Sprechen zu bringen, dem innezuwerden, was das Kunstwerk als seinen Wahrheitsgehalt hat, kann die Rezipientin aber nur in einer ästhetischen Erfahrung. Nur im inneren Mitvollzug schliesst sich das Kunstwerk für die Rezeption auf: «Der Betrachter unterschreibt, unwillentlich und ohne Bewußtsein, einen Vertrag mit dem Werk, ihm sich zu fügen, damit es spricht.»567 Wird dieser Vertrag des inneren Zusammenhangs erneut gebrochen, dann kehrt sich wiederum der Rätselcharakter hervor und unterbindet ebenso die Entfaltung des Wahrheits‐ gehalts des Kunstwerks. Die Rezeption findet ihren Schluss also im Verweis auf ihren Anfang, in der ästhetischen Erfahrung und ihrer Forderung der Überantwortung ans Kunstwerk. Die Rezeption scheint sich im Kreis zu drehen. Ausgehend von der äs‐ thetischen Erfahrung hat sie sich über das ästhetische Verstehen zur Kritik vorgearbeitet, um schlussendlich aber nicht den Wahrheitsgehalt festhalten zu können, sondern erneut auf die ästhetische Erfahrung verwiesen zu sein. Im Durchgang durch die Rezeption klärt sich die Rezipientin aber über die Unverständlichkeit des Kunstwerks auf, die durch den inneren Mitvollzug aufging. Mit dem Wahrheitsgehalt löst sich das Rätsel zwar nicht auf, aber sein Grund wird verständlich gemacht.
566 567
Siehe hierzu die Ausführungen zur Gesellschaft in Kap. 3.2 in dieser Arbeit. Adorno, ÄT, S. 114.
4.4 Wahrheitsgehalt
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Die Natur, die im Kunstwerk zur Sprache kommen soll, benennt nichts, teilt nichts mit, was die Rezipientin als Ergebnis in den Händen halten könnte. Der Wahrheitsgehalt ist keine ins Werk eingelegte Idee oder Intention. Er lässt sich nicht als irgendein Inhalt fassen. In diesem Entzug von jeglichem bestimmenden Zugriff spricht das Kunstwerk aber gerade seine Wahrheit aus. Im permanenten Entzug, der die konstitutive Subjektivität in der ästhetischen Erfahrung zur Erschütterung brachte, kehrte die Naturhaftigkeit des naturbeherrschenden Subjekts in ihrer Negativität hervor. In der Erfahrung der Erschütterung kommt daher die Natur zur Sprache, an der das Kunstwerk seinen Wahrheitsgehalt hat. Als Wahrheit spricht sich diese Erschütterung genau deshalb aus, da mit ihr das vermeintliche Primat des konstitutiven Subjekts als Trug eingesehen wird. Durch die Krise der Kunst, die das Kunstwerk zur Erscheinung bringt, wird die Wahrheit des geschichtlichen und gesellschaftlichen Stands zur Erfahrung ge‐ bracht. Die Kritik, die das Kunstwerk an seinem eigenen Ideal vollzieht, schlägt sich daher in der Erfahrung des erschütternden Subjekts nieder. Die Rezeption geht deshalb nicht einfach zur ästhetischen Erfahrung zurück, sondern vermag das Scheitern am eigenen Anspruch als dessen Wahrheit einzusehen. Deshalb hiess es zuvor auch, dass der Rätselcharakter auf den Wahrheitsge‐ halt verweist. Den Rätselcharakter hat Adorno in der Vermittlung und Differenz zwischen dem inneren Mitvollzug und dem ausserästhetischen Verstehen ver‐ ortet. Ist die Rezeption letzten Endes auf den Wahrheitsgehalt der Kunstwerke verwiesen, dann erfasst sie den Wahrheitsgehalt genau in dieser Differenz, denn zwischen dem ästhetischen Mitvollzug und dem ausserästhetischen Un‐ verständnis wird das Kunstwerk zum Anderen der Gesellschaft. Es setzt sich als Gesellschaftliches von der Gesellschaft ab. Die Wahrheit des Kunstwerks liegt in nichts anderem als in der zur Sprache verholfenen Natur, die in ihrer Negativität der naturbeherrschenden Rationalität das Unvermögen aufzeigt, ihrem eigenen Anspruch gerecht zu werden. Der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke ist die kritische Einsicht in dieses Unvermögen, der Hinweis auf den blinden Fleck naturbeherrschender Rationalität.
5 Die Andersheit des Kunstwerks I. Das Andere der Gesellschaft Nach dem Durchgang durch die Produktion und die Rezeption, so wie sie bei Adorno in der Ästhetischen Theorie zu finden sind, bleibt die Frage nach dem Kunstwerkbegriff weiterhin offen. Im Durchgang durch die Produktions- und Rezeptionsbestimmungen zeigte sich zwar, wie in einem komplexen Geflecht von dialektischen Vermittlungsprozessen das Kunstwerk einen Bereich eigener Art darstellt. Wie nun ein Kunstwerk möglich ist, vermochte aber weder die Produktion noch die Rezeption zu sagen. Am Ende blieb nur die Einsicht, dass das Kunstwerk in der geschichtlichen Situation der Moderne seine Unmög‐ lichkeit, sein Scheitern zum Ausdruck bringt. Die Produktion endete dabei im Problem, wie sich denn aus dem entqualifizierten Material ein autonomes Werk herstellen lässt, ohne dabei die Autonomie aufzugeben. Und am Ende der Rezeption blieb nur die Einsicht, dass das Kunstwerk sich in die Negativität der ästhetischen Erfahrung zurückzieht, in welcher das Kunstwerk erneut nur als Rätsel zurückbleibt. In den eingangs verfassten Passagen, in denen versucht wurde zu klären, um was es in der Ästhetischen Theorie überhaupt geht, haben wir festgehalten, dass Adorno den Kunstwerkbegriff von seiner Möglichkeit her zu verstehen versucht. Als eine solche Möglichkeit hätte das Kunstwerk den Anspruch der Kunst zu verwirklichen, den Adorno mit der Formulierung festgehalten hat, dass sie Rationalität in Gestalt ihrer Andersheit sei. Zu zeigen wäre also, wie das Kunstwerk eine solche Gestalt sein könnte. Das Kunstwerk müsste dabei eine solche Gestalt sein, in der sich noch seine Unmöglichkeit, die Krise selbst ausspricht. Nach dieser Bestimmung hätte das Kunstwerk dann eben nicht etwas anderes als Rationalität zu sein, sondern wäre die Rationalität in der Gestalt ihrer Andersheit, in der die Krise der Kunst sich noch ausspricht. Wie eine solche Gestalt zu denken wäre, hat sich im Durchgang durch die Produktion und die Rezeption aber durchaus gezeigt. Zwar sagen sie nicht, was das Kunstwerk ist, im Durchgang durch die Bestimmungen der Produktion und der Rezeption von Kunstwerken wurde jedoch einsichtig, weshalb sie jeweils an ihrem Anspruch scheitern. Das Kunstwerk ist nun aber genau jene Gestalt, in der dieser Prozess des Scheiterns sich nach aussen zu kehren hätte. Den Trug im eigenen Prinzip zum Sprechen zu bringen ist daher die Aufgabe des Kunstwerks, und dies bringt
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das Kunstwerk in der Gestalt ihrer Andersheit zustande. Das Kunstwerk ist deshalb als das Andere da. Adorno führt in seiner Ästhetik-Vorlesung im Wintersemester 1962 die Bestimmung des Kunstwerks als das Andere ein. So referiert Adorno in der Mitte der Sitzung vom 30. Januar: «[D]as Kunstwerk als ein Erscheinendes ist – und ich gehe damit zu einer neuen Bestimmung über – ist das, was anders ist.»568 Diese noch nicht sehr aufschlussreiche Bestimmung des Kunstwerks als das, was anders sei, beginnt Adorno dann sogleich genauer zu differenzieren. Mit der Rede vom Anders-Sein der Kunstwerke ist nicht nur gemeint, dass die Kunstwerke als Kunstwerke sich von anderen Dingen unterscheiden, sondern vielmehr, dass die Kunstwerke ihrem eigenen inneren Zusammenhang nach sich von der empirischen Realität als Ganzes absetzen. Sie setzen sich als das schlechthin Andere ab. Und das tun die Kunstwerke durch die spezifische Weise ihres inneren Zusammenhangs. Das Kunstwerk «kontrastiert seiner eigenen, seiner immanenten Beschaffenheit nach zu dem, was da ist […].»569 Als das autonome Kunstwerk ist es zunächst das Andere gegen den gesell‐ schaftlichen Funktionszusammenhang. Darüber haben uns die Produktionsbe‐ dingungen des Kunstwerks aufgeklärt. Das Kunstwerk geht im Funktionszu‐ sammenhang nicht auf, sondern stellt sich in seiner autonomen Durchbildung als das Funktionslose dem Funktionszusammenhang entgegen. Diese Abhebung der Kunst von den Tausch- und Verwertungszusammenhängen der Gesellschaft haben wir als die durch den Doppelcharakter der Kunstwerke vollzogene Ab‐ hebung von der empirischen Realität festgehalten. Durch den Doppelcharakter wird das Kunstwerk zum Anderen der Gesellschaft. In dieser Absetzung, so haben es die Ausführungen zur ästhetischen Transzendenz gezeigt, bildet das Kunstwerk einen eigenen autonomen Sinnzusammenhang, der nicht wieder von der empirischen Realität her verständlich zu machen ist. Der Sinn des Kunstwerks ist diesem vielmehr immanent. Die Einzelmomente werden nur im inneren Zusammenhang des Kunstwerks sinnvoll. Dadurch nimmt sich das Kunstwerk gerade aus der empirischen Realität heraus, indem es der empirischen Realität einen eigenen Sinnzusammenhang entgegenhält. Diese Differenz zum Bereich des ausserästhetischen schlägt sich in letzter Konsequenz im Rätselcharakter nieder. Die Ausführungen zur Produktion der Kunstwerke haben uns aber auch darüber aufgeklärt, dass für Adorno die Kunstwerke nicht einfach aus der Luft gegriffen sind, sondern sich in und durch die empirische Realität in bestimmter 568 569
Theodor W. Adorno, Ästhetik (1961/62), Vo7094 (unveröffentlichte Tonbandtranskrip‐ tion, Theodor W. Adorno Archiv). Ibidem, Vo7094.
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Negation erst herausbilden. Die Produktion der Kunstwerke vollzog sich gerade in Korrespondenz mit der und durch die Warenwelt, wie es Adorno etwa für Baudelaire behauptete. Alles, was in die Durchbildung der Kunstwerke hineingerät, stammt selbst aus der empirischen Realität, sowohl die Arbeit als auch das Material sind letzten Endes in die gesellschaftlichen Verhältnisse verwickelt. Erst im Kunstwerk, in welchem sich die Einzelmomente zur Einheit zusammenschliessen, dichtet sich das Kunstwerk gegen den Funktionszusam‐ menhang ab. Zum Anderen der Gesellschaft, zum Funktionslosen im Funktions‐ zusammenhang wird das Kunstwerk erst durch seine spezifische Durchbildung, durch seine Widerständigkeit gegen seine eigene Gesellschaftlichkeit. Das Kunstwerk bezieht aus sich heraus den Nicht-Ort innerhalb des Funk‐ tionszusammenhangs. Es ist deshalb nicht einfach ein anderes neben vielen anderen, sondern hebt sich eben schlechterdings als das Andere ab. Darin ist das Kunstwerk das Andere der Gesellschaft, denn der gesellschaftliche Funktionszusammenhang hat sich als Totalität erwiesen, der kein Aussen kennt und daher auch kein gesellschaftliches Anderes. Alles, was ausserhalb des Funktionszusammenhangs liegt, ist für diesen nichts. Aus den oben gemachten Ausführungen zur Gesellschaft und zur Natur ging hervor, dass für Adorno das Andere der Gesellschaft die Natur ist. Denn die Natur ist gerade der Name für das, was dem naturbeherrschenden Blick ein noch zu Bestimmendes ist, das, was noch nicht durch die Ordnungsschemata des ordnenden Geistes hindurchging.570 Sie kommt deshalb im Kunstwerk nicht meinend, nicht als Aussage zur Sprache, sondern verbleibt in ihrer Negation. Die Natur, die im Kunstwerk zur Erscheinung gebracht werden soll, spricht sich selbst in ihrer Negativität aus. Das Kunstwerk schreibt damit die Unterscheidung, die das Andere erst hervorbringt, in sich selbst ein. Das Kunstwerk setzt sich nicht einfach von der empirischen Realität ab, sondern unterscheidet das Andere noch in sich selbst, indem es das Andere erst an seiner und gegen seine Gestalt hervortreten lässt. Durch diese innere Differenz hindurch, nicht durch eine gewollte Absetzung, hebt sich das Kunstwerk von der empirischen Realität ab.571 Deshalb sieht es Adorno auch als Aufgabe einer Theorie der Kunst, «die Momente dieses immanenten Anders-seins der Kunstwerke zu bestimmen.»572 Die immanente Unterscheidung gegen seine eigene Gestalt, gegen sein Gemachtsein, ist des‐
570 571 572
Siehe hierzu Kap. 3.2 und Kap. 4.4 in dieser Arbeit. Darin lag die oben gemachte Kritik am L’art pour l’art-Prinzip. Siehe dazu oben Kap. 3.1. Adorno, Ästhetik (1961/62), op. cit., Vo7095.
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halb «zur immanenten Qualität der Kunstwerke geworden.»573 Die Andersheit des Kunstwerks meint also nicht einfach, dass es eine eigene Sondersphäre eingrenzt und sich so von der empirischen Realität abhebt, sondern durch seine immanente Differenz sich widerständig von der empirischen Realität absetzt. Die Andersheit der Kunstwerke stellt sich also als ihre immanente Differenz dar. Die Unterscheidung, die das Kunstwerk in sich selbst vollzieht, haben wir in der dialektischen Bestimmung der Einzelmomente durch das Ganze und umgekehrt das Ganze durch die Einzelmomente hindurch in der Erörterung der ästhetischen Transzendenz der Kunstwerke sowie im Doppelcharakter beschrieben. Dadurch bestimmt sich das Kunstwerk durch sich selbst als von der empirischen Realität unterschieden, indem es in sich selbst jene weitere Schicht, jenes Mehr, hervorbringt. Vom Mehr, das wir als die ästhetische Transzendenz bestimmt haben, wurde bereits gesagt, dass es ein Anderes sei. Dieses Andere hat sich letztendlich als die Natur, als Nichtseiendes gezeigt, das im Kunstwerk in seiner Negation zur Sprache kommt. So ist die Andersheit des Kunstwerks die innere Spaltung des Kunstwerks zwischen seinem Gemachtsein und der Natur, die es durch seinen inneren Zusammenhang hervorkehrt. Das Kunstwerk bildet also gerade durch den inneren Widerspruch – durch die Anstrengung als ein Gemachtes das Nichtgemachte hervorzubringen – seine Einheit, durch die es sich von der empirischen Realität abhebt. Zum Anderen der Gesellschaft wird das Kunstwerk also durch die Andersheit, die das Kunstwerk an sich selbst hat. Als dieses Andere der Gesellschaft treten die Kunstwerke aber auch in Erscheinung, denn als Kunstwerk haben sie die Andersheit nicht nur in sich eingeschrieben, sondern bringen die Andersheit auch zur Erscheinung. Darin besteht ihr Bildcharakter. II. Bild und apparition Das Kunstwerk bringt sich als und durch das Andere der Gesellschaft zur Erscheinung. Dass es sich hierbei um kein Abbild, weder der Gesellschaft noch der Natur, handelt, wurde weitgehend geklärt. Und dennoch «springt eine zweite Welt von Bildern hervor»574, wie es Adorno in der Ästhetischen Theorie für Beckett behauptet. Diese zweite Welt von Bildern entspringt dabei zwar aus dem gesellschaftlichen Funktionszusammenhang, aus dem sich das Kunstwerk erst entwunden hat, es sind deswegen aber nicht unmittelbar Bilder der gesellschaftlichen Verhältnisse. Was sich in dieser zweiten Welt von Bildern zeigt, steht in einem anderen Verhältnis zur Gesellschaft: «Das Schäbige und 573 574
Ibidem, Vo7095. Adorno, ÄT, S. 53.
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Beschädigte jener Bilderwelt ist Abdruck, Negativ der verwalteten Welt.»575 Der Bildcharakter, den Adorno dem Kunstwerk zuschreibt, versteht sich des‐ wegen auch nicht als ein Abbildcharakter der Kunstwerke. Sie sind vielmehr Reaktionen auf die empirische Realität, durch die sie sich von jener erst abheben und dadurch zu einer zweiten werden: «Selbst Kunstwerke, die als Abbilder der Realität auftreten, sind es nur peripher; sie werden zur zweiten Realität, indem sie auf die erste reagieren […].»576 Wie es aus den Produktionsbedingungen hervorging, bilden die Kunstwerke weder eine Intention der Künstlerin ab noch ahmen sie ein Stück Wirklichkeit getreu nach. Damit ist Kunst eben «so wenig Abbild wie Erkenntnis eines Gegenständlichen».577 Die Produktionsbedingungen verbieten es den Werken gerade, sich abbildend auf etwas ihnen Äusserliches zu beziehen. Unter dem Anspruch auf Autonomie war die Künstlerin angeleitet, die Kunstwerke in der Eigengesetzlichkeit ihrer Materialtendenz zu entfalten. In ihrem Doppelcharakter als autonome und fait social sowie in ihrem Wahrheitsgehalt sind die Kunstwerke aber auch auf die empirische Realität verwiesen. Ihr Realismus ist aber gerade einer, der sich zu einer zweiten Realität potenzierte. Was in den Kunstwerken zur Erscheinung kommt, ist eben ein Negatives, gewissermassen die Rückseite der durch das Tauschprinzip bestimmten empirischen Realität.578 In den Kunstwerken kommt das zur Erscheinung, was von der empirischen Realität ausgeklammert wird, was in ihr nicht vorkommt. Hierfür steht die Natur ein. Kunstwerke bilden deshalb nichts Gegenständliches ab, nichts, das irgendwie in der Welt wäre und das sie in künstlerischer Weise abbilden. Und dennoch sind sie Bilder.579 Kommt in den Kunstwerken Natur zur Erscheinung, dann bilden sie diese auch nicht als etwas ab, sondern sie kommt in ihnen in einer anderen Weise zur Erscheinung. Natur lässt sich nicht als etwas abbilden, sondern, so zeigte sich, nur in ihrer Negativität zur Sprache bringen. Wir haben bereits gesehen, dass für Adorno die Gesellschaft ihr Anderes als Natur bestimmt und Kunst der Natur als dem so durch die Gesellschaft vermittelten Anderen zur Sprache verhilft. Dies kann das Kunstwerk aber nicht, indem es die Natur in irgendeiner Weise abbildet. Die Rede vom Bilderverbot in der Ästhetischen Theorie zielt auf dieses Problem ab:
575 576 577 578 579
Ibidem, S. 53. Ibidem, S. 425. Ibidem, S. 425. Diese zweite Welt von Bildern ist dann das, was Adorno als den «allein angemessene[n] Begriff von Realismus» bezeichnet. (Ibidem, S. 422.) Vgl. hierzu Matteo Nanni, Die imaginative Kraft der Musik. Gedanken zur Aporie von Bild und Klang, S. 53ff.
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«Das alttestamentarische Bilderverbot hat neben seiner theologischen Seite eine ästhetische. Daß man sich kein Bild, nämlich keines von etwas machen soll, sagt zugleich, kein solches Bild sei möglich. Was an Natur erscheint, das wird durch seine Verdoppelung in der Kunst eben jenes Ansichseins beraubt, an dem die Erfahrung von Natur sich sättigt. Treu ist Kunst der erscheinenden Natur einzig, wo sie Landschaft vergegenwärtigt im Ausdruck ihrer eigenen Negativität […].»580
Das Andere, das das Kunstwerk hervorkehrt, kann als Bild nicht gefasst werden. Die ästhetische Seite des Bilderverbots deutet Adorno deshalb auch als die Unmöglichkeit des Bildes von Natur. Wäre die Natur doch als eine «Verdop‐ pelung» ins Bild gesetzt, dann wäre sie nicht mehr in ihrer Negativität zum Ausdruck gebracht. Dass das Kunstwerk der Natur zur Sprache verhilft, glückt aber nur dann, wenn es das Kunstwerk schafft, die Natur in ihrer Negativität zu erhalten. Nur unter der Einhaltung des ästhetischen Bilderverbots kann die Natur noch als das erscheinen, was sie ist. Dass sie im Kunstwerk dennoch zur Erscheinung kommt, bringt Adorno in der Ästhetischen Theorie auf die paradoxe Formel der «bilderlose[n] Bilder».581 Die Bilder, die die Kunstwerke hervorkehren, entziehen sich gerade jeglicher Bestimmung durch das konsti‐ tutive Subjekt. Im bilderlosen Bild entzieht sich das, was sich im Bild zeigt, der Bestimmung. Kunstwerke sind für Adorno also nicht Abbilder von etwas, sondern «Bilder ohne Abgebildetes und darum auch bilderlos».582 Die zweite Welt von Bildern, die aus den Kunstwerken hervortritt, sind die bilderlosen Bilder, in denen das Andere der Gesellschaft zur Erscheinung kommt. Als das Andere der Gesellschaft entzieht sich diese zweite Welt ebenso der Vermittlung des gesellschaftlichen Funktionszusammenhangs, in dem alles zu einem Füran‐ deresseienden wird: «Ist in der Realität alles fungibel geworden, so streckt dem Alles für ein Anderes die Kunst Bilder dessen entgegen, was es selber wäre, emanzipiert von den Schemata auferlegter Identifikation.»583 Daher ist die Andersheit des Kunstwerks ihr Bildcharakter, denn es bringt das ins Bild, durch das die Kunstwerke zu einem Anderen werden. In den Kunstwerken geht das Nichtseiende, die Natur, durch die Vermittlung der «Bruchstücke des Seienden» auf. Sie werden in ihnen zu einem Anderen. Die Kunstwerke versammeln es durch ihren inneren Zusammenhang zu dem,
580 581 582 583
Adorno, ÄT, S. 106. Ibidem, S. 422. Ibidem, S. 427. Erhellend ist hierzu auch die bildtheoretische Unterscheidung von Bildvehikel und Bildobjekt. (Vgl. hierzu Wolfram Pichler und Ralph Ubl, Bildtheorie. Zur Einführung, Hamburg 2014, S. 20ff.) Adorno, ÄT, S. 128.
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was Adorno mit dem Begriff der apparition versucht zu fassen.584 Der Begriff der apparition meint dabei ein Erscheinen, das durch die «Simultanität von Sich-Augenblicklich-Zeigen und blitzhaftem Sich-Entziehen»585 bestimmt ist. Der Bildcharakter der Kunstwerke lässt sich so weiter schärfen. Er hebt die Kunstwerke als Erscheinungen von der Abbildung ab: «Als apparition, als Er‐ scheinung und nicht Abbild, sind Kunstwerke Bilder.»586 Die Kunstwerke haben zwar Bildcharakter, was sich aber in ihnen zeigt, ist das Andere, das, was sich nicht abbilden lässt. Mit dem Begriff der apparition wird also die Andersheit des Kunstwerks hervorgehoben. Martin Seel hat diesen Aspekt der apparition bei Adorno richtigerweise hervorgehoben: «Auf diese Weise unterscheidet sich das Erscheinen eines Kunstwerks radikal von allen Phänomenen, die im Erkennen und Handeln dingfest gemacht werden können; es ist unwirklich relativ zu dem, was wir ansonsten als wirklich erkennen und anerkennen.»587 Die apparition hebt die Erscheinung des Kunstwerks von jener ausserästhetischen Wirklichkeit ab; seine Erscheinung ist die eines Anderen. Zugleich hebt Adorno aber die apparition auch vom Bildcharakter ab. Be‐ schreibt die apparition ein Flüchtiges, so ist das Bild der Versuch, das Flüchtige der apparition zu bannen. Umgekehrt aber zerstört die apparition auch das, was das Kunstwerk zum Bild macht, ihr Bildwesen.588 Das Kunstwerk ist nicht nur als apparition Bild, sondern steht als apparition mit seinem Bildcharakter im Widerspruch. Was das Bild versucht zu bannen, die unbestimmte und flüchtige Natur, ist genau das, was in der apparition versucht auszubrechen, zu erscheinen, um im selben Moment zu verschwinden. Darin besteht die «pa‐ radoxe Einheit»589 des Erscheinens der Kunstwerke, in der verschwinden und bewahren zusammenkommen: «Kunstwerke sind ein Stillstehendes so gut wie ein Dynamisches […].»590 Die apparition wird von Adorno deshalb mit dem Phänomen des Feuerwerks verglichen, von dem er sagt, dass es «apparition ϰατ' ἐξοχήν»591 sei. Dieses wird von Adorno dann bestimmt als
584 585 586 587 588 589 590 591
Vgl. ibidem, S. 129. Vgl. Anne Eusterschulte, Apparition. Epiphanie und Menetekel der Kunst. Aspekte einer Ästhetik des Zur-Erscheinung-Kommens bei Theodor W. Adorno, Hamburg 2014, S. 225. Adorno, ÄT, S. 130. Martin Seel, Ästhetik des Erscheinens, Frankfurt am Main 2003, S. 34. Vgl. Adorno, ÄT, S. 130ff. Ibidem, S. 124. Ibidem, S. 124. Ibidem, S. 125.
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«empirisch Erscheinendes, befreit von der Last der Empirie als einer Dauer, Himmels‐ zeichen und hergestellt in eins, Menetekel, aufblitzende und vergehende Schrift, die doch nicht ihrer Bedeutung nach sich lesen läßt.»592
Mit dem Bild des Feuerwerks als der apparition schlechthin hebt Adorno hervor, wie sich das Kunstwerk von der empirischen Realität abhebt, indem es selbst als das Andere erscheint.593 Als das Andere erscheinen die Kunstwerke gerade dadurch, dass sie sich, wie es die Ausführungen zur ästhetischen Transzendenz zeigten, durch ihren inneren Zusammenhang übersteigen: «Sie sind nicht allein das Andere der Empirie: alles in ihnen wird ein Anderes.»594 Die Andersheit des Kunstwerks bezeichnet gerade diese Überschreitung, in welcher der innere Zusammenhang als das Tun der Kunstwerke hervortritt. Ihr Gemachtsein überschreitet sich zu einem Tun des Kunstwerks: «Ihr immanenter Prozeß tritt nach außen als ihr eigenes Tun, nicht als das, was Menschen an ihnen getan haben und nicht bloß für die Menschen.»595 Der innere Mitvollzug der Rezeption ist dabei nichts anderes als der Mitvollzug dieses Tuns des Kunstwerks, das das Kunstwerk hervorbringt. Mit dem Begriff der apparition bringt Adorno also den Prozesscharakter mit dem Bildcharakter der Kunstwerke in Verbindung. Der vorgezeichnete Prozess im Kunstwerk versteht sich demnach als das bilderlose Bild der Natur, das in der Rezeption durch den immanenten Mitvollzug zur Erfahrung gebracht wird. Die Andersheit des Kunstwerks, die zur Erscheinung kommt, zeigt sich in der Dialektik von Bild und apparition, von festhalten und verschwinden, von Dauer und Vergänglichem. Das Kunstwerk ist also nicht nur durch die innere Differenz der Andersheit, die es an sich selbst hat, ein Anderes, sondern bringt die Differenz noch zur Erscheinung, indem es das Flüchtige zu seinem Bild macht. Die Kunstwerke sind deshalb einerseits von Dauer und verschwinden als Kunstwerke nicht im Augenblick ihres Erscheinens. Als Bild sind sie beständig. Anderseits geben sie aber das Bild eines Flüchtigen ab, ein Bild von dem, was sich nicht festhalten lässt. Als bilderlose Bilder sind die Kunstwerke daher auch
592 593
594 595
Ibidem, S. 125. Christoph Menke sieht den Vergleich mit dem Feuerwerk folgendermassen be‐ gründet: «Diese veränderte Epiphanie beschreibt nicht mehr die Relation zwischen dem Kunstwerk und seinem nur intuitiv erahnbaren Gehalt, sondern der Status des unverständlichen schönen Objekts selbst. Nicht etwas erscheint uns im Kunstwerk, sondern es ist das Kunstwerk, das (uns) erscheint. Deshalb wird für Adorno das Feuer‐ werk zum Paradigma dessen, was das ästhetische Objekt erscheinend ist […].» (Menke, Die Souveränität der Kunst, op. cit., S. 180.) Adorno, ÄT, S. 126. Ibidem, S. 125.
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apparition. Was sie im Bild festhalten, halten sie aber so fest, dass es nicht als blosses Abbild festgehalten wird. Das bilderlose Bild hält das Flüchtige als Flüchtiges fest. Die innere Differenz des Kunstwerks vertieft sich daher weiter, denn im Erscheinen, als Bild und apparition, sind die Kunstwerke zugleich auch Ding und Prozess. III. Ding und Prozess Die Kunstwerke sind also zugleich Ding und Prozess, da sie als Bild und appa‐ rition das Flüchtige der Natur festhalten, ohne es damit in ein Beständiges zu überführen. Davon ist sowohl die Produktion als auch die Rezeption betroffen. Die Kunstwerke gehen also einerseits aus der künstlerischen Arbeit als etwas hervor, die Arbeit schlägt sich in einem Werk nieder, anderseits entziehen sich die Kunstwerke zugleich auch durch ihre spezifische Weise, wie sie in der Welt sind. Die Kunstwerke haben sowohl Dingcharakter wie sie zugleich auch ein Werden sind. Damit das Kunstwerk als Kunstwerk sich vom blossen Ding unter anderen Dingen abhebt, muss es sich selbst übersteigen, mehr sein, als was es ist. Sein ganzes Sein, so hiess es zuvor, hängt von seiner Transzendenz ab. Das Kunstwerk hat so zwar seine dinghafte Seite, es ist als etwas in der Welt, zugleich entzieht es sich auch als etwas der Welt. In der ästhetischen Erfahrung zeigte sich dies am permanenten Entzug, indem das konstitutive Subjekt zur Erschütterung gebracht wird. In der Rezeption vollzieht die Rezipientin den im Kunstwerk festgehaltenen Prozess mit, indem sie sich ans Werk überantwortet. Hätte sich dieser Prozess nicht in irgendeiner Weise durch die Produktion als Werk niedergeschlagen, dann wäre in der Rezeption auch nichts mehr mitzuvollziehen. Darin bindet sich der Produktionsprozess gerade an die Rezeption. Die Produktion der Kunstwerke mündet in der Objektivation eines Werkes, wie die Rezeption versucht am Kunstwerk den festgehaltenen Prozess mitzuvollziehen. Diese zwei Seiten, das Festhalten eines Prozesshaften in der Kunstproduktion und dessen immanenten Mitvollzug in der Rezeption, spannen den Horizont auf, in dem das Kunstwerk besteht. Liegt die Anstrengung der Produktion dabei darin, das Werden der Kunstwerke als Kunstwerk festzu‐ halten, dann ist es die Anstrengung der Rezeption, das Werden im Mitvollzug aus dem inneren Zusammenhang zur lebendigen Erfahrung des Kunstwerks zu bringen. Das Kunstwerk hat also zugleich ein statisches und dynamisches Moment:
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«Die Dynamik, die jedes Kunstwerk in sich verschließt, ist sein Sprechendes. Eine der Paradoxien der Werke ist, daß sie, dynamisch in sich, überhaupt fixiert sind, während sie nur durch Fixierung zu Kunstwerken objektiviert werden.»596
Im Kunstwerk wird die Natur als Sprechendes so festgehalten, ohne dabei sein dynamisches, sein prozesshaftes Moment preiszugeben. Der Bildcharakter, das Kunstwerk als bilderloses Bild, hat diese Objektivation bereits beschrieben. Was sich im Kunstwerk objektiviert, ist also der Prozess, den es selber ist. Als Ding werden die Kunstwerke zum Anderen dessen, was sie als Prozess sind. Die immanente Differenz, die das Kunstwerk in sich einschreibt, liegt daher in seiner spezifischen Objektivation, durch die sich das Kunstwerk noch von seinem eigenen Dingcharakter abhebt. Über ihre spezifische Weise haben die Produktion und die Rezeption aufgeklärt. Das Kunstwerk ist nur durch diese spezifische Objektivation, wie sie in der Produktion und Rezeption nachgezeichnet wurde, überhaupt in der Lage, sich von der empirischen Realität abzusetzen. Nur sofern das Kunstwerk sowohl als etwas da ist und es sich zugleich auch als etwas entzieht, vermag es sich wider‐ ständig vom gesellschaftlichen Funktionszusammenhang abzusetzen: «Kunst vollzieht den Einspruch gegen die Realität durch ihre Objektivation.»597 Seine Objektivation vollzieht das Kunstwerk aber durch die immanente Differenz, die in das Kunstwerk eingeschrieben ist. Das Kunstwerk setzt sich so als das Andere der Gesellschaft, ohne dabei selbst zum Anderen, zur Natur zu werden. Die Spannung, die wir bereits im Verhältnis von Bild und apparition festge‐ stellt haben, lässt sich so in ein weiteres Begriffspaar umformulieren, in das von Rationalität und Mimesis. In diesem Begriffspaar stellt sich erneut die wi‐ dersprüchliche Aufgabe, das Festgehaltene und das Flüchtige so durcheinander zu vermitteln, ohne das eine im anderen aufzulösen. Die Spannung erweist sich dabei als die «zwischen objektivierender Technik und dem mimetischen Wesen der Kunstwerke». In ihr liegt die Anstrengung des Kunstwerks, das Flüchtige «in Dauer zu erretten».598 Spricht Adorno in diesem Sinne vom mimetischen Wesen der Kunstwerke, dann meint er offensichtlich nicht jene Nachahmung, die wir bereits zuvor in der Diskussion um den Bildbegriff als eine Weise der Abbildung verworfen haben.599 Mit dem Begriff der Mimesis
596 597 598 599
Ibidem, S. 274. Ibidem, S. 414. Ibidem, S. 325f. Zum Überblick über die Begriffsgeschichte von Mimesis siehe Josef Früchtl, Mimesis. Konstellation eines Zentralbegriffs bei Adorno, Würzburg 1986, S. 8ff. Zur Mehrdeutigkeit der Mimesis in der Ästhetischen Theorie siehe auch Gunzelin Schmid Noerr, Das
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in der Kunst beschreibt Adorno vielmehr eine andere Logik der Bezugnahme, als es das identifizierende und bestimmende Verfahren naturbeherrschender Rationalität darstellt. In ihr ist die Bezugnahme in anderer Weise organisiert. Anders als Adorno die naturbeherrschende Rationalität als ein identifizierendes Verfahren begreift, ist das mimetische Verfahren der Logik der Ähnlichkeit verpflichtet. Mimesis ist eine Form des Anschmiegens, «das sich selbst einem Anderen Gleichmachen».600 Rationalität und Mimesis stehen einander aber nicht beziehungslos gegenüber, sondern stehen miteinander in Verbindung. In geschichtsphilosophischer Perspektive, so führen es Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung aus, sind Mimesis und Rationalität nicht ein‐ fach zwei voneinander unabhängige Weisen der Bezugnahme, sondern durch einen Wandlungs- und Verdrängungsprozess aufeinander verwiesen. Die ältere, mimetische Verhaltensweise wurde dabei durch den Rationalisierungsprozess der Aufklärung verdrängt.601 Rationalität ist aber, so Horkheimer und Adorno, selbst eine Form von Mimesis: «Die Ratio welche die Mimesis verdrängt, ist nicht bloß deren Gegenteil. Sie ist selber Mimesis: die ans Tote.»602 Rationalität verdrängt die Mimesis, indem sie sich nicht mehr als eine Angleichung an ein anderes vollzieht, sondern, in Josef Früchtls Formulierung, eine «Anglei‐ chung an das Angleichende selber»603 darstellt. Wird die Natur im Zuge der Aufklärung zur blossen Objektivität, zu einem Toten, dann spiegelt sich in der herrschaftlichen Verfügung über die Natur auch nur die konstitutive Sub‐ jektivität selbst. Anstatt sich dem Objekt und dessen qualitativem Moment zu überlassen, wird dieses Moment zunehmend ausgeschlossen.604 Das «mimeti‐ sche Tabu», von dem Adorno in der Ästhetischen Theorie als einem «Hauptstück bürgerlicher Ontologie» spricht, meint gerade diese Verdrängung durch den Aufklärungsprozess, der mit der verwalteten Welt noch die letzten Rückzugsorte mimetischer Verhaltensweise ergreift.605 Das Kunstwerk in seiner Andersheit, als Nicht-Ort im gesellschaftlichen Funktionszusammenhang, ist vor diesem Hintergrund als «Zuflucht des mimetischen Verhaltens»606 zu verstehen. Was in den Ausführungen zur Rezeption als der Mitvollzug des inneren Zusammenhangs beschrieben wurde, lässt sich daher als mimetische Verhal‐
600 601 602 603 604 605 606
Eingedenken der Natur im Subjekt. Zur Dialektik von Vernunft und Natur in der Kritischen Theorie Horkheimers, Adornos und Marcuses, Darmstadt 1990, S. 150ff. Adorno, ÄT, S. 487. Vgl. Horkheimer und Adorno, DA, S. 25ff; S. 204. Ibidem, S. 75f. Früchtl, Mimesis, op. cit., S. 73. Vgl. Adorno, ND, S. 53f. Adorno, ÄT, S. 178. Ibidem, S. 86.
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tensweise verstehen, in der der Erfahrungs- und Verstehensprozess, erinnernd und erwartend, sich an den fortlaufenden Zusammenhang der Einzelmomente anschmiegt. Die Rezipientin macht sich in der Rezeption der Bewegung des Kunstwerks gleich. Das mimetische Moment spielt aber auch in die Produktion hinein. Denn auch die Künstlerin nimmt eine Bewegungstendenz auf und entfaltet sie in ihrer künstlerischen Arbeit. Die Künstlerin schmiegt sich in ihrer Arbeit einem ihr äusserlichen an und entfaltet es. Die passive Aktivität der Künstlerin, bzw. die aktive Rücknahme der Rezipientin, von der zuvor die Rede war, beschreiben also jeweils ein mimetisches Verhalten. Die Herausbildung des inneren Zusammenhangs im Prozess der Produktion entfaltet sich daher erneute in der Rezeption, in welcher das Werden der Werke erneut vollzogen wird. Der Produktionsprozess ist wesentlich durch ein mimetisches Verhalten bestimmt. Das mimetische Wesen der Kunstwerke stellt sich deshalb auch nicht einfach gegen die Objektivation der Kunstwerke. Es stellt viel mehr selbst ein Moment der Objektivation dar. Der Mimesisbegriff erhält so für die Kunst noch einen weiteren Sinn. In der Abgrenzung von der naturbeherrschenden Rationalität errettet sich im Kunstwerk durch seine Objektivation das Flüchtige, die Natur. Die Objektivation der Kunstwerke hat sich gerade als eine andere Objektivation gezeigt, insofern in ihr die Natur als ein Flüchtiges festgehalten wird. Ist das Kunstwerk zugleich Ding und Prozess, dann ist nicht nur die Produktion und Rezeption auf Mimesis verwiesen, sondern das Kunstwerk hält selbst den mimetischen Impuls fest. Mimesis stellt dabei gerade das «allem dinghaften Wesen unvereinbare Moment»607 dar. Indem das Kunstwerk den mimetischen Impuls festhält, ohne ihn selbst zum Ding werden zu lassen, hält es sich für den mimetischen Mitvollzug der Rezeption offen. Die Gegenüberstellung der Mimesis einerseits und der naturbeherrschenden Rationalität anderseits ist daher nicht einfach in eine Opposition von Rationa‐ lität und Irrationalität aufzulösen. Denn, so behauptet die Ästhetische Theorie, Kunst ist selbst Rationalität, nur in Gestalt ihrer Andersheit. Die Andersheit der Rationalität ist aber nicht einfach das Irrationale. Deshalb hat das Kunstwerk im Zuge fortschreitender Naturbeherrschung für die Natur einzustehen, ihr zur Sprache zu verhelfen. Die Natur ist eben gerade nicht das Irrationale, sondern das, was von Rationalität nicht erfasst und bestimmt wurde und deshalb für sie ein Nichtseiendes ist. Das Kunstwerk tut dies aber nicht in Abbildung von Natur, sondern «als nachahmender Impuls, also als Impuls der Mimikry, als der Impuls gleichsam,
607
Ibidem, S. 33.
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sich selber zu der Sache zu machen oder die Sache zu einem selber zu machen, die einem gegenübersteht.»608 Das mimetische Moment der Kunstwerke ist in ihrer Verwicklung mit Rationalität zu begreifen. Wie die Ausführungen zur Produk‐ tion gezeigt haben, hebt sich das autonome Kunstwerk von der heteronomen Verfügung der Gesellschaft als Funktionszusammenhang nur dadurch ab, indem es die naturbeherrschende Rationalität in ein reflektiertes Selbstverhältnis zu bringen vermag. Und auch in der Rezeption, im Scheitern des konstitutiven Subjekts, biegt sich das ästhetische Erfahren im mimetischen Mitvollzug in Widerständigkeit gegen den rationalen Zugriff des ordnenden Geistes. Was in der Rezeption mitvollzogen wird, ist eben die zur Selbstreflexion gebrachte Rationalität, die in letzter Konsequenz in kritischer Geste ihr Unvermögen nach aussen kehrte. Das mimetische Moment wird also nicht von der Rezipientin in die Werke hineinprojiziert, ebenso wenig, wie es im Produktionsprozess von der Künst‐ lerin in die Werke hineingetragen wurde.609 Was in der Produktion sich zum Kunstwerk entfaltet und was in der Rezeption mitvollzogen wird, ist jeweils schon die mimetische Verhaltensweise des Kunstwerks. Mimesis als die Verhaltensweise des Kunstwerks meint dann ein Anschmiegen, ein sich Gleichmachen mit sich selbst. Daher schreibt Adorno, dass die Mimesis der Kunstwerke «Ähnlichkeit mit sich selbst»610 sei. Anstatt dass das Kunstwerk sich einem anderen gleichmachen würde, macht sich das Kunstwerk in seiner Autonomie sich selbst gleich. Sich selbst gleichmachen meint dann, dass das Kunstwerk sich seinem «eigenen objektiven Ideal»611 gleichmacht. Die mimeti‐ sche Verhaltensweise der Kunstwerke, in welcher sie sich selbst gleichmachen, bezieht sich also auf den Anspruch, den sich die Kunstwerke selbst geben, die vollkommene und geglückte Durchbildung.612 Für das klassizistische Ideal, das 608 609
610 611 612
Adorno, ÄVL, S. 70. Dies hebt Adorno sowohl für die Rezipientin wie auch für die Künstlerin in der Ästhe‐ tischen Theorie explizit hervor. So heisst es in der Kritik an der Kulturindustrie: «Indem vom typischen Verhalten das Kunstwerk zum bloßen Faktum gemacht wird, wird auch das mimetische, allem dinghaften Wesen unvereinbare Moment als Ware verschachert. Der Konsument darf nach Belieben seine Regungen, mimetische Restbestände, auf das projizieren, was ihm vorgesetzt wird. […] Als tabula rasa subjektiver Projektionen jedoch wird das Kunstwerk entqualifiziert.» (Adorno, ÄT, S. 33.) In Bezug auf die Künst‐ lerin schreibt Adorno: «Nicht imitieren sie im Ausdruck einzelmenschliche Regungen, vollends nicht die ihrer Autoren; wo sie dadurch wesentlich sich bestimmen, verfallen sie als Abbilder eben der Vergegenständlichung, gegen die der mimetische Impuls sich sträubt.» (Ibidem, S. 169.) Ibidem, S. 159. Ibidem., S. 159. Vgl. Früchtl, Mimesis, op. cit., S. 80ff.
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im modernen Kunstwerk in seine Selbstkritik geraten ist, war dies das Ideal der vollständigen, stimmigen und gewaltlosen Vermittlung von Einzelmoment und Ganzem. Dieses Ideal hat sich jedoch als Trug erwiesen, da es sich nur durch die Nichtigkeit des Materials hindurch realisieren lässt. In der selbstkritischen Wendung spricht das Kunstwerk noch den Trug im eigenen Prinzip aus. Die Mimesis der Kunstwerke wird daher zur immanenten Differenz, indem das Kunstwerk die Unmöglichkeit, sich selbst gleichzumachen, ausspricht. Das Kunstwerk hält den mimetischen Impuls als sein Anderes fest. Nur so ist das Kunstwerk noch möglich, denn durch die immanente Differenz, die Andersheit des Kunstwerks, sperrt es sich gegen die zwei Seiten der Ent‐ kunstung. Es darf weder blosses «Ding unter Dingen» sein noch zum «Vehikel der Psychologie des Betrachters» gemacht werden.613 Das Kunstwerk ist ein Ding, das durch seine Andersheit zugleich mehr ist als ein Ding. Die Andersheit des Kunstwerks beschreibt diese innere Überschreitung, in der das Kunstwerk als Ding und Prozess sich gegenseitig vermittelt: «Kunstwerke sind Dinge, welche tendenziell die eigene Dinghaftigkeit abstreifen. Nicht jedoch liegt in Kunstwerken Ästhetisches und Dinghaftes schichtweise über‐ einander, so daß über einer gediegenen Basis ihr Geist aufginge. Den Kunstwerken ist wesentlich, daß ihr dinghaftes Gefüge vermöge seiner Beschaffenheit zu einem nicht Dinghaften sie macht; ihre Dinglichkeit ist das Medium ihrer eigenen Aufhebung. Beides ist in sich vermittelt: der Geist der Kunstwerke stellt in ihrer Dinghaftigkeit sich her, und ihre Dinghaftigkeit, das Dasein der Werke, entspringt in ihrem Geist.»614
Der Ding- und Prozesscharakter der Kunstwerke ist also ebenso durcheinander vermittelt. Der Geist, jene weitere Schicht der Kunstwerke, so die Einsicht in die ästhetische Transzendenz, geht eben nur im und durch den Prozess des inneren Zusammenhangs der Kunstwerke auf. Das Mehr der Kunstwerke geht aus dem inneren Zusammenhang, aus der spezifischen Durchbildung der Kunstwerke hervor, übersteigt und verneint ihn aber zugleich auch. Der innere Zusammenhang wird so «zum Medium ihrer [der Kunstwerke, W.A.] eigenen Aufhebung»615, denn der Prozess der Kunstwerke entspringt erst aus dem Dingcharakter der Kunstwerke und geht so noch gegen seine eigene Dinghaftigkeit. Und so schreibt Adorno: «Ist den Kunstwerken wesentlich, Dinge zu sein, so ist es ihnen nicht minder wesentlich, die eigene Dinglichkeit zu negieren, und damit wendet sich die Kunst
613 614 615
Adorno, ÄT, S. 33; vgl. auch ibidem, S. 410. Ibidem, S. 412. Ibidem, S. 412.
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gegen die Kunst. Das vollends objektivierte Kunstwerk fröre ein zum bloßen Ding, das seiner Objektivation sich entziehende regredierte auf die ohnmächtige subjektive Regung und versänke in der empirischen Welt.»616
Die Kunstwerke erhalten sich als Kunstwerke nur, sofern sie sowohl Ding und Prozess zugleich sind und die immanente Differenz so an sich auszutragen vermögen, dass sie keiner der zwei Seiten der Entkunstung verfallen. Nur durch ihre Andersheit sind die Kunstwerke noch Kunstwerke. Das moderne Kunstwerk kehrt diese Differenz gerade nach aussen und macht so noch seine eigene Krise thematisch. Die Möglichkeit des Kunstwerks liegt also in seiner Andersheit. Die Produktion und die Rezeption werden jeweils am eigenen Anspruch der Kunst zum Scheitern gebracht, und gerade das macht das Kunst‐ werk erst zum Kunstwerk. Weder ist es durch seine Produktion vollständig zu bestimmen, denn es ist nicht einfach ein Ding, noch lässt es sich in der Rezeption vollständig fassen, denn es ist nicht auf seinen Mitvollzug, auf seinen Prozess zu reduzieren. Das Kunstwerk bestimmt sich vielmehr durch sein Unvermögen, seinem eigenen Anspruch gerecht zu werden. IV. Das gelungene Kunstwerk Der am Anfang der Arbeit zitierte Satz aus der Ästhetik-Vorlesung von 1958/59 kann nun erneut auf die Probe gestellt werden. Er stand im Hintergrund der hier gemachten Überlegungen zu Adornos Kunstwerkbegriff in der Ästhetischen Theorie. Er lässt sich nun in seinem vollen Gehalt lesen. Der Satz lautete: «Also die Kunst ist nicht etwa einfach unter den Begriff der Vernunft oder der Rationalität zu subsumieren, sondern ist diese Rationalität selber, nur in Gestalt ihrer Andersheit, in Gestalt – wenn Sie wollen – eines bestimmten Widerstandes dagegen.»617
Dass die Kunst nicht unter den Begriff der Vernunft oder Rationalität subsu‐ mierbar ist, hat sich in der Widerständigkeit des Kunstwerks gegen diese gezeigt. Das Kunstwerk widerstrebt in seiner Andersheit der rationalen Durch‐ dringung. Zum Widerständigen wurde das Kunstwerk durch seine Andersheit, durch seine immanente Differenz. Dabei wird das Kunstwerk zum Anderen der Gesellschaft, indem es sich gegen die Verwertungslogik des gesellschaftlichen Funktionszusammenhangs abdichtet, wie es noch in sich das Andere ist, da es durch seine spezifische Gestalt der Natur zur Sprache verhilft. In seinem
616 617
Ibidem, S. 262. Adorno, ÄVL, S. 22.
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äusseren Bezug, als das Andere der Gesellschaft, wie in seiner inneren Durch‐ bildung, ist das Kunstwerk so durch seine Andersheit bestimmt. Die Produktion und die Rezeption haben dabei den Rahmen aufgespannt, in dem diese Andersheit zu denken ist. Dass beide letztendlich an ihrem eigenen Anspruch scheitern, heisst aber nicht, so zeigte sich, dass das Kunstwerk nicht mehr möglich wäre. Der Kunstwerkbegriff wird von Adorno nicht ver‐ worfen, sondern das Kunstwerk kehrt in letzter Konsequenz noch sein eigenes Unvermögen hervor. Das Kunstwerk gelingt nun, sofern es sein Unvermögen, dem eigenen Ideal zu entsprechen, gelingend zur Artikulation bringt. Der Wahrheitsgehalt des Kunstwerks spricht in seiner Negativität das Unvermögen der naturbeherrschenden Rationalität, seinem eigenen Anspruch gerecht zu werden, aus. Obwohl sich das Kunstwerk in der Ästhetischen Theorie in einer äusserst prekären Situation befindet, hält Adorno am Kunstwerkbegriff und an dessen Gelingen fest. Kategorisch schreibt Adorno: «Der Begriff des Kunstwerks im‐ pliziert den des Gelingens. Mißlungene Kunstwerke sind keine, Approximati‐ onswerte der Kunst fremd, das Mittlere ist schon das Schlechte.»618 Ob sich nun etwas als ein Kunstwerk erweist, ist daher nicht an qualitativen Abstufungen festzumachen. Entweder vermag sich ein Kunstwerk als Kunstwerk zu erweisen oder nicht. Kein vermeintlicher Massstab könnte die Qualität eines Kunstwerks messen als derjenige, den sich das Kunstwerk selbst auferlegt. Dieser wird nun aber als Trug eingesehen und in seiner Unmöglichkeit ausgesprochen. Hält Adorno jedoch am Gedanken des Gelingens weiterhin fest, so meint er nun nicht mehr die Erfüllung des klassizistischen Ideals, sondern das gelungene Misslingen jenes Ideals.619 Dies gelingt dem Kunstwerk durch seine immanente Differenz. Daher gelingen die Kunstwerke nur durch ihre Andersheit. Der Widerspruch im Gelingen wird zum Organisationsprinzip des Kunstwerks. In der dreifachen Rechtfertigungskrise rettet sich das Kunstwerk noch durch seine eigene Krise, indem es «durch Demontage des Anspruchs»620 zugleich an seinem Gelingen und dem Widerspruch im Gelingen festhält. Anstatt über die Wider‐ sprüche, die dem Kunstwerk durchs Material als Formprobleme aufgegeben sind, hinwegzugehen, kehrt das Kunstwerk sie durch seine Gestaltung hervor:
618 619 620
Adorno, ÄT, S. 280. So schreibt Adorno in einer Notiz zu Beethoven: «Die Kunstwerke des obersten Ranges unterscheiden sich von den anderen nicht durchs Gelingen – was ist schon gelungen? – sondern durch die Weise ihres Mißlingens.» (Adorno, BPM, S. 149.) Adorno, ÄT, S. 283.
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«Die Gestaltung der Antagonismen schafft sie nicht weg, versöhnt sie nicht. Indem sie erscheinen und alle Arbeit an ihnen bestimmen, werden sie zum Wesentlichen; dadurch daß sie im ästhetischen Bild thematisch werden, tritt ihre Substantialität desto plastischer hervor.»621
Das Kunstwerk arbeitet sich also an den Antagonismen, die ihm durch das Ma‐ terial aufgegeben sind, in der Weise ab, dass sie selbst noch thematisch werden. Das Kunstwerk gelingt eben nur dann, sofern es die inneren Widersprüche einbekennt und so den Trug im eigenen Prinzip zum Sprechen bringt. Im Anschluss an Adorno, dass nur das gelungene Kunstwerk überhaupt noch Kunstwerk genannt werden darf, geht Albrecht Wellmer in seinem Versuch über Musik und Sprache der Frage nach dem Kunstwerk im Lichte seiner Gelungenheit nach. Wellmer hält dabei fest, dass sich die Gelungenheit aber weder als objektive Eigenschaft von Werken beschreiben lässt noch, dass sie sich lediglich als Wirkung auf ein Rezeptionssubjekt reduzieren liesse. Das Kunstwerk ist so weder durch seine Eigenschaft als Objekt zu bestimmen noch durch ästhetische Erfahrung. Das Kunstwerk ist letztendlich Ding und Prozess zugleich. Und so kommt Wellmer zur Folgerung, dass «der Ort des Kunstwerks […] – wenn wir es in der Subjekt-Objekt-Terminologie ausdrücken wollen – irgendwie zwischen einem ‹Subjekt› und seinem ‹Objekt› liegen muß.»622 Zu klären wäre dabei gerade das «irgendwie», die spezifische Weise, in der das Kunstwerk zwischen Subjekt und Objekt liegt. Das Kunstwerk lässt sich nicht im Subjekt-Objekt-Verhältnis naturbeherrschender Rationalität fassen. Es lässt sich nicht unter den Begriff von Vernunft oder Rationalität subsumieren. In der Rede vom Vorrang des Objekts wurde dies einsichtig. Der Vorrang des Objekts hat sich als die Negativität des Vorrangs des Subjekts gezeigt, indem sich das Kunstwerk dem Subjekt als Objekt entzieht. Das Kennzeichen hierfür war die Erschütterung konstitutiver Subjektivität. Das Kunstwerk ist aber auch nicht in der Bestimmung des Erfahrungs- und Verstehensprozesses aufzulösen. Es lässt sich ebenso wenig auf seinen Pro‐ zesscharakter, auf sein Werden reduzieren. Aus der Dialektik von Ding und Prozess hat sich gezeigt, dass der Prozess, der im Kunstwerk festgehalten ist, erst aus dem im Werk hergestellten inneren Zusammenhang hervorgeht. Der Prozess, den die Rezipientin immanent mitvollzieht, ist somit wieder auf die objektive Seite des Werkes verwiesen. Daher beschreibt die Prozessualität der ästhetischen Erfahrung das Gelingen des Kunstwerks ebenso unvollständig. Das Kunstwerk gelingt eben nur, wenn es sowohl Ding und Prozess zugleich ist. 621 622
Ibidem, S. 283. Albrecht Wellmer, Versuch über Musik und Sprache, München 2009, S. 125.
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Deshalb ist der Ort des gelungenen Kunstwerks irgendwie zwischen Subjekt und Objekt. Das gelungene Kunstwerk, das irgendwie zwischen Subjekt und Objekt steht, beschreibt aber nicht einen dritten Standpunkt, an dem das Kunstwerk nun zu verorten wäre. Das entscheidende am Kunstwerk ist auch nicht, wie etwa Wellmer meint, dass es «in einem öffentlichen Raum zwischen ästhetisch erfah‐ renden Subjekten lokalisiert»623 sei, sondern wie es dieses «zwischen» durch seine Gestalt thematisch werden lässt. Dass das Kunstwerk zwischen Sub‐ jekt und Objekt steht, meint vielmehr, dass es durch seinen permanenten Entzug das unbestimmbare zwischen Subjekt und Objekt kenntlich macht. Das Kunstwerk bringt die wechselseitige Vermittlung von Subjekt und Objekt und damit auch die naturbeherrschende Rationalität so ins Scheitern, dass das Subjekt-Objekt-Verhältnis selbst thematisch wird. Thematisch wird das Subjekt-Objekt-Verhältnis naturbeherrschender Rationalität, indem das Kunst‐ werk es zum Scheitern bringt. Und zum Scheitern bringt das Kunstwerk das Subjekt-Objekt-Verhältnis naturbeherrschender Rationalität durch seine Andersheit. Die Andersheit des Kunstwerks, durch die es zum Anderen der Gesellschaft wird, ist die Rationalität in Gestalt ihrer Andersheit. Die Andersheit des Kunstwerks bestimmt das Kunstwerk noch in seinem Gelingen. Da für Adorno nur noch das gelungene Kunstwerk ein Kunstwerk ist, entscheidet über die Möglichkeit des Kunstwerks, ob es ihm gelingt, die immanente Differenz, die zwischen sich selbst und seiner Andersheit ist, in sich einzuschreiben. Das Kunstwerk ist nur dort Kunstwerk, wo es noch gegen sich selbst geht. Die Möglichkeit des Kunstwerks liegt in seiner eigenen Negation. Was das Kunstwerk ist, lässt sich daher nicht sagen, es lässt sich aber verständlich machen, warum es sich nicht sagen lässt. Die Explikation der Andersheit des Kunstwerks führt dies aus.
623
Wellmer, Versuch über Musik und Sprache, op. cit., S. 134. (Hervorhebung im Original)
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ISBN 978-3-7720-8781-3
Azzouz Die Andersheit des Kunstwerks
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Wacyl Azzouz
Die Andersheit des Kunstwerks Zu Theodor W. Adornos Kunstwerk begriff in der Ästhetischen Theorie