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German Pages [792] Year 2016
https://doi.org/10.5771/9783495807859 .
Detlef D. Spalt Die Analysis im Wandel und im Widerstreit
VERLAG KARL ALBER
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A
Titel wie »6000 Jahre Mathematik«, »5000 Jahre Geometrie«, »4000 Jahre Algebra« und »3000 Jahre Analysis« sind grundfalsch. Die Mathematik, mit der wir es zu tun haben, hat ihre Formierungsgeschichte in den letzten knapp 400 Jahren erfahren. Diese Studie zeigt, wie heftig um jeden der Grundbegriffe der Mathematik (wie Zahl, Größe, Wert, Funktion, Differenzial) gerungen wurde, bis er in der heutigen Weise geprägt war. Es ist eine unendliche Geschichte um kleinste Details, die in kürzester Zeit im Streit durchfochten wurde und dennoch nicht ohne Vagheiten auskam, weil sich nichts Besseres finden ließ - für die Rechnung aber reichte es allemal. Zugleich bedeutet die Darstellung der Analysis seit Descartes eine Würdigung der Arbeit der Mathematiker und deren Konsequenzen: den dramatischen Begriffs- und damit Bedeutungswandel grundlegender Lehrsätze der Analysis.
Der Autor: Detlef D. Spalt studierte 1970–75 Mathematik an der TH Darmstadt, 1981 Promotion mit einem Thema zur Analysisgeschichte, 1992 Ablehnung der Habilitation, Gastvorlesungen an den Universitäten Salzburg (mehrfach), Marburg und derzeit Frankfurt am Main.
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Detlef D. Spalt
Die Analysis im Wandel und im Widerstreit Eine Formierungsgeschichte ihrer Grundgeschichte
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2015 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: Detlef D. Spalt (LATEX) Herstellung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Umschlagmotiv: l’Hospital 1696, Fig. 1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany
ISBN 978-3-495-48740-2 E-ISBN 978-3-495-80785-9
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dem Andenken an Birgit (1964–2013)
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Vorwort
WAS IST DIE M ATHEMATIK ? Dieses Buch beleuchtet diese Frage, indem es den Wandel der Mathematik aufzeigt. Die mächtigste mathematische Theorie, die wir heute kennen, die Analysis (früher: Differenzial- und Integralrechnung, auch: Infinitesimalrechnung), wurde in den vergangenen dreieinhalb Jahrhunderten geschaffen. Wie dies möglich wurde, wird hier gezeigt. F ÜR WEN ? Wer gar nicht weiß, wovon die Analysis handelt, wird nach dem ersten Kapitel nicht mehr leicht Gewinn aus diesem Buch ziehen. Wer sich jedoch bereits ein wenig mit „Funktionen“ und „Stetigkeit“, mit „Reihen“ und „Konvergenz“, mit „Ableitung“ und „Integral“ befasst hat, kann dieses Buch verstehen. Die Grundbegriffe der Analysis werden hier nicht erklärt, sondern ihre Kenntnis wird vorausgesetzt – genauer: die Kenntnis ihrer heutigen Bedeutung. Wie diese heutige Bedeutung zustande kam, ist Gegenstand des Buches. Die Probleme von Geist und Materie, Möglichkeit und Wirklichkeit, Sinn und Bedeutung mathematischer Begriffe haben das Denken auch der großen Mathematiker bestimmt. Diese Aspekte gehören daher zum Gegenstand dieses Buches. WARUM ? Merkwürdigerweise scheint sich noch niemand für die Erforschung dieses Themas erwärmt zu haben. W IE ? Die Aufgabe ist ebenso einfach wie schwer: Was die Mathematik ist, wissen wir nur aus Texten. Also erfahren wir, was die Mathematik war, indem wir die früheren Texte (respektvoll „Quellen“ genannt) lesen. So einfach diese Feststellung war, so schwierig ist ihre Realisierung. Denn schnell zeigt sich: Die Lektüre der Quellen ist nicht trivial, die Früheren haben sich ganz anders ausgedrückt als wir heute. Dieses Ganz-Andere zu verstehen ist nun die Aufgabe, und eine Lösung dieser Aufgabe bringt eine Antwort auf unsere Frage zutage: welches der Wandel der Analysis war. Die Grundlage dieses Buches sind die Originaltexte der Früheren.
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Vorwort W OHER ?
S. 731 S. ix ff.
S. xxvi
Der folgende Text ist das Skriptum der Vorlesung, die im Wintersemester 2013/14 im Fachbereich Informatik und Mathematik der Universität Frankfurt gehalten wurde. Im Vordergrund steht also die Lesbarkeit. Die zahlreichen Querverweise innerhalb des Textes (die typografisch in den Rand verschoben wurden) müssen die im Vortrag gegebenen ergänzenden Hinweise ersetzen und stellen die Zusammenhänge der Quellen her. Sie werden auch jenen nutzen, die im Buch eher nachschlagen als es ganz lesen wollen. Dennoch enthält dieser Text nicht weniges Neue, erhebt also wissenschaftlichen Anspruch. Deswegen war alles zu belegen, die Herkunft jeder Quelle genau anzugeben. Das umgibt den Text mit einigem Brimborium, das wissenschaftlich unverzichtbar ist: Fußnoten als Verweise auf das Literaturverzeichnis sowie die üblichen Register. Sie mögen den Fachleuten – soweit sie sich heranwagen – zur Erschließung des Textes dienlich sein. (Da die hier verfolgte Vorgehensweise neu ist, ging es nicht ganz ohne neue Fachbegriffe. Sie sind im Register „Technik“ gesondert zusammengestellt und werden im Text ganz sanft eingeführt.) Das Inhaltsverzeichnis ist ausführlich gehalten. Es soll dem Neuling die Sache schmackhaft machen und zur Orientierung dienen. Die Vorlesung dauerte ein Semester, und zur Erstellung des Textes hatte ich jenes halbe Jahr Zeit. (Es gab freilich ein paar Jahrzehnte vorgängiger Befassung mit dem Thema, in den letzten beiden Jahrzehnten nur nebenberuflich.) Die für den Druck natürlich erforderliche Überarbeitung des Skriptumsa erfolgte danach, ebenfalls nebenberuflich und mit der unten genannten Unterstützung. Dabei konnte noch manche der offenen Fragen behandelt werden.1 Jede neue Überarbeitung würde den Text maßgeblich ausweiten. Das würde ihn gewiss reichhaltiger machen, wohl aber kaum lesefreundlicher. Insofern mag es klug sein, der Arbeit an diesem Text ein – in gewissem Sinne: willkürliches – Ende zu setzen. Damit ist klar: Dieser Text kann und will nicht das letzte Wort in seiner Sache sein. Ohne ein leistungsfähiges Satzsystem wie LATEX wäre diese Aufgabe nicht in dieser Zeitspanne zu bewältigen gewesen.2 Ich nutze das KOMA-Script von M ARKUS KOHM und J ENS -U WE M ORAWSKI und profitiere unter vielem anderen insbesondere von den Paketen: parallel von M ATTHIAS E CKERMANN (auch wenn es sich dabei leider nur um eine Beta-Version handelt, die noch einigen Beschränkungen unterliegt) für die zweisprachigen Zitate; bigfoot von D AVID K ASTRUP für den a
Detlef D. Spalt 2014/2015, Die Analysis im Wandel und im Streit – Die Entwicklung der Grundlagen der Analysis, in den Quellen gelesen, Universität Frankfurt. Das Vorgängerprojekt war eine Vorlesung am Fachbereich Mathematik und Informatik der Universität Marburg im Sommersemester 2008 mit dem Skriptum: Geschichte der Analysis, 679 Seiten.
1
Der Abschnitt „L EIBNIZ’ Begriff der Zahl“, S. 79–100, kam so zustande. Unverzichtbar: Mittelbach und Goossens 2 2005, nützlich auch: Niedermair und Niedermair 2004, wohl auch Lignau 2007.
2
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Vorwort Fußnotensatz sowie picins aus dem Jahr 1992 von J. B LESER und E. L ANG , das leider nicht mehr mit texlive verteilt wird. Besonders danke ich B ERND R AICHLE, der mir einst (binnen Stunden) den ergänzenden Code zum ngerman.sty-File für die fakultative Silbentrennung beim Apostroph sandte. Ein effizienter Editor wie der GNU-Emacs, der viele Dateien parallel öffnen kann und dabei für jede eine ausgeprägte History-Funktion vorhält, erleichtert die Arbeit enorm. Ich danke Herrn L UKAS T RABERT vom Verlag Karl Alber dafür, dass er sich prompt zur Publikation bereit erklärt, Wohlwollen signalisiert und mir bei der Gestaltung des Textes freie Hand gelassen hat.
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Inhalt
Vorwort
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Inhalt
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Einleitung
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1. Die Erfindung der formalen Algebra durch Descartes Der Stand der Dinge vor Descartes: Galilei um die Jahre 1623–38 Die geläufige Version Die tatsächliche Version Descartes’ mathematische Großtat Erster Versuch: Descartes’ Algebra mit Figuren (bis 1628) Das Ausgangsproblem Die »Regulae«: Rechnen mit Figuren Die Leistungsfähigkeit des menschlichen Denkens Descartes’ Vorgehensweise Was sind Figuren, und wie soll mit ihnen verfahren werden? Descartes’ Zielsetzung Zweiter Versuch: Descartes’ Algebra mit Streckenlängen (ab 1637) – die Erfindung der formalen Algebra Die grundlegenden Konstruktionen Reflexion 1 Die bahnbrechende Erfindung Die Erfindung der rein formalen Gleichung Reflexion 2 Die Rückbindung der algebraisch gefundenen Gleichungslösung an die Geometrie Descartes hat nur positive Grössen – und keine Koordinaten Ergebnis Ein Blick auf Descartes’ Ontologie Substanz, Attribut, Modus Zwei Substanzen Geometrie und Arithmetik bei Descartes Bewegung in der Mathematik Ein ontologischer Nachtrag
1 1 1 2 3 4 4 6 6 7 8 11 17 18 19 21 25 26 28 30 31 31 32 32 34 35 38
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Inhalt Historiografische Nachträge Die Erfindung der Operationszeichen + und − Das cossische Rechnen Recorde oder: Die Erfindung des Gleichheitszeichens Viète oder: Rechnen mit geometrischen Figuren – nicht formal Eine weltgeschichtliche Analogie zu Descartes’ Leistung Die Anfänge von Descartes’ Gleichungslehre Warum „Algebra“? Descartes’ Leistung für die Grundlagen der Mathematik Warum also „Algebra“? Zur philosophischen Bedeutung von Descartes’ Leistung für die Mathematik
2. Die Erfindung der stetig Veränderlichen durch Leibniz Die bei Descartes verbliebene Begriffslücke Verschiedene Arten von Gleichungen Worin besteht das Problem bei Descartes? Descartes’ Ablenkungsmanöver Die Lösung des Descartes’schen Problems in der Analysis: eine Begriffsverschiebung Der Gegenstand Die Bedeutung dieser Lösung des Descartes’schen Problems Eine Bewertung dieser Lösung Wie kann Leibniz zum Begriff der veränderlichen Größe kommen? Zu Leibniz’ Begriff der Monade Leibniz’ Begriff der Veränderung Leibniz’ Begriff(e) von (Raum und) Zeit Leibniz’ Begriff der Zahl Der junge Leibniz war Pythagoreer Ontologisch gefragt: Was ist die Zahl? Begrifflich gefragt: Wie ist „Zahl“ bestimmt? Das Verfahren der Größen- und der Zahlbestimmung Zur Deutungsgeschichte des Leibniz’schen Zahlbegriffs Zwei Schlussbemerkungen zu Leibniz’ Zahlbegriff Das erste allgemeine Konvergenzkriterium Die Quelle Aus dem Inhalt Das Konvergenzkriterium (ohne den Begriff der Konvergenz) Leibniz’ Technik der Infinitesimalrechnung: strenge Epsilontik – das Riemann-Integral Die Konstruktion Der Beweis
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38 38 43 45 46 48 52 59 60 61 63
65 65 65 67 68 70 70 70 70 71 71 73 78 79 79 80 80 85 89 99 101 101 102 102 105 106 108
Inhalt Bedingungen an diesen Beweis Das Neuartige an diesem Beweis Der Preis des Neuartigen Leibniz’ Begründung der Differenzialrechnung Die Quelle Das Kontinuitätsgesetz Unendlich kleine und unendlich große Größen – als „erdichtete“ Die Differenzialregeln Leibniz erweitert den Geltungsbereich der Mathematik Der Ausgangspunkt: Descartes’ La Géométrie Leibniz’ Erweiterungsprogramm Durch die Einführung der veränderlichen Größe wird das Kontinuum zu einem Gegenstand der Mathematik Transzendente Zahlen Das Kontinuum besteht nicht nur aus Zahlen Leibniz als Begriffs- und Symbolerfinder Characteristica universalis Von Leibniz erfundene Symbolik Einige von Leibniz angeregte Konstruktionen und Begriffe Die Erfindung der stetig Veränderlichen und der Epsilontik Der Begriff der Veränderlichen Die „Stetigkeit“ der Veränderung Nochmals: Was ist für Leibniz eine Veränderliche? Historiografischer Nachtrag I – die Indivisibeln Das Indivisibel im scholastischen Kontinuumsbegriff Cavalieri Unverständnis Torricellis Indivisibeln Fermat, Roberval Fazit Historiografischer Nachtrag II – die Stetigkeit des Kontinuums Historiografischer Nachtrag III – Newtons Fluxionsrechnung Newtons mathematische Grundbegriffe Newtons Verfahrensweise Newtons Fluxionsmethode: die „Methode der verschwindenden Größen“ Analyse Rückblick
3. Die Grundlagen der Algebraischen Analysis
109 110 110 111 111 111 113 117 122 122 123 124 125 127 128 128 128 130 136 136 137 138 140 140 140 143 144 146 146 147 148 148 150 150 160 161
163
Johann Bernoullis Kalkül der Differenziale Eine vage Diffusion von Ideen Leibniz’ Publikation der Differenzialregeln
163 163 163
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Inhalt Johann Bernoullis Differenzialkalkül Zusammenfassung: Der Wechsel von der Geometrie zur Algebra Die heftige Kontroverse zwischen Leibniz und Johann Bernoulli – vom geometrischen Differenzial zur unendlich kleinen Zahl? Ein Nachtrag zur Kettenregel l’Hospitals Umsetzung der Vorgabe Johann Bernoullis Veränderliche und Konstante l’Hospitals Begriff des Differenzials Die Forderung Differenzialregeln l’Hospital ist konsequenter als Johann Bernoulli Die Weitergabe von Johann Bernoullis Differenzialkalkül Eulers Begriffe von Funktion und Zahl Vorspiel Die Inthronisierung des wichtigsten Begriffs der Analysis: Funktion Eulers Algebra mit Größen Eulers Zahlbegriff Konvergenz Stetigkeit Eulers Denkmuster der Analysis: „Algebraische Analysis“ Vier Weiterführungen (1) d’Alemberts Begriff der Größe: eine Kritik an Euler (2) Der Begriff der Größenordnung (3) Die Taylorreihe in der Algebraischen Analysis – Lagrange (4) Das Konvergenzverständnis von Lacroix Was war die Algebraische Analysis? Johann Bernoullis Beitrag Eulers Denken der Algebraischen Analysis
4. Die Begründung der Werte-Analysis
166 179 179 187 188 188 189 190 190 192 193 193 193 194 216 223 245 253 255 255 255 258 261 267 268 268 270
275
Vom Wandel der Dinge Der doppelte Auftakt, Teil 1: Bernard Bolzano 1817 Bolzanos Zielsetzung Bolzanos Durchführung seines Programms Bolzanos Funktionenlehre Der doppelte Auftakt, Teil 2: Augustin-Louis Cauchy 1821 Das Programm Cauchys Stufenaufbau der Grundlagen der Analysis Veränderliche, Grenze, Irrationalzahlen, Funktion, Funktionswert und unendlich Kleine Stetigkeit und Konvergenz – die Definitionen Differenzenverhältnis und Ableitung
275 276 277 281 292 297 297 300 303 314 331
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Inhalt Das Differenzial bei Funktionen einer Veränderlichen Das Integral Rekapitulation der Revolution
5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872
336 339 344
351
Nichtverstehen der Cauchy’schen Analysis Niels Henrik Abel 1826 Zusammenfassende Bewertung von Abels Kritik Philipp Ludwig Seidel 1850 Unsicherheiten beim Begriff des Funktionswerts Ein einziger treuer Cauchy-Leser? Dirichlets zögerliche Position Riemanns klarer Schnitt beim Funktionsbegriff stößt das Tor zur Mengenlehre auf Riemann übersieht den Sachverhalt der gleichmäßigen Konvergenz Die Ambivalenz der Werte-Revolution Gleiche Bestimmungen von Stetigkeit und Konvergenz Zwei sehr unterschiedliche Funktionsbegriffe Ergebnis Unterschiedliche Methodiken Cauchys ‚Grenzwertsprache‘ Riemanns ‚Epsilontik‘ ‚Epsilontik‘ contra ‚Grenzwertsprache‘ Missverständnisse Methodisches Fazit und eine fachliche Konsequenz Weierstraß’ Ringen um die Grundbegriffe der Analysis Größe, Grenze, Kontinuum Der „Satz vom Verdichtungspunkt“ Weierstraß’ Funktionsbegriff (im Wandel) Weierstraß’ hartnäckige Arbeit am Zahlbegriff Ein veränderter Blick auf Weierstraß
6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 Die Situation ante Hankels Bestandsaufnahme zum Begriff der irrationalen Zahl im Jahr 1867 Die Artikulation der Misere durch Eduard Heine Rückblick: Weierstraß’ Konstruktion Cantors Blick auf Weierstraß’ Konstruktion Cantors Deutung von Weierstraß’ Konstruktion
351 351 355 355 362 362 363 370 376 380 380 380 381 382 382 382 383 383 387 388 389 399 402 415 439
447
447 447 452 454 454 456
xiii
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Inhalt Die Neuschöpfung – Variante 1: Cantor und Heine 1872 Cantor: Zahlgrößen im weiteren Sinne Eine Hierarchie neuer Zahlbereiche – Die Gleichheit Heines Versuch der Reduktion der Hierarchie Eine erste topologische Fassung des „Satzes von Bolzano-Weierstraß“ Freges Kritik an Cantors und Heines Begriffsbildungen Logische Unterscheidungen Der ontologische Aspekt: Was ist „Zahl“? Was ist „Gleichheit“? Freges Kritik am formalen Zahlbegriff Woher und warum hat Heine den Begriff der „Zahl“ als „Zeichen“? Freges Ablehnung der neuen Relationen Was hat Frege übersehen? – Der analytische Zugewinn des neuen Zahlbegriffs Die Neuschöpfung – Variante 2: Dedekind 1872 Nochmals Cantor 1872: Der Bezug zur Geometrie Die Entstehung der Schrift Dedekinds Vorgehen: Eine Analogie von Arithmetik und Geometrie Die „Stetigkeit“ der geraden Linie Die Schöpfung der irrationalen Zahlen Reflexion Freges Kritik an Dedekinds Konstruktion Russells Glättung der Dedekind’schen Konstruktion Nachtrag: Mérays Skizze aus dem Jahr 1869 Zwei Prinzipien „Fiktive Grenzen“ Rekapitulation und Einschätzung Drei Jahre später Rückblick auf die Revolution des Zahlbegriffs Welches neuen Konstruktionsmittels bedienen sich Cantor, Heine und Dedekind? – Die Einführung des „aktualen“ Unendlich in die Mathematik Ausblick auf eine lange unterbliebene Revolution des Zahlbegriffs: Die Ω-Analysis 1958 Rekapitulation der Herkunft des Cantor’schen Zahlbegriffs Die Ω-rationalen Zahlen Quasirationale Ω-Zahlen Anordnungen der Ω-rationalen Zahlen Drei verschiedene Arten des Größenvergleichs Grenzwerte für Ω-rationale Zahlen Warum nicht? Eine intensionale Fassung des Zahlbegriffs: Husserl Die Zielsetzung Der Ausgangspunkt
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458 458 463 465 468 468 469 469 470 471 474 475 477 479 479 481 482 483 488 496 501 504 508 508 510 513 514 517
518 519 519 520 522 523 524 532 538 539 539 540
Inhalt Die Unterscheidung von „Vielheit“ und „kollektive Verbindung“ Zugängliche Zahlen Symbolische Zahlen Rechnen Zur Bedeutung des dekadischen Zahlensystems Ausblick Die Axiomatisierung der reellen Zahlen durch Hilbert „18 Axiome“ Pro und contra axiomatische Methode Standortbestimmung zum Zahlbegriff und Ausblick Das Neue am Zahlbegriff seit 1872 Sind die Ω-Zahlen die modernen Inkommensurablen? Das Verschwinden der „unendlich kleinen“ Größen aus der Analysis Die Abdankung des begrifflichen Denkens Willkürliches Denken Die Neugründung der Mathematik
7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff Heine: Funktionenlehre über dem neuen Zahlbegriff Eine erste Konsequenz für die Funktionenlehre über dem neuen Zahlbegriff Eine zweite Konsequenz Der Zwischenwertsatz Die gleichmäßige Stetigkeit Nach Riemann lange nichts Neues Der Gegensatz zwischen Weierstraß’ und Riemanns Funktionsbegriff Die Tradition der deutschsprachigen Literatur folgt Riemann Die französische Tradition Der offizielle Entwicklungsstand des Funktionsbegriffs am 10. August 1899 Klein: Mathematik als Theorie der Naturerscheinungen Mathematik vom erkenntnistheoretischen Standpunkt aus Zwei grundlegende Sätze in der Sprache der Mengenlehre Die unabhängig Veränderliche Der Begriff der Funktion Stetigkeit Das bestimmte Integral Die vernünftigen Funktionen Zwischenbilanz im Jahr 1913 Vorspiel: Georg Cantor 1895 Nachtrag: Cantors Mengenbegriff
541 545 549 551 557 559 559 560 564 573 574 575 576 577 578 580
581
581 582 583 585 585 586 586 588 597 606 611 612 623 624 625 627 635 635 637 638 638
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Inhalt „Funktion“ zwischen „Mengen“ Pasch: Die Funktion als Menge (1) Paschs Anfangsbegriffe Reihe und Menge Wert und Veränderliche Argument, Abhängigkeit und Funktion Zweierlei Stetigkeit
638 639 639 642 643 644 648
Hausdorff:Die Erfindung der Mengen-Analysis – die Funktion als Menge (2) Richtigkeit vor Plausibilität Der mengentheoretische Begriff „Funktion“ Drei verschiedene Begründungsweisen der ‚Mengen-Analysis‘: je nach Geschmack Topologie als Umgebungssystem Aus eins mach zwei: Von der „Grenze“ zu „Limes“ und „Häufungspunkt“ „Stetigkeit“ als topologischer Begriff Was der Punktmengen-Analysis nach Hausdorff fehlt Metrischer Raum Ein Fazit für ‚Epsilontik‘ und ‚Grenzwertsprache‘ Nach dem großen Kulturbruch Eine erste Monographie: Hahn 1921 Kurze Bemerkungen zur Lehrbuchliteratur Standortbestimmung zum Funktionsbegriff und Ausblick Rückblick auf die Entwicklung des Funktionsbegriffs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Ontologische Standortbestimmung der heutigen Analysis
Ausklang: Das aktuale Unendlich – der philosophische Joker in der heutigen Mathematik Umbrüche des mathematischen Denkens Wie ist es um die Strenge der Mathematik bestellt? Welche Eigenschaften hat das aktuale Unendlich? Beispiel Logik Beispiel Arithmetik Ein Drittes gibt es nicht Frühere Betrachtungsweisen Bolzano Dedekind und Cantor Standard- und Nichtstandard-Analysis
650 650 651 653 654 656 657 658 659 661 661 661 663 666 666 666
671 671 675 676 676 677 677 678 678 679 680
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Strenge in der Mathematik: eine auf Willkür gegründete Notwendigkeit Die Macht der Geschichte Eine Lehre (Mathematische) Wahrheiten Zum Abschied
680 681 681 682 683
Verzeichnisse Literatur Personen Technik Sachen
685 721 731 735
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Einleitung
A NDREA : Aber ich sehe doch, dass die Sonne abends woanders hält als morgens! Da kann sie doch nicht stillstehen! Nie und nimmer. G ALILEI : Du siehst! Was siehst du? Du siehst gar nichts. Du glotzt nur. Glotzen ist nicht sehen. (Bertolt Brecht: Leben des Galilei)
Viele Menschen, darunter auch Mathematiker, glauben, in mathematischen Lehrsätzen seien absolute Wahrheiten ausgesprochen. Mathematik treiben sei gewissermaßen ein Dienst am Sein.3 Dieser Glaube hat seine Reformation noch vor sich. Er blendet die Tatsache aus, dass ein mathematischer Lehrsatz – zuallererst ein Satz ist, ein sprachliches Konstrukt. Als sprachliches Konstrukt aber unterliegt jeder Satz, auch der mathematische Lehrsatz, vielfachen Bedingungen, oft auch solchen kontingenter Art. (Bemerkenswerterweise gab es sogar Historiker der Mathematik, denen diese Reformation ihres Glaubens nicht gelang: siehe die „Einleitenden Bemerkungen“ in O SKAR B ECKERs Die Grundlagen der Mathematik in geschichtlicher Entwicklung aus dem Jahr 1954.4 ) Dazu gehören zunächst die allgemeinen Unwägbarkeiten des Verständigungsprozesses: Ist der Sachverhalt zutreffend formuliert? Ist die Formulierung angemessen verstanden? Was ist überhaupt der Sinn des Satzes? 3
Aller Anfang ist schwer. Ich habe mir hier K URT F LASCH zum Vorbild genommen, der einmal so begonnen hat: „Viele Menschen, darunter auch einige Philosophen, stellen sich Philosophie als ruhige Weisheit oberhalb aller Parteiungen vor.“ (Flasch 2008, S. 7)
4
Die Erklärung ist leicht: O SKAR B ECKER (1889–1964) war Platonist (zum „Übergeschichtlichen“, sagt er, gehört die „Mathematik mit ihren »ewigen Wahrheiten«“ – Becker 1943/44, S. 67). Dies erklärt sich unmittelbar aus B ECKERs H EIDEGGER-Gefolgschaft, denn gut H EIDEGGER’sch ist eine Rede „entbergend“, und „Wahrheit“ ist „Unverborgenheit“ (dazu Givsan 1998, Anmerkung 63, S. 538 f.). Auch war B ECKER, wie H EIDEGGER, Rassist („Philosophie ist [. . . ] eben Schicksal: des Einzelnen, des Volkes, der Rasse selbst.“ – Becker 1938, S. 81; siehe auch Anmerkung 36 auf S. 71), sogar enthusiastischer Nationalsozialist: „Der politische Führer von Rang erhebt sich über das bloße (wenn auch eigentliche) Dasein seines vereinzelten Selbst in einer »wider-spännstigen Gefügtheit« (pal´intoc rmon´ia) von Existenz und Para-Existenz.“ (Becker 1943/44, 95, Anmerkung 57, letzter Satz; im Wiederabdruck Becker 1984 fehlt übrigens dieser Satz wie manches andere, auffälligerweise stets ohne Hinweis auf die Auslassung.)
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Einleitung Dazu gehört aber auch eine weit tiefer liegende Frage: Welche Sprache ist der Mathematik angemessen?
Mathematik als Symbolsprache Heute liebt Mathematik Symbole. Genauer: Mathematik liebt die Symbole, seit sie Symbole nutzt. Symbole sind ein Grundgerüst ihrer Theoriebildung, je neuer die Zeit, desto mehr. In der Wahl ihrer Symbole ist die Mathematik sehr konservativ: Neu eingeführte Zeichen für neue Gegenstände werden rasch kanonisiert und dann auf Dauer beibehalten. Dabei kann das Symbol doch, prinzipiell gesprochen, beliebig gewählt werden. Diese Wahlfreiheit aber wird gewöhnlich nur zur Zeit der Erfindung genutzt, gleichgültig, wie exotisch die Erstwahl war. G EORG C ANTOR hat zur Bezeichnung der kleinsten unendlichen Kardinalzahl – ein von ihm erfundener S. 186, Begriff – einen (indizierten) hebräischen Buchstaben eingeführt (ℵ0 , gesprochen: Anm. 117 Alef-Null), und der hat sich bis heute erhalten. Die Bedeutung(en) eines Symbols
S. 25
S. 465, 474
Diese Konstanz der Symbolwahl in der Mathematik verleitet dazu, auch eine Konstanz der Bedeutung der Symbole in der Mathematik zu vermuten. Eine solche Hypothese zeichnet ein glanzvolles Bild: D ESCARTES hat im Jahr 1637 das x erfunden (D ESCARTES nutzte zuerst z), und das verwenden wir noch heute – seht her, so wächst und gedeiht die Mathematik! Dieses glanzvolle Bild ist jedoch ein Trugbild. Denn ganz sicher ist die Mathematik kein formales Hantieren mit Symbolen, die jeglicher Bedeutung bar sind. (Gleichwohl gab es auch diese Auffassung von der Mathematik – wir werden darauf im vorletzten Kapitel zu sprechen kommen.) Sondern die Symbole in der Mathematik symbolisieren etwas: Symbole bezeichnen mathematische Gegenstände. Doch anders als in der Regel die Symbole unterliegen die mathematischen Gegenstände grundsätzlich und immer einem geschichtlichen Wandel. Diesen Wandel festzustellen und zu analysieren ist Gegenstand der geschichtlichen Mathematik.
e
S. 45
∝
S. 25
Es ist richtig: Noch heute verwenden wir die von D ESCARTES erfundene Gleichungssymbolik – auch wenn wir für „ist gleich“ ein anderes Zeichen schreiben als D ESCARTES (er nutzte „ o “ oder „ “), nämlich das von R OBERT R ECORDE eingeführte Zeichen „=“, freilich in weit kürzerer Form als dieser. Doch das x des D ES CARTES verstehen wir heute in gänzlich anderer Weise als er. Um welchen Wandel es sich hier handelt, das ist eines der Themen dieses Buches.
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Einleitung Wandel der Mathematik Die Mathematik wandelt sich, natürlich, als Ganzes. Es werden nicht nur neue Resultate gewonnen (neue Sätze formuliert und bewiesen, offene Probleme gelöst und andere formuliert), sondern auch die eingesetzten Mittel wandeln sich, die Begriffe und Methoden. Die Darstellung dieses Wandels, genannt „Mathematikgeschichte“, bevorzugt jedoch traditionell die Beschreibung der neu erzielten Resultate. Die Beschreibung jener Bedingungen, die für die Gewinnung dieser neuen Resultate erforderlich waren: die gewandelten Begriffe und Methoden, werden gründlich vernachlässigt. Der maßgebliche Grundbegriff der Analysis ist der Begriff „Größe“. Er war seit der Erfindung der Differenzial- und Integralrechnung durch N EWTON und L EIBNIZ bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus in Gebrauch, also rund zweihundert Jahre lang. Das jüngste deutschsprachige Buch zur Geschichte der Analysisa verzeichnet ihn nicht einmal in seinem Register. Das ein Dutzend Jahre früher erschienene Gemeinschaftswerk zur Analysisgeschichteb hat etliche Registereinträge zum allgemeinen Größenbegriff und führt sogar einen dieser Begriffe ausdrücklich anc – doch jenes Kapitel, das die verheißungsvolle Überschrift „Das Ende der Größenlehre: Grundlagen der Analysis 1860–1910“ trägtd , kommt ohne jede Äußerung zum damaligen Begriff „Größe“ aus (und gibt auch keine Erklärung für dieses Phänomen).
Gegenstand dieses Buches Das hier vorliegende Buch will ein erster Versuch sein, diesen offenkundigen blinden Fleck der gängigen Geschichtsschreibung der Analysis (und man darf mit leichter Übertreibung sagen: fast aller Mathematikgeschichtsschreibung) ein wenig auszuleuchten. Hier geht es also nicht darum, die Spitzenergebnisse der behandelten Autoren darzustellen.5 Vielmehr konzentriere ich mich auf den gegenteiligen Aspekt: Mich interessieren die Basisergebnisse der untersuchten Texte. Ziel ist es deshalb, die jeweiligen Grundbegriffe der Autoren aufzuklären – und die Bedeutung dieser Begriffsklärungen für einige der vom betrachteten Autor erzielten Resultate zu erläutern. Hier kann keine Vollständigkeit angestrebt werden, es wird Forschungsbedarf bleiben. Klarerweise haben die jeweils erzielten Spitzenergebnisse ihren Sinn und ihre Bedeutung NUR innerhalb jenes begrifflichen Rahmens, den die verwendeten Grunda c
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Sonar 2011 b Jahnke 1999 Jahnke 1999/2003, S. 134 d Epple 1999/2003 Das ist freilich nicht ungewöhnlich. Die Spitzenergebnisse, die etwa H ILBERT in seinem Nachruf auf W EIERSTRASS anführt (Hilbert 1965, Bd. 3, S. 330–338), finden sich weder in Jahnke 1999 (und Jahnke 2003) noch in Sonar 2011 genannt, werden jedoch sehr wohl in Dieudonné 1985 ausführlich behandelt.
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Einleitung begriffe abstecken. Diese Einsicht setzt freilich jene Reformation des naiven Mathematikverständnisses voraus, die eingangs angesprochen wurde. Deswegen erscheint es nicht als unvernünftig, die Arbeit an mathematischen Texten mit der Klärung der dort gebrauchten Grundbegriffe zu beginnen. Dies gilt jedenfalls für geschichtliche Texte – also solche, bei denen der zugrunde gelegte Begriffsrahmen nicht a priori der heutige sein wird. In seinen „Anfangsgründe[n] einer allgemeinen Charakteristik“ schreibt L EIB NIZ im Jahr 1677: „Weshalb kein Mensch bisher [. . . ] sich mit einem so wichtigten Gegenstande befasst hat, darüber habe ich mich oft gewundert. Denn wäre man nur streng methodisch verfahren, hätten sich gleich am Anfang solche Betrachtungen aufdrängen müssen [. . . ]. Der wahre Grund aber, weshalb man den Zugang verfehlt hat, liegt wohl darin, dass die Prinzipien meistens trocken und wenig reizvoll sind, und man sie daher, nachdem man sie nur oberflächlich gestreift, auf sich beruhen lässt.“ (Leibniz 1996b, S. 49) Ich möchte mich hier an L EIBNIZ halten. Ich ersetze seine „Prinzipien“ profaner durch „Grundbegriffe“ – und hoffe, die Sache nicht gänzlich reizlos gestalten zu können. Ergebnisse
S. 109
S. 344
S. 370
Im Ergebnis wird sich herausstellen: Manches frühere Resultat hat im Lichte der Begrifflichkeit seines Autors – in diesem Buch werden nur männliche Autoren behandelt, ohne damit Frauen zu diskriminieren – eine andere mathematische Bedeutung, als es eine heutige Leserschaft denkt, die bloß das Resultat anschaut, ohne sich einen einzigen Gedanken über die Bedeutung der vom Verfasser gemeinten Begriffe gemacht zu haben. Als Konsequenz dieser Begriffsanalyse wird sich zeigen: Lieb gewonnene (und populäre) Urteile müssen revidiert werden. Um die wichtigsten Revisionen vorweg zu nennen:6 (i) L EIBNIZ hat die Differenzial- und Integralrechnung nicht nur erfunden, sondern er hat beide Lehren auf das Sorgfältigste und völlig korrekt begründet. Leider sind diese korrekten Beweise seinen Zeitgenossen nicht bekannt geworden. (ii) Im Jahr 1821 hat C AUCHY in strenger Weise eine Alternative zur damals bestehenden wie auch zur heutigen Analysis formuliert, und zwar eine (alternative) Standard-Analysis. (iii) Das alte und heute überall anzutreffende Urteil, der moderne Funktionsbegriff verdanke sich D IRICHLET, muss revidiert werden: Erst D IRICHLETs Schüler R IEMANN hat die Funktion als eindeutige ‚Wert-zu-Wert‘-Zuweisung bestimmt. 6
Das Erstgenannte verdankt sich nicht meinen eigenen Forschungen, sondern wird hier nur berichtet. Das Zweitgenannte ist bereits mehr als zwanzig Jahre alt, wird jedoch in der Fachliteratur (Jahnke 1999, Sonar 2011) bislang nicht bemerkt – zu S ONARs Lesefehler siehe Anmerkung 233 auf S. 328 – und daher hier nochmals angesprochen.
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Einleitung (iv) Und schließlich wird sich zeigen: Die allgegenwärtige Heroisierung von W EI ERSTRASS als dem Begründer einer „strengen“ Analysis, der den Teufel der „unendlich kleinen Größen“ mittels Epsilontik aus den Grundlagen der Analysis vertrieben und diese somit geklärt habe, ist mit den tatsächlichen Gegebenheiten völlig unvereinbar. Darüber hinaus verkennt dieses Urteil die mathematischen Konsequenzen der Wesensänderung der Analysis ab 1872. S. 444 In diesem Sinne erhebt der vorliegende Text den Anspruch, die bisherige Geschichtsschreibung der Analysis in einigen grundlegenden Aspekten zu revidieren. Methode Die Vorgehensweise in einer solchen Studie ist durch ihren Gegenstand bestimmt: Es müssen die Originaltexte gelesen und analysiert werden. Dabei lege ich großen Wert auf das genaue Lesen. Und es zeigt sich: Dadurch kommt manches Erstaunliche zutage, etwa die in den deutschen Texten des 19. Jahrhunderts chronische Schlamperei, eine „Veränderliche“ und ihre „Werte“ nicht sauber auseinanderzuhalten! Diese Tatsache steht ganz eklatant im Widerspruch zu dem so gern verliehenen Ehrentitel „Zeitalter der Strenge“ für das 19. Jahrhundert.7 Damit unterscheidet sich der vorliegende Text grundlegend von den üblichen8 Büchern zur (Analysis-)Geschichte: Hier kommen die früheren Mathematiker selbst zu Wort, und zwar ausführlich (manchmal vielleicht ein wenig zu ausführlich?), statt nur in einer Interpretation oder mit einem aus dem Zusammenhang gelösten Satz oder wenigen solchen Sätzen. Und ihre Behauptungen werden penibel auf ihre Bedeutung und auf ihre Richtigkeit befragt. Dabei erlauben es die hier wiedergegebenen Originalpassagen den Lesenden, sich ein eigenes Urteil zu bilden, hin und wieder vielleicht auch eines, das der hier gegebenen Deutung widerspricht. Hinzu kommt als wesentliches Element: Die Verbindungen, die diese Texte untereinander haben, werden hier ausdrücklich aufgezeigt. Die Texte werden zueinander in Beziehung gesetzt – eine Verfahrensweise, die sonst eher selten zu finden ist. Dabei ist diese Verbindung keineswegs immer eine Kontinuität, sondern sie kann auch strittig sein. Wunderbar ist etwa die – direkt ausgetragene – Kontroverse zwischen J OHANN B ERNOULLI und L EIBNIZ um die Existenz der „unendlich klei- S. 179 – 187 nen“ Zahlen, beeindruckend ist W EIERSTRASS’ hartnäckiger Widerstand gegen die durch R IEMANN initiierte völlig neuartige Technik der relationalen Begriffsbildung S. 388 – 439 in der Analysis. 7
Auch meine 1991/92 formulierte Neudeutung der C AUCHY’schen Analysis verdankt sich übrigens dieser Vorgehensweise. Ob die Tatsache, dass diese Neudeutung bisher keine ernsthafte Kritik erfahren hat, dieser ungewohnten Vorgehensweise geschuldet ist, muss Spekulation bleiben. 8 Eine eindrucksvolle und sehr schöne Ausnahme, freilich mehr Nachschlagewerk als Lesebuch, ist A history of algorithms von J EAN -L UC C HABERT . Auch das bereits genannte Buch Becker 1954 bildet eine Ausnahme, ebenso Die Entwicklung der Wahrscheinlichkeitsrechung von den Anfängen bis 1933 von I VO S CHNEIDER . – Von anderer Art sind die verschiedenen „Quellenbücher“, die jeweils längere Originalpassagen bedeutender Autoren weitgehend unkommentiert aneinanderreihen.
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Einleitung Wie sich die jeweilige Textauswahl gestaltet, hängt vom Autor, dessen Arbeitsstil und dem aktuellen Erschließungsgrad der Quellen ab.9 Der derzeit fortgeschrittene Stand der Retrodigitalisierung der Bibliotheksbestände erleichtert eine solche Studie enorm, ermöglicht sie vielleicht gar erst,10 jedenfalls einem Freizeit- oder Saisonwissenschaftler. Der kostenfreie Zugriff auf die Datenbanken der aktuellen Sekundärliteratur ist derzeit leider jedoch vielfach nur aus einem Universitätsnetz heraus möglich. Glücklicherweise hat es heute den Anschein, dass wir auch die ältesten hier relevanten Texte nun zur Verfügung zu haben, nachdem die L EIBNIZ-Edition in den letzten zwanzig Jahren endlich einen deutlichen Fortgang erfahren hat. (Ein Fachartikel mit einer ausführlichen Darstellung und eingehenden Analyse der L EIBNIZschen Begründung seines Differenzialkalküls erschien vier Monate nach Beginn der Arbeit am Manuskript des vorliegenden Buches, also gerade noch rechtzeitig.) Den Text habe ich im Wintersemester 2013/14 als Skriptum zu der Vorlesung erstellt, die ich im Fachbereich Informatik und Mathematik der Universität Frankfurt halten durfte. Er wurde nach dem Vortrag an einigen Stellen verbessert. (Das letzte Kapitel kam aus zeitlichen Gründen nicht mehr zum Vortrag.) Dieser Charakter des Textes sei besonders betont. Hier wird kein Endgültigkeitsanspruch erhoben. Da ich für fast keinen der hier behandelten Autoren als Spezialist gelten darf, werden im Einzelnen Ergänzungen oder Korrekturen erforderlich sein. Doch scheint mir der Forschungsstand reif, den Mathematikstudierenden Gelegenheit zu geben, über die Fragwürdigkeit des ihnen üblicherweise als unhinterfragbar vorgesetzten Lehrgebäudes Analysis – im Einzelnen wie im Ganzen – nachzudenken. (Ob die für die Studieninhalte Verantwortlichen dies wollen, muss sich zeigen.) Grenzen dieser Darstellung Der vorliegende Text beruht auf einer vor rund einem Vierteljahrhundert begonnenen Forschung. Da diese Forschungsperspektive auf heftigste Ablehnung stieß,e konnte ich sie nicht laufend betreiben. Seit dem Sommersemester 2008 in Marburg vermochte ich wieder mehr Zeit dafür zu erübrigen. Das Vorliegende ist die Momentaufnahme meines derzeitigen Wissensstandes. Nicht alles darin konnte in gleicher Intensität bedacht werden; manches Urteil wird sich vielleicht bald als revisionsbedürftig erweisen. Wer diesen Text als eine neue Perspektive auf die Mathematik liest, die heute noch eine Forschungsperspektive ist, wird ihm gerecht. e
Spalt 1996
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Eine weitere Bemerkung zur Methode findet sich in der Anmerkung 340 auf S. 454. Eine ausführlichere Darlegung meiner Vorgehensweise ist in Spalt 1996 nachzulesen.
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Inzwischen sind die meisten der klassischen Druckwerke als Datei verfügbar – siehe das Literaturverzeichnis. Sonar 2011 arbeitet noch ganz ohne digitalisierte Originale, dafür aber etwa mit einem „photokopierten Taschenbuch nach [sic] der Erstausgabe“ (von Bolzano 1975a).
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Einleitung Wiedergabe der Quellen Die Grundlage dieser Studie sind geschichtliche Quellen. Sie werden hier auszugsweise wiedergegeben, in aller Regel in Form von Originalzitaten. Nicht alle maßgeblichen Quellen sind ursprünglich in deutscher Sprache verfasst. Daher wurden sie übersetzt, ausgenommen ein Satz N EWTONs und ein Satz des N EWTON-Herausgebers W HITESIDE sowie H AMILTONs kritisches Urteil zu einer N EWTON’schen Vorgehensweise. Wo es erforderlich oder nützlich erschien, wird die Quelle mit abgedruckt, um Sprachkundigen leicht ein eigenes Urteil zu ermöglichen. Wenn ein fremdsprachiger Text von mir übersetzt ist, sind keine Anführungszeichen gesetzt – es sei denn, es handelt sich um ein Kurzzitat; in diesem Fall bin ich als Übersetzer nur an der (fremdsprachigen) Quellenangabe erkennbar, beim Langzitat jedoch an der Einrückung. Bei den eingerückten Langzitaten stehen immer dann Anführungszeichen, wenn es sich um wörtliche Wiedergaben handelt. Bei einem Autor wie B OLZANO aber muss ich manchmal zu einer Sondermaßnahme greifen: Gelegentlich paraphrasiere ich seine gewundenen Ausführungen. In solchen Fällen stehen in den eingerückten Langzitaten keine Anführungszeichen. (Das gilt nicht nur bei B OLZANO, sondern generell.) In diesen Fällen ist der Quellenangabe am Ende des Langzitats dann ein „Vgl.“ vorgesetzt. Alles – und nur das –, was in doppelten Anführungszeichen steht, ist Zitat; handelt es sich um ein einzelnes Wort oder einen zusammengesetzten Begriff, kann es sich auch um einen allgemein üblichen mathematischen Begriff handeln. In einfache Anführungszeichen gesetzt habe ich jene Begriffe, die ich als methodische Hilfsmittel selbst gebildet habe. Sie sind in einem eigenen Register am Buchende zusammengefasst. Die deutschen Fassungen der Quellen wie auch die deutschsprachigen Originale werden rigoros in der aktuellen Rechtschreibung (bei deutschsprachigen Quellen jedoch nicht in der heute gültigen Zeichensetzung) wiedergegeben – natürlich mit der Ausnahme der Titel und auch dann nicht, wenn es sich um ein Sprachgemisch handelt, wie es sich gelegentlich z. B. bei L EIBNIZ findet. Einzig E ULERs Formulierungen aus seiner Vollständige[n] Anleitung zur Algebra wurden nur moderat den heutigen Lesegewohnheiten angepasst, da bei diesem Text eine der wenigen Gelegenheiten besteht, E ULERs Mathematik im Original und in deutsch zu lesen. (Und natürlich bleiben auch F REGEs „Caerimonien“ erhalten.) Die Hervorhebungen der Originale wurden beibehalten, jedoch in der Regel in kursivierter Form wiedergegeben. Ergänzte Hervorhebungen sind, wo nicht anders ausgewiesen, durch eine über dem ersten Buchstaben gesetzte Tilde gekennzeich˜ net: ergänzt. In [. . . ] stehen stets meine Abänderungen in einem Zitat, in seltenen Fällen werden diese Änderungen stattdessen vor dem Zitat vermerkt. (Wenn der Quelltext ergänzende Klammerpassagen enthält, weiche ich auf {. . .} aus.) In d. . . e stehen meine Hinzufügungen in einem Zitat, die im Text dem Sinn nach, jedoch nicht als
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S. 155
z. B. S. 285
z. B. S. 287, 341
S. 731
S. 124 S. 221 S. 469, Fußnote
Einleitung Wort enthalten sind; werden diese Hinzufügungen des Übersetzers von mir zitiert, geschieht dies so: b. . . c. Nicht von mir rührende Hinzufügungen in einem Zitat sind durch 〈. . .〉 bezeichnet. Wenn ich in einer zitierten Übersetzung ein originalsprachliches Wort ergänze, geschieht dies stets in (. . . ). Zur erhofften Erleichterung der Lektüre habe ich drei Arten der Anmerkungen eingeführt: solche, die auch in der Quelle vorhanden sind (gekennzeichnet durch die alten Fußnotensymbole); solche, die allein eine Quellenangabe beinhalten (gekennzeichnet durch kleine Buchstaben), und schließlich solche, die Ergänzungen zum Haupttext enthalten, die dort nicht glatt hineinpassen (gekennzeichnet durch Zahlen). Querverweise im Text – sie sind ein nicht unbeachtlicher Kern dieses Textes – sind am Rand notiert. Das beeinträchtigt ein wenig die Ruhe des Layouts, entlastet aber den Fußnotenapparat enorm und erleichtert hoffentlich ihre Berücksichtigung. Auch gibt es jenen Interessierten eine Chance, die das Buch nicht (auf Anhieb) insgesamt lesen können, sondern selbst in den Quellen eine gewisse Orientierung suchen. (Das Ziel dieser Verweise ist mit der bloßen Seitenangabe nicht immer unmittelbar benannt. Wollte man genauer sein, müssten vermehrt die aus juristischen Texten geläufigen Randnummern eingeführt werden. In meinen Arbeitsdateien wird das so gehandhabt, doch hier soll kein standardisierter Leseleitfaden für die Analysisgeschichte geboten werden, sondern ein möglichst flüssig zu lesender Text.) Dank Zuallererst habe ich H ASSAN G IVSAN , Darmstadt, zu danken, der mir seit Jahrzehnten anregender und förderlicher philosophischer Gesprächspartner ist. Auch RÜDIGER T HIELE , Halle, hat mir stets mit Anregungen und Hinweisen geholfen, ebenso Prof. Dr. J OACHIM F ISCHER, München und Berlin, sowie H ERBERT B REGER, Hannover. B ERND A RNOLD, Wiesbaden, hat mit großer Geduld und Geschick meine Übersetzungen verbessert. Seine Hinweise waren stets mehr als Übersetzungshilfen, nämlich kritisches Mitdenken, das mir weiterhalf. Prof. Dr. E BERHARD K NOBLOCH, Berlin, hat der Übertragung einiger besonders vertrackter fremdsprachlicher Passagen die allerletzte Politur gegeben. Auch T HOMAS B USCH , Marburg, danke ich für seine Unterstützung herzlich. Ebenfalls zu großem Dank verpflichtet bin ich dem amtierenden Präsidenten des Hessischen Landtags, N ORBERT K ARTMANN, der mir im Sommer 2008 und im Winter 2013/14 zwei Halbjahre ganztägiger wissenschaftlicher Tätigkeit im Rahmen meines Dienstes im Hessischen Landtag – und somit auch die Abfassung des vorliegenden Textes – ermöglicht hat, ebenso den beiden mich jeweils freundlich aufnehmenden Fachbereichen für Mathematik und Informatik (auch umgekehrt) an den Universitäten Marburg und Frankfurt – und nicht zuletzt jenen über das Übliche hinaus engagierten Mathematik- und (im Falle Frankfurt auch:) Philosophie-Studierenden, die mir durch ihr Interesse und ihre Arbeitsbereitschaft sehr
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Einleitung geholfen haben. Besonders ist hier J OHN F LATH zu nennen, dessen Fragen und Anregungen in Frankfurt mich immer weitergebracht haben. Und last but really not least danke ich den Professoren J OHANNES C ZERMAK , Salzburg, sowie H ENK J. M. B OS , Utrecht und K IRSTI A NDERSEN , Aarhus. Herr C ZERMAK hat mir in der schwierigsten Phase meines wissenschaftlichen Lebens (nach 1992) den Kontakt zu Lehre und Forschung am Mathematischen Institut der Universität Salzburg jahrelang offen gehalten. H ENK J. M. B OS hat trotz der vielfältigen untergründigen Widerstände die Publikation des Artikels „C AUCHYs Kontinuum“f befürwortet, dem point of departure meiner universitären Laufbahn und einem Markstein auch für die vorliegende Studie (und er hat lange mit mir um dessen Form gerungen). K IRSTI A NDERSEN hat mich im November 2000 zu einem Vortrag auf eine Tagung nach Roskilde eingeladen, mich zu dem Aufsatz Spalt 2001 ermuntert und seine Publikation befürwortet. Meine Frau B IRGITg hat das vorliegende Buch mit allen Kräften gefördert. Ihr war es noch mehr Herzensangelegenheit als mir. Dass sie nur den Beginn seiner Abfassung, nicht aber dessen Fertigstellung erlebt hat, ist tragisch. Frankfurt am Main und Darmstadt, den 17. Februar 2014 und 2015
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Spalt 2002 Karl 1993, Schlote 2002, (Allgemeine Wissenschaftsgeschichte, Philosophie 1750–1990); auch Karl et al. 1991 sowie Tyradellis (2016)
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Kapitel 1: Die Erfindung der formalen Algebra durch Descartes
D E R S TA N D D E R D I N G E V O R D E S C A RT E S : G A L I L E I U M DIE JAHRE 1623–38 G ALILEO G ALILEI, der von 1564 bis 1642 (nach dem neuen gregorianischen Kalender) lebte, publizierte im Jahr 1623 seine zweite große naturwissenschaftliche Schrift Il Saggiatore a (Die Goldwaage). Mit seiner ersten naturwissenschaftlichen Schrift aus dem Jahr 1610, dem Sidereus nuncius b (Der Sternenbote), war G ALILEI wegen der darin enthaltenen neuen Himmelsbeobachtungen rasch berühmt geworden. Er hatte diese Beobachtungen mit dem damals neuen Instrument Fernrohr erzielt. G ALILEI wählte für seine Schriften nicht die seinerzeit übliche Wissenschaftssprache Latein, sondern die Sprache seines Volkes: Italienisch. So wandte er sich an die gebildeten Laien. DIE GELÄUFIGE VERSION In dieser zweiten naturwissenschaftlichen Abhandlung G ALILEIs (die bislang nicht ins Deutsche übersetzt ist) steht eine heute gern zitierte Phrase, die in einer Kurzfassung bekannt wurde: „Das Buch der Natur ist in mathematischer Sprache geschrieben.“ Wenn wir ein bisschen von den Anfängen der Mechanik wissen, verstehen wir G ALILEIs Satz als eine richtige Beschreibung der Welt. Nehmen wir als Beispiel das von G ALILEI aufgestellte Fallgesetz. Es setzt für einen (im luftleeren Raum) frei fallenden Körper die durchmessene Strecke, den so genannten Fallweg s, und die dafür benötigte Zeit, die Fallzeit t , zueinander in Beziehung: „Der Fallweg (s) ist dem Quadrat der Fallzeit (t 2 ) proportional.“ Und wenn wir die Anfänge der mathematischen Formelsprache kennen, können wir diesen Sachverhalt auch so ausdrücken, wie G ALILEI es offenbar gemeint hat, und elegant schreiben: s = konstant t2 Dieses Fallgesetz hat G ALILEI übrigens erst in seinem letzten großen Werk, den Discorsi e dimostrazioni matematiche, intorno à due nuove Scienze, attenenti alla a
Galilei 1890–1909, Bd. VI, S. 197–372
b
Galilei 1890–1909, Bd. III, S. 7–399
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1. Die Erfindung der formalen Algebra durch Descartes Mecanica & i movimenti locali c (Unterredungen und mathematische Beweise über zwei neue Wissenszweige, die Mechanik und die Fallgesetze betreffend), formuliert. Dieses Werk erschien wegen des Einflusses der Katholischen Kirche zuerst (und unter einem anderen Titel) in lateinischer Übersetzung in Straßburg und 1638 in italienischer Sprache im holländischen Leiden. DIE TATSÄCHLICHE FORMULIERUNG So hübsch diese Geschichte ist, so falsch ist sie. Sie ist nicht falsch in dem Sinne, dass G ALILEI einen solchen Satz nie geschrieben oder das Fallgesetz nicht erfunden hätte – das nicht. Aber G ALILEI hat diesen Satz weder so gesagt, wie er oben wiedergegeben wurde, noch hat er das Fallgesetz so formuliert, wie wir das eben getan haben. Anders gesagt: Wenn wir diese Geschichte in den Quellen verifizieren wollen, finden wir sie dort ganz anders. Galileis tatsächliche Worte Genau (und übersetzt) hat G ALILEI im Jahr 1623 Folgendes veröffentlicht (das kann man heutzutage leicht bei Wikipedia finden): Die Philosophie steht in diesem großen Buch geschrieben, dem Universum, das unserem Blick ständig offen liegt. Aber das Buch ist nicht zu verstehen, wenn man nicht zuvor die Sprache erlernt und sich mit den Buchstaben vertraut gemacht hat, in denen es geschrieben ist. Es ist in der Sprache der Mathematik geschrieben, und deren Buchstaben sind Kreise, Dreiecke und andere geometrische Figuren, ohne die es dem Menschen unmöglich ist, ein einziges Wort davon zu verstehen; ohne diese irrt man in einem dunklen Labyrinth herum. (Behrends 2010, S. 53, siehe: URL http://de.wikiquote.org/wiki/Galileo_ Galilei – Quelle: Galilei 1890–1909, Bd. VI, S. 232, Z. 11–18) Nanu? Die Sprache der Mathematik sollen Kreise, Dreiecke und andere geometrische Figuren sein? Keine Buchstaben wie s und t ? Lebt G ALILEI noch hinter dem Mond, den er doch mit Hilfe seines Fernrohrs dreizehn Jahre zuvor kartiert hat – bildlich gesprochen? Oder, wissenschaftlich korrekter: Ist G ALILEI in Sachen Sprache der Mathematik nicht weiter als E UKLID um −300? Offenbar ist das so. Offenbar ist die Sprache der Mathematik für G ALILEI noch eine ganz andere als für uns heute! Das sollten wir uns genauer ansehen – her mit G ALILEIs wirklicher Formulierung des Fallgesetzes. Galileis tatsächliches Fallgesetz Im Vierten Tag der Discorsi formuliert G ALILEI das Fall- (oder Wurf)gesetz wie folgt: „Theorem I Proposition I Ein gleichförmig horizontaler und zugleich gleichförmig beschleunigter c
Galilei 1890–1909, Bd. VIII, S. 39–317
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Galilei
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Descartes’ mathematische Großtat Bewegung unterworfener Körper beschreibt eine Halbparabel.“ (Galilei 1987, Bd. 1, S. 395) Da haben wir einen der „Buchstaben“ aus G ALILEIs Sprache der Mathematik: „Halbparabel“. G ALILEI schreibt dafür sogar weniger speziell nur: „linea parabolica“, also „Parabelkurve“. Aber warum so umständlich? Warum schreibt G ALILEI „Parabel“ statt einfach s „ t 2 = konstant“? Ist das nicht merkwürdig? Folgen wir G ALILEI noch einen Schritt weiter. Wie beweist er sein Theorem? G ALILEI beginnt seinen Beweis wie folgt: „Man denke sich eine Horizontale oder eine horizontale Ebene AB , längs welcher ein Körper sich gleichförmig bewege. Am Ende derselben fehlt die Stütze, und der Körper unterliegt infolge seiner Schwere einer Bewegung längs der Senkrechten B N . Man denke sich AB nach E hin fortgesetzt und teile gewisse gleiche Strecken BC , C D, DE ab. Von den Punkten B , C , D, E ziehe man Linien parallel B N in gleichen Abständen. In der Ersten von C aus nehme man eine beliebige Strecke C I , in der Folgenden das Vierfache DF , dann das Neunfache E H usw. [. . . ]“ (Galilei 1987, Bd. 1, S. 399; vgl. Galilei 1890–1909, Bd. VIII, S. 272 f.) Ein geometrischer Beweis. G ALILEIs „Sprache der Mathematik“ ist im Jahr 1638 die Geometrie. G ALILEI rechnet mit „Strecken“: B N , BC , B D usw., und er verknüpft sie in Worten miteinander. Etwas anderes scheint er nicht zur Verfügung zu haben – jedenfalls keine Buchstabensymbole, keine Rechenzeichen, nicht einmal ein Gleichheitszeichen! Dass ein Jahr zuvor in einer beispiellosen intellektuellen Großtat eine völlig neue Sprache der Mathematik erfunden worden war, wusste G ALILEI nicht. Die Erfindung dieser Sprache ist das Thema dieses Kapitels. Blicken wir abschließend auf G ALILEI und seinen Satz von der Sprache der Mathematik zurück, so sehen wir: Für G ALILEI hatte sein Satz eine völlig andere Bedeutung, einen ganz anderen Sinn als für uns heute. Unter der „Sprache der Mathematik“ verstehen wir heute Buchstabensymbole und Rechenzeichen, allgemein: Formeln, während es für G ALILEI geometrische Figuren waren. D E S C A RT E S ’ M AT H E M AT I S C H E G RO S S TAT R ENÉ D ESCARTES (1596–1650) erfindet eine formale Algebra mit geometrischen Gebilden. „Formal“ heißt: einen Kalkül, allein mit Symbolen. Das war eine weltgeschichtlich beispiellose Tat. Niemand anderes hatte dergleichen getan, und danach konnte niemand anderes dergleichen tun: weil sich diese
Galilei – Descartes
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1. Die Erfindung der formalen Algebra durch Descartes neue Sprache der Mathematik rasch und unwidersprochen verbreitete. Heute lernen wir das in der Schule, und zwar schon in der Mittelstufe. Dort heißt es manchmal „Buchstabenrechnen“. Aber mit Buchstaben kann man nicht rechnen, sondern nur Worte bilden. Rechnen kann man nur dann mit Buchstaben, wenn sie nicht als Buchstaben (Lautzeichen) verstanden werden, sondern als Zeichen für Gegenstände: als Symbole. Und das ist die eigentliche Schwierigkeit beim Erlernen des „Buchstabenrechnens“: dass die Buchstaben dabei gar keine Buchstaben sind, sondern Symbole, „Platzhalter“ für etwas, von dem bei diesem Rechnen nicht direkt die Rede ist. Diese Idee gehabt und umgesetzt zu haben, ist D ESCARTES’ mathematische Großtat. Im Folgenden wollen wir verstehen, wie D ESCARTES sie zustandegebracht hat. ERSTER VERSUCH: DESCARTES’ ALGEBRA MIT FIGUREN (BIS 1628) R ENÉ D ESCARTES ist der Begründer der Philosophie der Neuzeit, falls man einen solchen Titel überhaupt vergeben darf. Im Jahr 1637 publizierte er ein vierteiliges Werk.d Dessen letzter Teil (ab S. 381) trägt den schlichten Titel La Géométrie. Um einem möglichen Konflikt mit der Katholischen Kirche aus dem Weg zu gehen (der Inquisitionsprozess gegen G ALILEI war natürlich auch in Holland bekannt, wo D ESCARTES damals lebte), publizierte er das Buch anonym. Es war in französischer Sprache geschrieben, damit es auch der interessierte Laie verstehen konnte. Dieses vierteilige Werk entfaltete eine enorme intellektuelle Wirkung. Darauf kann ich hier nicht eingehen. Ich will mich auf D ESCARTES’ größte Neuerung in den Grundlagen der Mathematik konzentrieren. Sie ist – uns heute – so selbstverständlich und elementar, dass ihr gewöhnlich keine Aufmerksamkeit geschenkt wird. Damals aber stellte sie eine wirkliche Revolution dar. D ESCARTES hob die Mathematik auf ein völlig neues Abstraktionsniveau, indem er eine rund zweitausendjährige Praxis überwand. Zunächst müssen wir uns völlig klar machen, was der Ausgangspunkt dieser Revolution war. Bei G ALILEI haben wir ihn bereits besichtigt. Wie stellte er sich für D ESCARTES dar? DAS AUSGANGSPROBLEM In seiner Géométrie von 1637 gelang D ESCARTES die Lösung eines bedeutenden Problems – das die Mathematiker freilich gar nicht gesehen hatten und an dessen Lösung D ESCARTES selbst noch acht Jahre zuvor gescheitert war. Worin bestand dieses Problem? Bei G ALILEI haben wir gesehen: Noch im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts bildeten die geometrischen Figuren die Sprache der Mathematik. Nun ist aber der Mathematiker nicht nur mit dem Konstruieren geometrischer Gebilde befasst, sondern gelegentlich rechnet er auch. Im Zuge des aufblühenden Handelskapid
Descartes 1637
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Descartes
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Erster Versuch: Descartes’ Algebra mit Figuren (bis 1628) talismus Kapitalismus mit dem Erstarken des Kaufmannsstandes hatte das kaufmännische Rechnen im 16. Jahrhundert enorm an Wichtigkeit und Verbreitung gewonnen. Der Beruf des Rechenmeisters war entstanden, und in deren (privaten) Schulen wurden die für die Buchführung wichtigen Fertigkeiten des Zahlenschreibens und Rechnens (auf dem Rechenbrett wie „auf der Feder“, also schriftlich) unterrichtet. Darauf komme ich noch etwas ausführlicher auf S. 38 zurück.
Exkurs über Zahlen Gerechnet wird mit Zahlen. Zahlen sind aber – damals – spezieller als geometrische Gebilde. Denn leicht lassen sich beispielsweise Längen konstruieren, die sich mit Zahlen nicht bequem beschreiben lassen. Ein klassisches Beispiel, das schon die Antike hat, ist die Diagonale im Quadrat. Die Diagonale im Quadrat ist eine ganz Lip einfach zu konstruierende p nie. Aber diese Länge als Zahl zu schreiben, ist schwer. 2 ist da keine Lösung, denn 2 ist nur ein Name für diese Zahl, und dieser Name sagt nichts Direktes über ihre Größe aus. p Wer kann schon auf Anhieb sagen, ob 612, 5 < oder > als 24, 7 ist? Das liegt daran, dass eine solche Zahl nicht als ein Bruch geschrieben werden kann, wenn die Quadratseite eine genau zu messende Länge hat. Denn für zwei Brüche ba und dc haben wir eine Technik, ihr Größenverhältnis zu bestimmen: Wir bilden a · d und c · b und wissen: a · d c · b gibt uns Auskunft, ob ba dc ist. Das Fachwort dafür, dass die Quadratdiagonale nicht als Bruch geschrieben werden kann, ist: Die Quadratdiagonale hat eine „irrationale“ Länge. Der antiken Mathematik gelang es nicht, solche irrationalen Zahlen zu schreiben. Genauer: Für die Antike gab es keine irrationalen Zahlen, (sondern nur irrationale „Verhältnisse“). In den Jahren 1585/6 aber hatte der flämische Mathematiker, Physiker und Ingenieur S I MON S TEVIN (1548/9–1620) in seiner Schrift De Thiende e eine Methode bekannt gemacht, um auch solche irrationalen Zahlen zu schreiben: die Dezimalschreibweise. Wir praktizieren sie noch heute. Diese Dezimalschreibweise ist keine mathematische Definition eines Zahlbegriffs. Vielmehr ist sie eine Technik, um Zahlen, auch schwierige Zahlen, zu schreiben. Leider verwischt die Dezimalschreibweise eine Unterscheidung, die der Mathematik seit der Antike wichtig ist: den Unterschied zwischen „rationalen“ und „irrationalen“ Zahlen, also zwischen Brüchen und Nicht-Brüchen. Denn dezimal geschrieben sind nicht nur alle irrationalen Zahlen unendlich lang, sondern auch der einfache Bruch 31 = 0, 3 . . . Es ist nicht schön, wenn ein solch großer begrifflicher Unterschied wie „rationale“/„irrationale“ Zahl in einer Darstellung verwischt wird. Doch kommen wir zurück zu D ESCARTES’ Zeit, in der zwar die Dezimalschreibweise den Fachleuten bekannt ist, aber dennoch die Geometrie die allgemeinere Wissenschaft gegenüber der Arithmetik ist.
Man könnte da auf die Idee kommen, zu fragen: Lassen sich nicht vielleicht beide Tätigkeiten, das Konstruieren geometrischer Gebilde und das Rechnen mit Zahlen, miteinander verbinden? Konkret: Lässt sich mit geometrischen Gebilden rechnen? e
Stevin 1958
Descartes
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1. Die Erfindung der formalen Algebra durch Descartes Dies war das Problem, das D ESCARTES löste. D ESCARTES stellte Regeln auf, wie mit bestimmten geometrischen Gebilden gerechnet werden kann. Das gelang ihm allerdings nicht im ersten Anlauf, doch letztlich war D ESCARTES damit sehr erfolgreich. DIE »REGULAE«: RECHNEN MIT FIGUREN Im Jahr 1628 brach D ESCARTES die Arbeit an einem Manuskript ab, an dem er in verschiedenen Etappen schon lange, vielleicht zehn Jahre, gearbeitet hatte. Nach seinem Tod fand sich ein Exemplar dieses Manuskriptes in seiner Hinterlassenschaft in Stockholm. Dieses unvollendete Manuskript trägt den Titel Regulae ad directionem ingenii. Das kann man heute mit Anleitung zur Ausrichtung der Erfindungskunst übersetzen; manche sagen auch „Erkenntniskraft“ statt „Erfindungskunst“. Es besteht aus 21 Regeln, die in ganz unterschiedlichem Ausmaß durch weitere Ausführungen erläutert werden. In Regel 18 bricht der Text in Erläuterung Nr. 12 ab (die Nummerierung der Erläuterungen gibt es nur in der deutschen Übersetzung, sie ist nicht im lateinischen Original enthalten), und die drei letzten Regeln sind nur formuliert, jedoch nicht weiter ausgearbeitet. Insgesamt sollten es vielleicht 36 Regeln werden. DIE LEISTUNGSFÄHIGKEIT DES MENSCHLICHEN DENKENS Worum geht es D ESCARTES in diesem Text? Das beantwortet „Regel 1 Es muss das Ziel der wissenschaftlichen Bestrebungen sein, den Geist (ingenius) so zu lenken, dass er über alle sich ihm darbietenden Gegenstände begründete und wahre Urteile fällt.“ (Descartes 1980, S. 69) D ESCARTES’ Regulae befassen sich also keineswegs nur mit jenem Problem, das ich genannt habe (Lässt sich mit geometrischen Gebilden rechnen?). Dieser Text hat eine sehr viel allgemeinere Absicht. In den Regulae geht es um die wissenschaftliche Erkenntnis als solche sowie darum, wie man sie erwirbt. Wie gelangt man zur Wahrheit – außerhalb der Katholischen Kirche? Dazu D ESCARTES’ „Regel 4 Zur Erforschung der Wahrheit bedarf es notwendig der Methode.“ (Descartes 1980, S. 78) sowie die Erläuterung Nr. 2 dazu: „Unter Methode verstehe ich aber sichere und einfache Regeln, und jeder, der sie peinlich genau beobachtet, wird niemals etwas Falsches als wahr voraussetzen und keine geistige Anstrengung unnütz verbrauchen, sondern nach und nach sein Wissen stetig vermehren und so zur wahren Erkenntnis alles dessen gelangen, wozu er fähig ist.“ (Descartes 1980, S. 78)
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Erster Versuch: Descartes’ Algebra mit Figuren (bis 1628) Regeln. Zur Wahrheit gelangt man, indem man gewisse Regeln befolgt – das Thema seiner Schrift. Durch Befolgung dieser Regeln gelingt es, das Wissen zu vermehren. Wissen entsteht durch eine regelhafte Vorgehensweise (Konstruktion). Das bedeutet zunächst: Wissen wird nicht aus göttlicher Offenbarung erlangt, sondern durch menschliches Denken – wenn es richtigen Regeln folgt. Das ist eine klare Abkehr vom kirchlichen Wahrheits- und Herrschaftsanspruch, die Verabschiedung des Mittelalters, der Aufbruch in eine neue Zeit. Diese neue Zeit stützt ihre Wahrheit auf das Denken des Menschen, auf das Denken des Einzelnen: sofern es nur den richtigen Regeln folgt. Im Weiteren erläutert D ESCARTES, dass diese Methode „in der Ordnung und Disposition dessen [besteht], worauf sich der Blick des Geistes richten muss, damit wir eine bestimmte Wahrheit entdecken“f (Regel 5), und dass es darum geht, „die einfachsten Dinge von den verwickelten [zu] unterscheiden und sie der Ordnung nach verfolgen zu können“g (Regel 6). Stößt man dabei auf ein Problem, „das unser Geist nicht zur Genüge zu durchschauen vermag, so ist es geboten, an dieser Stelle einzuhalten und das darauf Folgende nicht zu untersuchen, sondern von dieser überflüssigen Mühe Abstand zu nehmen“h (Regel 8). Es hat keinen Sinn, über etwas Unverstandenes hinwegzugehen und einfach weiterzumachen. Das weiß jede Wissenschaftlerin und jeder Wissenschaftler, insbesondere wenn es um Mathematik geht. Dann kommt die für D ESCARTES zentrale „Regel 9 Man muss den Scharfsinn auf die geringsten und einfachsten Dinge richten und bei ihnen längere Zeit verweilen, bis man sich daran gewöhnt hat, die Wahrheit distinkt und klar zu durchschauen.“ (Descartes 1980, S. 101) Hier haben wir D ESCARTES’ Wahrheitsbegriff: Wahr ist das, was wir „distinkt“ und „klar“ erkennen. „Distinkt“ heißt: deutlich,i wohl bestimmt, abgegrenzt. „Klar“ ist ein Bewusstseinszustand des denkenden Menschen: Ja, ich habe es verstanden! Nach Regel 1 geht es um „wahre“ und „begründete“ Urteile. Die Wahrheit wird im Denken des Einzelnen erkannt (die so genannte Intuition). Erlangt wird sie durch korrekte Deduktion, das ist die Herleitung aus anderen Wahrheiten: „Es bleibt also bloß die Deduktion, gemäß der wir die Dinge so zusammensetzen können, dass wir über ihre Wahrheit Gewissheit erlangen.“j D ESCARTES’ Erkenntnislehre ist höchst interessant. Leider können wir hier nicht näher auf sie eingehen, sondern müssen uns dem Kern der Sache nähern. DESCARTES’ VORGEHENSWEISE Wie findet man laut D ESCARTES die Wahrheit? Zweierlei ist dazu nötig. Zum Ersten muss man das Problem in all seine Bestandteile zerlegen: f
Descartes 1980, S. 84 Descartes 1980, S. 85 h Descartes 1980, S. 94 i Vgl. Marshall Jr. 1979, S. 31. j Descartes 1980, Regel 12.23, S. 120
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„Regel 13 Wenn man ein Problem vollkommen einsieht, so muss man es von jeder überflüssigen Vorstellung loslösen, auf die einfachste Fragestellung zurückführen und vermöge der Aufzählung in so viele Teile als nur möglich teilen.“ (Descartes 1980, S. 125) Das ist heute eine dominierende Denkweise: Wenn wir reisen wollen, entscheiden wir uns für ein Ziel, überlegen den Transfer, buchen eine Unterkunft usw. Das ist der Normalfall. Natürlich geht es auch anders: Wir könnten einfach losziehen und sehen, was wird. Das tun heute zwar die Wenigsten, aber möglich ist auch das. Man kann ein Problem sehr wohl als ein Ganzes annehmen und angehen, sich mit dem Unbekannten herumschlagen und sehen, was wird. Der heutigen westlichen Denk- und Vorgehensweise entspricht das freilich nicht. Wir sind Systematiker, Erben von D ESCARTES. Das Zweite, was wir nach D ESCARTES zur Erlangung der Wahrheit tun müssen, steht in „Regel 14 Das Gesagte muss auf die reale Ausdehnung der Körper übertragen und ganz durch bloße Figuren für die sinnliche Anschauung dargestellt werden; auf diese Weise nämlich wird es weit distinkter durch den Verstand erfasst.“ (Descartes 1980, S. 131)
S. 7
Hier benennt D ESCARTES den Gegenstand, anhand dessen der Verstand seine Erkenntnis gewinnt. Dieser Gegenstand ist, allgemein gesagt, „die reelle Ausdehnung der Körper“. Konkret sind es „bloße Figuren“, die „für die sinnliche Anschauung dargestellt werden.“ Sie werden vom Verstand erfasst. Werden sie „klar und distinkt“ erfasst, handelt es sich um eine Wahrheit. „Alles, was ich klar und deutlich erfasse, [ist] notwendig wahr.“k Der Verstand erfasst also ein Problem „distinkt“, wenn es durch „bloße Figuren dargestellt“ wird. Das hatten wir so auch bei G ALILEI: Die „Sprache der Mathematik“ sind „Kreise, Dreiecke und andere geometrische Figuren.“ D ESCARTES ist 1628 auf völlig demselben Stand wie G ALILEI 1638. WAS SIND FIGUREN, UND WIE SOLL MIT IHNEN VERFAHREN WERDEN? Laut D ESCARTES gibt es „bloß zwei Arten von Dingen, die sich miteinander vergleichen lassen, nämlich Vielheiten und Großheiten“l – im lateinischen Original: „multitudines & magnitudines“m . Leider hat das Deutsche für die zwei lateinischen Worte „magnitudo“ und „quantitas“ nur ein einziges gebräuchliches Wort zur Übersetzung parat: „Größe“. Aber diese beiden k
Descartes 1972, S. 59 Descartes 1980, Regel 14.20, S. 140 m Descartes 1897–1910, Bd. 10, S. 406 l
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lateinischen Wörter – und diese Unterscheidung gibt es auch im Französischen und im Englischen – haben traditionell unterschiedliche Bedeutungen, bei D ESCARTES sowieso: Für D ESCARTES ist „quantitas“ eine Substanz – nämlich: Ausgedehntesn –, während „magnitudo“ ein Modus ist, eine Eigenschaft einer Substanz also. (Ab S. 31 gehe ich etwas genauer auf diese Thematik ein.) Um diese – jedenfalls ursprünglich – wichtige Unterscheidung zwischen „quantitas“ und „magnitudo“ auch im deutschen Text aufrechtzuerhalten, werde ich hier neben „Größe“ noch das weniger geläufige11 deutsche Wort „Großheit“ verwenden, und zwar wird hier immer „Größe“ für „quantitas“ oder „quantité“ stehen, „Großheit“ für „magnitudo“ oder „magnitude“. Das wird auch für Übersetzungen Anderer gelten, die ich hier verwende: Dort werde ich stillschweigend „Großheit“ für „magnitudo/magnitude“ setzen, auch wenn die Übersetzung „Größe“ hat.12
Für diese beiden Arten von vergleichbaren Dingen sieht D ESCARTES zwei mögli˜ che Arten von Figuren, nämlich Punkte (·) für die Vielheiten sowie „diejenigen [. . . ], die kontinuierlich und unteilbar sind, wie das Dreieck (M), das Quadrat (ä) usw.“o für die Großheiten. Für dieses Letztere prägt D ESCARTES hier keinen Namen, sondern bezeichnet sie im Weiteren als „kontinuierliche Großheiten“ („magnitudines continuitatis“). Für diese kontinuierlichen Großheiten stellt D ESCARTES eine wichtige Einschränkung und zugleich auch eine wichtige Forderung auf: „Bemerken wir schließlich, dass von den Dimensionen der kontinuierlichen [Großheiten] überhaupt keine distinkter gedacht werden als Länge und Breite und dass man bei derselben Figur nicht auf eine größere Anzahl zugleich achten darf als auf zwei, um sie miteinander zu vergleichen. Denn es ist eine Forderung der Methode, dass man, wenn mehr als zwei verschiedene miteinander zu vergleichen sind, sie nacheinander durchläuft und nur auf zwei zugleich achtet.“ (Descartes 1980, S. 141 f.) D ESCARTES begründet hier, dass man unter den „kontinuierlichen Großheiten“ nur ein- und zweidimensionale betrachten solle, also etwa Strecken und Flächengroßheiten, nicht aber räumliche Gebilde wie etwa Quader. Seine Begründung dafür ist jedoch etwas fadenscheinig: Es sei „eine Forderung der Methode“, dass bei Figuren beim Vergleich miteinander nur auf zwei Dimensionen „zugleich geachtet“ werden könne. Warum ist das so? Wie sollte sich gerade diese „Forderung der Methode“ begründen lassen? Weil man in einem Akt nur zwei Gegenstände miteinander vergleichen kann? D ESCARTES sagt es hier nicht. n
Vgl. Marshall Jr. 1979, S. 37.
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Descartes 1980, S. 141
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Es findet sich aber schon, etwa Mitte des 19. Jahrhunderts in Bolzano 1975c, f. 2r , und natürlich in Grimm und Grimm 1984, Bd. 9, Sp. 542–545. 12 Im Jahr 1882 beklagt PAUL DU B OIS -R EYMOND (1831–89) dieses Sprachproblem im Deutschen und löst es in derselben Weise wie ich hier – siehe du Bois-Reymond 1968, S. 14, Anmerkung *.
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1. Die Erfindung der formalen Algebra durch Descartes Vielleicht wird man an die Beschränkung denken, die das zweidimensionale Blatt Schreibpapier setzt, auf dem wir uns die Figuren „distinkt“ und „klar“ zur Anschauung bringen. So lässt sich jedenfalls der Anfang von D ESCARTES’ Erläuterung seiner Regel 16 deuten, aber zuvor geben wir noch Regel 15 wieder: „Regel 15 Es ist auch in den meisten Fällen von Vorteil, diese Figuren zu zeichnen und den äußeren Sinnen darzustellen, damit auf diese Weise unsere Aufmerksamkeit rege gehalten wird. [. . . ] Regel 16 Was dagegen die gegenwärtige Aufmerksamkeit des Geistes nicht erfordert, wenn es auch für die Schlussfolgerung nötig ist, das tut man besser, durch ganz kurze Bemerkungen als durch vollständige Figuren zu bezeichnen. Auf diese Weise wird uns nämlich das Gedächtnis nicht im Stich lassen, und trotzdem wird dabei das Bewusstsein nicht gezwungen, das Eine zurückzuhalten, während es sich damit beschäftigt, das Andere abzuleiten. 1. Da übrigens nicht mehr als zwei verschiedene Dimensionen von den unzähligen, die sich unserer Phantasie abmalen können, mit einem und demselben, sei es körperlichen oder geistigen, Schauen zu erfassen sein sollen, so ist es von Wichtigkeit, alle Übrigen so zu bewahren, dass sie sich mit Leichtigkeit jedesmal, wenn man ihrer bedarf, darbieten. Zu diesem Zweck scheint das Gedächtnis von der Natur eingerichtet zu sein. Damit wir nun aber, da es häufig unsicher ist, nicht gezwungen sind, einen Teil unserer Aufmerksamkeit auf seine Erneuerung zu verwenden, während wir bereits anderen Gedanken obliegen, hat die Methode als geeignete Ergänzung den Gebrauch der Schrift hinzuerfunden. Auf sie vertrauen wir, überlassen hier nun nichts mehr dem Gedächtnis, sondern geben unsere Phantasie frei und ganz den gegenwärtigen Ideen hin und schreiben alles zu Behaltende auf dem Papier nieder. Und zwar geschieht das vermöge sehr kurzer Zeichen [. . . ]“ (Descartes 1980, S. 142–144) D ESCARTES macht sich hier sehr ins Einzelne gehende Gedanken über die Art, wie „die Aufmerksamkeit des Geistes“ durch geeignete „Figuren“ auf dem Schreibpapier auf möglichst vorteilhafte Weise „rege gehalten“ werden kann. Dabei wird das Gedächtnis durch „die Schrift“ entlastet, um „die Phantasie“ für „gegenwärtige Ideen“ frei zu haben. Es sei noch darauf hingewiesen, dass D ESCARTES in den Regulae den Begriff der Dimension viel weiter fasst als wir heute: Unter „Dimension“ versteht er „nichts anderes als die Art und Weise, gemäß der ein Subjekt als messbar angesehen wird, sodass nicht nur Länge, Breite und Tiefe Dimensionen des Kör-
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pers sind, sondern außerdem z. B. die Schwere die Dimension ist, gemäß der die Gegenstände gewogen werden, die Geschwindigkeit ddiee Dimension der Bewegung und anderes unendlich vieles derselben Art.“ (Descartes 1980, Regel 14.15, S. 138)
Mit „Dimension“ kennzeichnet D ESCARTES somit alles Messbare. DESCARTES’ ZIELSETZUNG In der folgenden Regel formuliert D ESCARTES seine weitere Zielsetzung, und in der Erläutung dazu kündigt er seine Lösungsstrategie an – an deren Umsetzung er dann scheitert. „Regel 17 Man muss die vorliegende Schwierigkeit direkt durchlaufen, indem man davon absieht, dass gewisse Termini von ihr bekannt, andere unbekannt sind, und indem man auf dem richtigen Wege die wechselseitige Abhängigeit der einen von der anderen intuitiv verfolgt. [. . . ] Nun aber wollen wir in den fünf folgenden Regeln auseinandersetzen, wie diese Schwierigkeiten so zu behandeln sind, dass, so viele unbekannte [Großheiten] auch in einer Gleichung (propositio) enthalten sein werden, sie sich doch alle einander unterordnen. [. . . ] Da wir aber hier uns nur mit verwickelten Problemen beschäftigen [. . . ], so wird die ganze Kunst hierbei darin bestehen, dass wir das Unbekannte als bekannt annehmen und so imstande sind, uns ein leichtes und direktes Forschungsmittel zu verschaffen, das selbst bei noch so verwickelten Schwierigkeiten anwendbar bleibt.“ (Descartes 1980, S. 147 f.) Nach dieser Textübersetzung zu urteilen schwebt D ESCARTES hier sehr klar das Ziel vor, Gleichungssysteme aufzustellen und zu lösen. Dabei sei „das Unbekannte als bekannt anzunehmen“. Im lateinischen Original ist das nicht ganz so modern formuliert. Dort ist nicht von „Gleichungen“ (aequationes) die Rede, sondern von „propositio“, was traditionell für „Urteil“ oder auch einfach für „Aussage“ oder gar „Theorem“ steht – wir haben das bereits bei G ALILEI gesehen (S. 3). Das Unbekannte heißt im Original „ignota“. Also hat D ESCARTES zwar „Unbekanntes“, aber in den Regulae sucht er nicht nach „Gleichungen“, sondern unbestimmter oder allgemeiner nach „Aussagen“, „Lehrsätzen“ von ihnen. Die folgende Regel jedoch zeigt, warum der Übersetzer A RTUR B UCHENAU auf die Idee kam, „propositio“ mit „Gleichung“ zu übersetzen: „Regel 18 Hierzu sind nur vier Operationen erforderlich, nämlich Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division, von denen die beiden Letztenhier
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1. Die Erfindung der formalen Algebra durch Descartes häufig nicht gebraucht werden dürfen, damit einerseits keine nutzlose Verwicklung eintritt, andererseits, weil sie an späterer Stelle leichter ausgeführt werden können.“ (Descartes 1980, S. 149) Hier spricht D ESCARTES nun klar von Rechenoperationen, und das verbinden wir Späteren leicht mit Gleichungen. Wohl deswegen hat der Übersetzer die „propositio“ von 1628 als „Gleichung“ wiedergegeben. D ESCARTES’ Sprache ist das nicht. Und womit will D ESCARTES rechnen? Mit seinen anschaulichen „Figuren“. Wobei er die „Punkte“ gleich übergeht und sich sofort den „kontinuierlichen Großheiten“ zuwendet. Das interessiert uns jetzt genau, denn hier erscheint der Wurm, der die ganze schöne Konstruktion zu Fall bringt. Wir lesen das in Etappen: „6. Wenn es sich darum handelt, eine [Addition] oder Subtraktion anzustellen, so nehmen wir das Subjekt nach der Art einer Linie oder einer ausgedehnten [Großheit] an, bei der allein die Länge in Betracht zu a b zur Linie hinziehen ist. Denn soll die Linie zugefügt werden, so verbinden wir die eine mit der anderen in der c ab Weise und erhalten als Ergebnis . Wenn man dagegen die Kleinere von der Größeren abziehen soll, z. B. a b von , so legen wir in folgender Weise die eine b a auf die andere und erhalten so den Teil der Größeren, den die Kleinere nicht bedecken kann, nämlich . “ (Descartes 1980, S. 151) Das ist einleuchtend, einfach und klar: So und nicht anders addiert und subtrahiert man Strecken a und b. (Wir bemerken in Klammern: D ESCARTES verwendet hier nicht +- und −-Zeichen.) Wie aber geht es weiter? „7. Bei der Multiplikation nehmen wir ebenfalls die gegebenen [Großheiten] nach Art von Linien an, stellen uns aber vor, dass aus ihnen a gebildet wird; denn wenn wir mit ein Rechteck b
multiplizieren, so legen wir sie im rechten Winkel in fola gender Weise aneinander und erhalten das Rechteck b b a . Ebenso muss man, wenn wir a b mit c multiplizieren wollen, sich a b ab c ab als Linie vorstellen: um a b c zu erhalten. “ (Descartes 1980, S. 151 f.)
für
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Erster Versuch: Descartes’ Algebra mit Figuren (bis 1628) Genau hier steckt der Wurm: bei der Multiplikation von Strecken! Stellen wir an D ESCARTES eine Frage: Was ist das Produkt zweier Strecken? Auf diese einfache Frage hat D ESCARTES keine eindeutige Antwort! Denn D ES CARTES sagt zuerst: Das Produkt der Strecken a und b, also a · b, ist ein „Rechteck“ – aber wenn dann dieses Produkt a · b noch mit c multipliziert werden soll, wird aus dem „Rechteck“ a · b plötzlich eine „Linie“! Nicht, dass eine solche Konstruktion unklar oder schwierig wäre. Das ist sie nicht: Es ist nur das gefundene Rechteck mit den Seitenlängen a und b in ein flächengleiches Rechteck mit der einen Seitenlänge 1 zu verwandeln – dann hat die andere Seite ganz von selbst die Länge a · b. Das zu bewerkstelligen, ist ganz einfach. Es ist Jahrtausende altes Wissen und steht in E UKLID (I.43). In meinen Worten: Man füge an eine Rechteckseite die Strecke 1 an und konstruiere ein umhüllendes Hilfs-Rechteck mit der neu gebildeten Gesamtseite und der vom freien Ende über die alte Rechteck-Ecke gezogenen Verlängerung als Diagonale. Das neu entstandene kleine Rechteck ist flächengleich zum anfänglichen und hat eine Seitenlänge 1.
1
Die Flächengleichheit folgt daraus, dass die über der Diagonalen entstandenen vier kleineren und zwei größeren rechtwinkligen Dreiecke jeweils paarweise gleich groß sind.
Mit anderen Worten: Das Produkt zweier Strecken hat D ESCARTES nicht „distinkt“ erklärt.13 Das aber hat er anfangs gefordert! Wir sehen: D ESCARTES’ Erklärung des Produkts zweier Strecken genügt hier nicht den zuvor von ihm selbst aufgestellten Anforderungen. D ESCARTES’ Denken ist hier inkonsistent! Daher ist es folgerichtig, wenn er diesen Gedankengang alsbald abbricht. – Und so ist es auch. Sehen wir diesem Abbrechen zu: „10. [. . . ] Denn obgleich es uns, wenn wir uns zum ersten Male mit einer Schwierigkeit beschäftigen, freisteht, ihre Termini als Linien oder als Rechtecke anzunehmen, ohne ihnen jemals andere Figuren zuzuschreiben (wie oben bei der vierzehnten Regel ausgeführt), so kommt es doch häufig im Laufe der Operation vor, dass ein Rechteck, das vorher durch die Multiplikation zweier Linien hervorgebracht worden ist, bald darauf wieder als Linie aufgefasst werden muss, um eine andere Operation zustande zu bringen; oder dass dasselbe Rechteck oder die Linie, die aus einer Addition oder Subtraktion entstanden ist, wieder 13
Wenn 240 Jahre später H ERMANN H ANKEL das „Produkt“ zweier „Strecken“ erklärt als „das Rechteck, welches die Strecken a, b zu Seiten hat“ (Hankel 1867, S. 63), eine Seite später aber von der „Festsetzung“ spricht, „dass a(bc) = (ab)c = abc ein rechtwinkliges Parallelepipedum mit den Seitenlängen a, b, c seinem Inhalte nach bezeichnet“, so ist das unproblematisch und nicht derselbe Fehler wie bei D ESCARTES. H ANKELs Erklärung der Multiplikation von „Strecken“ ist nicht sehr pedantisch, aber klarerweise geht es ihm nicht um eine Beschränkung des Rechnens auf „Strecken“, wie es jedoch bei D ESCARTES der Fall ist.
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1. Die Erfindung der formalen Algebra durch Descartes aufgefasst werden muss als ein anderes Rechteck, das etwas über die Linie hinaus bedeutet, durch die es zu dividieren ist. 11. Es ist also von Wichtigkeit, hier auseinanderzusetzen, wie jedes Rechteck in eine Linie verwandelt werden kann und umgekehrt eine Linie oder ebenfalls ein Rechteck in ein anderes Rechteck, dessen Seite angegeben wird. Das ist für die Geometer sehr einfach, wenn sie nur darauf achten, dass wir unter Linien, jedesmal wenn wir sie mit einem Rechteck vergleichen wie hier, stets Rechtecke verstehen, deren eine Seite diejenige Länge ist, die wir als Einheit angenommen haben. Auf diese Weise wird nämlich die ganze Aufgabe auf die zurückgeführt, zu einem gegebenen Rechteck ein anderes gleiches über einer gegebenen Seite zu konstruieren. 12. Wenngleich dies auch sogar den Anfängern unter den Geometern bekannt ist, so will ich es dennoch auseinandersetzen, um nicht den Schein zu erwecken, als hätte ich etwas vergessen . . . “ (Descartes 1980, S. 153 f.) An dieser Stelle hört die Erläuterung der Regel 18 auf und damit der gesamte Text der Regulae. Das liegt sicher nicht an dem soeben aufgeworfenen Problem, nämlich: Wie verwandelt man ein Rechteck in ein flächengleiches, dessen eine Seitenlänge 1 ist? Denn das ist, wie gesagt, Jahrtausende altes Wissen und D ESCARTES natürlich bekannt, er hat es gerade beschrieben. Nein, nicht deswegen bricht D ESCARTES hier ab, sondern weil sein Denken hier ins Schwanken geraten ist: Eine Linie soll in ein Rechteck verwandelt werden und umgekehrt – was denn nun? Mir ist nicht bekannt, ob D ESCARTES die Inkonsistenz seines mathematischen Denkens in den Regulae jemals eingestanden hat. In einem Brief an M ARIN M ERSENNE (1588–1648) vom 15. April 1630 begründet D ESCARTES den Abbruch der Regulae wie folgt: Wenn Sie es merkwürdig finden, dass ich einige andere Abhandlungen begonnen hatte, als ich Paris war, und die ich dann nicht fortgesetzt habe, so werde ich Ihnen den Grund sagen: Während ich daran arbeitete, erlangte ich ein wenig mehr Wissen davon, und da ich mich danach richten wollte, war ich gezwungen, ein neues Projekt zu beginnen, größer als das Erste, so wie jemand, der ein Bauwerk als Wohnsitz begonnen hat, währenddessen unerhoffte Reichtümer erlangte & die Lage änderte, sodass sein begonnenes Bauwerk zu klein für ihn wurde; man würde ihn nicht tadeln, wenn man ihn dabei sähe, wie er mit einem neuen, seinem Besitzstand angemesseneren neu anfinge. (Descartes 1897–1910, Bd. I, S. 137 f.; ich danke B ERND A RNOLD für die Übersetzung.)
Jedenfalls hat D ESCARTES seinen Standpunkt gewechselt. Vor welchen Hindernissen steht Descartes hier? D ESCARTES’ Zielsetzung ist es, mit geometrischen Gebilden, nämlich mit ein- oder zweidimensionalen „Figuren“, algebraisch zu verfahren: zu rechnen. Anspruchsvoll formuliert: D ESCARTES will eine Algebra der Geometrie.
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Erster Versuch: Descartes’ Algebra mit Figuren (bis 1628) Jetzt aber sitzt er in der Falle, und sogar gleich doppelt! Das erste Hindernis
Zuallererst scheitert D ESCARTES, wie wir gesehen haben, an der Tatsache, dass durch die Multiplikation (und auch durch die Division) die geometrische Dimension der vorkommenden Großheiten geändert wird, während nur gleichartige geometrische Gebilde addiert und subtrahiert werden können: Das Produkt zweier („eindimensionaler“) Strecken ergibt eine („zweidimensionale“) Flächengroßheit, und zu dieser kann man keine Strecke hinzuaddieren, ohne zuvor die Flächengroßheit in eine Strecke zu transformieren. Addieren (und subtrahieren) lassen sich nur gleichartige Gebilde. Diese Tatsache heißt auch das „Homogenitätsgesetz“. „Homogen“ heißt „gleichartig“, von griechisch „homos“, gleich. Kurz: Es gelingt D ESCARTES nicht, das Produkt zweier Strecken eindeutig zu definieren. Zunächst ist es eine Flächengroßheit, aber vielleicht muss man diese noch in eine Strecke (gleichen Zahlwertes) verwandeln. Das zweite Hindernis
D ESCARTES steht aber noch vor einem zweiten Hindernis. Dieses zweite Hindernis hat er nicht klar benannt, aber es besteht offenbar.14 Man muss nur ein bisschen nachdenken. Rechnen besteht nicht nur aus Addieren, Subtrahieren, Multiplizieren und Dividieren, sondern auch aus dem Ziehen von Wurzeln! Wenn D ESCARTES mit seinen „Figuren“ rechnen will, muss er auch sagen, wie aus ihnen Wurzeln zu ziehen sind. Im einfachsten Fall ist das klar: Die Quadratwurzel wird aus einer Flächengroßheit gezogen, indem diese Flächengroßheit als Quadrat dargestellt und dann dessen Seite genommen wird. Das ist einfach. Aber es gibt nicht nur quadratische Probleme, sondern auch kubische, also Probleme dritten Grades; und auch solche noch höheren Grades. Seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts waren sogar Verfahren bekannt, um solche kubischen Probleme allgemein zu lösen. (Diese Verfahren wurden übrigens von italienischen Rechenmeistern erfunden, die sich gegenseitig in öffentlichen Wettstreiten herausforderten: Sie stellten einander Rechenaufgaben und hofften, der Gegner werde sie nicht lösen können. Bei solchen Gelegenheiten wurden Verfahren zur Lösung der kubischen Probleme gefunden – und natürlich als Betriebsgeheimnisse geheim gehalten.) Wenn nun der im 17. Jahrhundert lebende D ESCARTES eine Algebra geometrischer Großheiten formulieren will, muss er folglich nicht nur Quadratwurzeln ziehen können, sondern auch Kubikwurzeln – und mehr. 14
Dies gibt Schuster 1980, S. 78 als einzigen mathematischen Grund (er nennt noch andere) für den Abbruch der Regulae an.
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1. Die Erfindung der formalen Algebra durch Descartes Wie aber soll eine Kubikwurzel geometrisch konstruiert werden – unter der von D ESCARTES nun einmal aus erkenntnistheoretischen Gründen bestimmten Einschränkung, dass höchstens zweidimensionale Figuren zulässig sind? Durch diese Einschränkung scheidet die sonst triviale Lösung von vornherein aus, die betreffende Großheit als Würfel zu konstruieren und dann dessen Seite als Lösung zu nehmen. D ESCARTES’ Einschränkung auf höchstens zweidimensionale Figuren (die freilich wegen der von ihm verlangten „distinkten“ und „klaren“ Erkenntnis erforderlich war) verbietet diesen Weg. Gibt es einen anderen Weg? Lässt sich eine dritte Wurzel geometrisch höchstens zweidimensional konstruieren?
Descartes’ Lösung dieses Problems
In der Tat hat D ESCARTES für dieses Problem eine Lösung gefunden. Er hat einen Weg gefunden, zu einer gegebenen Strecke eine andere Strecke zu konstruieren, deren Länge die dritte, ja sogar die vierte Wurzel der gegebenen Streckenlänge ist. Diese Lösung steht in La Géométrie, in deren deutscher Fassung ab S. 92. Sie ist so verwickelt, dass ich sie hier nicht vorstellen will. Ich zeige nur eine der zugehörigen Zeichnungen von D ESCARTES (es gibt in La Géométrie mehrere Zeichnungen dazu, da verschiedene Fälle der Problemstellung zu unterscheiden sind). Wer sich für die Details interessiert: Sie sind sehr klar in Bos 2001, S. 256 f. nachzulesen. In der nebenstehenden Zeichnungp konstruiert D ESCARTES für die Gleichung vierten Grades z 4 = ±pz 2 ± q z ± r (beachte die Angabe der Strecken p, q und r in der Zeichnung) die Lösung z = GK , und er beweist auch, dass diese Strecke die Lösung dieser Gleichung (sogar) vierten Grades ist. Wie zu sehen verwendet D ESCARTES bei seiner Konstruktion nicht nur gerade Linien, sondern auch einen Kreis und eine Parabel. Diese Figuren sind zwar flächig, aber: Sind sie „distinkt“ und „klar“? Dem Kreis mag man diese Attribute vielleicht zubilligen, denn schon E UKLID behandelt ihn ausführlich. Beim Kreis ist auch klar, wie er konstruiert wird. p
Alle Figuren zu La Géometrie aus Descartes 1897–1910, Bd. 6.
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Zweiter Versuch: Descartes’ Algebra mit Streckenlängen (ab 1637) – die Erfindung der formalen Algebra Aber wie ist das mit der Parabel? Die kommt bei E UKLID nicht vor! Wie ist sie (selbstverständlich: „distinkt“ und „klar“) zu konstruieren? Das ist erst einmal nicht zu sehen. Wir halten hier für unsere Perspektive nur fest: D ESCARTES’ Algebra der Figuren in den Regulae erlaubt es nicht, Kubik- oder gar höhere Wurzeln geometrisch zu konstruieren.
ZWEITER VERSUCH: DESCARTES’ ALGEBRA MIT STRECKENLÄNGEN (AB 1637) – DIE ERFINDUNG DER FORMALEN ALGEBRA Wie schon erwähnt publizierte D ESCARTES im Jahr 1637 anonym ein sehr wichtiges und einflussreiches Werk aus vier Teilen. Der letzte Teil war Mathematik und trug den einfachen Titel La Géométrie. Das erste Kapitel (D ESCARTES spricht, wie seinerzeit E UKLID, vom ersten „Buch“) von D ESCARTES’ La Géométrie beginnt mit dem Satz: „Alle Probleme der Geometrie können leicht auf einen solchen Ausdruck gebracht werden, dass es nachher nur der Kenntnis der Länge gewisser gerader Linien bedarf, um diese Probleme zu konstruieren.“ (Descartes 1981, S. 1) Die anschließenden allgemeinen Ausführungen über die arithmetischen Operationen Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division und das Ausziehen von Wurzeln enden mit dem Satz: „Ich werde mich nicht scheuen, diese der Arithmetik entnommenen Ausdrücke in die Geometrie einzuführen, um mich dadurch verständlicher zu machen.“ (Descartes 1981, S. 2) Genau dies ist D ESCARTES’ Programm in La Géométrie: eine Algebra mit den „Längen gerader Linien“ . Ich werde im Folgenden von ‚Streckenlängen‘ statt von „Längen gerader Linien“ sprechen und also sagen: Es geht D ESCARTES in der Géométrie um eine Algebra mit Streckenlängen. Wir sehen, D ESCARTES hat sein Arsenal reduziert: Wollte er in den Regulae auch zweidimensionale geometrische Gebilde („Figuren“) zulassen, so beschränkt er sich in der La Géométrie von Anfang an auf eine einzige Kategorie geometrischer Gebilde, auf Streckenlängen. Offenbar hat es 360 Jahre gedauert,15 bis es D ESCARTES’ Nachfolgern auffiel, inwiefern dieser selbstbewusste erste Satz D ESCARTES’ in La Géométrie sachlich unzutreffend ist. Im Jahr 1997 machte P ETRI M ÄENPÄÄ gegen D ESCARTES geltend, schon die erste Aufgabe bei E UKLID: „Über einer gegebenen Strecke ein gleichseitiges Dreieck zu errichten.“ (Euklid, I.1, S. 3) 15
Diesen Hinweis verdanke ich Schmitz 2010, S. 129 f.
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könne von D ESCARTES nicht gelöst werden: Die nicht-algebraischen Aspekte der Geometrie fallen außerhalb des Geltungsbereichs, der als Analytische Geometrie bekannt ist. Ein einschlägiger Fall ist ein elementares Konstruktionsproblem wie das erste Vorhaben in E U KLID s Elementen, zu einer gegebenen Strecke ein gleichseitiges Dreieck zu konstruieren. (Mäenpää 1997, S. 207) Hier gilt es für E UKLID, eine Konstruktion in gerechtfertigter Weise durchzuführen, und diese Aufgabe lässt sich in D ESCARTES’ Analytischer Geometrie nicht abbilden.
DIE GRUNDLEGENDEN KONSTRUKTIONEN Dann gibt D ESCARTES drei geometrische Konstruktionen (die Addition und die Subtraktion erwähnt er gar nicht, diese beiden Operationen sind für Streckenlängen selbstverständlich): „Die Multiplikation. Es sei z. B. AB die Einheit und es sei B D mit BC zu multiplizieren, so habe ich nur die Punkte A und C zu verbinden, dann DE parallel mit C A zu ziehen und B E ist das Produkt dieser Multiplikation.
Die Division. Oder aber wenn man B E durch B D zu dividieren hätte, so wäre, nachdem die Punkte E und D verbunden dsinde und AC parallel mit DE gezogen worden ist, BC das Resultat dieser Division.
Das Ausziehen der Quadratwurzel. Soll endlich aus G H die Quadratwurzel ausgezogen werden, so füge ich zu G H in geradliniger Fortsetzung die Einheit F G hinzu, und beschreibe, nachdem ich F H im Punkte K in zwei gleiche Teile geteilt, um K als Mittelpunkt den Kreis F I H , errichte dann in G unter rechtem Winkel zu F H eine gerade Linie bis nach I , so ist G I die gesuchte Wurzel. Ich sage hier nichts über die Kubik- oder andere Wurzeln, da ich von diesen an späterer Stelle bequemer handeln kann.“ (Descartes 1981, S. 2)
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Zweiter Versuch: Descartes’ Algebra mit Streckenlängen (ab 1637) – die Erfindung der formalen Algebra REFLEXION 1 Was macht D ESCARTES? D ESCARTES gibt hier Anwendungen sowohl des Strahlensatzes wie des Höhensatzes. Beide Sätze kennt bereits E UKLID. Was ist bei D ESCARTES das Neue? Das Neue ist das, was D ESCARTES jeweils zu Beginn seiner Konstruktion setzt: die Einheit. Die Einheit spielt bei E UKLID beim Strahlen- wie beim Höhensatz keine Rolle, bei D ESCARTES jetzt sehr wohl. Und nur, weil D ESCARTES die Einheit setzt, gelingt ihm das, was in den Regulae nicht ohne Zwischenschritt funktioniert: Er kann das Produkt wie den Quotienten zweier Streckenlängen (bilden und) wieder als Streckenlänge gewinnen.16 Was aber bedeutet es, dass D ESCARTES die Einheit setzt? Indem er die Einheit setzt, fasst D ESCARTES die gerade Linie nicht mehr als bloße Linie auf, sondern als eine ‚Streckenlänge‘: als ein gemessenes geometrisches Gebilde. Indem D ESCARTES allem voraus eine Einheit setzt, macht er aus sämtlichen Linien der Untersuchung Streckenlängen. Diese Streckenlängen sind wohldefiniert, ihre Maße sind mit der Einheit unverrückbar festgelegt. Anders gesagt: Diese geraden Linien sind nicht bloße, reine Linien, sondern sie sind Linien mit einem Maß. Mit der vorgängigen Festsetzung der Einheit wandelt D ESCARTES die EUKLIDische reine Geometrie in eine Theorie der Streckenlängen: in das, was heute „Analytische Geometrie“ heißt. In dieser Theorie ist alles messbar, denn man kann jede Linie auf die Einheitslinie beziehen und hat dann ihr Maß: Man hat sie als eine Streckenlänge. (Im konkreten Fall kann die Längenbestimmung freilich ein schwieriges mathematisches Problem sein.) Diese beiden Konstruktionen D ESCARTES’ finden sich – natürlich – auch in E UKLIDs Elementen, und zwar im Sechsten Buch: „Zu drei gegebenen Strecken die vierte Proportionale zu finden. “ (Euklid, VI.12, S. 121) Dort wird zu drei gegebenen Strecken a, b, c die vierte Proportionale d konstruiert, d. h. es gilt: a : b :: c : d . Mit a = 1 ergibt sich daraus D ESCARTES’ Lösung: b · c = 1 · d = d Und im direkten Anschluss: „Zu zwei gegebenen Strecken die mittlere Proportionale finden.“ (Euklid, VI.13, S. 121) Operational betrachtet sind E UKLIDs und D ESCARTES’ Verfahren dieselben. Ein Unterschied besteht nur im theoretischen Zugriff auf diese Operationen: E UKLID hat Proportionen, D ESCARTES Gleichungen. 16
N ICCOLÒ G UICCIARDINI nennt diese Definition des Produkts zweier Streckenlängen bei D ESCARTES eine „riesige Neuerung“ und fragt (sich) dazu: War das seinen Zeitgenossen und insbesondere D ESCARTES selbst bewusst? (Guicciardini 2009, S. 38, die Frage in Anmerkung 14) Die Regulae beantworten diese Frage in großer Klarheit.
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„Der zentrale Unterschied besteht jedoch darin, dass E UKLID klar die Voraussetzungen, die Grundlagen, formuliert, die er vorher entwickelt und bewiesen hat, auf deren Basis das Finden der vierten Proportionalen auf wissenschaftliche Weise allererst möglich ist.“ (Schmitz 2010, S. 134) D ESCARTES stützt sich ganz klar auf die bei E UKLID erarbeiteten geometrischen Kenntnisse (Konstruktionen, Lehrsätze) – ohne diese ist die Gültigkeit seiner beiden Konstruktionen ungewiss.
D ESCARTES ändert den Grundcharakter der Geometrie: Jedes (zulässige) geometrische Gebilde ist eine Großheit und hat als solche ein bestimmtes Maß. Insofern sind alle (zulässigen) geometrischen Gebilde miteinander vergleichbar: ihrem Maß nach. Oder kurz: D ESCARTES will in der Geometrie alles messen können, und zwar mit einem einzigen Maß: der anfangs bestimmten Einheit. Man könnte das so deuten, als erkenne D ESCARTES die technischen Anforderungen, die das anbrechende Maschinenzeitalter stellt, und formuliere sie als sein Erkenntnisinteresse. Sein Erkenntnisinteresse sei instrumentell.17 D ESCARTES unterwirft E UKLIDs Geometrie radikal dem Maß. Wir nennen das heute „Analytische Geometrie“. Passender wäre dafür der Name „Algebraische Geometrie“, aber dieser Name hat heute eine völlig andere Bedeutung, sodass wir ihn nicht verwenden können. Woher? Wie kommt D ESCARTES auf seine neue Idee? Wie gelingt ihm der Ausbruch aus der Sackgasse seines Denkens über die Art des Multiplizierens von Streckenlängen, in die er in den Regulae geraten war? Natürlich waren ihm E UKLIDs Elemente auch schon vor dem Jahr 1628 bekannt. Die Frage, woher ein Mathematiker einen Geistesblitz hat, ist ebenso interessant wie in den meisten Fällen nicht zu beanworten. Dies dürfte ein solcher Fall sein. Allerdings verdient folgende Tatsache vielleicht Erwähnung: Nach dem Tod von S IMON S TEVIN im Jahr 1620 gab A LBERT G IRARD (1595–1632) im Jahr 1625 dessen Werk L’Arithmetique bei dem Verlag Elzevier in Leiden neu heraus.q (In Leiden erscheint 1637 auch D ESCARTES’ vierteiliges Werk mitsamt La Géométrie, wenn auch bei einem anderen Drucker.) Bei L’Arithmetique handelt es sich um eine Textsammlung, und den Abschluss dieser Sammlung (vor S TEVINs sieben Thesen zur Mathematik) bildet die Abhandlung Traicte des incommensurables grandeurs (Abhandlung über inkommensurable Großheiten). Das erste der drei dort gestellten Probleme lautet: Gegeben seien eine gerade Linie und zwei Zahlen: Finde eine gerade Linie, deren Verhältnis zur gegebenen wie das der Zahl zur Zahl ist. (Stevin 1625, S. 859) Zur Lösung dieses Problems gibt S TEVIN sechs Beispiele, oft mit mehreren Lösungen, und dazu vier „Folgerungen“ (corollaires). p Im ersten Beispiel sind zur Linie AB die beiden Zahlen / 5 und 3 vorgegeben. Die beigegebene Figur passt zu S TEVINs zweiter Lösung: q 17
Stevin 1625 So Irrlitz 1980b, S. 390 f. und passim.
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Zweiter Versuch: Descartes’ Algebra mit Streckenlängen (ab 1637) – die Erfindung der formalen Algebra Wähle AB als 3. (S TEVIN spricht nicht von der „Länge“ von AB !) Weil sich AB : BC wie 9 : 5 (die Quadrate der gegebenen Zahlen) verhalten soll (und AB = 3 ist), muss BC = AB · 95 = 53 = 1 23 gewählt werden (die Figur enthält also einen Druckfehler). Dann ist nach § 13 des Buches VI von E UKLID (wir sprechen heute vom „Höhensatz“) B D die gesuchte Linie. Denn aus Aus: Stevin 1625, S. 860
AB · BC = B D 2 folgt
p p p B D BC BC 5 BC 5/3 = =p =p , = p = AB B D 3 3 AB · BC AB
wie gewünscht. Hier kann D ESCARTES lesen, wie sich eine Quadratwurzel als ‚Streckenlänge‘ (B D) konstruieren lässt.18 Und S TEVINs zweites Problem lautet: Von einer gegebenen geraden Linie einen verlangten Teil abzuschneiden. (Stevin 1625, S. 866) q Im ersten Beispiel dazu verlangt S TEVIN, von der gegebenen Linie AB den 13 -ten Teil abzuschneiden. Zur Lösung wird der „Strahlensatz“ (Euklid, VI.2) genutzt: Zur p Linie AB wird irgendeine Linie AC gezogen und gleich 3 gemacht. Gemäß dem Problemp1 kann man die Linie AD finden, p die zu AC im Verhältnis wie 1 zu 3 steht. Dann folgt: AD AE = AC AB Aus: Stevin 1625, S. 866
und also AD AE = · AB = AC
r
1 · AB , 3
wie gewünscht. Wenn D ESCARTES hier AE = 1 liest, hat er seine Konstruktion des Produkts AC der beiden Streckenlängen AB mit AD als eine Streckenlänge gefunden. Und es ist natürlich ganz ausgeschlossen, dass D ESCARTES die Publikation dieses Werkes im Jahr 1625 in Leiden entgangen sein könnte.
DIE BAHNBRECHENDE ERFINDUNG Das ist aber noch keineswegs alle Neuerung, die D ESCARTES’ La Géométrie enthält. Das weltgeschichtlich Einzigartige kommt noch. Es besteht aus zwei Schritten. 18
Der Höhensatz als Konstruktionsmethode für Strecken, deren Länge eine „taube“ Zahl ist, gehört freilich schon immer zum Kernbestand der Techniken der Rechenmeister: Bereits der Liber abacus von L EONARDO F IBONACCI (um 1170–um 1250) aus dem Jahr 1202 (siehe dazu S. 39) verzeichnet diese Konstruktion, siehe Leonardo 1857, S. 353 bzw. Leonardo 2003, S. 491.
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1. Die Erfindung der formalen Algebra durch Descartes Der erste Schritt In unmittelbarem Anschluss an die Vorschrift zum Ausziehen der Quadratwurzel heißt es in La Géométrie: „Wie man sich in der Geometrie der Zahlzeichen bedienen kann. Oftmals aber ist es gar nicht nötig, diese Linien so aufs Papier zu zeichnen, sondern es genügt, sie jede einzeln mit einem Buchstaben zu bezeichnen. – So nenne ich, um die Linie B D zu G H hinzuzufügen, die eine a, die andere b und schreibe a +b; und a −b, um b von a abzuziehen; und ab, um sie miteinander zu multiplizieren; und ba , um a durch b zu dividieren; und aa oder a 2 , um a mit sich selbst zu multiplizieren, und a 3 , um diespnoch einmal mit a zu multiplizieren und so bis ins Unendliche;pund a 2 + b 2 , um die Quadratwurzel aus a 2 + b 2 aus3 zuziehen; und a 3 − b 3 + abb, um aus a 3 − b 3 + abb die Kubikwurzel auszuziehen, usw.“ (Descartes 1981, S. 2 f.) D ESCARTES ersetzt also die Längen der aufs Papier „gezeichneten“ Strecken durch Buchstaben. Diese Buchstaben „bezeichnen“ die Streckenlängen. Er setzt Buchstaben anstelle von Streckenlängen. p . Ebenso setzt D ESCARTES jetzt für Rechenoperationen eigene Zeichen: +, −, (D ESCARTES erfindet diese Zeichen für Rechenoperationen nicht, sondern übernimmt sie von anderen.) Damit stellt D ESCARTES eine vollständige Äquivalenz her zwischen dem algebraischen Operieren mit Streckenlängen (Geometrie) und der Bildung von Ausdrücken aus Buchstaben und Rechenzeichen (Arithmetik): Was er als Streckenlänge konstruieren kann, das kann er auch durch Buchstaben und Rechenzeichen darstellen – und umgekehrt. Diese Buchstaben sind offensichtlich gebliebig gewählte Zeichen für die geometrischen Streckenlängen. Auf dem Schreibpapier, im Rechenausdruck stehen sie für diese Streckenlängen. Die Buchstaben sind also Symbole. D ESCARTES rechnet mit Symbolen. p (Übrigens hat D ESCARTES das Symbol a 2 + b 2 bereits in den Regulae, nämlich in Regel 16.3. Allerdings stehen an jener Stelle a und b für Zahlen, nicht für „Figuren“.) Wir berichten noch, dass D ESCARTES seine neu erfundenen Zeichen – Symbole: Einzelbuchstaben für geometrische Großheiten – unmittelbar in kursiver Type setzt. Das machen korrekt gesetzte mathematische Texte noch heute so.
D ESCARTES betont als Nächstes sogleich das Neue an dieser Erfindung: „Hierbei ist zu bemerken, dass ich unter a 2 oder b 3 oder dergleichen gewöhnlich nur einfache Linien verstehe, und dass ich nur, um mich der in der Algebra ge-
„Où il est a remarquer que par a 2 ou b 3 ou semblables, ie ne conçoy ordinairement que des lignes toutes simples, encore que pour me seruir des noms vsités
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Zweiter Versuch: Descartes’ Algebra mit Streckenlängen (ab 1637) – die Erfindung der formalen Algebra brauchten Bezeichnungen zu bedienen, en l’Algebre, ie les nomme des quarrés dieselben als Quadrate, Kuben usw. be- ou des cubes, &c.“ (Descartes 1954, S. 7) nenne. “ (Descartes 1981, S. 3) D ESCARTES rechnet jetzt konsequent ausschließlich mit Streckenlängen. Schließlich zeigt D ESCARTES, dass (und warum) er auf das Homogenitätsgesetz S. 15 vollkommen verzichten kann, denn er fährt fort: „Es ist auch hervorzuheben, dass sich, wenn in der Aufgabe die Einheit nicht festgelegt ist, alle Teile einer und derselben Linie durch Ausdrücke von gleicher Dimension darstellen müssen, so wie hier a 3 , abb und b 3 , aus denen sich die Linie zusammensetzt, die ich p 3 a 3 − b 3 + abb genannt habe; dies braucht aber nicht der Fall zu sein, wenn die Einheit bestimmt gegeben ist, da diese alsdann immer mit darunter verstanden werden kann, wo die Dimension zu hoch oder zu niedrig ist. Hat man etwa aus a 2 b 2 − b die Kubikwurzel auszuziehen, so muss man sich die Größe a 2 b 2 einmal durch die Einheit dividiert und die andere Größe b zweimal mit der Einheit multipliziert denken.“ (Descartes 1981, S. 3)
„Il est aussy a remarquer que toutes les parties d’vne mesme ligne, se doiuent ordinairement exprimer par autant de dimensions l’vne que l’autre, lorsque l’vnité n’est point déterminée en la question, comme icy a 3 en contient autant qu’abb ou b 3 dont se compose la ligne que i’ay p nommée C. a 3 -- b 3 + abb: mais que ce n’est pas de mesme lorsque l’vnité est déterminée, a cause qu’elle peut estre soustendue par tout ou il y a trop ou trop peu de dimensions: comme s’il faut tirer la racine cubique de aabb -- b, il faut penser que la quantité aabb est diuisée vne fois par l’vnité, & que l’autre quantité b est multipliée deux fois par la mesme.“ (Descartes 1954, S. 7)
Der erste Schritt besteht also darin, rein formale Ausdrücke für Rechenoperationen mit Streckenlängen zu bilden. Dabei muss das Homogenitätsgesetz nicht beachtet werden. Das hat vor D ESCARTES niemand getan. Der zweite Schritt Im unmittelbaren Anschluss daran kommt der zweite Schritt: „Au reste affin de ne pas manquer a se souuenir des noms de ces lignes, il en faut tousiours faire vn registre separé, à mesure qu’on les pose ou qu’on les change, escriuant par exemple. A B o 1, c’est a dire, A B esgal à 1 GH o a e e
B D o b, &c.“ (Descartes 1954, S. 8) e
„Ferner ist es nötig, um die Bezeichnungen der Linien nicht zu vergessen, ein Verzeichnis für alle Festsetzungen und Änderungen anzulegen, indem man z. B. schreibt: AB o 1, d. h. AB gleich [1] G H o a, B D o b, usw.“ (Descartes 1981, S. 3. S CHLESINGER schreibt generell „=“ für D ESCARTES’ „ o “.) e e e
e
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e
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D ESCARTES beginnt hier, Definitionsgleichungen zu schreiben. Sein Zeichen für die Gleichheit ist „ o “. Das ist neu. (Auf eine Ausnahme gehe ich noch ein.) D ES CARTES bezeichnet die Gleichheit durch ein Zeichen, ein Symbol. Hier dient es noch der Definition der Größe (eine erste Strecke erhält die Länge 1; eine zweite wird durch „a“ bezeichnet, eine dritte durch „b“). Doch dabei wird es nicht bleiben, wie wir gleich sehen werden. Das von D ESCARTES gewählte Zeichen für die Gleichheit scheint aus einer Verbindung der Buchstaben o und e gebildet zu sein. (Verständlicher wäre vielleicht a und e, denn dies ließe sich als Beginn des Wortes „aequalis“ – „gleichwertig“ – deuten.19 Vermutlich jedoch war nicht die Bedeutung der verwendeten Buchstaben entscheidend, sondern deren Gestalt: In seinem – 1905 aufgefundenen – Journal gibt I SAAC B EECKMAN (1588–1637) ein D ESCARTES’sches Gleichheitszeichen aus der Zeit 1628/29 als „ “ wiederr – wobei jene Gleichung interessanterweise keine Buchstabensymbole verwendet, sondern Buchstaben als Namen sowie zusätzlich cossische. Auch die Werkausgabe von D ESCARTES verwendet „ “ als Gleichheitszeichen.) ∝
∝
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Nun beschreibt D ESCARTES in allgemeiner Weise den Gebrauch der Gleichungen: wie man ein (geometrisches) Problem in Gleichungen fasst und wie man ein solches System aus Gleichungen löst. Er erläutert sogar, wie zu verfahren ist, wenn die Aufgabe unterbestimmt ist: „Wie man zu den Gleichungen gelangt, die zur Lösung der Probleme dienen. Soll nun irgendein Problem gelöst werden, so betrachtet man es zuvörderst als bereits vollendet und führt für alle Linien, die für die Konstruktion nötig erscheinen, sowohl für die unbekannten als auch für die anderen, Bezeichnungen ein. Dann hat man, ohne zwischen bekannten und unbekannten Linien irgendeinen Unterschied zu machen, in der Reihenfolge, die die Art der gegenseitigen Abhängigkeit dieser Linien am natürlichsten hervortreten lässt, die Schwierigkeiten der Aufgabe zu durchforschen, bis man ein Mittel gefunden, um eine und dieselbe Größe (quantité) auf zwei verschiedene Arten darzustellen; dies gibt dann eine Gleichung (une Equation), weil die den beiden Darstellungsarten entsprechenden Ausdrücke (termes) einander gleich sind. Es sind dann so viele solcher Gleichungen aufzufinden, als unbekannte Linien vorhanden sind; wenn sich aber nicht so viele angeben lassen, obwohl man nichts, was in der Aufgabe enthalten ist, übergangen hat, so ist die Aufgabe nicht vollkommen bestimmt. Man kann alsdann für diejenigen Unbekannten (les inconnuës), für r 19
Descartes 1897–1910, Bd. 10, S. 335 Gelegentlich findet man die Behauptung, D ESCARTES’ Gleichheitszeichen sei „∞“ (sogar Descartes 1981, S. 115, Anmerkung 4). Dies trifft nicht genau zu, jedoch in einer Abwandlung: siehe den folgenden Text oben.
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Zweiter Versuch: Descartes’ Algebra mit Streckenlängen (ab 1637) – die Erfindung der formalen Algebra die sich keine Gleichungen ergeben haben, nach Belieben gewählte bekannte Linien setzen; bleiben dann noch mehrere Unbekannte zu bestimmen, so hat man sich der Reihe nach der aufgefundenen Gleichungen zu bedienen, indem man sie entweder einzeln oder in Verbindung mit den Übrigen betrachtet, und durch Reduktion zu erreichen sucht, dass jede der unbekannten Linien einer bekannten anderen gleich gesetzt sei, oder dass das Quadrat der Unbekannten, oder ihr Kubus, oder das Quadrat ihres Quadrats, oder ihre fünfte Potenz, oder das Quadrat des Kubus usw. gleich sei dem, was sich durch die Addition oder Subtraktion zweier oder mehrerer Größen ergibt, deren eine bekannt ist, während die übrigen sich aus irgendwelchen mittleren Proportionalen zwischen der Einheit und diesem Quadrat oder Kubus oder Quadrat des Quadrats usw., multipliziert mit anderen Bekannten, zusammensetzen.“ (Descartes 1981, S. 4 f.) Hier erläutert D ESCARTES in klaren Worten (aber langen Sätzen) Zielsetzung und Verfahrensweise der formalen Gleichungslehre: Man behandelt das Unbekannte genau so wie das Bekannte, sucht zwei verschiedene Ausdrücke für dasselbe und setzt diese gleich. Man braucht so viele Gleichungen, wie es Unbekannte gibt; sind es zu wenig Gleichungen, kann man für einige Unbekannte Beliebiges setzen. Die gefundenen Gleichungen reduziert man mit dem Ziel, jede Unbekannte etwas Bekanntem gleichzusetzen. DIE ERFINDUNG DER REIN FORMALEN GLEICHUNG Im direkten Anschluss folgt der Schlussstein von D ESCARTES’ großartiger Erfindung: „Ce que i’escris en cete sorte. z o b. ou z 2 o --az + bb. ou z 3 o +az 2 + bbz -- c 3 . ou z 4 o az 3 -- c 3 z + d 4 . &c. C’est a dire, z que ie prens pour la quantité inconnuë, est esgalé a b, ou le quarré de z est esgal au quarré de b moins a multiplié par z. ou le cube de z est esgal à a multiplié par le quarre de z plus le quarré de b multiplié par z moins le cube de c. & ainsi des autres.“ (Descartes 1954, S. 11) e e e e
„Ich schreibe dies in folgender Weise: z o b, oder z 2 o −az + b 2 , oder z 3 o +az 2 + b 2 z − c 3 , oder z 4 o az 3 − c 3 z + d 4 , usw. D. h. die unbekannte Größe z ist gleich b, oder das Quadrat von z ist gleich dem Quadrat von b, weniger a multipliziert mit z, oder der Kubus von z ist gleich a multipliziert mit dem Quadrat von z, vermehrt um das Quadrat von b multipliziert mit z, weniger dem Kubus von c, usw. “ (Descartes 1981, S. 5) e e e e
Im Anschluss fasst D ESCARTES die Leistungsfähigkeit seiner Methode zusammen:
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1. Die Erfindung der formalen Algebra durch Descartes „In dieser Weise kann man stets alle unbekannten Größen (quantités inconnuës) auf eine einzige zurückführen, wenn das Problem mit Hilfe von geraden Linien und Kreisen oder auch von Kegelschnitten und selbst von einer gewissen anderen Linie, die nur um einen oder zwei Grade zusammengesetzter ist, gelöst werden kann. Aber ich verweile nicht länger bei einer genaueren Auseinandersetzung dieser Dinge, weil ich euch sonst das Vergnügen, dieselben durch eigene Überlegung zu erlernen, und auch den Nutzen entzöge, den solche Übung eurem Geiste bringt, und der nach meinem Dafürhalten das Wichtigste ist, was man aus dieser Wissenschaft zu schöpfen vermag. Ich finde auch nichts darin, was so schwierig wäre, dass diejenigen, die in der gemeinen Geometrie und in der Algebra ein wenig bewandert sind, und auf das, was in diesem Buche enthalten ist, genau achten, es nicht finden könnten. Darum begnüge ich mich damit zu bemerken, dass sich, wenn man beim Reduzieren der Gleichungen nicht verabsäumt, alle sich als möglich erweisenden Divisionen auszuführen, unfehlbar der einfachste Ausdruck ergeben wird, auf den die Frage zurückgeführt werden kann.“ (Descartes 1981, S. 5) REFLEXION 2 Was ist hier geschehen? Hier hat D ESCARTES die ersten rein formalen Gleichungen der Mathematik notiert: • Sie enthalten nur Buchstaben: als Symbole für geometrische „Größen“ (die als ‚Streckenlängen‘, also als Maße festgelegt sind), sowie Rechenzeichen und ein Gleichheitszeichen. • Die „Unbekannten“ werden durch die letzten Buchstaben des Alphabets bezeichnet, die „Bekannten“ durch die ersten. Soweit ich sehe, spricht D ESCARTES diese Regel nicht ausdrücklich aus – jedenfalls in La Géométrie20 , sondern handelt nur ihr gemäß. Ausgesprochen, noch dazu für die „Analysis“, wird diese Regel später von L’H OSPITAL .s – In den Regulae war D ES CARTES noch einer anderen Regel gefolgt, die er dort auch ausgesprochen hat: s 20
l’Hospital 2 1716, S. 3 In den Werken findet sich eine Einleitung in D ESCARTES’ La Géométrie, welche die Herausgeber D ESCARTES selbst zuschreiben – und dort wird diese Regel formuliert: Descartes 1897–1910, Bd. 10, S. 672.
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Zweiter Versuch: Descartes’ Algebra mit Streckenlängen (ab 1637) – die Erfindung der formalen Algebra „Alles also, was man zur Lösung einer Schwierigkeit als Einheit wird anzusehen haben, werden wir durch ein einziges Zeichen wiedergeben, das nach Belieben ausgedacht werden kann, doch benutzen wir der Einfachheit halber die Charaktere a, b, c usw., um bereits Bekanntes, und A, B, C usw., um Unbekanntes auszudrücken. Davor setzen wir dann häufig Zahlzeichen 1, 2, 3, 4 usw., um ihre Vielheit, oder fügen sie an, um die Anzahl der [Relationen] auszudrücken, die man in ihnen anzunehmen haben wird. Wenn ich so etwa schreibe 2a3 , so wird das dasselbe sein, wie wenn ich sagte: das Doppelte der durch a bezeichneten Größe, die drei [Relationen] enthält. Auf diese Weise werden wir nicht nur eine kurze Zusammenfassung vieler Worte geben, sondern, was die Hauptsache ist, wir werden die Termini der Schwierigkeit so rein und bloß darstellen, dass, ohne etwas Nützliches außer Acht zu lassen, trotzdem niemals etwas Überflüssiges in ihnen gefunden wird, was vergeblich das begriffliche Vermögen des Geistes beschäftigt, wenn er eine Mehrheit auf einmal zu erfassen sich genötigt sieht.“ (Descartes 1980, zur Regel XVI, S. 144, das Wort „Beziehung“ des Übersetzers A RTUR B UCHENAU durch „Relation“ ersetzt.)
• Die Bekannten wie die Unbekannten sind „Linien“ mit bestimmter Länge21 (also das, was ich eine ‚Streckenlänge‘ nenne). • D ESCARTES nennt das Abstraktum zu den behandelten Streckenlängen nicht mehr „Großheit“ (magnitudo), sondern „Größe“ (quantité). • Indem D ESCARTES die ‚Streckenlängen‘ zu seinen Rechenobjekten macht, hat er einen „kontinuierlichen“ Objektbereich. Dieser Objektbereich enthält nicht nur die „ganzen“ und die „gebrochenen Zahlen“, sondern auch die „Irp rationalen“ (paradigmatisch: die 2 als die Diagonale im Quadrat mit der Seitenlänge 1). Diese formalen Gleichungen sind die ersten rein formal notierten mathematischen Sätze bzw. Aussagen: „A ist B.“ Das „ist“ ist durch das Gleichheitszeichen beschrieben. Es ist eine Beziehung (Relation), und zwar eine philosophisch höchst wichtige: Es ist die grundlegendste Beziehung, die es in der Sprache überhaupt gibt – die Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat. Wir sollten uns vor einem Missverständnis hüten: Das mathematische Zeichen „=“ steht, logisch betrachtet, für ein Prädikat; doch mathematisch versteht man es als eine Beziehung oder Relation – und diese Relation ist keineswegs die Identitätsrelation! Unter dem Gesichtspunkt der Identität ist D ESCARTES’ z = b immer falsch! „z“ ist nicht „gleich“ „b“! 21
Stolz 1891, S. 12 sagt, D ESCARTES „rechnete zwar mit den Linien als solchen“, und ergänzt erst sieben Zeilen später: Unter den Strecken wählte er eine übrigens beliebige aus, welche er die Einheit nannte und meist mit 1 bezeichnete.
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Die D ESCARTES’sche Gleichung z = b heißt, streng genommen, nicht: „z ist gleich b“ (wie wir es immer lesen), sondern sie besagt: „Die (durch „z“ bezeichnete) Streckenlänge ist b.“ Auch wenn wir es gelernt haben, das Symbol „=“ als „ist gleich“ zu lesen, so sollten die Mathematikkundigen (jedenfalls dann, wenn sie vom Philosophen danach gefragt werden) immer wissen: Dieses „ist gleich“ ist nur eine traditionelle Sprechweise – sie ist auf keinen Fall wörtlich (nämlich als „gleich“) zu verstehen, sondern je nachdem, bei D ESCARTES beispielsweise in der Weise wie eben dargelegt.
Damit ist erstmals die Möglichkeit erschaffen, Mathematik als reines Operieren mit Symbolen zu betreiben. Die Syntax (die Sprachregeln) kann nun klar von der Semantik (der Sprachbedeutung) getrennt werden: Man kann die Rede von der Gleichung und ihre Behandlung – die symbolisch-formale Ebene (Syntax) – klar und deutlich von der Interpretation der Gleichung unterscheiden, also von dem, was sie bedeutet, nämlich welche Streckenlänge sie beschreibt (Semantik). In dieser Klarheit war das vor der Erfindung des Gegenstandes „rein formale Gleichung“ nicht, jedenfalls nicht so distinkt und klar, möglich. Neben der Philosophie der Neuzeit und der neuzeitlichen Wissenschaft hat D ES CARTES damit auch der Mathematik der Neuzeit den Boden bereitet und den Weg gewiesen. Der Übersetzer B UCHENAU fügt in seiner Übertragung der Regulae an einer Stelle erklärend in Klammern das Wort „Symbol“ hinzu. Die betreffende Passage aus Regel 12.11 lautet: „Will [der Geist] aber, wie das häufig nötig ist, aus der Mehrheit ein Einzelnes ableiten, so ist von den Ideen der Dinge all das fernzuhalten, was keine gegenwärtige Aufmerksamkeit erfordert, damit man das Übrige leichter im Gedächtnis behalten kann. Man muss in derselben Weise alsdann nicht die Dinge selbst den äußeren Sinnen darbieten, sondern lieber nur abgekürzte Gestalten (Symbole) von ihnen, die nur dazu hinreichen sollen, einen Irrtum zu vermeiden; je kürzer sie aber, umso bequemer sind sie.“ (Descartes 1980, S. 114) Ein Hinweis sei hierzu angebracht: Das Symbol ist für das Auge, für den Augensinn – nicht für die Einbildungskraft! Nach D ESCARTES wird nicht das Symbol distinkt und klar wahrgenommen, sondern die Figur, die durch das Symbol bezeichnet wird. Wie die Zahlzeichen (Zahlsymbole) die Zahlen bezeichnen (symbolisieren), so bezeichnen (symbolisieren) bei D ESCARTES die Buchstaben – oder die aus Buchstaben und Zahlzeichen gebildeten Formeln – die Streckenlängen.
DIE RÜCKBINDUNG DER ALGEBRAISCH GEFUNDENEN GLEICHUNGSLÖSUNG AN DIE GEOMETRIE Schließlich zeigt D ESCARTES, wie man eine algebraisch gefundene Lösung einer quadratischen Gleichung geometrisch konstruieren kann:
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Zweiter Versuch: Descartes’ Algebra mit Streckenlängen (ab 1637) – die Erfindung der formalen Algebra „Habe ich z. B. z 2 o az + b 2 , e
so konstruiere ich das rechtwinklige Dreieck N LM , dessen Seite LM gleich der Quadratwurzel b aus der bekannten Größe b 2 , und dessen andere Seite LN gleich 21 a, der Hälfte der anderen mit der unbekannten Linie z multiplizierten bekannten Größe ist. Verlängert man die GrundlinieM N dieses Dreiecks bis nach O hin, sodass NO gleich sei mit N L, so ist das ganze OM die gesuchte Linie z. Sie stellt sich wie folgt dar: 1 z o a+ 2
r
1 2 a + b 2 .“ 4
e
(Descartes 1981, S. 6) Für die Gleichung z 2 o −az + b 2 e
mit der allgemeinen Lösung 1 z o − a+ 2
r
1 2 a + b2 4
e
ist P M die gesuchte Strecke. Der Kreisradius ( 21 a) wird also subtrahiert statt addiert. Und der letzte Fall: „Habe ich endlich z 2 o az − b 2 , e
so mache ich wie vorhin N L gleich 12 a und LM gleich b; dann ziehe ich, statt die Punkte M N zu verbinden, MQR parallel mit LN und beschreibe um N als Mittelpunkt einen durch L gehenden Kreis, der MQR in den Punkten Q und R schneidet; die gesuchte Linie z ist MQ oder M R, denn in diesem Falle entsprechen ihr zwei verschiedene Ausdrücke, nämlich: 1 z o a+ 2
r
1 2 a − b2 , 4
1 z o a− 2
r
1 2 a − b2 . 4
e
und e
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1. Die Erfindung der formalen Algebra durch Descartes Und wenn der Kreis mit dem Mittelpunkte N , der durch den Punkt L hindurch geht, die gerade Linie MQR weder schneidet noch berührt, so hat die Gleichung keine Wurzel, sodass man versichern kann, die Konstruktion des Problems sei unmöglich.“ (Descartes 1981, S. 7) Man betrachtet das (nicht gezeichnete) rechtwinklige Dreieck NQL 0 , wobei L 0Q die Parallele zu LM durch den Punkt Q ist. Dann ist zum einen in diesem rechtwinkligen Dreieck N L 02 = 14 a 2 − b 2 . Zum anderen gilt N L 0 = N L − QM = 12 a − QM und also QM = 12 a − N L 0 – das ist die letzte Lösung. Die andere ergibt sich aus Symmetriegründen. Es sei nur kurz angemerkt, dass auch D ESCARTES’ erste geometrische Konstruktion einer Lösung einer quadratischen Gleichung bei E UKLID konstruiert ist: „Wählt man außerhalb eines Kreises einen Punkt und zieht von ihm aus zum Kreis zwei Strecken, von denen die eine den Kreis [als Durchmesser] schneidet, die andere ihn berührt, so muss das Rechteck aus der ganzen schneidenden Seite und dem außen zwischen dem Punkt und dem erhabenen Bogen abgegrenzten Stück dem Quadrat über der Tangente gleich sein.“ (Euklid, III.36, S. 73) Dies zeigt: Auch in diese Konstruktion gehen etliche geometrische Vorkenntnisse ein, von denen bei D ESCARTES nicht die Rede ist.
DESCARTES HAT NUR POSITIVE GRÖSSEN – UND KEINE KOORDINATEN D ESCARTES bleibt hier bei der Betrachtung der drei traditionellen Formen der quadratischen Probleme. Sie lauten: z 2 o az + b 2 , e
z 2 o −az + b 2 , e
z 2 o az − b 2 . e
Es sind a und b demnach bei D ESCARTES immer „absolute“ – oder: „positive“ – Größen. Das ist unausweichlich, da die Buchstaben Streckenlängen bezeichnen. Und die jeweiligen geometrischen Konstruktionen der Lösungen der Gleichungen unterscheiden sich auch, wie D ESCARTES demonstriert hat. Daraus erklärt sich zwanglos, dass wir bei D ESCARTES keine Spur des nach ihm benannten Koordinatensystems („kartesisches Koordinatensystem“) finden. Denn in diesem System sind gleichermaßen „positive“ wie „negative“ „Werte“ vertreten. Aber: An „Werte“, gar „negative“, denkt D ESCARTES nicht. Er denkt an Streckenlängen, an „Linien bestimmter Länge“. Und „Linien“ sind nicht „Werte“. „Linien“ sind geometrische Objekte, „Werte“ hingegen sind algebraische oder analytische Objekte. Auch wird eine Streckenlänge durch zwei Angaben bestimmt: ihren Anfangs-
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Ein Blick auf Descartes’ Ontologie und ihren Endpunkt – ein Wert hingegen ist eine einzige Angabe. Einprägsam formuliert: D ESCARTES hat eine Wert-freie Algebra, eine Algebra aus positiven Größen. ERGEBNIS D ESCARTES ist mit seiner Leistung sehr zufrieden: „Im Übrigen können diese selben Wurzeln auch auf unzähligen anderen Wegen gefunden werden, und ich wollte nur diese hierher setzen, weil sie sehr einfach sind und erkennen lassen, dass alle Probleme der gewöhnlichen Geometrie durch alleinige Anwendung des Wenigen konstruiert werden können, was in den vier erläuterten Figuren enthalten ist. Dies scheinen die Alten nicht bemerkt zu haben, da sie sonst die Mühe gescheut hätten, darüber so viele dicke Bücher zu schreiben, in denen schon allein die Anordnung ihrer Lehrsätze erkennen lässt, dass sie nicht im Besitze der wahren Methode waren, die alle diese Lehrsätze liefert, sondern dass sie nur diejenigen, die ihnen begegnet sind, aufgelesen haben. “ (Descartes 1981, S. 7 f.) D ESCARTES ist hörbar stolz darauf, dass er etwas Neues geschaffen hat. Seine – wie wir heute sagen – Analytische Geometrie ist geeignet, alles das zu berechnen, was „die Alten“ nur konstruieren konnten – und noch weit mehr. Das ist eine bewundernswerte Leistung von D ESCARTES. Freilich ist D ESCARTES’ hier ausgesprochenes Urteil sehr arrogant. Denn er verschweigt, dass die Gültigkeit seiner Konstruktionen auf genau jenen „dicken Büchern“ beruht, welche die Alten verfasst haben. Es ist wirklich bemerkenswert, dass der mit allen Methoden des Zweifelns gewaschene D ESCARTES in der Géométrie über die Richtigkeit seiner geometrischen Konstruktionen kein Sterbenswörtchen verliert. Das elementar Neue aber ist hier D ESCARTES’ Erfindung der formalen Algebra: jener neuen Sprache der Mathematik, gebildet aus Buchstaben, Rechenzeichen und dem Gleichheitszeichen, welche die alte Sprache aus Geraden, Kreisen, Dreiecken und sonstigen geometrischen Figuren seither und bis auf den heutigen Tag ablöst – wir können Gebiete wie die Formale Logik, aber auch die Mengensprache oder die Kategorientheorie und selbstverständlich die modernen Gebiete der Algebra als Weiterentwicklungen dieser D ESCARTES’schen formalen Algebra ansehen. Mit der formalen Algebra hat D ESCARTES der Mathematik eine neue Sprache erfunden. Wir nutzen sie noch heute. EIN BLICK AUF DESCARTES’ ONTOLOGIE Wir haben gesehen: In den Regulae versteht D ESCARTES die betrachteten Figuren als „Großheiten“ (magnitudines). In La Géométrie hingegen bezeichnet er seine Rechenobjekte als „Größen“ (quantités).
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1. Die Erfindung der formalen Algebra durch Descartes Dieser Wandel ist keine Kleinigkeit. Zu Zeiten La Géométrie hat D ESCARTES seine reife Philosophie entwickelt. Das ist der berühmte Dualismus zwischen den beiden Substanzen Geist und Materie. Im Folgenden werde ich ein paar Bemerkungen zu D ESCARTES’ Philosophie machen. Es versteht sich von selbst, dass diese Bemerkungen weit mehr im Streit stehen als das, was ich zu D ESCARTES’ Mathematik und deren Deutung vorgetragen habe – obwohl auch dies natürlich bestritten werden kann. S U B S TA N Z , AT T R I B U T, M O D U S Die Ontologie ist die Lehre von dem, was ist; vornehmer formuliert: die Lehre vom Sein. Dort werden traditionell Substanz, Attribut und Modus unterschieden, und es werden deren Beziehungen zueinander formuliert. Für D ESCARTES gilt: „Ein Körper ist ausgedehnt und hat Gestalt und Bewegung. Der Körper ist eine Substanz, seine Ausdehnung ein Attribut, und seine Gestalt und Bewegung sind Modi. Ein Geist ist ein denkendes Wesen, und er erinnert sich und will. Der Geist ist eine Substanz, das Denken ein Attribut, Erinnerung und Wollen sind Modi.“ (Marshall Jr. 1979, S. 26, mit Verweis auf D ESCARTES’ Principia Philosophiae von 1644) ZWEI SUBSTANZEN Nach M ARSHALL gibt es für D ESCARTES nur zwei Substanzen. Populär gesprochen sind dies: Geist und Materie; in D ESCARTES’ Sprache: „res cogitans“ und „res extensa“. Das ist der berühmte D ESCARTES’sche Dualismus. (Eine dritte Substanz müsste wohl D ESCARTES’ Gott sein.) Res cogitans – Denken
„Res cogitans“ ist die denkende Substanz. Es wurde die These vertreten, die „res cogitans“ sei in D ESCARTES’ Philosophie das Einzige, worauf sich das Wort „Gott“ beziehen könne. Die Seelen der Menschen inhärierten dieser Substanz als Modi.t Das sagt D ESCARTES natürlich nicht klipp und klar, denn dies würde ihn sofort vor die katholische Inquisition bringen. Daran konnte er kein Interesse haben. Res extensa – Ausdehnung
Für uns hier wichtiger ist die „res extensa“. Dies ist D ESCARTES’ Begriff der objektiven Realität,u der Materie. M ARSHALLs Analyse zufolge gibt es für D ESCARTES keine Vielheit materieller t
Vgl. Marshall Jr. 1979, S. 62.
u
Vgl. Marshall Jr. 1979, S. 144.
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Ein Blick auf Descartes’ Ontologie Substanzen, sondern nur eine einzige. Diese eine Substanz ist die Ausdehnung, in der Fachsprache: „extensio“.v Eigentlich ist Ausdehnung das Attribut der Substanz „res extensa“. Aber bei D ES CARTES können das wesentliche Attribut einer Substanz und diese Substanz nicht voneinander unterschieden werden. Nach D ESCARTES’ Substanzlehre kann eine Substanz nur ein einziges Attribut haben. Das liegt zum Ersten daran, dass eine Unterscheidung zweier verschiedener Attribute einer Substanz nicht distinkt und klar erkannt werden kann. Außerdem: Könnte eine Substanz zwei Attribute haben, dann könnten die beiden Attribute Denken und Ausdehnung wesentliche Eigenschaften – Prädikate (im logischen Sinn des Wortes) – ein und desselben Wesens sein. So hatte man sich vor D ESCARTES den Menschen gedacht: als einziges Subjekt mit mehreren wesentlichen Attributen. Diese Lehre verwirft D ESCARTES.w Mit dieser Position – die Ausdehnung ist das Attribut der Materie – widerspricht D ES der herrschenden scholastischen Lehre. Diese hatte, in der Tradition von A RISTO TELES , unterschieden zwischen den materialen und den formalen Prinzipien einer körperlichen Substanz: CARTES
„Das Formalprinzip verleiht der Substanz eine allgemeine Natur, das Materialprinzip individuiert sie. Quantität – Größe – Ausdehnung ist als Prädikat an die Materie geknüpft, aber von ihr unterschieden.“ (Marshall Jr. 1979, S. 43)
Gegen diese Unterscheidung wendet sich D ESCARTES, etwa in seinem 1633 abgeschlossenen, jedoch zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlichten Werk Le Monde: „[Ich muss den Philosophen] an dieser Stelle sagen, wenn ich mich nicht täusche, rührt die ganze Schwierigkeit, die sie an [der ersten Materie] empfinden, nur davon her, dass sie sie von ihrer eigenen Qualität und ihrer äußeren Ausdehnung unterscheiden wollen, d. h. von ihrer Eigenschaft, Raum einzunehmen. Es ist mir gleichwohl recht, dass sie glauben, darin recht zu haben, denn ich habe nicht die Absicht, mich damit aufzuhalten, ihnen zu widersprechen. Aber sie dürfen es auch nicht seltsam finden, wenn ich ˜ annehme, dass die Quantität der Materie, die ich beschrieben habe, sich nicht mehr von ihrer Substanz unterscheidet als die Zahl von den gezählten Dingen; und wenn ich ihre Ausdehnung oder ihre Eigenschaft, Raum einzunehmen, nicht als Akzidens auffasse, sondern als ihre wirkliche Form und ihr Wesen [. . . ]“ (Descartes 1989, S. 43, 45) D ESCARTES entwickelt hier, in diesem von ihm nicht veröffentlichten Text, seine Position ausdrücklich im Gegensatz zur traditionellen Philosophie. M ARSHALL dazu: „Eine materielle Substanz ist für D ESCARTES ihre Ausdehnung. Die Unterscheidung, die wir gewohnt sind zwischen beiden zu machen, v
Vgl. Marshall Jr. 1979, S. 54.
w
Vgl. Marshall Jr. 1979, S. 33.
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1. Die Erfindung der formalen Algebra durch Descartes ist auf die Unklarheit unseres Denkens zurückzuführen.“ (Marshall Jr. 1979, S. 43, mit weiterem Quellenbeleg) Das hat Folgen auch für den Raumbegriff: Für D ESCARTES sind Raum und Materie identisch. Es gibt keinen Unterschied zwischen einem Körper und dem Raum, den er einnimmt.x Eine Konsequenz daraus: Für D ESCARTES gibt es keinen leeren Raum. Selbst der Gott kann ihn nicht erschaffen – eben wegen dieser Identität von Materie und Raum.y Die Existenz der Materie beschränkt des Gottes Allmacht. GEOMETRIE UND ARITHMETIK BEI DESCARTES Geometrie Wie wir in dem Zitat aus Le Monde gerade gelesen haben, unterscheidet D ESCARTES nicht zwischen Materie, Größe (quantité) und Ausdehnung. Folglich ist mit der Ausdehnung auch die Größe mit der Materie identisch. Indem die Geometrie von Größen handelt, handelt sie von der Materie: der „res extensa“. Insofern hat die Geometrie einen objektiven Gegenstand: die Substanz Materie. Arithmetik Um die Arithmetik aber ist es weit schlechter bestellt. Wie in jenem Zitat aus Le Monde ebenfalls zu lesen war, ist die Zahl nicht vom gezählten Ding zu trennen. Auch in Regel 14.12 f. der Regulae sagt D ESCARTES das: „Wenn es sich z. B. um die Zahl handelt, so stellen wir uns ein durch viele Einheiten messbares Subjekt vor, und wenngleich der Verstand jetzt nur über dessen Vielheit reflektiert, so müssen wir uns trotzdem in Acht nehmen, dass er daraus nicht einen Schluss zieht, wonach man annehmen kann, dass die gezählte Sache von unserm Begriff ausgeschlossen gewesen ist, wie es die machen, welche den Zahlen wunderbare Geheimnisse und bloße Torheiten zuschreiben, auf die sie sicherlich nicht so fest bauen würden, wenn sie nicht die Zahl als von den gezählten Dingen distinkt dächten. [. . . ] In der Tat täuschen uns selbst die Wissenschaften der Arithmetik und der Geometrie, wenngleich sie die Allergewissesten sind, in dieser Beziehung. Denn welcher Arithmetiker (Logista) ist nicht der Überzeugung, dass seine Zahlen von jedem Subjekt nicht nur durch den Verstand abstrahiert sind, sondern durch die sinnliche Anschauung auch wahrhaft unterschieden werden müssen?“ (Descartes 1980, S. 136 f.) Nach dem ersten Satz dieses Zitats ist „Zahl“ ein „messbares Subjekt“. Die „messbaren Subjekte“ aber sind die „Ausdehnungen“ (oder „Quantitäten“). Somit ist x y
Vgl. Marshall Jr. 1979, S. 43. Vgl. Marshall Jr. 1979, S. 47, der sich auf S. 48–55 mit abweichenden Textstellen bei D ESCARTES auseinandersetzt.
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Ein Blick auf Descartes’ Ontologie für D ESCARTES „Zahl“ eine „Ausdehnung“. Insofern die Geometrie diese „Ausdehnungen“ behandelt, erledigt sie nebenbei auch die Arithmetik. Denn dass die für S. 17 die Geometrie geeigneten Operationen gerade die arithmetischen seien (und nicht ganz andere), sehe ich bei D ESCARTES nicht problematisiert. Wenn es aber keine vom gezählten Ding unterschiedene Zahl gibt, kann es von Zahlen, sofern sie vom gezählten Ding unterschieden sind, auch keine Wissenschaft geben. Eine Wissenschaft Arithmetik ist für D ESCARTES nicht möglich. Die Zahlen werden nur vom Verstand (intellectus) von den Dingen abstrahiert. Sie sind nicht Gegenstand der Einbildungskraft (Intuition). Demzufolge können sie nicht distinkt und klar wahrgenommen werden.z Die Sätze der Arithmetik sind für D ESCARTES nur „empirische Verallgemeinerungen“a . Somit sind sie nicht objektiv gewiss, sondern unterliegen dem Zweifel. Solche Zweifel formuliert D ES CARTES in den Meditationen: „Woher weiß ich aber, dass [Gott] nicht bewirkt hat, [. . . ] dass – so wie ich urteile, dass bisweilen auch andere sich in dem irren, was sie aufs vollkommenste zu wissen meinen – so auch ich mich täusche, so oft ich 2 und 3 addiere oder die Seiten des Quadrats zähle, oder was man sich noch Leichteres denken mag.“ (Descartes 1972, S. 14) Bekanntlich ist der Zweifel in den Meditationen kein wirklicher, sondern ein methodischer. Dennoch ist es bemerkenswert, dass D ESCARTES sogar an den Sätzen der Arithmetik zu zweifeln bereit scheint. Ergebnis: Die Arithmetik ist für D ESCARTES keine Wissenschaft. (Das erklärt, warum D ESCARTES kein Buch über die Arithmetik verfasst hat.)
BEWEGUNG IN DER MATHEMATIK Wie wir in späteren Kapiteln sehen werden, spielt die Bewegung eine wichtige Rolle in der Entwicklung der Grundlagen der Analysis. Bei D ESCARTES’ Erfindung der formalen Algebra spielt Bewegung keine direkte Rolle. Deshalb sei hier eine Darstellung von D ESCARTES’ Auffassung der Bewegung ergänzt. In der Geometrie hält D ESCARTES die Bewegung für unproblematisch, denn in Le Monde heißt es, offenbar zustimmend: „Die Natur der Bewegung, von der ich hier spreche, ist im Gegenteil so leicht zu erkennen, dass selbst die Geometer, die von allen Menschen die gebildetsten sind, um die Dinge sehr deutlich zu begreifen, die sie betrachtet haben, sie für einfacher und einsichtiger gehalten haben, als die ihrer Oberflächen und ihrer Linien: was daran deutlich wird, wie sie die Linie durch die Bewegung eines Punktes und die Oberfläche durch diejenige einer Linie erklärt haben.“ (Descartes 1989, S. 49) z
Vgl. Marshall Jr. 1979, S. 87 f.
a
Marshall Jr. 1979, S. 88
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Die Lehre, die Bewegung sei das Konstitutionsprinzip nicht nur der geometrischen Figuren, sondern auch der physikalischen Körper, nennt M ARSHALL einen „der kühnsten und originellsten Teile der kartesischen Philosophie“b . Darauf kann ich hier nicht eingehen, sondern ich muss mich auf D ESCARTES’ Bewegungsbegriff in der Geometrie beschränken.
Im zweiten Buch von La Géométrie sagt D ESCARTES: „[. . . ] es scheint mir ganz klar, dass, [. . . ] wenn man die Geometrie als diejenige Wissenschaft ansieht, die allgemein die Maße der Körper kennen lernt, man die zusammengesetzteren Linien ebenso wenig ausschließen dürfe wie die einfachsten, vorausgesetzt, dass man sie sich beschrieben denken kann durch eine stetige Bewegung oder durch mehrere aufeinanderfolgende solche Bewegungen, deren jede durch die vorhergegangene vollkommen bestimmt ist; denn auf diese Weise kann man stets eine scharfe Vorstellung (connoissance exacte) von den Maßen einer solchen Linie erhalten.“ (Descartes 1981, S. 20 f.) Auch wenn eine geometrische Figur durch eine „stetige Bewegung“ als „beschrieben“ gedacht werden kann, so ist diese Bewegung jetzt diese Figur. Die Einbildungskraft kann diese Figur distinkt und klar wahrnehmen. Wenn ich die Figur wahrnehme, so nehme ich also ihre (gedachte) Erzeugung durch diese „stetige Bewegung“ wahr. Kurz: In oder mit der Figur nehme ich die Bewegung wahr. Die Figur ist die Einheit einer gedachten Bewegung. Die Figur ist die Bewegung.22 Laut D ESCARTES kann eine geometrische Figur distinkt und klar wahrgenommen werden. Also kann eine (vollendete) Bewegung distinkt und klar wahrgenommen werden. Eine vollendete Bewegung ist eine vergangene Bewegung, aber sie kann im Nachhinein distinkt und klar wahrgenommen werden. („Es scheint dies das einzige in D ESCARTES’ Physik zu sein, was ein Gesetz genannt werden kann.“c ) Daher und in diesem Sinne ist für D ESCARTES die Bewegung ein legitimer Gegenstand der Geometrie, der Mathematik: als Figur. Dies ist deshalb wichtig, weil die Antike – genauer: die Eleaten – idealtypisch die Bewegung aus der Mathematik ausgeschlossen hatte: Sicheres Wissen kann es den Eleaten zufolge nur vom Sein geben, nicht vom Werden. PARMENIDES (−520/15–−460/55) lehrt: „Es 〈das Seiende〉 ist oder es ist nicht! Damit ist unweigerlich entschieden, den einen Weg als undenkbar und unaussprechlich zu verwerfen – er ist ja nicht der Wahre –, den anderen aber zu wählen als den einzig Richtigen. Wie könnte also das Seiende in der Zukunft sein? Wie könnte es jemals geworden sein? Denn wenn es einmal geworden ist, dann ist es nicht; es ist aber auch nicht, wenn es jemals in Zukunft sein sollte. So ist das Werden ausgelöscht und das Vergehen 〈der Dinge〉 abgetan. [. . . ] b c 22
Marshall Jr. 1979, S. 104 Marshall Jr. 1979, S. 135 So auch Marshall Jr. 1979, S. 136.
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Dasselbe aber ist Denken und des Gedankens Gegenstand. Denn du kannst das Denken nicht ohne das Seiende antreffen, in dem es 〈ja〉 ausgesprochen ist. Denn es gibt nichts außer dem Seienden und wird nichts außer ihm geben; hat doch das Schicksal es verhängt, dass es ganz und unbeweglich ist. Daher sind alles nur leere Namen, was die Sterblichen 〈durch die Sprache〉 festgesetzt haben, in dem Glauben, es liege ihnen eine Wirklichkeit zugrunde: »Entstehen« und »Vergehen«, »Sein« und »Nichtsein«, »Veränderung des Ortes« und »Wechsel der leuchtenden Farbe«.“ (Capelle 9 2008, S. 130 f., Hinzufügungen 〈. . . 〉 vom Herausgeber) Denken ist das Denken von Etwas. Denken fordert daher Sein. PARMENIDES identifiziert Denken und Gedachtes. Widerspruchslos gedacht werden kann nur das (unveränderliche) Sein.23 Wenn es keine Veränderung, keine Bewegung gibt, ist auch das Sein unbeweglich. Also ist es überall und gleichmäßig: „Nirgends gibt es ein stärkeres Sein, das seinen Zusammenhalt hinderte, nirgends ein schwächeres: denn alles ist voll vom Seienden. Daher ist es in seinem ganzen Umfange zusammenhängend. Denn Seiendes stößt an Seiendes.“ (Capelle 9 2008, S. 130) Anders gesagt: Das Seiende ist ein Kontinuum.d Neben dem Satz „Das Seiende ist.“ haben wir damit einen zweiten positiven Satz über das Seiende.24 In der Nikomachischen Ethik schreibt A RISTOTELES: „Nun, was wissenschaftliche Erkenntnis ist, ergibt sich, wenn es gilt, sich exakt auszudrücken und sich nicht durch bloße Ähnlichkeiten leiten zu lassen, aus Folgendem. Wir nehmen alle an, dass das, was wir wissenschaftlich erkennen, die Möglichkeit eines Andersseins ausschließt. Von dem, was anders sein kann, wissen wir nicht, ob es existiert oder nicht, falls es sich unserer unmittelbaren Beobachtung entzogen hat. Der Gegenstand wissenschaftlicher d 23
So Szabó 1954, S. 254. Das formulierte 23 Jahrhunderte später I MMANUEL K ANT (1784–1804) so: „Veränderung ist Verbindung kontradiktorisch einander entgegengesetzter Bestimmungen im Dasein ein und desselben Dinges.“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 291) Zuvor hatte er bestimmt: „Veränderung ist eine Art zu existieren, welche auf eine andere Art zu existieren eben desselben Gegenstandes erfolget. Daher ist alles, was sich verändert, »bleibend«, und nur sein Zustand »wechselt«. Da dieser Wechsel also nur die Bestimmungen trifft, die aufhören oder auch anheben können; so können wir, in einem etwas paradox scheinenden Ausdruck, sagen: nur das Beharrliche (die Substanz) wird verändert, das Wandelbare erleidet keine Veränderung, sondern einen »Wechsel«, da einige Bestimmungen aufhören, und andere anheben.“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 230/A 187)
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Was Á RPÁD S ZABÓs überraschendes Urteil infrage stellt, man könne „über dies Seiende nur lauter Negationen behaupten“ (Szabó 1954, S. 279).
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Erkenntnis hat also den Charakter der Notwendigkeit. Das heißt, er ist ewig. Denn alles, was mit uneingeschränkter Notwendigkeit existiert, ist ewig, und das Ewige ist ungeworden und unzerstörbar.“ (Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch VI, Kap. 3, 1139b)
EIN ONTOLOGISCHER NACHTRAG S. 7, 8
Beiläufig haben wir bereits D ESCARTES’ Wahrheitskriterium genannt: Wahr ist das, was ich klar und deutlich erfasse. Etwas „klar und deutlich erfassen“ ist ein Verhältnis des erkennenden Subjekts zu einem Gegenstand. „Wahrheit“ ist ein Verhältnis eines Satzes (einer Aussage) zu einem Gegenstand. Offenkundig ist das nicht dasselbe. Wie gelingt es D ESCARTES, beides zu identifizieren? Das erläutert er in der sechsten Meditation: „[. . . ] wenn ich sage, »die Natur lehrt mich etwas«. In diesem Ausdrucke nehme ich nämlich die »Natur« in einem engeren Sinne [. . . ] [Es handelt sich jetzt] nur um das, was Gott mir, als dem aus Körper und Geist Zusammengesetzten verliehen hat.“ (Descartes 1972, S. 70 f.) Nur weil der Gott gut ist und kein Betrüger, nur deswegen ist das „wahr“, was ich „klar und distinkt“ erfasse. Der gute Gott garantiert die Existenz des von mir klar und distinkt Erfassten. HISTORIOGRAFISCHE NACHTRÄGE DIE ERFINDUNG DER OPERATIONSZEICHEN + UND − Der entstehende Handelskapitalismus in den oberitalienischen Städten Kapitalismus Im Hochmittelalter führten die Christen auf Betreiben und mit dem Segen ihres Papstes einen heiligen Eroberungskrieg gegen die Heiden. In den Jahren 1096 bis 1270 fanden sieben sogenannte Kreuzzüge statt. Die wirtschaftliche Folge dieser Raubzüge war ein ungeheures Erstarken der Kaufleute in den oberitalienischen Handelszentren, vor allem Genua, Venedig, Pisa und Florenz. Dieses Erstarken speiste sich zunächst aus der sehr profitträchtigen Aufgabe, die heiligen christlichen Krieger zu transportieren und ihre Versorgung mit Material und Verpflegung zu bewerkstelligen. Die Eroberer brachten sodann – soweit sie erfolgreich waren – reiche Beute orientalischer Schätze zurück.25 In einer auf einfacher Warenproduktion gegründeten Wirtschaft wie der des europäischen Mittelalters ist der Handel mit den lebensnotwendigen Gütern genau geregelt. Diese Regeln verhindern gewöhnlich die Akkumulation von Kapital. Anders beim internationalen Handel: Dieser unterliegt nicht derartigen Beschränkungen, da es keine Instanz gibt, deren Durchsetzung zu garantieren. 25
Türcke 2015, S. 142–146 beschreibt eine zweite Quelle der Kapitalbildung jener Zeit: das „monetäre Schenkungswesen“, also die Stiftung sakraler Großbauten nach der (ab 1033 offenkundig) ausgebliebenen Wiederkehr Christi, die „wie Pilze aus dem Boden schossen“ und um die herum sich die Stadt formierte: „Stadt hieß so viel wie Handelsplatz, Markt.“
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Historiografische Nachträge Wohin mit dem erworbenen Kapital? Zunächst ging es den Kaufleuten darum, Ein- und Verkaufsmonopole für die neuen Luxuserzeugnisse aus dem Orient zu errichten, die die Neureichen begehrten. Allerdings sind die Expansionsmöglichkeiten des internationalen Handels begrenzt, sodass die Gewinne anderswo inverstiert werden mussten. Die Möglichkeiten dafür waren gering: Landerwerb und Bankgeschäfte. Diese Wandlungen der Wirtschaftsweise schufen einen beträchtlichen Bedarf an Rechenkundigen: ohne Rechnen kein Großhandel, keine Geldgeschäfte und keine Buchführung. Alte und neue Zahlschrift Doch die Schuleinrichtungen der Zeit boten keinerlei Ausbildung für kaufmännische Bedürfnisse, sondern lehrten weiterhin vorrangig Latein und Katechismus. Im Jahr 1202 fasste der Sohn eines Pisaner Notars das auf seiner Reise in die nordafrikanische Niederlassung Bugia (Bougie) erworbene kaufmännische Wissen in einem umfangreichen Manuskript namens Liber abaci zusammen. Ein Exemplar der zweiten Auflage dieser Handschrift aus dem Jahr 1228 ist bis heute erhalten. Es wurde 1857 gedruckte und 2003 englisch publiziertf . Der Autor des Liber abaci ist L EONARDO F IBONACCI. Dieses Werk bringt die indisch-arabische Zahlschrift ins Abendland. Es ist eine umfängliche Sammlung der Rechenkunst. Auch das Lösen von – wie wir sagen – quadratischen Problemen und linearen Gleichungssystemen wird darin gelehrt. Der Liber abaci erregt große Aufmerksamkeit, auch die des Kaisers F RIEDRICH II. Noch aber werden die Geschäftsbücher des Großhandels und der Banken in der römischen Zahlschrift geführt, und zwar werden die Beträge nicht in Spalten ausgeworfen, sondern in den laufenden Text einbezogen. Wenn im Jahr 1299 der Rat von Florenz eine Verordnung über das Bankwesen erlässt, in der er es bei einer Geldstrafe verbietet, Hauptbücher in indisch-arabischen Ziffern zu schreiben,g muss dafür ein Anlass bestanden haben. Ziel dieser Verordnung war Betrugsverhinderung beim Zahlschreiben. Noch im Jahr 1500 schreiben die Rechnungsbücher der freien Reichsstadt Augsburg die Beträge in römischen Zahlzeichen im Text und werfen sie daneben spaltenweise in Ziffern aus.h Die Rechenmeister Zunächst also in Oberitalien entstand ein Bedürfnis nach Rechenkundigen. Die Universitäten boten hier keine Hilfe – nicht nur, weil sie in Latein unterrichteten, sondern auch, weil die dort gelehrten Algorismus-Schriften zwar über die neue Zahlschrift und das Rechnen damit informierten, aber nicht in für den Praktiker e g
Leonardo 1857 f Leonardo 2003 Menninger 3 1979, Bd. 2, S. 244 h Menninger 3 1979, Bd. 2, S. 99
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1. Die Erfindung der formalen Algebra durch Descartes nützlicher Weise.i Daher entstanden, zunächst in Oberitalien, eigene Schulen zur Vermittlung kaufmännischen Rechnens an die Praktiker. Diese Schulen hießen nach dem damals gebräuchlichen Computer „Abacus-Schulen“ – obwohl sie nicht das Brett-Rechnen mit dem Abacus, sondern die neue indisch-arabische Zahlschrift und das Rechnen mit ihr lehrten. Aus Florenz kennen wir aus dem Jahr 1304 den frühesten Namen eines AbacusLehrers: M AESTRO N ERI. Die Abacus-Lehrer in Florenz schlossen sich bereits 1316 mit anderen Lehrern zu einer Gilde zusammen, und im Jahr 1343 gab es in Florenz sechs Abacus-Schulen mit 1000–1200 Schülern.j Selbstverständlich wurden für diesen Unterricht geeignete Lehrtexte benötigt. Deutsche Kaufleute sandten ihre Söhne zur Ausbildung zunächst in Schulen und Handelshäuser oberitalienischer Städte, um dort die „Kunst der Kaufmannschaft“ zu erlernen. Auf diese Weise kamen neben arithmetischen Fertigkeiten auch die Fachausdrücke von Handel und Bankwesen nach Deutschland: „Agio“ als Aufgeld, „Disagio“ als Abschlag, „Konto(-korrent)“ für die (laufende) Rechnung, „Diskonto“ (verkürzt: „Skonto“) für Rechnungsabzug, „Giro“ für den unbaren Geldkreislauf, „Saldo“ für den Rechnungsabschluss, „Spese“ für den Aufwand, „Valuta“ für den Wert (einer Fremdwährung), „brutto“ und „netto“ für verpackte und unverpackte Ware usw. bis hin zum „Lombard“-Geschäft (kurzfristige Beleihung von Wertpapieren) nach den Vorgehensweisen von oberitalienischen (lombardischen) Bankiers, die Leihgeschäfte etwa von vertriebenen Juden zu übernehmen, und „Bankrott“ für die zerbrochene Rechenbank, mit der man betrügerische Wechsler auf dem Markt zu strafen pflegte.k Seit Mitte des 15. Jahrhunderts findet man in größeren Handelsstädten Deutschlands den Stand der Rechenmeister. „Mit Genehmigung oder gar Förderung durch die städtischen Behörden richteten sie private Rechenschulen ein und erteilten Unterricht [nicht in lateinischer, sondern] in deutscher Sprache. Das Rechnen am Abakus und das Rechnen mit der Feder nach der indisch-arabischen Methode wurden im Unterricht mindestens in der Anfangszeit gleichrangig behandelt.“l Auch die deutschen Rechenschulen benötigten Lehrtexte. Zum Glück hatte gerade G UTENBERG den Buchdruck mit beweglichen Metalllettern erfunden, sodass ein neues Handwerk sich ein neues Geschäftsfeld erschließen konnte. Die ersten und die einflussreichsten deutschen Rechenbücher In Bamberg 1483 und in Augsburg 1489 wurden die frühesten deutschen Rechenbücher gedruckt. Ulrich Wagner 1483
Das so genannte Bamberger Rechenbuch wurde 1483 bei dem Bamberger Drui
Folkerts und Reich 1989, S. 190, Sp. 2 j Folkerts und Reich 1989, S. 190, Sp. 2 Vgl. Menninger 3 1979, Bd. 2, S. 245 f., Schröder 1988, S. 298. l Schröder 1988, S. 300 f.
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Historiografische Nachträge cker H INRIK P ETZENSTEINER gedruckt.m Sein Verfasser ist höchstwahrscheinlich U LRICH WAGNER († 1489/90), auch H. PAUR genannt, der eine der drei 1457 in Nürnberg urkundlich belegten Rechenschulen leitete. WAGNER lehrte das Schreiben der Zahlen in der (wie wir heute sagen) indisch-arabischen Zahlschrift sowie das schriftliche Rechnen mit natürlichen und gebrochenen Zahlen, auch den Dreisatz, den er „goldene Regel“ nennt. Er präsentiert das Nötigste korrekt und knapp, manchmal zu knapp und beschränkt sich auf die Darlegung der elementarsten Sachverhalte für den Praktiker. Einen weitergehenden Bildungsanspruch hat WAGNER nicht, wissenschaftliches Niveau oder derartige Ansprüche sind nicht zu erkennen. (Im viel älteren Liber abaci des L EONARDO F IBONACCI war das ganz anders!) Die großen gelehrten Vorläufer finden bei WAGNER keine Erwähnung. Seine Verfahrensweisen teilt er mit, ohne sie zu begründen – manche auch so knapp, dass sie dem Leser allein aus der Lektüre heraus nicht verständlich sind. Und das, obwohl sich WAGNER nicht an seinesgleichen wendet, sondern an den „Mercker“: den Schüler, der auf etwas merken, der Acht geben soll – nicht: der etwas verstehen soll. Entgegen seinem Anspruch ist WAGNERs Rechenbüchlein nicht oder nur eingeschränkt zum Selbststudium ausreichend. (Die Proben etwa werden dem „Mercker“ unbegreiflich bleiben.) Ein Vergleich von WAGNERs Rechenbuch mit dem Liber abacus von L EONARDO F IBONACCI oder dem Triparty aus dem Jahr 1484n von WAGNERs Zeitgenossen N I COLAS C HUQUET (1445/55–1487/8) verbietet sich sofort: Während diese das Wissen ihrer Zeit entfalten (und um Neues ergänzen), präsentiert WAGNER lediglich elementare Rechentechniken für den Kaufmann. Zeichen für Rechenoperationen kommen in diesem Buch nicht vor. (Es ist heute als Faksimile-Druck Wagner 1483 leicht zugänglich.) Johannes Widman 1489
In dem erstmals 1489 in Ausgsburg gedruckten Rechenbuch mit dem Titel Behende und hübsche Rechnung auff allen Kauffmanschafften von J OHANNES W IDMAN (1460/5–um 1505) aus Eger wird ebenfalls das schriftliche Rechnen der Grundrechenarten gelehrt. Auch dies geht ohne die Nutzung von Operationszeichen vonstatten. Bei Maßen allerdings werden gelegentlich die Zeichen + (im Wechsel mit dem Wort „und“) und − (im Wechsel mit dem Wort „minus“) verwendet. Gelegentlich erscheint auch +, wenn keine Addition vorliegt: „Regula augmenti + Decrementi“o . Dies wird man so verstehen können, dass + und − als Zeichen für Überoder Untermaß aus der kaufmännischen Praxis hervorgegangen sind.p Gelegentlich werden + und − als Zeichen für Rechenoperationen verwendet. W IDMAN hat sich beim Verfassen seines Rechenbuches einer Reihe von Manuskripten bedient, die noch heute in dem Sammelband Codex 80 der Dresdner Bibliothek vorhanden sind.q Unter diesen befindet sich eine deutsche Algebra, gem p
Schröder 1988, S. 293 f. n Chuquet 1880/1881 o Widman, S. 90 f., Gärtner 2000, S. 429 Tropfke 3 1933, S. 15 q Tropfke 3 1933, S. 16, Gärtner 2000, S. 171
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1. Die Erfindung der formalen Algebra durch Descartes
Widman 1486 Das nebenstehende Bild zeigt eine Seite aus dem Manuskript einer CossVorlesung von W IDMAN aus dem Sommersemester 1486 (f. 464v des Kodex 1470 der Universitätsbibliothek Leipzig. Aus: Kaunzner 2008, S. 32). Zum cossischen Rechnen siehe ab S. 43.
schrieben im Jahre 1481, in der bereits das Minuszeichen (gelesen „minner“) auftritt, statt des Pluszeichens aber das Wort „vnd“ gebraucht wird. In einer ebenfalls im Dresdner Codex 80 vorhandenen lateinischen Algebra tritt neben dem −-
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Historiografische Nachträge Zeichen auch das +-Zeichen auf. Adam Ries 1518, 1522
Der heute bekannteste deutsche Rechenmeister ist A DAM R IES (1492–1559). Er verfasste ab 1518 sehr erfolgreiche Rechenbücher. Dieser Erfolg dürfte daher rühren, dass er darin nicht nur das schriftliche Rechnen („Rechnen auf der Feder“) lehrte, sondern auch das Abakus-Rechnen („Rechnen auf den Linien“). Da das Brett-Rechnen ohne das Erlernen der in Deutschland damals neuen indisch-arabischen Zahlschrift funktioniert, war es um Vieles leichter. Sein zweites Rechenbuch Rechenung auff der Linihen und federn . . . erschien erstmals 1522 und erfuhr mehr als hundert Auflagen. Es begründete den heute sprichwörtlichen Ruhm: „Das macht nach A DAM R IESE . . . “. In diesem Buch kommen keine Zeichen für Rechenoperationen vor. Auch dies könnte zum Erfolg des Werkes beigetragen haben, zusammen natürlich mit dessen geschickter pädagogischer Diktion. Christoph Rudolff 1525
Viel gelesen wurde auch das 1525 erschienene Buch Behennd vnnd Hübsch Rech¯ wernung durch die kunstreichen regeln Algebre / so gemeincklich die Coß genent r,26 den . . . von C HRISTOPH RUDOLFF (1499?–1545?) aus Wien. Hier werden +- und −-Zeichen ausgiebig verwendet. M ICHAEL S TIFEL (1487?–1567) hat dies in seiner ebenfalls berühmt gewordenen Bearbeitung von RUDOLFFs Coß von 1553 beibehalten.s Ergebnis
Die Operationszeichen (Symbole) + und − kommen in den deutsch geschriebenen Büchern der Rechenmeister in Gebrauch; „Symbole“ deshalb, weil es sich dabei um – grundsätzlich beliebig gewählte – Zeichen handelt. In den italienisch und französisch geschriebenen Lehrtexten der Zeit waren statt˜ üblich. dessen Abkürzungen der Art „p“ und „m“ oder „m“ DAS COSSISCHE RECHNEN Was hat es mit der schon wiederholt erwähnten „Coss“ auf sich? S. 24, 42 In den deutschsprachigen Rechenbüchern wurde der italienische Name für die Unbekannte („cosa“) als „Coss“ (Original: „Coß“) bezeichnet. W IDMAN schrieb im Jahr 1489 „cossa“, R IES schrieb im Jahr 1524 „Coß“, ebenso C HRISTOPH RUDOLFF in seinem bereits genannten Werk aus dem Jahr 1525. r 26
Rudolff 1525
s
Stifel 1553
Ein Zitat daraus findet sich auf S. 100 in Anmerkung 75.
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1. Die Erfindung der formalen Algebra durch Descartes Das R IES’sche Manuskript über die Coß wurde nicht in Druck gegeben, scheint aber „bei Freunden in Umlauf gewesen zu sein.“t In diesem Manuskript werden die cossischen Zeichen erläutert:
A DAM R IES , Coß. Aus Wieleitner 1927, S. 30 In W IELEITNERs Übertragung: „1 ∼ Dragma ader Numerus. – Das ist die zal an ir selbest gesetzt gantz bloß. 2 ∼ Radix ader Coss. – Die wurtzel ader das dingk gnant, welchs geschwengert itzliche zal zu tragen. 4 ∼ Zensus ader quadratus. – Die macht auff alle seiten gleich auß der wurtzel in sich entsprungen. 8 ∼ Cubus. – Ist ein corpus, das auff alle seiten in die tieff leng vnd breit gleich ist. 16 ∼ Zensus de Zensu. – Ist ein flech entspringend auß dem quadrat in sich selbest. 32 ∼ sursolidum. – Ist ein taube zal die kein gemeinschafft weder mit dem quadraten noch cubo hat. 64 ∼ Zensuicubus. – Ist eine zal die in sich helt die wurtzel eines quadraten alß dan solche des cubi. 128 ∼ bissursolidum. – Hat kein außzihung des quadraten noch cubi / sonder die im selbst gesetzt ist. 256 ∼ Zensus Zensui de Zensu. – Entspringt so das product ayns quadraten in sich gefurt wird. 512 ∼ Cubus de cubo. – Entspringt auß multiplicieren des [Cubus] in sich selbst cubirt.“ t
Hofmann 1968, S. 29, Anmerkung 89
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Historiografische Nachträge (Wieleitner 1927, S. 29–31) Die Zahlen in der ersten Spalte erscheinen etwas abenteuerlich. Die cossischen Zeichen stehen also für: die einfache Zahl, die Unbekannte und für die Potenzen der Unbekannten. Bei diesen Zeichen handelt es sich um bestimmte Zeichen: um die Anfangsbuchstaben der betreffenden Worte. Es sind Abkürzungen. Ich nenne das „Namen“, im Unterschied zu (aus einem gegebenen Zeichenvorrat frei wählbaren) „Symbolen“. Eine solche pedantische Unterscheidung zwischen „Name“ und „Symbol“ ist nicht üblich. Mir scheint sie wichtig. Denn nur dann, wenn wir hier genau sind, können wir erkennen, welch enormer Abstraktionsschritt D ESCARTES’ Idee war, (Buchstaben-)„Symbole“ statt (cossischer) „Namen“ zu schreiben. Als diese Idee einmal in der Welt war, wurde sie nicht mehr aufgegeben. RECORDE ODER: DIE ERFINDUNG DES GLEICHHEITSZEICHENS D ESCARTES hat nicht das von uns heute verwendete Gleichheitszeichen („=“) geschrieben, sondern „ o “u oder „ “. Nach dem, was man heute weiß, wurde das S. 23, 25 Zeichen = für Gleichheit zweier Größen erstmals von R OBERT R ECORDE (1510–58) im Druck verwendet, und zwar in dessen Coss.27 R ECORDEs Begründung für dieses Zeichen lautete, keine zwei Dinge könnten gleicher sein als zwei parallele Linien gleicher Länge: ∝
e
„I will sette as I doe often in woorke vse, a paire of parallels, or Gemowe lines of one lengthe, thus: ========, bicause noe .2. thynges, can be moare equalle.“ (Recorde 1557, f. Ffjv ) R ECORDE verwendet sein Zeichen dann konsequent, zusammen mit den Zeichen −+− und −−−. Hat Recorde formale Gleichungen geschrieben?
Kann man nun sagen, R ECORDE habe rein formale Gleichungen geschrieben? Ich meine nicht. In der Tat verwendet R ECORDE sehr konsequent Symbole für Rechenoperationen. Aber seine Rechenobjekte sind cossische Zeichen, und dies sind, wenn man es so genau nimmt, wie ich das hier tun will, keine „Symbole“, sondern Abkürzungen und also: „Namen“. Es gibt noch ein weiteres Argument dafür, dass R ECORDE keine rein formalen Gleichungen schreibt: Er nimmt seine Gleichungen nicht als Gegenstand weiterer Betrachtungen. Er operiert nicht mit ihnen. Während D ESCARTES – wie wir gleich sehen werden – Gleichungen als Rechenobjekte nimmt, die man miteinander adu 27
Descartes, passim. In einem Manuskript von P OMPEO B OLOGNETTI (†1568), das möglicherweise älter ist als 1557, findet sich ebenfalls das heute übliche Zeichen für Gleichheit – siehe Cajori 1924, Bd. I, S. 126, 129.
Recorde
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dieren, subtrahieren, multiplizieren usw. kann, sehe ich bei R ECORDE nirgendwo eine solche Praxis. Gleichwohl hat R ECORDE sein Symbol für Gleichheit in England berühmt gemacht, sodass es schließlich L EIBNIZ gelingen konnte, R ECORDEs Symbol als Gleichheitszeichen durchzusetzen.v VIÈTE ODER: RECHNEN MIT GEOMETRISCHEN FIGUREN – NICHT FORMAL Meist heißt es, F RANÇOIS V IÈTE (1540–1603) habe das formale Rechnen erfunden. Das wäre dann früher als D ESCARTES. Ich teile diese Meinung nicht und begründe das jetzt. Viète nutzt Operationszeichen und rechnet mit Buchstaben Operationszeichen
Unzweifelhaft bedient sich V IÈTE einiger Operationszeichen fürs Rechnen: Er hat ein Plus- und ein (eigenes!) Minuszeichen, und er nutzt auch den Bruchstrich, um eine Division anzuzeigen. Ein Zeichen für die Multiplikation hingegen hat er nicht, sondern schreibt dafür das Wort „in“. Auch ein Zeichen für Gleichheit fehlt ihm. An dieser Stelle könnte ich meine Argumentation beenden. Denn wer in einer Rechung ein oder mehrere Worte benutzt, der rechnet nicht rein formal. So einfach aber will ich es mir gar nicht machen. Denn V IÈTE fehlt mehr als nur ein Multiplikations- und ein Gleichheitszeichen zum rein formalen Rechnen. V IÈTE fehlt ein Abstraktionsschritt. Buchstaben
Zutreffend ist: V IÈTE benutzt Buchstaben zur Bezeichung seiner Rechenobjekte. In Kapitel IV seiner Isagoge aus dem Jahr 1591 heißt es: „Damit diese Arbeit durch ein schematisch anzuwendendes Verfahren unterstützt wird, mögen die gegebenen [Großheiten] von den gesuchten unbekannten unterschieden werden durch eine feste und immer gleich bleibende und einprägsame Bezeichnungsweise, wie etwa dadurch, daß man die gesuchten [Großheiten] mit dem Buchstaben A oder einem anderen Vokal E, I, O, U, Y, die gegebenen mit den Buchstaben B, G, D, oder anderen Konsonanten bezeichnet.“ (Viète 1973, S. 52) V IÈTE will also die Gesuchten durch Vokale und die Bekannten durch Konsonanten bezeichnen. (Nebenbei gesagt ist dies keine formale Unterscheidung der v
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Historiografische Nachträge Buchstabenarten – wie etwa: erste oder letzte Buchstaben des Alphabets –, sondern sie bezieht sich auf die jeweilige Art der Buchstaben.) Sind Viètes Buchstaben Symbole?
Eine Verwendung von Buchstaben in einer Rechnung, so habe ich bisher argumentiert, ist ein Rechnen mit „Symbolen“. Bei V IÈTE jedoch ist das nicht so! Denn wenn man es genau prüft, sieht man: V IÈTE rechnet nicht mit Buchstaben allein, nicht mit bloßen Buchstaben. Sehen wir uns ein erstes Beispiel an. Ignorieren wir den umstehenden Text (das soll man eigentlich nie tun!) und halten wir in der Isagoge Ausschau nach dem, was wie eine Formel aussieht. Der erste Kandidat für eine Formel in der Isagoge (der nicht bloße Definition ist), findet sich bei der Erklärung der Division: d
e
. Mit diesem Symbol (symbolo) bezeichnet „[. . . ] zum Beispiel B Fläche A man die Breite, die die Fläche B dividiert durch die Länge A ergibt.“ (Viète 1973, S. 48 f. mit Viète 1970, S. 7) Wir ignorieren jetzt die Tatsache, dass V IÈTE hier selbst das Wort „Symbol“ be. Darin nutzt, und schauen uns die Sache an. Die Sache ist der Ausdruck B Fläche A sind offenkundig nicht nur Buchstaben und der Bruchstrich als Operationszeichen enthalten, sondern da steht auch das Wort „Fläche“ („planum“). Ein Wort in einem Ausdruck nimmt dem Ausdruck aber ganz sicher den Ehrentitel Symbol! V IÈTE rechnet hier nicht mit dem bloßen Buchstaben B, sondern notiert zu diesem Buchstaben B dessen Bedeutung. V IÈTE schreibt ausdrücklich dazu: Es handelt sich bei diesem B um eine Fläche. Und so ist es bei V IÈTE nicht nur beim ersten Mal, sondern immer. In der letzten Formel der Isagoge mit Bruchstrich heißt es: Es sei B mal A zum Quadrat plus die Fläche D mal A gleich dem Körper Z gegeben. Ich behaupte, dass man dann vermöge eines Parabolismus d
e
dKörpere Z
D mal A gleich erhält. (nach Viète 1973, A Quadrat plus Fläche B B S. 55 mit Viète 1970, S. 9 – R EICH und G ERICKE symbolisieren den übersetzten Text stärker, als es die Quelle tut)
Wer wird hier ernsthaft zwei formale Gleichungen erkennen wollen? Viète rechnet mit Figuren Wie sich aus den eben gelesenen Passagen ergibt, rechnet V IÈTE in der Isagoge mit geometrischen Figuren. In dieser Hinsicht könnte er Vorbild für D ESCARTES gewesen sein. Dabei hat V IÈTE noch keineswegs D ESCARTES’ Abstraktionsschritt ab 1637 zum reinen Linienrechnen vollzogen. Dies zeigt sich darin, dass V IÈTE größten Wert auf die Geltung des Homogenitätsgesetzes legt:
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„Über das Gesetz der homogenen [Großheiten], über die Grade Potenzen und die Dimensionen komparativer [Großheiten]. Das erste und allgemein gültige Gesetz der Gleichungen und Proportionen, das, weil es für homogene [Großheiten] aufgestellt ist, das Gesetz der homogenen [Großheiten] genannt wird, ist Folgendes: Homogene [Großheiten] sind mit homogenen [Großheiten] zu vergleichen. Denn, wenn es sich um heterogene [Großheiten] handelt, kann man nicht feststellen, in welcher Weise sie zusammengesetzt sind, wie Adrastus sagt. Deshalb: Wenn eine [Großheit] zu einer [Großheit] addiert wird, ist diese zu jener homogen. Wenn eine [Großheit] von einer [Großheit] subtrahiert wird, ist diese zu jener homogen. Wenn eine [Großheit] mit einer [Großheit] multipliziert wird, ist das Ergebnis zu dieser und zu jener heterogen. Wenn eine [Großheit] durch eine [Großheit] dividiert wird, ist diese zu jener heterogen. Dies nicht beachtet zu haben, war der Grund für viele mangelnde Einsicht und Blindheit der alten Analytiker.“ (Viète 1973, S. 40) Wir sehen: V IÈTE steht mit seinem nicht formalen Bezeichnen und nicht formalen Rechnen mit geometrischen Figuren auf jenem Stand, den D ESCARTES nach 1628 verlassen hat. E I N E W E LT G E S C H I C H T L I C H E A N A L O G I E Z U D E S C A RT E S ’ LEISTUNG S. 22
Wir haben gesehen: Der erste Schritt von D ESCARTES’ Leistung bestand darin, Streckenlängen durch (Buchstaben-)Symbole zu ersetzen. Aus diesen Symbolen konnten dann mittels der Operationssymbole neue Symbole konstruiert (errechnet) werden. Und durch seinen Trick, vorgängig die „Einheit“ festzusetzen, wurde es nun möglich, geometrische Gegenstände unter Missachtung des „Homogenitätsgesetzes“ 28 beispielsweise zu addieren. Ein solcher Schritt – die Möglichkeit der Addition von heterogenen (nicht artverwandten) Gebilden – markierte schon einmal eine intellektuelle Großtat des menschlichen Geistes: die Erfindung eines universellen Maßsystems. Die Grundformen der frühen Maßzeichen der sogenannten „archaischen Texte“ aus dem Zweistromland, also aus der Zeit ab etwa −2900, sind der Abdruck des gerade und des schräg in den Ton gedrückten runden Schreibgriffels:
28
Siehe den vorigen Abschnitt.
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Historiografische Nachträge
Durch Abwandlungen dieser beiden Grundzeichen wurde eine Fülle weiterer Maßzeichen gebildet, beispielsweise durch Vergrößerung:
Eine systematische Analyse der Fundtexte in den 1980er Jahren förderte 62 verschiedene Varianten solcher Maßzeichen zutage.w Daraus ließen sich 13 verschiedene Maßzeichensysteme rekonstruierenx – wobei 10 der gefundenen Maßzeichen zunächst keinem dieser Systeme zugeordnet werden konnten. Das aus unserer Sicht Aufregende dabei ist: Je nach Maßsystem haben diese Zeichen unterschiedliche Wertbedeutungen. Beispielsweise bedeutet 1 manchmal 10 , ein andermal jedoch 18 oder aber 6 . Und 1 kann 60 bedeuten oder 180 . Dagegen kann 1
3600
bedeuten, aber auch 1080
oder 60
. Sogar die Größerbeziehung
1 bedeuten, wie auch 3 1 ausmakann sich umkehren: Es können 60 chen können. Mit anderen Worten: Es gab keine feste Anzahl-Relation zwischen den einzelnen Maßzeichen, kein universelles Maßsystem. Die Schreiber dieser „archaischen Texte“ nutzten keinen das einzelne Maßzeichensystem überschreitenden und also: ABSTRAK TEN Begriff von Zahl. Mindestens ein Jahrtausend langy wurden die babylonischen Wirtschaftsverwaltungstexte in diesen Maßzeichensystemen verfasst – schon aus dem Grund, weil es keine Alternative dazu gab. Ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Erfindung der abstrakten Zahl wird dokumentarisch sichtbar in dem Jahrhundert ab −2100.z Texte dieser Zeit enthalten die abstrakte Sexagesimalschrift: „In einem lang andauernden Prozess, der erst gegen Ende des Jahrtausends in der Ur-III-Periode seinen Abschluss fand, wurden die mit dem runden Griffel in den Ton gepressten Maßzeichen allmählich durch Keilschriftzeichen ersetzt, die ihre Form nachahmten, aber mit dem gleichen Griffel geschrieben wurden wie die normalen Schriftzeichen:
.“ (Damerow und Englund 1990b, S. 181) Übrig blieben allein zwei Zeichen „Winkelhaken“: ( ) und „Keil“ ( ). 10 bedeuten 1 , und 6 machen 1 . Damit war ein UNIVERSELLES M ASSSYSTEM erfunden worden, also eines, in das jedes konkrete Maßsystem übersetzbar war. Und sofort fanden diese universellen Zeichen Verwendung. Die Tontafel mit der Bezeichung BM 13901, zuerst 1936 publiziert, gilt als einer der frühesten erhaltenen altbabylonischen mathematischen Texte. Die erste Aufgabe dort lautet in der aktuellen Übersetzung von J ENS H ØYRUP: w y
Siehe Damerow und Englund 1990a, S. 62. x Siehe Damerow und Englund 1990a, S. 64 f. Dazu Nissen et al. 1990, S. 170, Nissen et al. 1990, S. 163. z Vgl. Damerow und Englund 1990b.
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1. Die Erfindung der formalen Algebra durch Descartes
Die Fläche und meine Gegenüberstellung habe ich zusammengefügt: heraus kommt 43 .
„The surface and my confrontation I have heaped: 450 is it.“ (Høyrup 2013, S. 39)
Hier ist nicht der Ort, den Feinheiten der sumerisch-akkadischen Schriftzeichen und deren angemessener Übersetzung nachzugehen.29 Für unsere Zwecke genügt es zu verstehen: Hier werden eine Quadratfläche und deren Seite „zusammengefügt“, und die Summe soll 43 betragen. In D ESCARTES’ Symbolismus ist das: z2 + z =
3 . 4
(1.1)
Es war also den babylonischen Schreibern des ausgehenden −3. Jahrtausends von Anfang an klar: Das neue Maßsystem ist geeignet, Werte heterogener Größen unterschiedslos (unter Missachtung dessen, was später „Homogenitätsgesetz“ genannt wurde) zu addieren, etwa eine Länge zu einer Fläche. Im alten System der verschiedenen Maßsysteme war das unmöglich: Die Fläche wäre im „GAN2 -System“ zu notieren gewesen, die Länge in der Sexagesimalschrift „S“ oder „S0 “; beide Zeichenarten zusammen („Addition“) bildeten kein Maßsystem. Die babylonischen Schreiber waren es (durch eine fast tausendjährige Tradition) gewohnt, die Zeichen einer Maßangabe hinsichtlich ihres konkreten Wertes aus dem Zusammenhang zu deuten. Wohl so erklärt es sich, dass ihre Sexagesimalschrift ohne ein Zeichen für Null auskam – und demzufolge auch kein Äquivalent für unser Dezimalkomma kannte. Ob die Zeichenfolge den Wert (10+2)×600 = 12 bedeutete oder aber (10+2)×601 = 720 1 usw. – oder aber ob sie (10+2)×60−1 = 12 60 = 5 bedeuten sollte, das ergab sich zwanglos aus dem jeweiligen Zusammenhang, in dem diese Zeichen standen. Und wollte man die Maßgröße 661 = 11 × 601 + 1 × 600 (oder etwa 39 660 = 11 × 602 + 1 × 601 ) notieren, so schrieb man , d. h. man ließ einen etwas größeren Abstand zwischen den Zeichen. Diese Verfahrensweise gibt den Zeichen wie den Zeichenfolgen keine eindeutig bestimmten Werte. (Und somit wird man hier auch noch nicht von einem abstrakten Zahlbegriff sprechen können!) Infolgedessen kann es zu Fehldeutungen und zu Rechenfehlern kommen.30 Daher ist es nicht verwunderlich, dass die neue Sexagesimalschrift in den Texten Vgl. auch Høyrup 2001, S. 165. 29
Der Herausgeber dieses Textes F RANÇOIS T HUREAU -D ANGIN (1872–1944) übersetzte die Aufgabenstellung wie folgt: „Ein Feld und seine Quadratseite addiert er- „J’ai additionné la surface et (le coté de) mon gibt 0; 45.“ (Becker 1954, S. 11) carré: 450 .“ (Thureau-Dangin 1936, S. 31)
B ECKER notiert die betreffende Zahl wie in diesen Zusammenhängen lange üblich sexagesimal. Dabei steht das Semikolon für das dezimale Komma, und die sexagesimalen „Ziffern“ werden zweistellig dezimal notiert. Es ist also „0; 45“ zu lesen als: „45 der ersten NachkommaEinheit“. Die erste Nachkomma-Einheit in der Sexagesimalschrift sind Sechzigstel. Folglich ist 3 ◦ 0 „0; 45“ zu lesen als „ 45 60 “ = 4 . – H ØYRUP kehrt jetzt zur Grad-Notation zurück: [0 ]45 . 30 Ein hübsches Beispiel für einen Rechenfehler ist in Damerow und Englund 1990b, S. 194 f. dokumentiert.
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Die Anfänge von Descartes’ Gleichungslehre
der Wirtschaftsverwaltung keine Verwendung fand, sondern dort weiterhin mit den alten Maßsystemen gearbeitet wurde – übrigens ein Beleg für den fehlenden Zahl-Charakter des Sexagesimalsystems. Eine Null in der Sexagesimalschrift wurde erst ein weiteres Jahrtausend später erfunden. Wichtig für unseren Gegenstand hier ist noch das Folgende: Dass es vor der Erfindung der Sexagesimalschrift im Zweistromland kein universelles Maßsystem – und demzufolge: keinen abstrakten Zahlbegriff – gab, wurde erst in den 1980er Jahren durch die Forschungen einer Arbeitsgruppe um P ETER D AMEROW (1939–2011), J ENS H ØYRUP und R OBERT K. E NGLUND klar. Zuvor war man ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Hochkulturen des frühen Zweistromlandes mit ihren sehr umfänglichen Texten zur Wirtschaftsverwaltung über den abstrakten Zahlbegriff verfügten. Von dieser falschen Vorstellung ausgehend glaubten sich die frühen Deuter der Keilschrifttexte berechtigt, die dort zu findenden Rechenaufgaben (wie jene der Tafel BM 13901, von der wir kurz die erste Aufgabe vorgestellt haben) als „Algebra“ deuten zu dürfen31 – einfach weil sie selbst (d. h.: wir heute) es gewohnt sind, Aufgaben dieser Art in der Weise 1.1 zu notieren.32 Seitdem ist die Bezeichnung „babylonische Algebra“ für die Verfahrensweise der babylonischen Schreiber in der Welt. Hier ist nicht zu diskutieren, ob und wenn ja, inwieweit dieser Name passend gewählt ist. Klar ist jedoch: Mit etwas Vergleichbarem wie dem von D ESCARTES vollzogenen Abstraktionsschritt vom Rechnen mit Zahlen zum Rechnen mit Symbolen waren die babylonischen Schreiber des −3. Jahrtausends sicher nicht befasst. Ihre Leistung war die Abstraktion des universellen Maßsystems aus der Vielfalt der in der Wirtschaftsverwaltung genutzten Maßsysteme – ganz unstreitig eine gewaltige intellektuelle Leistung, und sicher eine, die derjenigen von D ESCARTES vergleichbar ist; jedoch eine gänzlich andere. Urteile der Art „Unser algebraisches Schulpensum ist also im Wesentlichen rund 4000 Jahre alt. Der »Fortschritt« besteht nur darin, dass das, was früher die Meister konnten, heute schon die Schüler können.“ (Lorenzen 1960, S. 35) müssen im Lichte der neueren historiografischen Ergebnisse verworfen werden. Die Mathematik unterliegt einem weit stärkeren Wandel, als es Mathematiker und Philosophen zu erwarten pflegen. Sie sind Opfer ihrer ‚resultatistischen‘ Denkweise. Vgl. Damerow und Englund 1990b, S. 194. 31
Vgl. Damerow und Englund 1990b, S. 195.
T HUREAU -D ANGIN interpretierte im Jahr 1936 den Text wie folgt: Das, was der Schreiber »die Fläche des Quadrats« nennt, ist das, was wir durch x 2 bezeichnen, und das, was er »Seite des Quadrats« nennt, ist das, was wir durch x bezeichnen. Sein Begriff der Gleichung ist kaum weniger abstrakt als der unsrige, obgleich sie in geometrischen Worten ausgedrückt ist. (Thureau-Dangin 1936, S. 28)
Doch es geht dem Schreiber gar nicht um Algebra, sondern um das damals neue Objekt universelles Maßzeichen! Wie die genauere Übersetzung von H ØYRUP zeigt (siehe im Text oben), ist im Original auch gar keine Rede von „Quadrat“. – Ein Lob der angeblichen „babylonischen Algebra“ singt auch Becker 1954, S. 11 f. 32 Siehe etwa Neugebauer 1934. (Eine solche historiografische Vorgehensweise nenne ich ‚Resultatismus‘, siehe Spalt 1988.) Eine den historischen Gegebenheiten Rechnung tragende Deutung solcher Texte zeigen etwa Høyrup 2001 oder Damerow 2001.
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1. Die Erfindung der formalen Algebra durch Descartes DIE ANFÄNGE VON DESCARTES’ GLEICHUNGSLEHRE D ESCARTES verfolgt mit La Géométrie das Ziel, die Geometrie über ihren damals aktuellen Stand hinaus weiterzuentwickeln. Wie er das anpackt und was er erreicht, das muss hier außen vor bleiben. Anfänge einer formalen Gleichungslehre Im dritten Kapitel von La Géométrie präsentiert D ESCARTES seine erzielten Fortschritte (seine Spitzenergebnisse), beispielsweise seine geometrische Konstruktion der Lösungen von Gleichungen – wie wir heute sagen: – dritten und vierten Grades. Zuvor jedoch entwirft er erste Anfänge einer Theorie der formalen Gleichungen. Dies will ich hier abschließend für D ESCARTES kurz darstellen. Die Konstruktion von Gleichungen
Ich lese wieder in La Géométrie und kommentiere kurz das Wichtigste. „Von der Natur der Gleichungen [. . . ] muß ich zunächst einige allgemeine Dinge über die Natur der Gleichungen behandeln, d. h. über die Natur von Summen verschiedener, teils bekannter, teils unbekannter Posten (termes), von denen die einen den andern gleich oder die alle zusammengenommen gleich [Nichts] gesetzt sind; es ist häufig am zweckmäßigsten, die Gleichungen in dieser letzteren Form zu betrachten.“ (Descartes 1981, S. 71) D ESCARTES steuert also unmittelbar auf eine Normalform der Gleichung zu: rechte Seite gleich Null. „Wie groß die Anzahl der Wurzeln einer Gleichung sein kann Wisset also, dass es in jeder Gleichung so viel verschiedene Wurzeln geben kann, d. h. Werte (valeurs) dieser Größe, als sie Dimensionen hat. Denn wenn man z. B. annimmt x gleich 2 oder x − 2 gleich Nichts, und weiter x o 3 oder x − 3 o 0, so erhält man durch Multiplikation der beiden Gleichungen e
e
x − 2 o 0 und x − 3 o 0 e
e
miteinander xx − 5x + 6 o 0 oder xx o 5x − 6 . e
e
Das ist eine Gleichung, in der die Größe x den Wert 2 und gleichzeitig den Wert 3 hat.“ (Wieleitner 1927, S. 6133 )
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Descartes
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Die Anfänge von Descartes’ Gleichungslehre Dazu zwei Beobachtungen: • Der Name „Wurzel“ für eine Lösung eines arithmetischen Problems ist alt. D ESCARTES übernimmt ihn. • D ESCARTES multipliziert hier ausdrücklich zwei formale Gleichungen miteinander! Das gab es in der Weltgeschichte zuvor noch nie. Der Text hat folgende Fortsetzung: „Wenn man ferner x −4 o 0 e
macht, und man multipliziert diese Summe [. . . ] mit xx − 5x + 6 o 0 , e
so erhält man x 3 − 9x 2 + 26x − 24 o 0 . e
Das ist eine andere Gleichung, in der x drei Dimensionen und daher auch drei Werte, nämlich 2, 3 und 4 hat.“ (Wieleitner 1927, S. 61 f.) Indem D ESCARTES systematisch Gleichungen mit jeweils einer Lösung als neuem Faktor hinzunimmt und erläutert, dass die neue Gleichung die alten Lösungen plus die Lösung der neu hinzu multiplizierten Gleichung hat, lenkt er die Lesenden auf die selbstverständliche Einsicht von der Gültigkeit des – wie wir heute sagen – Fundamentalsatzes der Algebra: dass eine formale Gleichung ebenso viele Lösungen hat, wie es der höchste Exponent der Unbekannten besagt. „Welches die die falschen Wurzeln sind Aber oft kommt es vor, dass einige dieser Wurzeln falsch sind oder kleiner als Nichts. So wenn man annimmt, dass x auch der Abmangel (le defaut) einer Größe bedeuten kann, die 5 sei, hat man x +5 o 0, e
und wenn man das mit x 3 − 9xx + 26x − 24 o 0 e
multipliziert, hat man x 4 − 4x 3 − 19xx + 106x − 120 o 0 , e
also eine Gleichung, in der es vier Wurzeln gibt, nämlich drei wahre, die 2, 3 und 4 sind, und eine falsche, die 5 ist.“ (Wieleitner 1927, S. 62) 33
W IELEITNER übersetzt genauer als S CHLESINGER in Descartes 1981, S. 72; W OHLERS modernisiert in Descartes 2013, S. 375 noch stärker.
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1. Die Erfindung der formalen Algebra durch Descartes Hier wird es nun spannend, denn was sind D ESCARTES’ Rechenobjekte? In La Géométrie sind es Streckenlängen, also bestimmte Längen gerader Linien. Was ist eine „falsche“ Streckenlänge? Das sagt D ESCARTES hier nicht. Er sagt nur von der „falschen“ Zahl 5, sie sei ein „Mangel“, sei „kleiner als Nichts“. Aber was das für eine Streckenlänge bedeuten könnte, dazu sagt D ESCARTES hier nichts. In den Meditationes wird das Wort „falsa“ als Gegensatz zu „certo“ (gewiss) gebraucht. Folglich versteht D ESCARTES das Wort „falsa“ (zumindest: auch) als „ungewiss“. An der Stelle, an der W IELEITNER in Jahr 1927 etwas altertümelnd vom „Abmangel“34 spricht, überträgt L UDWIG S CHLESINGER im Jahr 1893 den betreffenden Halbsatz so: „[. . . ] wenn man annimmt, dass x das Entgegengesetzte einer Größe, etwa 5, bezeichnet; [. . . ]“ (Descartes 1981, S. 72) Im Jahr 2013 überträgt W OHLERS: „[. . . ] wenn man voraussetzt, dass x den entgegengesetzten Wert der Quantität 5 bezeichnet [. . . ]“ (Descartes 2013, S. 376) Von „entgegengesetzt“ aber steht bei D ESCARTES nichts, weder „entgegengesetzte Größe“ noch gar „entgegengesetzter Wert“. Und es gibt auch keinerlei Anhaltspunkt dafür, dass D ESCARTES so gedacht haben könnte, denn von einer „Richtung“ einer Strecke oder von „Werten“ (auf einer Koordinatenachse?) steht in La Géométrie nichts.
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Sogar der in der Regel vorbildlich genaue J OHANNES T ROPFKE (1866–1939) sieht in La Géométrie zweimal eine Streckenlänge in entgegengesetzter Richtung abgetragen (T ROPF KE spricht von einem Abtragen „nach rechts oder links hin“ – Tropfke 3 1933, S. 100, Anmerkung 603 und zuvor im Text). Doch seine Verweise sind falsch. Sein erster Verweis geht auf D ESCARTES’ zweite geometrische Konstruktion einer Lösung einer quadratischen Gleichung. Dort aber handelt es sich ganz offensichtlich um eine einfache Subtraktion zweier Streckenlängen: Die Strecke P M ergibt sich aus der Subtraktion von 21 a oder N P von der Grundlinie N M des Dreiecks, deren Länge durch den dortigen Wurzelterm beschrieben ist. Und auch bei T ROPFKEs zweitem Verweis (auf Descartes 1897–1910, Bd. 6, S. 409–410) ist es dasselbe: Auch dort subtrahiert und addiert D ESCARTES Streckenlängen von- oder zueinander – von einer „Richtung“ ist auch dort nichts zu lesen oder zu sehen. Auf jeden Fall bleibt also unser früheres Urteil bestehen, D ESCARTES habe nicht von Koordinaten gehandelt.
Descartes’ Teil des Fundamentalsatzes der Algebra
D ESCARTES formuliert folgende Einsicht aus seiner vorgenommenen Konstruktion von Gleichungen aus – wie wir heute sagen – „linearen Faktoren“, D ESCARTES sagt „Binomen“: Vgl. Descartes 1972, S. 17, Descartes 1897–1910, Bd. VII, S. 24. 34
Dieses Wort kennt nicht einmal Grimm und Grimm 1984, Bd. 1, Sp. 76; Bd. 12, Sp. 1540–44.
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Die Anfänge von Descartes’ Gleichungslehre
„Wie man bei Kenntnis einer Wurzel die Dimensionszahl einer Gleichung erniedrigen kann Und man sieht hieraus deutlich, dass die Summe einer Gleichung, die mehrere Wurzeln enthält, immer dividiert werden kann durch ein Binom, das besteht aus der unbekannten Größe, minus den Wert einer der wahren Wurzeln, welche es auch sei, oder plus den Wert einer falschen. Dadurch vermindert man um ebenso viel ihre Dimensionen. Wie man entscheiden kann, ob eine gegebene Größe der Wert einer Wurzel ist Und umgekehrt, wenn die Summe einer Gleichung nicht dividiert werden kann durch ein Binom, gebildet aus der unbekannten Größe + oder − eine andere Größe, so bezeugt das, dass diese andere Größe nicht der Wert irgendeiner ihrer Wurzeln ist.“ (Wieleitner 1927, S. 62) Für uns heute: Die „Summe einer Gleichung“ ist die linke Seite der Normalform einer Gleichung. D ESCARTES sieht klar: Aus jeder „Wurzel“ – egal ob „wahr“ oder „falsch“ – lässt sich ein Binom bilden, welches ein Faktor der vorgelegten Gleichung ist; und umgekehrt sind nur Binome, gebildet aus einer „Wurzel“ der Gleichung, solche Faktoren. Die Umkehrung davon – dass es ebenso viele solcher Faktoren („Binome“) gibt, wie der höchste Exponent der Unbekannten angibt (den Begriff „Grad der Gleichung“ bildet D ESCARTES nicht) – kann D ESCARTES natürlich nicht beweisen. Aber er formuliert diesen Sachverhalt immerhin. S. 57 Die kartesische Vorzeichenregel
Nach einem Beispiel bringt D ESCARTES dann die heute nach ihm benannte Vorzeichenregel: „Über die Anzahl der wahren Wurzeln einer Gleichung Ferner lässt sich hiernach feststellen, wie viele wahre und wie viele falsche Wurzeln eine Gleichung haben kann; es können nämlich so viele wahre Wurzeln vorhanden sein, als die Anzahl der Wechsel der Vorzeichen + und − beträgt, und so viele falsche, wie oft zwei Zeichen + oder zwei Zeichen − aufeinander folgen.“ (Descartes 1981, S. 73) Eine Begründung für diese Regel gibt D ESCARTES nicht, sondern nur eine Erläuterung am Beispiel.
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1. Die Erfindung der formalen Algebra durch Descartes Von der Entbehrlichkeit der „falschen“ Wurzeln
Wie verfährt D ESCARTES mit „falschen“ Wurzeln? Eine geometrische Deutung für den Begriff „falsche Wurzel“ gibt D ESCARTES nicht. Sie bezeichnen also für ihn keine wirklichen Linien. Algebraisch jedoch befasst er sich ein Weilchen mit ihnen. Dabei scheint es sein Bestreben zu sein, zu zeigen, dass „falsche“ und „wahre“ Wurzeln einer Gleichung eigentlich gar nicht so sehr voneinander verschieden sind – lassen sich doch die „falschen“ jederzeit in „wahre“ verwandeln:
„Wie man bewirken kann, dass alle falschen Wurzeln einer Gleichung in wahre und alle wahren in falsche übergehen Es ist auch leicht in einer Gleichung zu bewirken, dass sich alle falschen Wurzeln in wahre und zugleich alle wahren Wurzeln in falsche verwandeln; man braucht hierzu nur an der zweiten, vierten, sechsten und den übrigen Stellen, die durch gerade Zahlen bezeichnet werden, die [Zeichen] (signes) + und − miteinander zu vertauschen, während man die an der ersten, dritten, fünften und allen anderen durch ungerade Zahlen bezeichneten Stellen unverändert lässt. So hat man z. B., wenn man an die Stelle von +x 4 − 4x 3 − 19xx + 106x − 120 o 0 e
schreibt +x 4 + 4x 3 − 19xx − 106x − 120 o 0 , e
eine Gleichung, die nur eine wahre Wurzel 5 und drei falsche, nämlich 2, 3 und 4, besitzt.“ (Descartes 1981, S. 73 f.) D ESCARTES stellt noch zwei weitere Gleichungstransformationen vor, welche die „Wurzeln“ einer Gleichung verändern. Seine Beispiele dazu lasse ich hier weg. Im ersten Teil erläutert D ESCARTES das, was wir heute „Substitution“ nennen, hier: Substitution der Unbekannten.
„Wie man die Wurzeln einer Gleichung vermehren oder vermindern kann, ohne sie zu kennen Will man in einer Gleichung die Werte der Wurzeln, ohne sie zu kennen, um irgendeine bekannte Größe vermehren oder vermindern, so hat man nur statt der Unbekannten eine andere zu nehmen, die um diese selbe Größe größer oder kleiner ist, und sie überall an die Stelle der ursprünglichen Unbekannten zu setzen. [. . . ]
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Die Anfänge von Descartes’ Gleichungslehre Dass man durch Vergrößerung der wahren Wurzeln die falschen verkleinert und umgekehrt Wenn man die wahren Wurzeln einer Gleichung vergrößert, so verkleinert man die falschen um dieselbe Größe, und umgekehrt werden durch Verkleinerung der wahren Wurzeln die falschen vergrößert; verkleinert man die einen oder die andern um eine Größe, die gleich dem Werte einer Wurzel ist, so wird eine Wurzel gleich Null; verkleinert man dagegen um eine Größe, die alle Wurzeln übertrifft, so werden die wahren Wurzeln zu falschen oder die falschen zu wahren.“ (Descartes 1981, S. 74 f.) Damit hat D ESCARTES die Relativität der Begriffe „wahre“ und „falsche“ Wurzel gezeigt – und damit, so könnte man sagen, erübrigt sich eine nähere Bestimmung des Begriffs „falsche“ Wurzel. „Wirkliche“ und „eingebildete“ Werte
Lesen wir abschließend, was D ESCARTES zu dem Fall sagt, dass eine Gleichung – wie wir heute sagen – nicht reelle Lösungen hat: „Sowohl die wahren als auch die falschen Wurzeln können [wirklich] oder [eingebildet] sein Übrigens sind weder die wahren noch die falschen Wurzeln immer [wirklich (reelles)], sondern manchmal sind sie nur [eingebildet (imaginaires)]; d. h. man kann sich immer soviel (Wurzeln) in jeder Gleichung vorstellen (imaginer), als ich gesagt habe, aber es gibt manchmal keine Größe, die denen, die man sich vorstellt, entspräche. So kann man sich zwar drei in dieser, x 3 − 6xx + 13x − 10 o 0 , e
vorstellen, es gibt aber darunter nur eine [wirkliche (reelle)], die 2 ist, und was die beiden anderen betrifft, man mag sie vermehren, vermindern oder multiplizieren in der Art, wie ich es eben erklärt habe, man kann sie dadurch nicht anders als [eingebildet (imaginaires)] machen.“ (Wieleitner 1927, S. 62 f.) 2 (Es ist (x 3 − 6x 2 + 13x − 10) : (x − p2) = x − 4x + 5, und somit sind die beiden anderen Wurzeln der Gleichung 2 ± −1.) Sämtliche Übersetzer dieser Passage (Descartes 1981, S. 81, Wieleitner 1927, S. 62 f und Descartes 2013, S. 383) übertragen „reelle“ als „reell“ und „imaginaire“ als „imaginär“. Das ist nicht nur mathematisch nicht korrekt (es müsste jedenfalls heute „komplex“ statt „imaginär“ heißen; zumindest W OHLERS müsste so schreiben), sondern vor allem auch historiografisch. Denn zum Einen gibt es im Jahr
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1. Die Erfindung der formalen Algebra durch Descartes 1637 noch keine Unterscheidung reell/imaginär (bzw. /komplex) für Zahlen – einfach weil es – zum Anderen – noch keine imaginären/komplexen Zahlen gibt. Sagt nicht D ESCARTES hier ausdrücklich, es „gibt keine“ Größen, die diesen bloß „eingebildeten“ Wurzeln entsprechen? Wenn es im Jahr 1637 keine solchen Größen gibt, dann gibt es eben keine (auch wenn sich das in späteren Jahren ändern mag). Aber was es nicht gibt, das verdient auch keinen Namen. Insofern erscheint es wenig überzeugend, D ESCARTES hier einen Taufakt einer neuen Zahlenart („imaginäre“ Zahlen) zuzurechnen. Wenn es aber 1637 keine „imaginären“ Zahlen gibt, dann auch nicht deren Gegen-Art: die „reellen“ Zahlen. Daher sind D ESCARTES’ Worte „reelle“ und „imaginaire“ hier nicht fachsprachlich zu übersetzen, sondern gemeinsprachlich: als „wirklich“ und „eingebildet“. Ergebnis Diese Textpassagen aus La Géométrie zeigen völlig klar, wie sicher D ESCARTES’ Verständnis davon war, dass er der Mathematik einen neuen Gegenstand erfunden hatte – die formale Gleichung –, der neuartigen Untersuchungen unterworfen werden konnte. War sich D ESCARTES dieser Neuerung jedoch bewusst? Wie gesagt: D ESCARTES’ Verständnis seiner Neuerung steht außer Zweifel – aber dennoch hat D ESCARTES, soweit ich sehe, diese Neuerung nicht als Neuerung artikuliert. Mit anderen Worten: D ESCARTES hat hier einen gewaltigen, weltgeschichtlich einmaligen intellektuellen Abstraktionsschritt vollzogen, ohne ihn zu benennen. Die Mathematiker sind ihm in beidem gefolgt: Sie haben ebenfalls diesen Schritt getan, und sie haben diesen Schritt ebenfalls nicht als solchen benannt. Lediglich der Mathematikhistoriker H EINRICH W IELEITNER (1874–1931) sagt in einem Satz über D ESCARTES’ La Géométrie: „In der algebraischen Schreibweise stellt das Buch sozusagen den Beginn der Neuzeit dar.“ (Wieleitner 1927, S. 61) Und auch der Mathematikhistoriker J OHANNES T ROPFKE spricht an einer Stelle in einem Halbsatz von D ESCARTES’ La Géométrie als von „jenem Werke, das in der Geschichte der Mathematik eine ganz neue Epoche einleitete.“ (Tropfke 3 1933, S. 55) Einzig J ACOB K LEIN (1899–1978) hat dieses Thema in seiner umfassenden Studie „Die griechische Logistik und die Entstehung der Algebra“ aus dem Jahr 1936 genauer aufgegriffen. Sein Ergebnis bezüglich D ESCARTES formuliert er so: „D ESCARTES’ große Idee besteht nun darin, den »allgemeinen«, nur symbolisch darzustellenden und aufzufassenden Gegenstand dieser Mathesis universalis – vermittels »methodischer« Überlegungen – mit der »Substanz« der Welt, mit der Körperlichkeit als »extensio« zu iden-
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Warum „Algebra“? tifizieren. Dadurch erst gewinnt die symbolische Mathematik jene fundamentale Stellung im System des Wissens, die sie seither niemals mehr verloren hat.“ (Klein 1936, S. 207) Und: „Jede »Figur« ist somit nicht die Darstellung einer bestimmten Anzahl von Maßeinheiten (wie dies bei den geraden Linien in den arithmetischen Büchern E UKLIDs der Fall ist), sondern das durch »symbolische Abstraktion« gewonnene »Symbol« einer unbestimmten Vielheit, – also genau das, was in der »Algebra«, speziell in der V IÈTE’schen Analytik, ein Buchstabenzeichen (samt seiner »Stufen«-Bezeichnung) ist. [. . . ] In Wahrheit »vereinigt« also D ESCARTES nicht – wie man gedankenlos zu sagen pflegt – die »Arithmetik« und die »Geometrie«, – er iden[t]ifiziert vielmehr die »Algebra« als symbolische Logistik mit der erstmalig von ihm als symbolische Wissenschaft gedeuteten Geometrie.“ (Klein 1936, S. 215, 217) Der Zweite Weltkrieg hat sehr vieles ausgelöscht, darunter offenbar auch diese Erkenntnis. Es scheint an der Zeit, sie wieder in Erinnerung zu rufen. WARUM „ALGEBRA“? Ich habe in diesem Kapitel immer von „formaler Algebra“ gesprochen. Auch OTTO S TOLZ bezeichnet D ESCARTES als „den Urheber der formalen Algebra“. Noch lieber hätte ich einfach „Algebra“ geschrieben und also gesagt, D ESCARTES habe die Algebra erfunden. Und in der Tat bin ich genau dieser Auffassung. Eine solche Aussage aber verstößt so sehr gegen die üblichen Gewohnheiten, dass man mit ihr sofort die gesamte (Fach-)Welt gegen sich aufbringt. Denn die Algebra, so kann man lesen – jedenfalls in der mathematikgeschichtlichen Literatur, neuerdings sogar in einem Buchtitel –, sei schon viele Tausend Jahre alt. (Und hat nicht D ESCARTES selbst bereits dieses Wort gebraucht?) S. 22 Andererseits können sich die Fachmathematiker relativ leicht darauf einigen, dass es vor dem epochalen Buch Moderne Algebra von B ARTEL L EENDERT VAN DER WAERDEN (1903–96) eigentlich keine Algebra gab, die diesen Namen verdiente. Und dieses Buch erschien erstmals im Jahr 1930, der zweite Band ein Jahr später. Die 3. Auflage dieses Werkes erschien 1950 unter dem nämlichen Titel, ihr Nachdruck im Jahr 1955 dann unter dem verkürzten Titel Algebra, der für die folgenden Auflagen beibehalten wurde, auch für die englische Übersetzung im Jahr 1970. Seit wann also gibt es die Algebra – seit Jahrtausenden oder erst seit drei Generationen? Man sollte meinen, die Wissenschaft der klaren und eindeutigen Begriffe hätte auf eine solch einfache Frage eine Antwort. Das aber ist bemerkenswerterweise Stolz 1891, S. 10
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1. Die Erfindung der formalen Algebra durch Descartes nicht der Fall. Heute besteht in der Mathematik schlicht keine Einigkeit darüber, was unter „Algebra“ zu verstehen sei. Natürlich geben einzelne Autoren einzelne Antworten auf diese Frage, insbesondere wenn sie sich mit der Geschichte der Mathematik befassen. Doch diese Antworten sind, wie gesagt, heute nicht konsensfähig.
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Nach dem hier erzielten Ergebnis besteht D ESCARTES’ weltgeschichtliche Leistung für die Grundlagen der Mathematik darin, die formale Gleichung erfunden zu haben. Um den Sachverhalt hervorzuheben, könnte man von der „rein formalen Gleichung“ sprechen, aber das muss nicht sein: Was nicht rein formal ist, das will ich hier nicht als „formal“ bezeichnen – etwa V IÈTEs Verfahrensweise in der Isagoge. Das Entscheidende an der formalen Gleichung ist, dass sie allein aus Symbolen besteht. Dabei unterscheide ich das Symbol vom Namen. Der Name bezeichnet ein Individuum. Er kommt idealerweise genau (jedenfalls: höchstens) einem Gegenstand in der Welt zu. Dieser Gegenstand kann konkret sein: dieser Tisch! Er kann aber auch abstrakt sein wie etwa der, der dem Namen „Haus“ entspricht. Oder vielleicht existiert dieser Gegenstand auch gar nicht, etwa das „Einhorn“ oder der „quadratische Kreis“. Demgegenüber ist das Symbol weit variabler. Anders als der Name kann es vom Wissenschaftler (prinzipiell) frei gewählt werden. Darauf, wie die konkrete Wahl eines Symbols ausfällt, kommt es überhaupt nicht an. Insofern ist ein Symbol irgendein Zeichen, welches genau, ist im Grunde unerheblich. (Es ist für die Sache – Gleichheitszeichen – unerheblich, in welcher Form genau D ESCARTES es notiert hat.) Wichtiger ist, dass dieses Symbol für etwas steht. Dies wiederum hat das Symbol mit dem Namen gemeinsam: Beide stehen für etwas. Das Neue ist also: Das Symbol kann variabel gewählt werden, im Unterschied zum Namen. Mit B ERTRAND RUSSELL gesprochen handelt es sich beim Symbol um eine „unbestimmte Beschreibung“, während der Name eine „bestimmte Beschreibung“ ist. In heutiger Sprache ist ein Symbol also eine „Veränderliche“, während ein Name eine „Konstante“ ist. Die möglichen „Werte“ der Funktion Symbol sind bei D ES CARTES konkrete Streckenlängen. Nun ist der Begriff „Funktion“ modern. Jedenfalls gab es ihn zur Zeit von D ES CARTES noch nicht. Der Vorläuferbegriff von „Funktion“ ist „Veränderliche“. Daher sollten wir sagen: Mit dem Symbol prägt D ESCARTES ein erstes Beispiel für eine Veränderliche in der Mathematik. Allerdings ist dies erst ein veränderlicher Name. Von einem veränderlichen maRussell 2002b, S. 187
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Warum „Algebra“? thematischen Gegenstand ist bei D ESCARTES keine Rede. Gegenstände dieser Art müssen der Mathematik erst noch erfunden werden. Das ist dann eine Leistung von L EIBNIZ.
WARUM ALSO „ALGEBRA“? Zur Beantwortung dieser Frage hat es vielerlei Vorschläge gegeben. Hier ist nicht der Ort, sie Revue passieren zu lassen und zu diskutieren. Stattdessen möchte ich einen eigenen Vorschlag unterbreiten. Er geht von der Überlegung aus, diese Frage anhand des Gegenstands zu beantworten, um den es geht. Worum also geht es der Algebra? Welches ist ihr Gegenstand? Zwei Meinungen von Lehrbuchautoren zur Algebra Selten findet man in der neueren Lehrbuchliteratur eine Bestimmung des jeweils behandelten Gegenstandes. Bei den Lehrbüchern zur Algebra bin ich zweimal fündig geworden, jedesmal bei Texten aus dem Russischen. Kostrikin 1976
Das erste Lehrbuch der Algebra, das ungewöhnlicherweise seinen Gegenstand bestimmt, ist das 1990 ins Englische übersetzte Werk Algebra von A LEXEJ I WANO WITSCH KOSTRIKIN (1929–2000) aus dem Jahr 1976. Dort heißt es: Gemäß dem Grundsatz: »nicht die mathematischen Gegenstände sind wichtig, sondern die Beziehungen zwischen ihnen« kann Algebra (in einer etwas tautologischen Weise, die dem Uneingeweihten vollständig unbegreiflich ist) als die Wissenschaft von den algebraischen Operationen bestimmt werden, die mit Elementen verschiedener Mengen ausgeführt werden. Die algebraischen Operationen sind der elementaren Arithmetik entwachsen. Algebraische Ideen wiederum stellen die natürlichsten Beweise vieler Tatsachen der »höheren Arithmetik«, der Zahlentheorie, dar. Aber die Bedeutung der algebraischen Strukturen – Mengen mit Operationen – reicht viel weiter als zahlentheoretische Anwendungen.
„According to the principle that »it is not the mathematical objects which are important, but the relationship between them«, algebra can be defined (in a way that is somewhat tautological and is completely incomprehensible to the uninitiated) as the science of algebraic operations performed on elements of various sets. The algebraic operations grew out of elementary arithmetic. Algebraic ideas, in turn, give the most natural proofs of many facts of »higher arithmetic«, number theory. But the significance of algebraic structures – sets with operations – goes far beyond number-theoretic applications.“ (Kostrikin 1982, S. 10)
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1. Die Erfindung der formalen Algebra durch Descartes
Kostrikin und Schafarewitsch 1986
In dem 1986 im Original, 1990 in englischer Übersetzung erschienenen Lehrbuch, das KOSTRIKIN zusammen mit I GOR S CHAFAREWITSCH (*1923) verfasst hat, wird folgende These vorgestellt:
These. Jeder Gegenstand einer mathematischen Untersuchung (Kurven, Oberflächen, Abbildungen, Symmetrien, Kristalle, quantenmechanische Größen und so weiter) kann »koordinatisiert« werden. Für eine derartige Koordinatisierung sind jedoch die »gewöhnlichen« Zahlen in keiner Weise angemessen. Und wenn wir umgekehrt einen neuen Typus von Gegenständen treffen, sind wir gezwungen, neue Typen von »Größen« zu konstruieren (oder zu erfinden), um sie zu koordinatisieren. Die Konstruktion und das Studium der auf diese Weise entstehenden Größen kennzeichnet den Ort der Algebra in der Mathematik (natürlich nur sehr näherungsweise).
„Thesis.
Anything which is the object of mathematical study (curves and surfaces, maps, symmetries, crystals, quantum mechanical quantities and so on) can be »coordinatised«. However, for such a coordinatisation the »ordinary« numbers are by no means adequate. Conversely, when we meet a new type of object, we are forced to construct (or to discover) new types of »quantities« to coordinatise them. The construction and the study of the quantities arising in this way characterises the place of algebra in mathematics (of course, very approximately).“ (Kostrikin und Schafarewitsch 1990, S. 8)
Ich möchte diese These noch etwas zuspitzen und den folgenden Vorschlag machen:
These: Der Gegenstand der Algebra ist das Rechnen. Damit ist natürlich nicht das Rechnen als eine individuelle, psychomotorische Tätigkeit gemeint, sondern das Rechnen als mathematische, regelgeleitete Tätigkeit. Nicht das Berechnen: die konkrete Durchführung einzelner Operationen mit Zahlen ist gemeint, sondern das Tun des Rechnens als solches. Dieses Tun als methodisches Tun wird in der Algebra studiert und auf seine Regelhaftigkeiten hin untersucht. Die Ergebnisse solcher Untersuchung werden in Rechengesetzen formuliert. Im Umkehrschluss heißt das: Dort, wo solche Rechengesetze nicht formuliert sind, geht es nicht ums Rechnen (sondern ums Berechnen), und es liegt keine Algebra vor. Ich diskutiere diese These kurz. (1) Aus der Sicht dieser These wird der Streit um die Existenz einer antiken Algebra gut verständlich: Je nachdem, ob man die Texte (etwa E UKLID) als genau das nimmt, was sie sind (etwa arithmetische oder geometrische Betrachtungen), oder als das, was sie eigentlich sind (etwa exemplarische Darstellung gewisser Regeln), wird man das Vorliegen „antiker Algebra“ bestreiten oder behaupten. Je nachdem, ob man ein Problem oder eine Problemgruppe als genau das nimmt, was es oder
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Zur philosophischen Bedeutung von Descartes’ Leistung für die Mathematik sie ist – oder ob man es oder sie als Konkretisierung von etwas Allgemeinerem deutet, das darin wörtlich nicht ausgesprochen ist: je nachdem wird man den Text als einen geometrischen bzw. arithmetischen deuten – oder als einen algebraischen. (2) Die These hat kein Problem mit der augenscheinlichen Tatsache, dass die Algebra einem starken geschichtlichen Wandel unterliegt: immer abstrakter wird. Denn die Weiterentwicklung von Rechengesetzen, Rechenweisen begleitet das zu beobachtende allgemeine kulturelle Faktum der immer stärkeren Ausweitung der (Be-)Rechnungsweisen unserer technischen Zivilisationsentwicklung. (3) Rechnen ist eine Tätigkeit, ein Handeln. Eine Tätigkeit zum Gegenstand einer Untersuchung zu machen, ist kein nahe liegender Schritt, sondern eine intellektuelle Großtat. Es kann vermutet werden, dass ein solcher Schritt nicht beliebig vollzogen werden kann, sondern gewisser fördernder Umstände bedarf. Es kann auch vermutet werden, dass solche fördernden Umstände in der Erfahrungswelt des Mathematikers grundlegend verankert sein mussten. Wann wurde Tätigsein zum wesentlichen Bestimmungsmoment für den Einzelnen? Im westlichen Kulturkreis nicht vor dem Anbruch der Neuzeit. Denn erst ab dem ausgehenden Mittelalter wird das regelgerechte Tätigsein des Individuums zur Grundlage seiner Existenz. Der Leibeigene wie der Adlige leben als diejenigen, als die sie geboren wurden. Der Handwerker jedoch muss tätig sein, um leben zu können. Im westlichen Kulturkreis wird erst mit der Neuzeit das regelgerechte Tätigsein zur Existenzgrundlage des Individuums. Daher wäre es plausibel, wenn auch die Tätigkeit des Rechnens nicht vor Beginn der westlichen Moderne zum Gegenstand mathematischer Untersuchungen gemacht worden wäre. Mit D ESCARTES scheint genau das eingetreten zu sein. (4) Nach dieser These ist es klar, dass andere Personen unter Algebra etwas (ganz) anderes verstehen können. Insbesondere ist zu erwarten, dass der Begriff „Algebra“ in früheren Zeiten in ganz anderem Sinn gebraucht worden ist. Es kann hier nicht darum gehen, eine mathematikphilosophische Position mit Vehemenz oder letzter Stringenz statuieren zu wollen. Vielmehr soll diese These als ein Versuch genommen werden, den besonderen Entwicklungsschritt, den D ESCARTES für die Grundlagen der Mathematik vollzogen hat, auch in seiner konkreten Genese zu verstehen: als Leistung einer bestimmten Person an einer bestimmten Entwicklungsschwelle der okzidentalen Kultur und Gesellschaft. ZUR PHILOSOPHISCHEN BEDEUTUNG VON D E S C A RT E S ’ L E I S T U N G F Ü R D I E M AT H E M AT I K E UKLID wie D ESCARTES geht es um Geometrie, doch sie handeln sehr unterschiedlich: E UKLID konstruiert, D ESCARTES rechnet. Geometrisches Konstruieren ist ein Tun, dem es um die Herstellung idealer Objekte geht. Diese idealen Objekte sind – zunächst – der Natur entnommen, aus ihr abstrahiert. Das Konstruieren ahmt Naturgegenstände nach. Rechnen ist ein Tun, das – zunächst – dem Zweck des Organisierens gesellschaftlicher Aufgaben dient.
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Zuallererst hat das Rechnen die Maße genutzt, dann die Zahlen hervorgebracht. Das war im −3. Jahrtausend im Zweistromland. Es ging damals um das Organisieren von Handelsbeziehungen sowie um den Aufbau komplexer Verwaltungen. Großbauten konnten nur von Arbeiterheeren errichtet werden. Dabei musste das Leben der Arbeiter erhalten und gesichert werden. Das verlangte umfassende planvolle Organistionsmaßnahmen. Ohne Buchführung wäre das nicht möglich gewesen. Im Rahmen dieser sehr umfassenden Verwaltungstätigkeit zur sicheren Gestaltung verwickelter wirtschaftlicher Vorgänge brachte das Rechnen – anfänglich mit höchst unterschiedlichen Maßsystemen – die abstrakten Zahlen hervor.
Das systematische Bewältigen gesellschaftlicher Anforderungen ist seinem Wesen nach menschliches Tun: vom Menschen für den Menschen. Somit ist das Rechnen seinem Wesen nach ein Handeln des Menschen für den Menschen. Indem D ESCARTES das Rechnen (die „Algebra“) ins Zentrum der Mathematik rückt, macht er den Menschen zum Erzeuger der Mathematik. Nach D ESCARTES bringt das Tun des Menschen die Mathematik (in D ESCARTES’ Sprache: die Geometrie) hervor. Das menschliche Handeln wird zum Grund der Mathematik. D ESCARTES vollbringt für die Mathematik dasselbe wie für die Philosophie. Dort hat er durch die Tätigkeit Denken dem Sein einen logischen Sinn verliehen („Ich denke – ich bin.“35 ). D ESCARTES hat den erkenntnistheoretischen Zweifel ontologisch ausgewertet. In der Mathematik konstituiert D ESCARTES durch die Tätigkeit Rechnen die Gegenstände: gerade Linien bestimmter Länge. Die bestimmte Länge dieser geraden Linien ist das Neue. Bei E UKLID stand die Länge der Linien (auch der geraden) infrage: Kann man sie messen? Bei D ESCARTES ist die Länge der geraden Linie ihr wesentlicher Bestandteil: ohne Länge kann sie nicht Gegenstand des Rechnens sein – und damit kein Gegenstand der D ESCARTES’schen Geometrie.
Vgl. Nissen 1983, Nissen et al. 1990. 35
Das berühmte „Cogito, ergo sum“ wird so von D ESCARTES nicht gesagt, sondern so: „Ego sum, ego existo“ (Descartes 1897–1910, Bd. VII, S. 25), was im Zusammenhang so ins Deutsche übertragen wurde: „Und so komme ich, nachdem ich derart alles mehr als zur Genüge hin und her erwogen habe, zu dem Beschluss, dass dieser Satz: »Ich bin, ich existiere« , so oft ich ihn ausspreche oder in Gedanken fasse, notwendig wahr ist.“ (Descartes 1972, S. 18) Es handelt sich bei D ESCARTES also um ein logisches Urteil („Dieser Satz ist wahr.“), nicht etwa um die Formulierung eines empirischen Sachverhalts – als solcher wäre nur dessen Kontraposition zutreffend: „Weil ich existiere, denke ich.“
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Kapitel 2: Die Erfindung der stetig Ve r ä n d e r l i c h e n d u r c h L e i b n i z
DIE BEI DESCARTES VERBLIEBENE BEGRIFFSLÜCKE D ESCARTES schreibt formale Gleichungen. Im einfachsten Fall bestimmen diese S. 23, 25 Gleichungen eine oder mehrere Unbekannte, von den damaligen Mathematikern und auch von D ESCARTES „Wurzeln“ genannt. Es gibt jedoch sehr verschiedene Arten von Gleichungen. VERSCHIEDENE ARTEN VON GLEICHUNGEN Eine bestimmte Anzahl von Wurzeln Im einfachsten Fall bestimmt eine Gleichung genau eine Wurzel: x −2 = 0 bestimmt die Wurzel 2: x = 2. Im nächst komplizierten Fall bestimmt eine Gleichung genau zwei Wurzeln: (x − 2) · (x − 3) = xx − 5x + 6 = 0 bestimmt die beiden Wurzeln 2 und 3. Diese Wurzeln können „wahre“ oder „falsche“ sein. So besitzt etwa
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(x − 2) · (x + 3) = xx + x − 6 = 0 folgende beiden Wurzeln: die „wahre“ Wurzel 2 und die „falsche“ Wurzel 3. Wenn ich die beiden Wurzeln der letzten Gleichung um 4 vermehre: y = x +4, lautet die Gleichung ([y − 4] − 2) · ([y − 4] + 3) = (y − 6) · (y − 1) = y y − 7y + 6 = 0 und hat (für y) die Wurzeln 6 und 1, und beide Wurzeln sind „wahre“ (in D ESCARTES ’ Sprache genauer: „gewisse“).
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2. Die Erfindung der stetig Veränderlichen durch Leibniz Keine bestimmte Anzahl von Wurzeln Aber D ESCARTES leitet auch kompliziertere Gleichungen her, beispielsweise – für einen Sonderfall des „Problems von PAPPOS“ – folgende:a y 3 − 2a y y − aa y + 2a 3 = ax y . Hier sind x und y zu ermittelnde Streckenlängen (übrigens in zueinander senkrechten Richtungen), und a ist irgendeine festgelegte Streckenlänge (wir nennen das heute einen „Parameter“). x und y bestimmen mit ihrem gemeinsamen Endpunkt einen Punkt einer „krummen Linie“ (wir sprechen heute von „Kurve“). Eine solche Gleichung mit zwei „Unbestimmten“ hat nicht eine bestimmte Anzahl von Wurzeln, sondern viele, unbestimmt viele: Schreibt man die letzte Gleichung in der Form (y − a) · (y − 2a) · (y + a) = ax y , sieht man (als Streckenlänge ist a 6= 0, und auch y darf 6= 0 sein), dass für y − a = 0, für y − 2a = 0 oder für y + a = 0 jeweils x = 0 gelten muss. In allen anderen Fällen ergeben sich für x andere Wurzeln als 0. Für D ESCARTES bestimmt jedes Paar von Streckenlängen x und y, die diese Gleichung erfüllen, einen „Punkt“ C , und „dieser kann beliebig auf der Linie C EG genommen werden“b . Die Begriffslücke Hier tut sich eine Begriffslücke bei D ESCARTES auf. Der mittels der Gleichung bestimmte „Punkt“ kann „beliebig auf der Linie genommen werden“. Andererseits aber hatte D ESCARTES zuvor für die Lösung des Problems von PAPPOS ausdrücklich Folgendes verlangt: „Da es aber alle Male unendlich viele Punkte gibt, die den aufgestellten Forderungen genügen können, so wird zweitens verlangt, die Linie zu zeichnen, auf der alle diese Punkte liegen müssen; PAPPOS behauptet, dass diese einer der drei Kegelschnitte sei [. . . ]; er unternimmt es aber weder, die Linie in diesem Falle zu bestimmen oder zu zeichnen, noch sie zu untersuchen, wenn die Aufgabe in einer größeren Anzahl von Linien gegeben ist. Er fügt nur hinzu, dass die Alten eine Linie gefunden hätten, von der sie zeigten, dass sie für diesen letzteren Fall von Nutzen [. . . ] sei. Dies gab mir Gelegenheit, zu versuchen, ob man mit der Methode, deren ich mich bediene, ebenso weit zu gehen vermag, wie jene gewesen sind.“ (Descartes 1981, S. 11) Gegen PAPPOS gewendet sagt D ESCARTES also klipp und klar: Es genügt nicht, unendlich viele Punkte einer Linie namhaft zu machen, sondern man muss die a
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b
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Die bei Descartes verbliebene Begriffslücke Linie auch „zeichnen“. (Denn nur die gezeichnete Linie kann „distinkt“ und „klar“ wahrgenommen werden!) D ESCARTES selbst hingegen begnügt sich mit der Angabe einer Gleichung. Doch eine Gleichung „zeichnet“ keine Linie. Eine Gleichung bestimmt höchstens einzelne Punkte, vielleicht auch unendlich viele. Aber D ESCARTES sagt selbst: Die geometrische Aufgabe verlangt mehr als nur unendlich viele Punkte namhaft zu machen: Sie verlangt es, die Linie zu „zeichnen“. Mit gutem Recht fragt daher M ARKUS S CHMITZ (1963–2009): „Wie aber soll der Übergang von diesen unendlich vielen einzelnen diskreten Punkten – welche zudem, abgesehen von dem Problem der „aktualen“ Unendlichkeit, nie etwas Ausgedehntes wie die Linie bilden können – zu der kontinuierlichen Linie statthaben?“ (Schmitz 2010, S. 304) D ESCARTES kann mittels einer Gleichung unendlich viele „Punkte“ der Linie namhaft machen – aber damit endet seine Konstruktion. Zuvor jedoch hat D ES CARTES von PAPPOS verlangt, die Linie zu „zeichnen“ . Die Kluft zwischen „unendlich viele Punkte namhaft machen“ und „die Linie zeichnen“ vermag D ESCARTES nicht zu überbrücken. Descartes’ Ausweg D ESCARTES sucht seine Zuflucht in einer rein rhetorischen Wendung: „Indem man der Linie y der Reihe nach unendlich viele verschiedene [Großheiten] beilegt, erhält man auch unendlich viele für die Linie x, und auf diese Weise unendlich viele Punkte von der Beschaffenheit, wie der mit C bezeichnete (marquer), mit Hilfe deren alsdann die gesuchte krumme Linie beschrieben (descrira) werden kann.“ (Descartes 1981, S. 17) D ESCARTES’ Rettungsversuch ist also das Wort „beschreiben“. Aber „beschreiben“ (décrire) ist nicht „zeichnen“ (tracer). Eine beschriebene Linie ist noch lange keine gezeichnete Linie. Gleichwohl tut D ESCARTES in dem letzten Zitat so, als ob beides dasselbe sei. Dem ist aber nicht so. D ESCARTES hat hier ein sachliches Problem, das er nicht zu lösen vermag. WORIN BESTEHT DAS PROBLEM BEI DESCARTES? Wie erinnerlich ist D ESCARTES in der Géométrie mit dem Anspruch angetreten, alle Probleme der Geometrie allein aus der Kenntnis der Länge gewisser gerader Linien zu konstruieren. Was alles aber kann man mit Streckenlängen? S. 17 Mit Streckenlängen kann man, natürlich, neue ‚Streckenlängen‘ erzeugen; und man kann mit ihnen – indem man sie zum Schnitt bringt – Punkte erzeugen. Mehr
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2. Die Erfindung der stetig Veränderlichen durch Leibniz ist nicht denkbar. Zum Zeichnen krummer Linien reichen Streckenlängen nicht hin. Offenkundig aber will D ESCARTES auch krumme Linien behandeln. Wenn eine „krumme Linie“ aus „Punkten“ bestünde, hätte D ESCARTES das Problem gelöst. Doch das tut sie nicht: Keine „Linie“ besteht aus „Punkten“, weder eine gerade Linie noch eine krumme Linie. Aus diesem Grunde ist D ESCARTES’ Programm an dieser Stelle gescheitert. Modern gesprochen: Analytische Geometrie rechnet allein mit Punkten (als Schnittpunkten von „Abszisse“ und „Ordinate“), nicht mit Linien (die auch krumm sein dürften). DESCARTES’ ABLENKUNGSMANÖVER S. 7
Nach D ESCARTES ist nur das wahr, was wir distinkt und klar erkennen. Wann können wir eine Figur distinkt und klar erkennen? Dazu hat D ESCARTES eine präzise Vorstellung. Die EUKLIDischen Figuren (Strecken, Kreise, Kegelschnitte) sind für die Bedürfnisse der Mathematik schon lange nicht mehr ausreichend: Konchoide, Spirale, Quadratrix und Zissoide wurden schon in der Antike betrachtet, im 16. Jahrhundert war die Zykloide (oder Radkurve) hinzugekommen. Soll das immer so weiter gehen? Descartes’ Dekret über die Zulässigkeit von Figuren D ESCARTES’ Antwort auf die aufgeworfene Frage ist: ja und nein. Ja in dem Sinne, dass es ihm nicht tunlich erscheint, die in der Geometrie zulässigen Figuren auf eine definitive Anzahl zu beschränken; nein in dem Sinne, dass nicht schlichtweg jede Figur als zulässig gelten darf. D ESCARTES setzt einen Maßstab der Zulässigkeit, und zwar wie folgt: „Es scheint mir ganz klar, dass, wenn man, wie üblich, all’ das, was genau (precis) und scharf (exact) ist, als geometrisch, und all’ das, was das nicht ist, als mechanisch bezeichnet, und wenn man die Geometrie als diejenige Wissenschaft ansieht, die allgemein die Maße der Körper kennen lehrt, man die zusammengesetzteren Linien ebenso wenig ausschließen dürfe wie die einfachsten, vorausgesetzt, dass man sie sich beschrieben denken kann durch eine stetige Bewegung oder durch mehrere aufeinanderfolgende solche Bewegungen, deren jede durch die vorhergegangene vollkommen bestimmt ist; denn auf diese Weise kann man stets eine scharfe Vorstellung (une connoissance exacte) von den Maßen einer solchen Linie erhalten.“ (Descartes 1981, S. 20 f.) Hier verlangt D ESCARTES also für die Analytische Geometrie – die Wissenschaft, welche „allgemein die Maße der Körper kennen lehrt“ –, nur solche Kurven zu betrachten, die durch eine „stetige Bewegung“ (und deren Folgen) bestimmt ist. Dieser so umgrenzte Kreis an Figuren erhält das Etikett „geometrisch“ (gleichbeutend: „mathematisch“), die anderen heißen „mechanische“ Figuren.
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Die Lösung des Descartes’schen Problems in der Analysis: eine Begriffsverschiebung Diese Grenzziehung schließt Spirale und Quadratrix aus der Mathematik aus und ordnet diese Kurven der Mechanik zu. Auf diese mathematischen Details kommt es hier aber nicht an. Neue Zeicheninstrumente . . . D ESCARTES untermauert sein Erweiterungsdekret für zulässige Figuren durch eine instrumentelle Umsetzung seiner Vorschrift: Er erfindet ein neues Gerät zum Zeichnen der von ihm als zulässig bestimmten Figuren, das Mesolab:
„Beim Öffnen des Winkels X Y Z beschreibt auf diese Weise der Punkt B den Kreis AB , und die andern Punkte D, F , H , in denen sich die übrigen Lineale treffen, beschreiben der Reihe nach jeder eine andere krumme Linie [. . . ]“ (Descartes 1981, S. 22)
Damit erweitert D ESCARTES die seit alters akzeptierten geometrischen Zeicheninstrumente Lineal und Zirkel. Diese Erweiterung ist eine vorsichtige, da sie nur einen einzigen unabhängigen Bewegungsimpuls für den Mechanismus zulässt (in seinem Beispiel: das Öffnen des Winkels X Y Z ). . . . aber altes Problem Doch die Erfindung neuer Zeicheninstrumente löst nicht D ESCARTES’ Problem des fehlenden Brückenschlags zwischen den unendlich vielen „bezeichneten“ Punkten einerseits und der „gezeichneten“ Linie andererseits. Die durch eine Bewegung gezeichnete Linie lässt sich nicht durch einzelne Punkte beschreiben, und seien dies noch so viele, auch unendlich viele. Denn keine Gesamtheit von „Punkten“ ist eine „Linie“.
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2. Die Erfindung der stetig Veränderlichen durch Leibniz DIE LÖSUNG DES DESCARTES’SCHEN PROBLEMS IN D E R A N A LY S I S : E I N E B E G R I F F S V E R S C H I E BU N G DER GEGENSTAND Die Sache Die Lösung, welche die Mathematik, die Analysis für D ESCARTES’ Problem gefunden hat, ist der Begriff „veränderliche Größe“ oder kurz: „Veränderliche“. Was bei D ESCARTES noch eine unbekannte oder unbestimmte ‚Streckenlänge‘ war – die x, y oder z in seinen Gleichungen –, das wird nach D ESCARTES zum neuen Anfangsbegriff „veränderliche Größe“. Das Zeichen Dieser Wandel von der „Unbestimmten“ zur „Veränderlichen“ ist ein Wandel des Begriffs – nicht aber ein Wandel des Symbols! Das von D ESCARTES gewählte Symbol – in der Regel x, aber auch y, z oder anderes – wird beibehalten. Aber es wird neu interpretiert. Etwas hochtrabender formuliert: Die Semantik des Symbols wird geändert. DIE BEDEUTUNG DIESER LÖSUNG DES DESCARTES’SCHEN PROBLEMS S. 37, Mit der „Veränderlichen“ wird die Zeit zum Gegenstand der Mathematik. Denn Anm. 23 Veränderung gibt es nur in Zeit.
Und insofern der Gegenstand „Veränderliche“ zu einem Grundobjekt der Mathematik – nämlich der Analysis – wird, wird damit auch die Zeit zu einem solchen Grundobjekt der Mathematik. Gegenüber der klassischen Mathematik – der Eleaten, dann jedenfalls von E U bis D ESCARTES – bedeutet das einen fundamentalen Wandel, denn in der klassischen Mathematik war die Zeit aus der Mathematik ausgeschlossen. KLID
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EINE BEWERTUNG DIESER LÖSUNG Mit den „Veränderlichen“ ist es ähnlich wie mit der „symbolischen Gleichung“: Es handelt sich um eines der elementarsten Werkzeuge der gegenwärtigen Analysis. Der Gebrauch eines solchen Basiswerkzeugs ist uns Heutigen derart selbstverständlich, dass wir uns dieses Gebrauchs in der Regel nicht bewusst sind. Ähnlich wie bei der symbolischen Gleichung finde ich auch den Gebrauch der Veränderlichen in der mathematikgeschichtlichen Literatur nicht reflektiert. Daher betreten wir mit den weiteren Ausführungen in diesem Kapitel wiederum Neuland.
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Wie kann Leibniz zum Begriff der veränderlichen Größe kommen? WIE KANN LEIBNIZ ZUM BEGRIFF DER VERÄNDERLICHEN GRÖSSE KOMMEN? G OTTFRIED W ILHELM L EIBNIZ (1646–1716), nach dem Urteil RUSSELLs „einer der größten Denker aller Zeiten, aber als Mensch nicht bewunderungswürdig“c , ist der erste Mathematiker, bei dem ich den Gegenstand „veränderliche Größe“ finde. Vielleicht hat nach D ESCARTES, aber vor L EIBNIZ noch ein anderer Mathematiker ausdrücklich mit „veränderlichen Größen“ gearbeitet, aber ich weiß das derzeit von keinem (und Frauen waren damals in der forschenden Mathematik nicht aktiv). – Auf N EWTON wird noch einzugehen sein. ab S. 148 Bei L EIBNIZ hingegen ist es sonnenklar, dass er diesen Begriff hat. Zum einen ist dies bereits in seinem philosophischen Denken angelegt, zum anderen ist das auch in seinen mathematischen Texten deutlich ausgesprochen. Daher werde ich zunächst kurz L EIBNIZ’ metaphysisches Denken kennzeichnen, ehe ich mich seinen mathematischen Texten36 zuwende. ZU LEIBNIZ’ BEGRIFF DER MONADE Monaden Während D ESCARTES nur sehr wenige Substanzen in der Welt kennt (neben dem S. 32 Gott noch „res extensa“ und „res cogitans“), denkt sich L EIBNIZ die Welt aus sehr vielen solcher Urbausteine bestehend. Diese Urbausteine der Welt nennt L EIBNIZ „Monaden“: „Die Monade, von der wir hier sprechen wollen, ist nichts anderes als eine einfache Substanz, [die als Element in das Zusammengesetzte eingeht]; einfach sein heißt so viel wie: ohne Teile sein.“ (M, § 1, S. 27, Änderung der Übersetzung nach B UCHENAU in HS, II, S. 435 – Quelle: GP VI, 60737 ) Diese Monaden bezeichnet L EIBNIZ als „die wahren Atome der Natur und – mit einem Wort – die Elemente der Dinge.“d Wir wollen uns jetzt nicht mit L EIBNIZ’ Gründen, seinen Begründungen für seine Überzeugung befassen,38 sondern seine Setzung akzeptieren und deren Weiterentwicklung verfolgen. Eigenschaften der Monaden
Für L EIBNIZ kann eine Monade, weil sie eine einfache Substanz ist, nicht auf natürlichem Wege entstehen oder vergehen, sondern nur durch Schöpfung oder Verc
Russell 8 1999, S. 590 – Quelle: Russell 2 1961, S. 563
d
M, § 3, S. 27 – Quelle: GP VI, 607
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O SKAR B ECKER deutete das mathematische Denken L EIBNIZ’ in rassistischer Weise als „nordisch bestimmt“ (Becker 1927, S. 728). 37 Um den L EIBNIZ-Experten die Orientierung zu erleichtern, sind die Fundstellen der Originale vermerkt. 38 L EIBNIZ’ Zeitgenosse J OHN L OCKE (1632–1704) hat den Begriff der Substanz als für das philosophische Denken zentral bereits im Jahr 1690 verabschiedet: Locke 3 1976, S. I 367, II 263.
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2. Die Erfindung der stetig Veränderlichen durch Leibniz nichtung. Nur für das aus diesen einfachen Substanzen, den Monaden, Zusammengesetzte gilt: Es „entsteht aus Teilen und vergeht in Teile.“e Entscheidend für uns ist nun folgende Setzung L EIBNIZ’ (er nennt es eine „metaphysische Notwendigkeit“f ): „Ich halte es ferner für ausgemacht, dass jedes geschaffene Wesen, folglich auch die geschaffene Monade, der Veränderung unterliegt und dass diese Veränderung in jeder Monade kontinuierlich vor sich geht.“ (M, § 10, S. 31 – Quelle: GP VI, 608) RUSSELL formuliert es pointiert: „Tätigkeit ist das Wesen der Substanzen.“g Was hat es mit dieser „Veränderung“ der Monaden auf sich? Zunächst: Die „Veränderung“ der Monaden ist ihre jeweilige Eigentümlichkeit.h Sie ist das, worin sie sich voneinander unterscheiden. Denn: Da jede Monade eine Substanz ist, muss sie sich von jeder anderen Monade, jeder anderen Substanz, unterscheiden; sonst wären die beiden Monaden nicht unterschieden, sondern Eines. Es war aber eine andere Substanz vorausgesetzt. L EIBNIZ formuliert: „Es muss sogar jede einzelne Monade von jeder anderen verschieden sein. Denn es gibt niemals in der Natur zwei Wesen, die einander vollkommen glichen und bei denen sich nicht ein innerer oder ein auf eine innere Bestimmtheit gegründeter Unterschied entdecken ließe.“ (M, § 9, S. 29 – Quelle: GP VI, 608) Der Unterschied zwischen den Monaden ist rein begrifflich. „Begrifflich“ heißt: Er kann gedacht werden, die Sache ist so. Wir neigen vielleicht zu der Vermutung, diese „Veränderung“ der Monaden als ein quantitatives Moment zu sehen, und zu denken, L EIBNIZ verlege hier die Größe (quantitas) in die Urbausteine der Welt, in die einfachen Substanzen: die Monaden. Das aber ist falsch. Zwar schreibt L EIBNIZ eine Formulierung wie: Jede natürliche Veränderung gehe „gradweise vor sich“i , doch dies steht im klaren Widerspruch zu seiner vorangehenden eindeutigen Kennzeichnung: „Quantitative Unterschiede gibt es bei ihnen [gemeint: die Monaden] nicht“. (M, § 8, S. 29 – Quelle: GP VI, 608) Die „Veränderung“ der Monaden ist also nichts Quantitatives. Was aber ist sie dann? S. 37, Eine „Veränderung“ ist nichts anderes als ein Übergang von einem Zustand in Anm. 23 einen anderen Zustand. Was aber sind diese verschiedenen „Zustände“ der Monaden? Dazu sagt L EIBNIZ: e
M, § 6, S. 27 – Quelle: GP VI, 607 f Brief an DE V OLDER, GP II, 169 Russell 2002a, § 21, S. 58 h Vgl. M, § 8, S. 29 – Quelle: GP VI, 608. i M, § 13, S. 31 – Quelle: GP VI, 608
g
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Wie kann Leibniz zum Begriff der veränderlichen Größe kommen? „Der vorübergehende Zustand [. . . ] ist nichts anderes als das, was man [Wahrnehmung] nennt.“ (M, § 14, S. 31 – Quelle: GP VI, 608) (Die professionellen Übersetzer sagen hier nicht „Wahrnehmung“, sondern sie lassen den von L EIBNIZ verwendeten Begriff unübersetzt und sagen einfach: „Perzeption“. Doch wir benötigen an dieser Stelle keine akribische philosophische Fachsprache und können im Deutschen einfach „Wahrnehmung“ sagen.) Und deutlicher, aber mit einer sogleich folgenden Einschränkung: „Die Tätigkeit des inneren Prinzips, das die Veränderung oder den Übergang von einer [Wahrnehmung] zu einer anderen bewirkt, kann als Streben (appetition) bezeichnet werden. Allerdings kann das Streben nicht immer vollständig zu der ganzen angestrebten [Wahrnehmung] gelangen; aber etwas davon erreicht es stets und gelangt so zu neuen [Wahrnehmungen].“ (M, § 15, S. 33 – Quelle: GP VI, 609) Schließlich spitzt L EIBNIZ sogar noch zu und sagt: Es „lässt sich in der einfachen Substanz nichts finden als eben dieses: [Wahrnehmungen] und ihre Veränderungen. In diesen allein können die inneren Tätigkeiten der einfachen Substanzen bestehen.“ (M, § 17, S. 33 – Quelle: GP VI, 609) Das aber heißt: Die einfachen Substanzen, genannt Monaden, sind nichts anderes als „Wahrnehmungen und ihre Veränderungen“, auch „innere Tätigkeiten“ genannt. Die Monade ist eine „Tätigkeit“, sie ist „Veränderungen ihrer Wahrnehmungen“. „Das Prinzip, gemäß dem sich der Zustand einer Substanz verändert, wird ihre Tätigkeit genannt.“j Und: „Tätigkeitkeit [. . . ] ist eine wirkliche (actual) Qualität einer Substanz. [. . . ] [Sie] ist für die Substanz wesentlich und daher metaphysisch notwendig.“k Hier ist nicht der Ort, L EIBNIZ’ Monadenlehre weiter zu entfalten. Wir begnügen uns mit dem Erreichten und wissen jetzt: Für L EIBNIZ sind die „wahren Atome“ unserer Welt „Tätigkeiten“, und zwar „innere Tätigkeiten“: „Wahrnehmungen und ihre Veränderungen“. LEIBNIZ’ BEGRIFF DER VERÄNDERUNG Konzentrieren wir uns auf unseren Gegenstand: die Veränderung. Wie bestimmt L EIBNIZ die Veränderung? So: Veränderung (mutatio) ist der unmittelbare Übergang des Zustandes eines Dinges in seinen kontradiktorischen Zustand. (Vgl. Schepers 2010, S. 26) H EINRICH S CHEPERS erläutert den Begriff der Kontradiktion: j
Russell 2002a, § 8, S. 12
k
Russell 2002a, § 18, S. 53, mit Verweis auf GP, II, S. 169
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2. Die Erfindung der stetig Veränderlichen durch Leibniz „Nicht vom Sitzen zum Stehen, sondern vom Sitzen zum Nichtsitzen.“ (Schepers 2010, S. 26)
(Jede) Veränderung ist kontinuierlich
Nach L EIBNIZ ist die so bestimmte „Veränderung“ kontinuierlich. Dies erläutert S CHEPERS (mit Quellenverweis) wie folgt: „Die Veränderung geschieht in uno temporis tractu, der Übergang zur Kontradiktion ist unmittelbar, also [sic] kontinuierlich. [. . . ] Zu beachten ist, dass die Unmittelbarkeit hier nicht aus der Kontinuität hergeleitet wird, sondern logisch begründet wird. Diese Veränderung kann nur bewirkt werden durch das einer jeden Substanz wesentliche Handeln.“ (Schepers 2010, S. 26 f.)
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Hier ist S CHEPERS ein wenig zu korrigieren, insofern er von einer „logischen Begründung“ der Veränderung der Monade spricht. In der Tat: Die Veränderung als Übergang zur Kontradiktion ist logischen Charakters – aber sie ist (damit) nicht logisch begründet. Wir haben gelesen: Die Monade als geschaffenes Wesen unterliegt der Veränderung – und damit ist die Veränderung der Monade theologisch begründet: weil etwas Geschaffenes. Doch kehren wir zu S CHEPERS zurück. Mit „Handeln“ meint S CHEPERS das, was wir zuvor mit „Wahrnehmen“ oder „Tätigkeit“ bezeichnet haben. Um den letzten Satz wissen wir bereits: Die Monade (Substanz) ist Tätigkeit, genauer: Wahrnehmung und deren Veränderungen. Da L EIBNIZ die „Veränderung“ logisch bestimmt hat (als Übergang zum kontradiktorischen Zustand), muss dieser Übergang „unmittelbar, also kontinuierlich“ (S CHEPERS) stattfinden. Die Kontinuität der Veränderung ist eine zwingende Konsequenz aus der L EIBNIZ’schen Bestimmung der Veränderung, nämlich als Übergang in den kontradiktorischen Zustand. Dabei heißt „Kontinuität“ so viel wie: „Unmittelbarkeit“. Ist diese Kontinuität die Abwesenheit von Sprüngen, oder ist sie Unzerbrochenheit? RUSSELL formuliert es so: Trotz des Gesetzes der Kontinuität kann L EIBNIZ’ Philosophie als eine vollständige Absage an das Kontinuierliche beschrieben werden. (Russell 2002a, § 59, S. 129, mit Verweis auf GP, IV, S. 196) Die Monade ist kontinuierlich tätig. Ein solches kontinuierliches Tätigsein ist ein zusammenhängendes Tun, ein Unzerbrochenes. Was ist Bewegung? In seinem Manuskript Metaphysische Anfangsgründe der Mathematik aus dem Jahr 1715 bestimmt L EIBNIZ einige Grundbegriffe der Mathematik. Betrachten wir zunächst die Bewegung. Bewegung ist Veränderung:
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Wie kann Leibniz zum Begriff der veränderlichen Größe kommen? „Bewegung ist Veränderung der Lage. Etwas bewegt sich, wenn es seine Lage ändert und zugleich der Grund der Veränderung ist. Das Bewegte ist dem Ausgedehnten artverwandt (homogonum), denn auch der Punkt wird als beweglich angesehen.“ (MAM, S. 359 – Quelle: GM VII, 20) Zuvor sagt L EIBNIZ: „L AGE ist ein Modus des zugleich Existierenden. Sie beinhaltet deshalb nicht nur die Größe (quantitas), sondern auch die Qualität.“ (MAM, S. 355 – Quelle: GM VII, 18) Bewegung ist ein Übergang eines Existierenden von einem Modus in seinen kontradiktorischen Modus. Bewegung „beinhaltet“ die Größe (und die Qualität) und ist „homogen“ zum Ausgedehnten. Dabei darf das Ausgedehnte nicht mit der Ausdehnung verwechselt werden: „AUSDEHNUNG ist die [Großheit (magnitudo)] des Raumes. Es ist falsch, wie dies gemeinhin geschieht, die Ausdehnung mit dem Ausgedehnten zu verwechseln und sie als Substanz zu betrachten. Wenn die [Großheit] des Raumes gleichförmig kontinuierlich verringert wird, geht sie in den Punkt über, der keine [Großheit] hat.“ (MAM, S. 355 – Quelle: GM VII, 18) L EIBNIZ’ Kritik hier richtet sich natürlich gegen die Lehre von D ESCARTES.
Was ist Größe? Nun der Kernbegriff, der uns interessiert, die Größe. In einem erst 1998 publizierten39 Schriftstück von L EIBNIZ aus der Zeit um 1700 heißt es: Großheit ist das, was durch die Anzahl kongruenter Teile bezeichnet wird.
„Magnitudo est quod designatur numero partium congruentium.“ (Grosholz und Yakira 1998, S. 80)
Zuvor bekannt war nur: „[ G RÖSSE] oder [Großheit] heißt dasjenige, was an den Dingen einzig durch ihr gleichzeitiges Beisammensein (bzw. ihr gleichzeitiges Erfassen) erkannt werden kann. So kann nicht erkannt werden, was der Fuß, die Elle ist, wenn wir nicht tatsächlich etwas als Maßstab haben, das man dann auf anderes anwenden kann.“ (MAM, S. 355 – Quelle: GM VII, 18) „Anzahl“ ist ein arithmetischer, „Kongruenz“ ein geometrischer Begriff. L EIB NIZ ’ Begriff „Größe“ ist demnach ein Amalgam, eine Zusammensetzung, kurz: kein einfacher Begriff. 39
Ich danke H ERBERT B REGER für diesen Hinweis.
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2. Die Erfindung der stetig Veränderlichen durch Leibniz Größe (oder bei L EIBNIZ gleichbedeutend: Großheit) ist eine Art, wie wir die Dinge erkennen. Größe ist jene Art, die Dinge zu erkennen, bei der wir ein Beisammensein erfassen, ein Beisammensein z. B. mit einem „Maßstab“: Eine Streckenlänge wird als Größe erkannt, wenn wir sie mit einem „Maßstab“ vergleichen. In dem 1998 erstmals publizierten Text gibt L EIBNIZ ein Beispiel dazu:40 [. . . ] und daher wird die Größe eines Klafters mit sechs Fuß bezeichnet, denn Füße sind untereinander kongruent; oder durch die Zahl 72 Finger, wenn wir Finger als Maß nehmen, das der zwölfte Teil des Fußes ist. (Grosholz und Yakira 1998, S. 89, vgl. auch S. 80) Eine Größe ist demzufolge kein eigenes Wesen, keine Monade (Substanz), sondern Größe ist etwas an den Dingen, etwas, das wir erkennen. Ontologisch gesprochen (L EIBNIZ sagt das dort nicht): Größe ist ein Attribut. Aber es ist ein reichhaltiger Begriff, er „schwebt zwischen Geometrie und Arithmetik“l,41 . Wir halten noch fest: Im Begriff „Größe“ ist der Begriff „Anzahl“ enthalten. Würde L EIBNIZ extensional denken, folgte daraus: Für ihn wäre „Anzahl“ fundamentaler als „Größe“. Doch so wird L EIBNIZ kaum gedacht haben. Zusätzlich erkennen wir: Eine Größe wird durch irgendeine Zahl gemessen, nicht etwa durch eine bestimmte. Denn die gemessene Zahl hängt vom angelegten Maßstab ab. G ROSHOLZ und YAKIRA sprechen daher an dieser Stelle vom Begriff „allgemeine Zahl“ (numerus generalis).m Kann Größe veränderlich sein?
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Die einfachen Substanzen – die Monaden – und damit „die wahren Atome der Natur“, „die Elemente der Dinge“, sind in Veränderung begriffen. Und zwar beständig. Diese Veränderung, so haben wir bei L EIBNIZ gelesen, ist nichts Größenartiges (Quantitatives). Wenn es Größe gibt (sonst hätte L EIBNIZ diesen Begriff nicht bestimmt), jedoch nicht an den einfachen Substanzen, dann kann es sie nur an den zusammengesetzten Substanzen geben: Nach L EIBNIZ hat nur Zusammengesetztes Größe. (Monaden haben keine Größe.) Wenn nun aber die einfachen Substanzen dadurch gekennzeichnet sind, dass sie in beständiger Veränderung begriffen sind, ist die Fragestellung unausweichlich: Sind auch die Zusammengesetzten in Veränderung begriffen? Oder, vorsichtiger: Gibt es Veränderung auch am Zusammengesetzten? Und in nahe liegender Weise weiter gefragt: Gibt es Veränderung an der Größe? Gibt es veränderliche Größen? l m 40 41
Grosholz und Yakira 1998, S. 80 Vgl. Grosholz und Yakira 1998, S. 80. Weitere Beispiele folgen auf S. 85. G ROSHOLZ und YAKIRA nennen ihn daher „algebraisch“ (Grosholz und Yakira 1998, S. 80).
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Wie kann Leibniz zum Begriff der veränderlichen Größe kommen?
Beispiel einer veränderlichen Größe
L EIBNIZ betrachtet viele Beispiele veränderlicher Größen. Das werden wir noch näher studieren. Bleiben wir aber bei dem Text, den wir gerade zur Hand haben. Wir lasen gerade: S. 75 „Wenn die [Großheit] des Raumes gleichförmig kontinuierlich (aequabiliter continue) verringert wird, geht sie in den Punkt über, der keine [Großheit] hat.“ (MAM, S. 355 – Quelle: GM VII, 18) Die Großheit (oder, bei L EIBNIZ gleichbedeutend: die Größe) des Raumes kann verringert werden: ein Beispiel einer veränderlichen Größe. Der Raum ist eine veränderliche Größe – oder jedenfalls eine Größe, die verändert werden kann. Wir werden, wie gesagt, noch einige Veränderliche mehr bei L EIBNIZ sehen. Der Begriff der veränderlichen Größe bei Leibniz
Wir haben gesehen: Für L EIBNIZ ist es ganz natürlich, man möchte sogar sagen: zwingend, bei den Größen zu fragen, ob sie veränderlich sind oder nicht. Einfach deshalb, weil für L EIBNIZ die „wahren Atome der Natur“, die „Elemente der Dinge“ in beständiger Veränderung sind, ergibt sich ganz von selbst die Frage, inwieweit sich diese Eigenschaft veränderlich von den einfachen Substanzen auf die Zusammengesetzten überträgt. Dass L EIBNIZ diesen Aspekt der Veränderung einer Größe ganz selbstverständlich thematisiert, haben wir an einem ersten Beispiel gesehen. Daran schließt sich für uns sofort die Frage an: Hat L EIBNIZ den Begriff „veränderliche Größe“ ausdrücklich gebildet? Mir ist davon nichts bekannt. L EIBNIZ betrachtet „veränderliche Größen“, er verwendet sie auch sehr maßgeblich in mathematischen Konstruktionen – das werden wir gleich sehen –, aber eine Bestimmung des Begriffs „veränderliche Größe“ kenne ich von L EIBNIZ nicht. Aber vielleicht ist das gar nicht überraschend? Da für L EIBNIZ der Begriff der Veränderung ein solch grundlegender ist, versteht es sich ganz von selbst, ihn immer in die Betrachtung einzubeziehen. Es versteht sich FÜR L EIBNIZ ganz von selbst, veränderliche Größen zu betrachten.42 Wir können als erstes Ergebnis festhalten: In der L EIBNIZ’schen Denkwelt ist es ganz natürlich, beim Studium von Größen nach ihrer Veränderlichkeit zu fragen. Ab S. 137 wird dieses Thema nochmals aufgegriffen. 42
H ARTMUT H ECHT formuliert es so: Bei L EIBNIZ wird „der Geometrie ein neuer Größenbegriff unterlegt [. . . ]. Das Bestimmende im Begriff der Größe ist nun nicht mehr ihr extensives Moment, die Ausdehnung, sondern es sind jene in der Bewegungstheorie bezüglich Raum, Zeit und Bewegung entdeckten intensiven Entitäten, deren Wesen sich in Ordnungsrelationen von Zahlen entschlüsseln lässt [. . . ]“ (Hecht 1991b, S. 137)
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2. Die Erfindung der stetig Veränderlichen durch Leibniz LEIBNIZ’ BEGRIFF(E) VON (RAUM UND) ZEIT S. 37, Veränderung bedeutet ein Früher und ein Später. Veränderung verlangt nach der Anm. 23 Zeit: ohne Zeit keine Veränderung. Mit der Veränderung ist auch die Zeit angespro-
chen. Deshalb sei hier kurz auf L EIBNIZ’ revolutionäre Bestimmung des Begriffs Zeit (und auch Raum) eingegangen. Nach der umfänglichen begrifflichen Vorarbeit, die wir dafür schon geleistet haben, fällt uns dieses Ergebnis jetzt leicht – und es ist ein wirklich spektakuläres Ergebnis. S. 73
Monaden sind „Wahrnehmungen und ihre Veränderungen“. In dieser Bestimmung setzt L EIBNIZ somit die Zeit voraus: ohne Zeit keine Veränderung. Was aber ist nach L EIBNIZ die Zeit? „Zeit erkennen wir daran, sagt L EIBNIZ, dass von demselben Veränderung ausgesagt werden kann. Dass es dasselbe ist und bleibt, ist eine notwendige Bedingung gegen das heraklitische »Alles fließt«.“ (Schepers 2010, S. 24) Wohl erst Mitte der 1680er Jahre gelangt L EIBNIZ zu der Bestimmung, Raum und Zeit seien keine Wesenheiten, „Substanzen“ („absoluter“ Raum, „absolute“ Zeit), sondern „Relationen“, nämlich Ordnungen.43 In einer L EIBNIZ’schen Formulierung von 1702/4: „Zeit ist die kontinuierliche Ordnung der Existierenden gemäß ihrer Veränderungen.“ (Schepers 2010, S. 24) Zeit ist also Ordnung, genauer: eine Ordnung, welche dem „Gesetz der Kontinuität“ genügt. Was RUSSELL daran betont: Zeit ist relational (nicht: substanzial). Die Ordnung der Zeit besteht aus Relationen zwischen Prädikaten (während die Ordnung des Raumes aus Relationen zwischen Substanzen besteht.)n Wenn aber Zeit (wie Raum) nicht absolut ist, ist sie nicht „als eigene Kreatur“o vom Gott, zusammen mit der Welt, erschaffen, sondern muss „als durch das Handeln der Substanzen konstituiert begriffen werden.“p Klartext: Die Monaden erzeugen Zeit und Raum, und zwar durch ihr kontinuierliches Tätigsein, durch ihre „Wahrnehmungen und Veränderungen“. S CHEPERS wertet zusammenfassend: n 43
Vgl. Russell 2002a, § 21, S. 58.
o
Schepers 2010, S. 27
p
Schepers 2010, S. 27
Wie RUSSELL moniert, überwand L EIBNIZ gleichwohl nicht die Position der traditionellen Subjekt-Prädikat-Logik. Denn nach RUSSELL genügt diese traditionelle Form der Logik nicht, L EIB NIZ ’ Ziel zu erreichen und seine Metaphysik auf die Logik zu begründen – sondern dazu bedürfe es einer Logik mit Relationen: Der Satz »Es gibt viele Monaden.« fällt nicht unter die Subjekt-Prädikat-Form. (Russell 8 1999, S. 603 – Quelle: Russell 2 1961, S. 575; zuerst in Russell 2002a, § 64, S. 136, grundsätzlich in Russell 2002a, § 10, S. 15) Freilich ließe sich RUSSELL hier erwidern, sein gegen L EIBNIZ ins Feld geführter Satz sei kein logischer, sondern ein existenzialer, ein empirischer also.
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Leibniz’ Begriff der Zahl „Dass Substanzen nicht in der Zeit und nicht im Raum handeln, sondern indem sie handeln allererst die Ordnungen konstituieren, die wir als Raum und Zeit begreifen, verlangt unserem Denken eine Art kopernikanische Wende ab.“ (Schepers 2010, S. 31) Neben dieser subjektiven Zeit (und dem subjektiven Raum) muss es bei L EIB NIZ auch noch eine objektive Zeit (und einen objektiven Raum) geben. Dies folgert
RUSSELL beispielsweise daraus, dass es neben der wirklichen Welt auch noch viele mögliche Welten gibt (im Verstand des Gottes), und diese müssen nach der Schöpfung, in anderer Weise als zuvor, weiter bestehen.q LEIBNIZ’ BEGRIFF DER ZAHL Für Eiligere: Das Durcharbeiten dieses Abschnitts ist nicht Voraussetzung für die Lektüre der L EIBNIZ’schen Begründungen der Integral- (ab S. 101) wie der Differenzialrechnung (ab S. 111). DER JUNGE LEIBNIZ WAR PYTHAGOREER P YTHAGORAS (ca.−570–ca.−500) wird der Satz zugeschrieben: „Alles ist Zahl.“ Da es schriftliche Aufzeichnungen philosophischer Lehren erst zwei bis drei Generationen nach P YTHAGORAS gibt,r ist dieser Ausspruch unbelegbar und also eher Mythos. (Natürlich wird auch die Existenz des P YTHAGORAS bezweifelt,44 doch ist dies eine Mindermeinung.45 ) A RISTOTELES (−384–−322) berichtet als Lehre der Pythagoreer, „dass die Zahlen die Dinge selbst seien“s , und nimmt dies zum Anlass für Kritik: „Die sogenannten Pythgoreer also handeln von fernerliegenden Prinzipien und Elementen als die Naturphilosophen. Grund dafür ist, dass sie die Prinzipien nicht von den Sinnesdingen ableiteten; denn die mathematischen Dinge sind ohne Bewegung – ausgenommen diejenigen, von denen die Astronomie handelt.“ (Aristoteles, Metaphysik, 989b, S. 41) Als originale Aussage der (jüngeren) Pythagoreer gilt das von I AMBLICHOS (ca. 250– ca. 330) überlieferte Fragment: „Und wirklich hat alles, was erkannt wird, Zahl. Denn es ist unmöglich, dass ohne diese irgendetwas im Denken erfasst oder erkannt wird.“ (Capelle 9 2008, S. 395) q 44
Vgl. Russell 2002a, § 74, S. 152.
r
Vgl. Capelle 9 2008, S. 67.
s
Aristoteles, Metaphysik, 987b, S. 35
Das berichtet Geyer 1995, S. 63 f.
45
„Sowenig an der historischen Existenz des P YTHAGORAS zu zweifeln ist, so dürftig sind die wirklich sicheren Nachrichten über ihn und seine Philosophie.“ (Capelle 9 2008, S. 67)
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2. Die Erfindung der stetig Veränderlichen durch Leibniz L EIBNIZ greift diese Grundposition des P YTHAGORAS auf und schreibt in einem frühen Text (aus dem Jahr 1677): „Nichts aber gibt es, das der Zahl nicht unterworfen wäre. Die Zahl ist daher gewissermaßen eine metaphysische Grundfigur und die Arithmetik eine Art Statik des Universums, in der die Kräfte der Dinge untersucht werden. Schon seit den Zeiten des P YTHAGORAS sind die Menschen davon überzeugt, dass die Zahlen die tiefsten Geheimnisse in sich bergen.“ (AAC, S. 43 – Quelle: GP VII, 184)
ONTOLOGISCH GEFRAGT: WAS IST DIE ZAHL? Da L EIBNIZ’ Denken metaphysisch begründet ist, fragen wir als Erstes: Was ist dem reifen L EIBNIZ zufolge die „Zahl“? L EIBNIZ bestimmt die „Zahl“ als eine „Eigenschaft der Dinge“, und zwar als eine „ursprüngliche und vom Körper untrennbare“t Eigenschaft – genau wie „Ausdehnung“, „Dichtigkeit“, „Gestalt“. L EIBNIZ nennt dies „primäre“t Eigenschaften. Die „Eigenschaften [sind] nur Modifikationen der Substanzen“u , und „der Verstand [fügt] zu ihnen [den Substanzen] noch die Relationen hinzu“u . Die Zahlen sind an den Körpern, an wirklichen Dingen also. Aber sind die Zahlen selbst etwas Wirkliches? Nein: „Vielleicht“ sind Zahlen „nur Relationen und bestehen nur in Beziehung auf den Verstand. [. . . ] Obgleich jedoch die Relationen aus dem Verstande stammen, sind sie doch nicht ohne Grund und Realität.“ (NE, Zweites Buch, Kapitel XII, § 3, S. 127 – Quelle: GP V, 132)
S. 33
Wie „Zeit“, „Ausdehnung“, „Bewegung“, „Kontinuum“ sind auch die „Zahlen“ Idea˜ le. Das wiederum heißt, sie bringen „Möglichkeiten zum Ausdrucke“v . Sie sind keine Wirklichkeiten, keine Gegenstände, sondern nur an diesen. Jedenfalls gilt für den reifen L EIBNIZ: „Zahlen“ sind nicht selbstständige Wesenheiten, genau wie bei D ESCARTES. BEGRIFFLICH GEFRAGT: WIE IST „ZAHL“ BESTIMMT?
S. 76
Wir wissen schon: Der Begriff „Zahl“ ist bei L EIBNIZ im Begriff „Größe“ enthalten. L EIBNIZ’ allgemeiner Begriff der Zahl lautet nun in Kurzform: Zahl ist das zur Einheit Artgleiche.
„Numerus est homogenum unitatis.“ (C, S. 566)
Oder ausführlicher in einem späten Text (aus dem Jahr 1715): t
NE, Zweites Buch, Kapitel VIII, § 9, S. 107 – Quelle: GP V, 117 u NE, Zweites Buch, Kapitel XII, § 3, S. 127 – Quelle: GP V, 132 v HS, II, S. 401 – Quelle: GP IV, 568; vgl. auch GP IV, 491.
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Leibniz’ Begriff der Zahl Daraus wird deutlich, dass die Zahl im Allgemeinen – natürliche, gebrochene, rationale, surdische, Ordnungs-, transzendente – durch einen allgemeinen Begriff so definiert werden kann, dass sie zur Einheit artgleich ist oder sich zur Einheit verhält wie die Gerade zur Geraden.
„Ex his manifestum est, Numerum in genere integrum, fractum, rationalem, surdum, ordinalium, transcendentem generali notione definiri posse, ut sit id quod homogeneum est Unitati, seu quod se habet ad Unitatem, ut recta ad rectam.“ (GM VII, 24; ähnlich S. 31.)
Auch diese Formulierungen wurden erst postum veröffentlicht. Sie konnten daher im Werdegang der analytischen Theoriebildung keine Rolle spielen. Artgleich Was versteht L EIBNIZ unter „artgleich“? In dem genannten späten Text aus dem Jahr 1715 bestimmt er diesen Begriff wie folgt: „Artgleich sind zwei Elemente, wenn man zwei andere nennen kann, die ihnen gleich und untereinander ähnlich sind: Es seien A und B gegeben, und es lasse sich L = A und M = B derart annehmen, dass L und M einander ähnlich sind, dann nennt man A und B artgleich.“ (MAM, S. 357) Und dazu gehörig: „Was dieselbe Qualität hat, ist ähnlich. Wenn somit zwei ähnliche Dinge verschieden sind, so können sie nur in direkter Gegenüberstellung voneinander unterschieden werden.“ (MAM, S. 357) Das ist nun aber falsch. Anders gesagt: Diese Bestimmung von „artgleich“ gilt nicht für die Arithmetik, sondern nur für die Geometrie – woher L EIBNIZ auch sein erläuterndes Beispiel nimmt. Als ein Beispiel für Ähnlichkeit gibt er das zweier gleichwinkliger Dreiecke: Sie haben proportionale Seiten, und „dann sind notwendig die Dreiecke einander ähnlich, da sie auf ähnliche Weise bestimmt werden.“w Für die Arithmetik aber hat L EIBNIZ’ Bestimmung der Artgleichheit keine Gültigkeit. Denn „Zahlen“ haben keine „Qualität“ – auch nicht zufolge jener Bestimmung, die L EIB NIZ hier gibt: „QUALITÄT aber ist das, was sich an den Dingen erkennen lässt, wenn man sie einzeln betrachtet, ohne dass sie in gleichzeitigem Beisammensein gegeben sein müssen. Es sind solche Attribute, die sich aus der Definition oder durch verschiedene in ihnen enthaltene Modifikationen erklären lassen.“ (MAM, S. 355) Eine „Zahl“ hingegen ist kein „Ding“, sondern – und das sagt L EIBNIZ klar – „eine Eigenschaft der Dinge“. An der einzelnen „Zahl“ lässt sich nichts „erkennen“. „Zahlen“ lassen S. 80 bei sich nur zueinander in Beziehung setzen. Anm. t w
MAM, S. 357
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2. Die Erfindung der stetig Veränderlichen durch Leibniz
So bleibt das Urteil: L EIBNIZ’ allgemeine Bestimmung von „Zahl“ scheitert an seinem Rückgriff auf den – ungeeignet bestimmten – Begriff der „Ähnlichkeit“ (und dann, in der Folge, den der „Artgleichheit“).
L EIBNIZ möchte einen ganz allgemeinen Begriff der Zahl vorlegen. Dieser Begriff soll sämtliche Zahlen umfassen, von den „natürlichen“ bis zu den „transzendenten“. Wichtig: L EIBNIZ fordert von der „Zahl“ nicht, sie müsse mit der „Einheit“ „kommensurabel“ sein! Dadurch – nur dadurch – könnte es ihm gelingen, die bisS. 100, her bloße Behauptung der Rechenmeister, auch die „Surdischen“ seien „Zahlen“, Anm. 75 begrifflich zu fassen. L EIBNIZ möchte den Zahlbegriff der Rechenmeister formulieren.
S. 458, 501
ab S. 559
L EIBNIZ versucht sich hier an einer mathematischen Begriffsbestimmung. Erst im Jahr 1872 wird es den Mathematikern gelingen, eine wirkliche mathematische Begriffskonstruktion zu geben – also eine, die (neuere) mathematische Begriffe nutzt. Diese aber mussten erst erfunden werden. Etwas Vergleichbares wie L EIBNIZ hier zum Begriff der analytischen Zahl leistet die heutige Mathematik nur mittels der axiomatischen Definition der „reellen“ Zahlen und also in einer extensionalen Perspektive. Konstruktiv hingegen, also in intensionaler (und damit: einer der L EIBNIZ’schen Betrachtung näheren) Perspektive, werden heutzutage die „natürlichen“, die „ganzen“, die „rationalen“ und schließlich die „reellen“ Zahlen in je eigener Weise (und aufeinander aufbauend) definiert. Bemerkt sei: Selbst L EIBNIZ’ allgemeiner Zahlbegriff umfasst nicht die „negativen“ Zahlen (und erst recht nicht die „komplexen“). Ein Rettungsversuch für „artgleich“
S. 86
Worauf wollte L EIBNIZ bei seiner Begriffsbestimmung von „Zahl“ hinaus? Das lässt sich an dem erkennen, wie L EIBNIZ die einzelnen „Zahlen“ „bestimmt“ denkt. Schon E UKLID hat das heute so genannte Verfahren der „Wechselwegnahme“ für ‚Streckenlängen‘ wie auch für „Zahlen“x eingeführt. Wir werden gleich genauer darauf eingehen. Wenn man nun alles das als „artgleich“ verstünde, was diesem einen Verfahren (bei E UKLID sind es zwei) unterworfen werden kann, so wäre L EIBNIZ’ Bestimmung von „Zahl“ haltbar und umfasste auch das, woran L EIBNIZ offenkundig dachte. Aber natürlich ist eine solche Art der Begriffsbestimmung keine L EIBNIZ’sche Denkweise, denn es handelt sich hierbei um eine ‚relationale‘ Bestimmungsweise und nicht um eine ‚substanziale‘, wie sie für L EIBNIZ einzig akzeptabel ist.
Reflexion Auf den ersten Blick könnte man L EIBNIZ’ Bestimmung p erstaunlich finden: Wie verhält sich denn eine „surdische Zahl“ (sagen wir: 2) zur Einheit? Schon bei E UKLID ist nachzulesen, dass ein solches „Verhältnis“ kein „Verhältnis“ von „Zahlen“ ist.y Indem L EIBNIZ dennoch jegliches „Verhältnis“ zweier Artgleicher „Zahl“ nennt, überschreitet er die dem Zahlbegriff in der Antike gezogenen Grenzen. x
Vgl. Euklid, X.2, S. 214; VII.1, S. 142
y
Euklid, X.7, S. 219
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Leibniz’ Begriff der Zahl Aber: Mehr als eine neue Benennung hat L EIBNIZ für die „Surdischen“ nicht zu bieten. Das Was der „Surdischen“ bleibt das, was es schon in der Antike gewesen wäre, hätte sie sich dieses Namens bedient: ein nicht durch „Zahlen“ ausdrückbares „Verhältnis“. Für die rein arithmetisch erzeugten „Surdischen“ ist mathematisch durch L EIBNIZ’ neue Bezeichnung nichts gewonnen, außer eben der neue Ehrentitel „Zahl“. Doch es gibt nicht nur p die (in der neuzeitlichen Rechenpraxis erzeugten) „Surdischen“. So kann etwa 2 auch geometrisch konstruiert werden: als Diagonale des Quadrats mit der Seitenlänge 1. Und schon vor L EIBNIZ hatten die neuzeitlichen Mathematiker gegenüber der Antike völlig neue geometrische Probleme erfolgreich behandelt. Sie hatten sogenannte „Rektifikationen“ durchgeführt, d. h. etwa „krumme Linien“ in gleich lange gerade verwandelt, beispielsweise den Kreisumfang. Die so konstruierten geraden Linien aber waren in der Regel nicht durch „Zahlen“ ausdrückbar. Hier nun, in der Geometrie, wird L EIBNIZ’ neuer Zahlbegriff wirksam: Erst durch L EIBNIZ’ Neufassung des Zahlbegriffs werden diese geraden Längen (im Verhältnis zur Einheitslänge) zu „Zahlen“.46 Dasselbe gilt für die Resultate des von L EIBNIZ erfundenen allgemeinen Verfahrens der (bestimmten) Integration. Auch dort werden tatsächlich neue geometri- S. 105 sche Gegenstände (Längen, Flächeninhalte ) konstruiert, die zur Einheit artverwandt sind und (oft) nicht durch „Zahlen“ im herkömmlichen Verständnis ausgedrückt werden können. Auch dies sind nach L EIBNIZ’ Neufassung des Zahlbegriffs nun „Zahlen“. Aber auch arithmetisch hatten die neuzeitlichen Mathematiker die Antike hinter sich gelassen, indem sie der Antike völlig fremde Gegenstände bildeten und untersuchten: unendliche Rechenausdrücke (unendliche Summen wie auch unendliche Produkte). Indem L EIBNIZ nun für die (vergleichsweise neuen) arithmetischen Objekte „unendliche Summe“ jene (neue) Eigenschaft exakt bestimmte, die wir „Konvergenz“ nennen, entwickelte er eine neuartige Bestimmungsweise ab S. 101 für Zahlartiges – und seinem Zahlbegriff zufolge durften diese neuen Gegenstände nun ebenfalls „Zahlen“ genannt werden: wenn sie nur beliebig genau bestimmbar sind. Genau so aber legte L EIBNIZ seine Konvergenzbetrachtung an. Für all diese neu konstruierten Streckenlängen (die die antike Geometrie nicht kannte) war L EIBNIZ’ Bestimmung wirksam: Sie waren dieser neuen Bestimmung zufolge „Zahlen“ – denn jede Streckenlänge ist zur Einheitslänge „artgleich“. Kurz: Nicht den Rechenmeistern kam L EIBNIZ mit seiner Neufassung des Zahlbegriffs zu Hilfe (deren Praxis hatte nicht auf die Theorie gewartet), sondern den Mathematikern. Nicht nur die „Surdischen“ (oder „Irrationalen“) wurden von ihm – wenn auch nicht mit letztem Erfolg – in neuer Weise begrifflich gefasst; als viel entscheidender erwies es sich, dass dies auch für die (von ihm nicht so genannten) geometrischen „Grenzwerte“ gelten sollte: diese wurden zu „Zahlen“ geadelt – und das, obwohl für die Letzteren doch oft gilt: 46
So auch Breger (2015), S. 2, 5.
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2. Die Erfindung der stetig Veränderlichen durch Leibniz „[. . . ] ihre Dezimaldarstellung endet nicht. In Übereinstimmung mit den Unendlichkeitsbegriffen des 17. Jahrhunderts haben sie also überhaupt keine Dezimaldarstellung.“ (Breger (2015), S. 547 )
S. 125
Der hier angesprochene Begriff des Unendlichen ist das „aktuale“ Unendlich. Die nicht endliche Dezimaldarstellung einer Zahl, wenn sie als bestimmter Gegenstand gedacht wird, ist ein solches „aktuales“ Unendlich. Auf L EIBNIZ’ zögerliche Zuerkennung des Titels „transzendent“ für „Zahlen“ gehe ich noch gesondert ein. Einheit Zur Vervollständigung seiner Zahlbestimmung fehlt L EIBNIZ noch die Klärung der Frage: Was ist unter „Einheit“ zu verstehen? Eine Antwort auf diese Frage findet sich nicht auf den ersten Blick. Über die umfangreiche Schrift Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand schreibt F ICHANT, dort werde der Begriff der Einheit „als Grundbegriff“ (im Sinne von: Anfangsbegriff) behandelt „und nicht definiert“z . Für den Sonderfall der „Einheit“, die „Längeneinheit“ (im Sinne einer „genau bestimmten Länge“), klingt das wie folgt: „Die Idee einer genau bestimmten Länge lässt sich nicht fixieren. Was ein Zoll oder ein Fuß ist, lässt sich rein geistig (par l’esprit) nicht begreifen: vielmehr kann man die Bedeutung dieser Namen nur durch wirkliche Maße bewahren, die man als unveränderlich annimmt und an denen man sie stets wiederfinden kann.“ (NE, Zweites Buch, Kapitel XIII, § 4, S. 130 – Quelle: GP V, 134) Dazu passend aus L EIBNIZ’ Nachlass: „So kann nicht erkannt werden, was der Fuß, was eine Elle ist, wenn wir nicht tatsächlich etwas als Maßstab haben, das man auf Anderes anwenden kann. Was ein Fuß ist, kann deshalb durch keine Definition hinlänglich erklärt werden, d. h. durch keine, die nicht wiederum eine Definition solcher Art enthielte. Denn mögen wir auch sagen, ein Fuß sei zwölf Zoll, so erhebt sich die gleiche Frage nach dem Zoll, und wir haben daraus keine größere Aufklärung erhalten; auch kann man nicht sagen, ob der Begriff des Zolls oder der des Fußes von Natur aus früher ist, da es ganz in unserem Belieben steht, welches Grundmaß wir nehmen wollen.“ (MAM, S. 355 – Quelle: GM VII, 18 f.) Am 5. August 1715 schreibt L EIBNIZ an L OUIS B OURGUET: z 47
Fichant 1998, S. 316 Vgl. auch S. 126.
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Leibniz’ Begriff der Zahl „Es ist richtig, dass der Begriff der Zahlen sich schließlich in den Begriff der Einheit auflöst, der selbst nicht weiter auflösbar ist und den man als die ursprüngliche Zahl ansehen kann.“ (HS, II, S. 485 – Quelle: GP III, 582) (Halten wir nebenbei fest: L EIBNIZ nennt hier die „Einheit“ eine „Zahl“. Damit ist die antike Position, wie sie E UKLID formuliert, verlassen.) S. 257 Was F ICHANT für die Neuen Abhandlungen über den menschlichen Verstand gesagt hat, dürfte also wohl für L EIBNIZ’ gesamtes Denken gelten: Der Begriff der Einheit ist dort ein undefinierbarer („nicht weiter auflösbarer“) Anfangsbegriff.
DAS VERFAHREN DER GRÖSSEN- UND DER ZAHLBESTIMMUNG Größenbestimmung Bei L EIBNIZ bestimmt die Zahl der („kongruenten“?) Teile die „Größe“. Wie wird S. 75 diese „Zahl“ bei einer „Größe“ bestimmt? L EIBNIZ gibt ein Beispiel: 1 Fuß sind 12 Daumen, ein Klafter sind 6 Fuß oder 72 Daumen; 1 Elle sind 1 + 21 Fuß oder 23 Fuß oder 1 Fuß + 6 Daumen oder 18 Daumen. Wenn also Fuß das Maß ist oder wenn damit die Einheit bezeichnet 1 ; wenn wird, wird ein Klafter 6, eine Elle wird 32 , ein Daumen wird 12 aber der Daumen das Maß oder die Einheit ist, wird ein Fuß 12, eine Elle wird 18, ein Klafter wird 72. Wenn l die Quadratseite ist, wird die p p Diagonale d wie l 2, oder wenn l 1 wird, wird d zu 2. (GM VII, 77) Allerdings kann man auch ohne eine „Einheit“, ohne ein Maß auskommen, wenn es um den Vergleich zweier Größen geht: Zwei Größen miteinander vergleichen (ohne ein angenommenes äußeres Maß) heißt, das Kleinere vom Größeren so oft wie möglich wegzunehmen, dann den Rest vom Kleineren ebenfalls so oft wie möglich und dann den zweiten Rest vom ersten dReste und so weiterzumachen, bis entweder kein Rest übrig bleibt oder es klar wird, dass das weitere Fortschreiten der Quotienten oder der jeweils abzuziehenden Zahlen, das ich die vergleichende Quotientenreihe nenne, unendlich ist. (Vgl. Rescher 1955, S. 110, Anmerkung 12)
„Comparare duas quantitates per se (sine extrinsea mensura assumta) est subtrahere minorem à majore quoties fieri potest, et residuum à minore, etiam quoties fieri potest, et residuum secundum à primo, idque continuare, donec vel nullum supersit residuum, vel appareat quæ sit futura progressio quotientium seu numerorum subtractionis cujusque in infinitum, quam voco seriem quotientium comparationis.“ (C, S. 566)
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2. Die Erfindung der stetig Veränderlichen durch Leibniz Es handelt sich hier um die bei E UKLID angeführte Methodea , welche heute als „Wechselwegnahme“ bezeichnet wird: (i) Das Kleinere K wird so oft vom Größeren G weggenommen, bis es nicht mehr geht. Ergebnis: G = n0 K + R1 , wobei n 0 eine natürliche Zahl ist und der „Rest“ R 1 auch = 0 sein kann, jedenfalls aber < K ist. (ii) Ist R 1 6= 0, geht es so weiter: R 1 wird so oft wie möglich vom größeren K weggenommen. Ergebnis: K = n 1 R 1 + R 2 (wobei vielleicht R 2 = 0 ist, jedenfalls aber R 2 < R 1 gilt). (iii) Ist R 2 6= 0, wird R 2 so oft wie möglich von R 1 weggenommen: R 1 = n 2 R 2 + R 3 , insgesamt also: G = n 0 K + R 1 = (n 0 n 1 + 1) R 1 + n 0 R 2 = (n 0 n 1 n 2 + n 0 + n 2 ) R 2 + (n 0 n 1 + 1) R 3 . (iv) usw.
ab S. 179
Die Folge n i natürlicher Zahlen nennt L EIBNIZ „vergleichende Quotientenreihe“. Ausdrücklich darf sie auch „unendlich“ sein. In diesem Fall heißen die beiden Größen G und K bei E UKLID „inkommensurabel“b . Aber selbst in diesem Fall gibt es (vielleicht unendlich viele) „Zahlen“, mit deren Hilfe die „Größe“ G (und durch Hilfe deren „Teile“ K , R 1 , R 2 , . . . ) bestimmt wird. Das konnte zwar schon E UKLID – aber erst L EIBNIZ schreckt hier nicht mehr zurück und konstituiert dennoch diesen Gegenstand „Zahl“ in seinem Denksystem. In L EIBNIZ’ Denksystem ist die „Zahl“ G durch die „vergleichende Quotientenreihe“ bestimmt – und diese kann auch unendlich sein. Das ist keine Kleinigkeit. Denn hier ergibt sich das „aktuale“ Unendlich als ein in L EIBNIZ’ Denksystem legitimes Objekt der Mathematik! Wenn eine beliebige „Zahl“ als etwas Bestimmtes betrachtet wird, ist sie ein „aktuales“ Unendlich. In dieser Form kommt also ein einzelnes „aktuales“ mathematisches Unendlich in L EIBNIZ’ Denksystem zutage! (Dass L EIBNIZ dies bewusst war, dürfte man wohl bezweifeln – nicht zuletzt angesichts jener Position, die er in der Auseinandersetzung mit J OHANN B ERNOULLI um die Existenz der „unendlich kleinen“ Zahlen bezog.)
Natürliche Zahl, Summe aus Einheiten
Offenkundig setzt das L EIBNIZ’sche Verfahren zur allgemeinen Größenbestimmung die Fähigkeit des Zählens (oder: die Kenntnis bzw. die Existenz der „natürlichen“ Zahlen) voraus: wenn ermittelt werden soll, wie oft die kleinere Größe K in der größeren G enthalten ist: G = n0 K + R1 . a
Vgl. Euklid, X.2, S. 214.
b
Vgl. Euklid, X.2, S. 214.
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Leibniz’ Begriff der Zahl n 0 ist eine natürliche Zahl. Das sagt L EIBNIZ auch ausdrücklich (L EIBNIZ schreibt nicht „natürlich“, sondern „ganz“ (integer), aber ich gebe „integer“ hier als „natürlich“ wieder): „[. . . ] die Größe selbst erfordert zu ihrer deutlichen Erkenntnis, dass man auf die natürlichen Zahlen (oder die anderen Zahlen, die man mit Hilfe der natürlichen bestimmt) zurückgeht und auf diese Weise die stetige [Größe], um eine deutliche Erkenntnis ihrer [Großheit] zu gewinnen, auf die diskrete [Größe] zurückführt.“ (NE, Zweites Buch, Kapitel XVI, § 4, S. 142, in Verbindung mit der Quelle GP V, 142 f.) Und direkt zuvor heißt es: „Auch gilt jene Definition, dass die Zahl eine Menge von Einheiten ist, nur für die natürlichen.“ (NE, Zweites Buch, Kapitel XVI, § 4, S. 142 – Quelle: GP V, 142) Diese letztgenannte Bestimmung in Beziehung zur Bestimmung der allgemeinen „Zahl“ setzt die Folgende: Natürliche Zahl ist eine dZahle, deren ohne Rest aufgehender Teil die Einheit oder eine Summe aus Einheiten ist.
„Numerus integer est cujus pars aliquota est unitas, seu summa unitatum.“ (C, S. 566)
Ohne den Begriff der „natürlichen“ Zahl funktioniert die Bestimmung der „Zahl“ einer „Größe“ nicht, auch nicht bei L EIBNIZ. Daher bedarf der Begriff der natürlichen Zahl besonderer Überlegung.
Das Problem der „Vervielfachung der Einheit“
Wie die allgemeine „Zahl“, so ist auch die „natürliche“ Zahl auf den Begriff der Einheit gegründet. „Einheit“ ist bei L EIBNIZ mutmaßlich ein Anfangsbegriff. Aber S. 85 wie entsteht aus der „Einheit“ eine „natürliche“ Zahl? L EIBNIZ’ Antwort lautet: durch Bildung einer „Summe“. Eine „natürliche Zahl“ S. 85 ist eine „Summe“ aus „Einheiten“. Was aber ist das: eine „Summe“ aus „Einheiten“? Oder so: Was ist mit dem Plural in dieser Bestimmung gemeint? Die „Einheit“ ist eine Idee, die sich auf ein wirkliches Ding bezieht. Sie macht dieses Ding zum „Maß“. „Einheit“ ist ein Etwas (eine „Eigenschaft“) an einem Körper und damit an einem „Ausgedehnten“. Das „Ausgedehnte“ aber lässt sich „kongruent“ vervielfachen, und damit seine „Eigenschaften“. So erhalten wir aus einem „Ausgedehnten“ mehrere „kongruente“ Ausgedehnte – und so aus einer „Einheit“ mehrere Kopien. Diese Kopien können wir „Einheiten“ nennen. Auf diese Weise haben wir die Einheit ‚vervielfacht‘. Was aber ist die „Summe“ solcher „Einheiten“? Die Antwort darauf gibt der Begriff der Addition.
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Die Addition bzw. die Summe
L EIBNIZ soll „recht divergierende Axiomatisierungen der elementaren Arithmetik probiert“c haben, die noch nicht sämtlich veröffentlicht sind. Geben wir eine L EIBNIZ’sche Bestimmung der „Addition“ wieder:48 „Die Addition ist eine Operation, bei welcher verschiedene Größen in einfacher und deshalb gleicher Weise so miteinander verbunden werden, dass sie eine mit jenen [artgleiche] Größe darstellen, welche Summe heißt.“ (Lenzen 2004, S. 21849 )
S. 80
Eine „Addition“ nach L EIBNIZ ist also nicht, wie heute, eine „zweistellige Operation“, die jedem Paar natürlicher Zahlen eine – bereits definierte – dritte natürliche Zahl zuordnet. „Addition“ nach L EIBNIZ ist vielmehr die Bildung eines neuen „Ganzen“.50 Wie die „Zahlen“ allgemein, so sind auch die „natürlichen“ Zahlen für L EIBNIZ keine Wesenheiten an sich (keine platonischen Ideen), sondern Konstruktionen des Verstandes und „untrennbar“ von den Wesenheiten.51 Leider wirft diese Bestimmung der Addition Probleme auf: (1) Woher nimmt der Verstand die „Summe“ einer solchen „Addition“? Die Summanden mögen ihm gegeben sein: als zwei „Eigenschaften“ – die von zwei Wesenheiten, wohl zwei „Körpern“, herrühren. Aber woher nimmt der Verstand dann bei seinem Vollzug der „Addition“ jenen „Körper“, dem die „Summe“ der beiden Summanden „untrennbar verbunden“ ist? – Ich kenne keine Antwort auf diese Frage, weder von L EIBNIZ noch von einem L EIBNIZ-Forscher (bei denen ich diese Frage auch nicht gefunden habe). Demnach sind wir zu keiner Antwort auf unsere Frage gelangt, was denn die „Summe“ zweier „Einheiten“ sei. (2) Ein weiteres Problem lautet: Wie lassen sich allgemeine Gesetze der Arithmetik formulieren UND BEWEISEN ? Wenn es kein Ganzes aus allen natürlichen Zahlen gibt, wie kann es dann wahre, beweisbare Sätze über „die“ natürlichen Zahlen geben? Auch dazu kenne ich keine Antwort von L EIBNIZ. F ICHANT hat an dieser Stelle den Begriff der vollständigen Induktion ins Spiel gebracht.d Beide Probleme ließen sich wohl lösen, wenn man sich auf eine Art Standardreihe der „(Ordinal-)Zahlen“ verständigte, aber meines Wissens ist bei L EIBNIZ davon nicht die Rede. Klar ist jedenfalls: Bei L EIBNIZ entstehen die „natürlichen“ Zahlen als Individuen: „Die verschiedenen Modi der Zahlen sind keiner anderen Verschiedenheit fähig als der des Mehr oder Weniger; darum sind es einfache Modi, wie die der Ausdehnung. [. . . ] von den Zahlen [kann man sagen, c 48 50
Lenzen 2004, S. 217
d
Vgl. Fichant 1998, S. 327.
Eine weitere folgt auf S. 97. 49 Knappere Bestimmungen finden sich in GM VII, 57, 79. Das betont auch Fichant 1998, S. 310. 51 So auch Fichant 1998, S. 315.
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Leibniz’ Begriff der Zahl dass sie] nicht allein an [Großheit] verschieden, sondern auch einander unähnlich sind.“ (NE, Zweites Buch, Kapitel XVI, § 5, S. 143, in Verbindung mit der Quelle GP V, S. 143) Und: „Man findet niemals eine Zahl, an der nichts als die Vielheit überhaupt zu bemerken wäre.“ (NE, Drittes Buch, Kapitel VI, § 32, S. 365 – Quelle: GP V, 303) So wird Zahlentheorie möglich: als Lehre von den Eigenschaften der natürlichen Zahlen. Problematisch scheint das vorletzte Zitat freilich, wenn man es als Antwort auf die Frage liest, ob eine Zahl „Teile“ habe. Denn wenn Zahlen „einfache“ Modi sind, können sie nicht „zusammengesetzt“ sein. Folglich hätten sie keine „Teile“. Jeden- S. 80 bei falls: Als „Ideale“ sind die „Zahlen“ nicht aus ihren „Teilen“ zusammengesetzt.52 Anm. v Zahlbestimmung Nun können wir das allgemeine Verfahren der Größenbestimmung auch auf „Zah- S. 85 len“ anwenden, auf „Zahlen“ nach der neuen, allgemeinen L EIBNIZ’schen Bestimmung. Dann erhalten wir „Teile“ der „Zahl“: als „vergleichende Quotientenreihe“! S. 81 Dies nun widerspricht dem vorletzten Langzitat, wonach „Zahlen“ „einfache“ Modi seien: nur des Mehr oder Weniger fähig. Sollen also n 0 K , n 1 R 1 , n 2 R 2 usw. nicht als „Teile“ der Zahl G im Sinne der „Zusammensetzung“ zu verstehen sein, sondern als, sagen wir, „arithmetische Merkmale“, als neue „Eigenschaften“ der „einfachen“ Modi, die keine „Teile“ dieser Modi sind? Es scheint: Zu L EIBNIZ’ Zahlbegriff besteht noch Klärungsbedarf. ZUR DEUTUNGSGESCHICHTE DES LEIBNIZ’SCHEN ZAHLBEGRIFFS Nicholas Rescher 1955 Im Jahr 1955 urteilt N ICHOLAS R ESCHER zu Beginn eines Artikels (unter Verweis auf das sechs Jahre zuvor erschienene Buch Die Entwicklungsgeschichte der Leibnizschen Mathematik während des Aufenthalts in Paris (1672–1676) des sehr bedeutenden L EIBNIZ-Forschers J OSEPH E HRENFRIED H OFMANN (1900–73)) wie folgt:53 Traditionell berichtet der Mathematikgeschichtler vom Fortschritt und übergeht mit mildtätigem Schweigen das, was ihm von seiner vor52 53
Siehe S. 90, Punkt i. H OFMANN hatte in der 1938/39 „nach dem Führerprinzip umgestalteten“ Berliner Akademie vom 17. November 1939 bis zu seiner Entlassung am 22. Juni 1945 – der er widersprach – die Leitung der L EIBNIZ-Kommission inne (Folkerts 2008, S. 26, 35, 41). R ESCHER war mit seinen Eltern vor dem deutschen Faschismus aus der Heimat geflohen.
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2. Die Erfindung der stetig Veränderlichen durch Leibniz teilhaften Position in der nachfolgenden Entwicklung aus als Fehltritt erscheint. Dies ist die vielleicht beste Erklärung für die Tatsache, dass L EIBNIZ’ Sicht von Größe, Zahl und Unendlichkeit sehr gründlich (pretty much) der Vergessenheit anheimgefallen sind. (Rescher 1955, S. 108)
S. 80
S. 85
Auch das ein Jahr später erschienene Buch Klassische Ontologie der Zahl von G OTTFRIED M ARTIN e vermochte R ESCHERs Kritik nicht zu entkräften. R ESCHER zitiert die oben bereits wiedergegebene Kurzform der Bestimmung von „Zahl“ und verweist nur auf jene Quelle, die danach angeführt wurde. Bei Breger 1986, S. 131, Anmerkung 76 findet sich eine Erwähnung jener ausführlicheren Quelle, ausdrücklich gibt B REGER sie jetzt in Breger (2015), S. 2. In MAM, S. 364 f. ist just diese Passage ausgelassen! R ESCHER zitiert und erläutert dann ausführlich das Verfahren der „Wechselwegnahme“, mit dem L EIBNIZ die „Größen“ (und demzufolge auch die von ihm neu geadelten „Zahlen“) bestimmt. Bertrand Russell 1900: Zahlen haben keine Teile
S. 80
Bei seinem Urteil überging R ESCHER den Deutungsversuch des L EIBNIZ’schen Zahlbegriffs durch B ERTRAND RUSSELL aus dem Jahr 1900 mit mildtätigem Schweigen, wenngleich er ausdrücklich auf das betreffende Buch verwies.f B ERTRAND RUSSELL (1872–1970) gefällt an L EIBNIZ sicher, dass dieser Zahlen ontologisch als „Relationen“ fasst. Für wie wichtig RUSSELL die Relationen hält, lässt sich in seiner (zusammen mit A LFRED N ORTH W HITEHEAD (1861–1947) verfassten) dreibändigen Principia Mathematica von 1910–13 nachlesen.54 In seiner Relationenlogik pflegt RUSSELL freilich nicht nach dem Was der Relata zu fragen, also nach dem Was jener Gegenstände, deren Relationen betrachtet werden. Eine solche Betrachtungsweise wie die RUSSELL’sche gehört zum „extensionalen“ Standpunkt.55 RUSSELL rekonstruiert L EIBNIZ’ Zahlbegriff etwa folgendermaßen: (i) Nach allgemeiner Meinung sind bei L EIBNIZ nur wirkliche Dinge aus „Teilen“ „zusammengesetzt“, nicht jedoch ideale.56 Im Idealen gibt es „Teile“ nur der Möglichkeit nach, dort geht das „Ganze“ seinen „Teilen“ vor. So schreibt L EIBNIZ am 11. Oktober 1705 an DE V OLDER von Raum und Zeit (in seinem Sinne also: Idealem): Daher sind darin keine Teile enthalten, es sei denn vom Verstand gemachte, und der e
Martin 1956, S. 80–88
f
„Itaque nullae ibi divisiones nisi quas mens facit, et pars toto pos-
Vgl. Rescher 1955, S. 108, Anmerkung 1.
54
Wir konnten das auch bereits in Anmerkung 43 auf S. 78 ahnen. Interessanterweise will RUSSELL die Relationen ursprünglich „in erster Linie als intensionale, d. h. [als] durch ihre inhaltlichen Bestimmungen fassbare Gebilde betrachtet“ haben (Russell 1973, S. 89). 56 So auch Breger 1990, S. 57 f.
55
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Leibniz’ Begriff der Zahl Teil geht dem Ganzen nach. Demgegenüber gehen im Wirklichen die Einheiten der Vielheit voraus, und Vielheiten existieren nur durch dihree Einheiten. (Dasselbe gilt für Veränderungen, die nicht wirklich kontinuierlich sind.)
terior est. Contra in realibus unitates multitudine sunt priores, nec existunt multitudines nisi per unitates. [Idem est de mutationibus quae continuae revera non sunt.]“ (GP II, 279)
RUSSELL möchte bei L EIBNIZ unterscheiden zwischen „teilen“ und „auflösen“ : Die Unterscheidung zwischen der Zusammensetzung des Wirklichen (composition of what is actual) und der Auflösung des Idealen (resolution of what is ideal) ist daher von großer Wichtigkeit. Sie erklärt, was L EIBNIZ meint, wenn er sagt, ein Moment sei nicht Teil der Zeit [. . . ] und ein mathematischer Punkt kein Teil des räumlichen Kontinuums [. . . ] (Russell 2002a, § 61, S. 133) RUSSELL statuiert also einen Unterschied zwischen zusammensetzen/teilen beim Wirklichen von (vereinigen?)/auflösen beim Idealen. (ii) Für die Zahlen, Ideales also, zieht RUSSELL daraus die folgende bemerkenswerte Konsequenz: ˜ Hinsichtlich der Zahlen ist es offenbar, dass die Einheit wie auch die d e anderen natürlichen Zahlen den Brüchen vorgehen. [. . . ] L EIBNIZ wäre besser gefahren, wenn er kühn gesagt hätte, dass Zahlen [. . . ] zwar größer oder kleiner sein können, jedoch keine Teile haben. Hinsichtlich der Brüche sagt er das, und das möchte er in all diesen Fällen sagen. (Russell 2002a, § 60, S. 13157 )
Und in der Tat schreibt L EIBNIZ, die Zahlen seien als „einfache Modi“ „keiner anderen Verschiedenheit fähig als der des Mehr oder Weniger“. Wenn Zahlen Rela- S. 89 tionen sind (und das sagt L EIBNIZ in der Tat), passt dieses Resultat, denn wie sollte S. 80 eine Relation „geteilt“ sein? (Aber auch: Wie sollte man eine Relation „teilen“?) Allerdings ist es höchst problematisch, die Zahlen als „einfache“ Modi zu fassen, wie es L EIBNIZ im Zitat auf S. 89 getan hat. Bestehen Zahlen, zumindest die natürlichen, denn nicht aus „Einheiten“, sind also zusammengesetzt? L EIBNIZ schreibt dazu im selben Buch 15 Seiten zuvor, die Zahlen 12 und 60 seien aus „einfachen Ideen“ „gebildet“:58 57
Die von RUSSELL angeführte Quelle ist L EIBNIZ’ bereits zitierter Brief vom 5. August 1715 an L OUIS B OURGUET: Die Einheit ist teilbar, aber nicht auflösbar; denn die Brüche – die Teile der Einheit sind –, haben weniger einfache Begriffe, weil die dnatürlichene Zahlen (weniger einfach als die Einheit) immer in den Begriffen der Brüche vorkommen.
58
„L’unité est divisible, mais elle n’est pas resoluble; car les fractions qui sont les parties de l’unité, ont des notions moins simples, parceque les nombres entiers (moins simples que l’unité) entrent tousjours dans les notions des fractions.“ (GP III, 583)
Es sei auch an L EIBNIZ’ Bestimmung der „natürlichen“ Zahlen erinnert: siehe ab S. 87.
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2. Die Erfindung der stetig Veränderlichen durch Leibniz „Die Modi sind entweder einfache (wie ein Dutzend, ein Schock, die aus einfachen Ideen derselben Art, d. h. aus Einheiten gebildet sind) oder [. . . ]“ (NE, Zweites Buch, Kapitel XVI, § 5, S. 127) Ist also ein Modus selbst dann „einfach“, wenn er aus Teilen derselben Art „gebildet“ ist? Sind „Einheiten“ in den Zahlen nur als Möglichkeit enthalten? – Das erscheint wenig plausibel. Eine Kritik
Das Grundproblem dieser Deutung durch RUSSELL besteht in ihrer Voraussetzung: in der kategorialen Unterscheidung zwischen Idealem und Wirklichem. Diese ist zwar, wie wir gelesen haben, durch Zitate gut belegt; gleichwohl ist sie der Monadologie zufolge ontologisch nicht haltbar.59 „Der göttliche Verstand ist die Region der ewigen Wahrheiten bzw. der Ideen, von denen sie abhängen; ohne ihn gäbe es daher in den Möglichkeiten nichts Reales und nicht nur nichts Existierendes, sondern auch nichts Mögliches.“ (M, § 43, S. 45 – Quelle: GP VI, 614) Der Verstand des Gottes ist also die „Region“ aller Wesenheiten, der idealen („Mögliches“) wie der realen („Existierendes“). Jene Wesenheiten, die „durchgängig miteinander verknüpft“g sind, bilden eine „Welt“. Diese Verknüpfungen sind nicht vom Gott geschaffen.60 Der Gott schafft unter den möglichen Welten zwar die beste – doch, und das ist jetzt entscheidend, nicht in dem Sinne, dass er sie allererst hervorbringt, sondern nur, indem er die geeignete auswählt: „Im göttlichen Verstande [streben (pretendre)] alle Möglichkeiten, nach dem Maße ihrer Vollkommenheit, zur Existenz“ (Leibniz 2 1982b, § 10, S. 17 – Quelle: GP VI, 603) Das heißt: Der Gott hat die „Möglichkeiten“ (Wesenheiten) nicht hervorgebracht. Sie sind („subsistieren“ , denn „existieren“ ist unzutreffend) folglich aus sich selbst heraus, die „Idealen“ wie die „Realen“. Der Gott hat einzig gewissen „Möglichkeiten“ „Wirklichkeit“ verliehen. Dieser Schöpfungsakt des Gottes bewirkt also g 59
M, § 39, S. 43 – Quelle: GP VI, 613 Diese Perspektive verdanke ich der Vorlesung von H ASSAN G IVSAN, im Sommer 2014. Freilich kann er für die folgende Darlegung nicht haftbar gemacht werden.
60
„Ich nenne Welt die ganze Folge und Ansammlung aller bestehenden Dinge, damit man nicht sage, dass verschiedene Welten zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten bestehen konnten; [. . . ] so bleibt es doch allemal wahr, [. . . ] dass es unendlich vie˜ le mögliche Welten gibt, von denen Gott die beste gewählt haben muss [. . . ]“ (T, § 8, Bd. 1, S. 219, 221 – Quelle: GP VI, 107)
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Leibniz’ Begriff der Zahl zwar den Unterschied zwischen Idealem und Realem; nicht jedoch hat er etwas mit dem Sein der Wesenheiten (der Idealen wie der Realen) zu tun. Denn diese Wesenheiten, diese „Möglichkeiten“ „streben“ – schon vor dem Schöpfungsakt – „nach Existenz“. Und demzufolge kann es keinen wesensmäßigen Unterschied zwischen Idealem und Realem geben: Die „Möglichkeiten“ (Wesenheiten) sind dem Schöpfergott vorgegeben.61 (Dies ist ein Geniestreich des metaphysischen Denkens: Durch diese Konstruktion wird der Gott von aller Urheberschaft des Bösen freigesprochen. Denn alle Möglichkeiten sind ihm vorgegeben, die guten wie die bösen. Ihm bleibt einzig die Entscheidung, nur dem wenigsten Bösen zur Wirklichkeit, zur Existenz zu verhelfen. Es ist also nicht nur so, dass L EIBNIZ’ These, das Böse in der Welt sei kein Beweis gegen des Gottes Güte, die Herrschenden legitimiert, wie RUSSELL sarkastisch bemerkt: „Dieser Beweis gefiel offenbar der Königin von Preußen. Ihre Leibeigenen mussten weiter Böses erleiden, während sie fortfuhr, das Gute zu genießen; und es war beruhigend, dass ein großer Philosoph versicherte, dies sei ganz in Ordnung.“ (Russell 8 1999, S. 598 – Quelle: Russell 2 1961, S. 571) sondern sogar der Gott selbst ist von L EIBNIZ vollkommen reingewaschen: Er kann überhaupt nichts für das Böse, sind ihm die Wesenheiten doch vorgegeben. Das musste auch dem Papst in Rom gefallen.) Mit diesem kategorialen Unterschied zwischen Idealem und Realem aber zerfällt die Grundlage für RUSSELLs Deutung des L EIBNIZ’schen Zahlbegriffs: die Unterscheidung zwischen „teilen“ (bzw. „zusammensetzen“) und „auflösen“. Jedenfalls für den Zahlbegriff erscheint dies auch durchaus plausibel. Denn dass die „natürlichen“ Zahlen (als Ideale) nicht aus „Einheiten“ als „Teilen“ „zusammengesetzt“ sein sollten (wie RUSSELL es postulierte), ist nicht leicht nachvoll- S. 91 ziehbar – und widerspricht jedenfalls dem, was L EIBNIZ um die Jahre 1703 bis 170562 ausdrücklich formuliert hat. Auch die sogleich anzuführenden Zitate aus S. 92 etwas früherer Zeit setzen die „natürlichen“ Zahlen aus „Einheiten“ zusammen. Schon E UKLID hat die „natürlichen“ Zahlen aus „Einheiten“ zusammengesetzt – warum sollte L EIBNIZ davon abgehen? 61
Dies steht übrigens in Einklang mit der Auffassung des A RISTOTELES: „ Seinkönnen und Sein unterscheidet sich bei den ewigen (Dingen) nicht.“ (Aristoteles’Physik, 203b 28; S. 119, Bd. 1, S. 121) Der Übersetzer Z EKL merkt dazu an: „Ein so nebenbei eingestreuter Satz, ohne jede Begründung, der den so fundamentalen Unterschied zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit, welcher bei A RISTOTELES so sehr viele Probleme erfolgreich löst, für eine bestimmte Dingklasse einfach ausstreicht.“ (S. 255, Anmerkung 42)
62
Die „Dingklasse“, von der der Übersetzer hier spricht, sind A RISTOTELES’ „Welt-Körper“. Vgl. Peckhaus 2011, S. 910; Cassirer 1915, S. X, Anmerkung 1 nennt 1707 als Entstehungsjahr.
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2. Die Erfindung der stetig Veränderlichen durch Leibniz Grosholz und Yakira 1998: Die Zahl ist aus Einheiten zusammengesetzt
S. 75
In dem erstmals 1998 publizierten Text L EIBNIZ’, den wir bereits zum Größenbegriff zitiert haben, wird auch der Begriff „ganze“ Zahl bestimmt, sicher im Sinne unseres heutigen Begriffs „natürliche“ Zahl, und deswegen übersetze ich es weiterhin so: Die natürliche Zahl ist das aus Ein- „Numerus integer est totum ex unitatibus heiten gleichwie aus Teilen zusam- tanquam partibus collectum.“ (Grosholz mengesetzte Ganze. und Yakira 1998, S. 81) Und in einem zweiten Textfragment, ebenfalls aus der Zeit um 1700h , heißt es: Die natürliche Zahl ist das aus Einheiten zusammengesetzte Ganze.
S. 257
S. 75
S. 76
„Numerus integer est totum ex unitatibus collectum.“ (Grosholz und Yakira 1998, S. 77)
Hier lehnt sich L EIBNIZ also eng an die altehrwürdige Bestimmung E UKLIDs an, bedient sich jedoch abweichend des für sein Denken wichtigen Begriffs des Ganzen. G ROSHOLZ und YAKIRA wollen hier, wie schon beim Begriff „Größe“, ein „Tandem“ aus „dem geometrischen Wort »Teil« gemeinsam mit dem arithmetischen Wort »Einheit«“i gebildet sehen und gründen darauf ihre weiteren Ausführungen. Diese Deutung jedoch ist alles andere als zwingend. Denn das Wort „Teil“ hat bei L EIBNIZ bekanntlich eine allgemeinere als nur eine rein geometrische Bedeutung63 – und das Attribut „kongruent“ zu „Teil“ fehlt in dieser Bestimmung von „natürliche Zahl“ eindeutig (anders als bei L EIBNIZ’ Bestimmung der „Größe“63 ). Der nahe scheinende Ausweg, „natürliche“ Zahl als eine „Größe“ zu verstehen,64 verbietet sich freilich, weil sonst ein definitorischer Zirkel entstünde: enthält doch auch die „Größe“ den Begriff „Zahl“. Was sich nur sagen lässt: In den Bestimmungen dieser beiden von G ROSHOLZ und YAKIRA behandelten Texte wird „Größe“ nur als geometrisches Objekt gefasst. „7 Pfund“ wäre demnach eine „Zahl“, nicht jedoch eine „Größe“. Das jedoch kann kaum als Beschreibung von L EIBNIZ’ grundsätzlicher Position überzeugen. G ROSHOLZ’ und YAKIRAs Deutung ist freilich sehr verlockend. Denn sie würde das Problem der „Vervielfachung der Einheit“ lösen, das bei einer rein arithmetischen Betrachtung der Zahlen auftritt. Wir haben es ab S. 87 besprochen und dafür eine Lösung vorgeschlagen. G ROSHOLZ und YAKIRA gehen anders vor. Dies sei kurz dargestellt. h i
Vgl. Grosholz und Yakira 1998, S. 76. Grosholz und Yakira 1998, S. 81
63
Etwa: „Was in einem anderen als [artgleich] enthalten ist, wird Teil genannt; und das, worin es enthalten ist, nennt man Ganzes, d. h. der Teil ist [artgleicher] Bestandteil des Ganzen.“ (MAM, S. 357 – Quelle: GM VII, 19) 64 So Grosholz und Yakira 1998, S. 81, Zeile −7 f.
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Schon in den 1765 publizierten Neuen Abhandlungen über den menschlichen Verstand heißt es (genau wie in den beiden von G ROSHOLZ und YAKIRA 1998 publizierten Texten):
„Definitionen. 1. Zwei ist Eins und Eins, 2. Drei ist Zwei und Eins, 3. Vier ist Drei und Eins.“ (NE, Viertes Buch, Kapitel VII, § 10, S. 490 – Quelle: GP V, 394) Was aber ist dieses „Eins und Eins“? Vollkommen zutreffend schreiben G ROSHOLZ und YAKIRA: Das Wesen 1 + 1 ist sehr verschieden [von der Wahrheit von 1 = 1], denn die Einheit muss irgendwie außer sich gesetzt werden. (Grosholz und Yakira 1998, S. 79) Sie sprechen von der „Entäußerung“ (alienation) der Einheit und konstatieren: Eins und Eins und Eins zu denken ist nur, Eins zu denken; im Geltungsbereich (aegis) des Widerspruchsprinzips gibt es hier keinen Weg, um zur Zwei zu gelangen. Gewissermaßen scheint es, als können wir von Eins zu Zwei nur gelangen, wenn wir die Zwei schon zu unserer Verfügung (disposal) haben: denn Zwei ist: Eins doppelt genommen. (Grosholz und Yakira 1998, S. 79) Ganz genau. Wenn es um die Arithmetik mit Realia (also mit wirklichen Dingen) geht, notiert L EIBNIZ klipp und klar:j L ⊕L = L. Oder auch: „Wenn man sagt, dass 2 und 2 4 ergeben, dann müssen die Letzteren von den Ersteren verschieden sein. Wären sie dieselben, ergäbe sich nichts Neues, und es wäre so, als wollte ich im Spaß aus drei Eiern sechs machen, indem ich zuerst 3 Eier, dann nach Wegnahme von einem die verbleibenden 2 und schließlich, noch eins weggenommen, das restliche Eine zählen würde.“ (Lenzen 2004, S. 220, Anmerkung 8 – Quelle: GP VII, 245 f.) Aber warum soll das für den Begriff „Einheit“ (oder „Eins“) nicht gelten? Zwar lassen sich geometrische Größen in „kongruente“ vervielfachen: als Konsequenz ihres AusgdehntSeins, doch wie sollte ein arithmetischer Begriff „vervielfacht“ werden können? G ROSHOLZ und YAKIRA machen darauf aufmerksam,k dass es in dem einen der von ih˜ ˜ nen publizierten Texte heißt „Zwei ist Eins und Eins.“l , im anderen jedoch „Zwei sind Eins j
GP VII, 244; L EIBNIZ’ hier verwendetes Zeichen „∞“ für die Gleichheit durch „=“ ersetzt. Vgl. auch Lenzen 2004, S. 217–227. k Vgl. Grosholz und Yakira 1998, S. 77. l Grosholz und Yakira 1998, S. 89
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2. Die Erfindung der stetig Veränderlichen durch Leibniz und Eins.“m Genau darum geht es:65 Wenn die zweite Eins in „Eins und Eins“ dasselbe ist wie die erste, ist das Ganze nichts anderes als Eins; wenn die zweite Eins aber etwas anderes ist als die erste: was ist sie dann? Als „etwas anderes“ müsste sie ungleich der ersten Eins sein – was aber doch gerade nicht der Fall sein soll, denn es heißt nicht: „Zwei ist Eins und etwas anderes als Eins.“ Um von Eins zu Zwei zu gelangen, müssen wir Eins wiederholen, und der Begriff der Wiederholung selbst scheint die vorgängige Gültigkeit (availability) des Begriffs von Zwei zu verlangen. (Grosholz und Yakira 1998, S. 79) G ROSHOLZ und YAKIRA sehen folgenden Ausweg aus diesem Dilemma: Wenn die „Zahl“ eine „Größe“ und also eine geometrische Größe ist, dann hat sie „kongruente Teile“. Die Geometrie bietet der Arithmetik den Begriff Nebeneinander (side-by-sideness) an, den räumlichen Ausdruck von Unterschiedenheit oder des Anderssein, dessen sich das Reich der Zahl selbst nicht erfreut. (Umgekehrt bietet die Arithmetik der Geometrie die Einheit an.) (Grosholz und Yakira 1998, S. 8166 ) Diese „kongruenten Teile“ „können für beides genutzt werden, fürs Zählen und fürs Messen“n .
S. 80 S. 87
Wie wir schon bemerkt haben, ist diese Konstruktion von G ROSHOLZ und YAKIRA etwas halsbrecherisch: „Größe“ ist „Zahl“, und „Zahl“ ist „Größe“. Dieser Zirkel ist aber gar nicht nötig. G ROSHOLZ und YAKIRA haben ihre Betrachtungen rein aufs Begriffliche: rein auf die Arithmetik verengt. Beim Verständnis der L EIBNIZ’schen Begriffe ist es jedoch nicht falsch, deren ontologische Beschaffenheit im Auge zu behalten. Und in dieser Perspektive haben wir gesehen: „Zahlen“ sind „Eigenschaften“ von Körpern und diesen Körpern „untrennbar“ verbunden. Hierin findet sich möglicherweise eine Lösung des Problems der „Vervielfachung der ˜ Einheit“ , wie es bereits dargelegt wurde. (Freilich haben auch wir keine Erklärung für den Begriff „Summe“ bei L EIBNIZ.) L EIBNIZ unterscheidet die Arithmetik der „Gegenstände“ ganz klar von der Arithmetik der Zahlen („Begriffe“). In dem soeben angesprochenen Text zur Arithmetik mit Realia (also mit wirklichen Dingen) geht L EIBNIZ auch auf den Unterschied zur Arithmetik mit Zahlen ein: m
Grosholz und Yakira 1998, S. 99
n
65
Und dieses Problem ist alt. Schon A RISTOTELES konstatiert:
Grosholz und Yakira 1998, S. 81
„Wenn aber die Zahl nicht aus Zahlen entsteht, sondern aus den Einsen, die in der Zahl enthalten sind, wie etwa in der 10 000, wie verhält es sich dann mit den Einsen? Denn wenn sie gleichartig sind, dann würden sich viele Ungereimtheiten ergeben, aber auch, wenn sie nicht gleichartig sind, weder die in einer Zahl enthaltenen untereinander noch alle mit allen: Worin sollen sie sich unterscheiden, da sie ja nicht affizierbar sind? Denn das ist weder einleuchtend, noch stimmt es mit dem Denken überein.“ (Aristoteles, Metaphysik, 991b21 ff., S. 47) 66 Diese Formulierung scheint nicht ganz geglückt: Was „das Reich der Zahl“ nicht hat, sollte ihm auch die Geometrie nicht geben können. Im Sinne der Deutung des Autorenpaars gibt es (bei L EIBNIZ) kein „Reich der Zahl“ ohne Geometrie.
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Hingegen bezeichnen beim Rechnen mit Zahlen oder Großheiten A oder B oder andere Zeichen kein wirkliches Ding, sondern ein beliebiges der gleichen Zahl aus kongruenten Teilen; es werden nämlich zwei beliebige Fuß durch 2 bezeichnet, wenn Fuß die Einheit oder das Maß ist, woraus 2 + 2 das Neue 4 ergibt und 3 mal 3 das Neue 9, es wird nämlich vorausgesetzt, dass sie [die Bezeichnung] (obschon gleicher Großheit) immer verschieden verwendet wird; hingegen verhält es sich bei gewissen Dingen anders, zum Beispiel bei Geraden.
„At in calculo Numerorum et magnitudinum A vel B vel aliae notae non significat certam rem, sed quamlibet ejusdem numeri partium congruarum, quilibet enim duo pedes significantur per 2, si pes sit unitas seu mensura, unde 2 + 2 facit novum 4, et 3 per 3 novum 9; praesupponitur enim semper diversa (licet ejusdem magnitudinis) adhiberi; at secus res se habet in certis rebus, verbi gratia lineis.“ (GP VII, 246)
Hier spricht L EIBNIZ ausdrücklich von „kongruenten“ Teilen – allerdings wiederum der „Großheit“ (bzw. „Größe“) und nicht der „Zahl“, obwohl er doch von „Zahlen“ handeln will. Warum er das tun darf, haben wir jetzt verstanden. Grosholz und Yakira: negative Zahlen bei Leibniz
So problematisch diese „untrennbare“ Anbindung der „Zahl“ an den Körper für die Entwicklung einer reinen Arithmetik ist,67 so produktiv ist sie in anderer Hinsicht: bei der Konstruktion „negativer“ Zahlen bzw. Größen. Wir erinnern uns an den Begriff der Addition der Größen:68 Addition ist, wenn aus einer Vielheit von Größen eine gemacht werden kann, sodass nichts anderes nötig ist, um sie zugleich zu legen [. . . ] (Grosholz und Yakira 1998, S. 91, auch S. 83) Sie wird durch + bezeichnet. Entsprechend wird „der Rückschritt (regressus) oder die Subtraktion“o bestimmt, und dann heißt es: Wenn jedoch der Rückschritt größer ist als der Fortschritt, wird die Summe einen falschen Fortschritt (progressus falsus) hervorbringen, der wirklich (revera esse) ein Rückschritt (regressus) ist. Und ein solcher Fortschritt wird kleiner als Null sein, und die Zahl, die ihn bezeichnen wird, wird kleiner als nichts genannt werden. (Grosholz und Yakira 1998, S. 92, auch S. 84) Dazu gibt L EIBNIZ die Rechnung „a + b − f = g oder 2 + 3 − 6 = −1“p und nennt g dann „eine Größe kleiner als Null oder negativ“q . Nun ist es keineswegs so, dass L EIBNIZ diese Überlegung für wohlbegründet und also publikationsreif hielt. Ganz im Gegenteil publizierte er im April 1712 einen o q 67 68
Grosholz und Yakira 1998, S. 91, auch S. 84 Grosholz und Yakira 1998, S. 92
p
Grosholz und Yakira 1998, S. 92
Es sei an die auf S. 88 aufgeworfenen Probleme erinnert. Es sei an die Bestimmung auf S. 88 erinnert.
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anders lautenden Standpunkt. Auf das dort angeführte sehr bekannte L EIBNIZ-Zitat kommen G ROSHOLZ und YAKIRA in ihrem Buch jedoch nicht zu sprechen. Und vor allem, wie bereits erwähnt: „Negative“ Zahlen fallen nicht unter L EIBNIZ’ allgemeine Zahlbestimmung. Fichants Deutung von Leibniz’ Begriff der natürlichen Zahl 1998: Zahl als Extension In seinem 1998 erschienen Buch Science et métaphysique dans Descartes et Leibniz69 findet M ICHEL F ICHANT „zwei Definitionssysteme der natürlichen Zahlen“r bei L EIBNIZ: (i) „Das erste definiert jede Zahl streng oberhalb von Eins von der wiederholten Stelle dieser selben »Eins« an.“s (ii) „Das zweite System zielt auf die Definition des Ausdrucks »Eins« selbst als Grundzeichen (caractère primitif ), das nur behelfsmäßig angenommen wird: Die Definition ist logischer Art in dem Sinne, dass sie sich eindeutig auf die Identität, die Negation und die Unterordnung eines Wort-Gegenstandes (terme-sujet) unter ein Begriffs-Prädikat (concept-prédicat) stützt“t .
S. 85 S. 133
Das System (i) haben wir ausführlich behandelt. Wie steht es mit (ii)? Der Begriff „Einheit“ ist schwierig. Bei L EIBNIZ ist es wohl ein nicht näher bestimmbarer, ein „nicht weiter auflösbarer“ Anfangsbegriff. Gleichwohl ist er für L EIBNIZ wichtig, gerade für seine Mathematik (die auf einer Metaphysik ruht). Denn beispielsweise gilt, „dass ein Unendliches kein wahres Ganze[s] sein kann“u und also keine Eins. Auch gesteht F ICHANT zu,v dass L EIBNIZ derselben Kritik unterfällt, die später F REGE an E UKLID geübt hat: „In den Definitionen, die E UKLID am Anfange des 7. Buches der Elemente gibt, scheint er mit dem Worte »monc« bald einen zu zählenden Gegenstand, bald eine Eigenschaft eines solchen, bald die Zahl Eins zu bezeichnen. Überall kommt man mit der Übersetzung »Einheit« durch, aber nur, weil dies Wort selbst in diesen verschiedenen Bedeutungen schillert.“ (Frege 1986, § 29, S. 44) Daher können wir diesen Punkt hier nicht vertiefen, das würde zu weit in die Logik führen. Festgehalten sei jedoch, dass F ICHANT an dieser Stelle eine extensionale Deutung von L EIBNIZ’ Logik unternimmt.70 r u 69
Fichant 1998, S. 327 s Fichant 1998, S. 327 t Fichant 1998, S. 327 NE, Zweites Buch, Kapitel 17, § 8, S. 147 – Quelle: GP V, 146 v Vgl. Fichant 1998, S. 324. Ich danke H ERBERT B REGER für diesen Hinweis und für Kopien des relevanten Kapitels.
70
„Jede Zahl würde dann in einem F REGE’schen Geist als eine Eigenschaft eines Begriffs gekennzeichnet und auf diese Weise eindeutig über ihren Umfang (extension) bestimmt.“ (Fichant 1998, S. 327)
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Leibniz’ Begriff der Zahl Die Berechtigung einer solchen Deutung steht jedoch mindestens seit Lewis 1918 in Zweifel.71 Nicht zuletzt Grosholz und Yakira 1998 sowie vor allem Leibniz 1993a bekräftigen diese Zweifel, während Lenzen 2004 dort gewissermaßen ein Fragezeichen anbringt. (a) G ROSHOLZ und YAKIRA geben eine intensionale Deutung von L EIBNIZ’ Logik, der es weniger um „wahre Aussagen“ geht, sondern bei der die „Verständlichkeit“ im Mittelpunkt allen Interesses steht. (b) L ENZEN extrahiert aus L EIBNIZ’ Texten zwei formale Sprachen (eine ohne, eine mit Begriffsquantoren) und beweist, dass extensionale wie intensionale Interpretationen dieser Sprachen jeweils dieselben gültigen Sätze liefern.w Der Gegensatz zwischen extensionaler und intensionaler Logik sei wenigstens an einem Beispiel verdeutlicht, und zwar mit L EIBNIZ’ eigenen Worten (L EIBNIZ nennt den Gegensatz „Methode der Individuen“ und „Methode der Begriffe“): „Die Methode der Begriffe ist konträr zu der der Individuen, das heißt nämlich: Wenn alle Menschen einen Teil aller Lebewesen darstellen, bzw. wenn alle Menschen in allen Lebewesen 〈enthalten〉 sind, dann ist umgekehrt der Begriff des Lebewesens im Begriff des Menschen 〈enthalten〉; und so wie es mehrere Lebewesen außer den Menschen gibt, so ist 〈umgekehrt〉 irgendetwas zur Idee des Lebewesens hinzuzufügen, damit die Idee des Menschen entsteht. Indem nämlich die Bedingungen vermehrt werden, vermindert sich die Anzahl.“ (Lenzen 2004, S. 79, Hinzufügungen 〈. . . 〉 vom Herausgeber) Intensional (begriffslogisch) betrachtet ist demnach der Begriff „Lebewesen (-Sein)“ im Begriff „Mensch(-Sein)“ enthalten: weil jeder Mensch jedenfalls ein Lebewesen ist. Aussagenlogisch (extensional) betrachtet hingegen enthält (jede Aussage über) die Gesamtheit der Lebewesen (jede Aussage über) die Gesamtheit der Menschen: aus demselben Grunde.72 ZWEI SCHLUSSBEMERKUNGEN ZU LEIBNIZ’ ZAHLBEGRIFF (1) L EIBNIZ hat einen ganz allgemeinen Begriff der Zahl erprobt, also einen, der sämtliche Zahlen, von den natürlichen bis zu den transzendenten, umfasst. Ich nenne das einen ‚analytischen‘ Zahlbegriff73 und bezeichne damit einen Zahlbegriff, der für die Zwecke der Differenzial- und Integralrechnung bzw. der Analysis tauglich ist. Allerdings lässt sich wegen dessen ontologischer Fundierung bei L EIB NIZ eine rein arithmetische Lehre darin vielleicht nicht entwickeln.74 w
Vgl. Lenzen 2004, S. 23–46.
71
Hier beziehe ich mich auf Rescher 1954, S. 13, Anmerkung 52, auf Leibniz 1993a, S. XXIX f. sowie auf Lenzen 2004, S. 23, Anmerkung 3. 72 Einen weit späteren Versuch einer ausdrücklich intensionalen Analyse des Zahlbegriffs finden wir bei H USSERL – siehe ab S. 539. 73
Auf S. 519 komme ich darauf zurück.
74
Es sei an die auf S. 88 aufgeworfenen Probleme erinnert.
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2. Die Erfindung der stetig Veränderlichen durch Leibniz
ab S. 39
Etwa 150 Jahre vor L EIBNIZ hatten die Rechenmeister begonnen, auch bei solchen Produkten ihres Tuns von „Zahlen“ zu sprechen, für die sie keinen Begriff hatten: Was die Alten „irrationale Größen“ nannten, nannten die Rechenmeister der beginnenden Neuzeit einfach „irrationale Zahlen“75 . Damit transferierten sie einen geometrischen Begriff in die Arithmetik, ohne dafür eine begriffliche Grundlage zu haben. (Je mehr Zahlen ein Rechenmeister zu lehren anbieten konnte, desp to größer waren natürlich seine Verdienstmöglichkeiten.) Sie nannten 5 „Zahl“, und sie hantierten in ihren Algorithmen mit diesem Objekt – ohne dass irgendein Mathematiker oder Philosoph ihrer Zeit dafür eine Definition hätte zustandebringen können. Erst L EIBNIZ gelang dies (mit einigen Abstrichen, wie wir gesehen haben), zumindest in philosophischer Hinsicht. Zur Erfindung geeigneter mathematischer Begriffe bedurfte es weiterer eineinhalb Jahrhunderte. (2) Dieser historiografischen Bemerkung sei noch eine methodologische angefügt. In seiner großen L EIBNIZ-Studie unternimmt es RUSSELL, L EIBNIZ’ Philosophie auf fünf „Grundvoraussetzungen“x (principal premisses) zurückzuführen. Diese beurteilt er als inkonsistent, „und in dieser Inkonsistenz werden wir einen allgemeinen Einwand gegen den Monadismus erkennen.“y Aus einem widerspruchsvollen Begriffssystem aber lassen sich natürlich gegensätzliche Aussagen gewinnen. (Beiläufig bemerken wir an dieser Stelle: F REGEs System war folglich nicht das Erste, das RUSSELL im Jahr 1903 als widerspruchsvoll entlarvte; drei Jahre zuvor hatte RUSSELL diese Technik an L EIBNIZ erprobt.) Dass RUSSELLs extensionale Deutung der L EIBNIZ’schen Logik heute nicht mehr breit akzeptiert wird, wurde schon gesagt. Besonderer Wertschätzung erfreuen sich L EIBNIZ’ logische Entwürfe bei W OLFGANG L ENZEN. Er vertritt (mit dem Hinweis auf einige gravierende Fehldeutungen RUSSELLs, der doch ein „hervorragender Logiker und L EIBNIZKenner“z gewesen sei) mindestens seit 1983 die These: „L EIBNIZ’ Ideen zur Logik waren seiner Zeit so weit voraus, dass sie noch Anfang [des 20.] Jahrhunderts fast zwangsläufig unverstanden bleiben mussten.“ (Lenzen 2004, S. 16) x 75
Russell 2002a, § 4, S. 4
y
Russell 2002a, § 4, S. 5
z
Lenzen 2004, S. 129, Anmerkung 47
Siehe etwa den zwischen ca. 1500 und 1524 entstandenen Text eines anonymen Autors bei Curtze 1902, spätestens ab S. 564 (zur Person dieses Autors siehe Eneström 1902 und Folkerts 1997) oder C HRISTOPH RUDOLFF (es sei an S. 43 erinnert), der im Jahr 1525 bei den „Zahlen“ eine „dritte Art“ kennzeichnet, die „ganz ungeschickten Zahlen“, die keine „Wurzeln“ haben: „Die dritten heiĄen irrationaln / sein ganŃ vngesĚiĘte zalen. haben nit radicem / werden auĚ nit racional wann sie in der proporcion am kleinĆ~e gemaĚt sein / alŊ in quadratiŊ vnd cubiciŊ 14 vnd 12. Item 8 vnd 4 É. da~n so einŊ nit radicem hat iĆ radix im andern nit zu suĚen.“ (Rudolff 1525, f. E iiijv ) Freilich hat RUDOLFF ein eigenes Verständnis von „irrationaler“ Zahl: Er bezeichnet so all jene Zahlen, die nicht Quadratzahl sind (also: 2, 3, 5, . . . ), und nicht erst – wie schon L EONARDO, siehe Leonardo 1857, S. 353; ebenso in der zuvor erwähnten Handschrift – die „Wurzel“ aus einer Nicht-Quadratzahl. RUDOLFF ist Algorithmiker und denkt nicht begrifflich. (Deswegen gibt er auch keine Beweise seiner Regeln.)
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Das erste allgemeine Konvergenzkriterium DAS ERSTE ALLGEMEINE KONVERGENZKRITERIUM DIE QUELLE L EIBNIZ wurde 1672 in diplomatischer Mission nach Paris entsandt. Bald nach seiner Ankunft dort wuchs sein Interesse an der Mathematik, von der er zuvor nur sehr geringe Kenntnis hatte. Nach seiner Ernennung zum Mitglied der Royal Society (London) am 9. April 1673 wurde L EIBNIZ mit C HRISTIAAN H UYGENS (1629– 95) bekannt, der zu diesem Zeitpunkt als die größte Autorität in der Mathematik galt. Von ihm erhielt L EIBNIZ wichtige Anregungen. Auf Geheiß seines neuen Herrn J OHANN F RIEDRICH VON B RAUNSCHWEIG -C A LENBURG (1625–79) musste L EIBNIZ im Jahr 1676 Paris verlassen und nach Hannover zurückkehren. Zu diesem Zeitpunkt hatte L EIBNIZ die Funktionsweise seiner gerade erfundenen Infinitesimalrechnung samt strenger Begründung in einem Manuskript niedergelegt. Das ließ er in Paris zurück. Er hoffte auf einen Druck des Manuskriptes sowie darauf, dass er wegen dieser Schrift zum Mitglied der Académie Royale des Sciences ernannt würde. Doch der Druck dieses Manuskripts kam nie zustande, und als es ihm nach Hannover nachgeschickt werden sollte, ging es verloren.a Allerdings blieben verschiedene Entwürfe des Manuskriptes erhalten. Eine erste Teiledition eines dieser Entwürfe verdanken wir dem, was 1934 aus der Dissertation von L UCIE S CHOLTZ (1903–42)76 veröffentlicht wurde. Sie berücksichtigte dabei zwei Manuskriptfassungen, die im Herbst 1675 bzw. im Herbst 1676 fertiggestellt worden waren. Zentrale Passagen des Textes übersetzte S CHOLTZ ins Deutsche. Im Jahr 1993 edierte E BERHARD K NOBLOCH das spätere dieser beiden Manuskripte vollständig (es enthält einen Zusatz aus der Zeit um 1678/80).b Eine Übertragung ins Französische gab im Jahr 2004 M ARC PARMENTIERc , und OTTO H AM BORG übersetzte es 2007 vollständig ins Deutsched . Im Jahr 2012 schließlich erschien Band 6 der siebten Reihe (Mathematische Schriften) der heute von den Akademien Berlin-Brandenburg und Göttingen herausgegebenen Sämtliche[n] Schriften und Briefe von L EIBNIZ. Dieser Band enthält auf 676 Druckseiten eine „endgültige“ Edition dieser Schrift, zusammen mit 50 weiteren Manuskripten aus der Zeit 1673–76 von L EIBNIZ zu dieser Thematik.e Mit anderen Worten: Der wichtigste (und einzige!) Text, in dem L EIBNIZ seine neue Integralrechung im Detail anwandte und seine Rechnungen im Einzelnen sorgfältig begründete, blieb der Öffentlichkeit bis 1934 bzw. 1993 vollständig unbekannt. Heute jedoch kann er – jedenfalls in verschiedenen Vorstufen der Endfassung – genauestens analysiert werden. Es ist „mit Abstand seine längste“f Abhanda
K NOBLOCH in DQA, S. 11. b DQA DQA-f d DQA-d e DQA-A f Knobloch 1999, S. 214 c
76
Ich danke Frau C HRISTA S EIP, Marburg, für die Ermittlung der Lebensdaten.
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2. Die Erfindung der stetig Veränderlichen durch Leibniz lung zur Mathematik. Ein Vierteljahrhundert später allerdings war L EIBNIZ nicht mehr auf eine Publikation des Textes erpicht, wie er J OHANN B ERNOULLI schrieb.77 AU S D E M I N H A LT Der Titel Der Titel der Schrift lautet: De quadratura arithmetica circuli ellipseos et hyperbolae, mit der Ergänzung: cujus corollarium est trigonometria sine tabulis, also: „Arithmetische Quadratur des Kreises, der Ellipse und der Hyperbel, von der ein Korollar die Trigonometrie ohne Tafeln ist“. Man kann kurz von der Arithmetischen Quadratur sprechen. Unter „Quadratur“ verstand man damals das, was wir heute „Integration“ oder „Bestimmung des Flächeninhalts“ nennen. „Arithmetisch“ meint hier soviel wie: rein rechnerisch. Und „Trigonometrie ohne Tafeln“ soll sagen, dass man zur Ermittlung der Werte der trigonometrischen Funktionen (wie Sinus, Cosinus) nicht mehr in Tafeln nachschlagen müsse, sondern die Werte direkt berechnen könne: nämlich über die Form einer unendlichen Reihe. Es ist hier nicht möglich, die Vorgehensweise, die Begriffe, Lehrsätze und Beweise dieser Schrift im Einzelnen darzustellen. Das wäre ein eigenes, sehr spezifisches Fachbuch. Stattdessen werde ich mir in diesem und dem folgenden Abschnitt zwei Aspekte herauspicken und etwas näher erörtern. Diese beiden Aspekte sollen keineswegs so etwas wie den „wesentlichen Inhalt“ der Schrift darstellen. Auch dazu reicht der Platz hier nicht. Vielmehr will ich versuchen, anhand dieser beiden Aspekte eine Ahnung davon zu vermitteln, wie L EIBNIZ seine Grundbegriffe dachte. DAS KONVERGENZKRITERIUM (OHNE DEN BEGRIFF DER KONVERGENZ) In Proposition 49 dieser Abhandlung formuliert L EIBNIZ ein erstes allgemeines Konvergenzkriterium:g „Wenn eine [Größe] A gleich einer Reihe b − c + d − e + f − g usw. ist, die in der Weise bis ins Unendliche abnimmt, dass die [Glieder] schließlich kleiner werden als eine beliebige gegebene [Größe], wird +b größer als A sein, sodass die Differenz kleiner ist als c +b − c kleiner . . . d +b − c + d größer . . . e +b − c + d − e kleiner . . . f g 77
„Si sit quantitas A aequalis seriei b − c + d − e + f − g etc. ita decrescenti in infinitum, ut fiant termini tandem data quavis quantitate minores, +b major quam A, ita ut differentia sit minor quam c +b − c minor . . . d [78] +b − c + d major ... e +b − c + d − e minor . . . f
Vgl. M AHNKE in Hofmann und Wieleitner 1931, S. 599. GM, III, S. 537, dazu Knobloch 1999, S. 222. Für einen möglichen Grund dieses Sinneswandels siehe S. 180 bei Anmerkung 114.
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Das erste allgemeine Konvergenzkriterium Und allgemein wird der Teil der durch abwechselnde Additionen und Subtraktionen gebildeten abnehmenden Reihe, der mit einer Addition endet, größer als die Summe der Reihe sein, der mit einer Subtraktion endet, wird kleiner sein; der Fehler aber oder die Differenz wird immer kleiner als [das Glied] der Reihe sein, der dem Teil unmittelbar folgt.“ (DQA-d, S. 125)
Et generaliter portio seriei decrescentis alternis additionibus et subtractionibus formatae terminata per additionem erit summa seriei major, terminata per subtractionem erit minor; error autem vel differentia semper erit minor termino seriei, portionem proxime sequente.“ (DQA-A, S. 657 Z. 14–23)
Es handelt sich um den Lehrsatz, den wir heute so aussprechen: Eine alternierende Reihe aus (dem Betrag nach) monoton abnehmenden Gliedern konvergiert: a0 − a1 + a2 − a3 + a4 − a5 ± . . . = A
falls
ai > 0 ,
a i > a i +1 → 0 .
Diesen Satz beweist L EIBNIZ im Detail, und zwar in folgender Weise: (-1) Die allgemeine Überlegung hat er in dem Halbsatz „Und allgemein wird . . . sein;“ formuliert. Sie lautet: Wenn A = b −c +d −e + f − g +−... , so folgt daraus A b −c . (P) (0) Kommentare dazu: (i) Wir heute würden in P auf A 5 b und in P¯ auf A = b −c schließen. (ii) In seiner gesamten Argumentation verwendet L EIBNIZ kein Zeichen (Symbol) für die Kleiner-Beziehung, in anderen Manuskripten jedoch sehr wohl. S. 129 Ich schreibe das Zeichen hier zur kürzeren Darstellung des L EIBNIZ’schen Gedankengangs. (iii) L EIBNIZ urteilt hier mit einem einzigen direkten Argument über den Wert einer Summe aus unendlich vielen Reihengliedern. Nun die vier Einzelschritte, die L EIBNIZ im Einzelnen durchführt: (1) Wegen P können wir b − A bilden. Wir rechnen: b − A = b − (b − c + d − e + f − g + − . . .) = c − d + e − f + g − + . . . < c , der letzte Schritt gemäß dem Argument, das zu P führt. 78
DQA, Z. 3014 hat hier „minor“. Welche Version sachlich richtig ist, hängt davon ab, wie man L EIB NIZ ’ „. . . “ deutet: (i) Steht „. . . “ für „als A sein, sodass die Differenz kleiner ist als“, ist die Angabe in DQA-A richtig. (ii) Steht „. . . “ für „ist als“, ist die Version in DQA richtig. Die Deutung (i) liegt sicher näher.
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2. Die Erfindung der stetig Veränderlichen durch Leibniz (2) Wegen P¯ können wir A − (b − c) bilden. Wir rechnen: A − (b − c) = d − e + f − g + − . . . < d , der letzte Schritt gemäß dem Argument, das zu P führt. (3) Wie P ergibt sich A < b −c +d . Also können wir (b − c + d ) − A bilden. Wir rechnen: b −c +d − A = e − f + g −+... < e , der letzte Schritt gemäß dem Argument, das zu P führt. (4) Wie P¯ ergibt sich A > b −c +d −e . Also können wir A − (b − c + d − e) bilden. Wir rechnen: A − (b − c + d − e) = f − g + − . . . < f , der letzte Schritt gemäß dem Argument, das zu P führt. (5) Dies sind jene vier Schritte, die L EIBNIZ konkret durchführt. (6) L EIBNIZ verwendet den Namen „Konvergenz“ nicht! Man erkennt: Die Differenz von A und den ersten n Gliedern der Summe ist stets kleiner als das nächste Glied. (Das sagt L EIBNIZ in dem Halbsatz „der Fehler aber . . . folgt.“) Dabei achtet L EIBNIZ jeweils zu Anfang sorgsam darauf, stets das Kleinere vom Größeren zu subtrahieren. Da L EIBNIZ ausdrücklich verlangt hat, dass die Glieder „schließlich kleiner werden als eine beliebige gegebene Größe“, ist A beliebig genau bestimmbar – und existiert somit. Was zu beweisen war: In der behaupteten Gleichung A = b −c +d −e + f −+... ist die rechte Seite eine Rechenvorschrift zur beliebig genauen Bestimmung eines Wertes, der A genannt wird. Damit hat L EIBNIZ als Erster ein allgemeines Konvergenzkriterium für Reihen bewiesen.79 Der L EIBNIZ-Spezialist E BERHARD K NOBLOCH kommentiert diese Beweisführung wie folgt: Hier ist die Tatsache wichtig, dass L EIBNIZ nicht mit Ungleichungen rechnet. [. . . ] In anderen Worten: In seinem mathematischen Denken sind [unendliche] Reihen neue mathematische Gegenstände, Ungleichungen jedoch nicht. (Knobloch 2006, S. 127) Übrigens präsentiert L EIBNIZ knapp 40 Jahre später, im Jahr 1714, J OHANN B ERim Briefwechsel diesen Beweis aufs Neue.h Im Antwortbrief vereinfacht
NOULLI
h 79
GM, III, S. 926 So auch Knobloch 2006, S. 125.
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Leibniz’ Technik der Infinitesimalrechnung: strenge Epsilontik – das Riemann-Integral J OHANN einen Beweisschritt, indem er folgende Abschätzung gibt (+c, +e usw. werden durch die größeren +b, +d usw. ersetzt):80 a − b + c − d + e − f + usw.
a, sonst ist schon alles gut) „so klein, wie man will“ (etwa durch Multiplikation mit dem kleinen Bruch m, ohne Beschränkung der Allgemeinheit von der Form m = n1 : aus x wird m · x): m · x < a. – Genau das ist die Aussage des „archimedischen Axioms“ : Wenn x > a ist, kann man stets ein n1 finden, sodass n1 · x < a bzw. x < n · a ist. Der Witz bei L EIBNIZ ist: Er hat – anders als seine Vorgänger – „veränderliche“ Größen, und deshalb kann er die zwei beim „archimedischen Axiom“ wichtigen Objekte (die hier „x“ und „mx“ heißen) zu einem Gegenstand vereinigen; zuvor, ohne den Begriff „Veränderliche“, war das unmöglich.86 v
HO, S. 43
85
Allgemein dem A RCHIMEDES (um −287–um −212) zugeschrieben, wohl aber von E UDOXOS (−397/390–−345/338) rührend.
86
Es sei auf eine Merkwürdigkeit hingewiesen: Betrachten wir folgende Formulierung:
K. Zu beliebigen x und a mit x > a gibt es stets eine natürliche Zahl n, sodass
1 n
· x < a.
Bei dieser Formulierung K handelt es sich um eine ‚Kippformulierung‘, will sagen: Sie lässt sich in zwei völlig verschiedenen Weisen deuten – wobei die beiden Deutungen einander ausschließen.
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2. Die Erfindung der stetig Veränderlichen durch Leibniz Für L EIBNIZ ist eine „unendlich kleine“ Größe eine Veränderliche, die verschwindet. Ist aber ein Etwas, das verschwindet, ein Etwas? Doch jedenfalls dann nicht, wenn es verschwunden ist! L EIBNIZ sieht dieses Problem offenkundig auch und äußert sich daher zum ontologischen Status dieser Größen. Wie vor ihm D ESCARTES und mit ausdrücklicher Nennung von D ESCARTES w verwendet L EIBNIZ das Wort „eingebildet“ (imaginarius)x und zieht eine Analogie zu den Wurzeln gewisser Gleichungen: Seine „verschwindenden“ Größen bezeichnet L EIBNIZ ausdrücklich als „angenommen“ (fingiy , quantitatibus fictitiisz ). In Punkt 3 auf S. 116 komme ich darauf zurück. Gelegentlich scheuen sich Mathematiker, solch philosophische Betrachtungen anzustellen. Sie lesen bei L EIBNIZ nur, dass er seine „unendlich kleinen“ Größen als „fiktiv“ bezeichnet, und ziehen daraus kurz entschlossen die Folgerung, L EIBNIZ meine mit „fiktiv“ einen Gegensatz zu „reell“ (wirklich) – und also habe L EIBNIZ mit infinitesimalen Zahlen gerechnet, wie das heutzutage die Nichtstandard-Analysis tut. Das einfache mathematische Argument gegen eine solch kühne L EIBNIZ-Deutung lautet: L EIBNIZ verlangt von seinen „unendlich kleinen“ Größen, dass sie dem archimedischen Axiom genügen. Das aber tun die „infinitesimalen“ Zahlen der Nichtstandard-Analysis nicht.87 Das einfache historiografische Argument gegen diese kühne L EIBNIZ-Deutung lautet: L EIBNIZ bestimmt seine „unendlich kleinen“ Größen als „veränderlich“ – und eben nicht als „Zahlen“ mit einem festen „Wert“. w
HO, S. 48
x
HO, S. 42
y
HO, S. 42
z
DQA, S. 35, Z. 409 f., DQA-A, S. 537, Z. 7
Die erste Deutung liest die Formulierung K als das „archimedische Axiom“:
Axiom. Zu jeder „Zahl“ (oder: „Größe“) x und zu jedem positiven a mit a < x gibt es einen Verkleinerungsfaktor n1 , sodass a >
1 n
· x gilt.
Die zweite Deutung liest die Formulierung K als Definition der „unendlich kleinen Veränderlichen“:
Definition. Die „Veränderliche“ x ist „unendlich klein“, wenn es zu jedem positiven a eine natürliche Zahl n gibt, sodass
1 n
· x < a.
Diese zweite Lesart ist freilich nur möglich, solange nicht von „Werten“ der „Veränderlichen“ die Rede ist – denn dann müsste es korrekt heißen:
Definition0 . Die „Veränderliche“ x ist „unendlich klein“, wenn es zu jedem positiven „Wert“ a einen „Wert“ X von x gibt, sodass für alle „Werte“ X0 von x mit X0 < X gilt: X0 < a. Die Tatsache, dass diese beiden Deutungen der Formulierung K einander ausschließen, könnte man wenden wollen in den:
Satz. „Unendlich kleine“ Größen genügen nicht dem archimedischen Axiom. Freilich: In der Nichtstandard-Analysis hat man die Gültigkeit des archimedischen Axioms sehr wohl dann, wenn man für n auch „unendlich große“ natürliche Zahlen zulässt (Laugwitz 1986, S. 90). – Siehe auch unten, S. 524. 87 Es sei jedoch auf das Ende von Anmerkung 86 verwiesen.
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Leibniz’ Begründung der Differenzialrechnung
Rechnen mit unendlich kleinen und unendlich großen Größen
Die „unendlich kleinen“ wie auch die „unendlich großen“ Größen sind Gegenstände, mit denen man rechnen kann. Das zeigt L EIBNIZ bereits in der „Arithmetischen Quadratur . . . “, also in jener Abhandlung, die – sehr entgegen L EIBNIZ’ ursprünglicher Absicht – nicht zur Publikation gelangte. Die neuen Eigenschaften „unendlich klein“ und „unendlich groß“ gestatten es, besondere Rechengesetze zu formulieren, etwa folgender Art: 1. endlich + unendlich groß = unendlich groß. 2. endlich ± unendlich klein = endlich. 3. unendlich groß ± unendlich klein = unendlich groß. 4. endlich : unendlich klein = unendlich groß : endlich = unendlich groß. 5. usw. K NOBLOCH hat aus der „Arithmetischen Quadratur . . . “ 14 derartige Regeln extrahiert.a Der wichtige Punkt ist: L EIBNIZ formuliert diese Regeln dort als geometrische Sachverhalte. Paradigmatisch konstruiert er ein Rechteck und argumentiert, ob dessen Fläche „endlich“ oder „unendlich klein“ oder „-groß“ ist – und zwar in Abhängigkeit von der Länge der Rechteckseiten, die „endlich“ oder „unendlich klein“ bzw. „-groß“ sind. Die Begründung dieser Regeln erfolgt also über technische geometrische Konstruktionen. Die Regeln selbst lassen sich, wie oben beispielhaft dargelegt, qualitativ formulieren und intuitiv erfassen. Da diese Abhandlung damals ungedruckt blieb, formuliert sie also einen von L EIBNIZ erreichten Wissensstand, der exklusiv L EIBNIZ vorbehalten war. Was davon und in welcher Weise dann doch noch von L EIBNIZ publiziert wurde, davon wird zu Beginn des nächsten Kapitels die Rede sein. ab S. 163 Leibniz’ Popularisierung des „Unendlich-Kleinen“ Von seinem Pariser Förderer P IERRE VARIGNON (1654–1722) um Unterstützung gebeten formuliert L EIBNIZ in einem Brief vom 2. Februar 1702 eine populäre Fassung seiner „unendlichen“ Größen: „Um daher diese subtilen [metaphysischen] Streitfragen zu vermeiden, begnügte ich mich, da ich meine Erwägungen allgemein verständlich machen wollte, das Unendliche durch das Unvergleichbare zu erklären, d. h. Größen anzunehmen, die unvergleichlich größer oder kleiner als die unsrigen sind. Auf diese Weise nämlich erhält man beliebig viele Grade unvergleichlicher Größen, sofern ein unvergleichlich viel kleineres Element, wenn es sich um die Feststellung eines unvergleichlich viel Größeren handelt, bei der Rechnung außer Acht bleiben kann.“ (HS, I, S. 97 – Quelle: GM IV, 91) Dazu drei Bemerkungen. (1) Es handelt sich hier ausdrücklich um eine Popularisierung der L EIBNIZ’schen Ideen und nicht um eine strenge Fassung. Das betont L EIBNIZ auch an späterer a
Knobloch 1990, S. 46, Knobloch 1994, S. 273
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2. Die Erfindung der stetig Veränderlichen durch Leibniz Stelle dieses Briefes: „Man darf jedoch nicht glauben, dass durch diese Erklärung die Wissenschaft des Unendlichen herabgewürdigt und auf Fiktionen zurückgeführt wird, denn es bleibt – um mich schulmäßig auszudrücken – immer ein synkategorematisch Unendliches bestehen; so bleibt es z. B. 1 1 + 32 + . . ., d. h. gleich immer richtig, dass 2 gleich ist 11 + 12 + 14 + 81 + 16 einer unendlichen Reihe, die alle Brüche in sich begreift, deren Zähler 1 sind und deren Nenner in geometrischer Progression fortschreiten. Trotzdem kommen in dieser Progression immer nur gewöhnliche Zahlen zur Anwendung und es tritt niemals ein unendlich kleiner Bruch, dessen Nenner eine unendliche Zahl wäre, auf.“ (HS, I, S. 99 – Quelle: GM IV, 93) (Das „synkategorematische“ Unendlich – von den Mathematikern als „potenzielles“ Unendlich bezeichnet – kennzeichnet nichts Fertiges, Beendetes, Selbstständiges, Wohlbestimmtes, sondern die Eigenschaft „niemals zu Ende kommen“. – Ihm gegenüber steht das „aktuale“ Unendlich als ein bestimmter Gegenstand mit gewissen Eigenschaften.)
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(2) In der zuerst aus dem Brief zitierten Passage nennt L EIBNIZ das unendlich Kleine eine „unvergleichlich kleinere“ „Größe“. J OHN F LATH macht an dieser Stelle darauf aufmerksam, dass es sich hier um eine nach der traditionellen Auffassung des A RISTOTELES widersprüchliche Begriffsbildung handelt: Danach nämlich ist die „Größe“ als das „Messbare“ bestimmt – und also als ein „Vergleichliches“. Demzufolge kann es eine „unvergleichliche“ „Größe“ (derselben Art) nicht geben. F LATH möchte dies nicht als „widersprüchlich“ qualifizieren, sondern er möchte L EIBNIZ’ „unendlichen“ Größen – im Rahmen einer Popularisierung – eine „vermittelnde“ Position zubilligen: Teilweise haben sie die Eigenschaften von „Größen“ – man kann mit ihnen rechnen – und teilweise nicht: Man kann sie nicht qua ihrer Natur „vergleichen“, sondern muss das Resultat eines solchen Vergleichs ausdrücklich setzen. F LATH verweist p auf die von L EIBNIZ in diesem Brief angesprochene Analogie zu Objekten wie −2, die man „unbedenklich als ideale Begriffe brauchen“ könne, „durch welche die Rechnung abgekürzt wird“b und die „nützlich und bisweilen sogar unentbehrlich [sind], um auf analytische Weise [wirkliche] Größen auszudrücken“c . – Aber vielleicht meint die „unvergleichlich kleinere“ Größe einfach dasselbe wie „kleiner als eine beliebige gegebene“ Größe? Denn schließlich vergleicht L EIBNIZ sie mit anderen Größen (Brüchen)! (3) Da für L EIBNIZ das unendlich Kleine eine „veränderliche“ Größe ist, die letztlich sogar verschwindet, ist sie nicht eigentlich ein klar bestimmter Begriff, in L EIB NIZ ’ Sprache: „im eigentlichen Sinne weder Eines noch Alles“, sondern lediglich „eine Redeweise“. b c
HS, I, S. 98 HS, I, S. 98 f.
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Leibniz’ Begründung der Differenzialrechnung DIE DIFFERENZIALREGELN Für das Rechnen mit den „unendlich kleinen“ (und den „unendlich großen“) Größen lassen sich ganz allgemeine qualitative Rechengesetze formulieren. L EIBNIZ hat das auch getan. Solche allgemeinen Gesetze werden später wichtig: in einer allgemeinen Theorie veränderlicher Größen. Diese Theorie wird zunächst „Funk- S. 115 tionenlehre“ heißen, später „Analysis“. Aber eine solch allgemeine Theorie entwirft selbst ein L EIBNIZ nicht aus dem Stand. Sie ist erst der zweite Schritt und das gemeinsame Werk vieler späterer Mathematiker. Doch vor dem zweiten muss der erste Schritt getan werden. Dieser erste Schritt ist L EIBNIZ’ großes Werk. L EIBNIZ operiert mit geometrischen Größen. Sein Ziel ist es, allgemeine Methoden zur Berechnung von Tangenten, Normalen, Flächen und dergleichen zu finden. Seine eine große Tat haben wir bereits studiert: seine Methode der Berechnung von (teilweise) krummlinig begrenzten Flächen mittels „R IEMANN-Summen“, ab S. 105 der Anfang dessen, was heute „Integralrechnung“ heißt. L EIBNIZ’ andere große Tat in diesem Feld ist seine allgemeine Methode, Tangenten an Kurven zu bestimmen. Diese Methode heißt „Differenzialrechnung“. Wie der Name sagt, ist dies eine Rechnungsweise mit „Differenzialen“. Wie geht diese Methode? Wie formuliert und wie begründet L EIBNIZ seine Differenzialregeln? Ich erläutere zunächst L EIBNIZ’ Begründungsweise, denn erst daraus ergibt sich ein Verständnis für L EIBNIZ’ Formulierung seiner Regeln. Die Grundkonstruktion mittels des Kontinuitätsgesetzes L EIBNIZ geht wie folgt vor. Wieder ist sein Verfahren geometrisch begründet. Es geht darum, die Tangente an eine Kurve zu bestimmen, genauer: die Steigung der Tangente. L EIBNIZ überlegt sich folgende Konstruktion (die AbA szisse x wird nach oben, die Ordinate y nach rechts abdx T getragen): Gegeben sei eine Parabel xx = a y. Es seien 1X 1Y A 1X = x und 1X 1Y = y. Vom Punkt 1Y werde das Lot 1Y D auf eine größere Ordinate 2 X 2Y gefällt. Die Differenz von A 2X und A 1X heiße dx , die von 2X 2Y und 1 X 1Y heiße dy . Nach der Kurvengleichung y = xx a gilt (weil x zu x + dx und y zu y + dy werden) auch 2
X
D
Y
2
nach HO, S. 44, Fig. 7
Davon y auf der einen und
y + dy = xx a
xx + 2x dx + dx dx . a
auf der anderen Seite abgezogen ergibt
dy 2x + dx = dx a
( dx , dy veränderlich) .
Dies ist eine allgemeine Regel. Nun werde die Sekante 1Y 2Y verlängert, bis sie die
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2. Die Erfindung der stetig Veränderlichen durch Leibniz Achse in T trifft. Dann wird für das Verhältnis der Ordinaten 1X 1Y zu T 1X also stets gelten: 1 X 1Y 2x + dx = . T 1X a Nach dem Kontinuitätsgesetz gilt dies auch für den Fall dx = 0: X 1Y 2x = T 1X a
1
bzw.
dy 2x = . dx a
Der springende Punkt bei dieser Argumentation besteht darin, dass das Dreieck 1Y D 2Y mit den Katheten dx und dy stets – und daher auch im Fall des Verschwindens der beiden Katheten – dem Dreieck T 1X 1Y ähnlich ist, dieses Letztere jedoch wegen der festen Kathetenlänge 1X 1Y stets endlich lange Katheten behalten wird. (Falls dies nicht gelten und also T 1X beliebig groß werden sollte, dann gibt es im Punkt 1Y eine senkrechte Tangente.) Für diesen Fall garantiert das Kontinuitätsgesetz, dass auch beim „Verschwinden“ von dx (und damit auch von dy !) die Gleichheit 1 X 1Y dy = dx T 1X
ab S. 336
zu einem Verhältnis endlicher Längen erhalten bleibt.88 Die veränderliche Länge dx mit der Grenze 0 nennt L EIBNIZ „unendlich klein“. Im Weiteren schreibt L EIBNIZ für die endlichen Strecken T 1X = (d) x, 1X 1Y = (d) y. Die heutige Definition des Begriffs „Differenzial“ (sie geht auf C AUCHY zurück) ist eine algebraische Fassung dieser geometrischen Konstruktion. Leibniz’ Differenzialregeln (1) Die erste Differenzialregel89 formuliert L EIBNIZ in „Cum prodiisset“ so: Wenn y − z = v, dann gilt (d) y − (d) z = (d) v. (HO, S. 46) Wir bemerken: In der Folgerung stehen (d) y, (d) z, (d) v und nicht dy , dz , dv ! L EIBNIZ’ Beweis: Er betrachtet (endliche, aber veränderliche – genauer: verschwindende) Strecken dy , dz und dv und setzt diese in die Ausgangsgleichung ein: y + dy − z − dz = v + dv . 88 Bos 1974, S. 57 betont demgegenüber, hier werde das Kontinuitätsgesetz nicht
als Argument verwendet. Daraus leitet er ab, L EIBNIZ habe „zwei verschiedene“ (Bos 1974, S. 55) bzw. zwei „sehr verschiedene“ (Bos 1980, S. 70) Differenzialbegriffe vorgelegt.
89
Leider wird der Name „Regel“ hier in abweichender Bedeutung verwendet: Gewöhnlich steht er für Handlungsanweisungen (meist: Rechenanweisungen), die nicht begründet oder gar bewiesen sind. Hier jedoch ist das anders: L EIBNIZ begündet seine hier so genannten „Differenzialregeln“ sehr wohl – jedenfalls in „Cum prodiisset“.
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Leibniz’ Begründung der Differenzialrechnung Davon zieht er die Ausgangsgleichung y − z = v ab und erhält: dy − dz = dv . Daraus folgt: dy − dz dv dy dz dv = oder − = , dx dx dx dx dx und dies Letztere ist – nach seiner geometrischen Grundkonstruktion – ersetzbar S. 117 durch Verhältnisse endlich bleibender Größen: (d) y (d) z (d) v − = (d) x (d) x (d) x und also (d) y − (d) z = (d) v , wie es behauptet wurde. Dieses Ergebnis schreibt L EIBNIZ dann noch als (d) z (d) v = 1− . (d) y (d) y L EIBNIZ erläutert nun: So können wir den ganzen Ertrag unserer Rechnung (omnis calculus) wahrnehmen, offenbar eine Konstruktion durch zuordenbare Größen – nämlich (d) x, (d) y, (d) v – und fährt fort: trotzdem ist es offenbar, dass – unter der Annahme, dass zumindest für jene dzuordenbare Größene unzuordenbare dGrößene dx , dy ein(d) y gesetzt werden können, weil dy : dx immer auf das Verhältnis (d) x zwischen zuordenbaren oder unzweifelhaft wirklichen Größen zurückgeführt werden kann – dies auch im Falle ihres Verschwindens angenommen werden kann. So kann eben auch im Falle der Tangenten dv dz = 1− dy dy
oder
dv = dy − dz
werden. (HO, S. 46) Damit hat L EIBNIZ am Ende doch noch die von uns erwartete Gleichung für die verschwindenden Differenziale abgeleitet – in einer einwandfreien und sehr detaillierten Schlusskette. (2) Dann die heikle Multiplikation. Wenn a y = xv, dann gilt a (d) y = x (d) v + v (d) x.
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2. Die Erfindung der stetig Veränderlichen durch Leibniz Beweis: a y + a dy = (x + dx )(v + dv ) = xv + x dv + v dx + dx dv , und indem das Gleiche a y und xv auf beiden Seiten abgezogen wird, ergibt sich a dy = x dv + v dx + dx dv
a dy x dv = + v + dv , dx dx
oder
und dies, wie es erlaubt ist, in niemals verschwindende Geraden (rectas) überführt, ergibt a (d) y x (d) v = + v + dv , (d) x (d) x sodass als einzige dGeradee, die verschwinden kann, dv übrig bleibt. Im Falle verschwindender Differenzen, also dv = 0, wird a (d) y = x (d) v + v (d) x , was behauptet wurde, oder (d) y : (d) x = (x + v) : a.[90] Deshalb und auch, weil (d) y : (d) x immer = dy : dx ist, wird es erlaubt sein, dies im Falle verschwindender dy , dx anzunehmen (fingere) und dy : dx = (x + v) : a
oder
a dy = x dv + v dx
zu machen. (HO, S. 46 f., L EIBNIZ’ Kommaschreibweise durch Klammern ersetzt.) Erneut eine gänzlich korrekte Argumentation mit Rückgriff auf die geometrische Grundkonstruktion. (3) In derselben Weise leitet L EIBNIZ dann seine Divisionsregel ab, von der ich hier nur die Formulierung wiedergebe: Division. Sei z : a = v : x, dann gilt (d) z : a = (HO, S. 47)
v (d) x−x (d) v . xx
Wiederum formuliert L EIBNIZ das Endergebnis für die endlichen Größen (d) . . . und nicht für die verschwindenden; erst am Ende seines Beweises übersetzt er sein Resultat wieder in Differenziale d . . . Ergebnis In „Cum prodiisset“ beweist L EIBNIZ seine Differenzialregeln in sorgfältiger und korrekter Weise. Seine Vorgehensweise besteht darin, durch Rechnung möglichst 90
L EIBNIZ setzt hier offenbar (d) x = (d) v. Dies ist erlaubt, da jeweils eine der beiden endlichen Vergleichsgrößen (d) x, (d) y bzw. (d) v, (d) y gemäß seiner Grundkonstruktion – siehe S. 117 – beliebig gewählt werden kann – sodass auch die Wahl (d) x = (d) v zulässig ist. Bos 1974, S. 58, An-
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Leibniz’ Begründung der Differenzialrechnung Quotienten aus Differenzialen herzustellen. Dabei ist der Nenner aus dem Differenzial (das ist eine „verschwindende“ Größe) der unabhängig Veränderlichen zu bilden. Diese Quotienten aus verschwindenden Größen können dann mittels der geometrischen Grundkonstruktion gemäß dem Kontinuitätsgesetz in Quoti- S. 117 enten aus nicht verschwindenden Größen überführt bzw. durch sie ersetzt werden. (Die Geltung dieser Grundkonstruktion ist durch das Kontinuitätsgesetz gesichert.) Falls dann noch allein stehende verschwindende Größen verbleiben, können diese aus der Gleichung gestrichen werden – eben weil sie verschwinden. Im Endergebnis können schließlich, wiederum mittels der geometrischen Grundkonstruktion, die Quotienten nicht verschwindender Größen in Quotienten verschwindender Größen überführt werden. Die Besonderheit dieser Rechnung liegt darin, dass sie sehr sauber mit „verschwindenden“ Größen operiert. Mit ihnen wird nach den gewöhnlichen Rechenregeln verfahren. Die Berücksichtigung des Verschwindens dieser Größen erfolgt grundsätzlich nur in jenem Stadium, in dem Quotienten mit (verschwindendem) dx im Nenner gebildet worden sind.91 All diese Quotienten werden dann durch analog gebildete Quotienten aus veränderlichen, aber nicht verschwindenden Größen (d) . . . ersetzt, während die allein verbliebenen verschwindenden Größen d . . . dann tatsächlich aus der Gleichung gestrichen werden – eben weil sie für den betrachteten Fall (Tangente!) tatsächlich verschwinden. Das auf diese Weise ermittelte Resultat ist demzufolge eines, das für SÄMTLICHE Stadien der „veränderlichen“ Größe gilt: AUCH FÜR DEN FALL DES „V ERSCHWINDENS “. Das „Kontinuitätsgesetz“ ist der Garant dieses Resultats. Fazit: L EIBNIZ hat eine logisch und analytisch tadellose Herleitung seiner Differenzialregeln gegeben. Dabei sind die „Differenziale“ „veränderliche“ geometrische Größen mit – wie wir heute sagen – dem „Grenzwert“ 0; L EIBNIZ spricht von „verschwindenden“ Größen. Wegen ihres prekären ontologischen Status’ – sie verschwinden, d. h. sie werden zu nichts – nennt L EIBNIZ sie „eingebildet“. Wichtig: Die betrachteten Größen sind sämtlich geometrische „stetige“ Größen. L EIBNIZ gibt eine streng geometrische Begründung seiner Differenzialregeln und stützt sich dabei maßgeblich auf sein Kontinuitätsgesetz. Mit einem Rückgriff auf unendlich kleine, unveränderliche „Zahlen“, wie sie die moderne Theorie der Nichtstandard-Analysis kennt, hat L EIBNIZ’ Differenzialrechnung offenkundig nicht das Geringste zu tun. L EIBNIZ’ Differenziale sind nicht „Zahlen“, sondern (veränderliche) geometrische „stetige“ „Größen“. Fürsprecher der Nichtstandard-Analysis pflegen sich dieser Einsicht zu verschließen: Die Verlockungen des L EIBNIZ’schen Renommees sowie des schönen Betätigungsfeldes „Geschichtsschreibung der Analysis“ sind zu unwiderstehlich. merkung 97 und ihm folgend Arthur 2013, S. 566, Anmerkung 15 sehen dieses Argument nicht und beurteilen die letzte Gleichung bei L EIBNIZ als (folgenlosen) Rechenfehler. 91 In heutiger Betrachtungsweise hat L EIBNIZ hier also tatsächlich „Ableitungen“ gebildet – obwohl er keinen Begriff für das hatte, was wir heute „Funktion“ nennen!
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2. Die Erfindung der stetig Veränderlichen durch Leibniz
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L EIBNIZ’ Einführung der endlichen Größen (d) x, (d) y kann man jedoch als eine – geometrische – Betrachtungsweise lesen, die später C AUCHY – in allgemeinerer Weise – als Definition des Differenzials wählte und die im Prinzip auch die noch heute übliche ist.92 Zwei Abschlussbemerkungen
S. 164
Man könnte auf die Idee kommen, L EIBNIZ habe sich seine Begründung für seine Differenzialregeln erst im Nachhinein ausgedacht – immerhin stammt „Cum prodiisset“ etwa aus dem Jahr 1702, während er seine Theorie um 1675 entwickelte und ab 1684 publiziert hat. Dem widerspricht die Tatsache, dass L EIBNIZ bereits in seiner ersten Publikation zu seinen Differenzialregeln im Jahr 1684 das dx als „eine beliebig angenommene Strecke“d einführt und dx in stolzer Länge in sein Diagramm zeichnet. Als Konsequenz daraus (sowie etlicher Druckfehler) sind die technischen Details dieser Abhandlung nicht leicht zu verstehen, doch aus dieser Einführung von dx (in „Cum prodiisset“ besser „(d) x“ genannt) darf man wohl schließen, dass L EIBNIZ jedenfalls 1684 seine erst später so genau niedergelegte Begründung seiner Vorgehensweise im Sinn hatte. Selbstverständlich befasst sich L EIBNIZ auch mit höheren Differenzialen, in „Cum prodiisset“ ausdrücklich mit Differenzialen zweiter Ordnung. Darauf will ich hier jedoch nicht eingehen. L E I B N I Z E R W E I T E R T D E N G E LT U N G S B E R E I C H D E R M AT H E M AT I K DER AUSGANGSPUNKT: DESCARTES’ La Géométrie
S. 68
Bereits D ESCARTES hatte den Geltungsbereich der Geometrie gegenüber der griechischen Tradition erweitert. Er ließ neben den Kegelschnitten (Ellipse, Hyperbel, Parabel) sämtliche durch eine Gleichung beschriebenen Kurven als legitime Objekte der Mathematik zu. Es gab eine einzige Einschränkung: Die Exponenten dieser Gleichungen durften nur aus Zahlen bestehen. In heutiger Terminologie sind dies die „algebraischen“ Gleichungen bzw. Kurven. Auch wenn die Zykloide damals als interessante Kurve mit bemerkenswerten Eigenschaften bekannt wurde, so blieb sie gemäß dem D ESCARTES’schen Verdikt aus der Geometrie ausgeschlossen und wurde der Mechanik zugeschlagen. Die Zykloide (oder: Radkurve) wird von einem starr mit einem Kreis verbundenen Punkt beschrieben, indem der Kreis auf einer Geraden abrollt. Bezeichnet man den Kreisradius mit a, den Abstand des die Zykloide beschreibenden Punktes vom Kreismittelpunkt mit b, d
92
ZSS-d, S. 51 – Quelle: GM V, 220 Dies mag B OS zu der in Anmerkung 88 von S. 118 berichteten Lesart geführt haben.
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Leibniz erweitert den Geltungsbereich der Mathematik
so wird die betreffende Kurve mittels des Wälzwinkels t durch die Gleichungen x = at − b sin t ,
y = a − cos t
beschrieben. Nach der Etablierung der trigonometrischen „Funktionen“ lassen sich mittels der „Umkehrfunktion“ zum Cosinus, dem Arkuscosinus (der jedoch nur für Werte zwischen −1 und +1 erklärt und dort nicht eindeutig definiert ist!), diese beiden Gleichungen formal zu einer zusammenfassen: p a−y x + y(2a − y) = a arccos . a Diese Gleichung beschreibt die Zykloide also nur in sehr eingeschränkter Weise.
Und D ESCARTES hatte eine weitere Einschränkung formuliert, gleich im ersten Satz der Géométrie: Es sind nur Strecken als Bezugslinien zugelassen, also nur ge- S. 17 rade Linien. Das, was wir heute „krummlinige Koordinaten“ nennen, war demzufolge ausgeschlossen. LEIBNIZ’ ERWEITERUNGSPROGRAMM L EIBNIZ hob beide D ESCARTES’schen Beschränkungen auf. Dabei kommt die Verwendung von, wie wir heute sagen, „krummlinigen Koordinaten“ bei L EIBNIZ eher nebenbei vor, wurde auch gelegentlich bestritten, ist aber doch nachweisbar.e Sehr viel intensiver arbeitete L EIBNIZ an der Aufhebung der D ESCARTES’schen Beschränkung der Mathematik auf, wie wir heute sagen, „algebraische“ Gleichungen und Kurven. Ein erster Impuls dazu rührt von dem Problem, Gleichungen mit Unbekannten im Exponenten zu lösen. Damit beschäftigt sich L EIBNIZ im Jahr 1680:f Zwar lässt sich 2x = (1 + 1)x in eine Binomialreihe entwickeln, 2x = (1 + 1)x = 1 + x +
x(x − 1) x(x − 1)(x − 2) + +... , 2 2·3
und was für 2 gilt, gilt für jedes feste a – doch hilft dies nicht viel weiter. L EIBNIZ’ Hauptmotivg waren seine Schwierigkeiten bei der Formulierung der Integralrechnung. 1678 hatte er deren Lösung in der Zulassung und sinnvollen Behandlung von Gleichungen mit veränderlichem Exponenten gesehen, erzielte aber bei seinen Experimenten mit solchen Gleichungen „keine brauchbaren Ergebnisse.“h Wie wir wissen, kommt der Logarithmus bei der Integralrechnung rasch ins Spiel, nämlich bereits bei der Integration des einfachsten gebrochenen Terms: Z
dx . x
Daher verstehen wir es leicht, dass L EIBNIZ „den Stier bei den Hörnern“ packt, um e g
Vgl. Breger 1986, S. 124 f. f Breger 1986, S. 126 So Breger 1986, S. 127. h Breger 1986, S. 127
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2. Die Erfindung der stetig Veränderlichen durch Leibniz „die mathematischen Schwierigkeiten durch eine klare philosophische Entscheidung zu beheben: L EIBNIZ verschiebt die Grenzen zwischen Mechanik und Mathematik, indem er algebraisch unlösbare Probleme als neue legitime Objekte einführt. Die Legitimität der neuen Objekte wird nicht mit einer Zusatzüberlegung – wie z. B. Konstruierbarkeit mit gewissen Hilfsmitteln oder Darstellbarkeit durch eine Gleichung von bestimmter Form – begründet; die Legitimität dieser Objekte ergibt sich vielmehr allein daraus, dass sie aus einem algebraisch unlösbaren Problem entstehen. »So wie die Unmöglichkeit der Wurzelziehung im Rationalen zu irrationalen Größen führt, so führt die Unmöglichkeit der Integration algebraischer Ausdrücke zu transzendenten Größen.« (GM, V, S. 377) Und an anderer Stelle schreibt L EIBNIZ: »Wenn ich ein problema Transcendens dahin reduciret, daß es a logarithmis vel arcubus circuli, und also Tabulis Canonicis, oder quod eodem redit, quadratura Circuli et Hyperbolae dependiret, so halte ich es pro absoluto, und kan ein mehreres darinn nicht geschehen.« (GM, VII, S. 360)“ (Breger 1986, S. 127 f.) Eine transzendente Größe war demnach im Allgemeinen als Z t (x) dx gegeben, wobei t (x) irgendein – zunächst: algebraischer – Ausdruck ist. DURCH DIE EINFÜHRUNG DER VERÄNDERLICHEN GRÖSSE WIRD DAS KONTINUUM ZU EINEM GEGENSTAND DER MATHEMATIK Traditionell – etwa bei A RISTOTELES – war das Kontinuum Gegenstand der Physik.i Wendet man die Differenzial- und Integralrechnung in der Physik an, erhält man meist transzendente Größen im eben beschriebenen Sinn. Akzeptiert man L EIB NIZ ’ Entscheidung, transzendente Größen in der Mathematik zuzulassen – und in der Tat setzte sich diese Position durch –, wird durch diese L EIBNIZ’sche Entscheidung das Kontinuum zu einem Gegenstand der Mathematik: „Durch die Einführung des Transzendenten wird zum ersten Mal in der Geschichte der Mathematik das Kontinuum zum legitimen Objekt. [. . . ] E UKLID und D ESCARTES hatten jede benötigte irrationale Größe gesondert konstruiert, jetzt schwächt man die Kriterien für mathematische Exaktheit und Konstruierbarkeit ab [. . . ] “ (Breger 1986, S. 130) Um es nochmals hervorzuheben: Diese Anerkennung des Kontinuums als Gegenstand der Mathematik – oder gleichbedeutend: die Akzeptanz des neuen Begriffs der „veränderlichen“ Größe – löst das bei D ESCARTES bestehende Problem i
Vgl. Aristoteles’Physik.
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Leibniz erweitert den Geltungsbereich der Mathematik des Brückenschlags zwischen der Gleichung einer Kurve und der Kurve als einer Linie. • Bei D ESCARTES bestimmt jedes Zahlenpaar x und y jeweils einen einzelnen Punkt der Kurve. Da aber die Linie nicht aus Punkten besteht, kann sie auf diese Weise nicht als Linie bestimmt werden, nicht in ihrem Wesen. Bei D ES CARTES sind x und y arithmetisch gedacht: als „Zahlen“. • Bei L EIBNIZ bestimmen x und y nicht mehr nur einzelne Punkte, sondern (als „Veränderliche“) die Linie in ihrer Gesamtheit. Bei L EIBNIZ sind x und y selbst „kontinuierlich“ – und also: geometrisch – gedacht: als „(geometrische) Größen“. Dass die geometrisch gedachten Größen x und y Zahlen enthalten (etwa die Brüche), ist klar. Aber sie enthalten mehr als nur diese Zahlen: etwa die Irrationalen (deren Status als „Zahl“ zu diesem Zeitpunkt jedenfalls noch ungeklärt, zumindest unsicher ist), wohl auch die Transzendenten93 – und womöglich sogar die bloß Eingebildeten (wie sich später klärte, lässt sich dies jedoch nicht einrichten, ohne Abstriche am Zahlbegriff vorzunehmen). Auf diesen letzten Punkt komme ich gleich noch genauer zu sprechen. TRANSZENDENTE ZAHLEN Eine Vormerkung aus heutiger Sicht Wir Heutigen sind in der Sicht erzogen, als „Kontinuum“ die „reellen“ Zahlen zu denken. Von den „reellen“ Zahlen wissen wir, dass sie aus „algebraischen“ Zahlen bestehen – das sind solche, die Lösung einer formalen Gleichung sind – sowie den anderen; diese anderen heißen „transzendent“. Seit C ANTOR sind wir es gewohnt, zu sagen, die „algebraischen“ Zahlen seien „abzählbar“ viele, die „reellen“ Zahlen aber „überabzählbar“ viele – und demzufolge müsse es auch „überabzählbar“ viele „transzendente“ Zahlen geben. Dazu in einem gewissen Kontrast steht die Tatsache, dass wir bis heute nur relativ wenige „transzendente“ Zahlen kennen. „Transzendente“ sind – anfangs (selbst bei Leibniz) – keine Zahlen Auch wenn es nicht einfach ist, so müssen wir uns doch von dieser Denkweise frei machen, wenn wir die Gegebenheiten ab dem späten 17. bis zum späteren 19. Jahrhundert verstehen wollen. Denn dass „Transzendente“ überhaupt „Zahlen“ sind, versteht sich keineswegs von selbst. Die berühmte, von L EIBNIZ summierte und nach ihm benannte Reihe S. 105 1−
1 1 1 1 1 + − + − +−... 3 5 7 9 11
besteht aus Brüchen, „rationalen“ Zahlen also. Die Summe dieser Reihe jedoch 93
Zu den beiden letzten Feststellungen siehe den folgenden Abschnitt.
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2. Die Erfindung der stetig Veränderlichen durch Leibniz ( π4 ) ist keine rationale Zahl, kein Bruch. Erst im Jahr 1882 wurde bewiesen, dass π – und folglich auch π4 – „transzendent“ ist: dass es also keine Gleichung gibt, deren Lösung π (oder π4 ) ist.j L EIBNIZ publiziert 1682 einen Beweis dafür, dass diese Reihe nicht eine bloße Annäherung an die Fläche des Viertelkreises mit Radius 1 ist, sondern diese Fläche exakt misst: „Daraus erkennt man, dass, wenn sich die Reihe lange fortsetzt, der Fehler unterhalb eines gegebenen Bruches bleibt und somit auch unter einer beliebig angenommenen Größe. Folglich drückt die gesamte Reihe den exakten Wert bder Kreisflächec aus. Und wenngleich keine einzelne Zahl die Summe dieser Reihe ausdrücken kann und diese Reihe sich bis ins Unendliche fortsetzt, so wird die gesamte Reihe dennoch durch den Verstand ausreichend erfasst, da sie auf einer einzigen Progressionsgesetzmäßigkeit beruht. Denn da ja Kreis und Quadrat nicht kommensurabel sind, kann bderen Verhältnisc nicht durch eine einzige Zahl ausgedrückt werden, sondern muss notwendigerweise durch eine Reihe aus rationalen Termen bestimmt werden, wie auch die Diagonale des Quadrats, wie die nach äußerer und mittlerer Proportion durchgeführte Teilung,∗ die einige göttlich nennen, und wie viele weitere Größen, die irrational sind.“ (ZSS-d, S. 14 f. – Quelle: GM V, 120) Nach L EIBNIZ’ Position im Jahr 1682 ist also nicht nur π keine „Zahl“, sondern auch die Irrationalen sind keine „Zahlen“, sie sind „(geometrische) Größen“. Im Jahr 1682 versteht L EIBNIZ unter „Zahl“ also nur die (heute so genannten) „natürlichen“ Zahlen 1, 2, 3 usw. sowie die „Brüche“.94 (Auch seine Zeitgenossen und Vorgänger, etwa J OHN WALLIS (1616–1703), hielten π nicht für eine „Zahl“. – Wobei wir festhalten wollen: Das Symbol „π“ war damals für die „Ludolph’sche Zahl“95 noch nicht üblich. Es wurde erstmals im Jahr 1706 von W ILLIAM J ONES (1675–1749) in seinem Buch Synopsis palmariorum mathesos verwendet,k von E ULER ab 1736, dann vor allem in seiner einflussreichen Introductio in analysin infinitorum von 1748.l ) ∗
j l
94 95
Vgl. E UKLID Elementa, VI, Def. 3, wo die Teilung »nach äußerem und mittlerem Verhältnis« »stetige« Teilung genannt wird. Die Bezeichungen »göttliche Proportion« (L. PACIOLI, De divina proportione, 1509) oder »goldener Schnitt« (19. Jh.) sind späteren Datums. [Anmerkung der Übersetzer – D. D. Sp.] Lindemann 1882 k Siehe Cajori 1928–29, § 396, Bd. 2, S. 9. Cajori 1928–29, § 397, Bd. 2, S. 10 f. Genaueres zu L EIBNIZ’ Zahlbegriff auf S. 79–100. L UDOLPH VAN C EULEN (1540–1610) wurde dafür berühmt, dass er die ersten 35 stellen von π errechnete. Selbst publizierte er im Jahr 1596 die ersten 20 Stellen, Zweitauflage nach seinem Tode: van Ceulen 1615, Übersetzung ins Lateinische: van Ceulen 1619.
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Leibniz als Begriffs- und Symbolerfinder In einem wohl etwas später entstandenen Aufsatz allerdings definiert L EIBNIZ „Zahl“ als etwas, das zur Einheit „artgleich“p(homogen) ist. Das haben wir bereits behandelt. Daraus folgert L EIBNIZ, dass 2 sehr wohl eine „Zahl“ sei.m Und S. 81 in einem weiteren Text spricht L EIBNIZ ausdrücklich von transzendenten „Zahlen“.n Allerdings ist das, wie wir uns überlegt haben, keineswegs schlüssig begründet: L EIBNIZ wollte zwar einen allgemeinen ‚analytischen‘ Zahlbegriff bestimmen, doch misslang ihm das. (Im 19. Jahrhundert werden zwei sehr prominente Mathematiker an demselben Problem scheitern: B ERNARD B OLZANO96 ebenso wie später spektakulär K ARL W EIERSTRASS.) S. 415 – 439 DAS KONTINUUM BESTEHT NICHT NUR AUS ZAHLEN Gerade haben wir gesehen, dass für L EIBNIZ die „transzendenten“ Größen nicht schon immer „Zahlen“ sind. Und sein schließlich gefundener Zahlbegriff (der die Transzendenten einschließt) ist nicht einmal bis heute allseits anerkannt97 . Daraus bleibt nur der Schluss, den die letzte Überschrift formuliert: Ausgangs des 17. Jahrhunderts besteht das Kontinuum nach allgemeiner Auffassung nicht allein aus „Zahlen“ – sondern aus weiteren „Größen“, zu denen jedenfalls die „Transzendenten“ gehören, manchmal sogar die „Irrationalen“ (auch wenn sie keine „Zahlen“ sind). Über die Art dieser Größenpbesteht jedoch keine Klarheit. Das ist bei den bloß „eingebildeten“ Zahlen wie −2 genau so; im Deutschen werden sie „unmögliche“ Zahlen genannt werden. Dass die einen (die „Transzendenten“), nicht aber die Anderen (die „Eingebildeten“, also die später „imaginär“ genannten „Zahlen“), in der Mathematik schließlich wirklich als „Zahlen“ akzeptiert werden – die Transzendenten sogar als „reelle“, also „wirkliche“, Zahlen, die „Eingebildeten“ jedoch nur in eingeschränkter Weise –, ist im 17. Jahrhundert nicht absehbar. Das Kontinuum bleibt Teil der Physik Auch wenn L EIBNIZ das Kontinuum zum legitimen Gegenstand der Mathematik erklärt, so wird es damit der Physik natürlich nicht entzogen. Vielmehr ist es der Clou von L EIBNIZ’ Entscheidung, dass durch sie die Physik – soweit sie das Kontinuum als Begriff nutzt – umstandslos zu Mathematik (erklärt) wird. L EIBNIZ legt mit seiner Einführung des Kontinuums in die Mathematik den Grundstein für die Mathematisierung der Physik durch die Differenzial- und Integralrechnung – und sichert damit umgekehrt diesem neuen Kalkül ein breites Anwendungsfeld. In heutigem Slang nennt man das eine Win-win-Situation. m
So schon Breger 1986, S. 131, dann erneut Breger (2015), S. 5.
n
GM VII, 208
96
Da B OLZANOs diesbezügliche Texte (insbesondere RZ) im 19. Jahrhundert nicht bekannt geworden sind, nicht einmal durch mündlichen Vortrag wie im Falle W EIERSTRASS, gehe ich in diesem Buch nicht im Detail darauf ein. Näheres etwa in Spalt 1990a, Spalt 1991a. 97 Es sei an G ROSHOLZ’ und YAKIRAs Deutung aus dem Jahr 1998 erinnert: siehe S. 94.
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2. Die Erfindung der stetig Veränderlichen durch Leibniz LEIBNIZ ALS BEGRIFFS- UND SYMBOLERFINDER CHARACTERISTICA UNIVERSALIS Wie schon D ESCARTES, so reflektiert auch L EIBNIZ den Gebrauch der Symbole in der Wissenschaft grundlegend. L EIBNIZ schwebt eine „Characteristica universalis“ vor, welche die abstrakten Begriffe durch anschauliche Zeichen „repräsentiert“. So wie die abstrakten Begriffe aus Elementarbegriffen zusammengesetzt sind, sollen die anschaulichen Zeichen aus Buchstaben gebildet sein. „Das Ideal der Darstellung wäre erreicht, wenn jedem Elementarbegriff ein bestimmter Buchstabe zugeordnet wäre und wenn allen verschiedenen »Relationen der Gedanken« auch besondere Verbindungen der Zeichen ein-eindeutig entsprächen.“ (Mahnke 1927, S. 282) L EIBNIZ möchte durch konkrete Zeichen die abstrakten Begriffe und Schlussfolgerungen der menschlichen Vernunft fassen. Diese konkreten Zeichen sollen die Gedanken für das Anschauungsvermögen (imaginatio) fasslich darstellen und ausdrücken.o Wegen der Übereinstimmung (consensus) zwischen den „inneren Formen der Dinge“ und den sie darstellenden Zeichen können die gültigen Wahrheiten entdeckt und bewiesen werden.p Das Anschauungsvermögen meint nicht das empirische Vermögen der Sinne, sondern das eines „inneren Gemeinsinnes“q , der aus den konkreten sinnlichen Eindrücken die Ideen bildet. Ab den späten 1670er Jahren schwebt L EIBNIZ sogar „ein mechanisches Verfahren [vor, um] neue wahre Aussagen herzuleiten“r , und er verwendet dafür den Namen „Ars characteristica“ r . Ein Beispiel einer solchen „Ars characteristica“ stellt L EIBNIZ’ „vollständige und richtige, determinantenartige Lösung inhomogener, linearer Gleichungssysteme mittels kombinatorischer Überlegungen“s dar. Der bedeutende L EIBNIZ-Forscher D IETRICH M AHNKE (1884–1939)98 schreibt L EIBNIZ sogar die Einsicht zu, dass die symbolische Mathematik nicht nur von großem praktischen Nutzen sei, sondern auch „theoretisch unentbehrlich für ihre exakte logische Grundlegung“t – eine Einsicht, die M AHNKEs Zeitgenosse D A VID H ILBERT erneut gewonnen habe. Dabei bezeichnet M AHNKE „die symbolische Mathematik als die Synthese der formalen und der intuitiven Mathematik“u . VON LEIBNIZ ERFUNDENE SYMBOLIK L EIBNIZ hat der Mathematik viele Symboliken erfunden. Nicht alle haben sich durchgesetzt. Die wichtigsten seien kurz genannt. (Das Folgende findet sich schon bei Mahnke 1927 und ist in den mittlerweile publizierten frühen Manuskripten einsehbar, die online zugänglich sind via http://www.leibniz-edition.de/ Baende/ReiheVII.htm ) o r 98
Vgl. Mahnke 1927, S. 281. p Vgl. Mahnke 1927, S. 282. q Mahnke 1927, S. 284 Leibniz 1973, S. 57 s Knobloch 1999, S. 225 t Mahnke 1927, S. 286 u Mahnke 1927, S. 287 Mitunterzeichner des „Bekenntnis[ses] der Professoren [. . . ] zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“ vom November 1933; 1934 Mitgliedschaft in der SA, Reserve II (Leaman 1993, S. 100, 64)
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Leibniz als Begriffs- und Symbolerfinder (1) Bereits genannt habe ich die Indexnotation. Ihr Prinzip verdanken wir L EIB NIZ , auch wenn die konkrete Ausgestaltung noch abgewandelt wurde: Heute wird S. 106 die Zahl nicht, wie bei L EIBNIZ, vor-, sondern nachgestellt; und sie wird nicht nur kleiner geschrieben, sondern auch tiefgestellt. Wo L EIBNIZ 1P , 1P oder 1P schrieb, schreiben wir heute P 1 . (2) Für „+ oder −“ schreibt L EIBNIZ bis etwa Mitte 1674 „=|“ oder „≡|“, dann bis Ende 1674 „ “ oder „ “, dann meistens „ “ oder „ “.v (3) Die Multiplikation bezeichnet L EIBNIZ oft durch die bloße Nebeneinanderstellung der Faktoren. Zur Vermeidung von Mehrdeutigkeiten nutzt er das Komma (während wir heute Klammern setzen): also „a , b + c“ gegenüber „ab + c“, wo wir heute „a(b + c)“ und „ab + c“ notieren. Wo ein Multiplikationssymbol benötigt wird, empfiehlt L EIBNIZ _ statt ×; Letzteres verwendet er gelegentlich für die „kreuzweise“ Multiplikation von Brüchen: 1 2 1 2 × 3 = 3. Daraus ergibt sich, dass der heutige Multiplikationspunkt seinem Ursprung nach gar kein Operationszeichen ist, sondern anfangs (wie das Komma) als Trennungszeichen genutzt wurde. (4) Statt der damals üblichen Überstreichung zur Kennzeichnung der Zusammengehörigkeit ¡ ¢ empfiehlt L EIBNIZ Klammern: statt a , bc +pe¡, f +pg also ¢ a + (b + c) a bc + e( f + g ) . Dies empfiehlt L EIBNIZ auch beim Wurzelzeichen: p p statt a + b + c, doch dieser Vorschlag hat sich bis heute nicht durchgesetzt. (5) Die Gleichheit zweier Proportionen (a : b :: c : d ) unterscheidet L EIBNIZ von der Gleichheit zweier Quotienten ( ba = dc ). (6) Aus seinem Gleichheitszeichen (zu deuten als eine Waage mit zwei gleichen Gewichten) entwickelt L EIBNIZ sein Kleiner- ( ) bzw. Größerzeichen ( ). (7) Schließlich L EIBNIZ’ berühmteste Erfindung: seine Erweiterung R der gewöhnlichen Algebra um das Differenzial- (d ) und das Integralzeichen ( ). Das Integralzeichen taucht in seinen Manuskripten ab Oktober 1675 auf, etwa in der Gleichungw Z x2 , x 2 R das Differenzialzeichen einen Monat später. (Bei x fehlt das dx , weil L EIBNIZ dx zunächst als Einheit sah.x ) Zuerst schreibt L EIBNIZ das Differenzialzeichen im Nenner ( dx ), ändert das aber schon während der Rechnung und schreibt bereits hier y Z y2 yd y . 2 Diese Formeln sind auch deswegen interessant, weil es zu diesem frühen Zeitpunkt den Begriff der Funktion noch nicht gibt. x und y sind hier geometrische Längen. v y
Vgl. Probst und Mayer 2012, S. XXXI. AA VII.5, N. 46, S. 326, Z. 3
w
AA VII.5, N. 40, S. 292, Z. 20
x
Vgl. Mahnke 1927, S. 288.
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2. Die Erfindung der stetig Veränderlichen durch Leibniz EINIGE VON LEIBNIZ ANGEREGTE KONSTRUKTIONEN UND BEGRIFFE In L EIBNIZ’ Texten finden sich sehr früh schon Wörter, die später zu wichtigen Begriffen der Analysis wurden. Das sind insbesondere die Wörter „Funktion“ und „Koordinaten“. Das „kartesische“ Koordinatensystem: eingeschränkt Das uns heute so geläufige, gewöhnlich nach D ESCARTES benannte Koordinatensystem stammt sicher nicht von D ESCARTES. L EIBNIZ hingegen hat es – eingeschränkt auf den ersten Quadranten – in einem 1694 erschienen Artikel klar beschrieben: „Der Kalkül aber wird so eingerichtet: Man nimmt einen beliebigen festen rechten Winkel an, dessen beliebig weit gezogene Schenkel die beiden Achsen der Kurvenbeziehung bzw. zwei konjugierte Achsen festlegen sollen; die aus einem beliebigen Kurvenpunkt auf sie gefällten Normalen sind die Ordinate x und die Abszisse y, mit einem Wort, die Koordinaten x und y. Sucht man aus dem Gegebenen deren Relation, erhält man die Gleichung (1), die wir soeben primär genannt haben, da sie jedem beliebigen Punkt einer beliebigen der ordnungsgemäß angenommenen Kurven gemeinsam ist.“ (ZSS-d, S. 223 f. – Quelle: GM V, 302 f.) Hier haben wir klar die Namen „Abszisse“ und „Ordinate“ sowie als Oberbegriff dafür „Koordinate“. Gegenüber heute und dem auch zu L EIBNIZ’ Zeiten Üblichen sind hier jedoch die Namen „Abszisse“ und „Ordinate“ vertauscht, vielleicht um „die völlige Symmetrie der Koordinaten zu unterstreichen, die sich auch in L EIB NIZ ’ Verwendung des Begriffs konjugierter Achsen zeigt.“z Ganz eindeutig jedoch spricht L EIBNIZ hier nur vom 1. Quadranten unseres heutigen „kartesischen“ Koordinatensystems: Für L EIBNIZ (und seine Zeitgenossen) gibt es, wie auch für D ESCARTES, nur solche Größen, die heute „positiv“ heißen, die wir aber vielleicht besser „absolut“ nennen sollten; D ESCARTES nannte sie die „wahren“ (genauer: die „gewissen“) Wurzeln einer Gleichung. „Positive“ und „negative“ Größen, der „Betrag“ Das Nachdenken über den Zahlbegriff führt nicht zum Begriff der „negativen“ Zahl. Dafür sind uns die Philosophen des antiken Griechenland Kronzeugen. Nicht durchs Denken entsteht der Begriff der „negativen“ Zahlen, sondern: Beim Rechnen – und zwar: nur beim schriftlichen Rechnen! – stößt man sehr bald auf solche Zeichen, deren Deutung problematisch ist. Ob man diesen Erfahrungen des schriftlichen Rechnens nun Aufmerksamkeit schenkt und sie der theoretischen z
H ESS UND B ABIN in: ZSS-d, S. 224, Anmerkung 10
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Leibniz als Begriffs- und Symbolerfinder Reflexion für fähig (oder gar für notwendig) hält, ist offenbar der Nähe der Philosophen zur rechnerischen Praxis geschuldet. L EIBNIZ zählte klar zu jenen Philosophen, die sehr viel rechneten. Somit verwundert es nicht, dass sich L EIBNIZ’ Aufmerksamkeit auch auf diese Thematik richtete. Eine Unterscheidung zwischen „positiven“ und „negativen“ Größen ergibt sich zwangsläufig beim Subtrahieren. So kann ±5∓3 sowohl +5−3 und also +2 bedeuten, aber auch −5 + 3, was −2 ergibt: „Die Differenz zwischen a und b wird aber entweder durch a − b bezeichnet, falls a größer bals bc ist, oder durch b − a, falls b größer bals ac ist. bDaherc kann bdie Differenzc auch Masse des bAusdrucksc a−b genannt werden, da ja die Masse dieser bGrößenc (z. B.) +2 und −2 dieselbe, nämlich +2, ist. Wenn wir also a − b mit c bezeichnen, so ist mol. c oder die Masse von c gleich +2, was bimmerc eine positive Größe ist, sei c positiv oder negativ, d. h. sei c dasselbe wie +2 oder dasselbe wie −2. Auch haben zwei verschiedene Größen mit derselben Masse immer dasselbe Quadrat.“ (ZSS-d, S. 415)
„Sed differentia inter a & b, significat a − b, si a sit majus, & b − a si b sit majus, quod etiam appellari potest moles ipsius a − b, intelligendo (exempli causa) ipsius +2 & ipsius −2 molem esse eandem, nempe +2; ita si a − b vocemus c utique mol. c, seu moles ipsius c erit +2, quae est quantitas affirmativa sive c sit affirmativa sive negativa, id est, sive sit c idem quod +2, sive c sit idem quod −2, Et quantitates duae diversae eandem molem habentes semper habent idem quadratum.“ (ZSS, S. 270 – Quelle: GM VII, 219)
Beim rein formalen (man könnte auch sagen: algebraischen) schriftlichen Rechnen ergeben sich „negative“ Größen von selbst – wenn man dem rein formalen Rechnen traut und einfach dessen Regeln folgt, unabhängig von der Bedeutung dieser Vorgehensweise. Die gewöhnlichen Größen heißen im Vergleich zu den „negativen“ dann natürlich „positive“ Größen. L EIBNIZ geht sogar so weit, zu den „positiven“ und den „negativen“ Größen sogleich einen Oberbegriff zu bilden: deren „Masse“ (moles).a Wir nennen das heute den „Betrag“. (Ein Zeichen dafür hat L EIBNIZ – fast überraschenderweise – nicht gebildet.)
Die problematische Einordnung der negativen Größen
Auch wenn „negative“ Größen durch das Rechnen zustandekommen, so stören sie doch gewisse Rechengesetze. Zunächst gilt −(−c) = c: Wenn die Größen x = −c und +c dieselbe „Masse“ haben, dann ist −x = −(−c) = +c oder, „wie man gewöhnlich sagt: − mal − macht +.“b – Nun die Störungen: (1) Wenn man nun, wie es schon der Name nahe legt, −1 < +1 setzt, dann wird a
Vgl. dazu auch GM VII, 70.
b
GM VII, S. 70
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2. Die Erfindung der stetig Veränderlichen durch Leibniz die Regel a d.
dann gilt
Die Gleichung ** lässt also folgenden Schluss zu: Weil
1 : −1 = −1 : 1
und
1 > −1 ,
gilt auch
−1 > 1,
und das ist ein offenbarer Widerspruch.99 (In Klammern sei angemerkt: E UKLID formuliert seinen Lehrsatz für „Größen“ – wobei damit selbstverständlich geometrische Größen gemeint sind. Deswegen wird die Voraussetzung dieses Satzes gewöhnlich als a : b = c : d geschrieben.) Gleichung ** ist nicht mit E UKLIDs Größenlehre vereinbar. Daher ist es den Mathematikern zunächst suspekt, die negativen Größen als „kleiner als 0“ – drastischer: „kleiner als Nichts“ – zu betrachten. Das gilt auch für L EIBNIZ, der im April 1712 drucken lässt: „Indessen möchte ich nicht bestreiten – was auch bVARIGNON nichtc tut –, dass −1 eine Größe kleiner als Nichts ist; dies muss nur richtig verstanden werden. Solche Aussagen sind erträglich wahre, wie ich mit dem großen J OACHIM J UNGIUS zu sagen pflege; die Franzosen würden sie passabel nennen. Einer strengen bÜberprüfungc halten sie freilich c 99
„Interim nolim cum ipso negare −1 esse quantitatem nihilo minorem; modo id sano sensu intelligatur. Tales enuntiationes sunt toleranter verae, ut ego cum summo V IRO I OACHIMO I UN GIO loqui soleo; Galli appellarent passables. Rigorem quidem non
Vgl. Euklid, V.14, S. 102. Das führt jetzt auch Breger (2015), S. 4 an.
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Leibniz als Begriffs- und Symbolerfinder nicht stand, sie haben dennoch einen großen Nutzen für das Rechnen und sind von hohem Wert für die Erfindungskunst sowie für universale Konzepte. Solcherart war die Ausdrucksweise E UKLIDs, als er sagte, dass der Kontaktwinkel kleiner als jeder geradlinige Winkel sei, und ebenso sind viele andere bAussagenc der Geometer, in denen eine gewissermaßen bildhafte und dunkle Sprache benutzt wird. Es gibt für die Erträglichkeit gleichwohl gewisse Grade, wie ich es nennen würde. So wie ich ferner bestreite, dass ein Verhältnis mit einem Term, dessen Größe kleiner als Nichts ist, [wirklich100 ] sein bkannc, so bestreite ich auch, dass es eine unendlich bgroßec bzw. unendlich kleine Zahl oder eine unendlich blangec oder unendlich kurze Linie im eigentlichen Sinne geben bkannc, auch wenn E U KLID oft, aber in einem vernünftigen Sinn, von einer »unendlichen Linie« spricht. Das kontinuierlich oder diskret Unendliche ist im eigentlichen Sinne weder Eines, noch Alles, noch büberhauptc eine bestimmbare Größe, auch wenn es von uns in gewisser Analogie für eine solche Größe verwendet wird; um es mit einem Wort zu sagen: Es ist blediglichc eine Redeweise.“ (ZSS-d, S. 450)
sustinent, habent tamen usum magnum in calculando & ad artem inveniendi universalesque conceptus valent. Talis fuit locutio E UCLIDIS, cum Angulum Contactus dixit esse rectilineo quovis minorem; tales sunt multae Geometrarum aliae, in quibus est figuratum quodammodo & crypticum dicendi genus. Sunt tamen quidam, ut sic dicam, tolerabilitatis gradus. Porro ut nego, rationem, cujus terminus sit quantitas nihilo minor, esse realem; ita etiam nego, proprie dari numerum infinitum vel infinite parvum, lineamve infinitam, vel infinite parvam. Etsi E UCLIDES saepe, sed sano sensu, de linea infinita loquatur. Infinitum continuum vel discretum, proprie nec unum, nec totum, nec quantum est; etsi analogia quadam pro tali a nobis adhibeatur; ut verbo dicam, est modus loquendi.“ (ZSS, S. 292 – Quelle: GM V, 388 f.)
Hier sagt L EIBNIZ ganz klar: −1 < 0 ist nicht wirklich wahr 101 , sondern es ist nur dann wahr, wenn man es „richtig versteht“. Er stellt diese Aussage auf dieselbe Stufe wie die Aussage „Es gibt eine unendlich große Zahl.“ Im strengen Wortsinn sind diese Aussagen in L EIBNIZ’ Augen unzutreffend, „aber in einem recht verstan- ab S. 179 denen Sinne [sind sie] akzeptabel“d . Diese Aussagen sind nur „Redeweisen“. Von heute aus könnte man dies eine sehr weitsichtige Formulierung nennen – denn in der Tat verstehen heute viele (nicht nur einst G OETHE) die Mathematik als eine eigene (eine eigen-artige) Sprache. An der Konstruktion eines solchen „recht verstandenen Sinnes“ haben die Mathematiker nach L EIBNIZ viel gearbeitet. Bei den „negativen“ Größen kamen sie d 101 101
ZSS-d, S. 451 Änderung aus „real“ (D. D. Sp.) Im Gegensatz zu dem, was er etwa ein Jahrzehnt zuvor an anderer Stelle gesagt hat: siehe S. 97 bei Anmerkung q.
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2. Die Erfindung der stetig Veränderlichen durch Leibniz etwas rascher voran als bei den „unendlich großen/kleinen“ Zahlen, aber selbst das dauerte noch gut zwei Jahrhunderte. Bei L EIBNIZ sehen wir: Es ist keinesfalls selbstverständlich, −1 < 0 als gültig zu betrachten. Der Begriff der Funktion „Funktion“ ist der heute vielleicht wichtigste Begriff der Mathematik – neben dem der „Zahl“, versteht sich. In einem frühen Manuskript (1673)
Bereits im Sommer 1673 findet sich das Wort „Funktion“ bei L EIBNIZ verwendet,e wenn auch zunächst in wenig bestimmtem Sinne. Aber bereits im August 1673 steht das Wort „Funktion“ im Titel eines Manuskriptes: Methodus tangentium inversa seu De functionibusf . Dieses Manuskript beginnt wie folgt: Gegeben sei die krumme Linie ABC D A als eine Beziehung der Ordinaten E D zu den Abszissen AE durch eine Gleichung, die uns bekannt ist: und das ist der Fall, wenn uns die Art der Figur bekannt ist. „Wenn aber die Figur nicht geometrisch ist, so macht das nichts aus, sie wird nämlich nach dem Vorbilde einer geometrischen behandelt; bei der Zykloide z. B. muss man gewisse Geraden mit dem Bogen des Kreises vergleichen, aus dem sie gebildet ist; eine Tangente jedenfalls kann man an ageometrischen Kurven ebensowohl legen wie an geometrische.“ (letzter Satz nach Mahnke 1926, S. 44 f.)
S. 122
„Esto figura curvilinea ABC D A in qua relatio applicatae E D ab abscissam AE aequatione quadam nobis cognita explicatur: id enim utique necesse est, si modo figurae natura nobis nota est. Quod si figura geometrica non est, ut cycloeis, nil refert tamen, tractabitur enim ad geometricae exemplum fingendo rectarum cum curvis ex quibus factae sunt notam nobis esse comparationem; nec ideo minus tangens sive geometrica sive ageometrica ducetur, prout figura natura patitur.“ (AA VII.4, N. 401 , S. 657, Z. 7–12)
Schon hier ist klar, dass L EIBNIZ nicht nur, wie D ESCARTES, an Gleichungen bzw. Figuren denkt, sondern auch an die von ihm später „transzendent“ genannten, denn er nennt ausdrücklich die Zykloide, die nicht algebraisch ist. L EIBNIZ nutzt hier die Namen „Abszisse“ und „Ordinate“, wie das zu seiner Zeit nicht unüblich ist. Wo er „Beziehung“ (relatio) sagt, werden Spätere „Funktion“ sagen. In späteren Publikationen (1692, 1694)
In einem 1692 erschienenen Artikel De linea ex lineis inter se concurrentibus empfiehlt L EIBNIZ den Namen „Funktion“ als eine zusammenfassende Bezeichnung e
AA VII.4, N. 27, S. 500
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Leibniz als Begriffs- und Symbolerfinder für die Tangenten einer Kurve sowie weitere, von der Kurve abhängende veränderliche Größen, etwa die Kurvennormalen.g Im Nachsatz des 1694 erschienenen Artikels Nova calculi differentialis applicatio definiert L EIBNIZ: „Funktion nenne ich den Teil einer Geraden, der von Geraden abgeschnitten wird, die unter alleiniger Verwendung eines Fixpunktes und eines mit seiner Krümmung gegebenen Kurvenpunktes gezogen werden. Solche bFunktionenc sind: die Abszisse [. . . ]; die Ordinate [. . . ]; die Tangente [. . . ]; die Normale [. . . ]; die Subtangente [. . . ]; die Subnormale [. . . ]; die durch die Tangente erzeugte Resecta [. . . ]; die durch die Normale erzeugte Resecta [. . . ]; die Korresecta [. . . ]; der Oskulations- oder Krümmungsradius [. . . ] und unzählig viele andere.“ (ZSS-d, S. 231 f.)
„Functionem voco portionem rectae, quae ductis ope sola puncti fixi & puncti curvae cum curvedine sua dati rectis, abscinditur. Tales sunt: Abscissa [. . . ]; ordinata [. . . ]; tangens [. . . ] perpendicularis [. . . ]; subtangentialis [. . . ]; subperpenducularis [. . . ]; per tangentem resecta [. . . ]; per perpendicularem resecta [. . . ]; corresecta [. . . ]; radius osculi seu curvedinis [. . . ]; & aliae innumerae.“ (ZSS, S. 149 – Quelle: GM V, 306)
Es sind also jedenfalls geometrische Größen, die L EIBNIZ als „Funktionen“ bezeichnet. Sie sind sämtlich durch eine vorgebene krumme Linie bestimmt. Ausblick: Jakob und Johann Bernoullis Weiterentwicklung des Leibniz’schen Funktionsbegriffs Ich nenne einige Stationen in der weiteren Entwicklungsgeschichte des Funktionsbegriffs: (1) In einem im Oktober 1694 erschienenen Artikel griff J AKOB B ERNOULLI (1654– 1705) L EIBNIZ’ Ausdruck „Funktion“ auf. J AKOB B ERNOULLI nennt dort die „Beziehung der Koordinaten, d. h. die gegebene krumme Linie selbst“ einen Spezialfall der „Beziehung zweier Funktionen“ (ex data duarum Functionum relatione tertia sit elicienda, & speciatim ex data relatione coordinatarum, i. e. ex ipsa data curva).h (2) Im Jahr 1697 formulierte J AKOB B ERNOULLI das sogenannte isoperimetrische Problem – siehe Punkt 4 –, mit dem er die Entwicklung der Variationsrechnung anstieß. Dort sprach er von „unendlichen Stücken oder Funktionen“ einer gegebenen krummen Linie (infinitis partibus seu functionibus unius datae Curvae).i (3) Sehr häufig gebraucht J AKOB B ERNOULLI das Wort „Funktion“ schließlich in einem im Mai 1698 erschienenen Artikel. Dort nennt er einmal sogar die krumme Linie eine „Funktion“ (Linea, quam voco, Functionis).j Freilich ist dies nur eine unter mehreren Formulierungen und darf an dieser Stelle keinesfalls als eine Definition des Begriffs „Funktion“, eventuell sogar in einem recht modernen Sinne, missverstanden werden. g i
Vgl. Mahnke 1926, S. 49. h Bernoulli 1694, S. 195; vgl. Mahnke 1926, S. 50. Jak. Bernoulli 1697, S. 271. j Jak. Bernoulli 1698, S. 325
Leibniz – Jakob Bernoulli
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2. Die Erfindung der stetig Veränderlichen durch Leibniz (4) J AKOB B ERNOULLI hatte das isoperimetrische Problem im Jahr 1697 wie folgt formuliert: „Quaeritur ex omnibus „Von allen Kurven gleiIsoperimetris super comchen Umfanges über eimuni base B N constituner gemeinsamen Basis tis illa B F N , quae non B N wird die Kurve B F N ipsa quidem maximum gesucht, die zwar nicht comprehendat spatium, selbst den größten Fläsed faciat, ut aliud curchenraum umfasst, aber va B Z N comprehensum bewirkt, dass ein andsit maximum, cujus apprer, von der Kurve B Z N ˜ licata P Z ponitur esse in umfasster Flächenraum möglichst groß wird, deren Ordinate ratione quavis multiplicata vel submulP Z zur Ordinate P F oder zum Bogen tiplicata rectae P F vel arcus B F , hoc B F in irgendeinem, beliebig potenzierest, quae sit quotacunque proportionaten oder radizierten Zahlenverhältnis lis ad datam A & rectam P F , curvamve steht.“ (Mahnke 1926, S. 50) B F ?“ (Jak. Bernoulli 1697, S. 275) Sein Bruder J OHANN B ERNOULLI (1667–1748) glaubte Anfang Juni 1697 (fälschlicherweise), das Problem gelöst zu haben,k und zwar sogar in einer allgemeineren Fassung, nämlich: [. . . ] finde die krumme Linie B F N , sodass ihre Ordinaten F P zu einer ˜ gegebenen Potenz erhoben werden oder allgemeiner: sodass beliebige Funktionen von diesen Ordinaten, ausgedrückt durch andere Ordinaten, einen Raum B Z N bilden oder ausfüllen, welcher [. . . ] (Joh. Bernoulli 1707, S. 515) Hier hat J OHANN B ERNOULLI aus dem „beliebig potenzierten oder radizierten Zahlenverhältnis“ einen „Ausdruck durch verschiedene Ordinaten“ gemacht. Der Begriff „Ausdruck“ zielt auf die algebraische Form der Beschreibung ab. (5) Bereits 1694 hatten sowohl L EIBNIZ als auch J OHANN B ERNOULLI eine „Veränderliche“ aus „beliebigen Größen, unbestimmten wie konstanten“l gebildet, und 1696 hatte J OHANN für solche Größen sogar besondere Bezeichnungen eingeführt: 1 2 X , X usw.m Am 16. August 1698 riet J OHANN B ERNOULLI zur Bezeichunung X oder ξ für Funktionen von x, um „das Gedächtnis zu erleichtern“n . DIE ERFINDUNG DER STETIG VERÄNDERLICHEN UND DER EPSILONTIK DER BEGRIFF DER VERÄNDERLICHEN Offenkundig hat sich L EIBNIZ des Begriffs der stetig veränderlichen Größe bedient. Genauer sollten wir sagen: des Begriffs der geometrischen stetig veränderlichen k
Vgl. Mahnke 1926, S. 51. GM III, 159; vgl. Mahnke 1926, S. 51 m GM III, 324; vgl. Mahnke 1926, S. 51. l
n
GM, III, 531 bzw. Mahnke 1926, S. 51
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Jakob – Johann Bernoulli
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Die Erfindung der stetig Veränderlichen und der Epsilontik Größe. Denn es ist klar: L EIBNIZ behandelt in seiner Differenzial- und Integralrechung geometrische Gegenstände, insbesondere Kurven. Eine stetig veränderliche Größe bei L EIBNIZ ist eine Linie (nicht notwendig eine gerade Linie!), eine Fläche oder ein Raum, deren Maß variiert. DIE „STETIGKEIT“ DER VERÄNDERUNG Woran ist zu erkennen, dass L EIBNIZ wirklich den Begriff der stetig Veränderlichen hat? Das entscheidende Argument dafür ist L EIBNIZ’ Formulierung und Verwendung seines Kontinuitätsgesetzes. Darin ist ausdrücklich von einem „stetigen“ Übergang die Rede. Ein zweites Argument ist L EIBNIZ’ konsequente Verwendung der „unendlich kleinen“ – d. h.: „verschwindenden“ – Größen. Er verwendet sie bei allen seinen analytischen Konstruktionen: • beim Beweis seines allgemeinen Konvergenzkriteriums, • bei seiner Bestimmung des Flächeninhalts einer auch krummlinig begrenzten Fläche, • bei der Begründung seiner Differenzialregeln. L EIBNIZ beschreibt dort jeweils das Verschwinden einer veränderlichen Größe mit der Formulierung, sie könne „kleiner werden als jede beliebig gegebene“. Die Formulierung, eine Größe könne „kleiner werden als jede beliebig gegebene“, wird heute als ‚Epsilontik‘102 bezeichnet. Dies rührt von der üblichen Wahl der Symbole her, mit denen man in der Analysis heute diesen Sachverhalt beschreibt: „Für alle ε (epsilon) > 0 gibt es ein δ (delta) > 0, sodass für alle x mit |x| < δ gilt: | f (x)| < ε.“ Dabei sind | . . . | die so genannten „Betragsstriche“, die bei einer negativen Größe vom Vorzeichen abstrahieren. Aber Vorsicht! Das eben benutzte moderne „x“ unterscheidet sich grundlegend von jenem „x“, das L EIBNIZ schreibt: Bei ihm ist „x“ eine („stetig“) „Veränderliche“, bei uns heute eine („diskrete“) „Zahl“; und „Veränderliche“ und „Zahl“ sind sowohl bei L EIBNIZ als auch bei uns heute Verschiedenes. Die Betragsstriche sind eine Erfindung des späten 19. Jahrhunderts. Das 17. und 18. Jahrhundert benötigt sie nicht (und kennt sie deswegen auch nicht), da dort grundsätzlich keine „negativen“ Größen betrachtet wurden. Bei L EIBNIZ ist das ebenso klar wie bei D ES CARTES : was soll eine „negative“ Länge sein?
Der Einwand, durch die Formulierung, eine Größe könne „kleiner werden als jede beliebig gegebene“, sei auch ein „Abstieg in Stufen“, also in „Sprüngen“ (deren Höhe freilich immer kleiner werden müssten), abgedeckt, wurde meines Wissens von keinem Zeitgenossen oder (frühem) Nachfolger L EIBNIZ’ erhoben. Daraus schließe ich, dass er im damaligen Denken nicht vorkam. Im damaligen Denken war ein „allmähliches Abnehmen“ undenkbar als ein Stottern, ein Holpern, sondern konnte nicht anders denn als „stetig“ – ohne Sprünge – gedacht werden. 102
Da dieser Begriff vielleicht nicht sehr geläufig ist, nehme ich ihn in meine technischen Begriffe auf.
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S. 104 S. 107 ab S. 118
2. Die Erfindung der stetig Veränderlichen durch Leibniz Bei L EIBNIZ ist es klar: Alle Veränderung ist kontinuierlich, d. h.: unmittelbar. Aber andere können natürlich anders denken.
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NOCHMALS: WAS IST FÜR LEIBNIZ EINE VERÄNDERLICHE? Ein mathematisches Begriffssystem muss irgendwo anfangen. Dieser Anfang sind die Anfangsbegriffe. Die Anfangsbegriffe sind per definitionem nicht definiert. Dass ein Begriff nicht definiert ist, bedeutet nicht, dass man gar nichts über seine Bestimmung sagen kann. Gern wird dazu auf G EORG C ANTOR und seine Begründung der Mengenlehre verwiesen. Ihr Anfangsbegriff ist – nach C ANTORs Auffassung103 – „Menge“: „Unter einer »Menge« verstehen wir jede Zusammenfassung M von bestimmten wohlunterschiedenen Objekten m unserer Anschauung oder unseres Denkens (welche die »Elemente« von M genannt werden) zu einem Ganzen. In Zeichen drücken wir dies so aus: M = {m} .“ (Cantor 1895–1897, S. 282) Gewöhnlich wird gesagt: Eine solche Bestimmung besagt zwar etwas, aber sie definiert nicht. Das heißt, man darf nicht sagen: „Weil etwas eine »Zusammenfassung« ist, ist es eine Menge.“ 104
S. 102
Bei L EIBNIZ ist eine „veränderliche Größe“, so haben wir gesehen, eine geometrische Größe. Denken wir der Einfachheit halber an eine endliche Linie, noch einfacher: an eine endliche gerade Linie: eine Strecke, ein Kontinuum also – oder vielmehr: an das (eindimensionale) Kontinuum. Welche weiteren Bestimmungen gibt L EIBNIZ von der Veränderlichen? Jedenfalls die: Wenn es sich um eine „verschwindende“ Größe handelt, kann sie „schließlich kleiner werden als jede angenommene Größe“. Was können wir dieser Bestimmung entnehmen? 103
Heute sieht man es so, dass „ist Element von“ der Anfangsbegriff – eine Relation – der Mengenlehre ist. Interessanterweise hat C ANTOR für dieses „ist Element von“, unser heutiges „∈“, kein Symbol! – Finsler 1926b, S. 685 schlägt die inverse Relation vor, die er mit „β“ bezeichnet, da doch mit jeder Menge ihre Elemente bestimmt sind, während nicht beliebige Elemente eine Menge bilden, sodass „∈“ irreführend ist. „Denn das Ganze muss früher sein als der Teil.“ verlangte bereits A RISTOTELES (Politik I, 1253a 20, zitiert nach Aristoteles 1977, S. 289). 104 Man kann C ANTORs Formulierung jedoch genauer lesen (vgl. Finsler 1926b, S. 151, Finsler 1964, S. 201): Erst die „Zusammenfassung“ bestimmt die „Menge“. Die „Zusammenfassung“ ist eine Operation. Und ohne Operation natürlich auch kein Resultat der Operation. „Wenn man aber wegen eines unerfüllbaren Zirkels die Operation nicht ausführen kann, dann gibt es auch kein Resultat der Operation“ (Finsler 1964, S. 201) und also keine „Menge“. So ist B ERTRAND RUS SELL s „Zusammenfassung“ all jener Bewohner eines Dorfes, die dessen Barbier rasiert, falls sie sich nicht selbst rasieren, unmöglich: Weder genügt dieser Barbier RUSSELLs Bestimmung, noch tut er das nicht – und also funktioniert diese „Zusammenfassung“ nicht: sie bestimmt keine „Menge“ – und also eine Nicht-„Menge“.
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Die Erfindung der stetig Veränderlichen und der Epsilontik Klarerweise wird diese „angenommene“ Größe keine veränderliche sein, insbesondere keine „verschwindende“ Größe. Vielmehr denkt L EIBNIZ hier an Brüche. Ein Bruch ist eine „Zahl“. S. 81 Eine „verschwindende“ Größe kann kleiner werden als jeder Bruch. Das bedeutet zwangsläufig: Eine „veränderliche“ Größe kann mit einem Bruch VERGLICHEN werden. Sie muss demzufolge etwas Zahlartiges haben. Wie eben das „Kontinuum“, wie die (gerade endliche) Strecke. Die Strecke kann mit Zahlen gemessen werden. Vielleicht kann sie damit nicht ganz genau gemessen werden, sondern nur bis auf einen Fehler; doch dieser Fehler kann „kleiner als jede beliebige gegebene“ Größe gemacht werden. Vielleicht war es diese Überlegung, die L EIBNIZ irgendwann nach oder um 1682 dazu veranlasste, die Irrationalen schließlich doch als „Zahlen“ zu verstehen? S. 83 Fassen wir zusammen: Eine „veränderliche“ Größe bei L EIBNIZ ist eine Linie oder Strecke mit unbestimmter, genauer: mit variierender Länge. Entscheidend neu dabei ist das Variieren. Der Natur der Linie, des Kontinuums entsprechend kann dieses Variieren nur ein Zu- oder Abnehmen sein, also nicht etwa ein Dickeroder Dünner-Werden oder eine sonstige Änderung einer Eigenschaft (der Färbung, des Gewichts, was auch immer). Dem mathematischen Grundbestand nach bleibt L EIBNIZ somit bei D ESCARTES : Es geht um geometrische Linien, um (eindimensionale) Kontinua. Es gibt jedoch eine wichtige L EIBNIZ’sche Zutat: die Veränderung dieser Linien wird in den Anfangsbegriff „Größe“ einbezogen. L EIBNIZ wandelt D ESCARTES’ „Größe“ in die „veränderliche“ Größe – die Strecke bestimmter Länge in die Strecke veränderlicher Länge. Eine besondere Form der Veränderung ist das Verschwinden, und tatsächlich spielen die „verschwindenden“ Größen in L EIBNIZ’ Lehre eine besondere Rolle. Treffend kann man L EIBNIZ’ Lehre daher eine ‚Geometrie verschwindender Größen‘ nennen, oder mit dem geläufigen Namen: „Infinitesimalgeometrie“. Der neuartige Begriff der „Veränderlichen“ stellt neue Anforderungen an die Gleichheitsrelation: Wann sind zwei „Veränderliche“ „gleich“? Sicher nicht dann, wenn sie manchmal gleich sind: Die „Veränderlichen“ y = x 2 und z = x + 2 sind offenbar verschieden – dennoch gilt für x = 2 sowohl y = 4 als auch z = 4 (und somit y = z), wie auch für x = −1 sowohl y = 1 als auch z = 1 (und also ebenfalls y = z) gilt. Mit anderen Worten: Zwei „Veränderliche“ sind nur dann „gleich“, wenn sie immer „gleich“ sind! (Wir bemerken: Dieser Sachverhalt ließe sich einfacher mittels des Begriffs „Wert (der Veränderlichen)“ formulieren. Doch dieser Begriff wurde von L EIBNIZ wie auch von seinen näheren Nachfolgern nicht gebildet.) L EIBNIZ’ „Kontinuitätsgesetz“ dehnt eine solche „Gleichheit“ zweier geometrischer „Veränderlicher“ auf Fälle aus, die algebraisch unzugänglich sind – siehe L EIBNIZ’ Ermittlung des Differenzials des Produkts zweier Veränderlicher auf S. 119. Freilich gilt die aufgrund des Kontinuitätsgesetzes ermittelte „Gleichheit“ nur für den Fall des „Verschwindens“ der Differenziale!
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2. Die Erfindung der stetig Veränderlichen durch Leibniz HISTORIOGRAFISCHER NACHTRAG I – DIE INDIVISIBELN L EIBNIZ nennt seine veränderlichen Größen, die „kleiner als jede gegebene Größe werden können“, nicht von Anfang an „Infinitesimale“, sondern zunächst „Indivisibel“.o Damit greift er einen Namen auf, der eine lange Tradition hat. Und noch im Jahr 1692 spricht L EIBNIZ von seiner Lehre als „unserer Analysis der Indivisibeln“p (Analysi indivisibilium). DAS INDIVISIBEL IM SCHOLASTISCHEN KONTINUUMSBEGRIFF Schon T HOMAS VON A QUIN (um 1225–74) hat den Namen „Indivisibel“, und zwar für den Punkt bzw. den Zeitpunkt des räumlichen bzw. zeitlichen Kontinuums: Das Indivisibel ist das Jetzt im Zeitverlauf.q Aber der Punkt bzw. das Jetzt ist nicht Bestandteil des räumlichen bzw. zeitlichen Kontinuums. Denn „Teil“ ist nur etwas, das die Wesenseigenschaft des Ganzen hat. Das Kontinuum aber ist teilbar. Folglich müssen auch seine Teile ihrerseits teilbar sein. Der Punkt, das Jetzt aber ist unteilbar: deswegen auch der Name: „Indivisibel“. Das Kontinuum lässt sich zwar aus seinen Teilen, nicht aber aus den Indivisibeln zusammensetzen. Allerdings lässt es sich aus den Indivisibeln erzeugen, nämlich mittels einer Bewegung. Der Indivisibelnbegriff wird in der Folge gelegentlich und beiläufig angesprochen, zuvor schon von J ORDANUS N EMORARIUS (um 1220), dann von T HOMAS B RADWARDINUS (um 1295–1349) und N IKOLAUS VON K UES (1401–64).r Er ist Bestandteil des gelehrten Allgemeinwissens über das Kontinuum. CAVALIERI B UONAVENTURA C AVALIERI (1598?–1647) hat den Begriff des Indivisibeln zum Anfangsbegriff einer mathematischen Theorie gemacht. Ziel dieser Theorie war es, Flächeninhalte zu bestimmen. Seine Lehre hat er in zwei Büchern niedergelegt: Geometria indiuisibilibus continuorum noua quadam ratione promota, erschienen 1635, in zweiter Auflage 1653,s sowie Exercitationes geometricae sex,t erschienen 1647. Der – in Fachkreisen nicht besonders hoch angesehene – Mathematiker und Wissenschaftsgeschichtler M AXIMILIEN M ARIE (1819–91) charakterisierte das erste dieser beiden Werke so: „Wenn es einen Preis für Dunkelheit (obscurité) gäbe, dann würde er nach meinem Urteil ohne Zweifel dem Ersten gebühren.“u Das hat nicht zuletzt natürlich damit zu tun, dass C AVALIERI noch nicht D ESCARTES’ Formelschreibweise hat, was uns Späteren die Lektüre erschwert. o
Vgl. AA VII.4, N 161 , S. 265. p ZSS-d, S. 158 – Quelle: GM V, 268 Zitiert nach Wallner 1903, S. 29, Anmerkung 2. r Vgl. Wallner 1903, S. 30. t Cavalieri 1647 u Marie 1883-88, Bd. IV, S. 90
q
s
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Historiografischer Nachtrag I – die Indivisibeln Cavalieris erste Theorie Wie es sich für den Anfangsbegriff einer mathematischen Theorie gehört, ist der Begriff „Indivisibel“ bei C AVALIERI nicht bestimmt. Allerdings erklärt C AVALIERI einmal die Indivisibeln als „alle Linien der Figur“v . Dieser Begriff „alle Linien der Figur“ (omnes lineae figurae) ist der Anfangsbegriff der C AVALIERI’schen Theorie. K IRSTI A NDERSEN deutet diesen Begriff als eine „neue Art von Großheiten, auf welche E UDOXOS’ Theorie der Großheiten anwendbar ist.“w Nach A NDERSENs Untersuchung scheint es C AVALIERIs Bestreben gewesen zu sein, seine Lehre unabhängig von der Beantwortung der Frage nach der Natur des Kontinuums zu machen. In den Exercitationes erklärt C AVALIERI, wenn man das Kontinuum als aus Indivisibeln zusammengesetzt betrachte, seien „alle Linien“ und die Fläche dieselbe Großheit; wenn man jedoch das Kontinuum als unbegrenzt teilbar betrachte, dann bestehe die Fläche aus „allen Linien“ und etwas Anderem. Aus Letzterem folgerte er, dass der von „allen Linien“ eingenommene Raum begrenzt sei, sodass diese Gesamtheiten addiert und subtrahiert werden dürften.x In einem Brief an G ALILEI versichert C AVALIERI am 2. Oktober 1634: [. . . ] ich erkläre ganz sicher nicht, das Kontinuum aus Indivisibeln zusammenzusetzen [. . . ]
„[. . . ] assolutamente io non mi dichiaro di componere il continuo d’indivisibili [. . . ]“ (Galilei 1890–1909, Bd. 16, S. 138, Z. 71 f.; vgl. Andersen 1985, S. 307)
C AVALIERI misst die Figuren, indem er ein „Maß“ (regula) durch sie hindurch bewegt. Mit anderen Worten: Auch C AVALIERI bezieht die Bewegung in seine mathematische Konstruktion ein. Doch geschieht dies nur sehr indirekt, wie wir gleich sehen werden. In seiner Lehre unterscheidet C AVALIERI den „geraden Durchgang“ (recti transitus) vom „schiefen Durchgang“ (obliqui transitus) das Maßes durch die Figur. In den Exercitationes, S. 15 erklärt er das Prinzip: Die Linie I K oben ist das Maß (regula). Die obere Ebene bewegt sich nach unten. Dann bilden die beiden schraffierten Parallelogramme „alle Linien“, im Falle des Parallelogramms K M im „geraden Durchgang“, im Fall des Parallelogramms K O im „schiefen Durchgang“. Diese beiden Gesamtheiten „alle Linien“ betrachtet C AVALIERI als gleich: OK M (l )recti transitus = OK O (l )obliqui transitus . v x
Cavalieri 2 1653, S. 114; vgl. Andersen 1985, S. 301. Vgl. Andersen 1985, S. 306.
w
Andersen 1985, S. 302 f.
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2. Die Erfindung der stetig Veränderlichen durch Leibniz Das bedeutet aber natürlich keineswegs, dass auch die Flächen K M und K O gleich sind. Denn der „Durchgang“ des „Maßes“ ist unterschiedlich: bei K M ist er „gerade“, bei K O jedoch „schief“. Wir sehen mittels des Sinus des Neigungswinkels ϕ von K O, dass für die betreffenden Flächen gilt: F recti transitus = sin ϕ · F obliqui transitus .
ab S. 144
Entscheidend ist nun, dass C AVALIERI die Großheit „alle Linien“ nicht als eine (Art von) Summe betrachtet, welche die fragliche Fläche ergibt. (Dies zu denken ist der Irrtum in den gängigen Darstellungen der C AVALIERI’schen Lehre, der auf T ORRICELLI zurückgeht.) Es war eines der Hauptanliegen C AVALIERIs, unendliche Summen zu vermeiden.y Vielmehr beweist C AVALIERI für dasselbe „Maß“ die Gleichung: F 1 : F 2 = OF1 (l ) : OF2 (l ) . (2.1) Diese Gleichung beweist C AVALIERI exakt nach den Maßstäben E UKLIDs, indem er zeigt: Aus n × F1 > m × F2 folgt n × OF1 (l ) > m × OF2 (l ) , und ebenso für = und für 3. Damit ist klar: Diese durch 9 − zz beschriebene „Funktion“ kann – entgegen dem ersten Anschein – sehr wohl bestimmte Werte annehmen, die größer als 3 sind! (3) E ULER p s Schlussfolgerung ist: Jeder „bestimmt angebbare“ Wert kann aus der Formel 9 − zz erhalten werden. Dafür, dass das auch für die „Eingebildeten“ gilt, hat E ULER nicht argumentiert. Aber das ist auch nicht nötig: Denn wenn man die Gleichung p 9 − zz = u quadriert und umschreibt in 9 = uu + zz , sieht man, dass u und z ganz gleichberechtigt sind. Wenn also z „alle denkbaren“ Zahlen sein soll, dann gilt dies symmetrisch auch für u; aber u ist das Resultat von p 9 − zz. (4) Wörtlich sagt E ULER hier: Jede „Funktion“ kann alle „Werte“ annehmen. Was bedeutet das?
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3. Die Grundlagen der Algebraischen Analysis
ab S. 223
E ULER legt der Veränderlichen ausdrücklich „alle bestimmten Werte ohne Ausnahme“ bei. Das sind insbesondere alle „Zahlen“, also auch die nur „Eingebildeten“. Für uns heute sind diese „Eingebildeten“ die „imaginären“ Zahlen. Demzufolge müssen wir heute E ULERs Erklärung der „Funktion“ als eine der „komplexen“ Funktion verstehen. E ULERs Analysis ist, in heutigen Begriffen, von Anfang an eine „komplexe“ Funktionenlehre.127 (5) Zu guter Letzt sagt E ULER, wenn eine „Funktion“ nur einen einzigen „Wert“ hat, sei sie „nur scheinbar“ eine „Funktion“, in Wahrheit jedoch eine „Konstante“. E ULER denkt also anders als wir heute: Wir urteilen heute nach der Darstellung des Begriffs, hier also nach dem Rechenausdruck, und würden jeden Rechenausdruck die Beschreibung einer E ULER’schen „Funktion“ nennen. E ULER hingegen schaut nicht auf die Darstellung, sondern auf deren Bedeutung: auf das Wesen des Gegenstandes. Wenn der vorgelegte Rechenausdruck nur einen einzigen „Wert“ hervorbringt, dann beschreibt er eine „Konstante“, keine „Veränderliche“ – und damit keine „Funktion“. E ULER nennt ihn eine „scheinbare Funktion“, also keine wirkliche. Demzufolge gibt es für E ULER eine eindeutige Grenzziehung zwischen „Konstanten“ und „Funktionen“. Eine „Funktion“ ist eine Größe, die gewiss mehr als einen „Wert“ annimmt – tatsächlich also eine „Veränderliche“. Die Entscheidung, ob eine Größe eine „Funktion“ ist, bedarf also möglicherweise einer mathematischen Untersuchung. Ob eine Größe eine „Funktion“ ist, fragt bei E ULER nicht nach der Art ihrer (formalen) Definition, sondern nach ihrer Bedeutung – und also nach ihrer Wirkungsweise auf „sämtliche denkbaren“ Werte.128 Klassifizierung der Funktionen
S. 209
Dann klassifiziert E ULER die Funktionen: 1. zunächst in „Transzendente“ und „Algebraische“, 2. Letztere in „Rationale“ und „Irrationale“, 3. Letztere wiederum in „Entwickelte“ (explicite) und „Unentwickelte“ (implicite). 4. die „Rationalen“ ihrerseits in „Gebrochene“ und „Ganze“. Die dritte Unterscheidung fällt aus dem Rahmen. Klammern wir sie daher fürs Erste ein. 127
Auch andere sehen das so, wenn auch in etwas zu moderner Sprache: „[. . . ] this means that any [sic] function f (z), when interpreted on numbers – that is, when its argument is taken to vary on numbers –, is, in modern terms, a surjective function C → C, i. e. for any [sic] function y = f (z), so interpreted, and any complex value y ∗ , there is a complex value z ∗ such that y ∗ = f (z ∗ ). “ (Panza 2007, S. 11, Schreibfehler korrigiert)
Bei E ULER ist freilich noch keine Rede von dem, was wir heute C nennen: vom „Körper“ der „komplexen“ Zahlen. 128 Das Verständnis vom Wert als „Bedeutung“ finden wir viel später bei W EIERSTRASS wieder: siehe S. 390
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Eulers Begriff von Funktion und Zahl
Es versteht sich von selbst, dass E ULER dabei von einer maximal vereinfachten Gestalt des Rechenausdrucks ausgeht. Natürlich ist zz − aa z +a keine „gebrochene Funktion“, gilt doch zz − aa (z − a) · (z + a) = = z −a, z +a z +a sodass diese Funktion „ganz“ ist.
Wir bemerken: In E ULERs Analysis stehen nicht die „Zahlen“ am Anfang, sondern die „Funktionen“ (nach den „Größen“). Und es zählt zu den Aufgaben dieser Analysis, die „Funktionen“ zu klassifizieren. Die Attribute der „Zahlen“ betrachtet E ULER als bekannt und gegeben: er benennt sie zwar, erläutert sie aber nicht. S. 198 Wir halten weiter fest: Selbstverständlich hat auch eine „ganze“ Funktion „rationale“, „irrationale“, „eingebildete“ Werte – weil dies schon für jene „Veränderliche(n)“ gilt, aus der oder denen sie zusammengesetzt ist. Die Begriffe „ganze“, „gebrochene“, „rationale“, „irrationale“ und „algebraische“ Funktion werden noch heute so verstanden wie von E ULER (wenn man von dem heute anders als bei E ULER bestimmten Begriff „Funktion“ absieht). Transzendente Funktionen
Die „transzendenten“ Funktionen sind jene, in denen die veränderliche Größe im Exponenten steht,q also zuallererst die Exponentialfunktionen. Auf sie komme ich später zurück. S. 217 Die Umkehrung der Exponentialfunktion ist der Logarithmus. Ihn behandelt E ULER in der Introductio eher als „Wert“ denn als „Funktion“. Das mag seinen Grund darin haben, dass dort der Logarithmus nur als Wert-zu-Wert-Zuweisung definiert wird: „Ebenso aber, wie [in y = a z ] bei jeden gegebenem Wert von a zu jedem Werte von z der entsprechende Wert von y gefunden werden kann, lässt sich auch umgekehrt zu jedem gegebenen positiven Werte von y der Wert von z angeben, für welchen a z = y ist. Dieser Wert von z heißt, insofern er als Funktion von y betrachtet wird, der Logarithmus von y.“ (Euler 1983, S. 76, § 102) Bemerkenswert sind noch E ULERs recht umfassende Berechnungen der Logarithmen, und zwar als Dezimalbrüche: „Aus diesem Grunde können die Logarithmen der Zahlen auch nur annäherungsweise durch Dezimalbrüche dargestellt werden, die aber q
Vgl. Euler 1983, S. 101, § 96.
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3. Die Grundlagen der Algebraischen Analysis umso weniger von dem wahren Werte abweichen werden, auf je mehr Stellen man sie berechnet [. . . ]“ (Euler 1983, S. 77, § 106) Als Mittel des Rechnens nimmt E ULER die „Dezimalbrüche“ (fractiones decimales). Gern rechnet er auf viele Nachkommastellen genau. An etlichen Beispielen zu den Themen Bevölkerungswachstum und Zinsrechnung zeigt E ULER dann die Nützlichkeit der Logarithmen. Da die Kreisfunktionen „aus den Logarithmen und den Exponentialgrößen selbst entspringen, sobald dieselben [eingebildete] [Größe]n enthalten“r , heißen auch diese „transzendent“. E ULER spricht lieber von den „Exponentialgrößen“ als von den „Exponentialfunktionen“ und betrachtet den Sinus usw. eher als „veränderliche Größe“ denn als „Funktion“.
Darf die Rechenvorschrift für eine Funktion unendlich sein?
Wir heute bemängeln rasch, dass E ULER hier kein Wort darüber verliert, ob der Rechenausdruck endlich sein muss oder auch unendlich sein darf. Wenn wir aber nach der Weise urteilen, nach der E ULER die „Konstanten“ als keine „Funktionen“ klassifiziert, obwohl sie doch nach der Art eines Rechenausdrucks erklärt sind, verstehen wir E ULERs Schweigen an dieser Stelle sofort: Nicht die Art der Rechenvorschrift ist bei E ULERs Klassifizierungen der „Funktionen“ maßgebend, sondern einzig ihre möglichen Rechenergebnisse. Ob eine Rechenvorschrift aber endlich oder unendlich ist, spielt für die Art ihres Rechenergebnisses keine Rolle! Eine Analogie aus dem Zahlenbereich: Während 1−
π 1 1 1 1 + − + −+... = 3 5 7 9 4
sogar eine transzendente Zahl ist, ergibt 1+
1 1 1 + + +... = 2 2 4 8
bloß eine natürliche Zahl. Es ist zwar vielleicht rechenpraktisch angenehm, dass die rechte Seite der Gleichung 1 + x + x2 + x3 + x4 + . . . =
1 1−x
einfacher auszuwerten ist als die linke – aber daraus einen Unterschied für „Funktionen“ abzuleiten verbietet sich in E ULERs Augen, denn offenkundig sind beide Rechenvorschriften doch gleichbedeutend (man muss nur 1 durch 1− x in der üblichen Weise dividieren – wir kommen auf S. 247 darauf genauer zurück)! r
Euler 1983, S. 95, § 126
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Eulers Begriff von Funktion und Zahl Wie dieses Beispiel zeigt, sind Reihen bei E ULERs Klassifikationsschema der „Funktionen“ aus gutem Grund ausgespart: Sie taugen dafür nicht. Obige Reihe sieht – abgesehen davon, dass sie unendlich viele Glieder hat – aus wie eine „ganze“ Funktion, doch die Gleichung zeigt: Sie ist eine „gebrochene“ Funktion. Und 1+
zz z3 z4 z + + + +... 1 1·2 1·2·3 1·2·3·4
mag – bis auf die unendliche Anzahl der Glieder – wie eine „ganze“ Funktion aussehen, ist aber in Wahrheit eine „transzendente“ Funktion, nämlich e z (E ULER leitet dies in § 123 der Introductio ab). S. 218 Ergebnis also: Ob eine Rechenvorschrift (ein „analytischer Ausdruck“, der eine „Funktion“ bestimmt) endlich oder unendlich ist, spielt für E ULER keine Rolle. Oder so: Bei der Bildung algebraischer „Funktionen“ sind bei E ULER auch unendliche Terme erlaubt. Denn der „Rechenausdruck“ beschreibt nur die „Funktion“, er ist sie aber nicht; die „Funktion“ ist eine „veränderliche“ Größe. Die Ausdrückung der Funktionen durch unendliche Reihen
Etwas später behandelt E ULER die Umformung der Funktionen in unendliche Reihen (damalige Sprache: „Ausdrückung durch ˜ “): „Da die gebrochenen und irrationalen Funktionen von z nicht unter der Form A + B z +C z 2 + D z 3 + · · · enthalten sind, wenn die Anzahl der Glieder eine endliche ist, so pflegt man ins Unendliche fortlaufende Ausdrücke derselben Art zu suchen, um den Wert irgendeiner gebrochenen oder irrationalen Funktion darzustellen. Ja es dürfte sogar die Natur transzendenter Funktionen besser zu erkennen sein, sobald dieselben in einer solchen, wenn auch ins Unendliche fortlaufenden Form ausgedrückt sind. Denn ebenso wie die Natur einer ganzen Funktion am besten dann erkennbar ist, wenn sie nach Potenzen von z entwickelt, also auf die Form A +B z +C z 2 +D z 3 +· · · gebracht ist, so ist auch diese Form, selbst wenn die Anzahl der Glieder unendlich groß ist, am geeignetsten, um sich von der eigentlichen Beschaffenheit aller anderen Funktionen eine klare Vorstellung zu bilden.“ (Euler 1983, S. 49, § 59) Offenbar kann eine Funktion, welche nicht eine ganze Funktion ist, nicht durch eine endliche Anzahl von Gliedern wie A +B z +C z 2 +D z 3 +· · · dargestellt werden, denn sonst wäre sie ja eben eine ganze Funktion. Obschon im ersten Satz jenes Paragrafen die Rede davon ist, einen „Wert“ einer „Funktion“ darzustellen, so spricht E ULER doch ab dem folgenden Satz von der „Natur“ der (transzendenten) Funktionen. Was E ULER hier die „Natur“ nennt, verstehen die Philosophen als das Wesen der Sache. Die „geeignetste Form“, um sich
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3. Die Grundlagen der Algebraischen Analysis „von der eigentlichen Beschaffenheit“ jedenfalls einer transzendenten „Funktion“ eine klare Vorstellung zu bilden, ist die unendliche Reihe. Also ist die „unendliche Reihe“ nur eine „Form“ der „Funktion“. Die „unendliche Reihe“ ist nicht die „Funktion“ selbst. Die Taylorreihe einer Funktion
Die Differenzialrechung lehrt es, jede Funktion in einer besonderen Form auszudrücken – die auch eine unendliche Reihe sein kann. Das hat E ULER schon früh notiert, im Jahr 1735: Aus der Natur der Infinitesimalrechnung folgt: Wie auch immer y durch x und Konstanten gegeben ist, so erhalten wir, wenn wir x + dx anstelle von x setzen, y + dy anstelle von y. Wenn x weiter um ein Element dx vermehrt und zu x + 2 dx wird, erhält man y + 2 dy + d dy anstelle von y. Und wenn x um ein weiteres Element dx wächst, geht y über in y + 3 dy + 3d dy + d 3 y, wobei die Koeffizienten dieselben sind wie bei den binomischen Potenzen. Daraus ergibt sich: Wenn man x + m dx anstelle von x setzt, fließty in die Form y+
m(m − 1) m(m − 1)(m − 2) 3 m dy + d dy + d y + etc. 1 1·2 1·2·3
(E 47, S. 109, § 4) Im 1768 erschienenen ersten Band seiner Integralrechnung beweist E ULER diesen Satz, und zwar in folgender Form: „[Es gilt der] schon in der Differenzialrechnung bewiesene Lehrsatz, dass wenn y eine Funktion von x bezeichnet, welche für x = a in b dy dQ dP übergeht, und man setzt dx = X , dX dx = P , dx = Q, dx = R etc. allgemein 1 1 1 1 y = b+X (x−a)− P (x−a)2 + Q(x−a)3 − R(x−a)4 + S(x−a)5 −etc. 2 6 24 120 sei.“ (Euler 1828/1829/1830, S. 178, § 318 – vgl. E 342, S. 196, § 318) Dabei ist von irgendwelchen einschränkenden Voraussetzungen für die Gültigkeit dieses Satzes nicht die Rede. Er gilt demzufolge ganz allgemein, für jede Funktion. (Ab S. 261 komme ich darauf zurück.)
S. 164
Da wir heutzutage diesen Satz nur unter gewissen Voraussetzungen aussprechen und beweisen können, wundert uns das zunächst. Doch dann erinnern wir uns daran, wie E ULER seinen Begriff „Funktion“ definiert hat: als eine Veränderliche, die durch einen Rechenausdruck beschrieben wird, zusammengesetzt aus „Veränderlichen“, „Konstanten“ und „Zahlen“. Ein Rechenausdruck wird mittels der Rechenoperationen gebildet. Seit L EIBNIZ’ Publikation im Jahr 1684, spätes-
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Eulers Begriff von Funktion und Zahl tens aber seit J OHANN B ERNOULLIs durch L’H OSPITAL im Jahr 1696 publizierten ab S. 167 Differenzialregeln ist bekannt, wie sich die „Differenziale“ der mittels Rechnungsoperationen zusammengesetzten Ausdrücke ermitteln lassen. Demzufolge lassen sich zu jeder „Funktion“ in E ULERs Sinn, zu jedem Rechenausdruck also, die Differenziale ermitteln (die ersten wie die höheren), also auch deren Quotienten. Deshalb ist E ULERs Darlegung korrekt: In E ULERs Analysis ist jede „Funktion“ in ihre „Taylorreihe“ (so heißt die obige Form dieser Reihe heute) entwickelbar. (Wenn wir ganz pedantisch sein wollten, müssten wir schreiben: jede ‚AFunktion‘, da E ULER neben dem bisher behandelten noch einen zweiten, einen ‚geometrischen‘ Funktionsbegriff hat: die ‚GFunktion‘.129 ) ab S. 211 Ein- und mehrdeutige Funktionen
Folgen wir E ULER einen letzten Schritt bei seiner Klassifizierung der „Funktionen“. In § 10 schreibt er: „Demnächst ist besonders die Einteilung der Funktionen in EINDEU TIGE (uniformes) und MEHRDEUTIGE (multiformes) zu merken. Eine eindeutige Funktion ist eine solche, welche für jeden bestimmten Wert der veränderlichen [Größe] z ebenfalls nur einen einzigen bestimmten Wert annimmt. Eine mehrdeutige Funktion dagegen ist eine solche, welche für jeden bestimmten Wert der Veränderlichen z mehrere bestimmte Werte ergibt.“ (Euler 1983, S. 7, § 10.) Diese letzte Feststellung ist eine direkte Folgerung aus der Bestimmung der „Funktion“ als beschrieben durch einen „Rechenausdruck“: Die Auswertung eip nes Rechenausdrucks kann mehrdeutig sein, etwa 9 = ±3. Uns erscheint E ULERs Unterscheidung als unscharf: E ULER trennt hier jene Funktionen, die stets „nur einen einzigen bestimmten Wert“ annehmen, von jenen, bei denen dies nie der Fall ist. Was aber ist mit den Zwittern? Was ist beispielsweise mit x1 mit stets eindeutig bestimmtem Wert, außer im Falle x = 0 – dann nimmt x1 die beiden „Werte“ +∞ und −∞ an? Denkt E ULER nicht an diese Fälle? Lesen wir E ULER weiter: „Die rationalen ganzen sowohl wie gebrochenen Funktionen sind daher eindeutige Funktionen, da sie für jeden beliebigen Wert der Veränderlichen nur einen einzigen bestimmten Wert geben. Die irrationalen Funktionen sind dagegen sämtlich mehrdeutig, weil die Wurzelzeichen mehrdeutig sind und mehrere Werte unter sich begreifen. 129
Der Vorschlag, „solche Wörter, die im gewöhnlichen Sprachgebrauch in endlich vielen verschiedenen Bedeutungen vorkommen“, durch Indizes zu unterscheiden, stammt von Finsler 1926a, S. 678 . Index
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3. Die Grundlagen der Algebraischen Analysis Auch unter den transzendenten Funktionen gibt es eindeutige und mehrdeutige, ja sogar unendlich vieldeutige, wie den Kreisbogen, der zum Sinus z gehört; denn es gibt unzählig viele Kreisbogen, die alle denselben Sinus haben.“ (Euler 1983, S. 7, § 10.) Wir sehen: E ULER denkt seine Einteilung durchaus als vollständige Dichotomie: Die „gebrochenen“ Funktionen – und dazu zählt ohne Zweifel x1 – schlägt er ausdrücklich den „eindeutigen“ Funktionen zu; nur die „irrationalen“ Funktionen – p im einfachsten Fall also x – seien „mehrdeutig“. E ULER denkt somit grundlegend anders als wir heute: Für ihn kommt es auf den Allgemeincharakter der Funktion an: Ist sie im Allgemeinen ein- oder mehrwertig? Eine Funktion wie x1 ist im Allgep meinen einwertig, die Funktion x ist im Allgemeinen mehrwertig – obwohl es in p beiden Fällen Ausnahmen gibt: x1 hat für x = 0 zwei Werte, x hat für x = 0 den einzigen Wert 0. Da E ULER das natürlich weiß, bleibt nur die Schlussfolgerung: Für ihn tun diese Ausnahmewerte nichts zur Sache. Er betrachtet an den „Funktionen“ ihr Allgemeinverhalten, ihren allgemeinen Charakter; das Verhalten einer „Funktion“ in einem (oder mehreren) Einzelfällen ist dabei uninteressant. Eine höchst wichtige Beobachtung! Wir heute betrachten das grundsätzlich anders. Für uns heute sind „mehrdeutige“ Funktionen etwas, das uns Schwierigkeiten bereitet. In der Reellen Analysis haben wir heute in der Regel keine „mehrdeutigen“ Funktionen (und wenn, dann ist uns dies stets Anlass für Sonderbetrachtungen), erst die Funktionentheorie (oder: S. 201, Komplexe Analysis) handelt von solchen Objekten. Aber wir erinnern uns: E ULERs Punkt 4 „Funktionenlehre“ ist eine „komplexe Funktionenlehre“. Eulers Bezeichnungsweise seiner neuen Funktionen
S. 136
Bereits in den Jahren 1728 und 1733 – und damit bevor er seinen neuen Funktionsbegriff prägte, der eben berichtet wurde – verwendete E ULER zur Bezeichnung einer Funktion Großbuchstaben.s Darin folgte er seinem Lehrer J OHANN B ERNOUL LI . Diesen Brauch übernahm E ULER für seinen in der Introductio neu geprägten Funktionsbegriff. Dort kennzeichnet er eine Funktion recht konsequent durch Großbuchstaben: eine Funktion von z durch Z usw. Ebenso verfährt er in seiner 1755 erschienenen Differenzialrechnung.t Freilich verliert diese Bezeichnungstechnik ihre Prägnanz, wenn eine Funktion von mehreren Veränderlichen betrachtet werden soll oder wenn etliche verschiedene Funktionen von derselben unabhängig Veränderlichen zur Diskussion stehen. Sie wird von E ULER aber auch dann beibehalten. Eine Funktion von x und y heißt dann etwa V .u Gelegentlich bezeichnet E ULER eine Funktion der Veränderlichen x auch durch y, also einen Kleinbuchstaben.v s v
E 10, E 11 t E 212 u Siehe etwa E 212, Kapitel VII, S. 181. Siehe etwa E 212, Kapitel XIV, § 337, S. 712. Für seine Integralrechnung haben wir das bereits gesehen: siehe S. 206.
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Eulers Begriff von Funktion und Zahl Zusammenfassung zu Eulers neuem Funktionsbegriff E ULER erfindet der Analysis den Funktionsbegriff. Doch E ULERs neuer Begriff „Funktion“ ist weit entfernt von unserem heutigen Begriff. Wir heute verstehen „Funktion“ als eine „Abbildung“, die Objekte aus dem „Urbildbereich“ Objekten aus dem „Bildbereich“ zuordnet – und zwar in eindeutiger Weise. Für E ULER hingegen ist eine „Funktion“ eine „veränderliche“ Größe – und zwar eine, die durch einen „Rechenausdruck“ beschrieben ist. E ULER ordnet nicht „Werte“ „Werten“ zu, sondern E ULER rechnet, und zwar in erster Linie mit „Größen“, nicht mit „Zahlen“. Natürlich schaut E ULER auch auf das Rechenergebnis, und das kann „mehrdeutig“ (mehrwertig) sein, sogar „unendlich vieldeutig“. Es kommt E ULER darauf an, wie dieses Rechenergebnis aussieht. Wenn es beispielsweise nur ein einziger „Wert“ ist (wie bei z 0 = 1), dann liegt gar keine „Funktion“ vor, sondern eine „Konstante“. Denn: Eine „Funktion“ ist (ihrer Beschreibung nach: als Ergebnis einer Rechenvorschrift für Größen) eine „veränderliche“ Größe. „Veränderlich sein“ heißt jedenfalls: mehrere „Werte“ haben. E ULER verlangt von den „Veränderlichen“, aus denen die Rechenausdrücke gebildet sind – wir nennen sie in der Nachfolge von C AUCHY die „unabhängig“ Ver- S. 306 änderlichen –, dass sie „alle bestimmten Werte ohne Ausnahme“ umfassen. Zu diesen „bestimmten“ Werten gehören neben den „ganzen“, „gebrochenen“ und „irrationalen“ auch die „eingebildeten“ Zahlen. Letztere nennen wir heute „imaginär“. Wie bereits gesagt ist E ULERs Analysis, in heutigen Begriffen, von Anfang S. 201, an eine „komplexe Funktionenlehre“. Punkt 4 Nun enthält die Introductio keinen der Begriffe „konvergent“, „(Kurven-)Integral“, „Differenzialform“, „Ableitung“. Demzufolge kann sie sich, wie wir heute wissen, nur auf eine Lehre der (formalen) Potenzreihen beschränken. Die freilich entwickelt E ULER in der Introductiopexzessiv. Davon, wie die „Eingebildeten“ a −1 mit den „wirklichen“ Zahlen in einen systematischen Zusammenhang gebracht werden könnten – über die Rechenregeln, ¡ p ¢2 insbesondere die Regel a −1 = −a 2 hinaus –, hat E ULER keine Vorstellungen veröffentlicht. Zwei Nachträge zu Eulers Funktionsbegriff Nachtrag I. Funktion: Ausdruck oder Gleichung?
Man könnte denken, E ULER habe die „Funktion“ nicht durch einen Rechenausdruck bestimmt, sondern durch eine Gleichung. Also nicht: Nach E ULER ist eine „Funktion“ Z ein Rechenausdruck A, in dem die Veränderliche z vorkommt: Z = A(z) , sondern: Nach E ULER ist eine „Funktion“ Z alles, was durch eine Gleichung A(Z , z) = B (Z , z)
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3. Die Grundlagen der Algebraischen Analysis bestimmt ist, wo A( ) und B ( ) ihrerseits irgendwelche algebraischen oder vielleicht sogar transzendenten Ausdrücke sind. Der Grundfehler dieser Hypothese ist es, den Begriff einer Sache (was ist eine „Funktion“?) mit ihrer Beschreibung (wodurch wird eine „Funktion“ gegeben?) zu verwechseln. Lesen wir diese Hypothese zur weiteren Erörterung daher als: Nach E ULER wird eine „Funktion“ grundsätzlich durch eine Gleichung bestimmt.
S. 199 S. 202
Diese Deutung steht in Konflikt mit zwei Passagen der Introductio sowie mit einer methodischen Vorgehensweise dort. (1) Die erste Passage ist E ULERs Wortwahl in der Definition der „Funktion“ als „analytischer Ausdruck“, denn ein „Ausdruck“ ist nun einmal keine „Gleichung“. (2) Die zweite Passage der Introductio, zu der jene Hypothese in Konflikt steht, ist jene Definition E ULERs, die wir oben zunächst eingeklammert haben: E ULERs Unterscheidung zwischen „entwickelten“ und „unentwickelten“ Funktionen. Lesen wir daher diese Unterscheidung noch nach: „Die IRRATIONALEN Funktionen scheidet man wieder passend in ENTWICKELTE (explicite) und UNENTWICKELTE (implicite). Entwickelt heißt eine Funktion, wenn sie vermittelst der Wurzelzeichen abgesondert dargestellt ist, wie in den oben angeführten Beispielen. Die unentwickelten irrationalen Funktionen aber werden durch algebraische Gleichungen definiert. So ist z. B. Z eine unentwickelte irrationale Funktion von z, wenn sie durch die Gleichung Z 7 = az Z Z − bz 5 bestimmt wird; denn es ist selbst unter Zulassung von Wurzelzeichen nicht möglich, einen entwickelten Ausdruck für Z zu finden, da die gemeine Algebra noch nicht bis zu diesem Grade der Vollkommenheit gebracht ist.“ (Euler 1983, S. 6, § 8) Nur am Rande weisen wir hier auf E ULERs Optimismus hin, der es im Jahr 1745 (dem Jahr, in dem er das Manuskript der Introductio fertiggestellt hat) offenkundig erwartet, der „gemeinen Algebra“ werde es schon noch gelingen, Gleichungen auch siebten Grades durch Formeln aufzulösen. (Drei Generationen später kommt N IELS H ENRIK A BEL (1802–29) zu dem Ergebnis, dass schon Gleichungen fünften Grades nicht mehr in jedem Fall durch Formeln auflösbar sind.) Fragen wir: Was sagt E ULER hier über „entwickelte“ und „unentwickelte“ Funktionen? Doch dies: Eine „unentwickelte“ Funktion ist durch eine Gleichung bestimmt, die ihren Namen auf beiden Seiten des Gleichheitszeichens enthält; eine „entwickelte“ Funktion hingegen ist „abgesondert dargestellt“ – durch einen Rechenausdruck R: z = R –, und in R kommt z nicht vor. E ULERs Redeweise hier verlangt es, eine „unentwickelte“ Funktion zu „entwickeln“ – doch wohl deshalb, weil sie erst dann in der von E ULER geforderten Weise (als Rechenausdruck) beschrieben ist. Natürlich ist eine „unentwickelte“ Funktion mutmaßlich eine „Funktion“ (nämlich eine veränderliche Größe) – aber ob das tatsächlich der Fall ist, kann sicher
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Eulers Begriff von Funktion und Zahl erst ihre „Entwicklung“ zeigen; denn vielleicht stellt sich dann heraus, das es sich doch nicht um eine „Funktion“ handelt, sondern um eine „Konstante“. Ergebnis: Solange eine „unentwickelte“ Funktion nicht „entwickelt“ ist, können wir nicht sicher sein, ob es sich dabei wirklich um eine „Funktion“ handelt und nicht etwa um eine „Konstante“ – die E ULER zufolge keine „Funktion“ ist. (3) Es gibt noch einen weiteren Einwand gegen die Deutung, E ULER habe mit „Funktion“ so etwas wie „Gleichung“ gemeint. Dieser Einwand lautet: Würde E U LER auch „unentwickelte“ Funktionen als (wirkliche) „Funktionen“ betrachten, dann verlöre seine gesamte sonstige Klassifikation der Funktionen in der Introductio ihren Sinn, denn diese setzt an der B EDEUTUNG des Rechenausdrucks an, S. 202 durch welchen die „Funktion“ beschrieben ist. Fazit also: Eine „Funktion“ ist nur eine „entwickelte“ Funktion; eine „unentwickelte“ Funktion ist noch keine (wirkliche) „Funktion“ – doch könnte die „Vervollkommnung der Algebra“ sie im Laufe der weiteren Entwicklung der Mathematik zu einer solchen machen.
Nachtrag II. Eulers alter Begriff der Funktion
Wir haben bisher nichts zu E ULERs zweitem Funktionsbegriff gesagt. Das ist noch S. 198 nachzutragen. Bemerkenswerterweise ist E ULERs zweiter Funktionsbegriff erst in jüngster Zeit wieder als ein von E ULER wohldefinierter Begriff registriert worden. Die Sekundärliteratur zu E ULERs Funktionsbegriff ist wenig übersichtlich. Es gibt vielerlei Hypothesen darüber, was E ULER unter „Funktion“ verstanden haben könnte. Nun sagt ein Sprichwort: Wo viel Rauch ist, ist auch ein Feuer. Dieser Rauch der vielen Hypothesen über E ULERs Funktionsbegriff besteht in der Einsicht, dass bei aller Großartigkeit, die in der Erfindung des Begriffs „Funktion“ als einer durch einen Rechenausdruck beschriebenen „veränderlichen“ Größe steckt, dieser Begriff für alle Zwecke der Analysis doch nicht ausreicht – insbesondere nicht für alle Zwecke der Anwendung der Analysis. Das berühmteste Beispiel für eine solche Anwendung ist die analytische Behandlung der schwingenden Saite. Jahrzehntelang haben E ULER und sein ein Jahrzehnt jüngerer Kollege D ’A LEMBERT miteinander darum gerungen, wer von ihnen die bessere mathematische Lösung dieses Problem habe. Sie wurden sich nicht einig. D ’A LEMBERT hielt dieses Problem in seiner größten Allgemeinheit für nicht mit den Mitteln der Analysis lösbar – E ULER behauptete, eine solche Lösung vorgelegt zu haben. Betrachtet man diese Kontroverse im Zusammenhang, liegt die Idee nicht fern, zu vermuten: Wenn diese beiden großen Mathematiker sich nicht zu einigen vermochten, dann haben sie vielleicht aneinander vorbeigeredet? Und so war es in der Tat! D ’A LEMBERT und E ULER benutzten in dieser Debatte unterschiedliche Funktionsbegriffe – und jedenfalls D ’A LEMBERT hat dies nicht
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3. Die Grundlagen der Algebraischen Analysis bemerkt. Ohne dies hier eingehend belegen zu können,130 will ich meine Sicht dieses Konflikts kurz zusammenfassen: Beiden Mathematikern war klar, dass E ULERs Funktionsbegriff aus der Introductio zur allgemeinen Behandlung dieses Problem nicht ausreichend ist. Daher verallgemeinerte D ’A LEMBERT diesen Begriff – und zwar genau so, wie es im vorangehenden Abschnitt erörtert wurde, dort nur unter einem anderen Gesichtspunkt: D ’A LEMBERT verstand unter „Funktion“ all das, was durch eine Gleichung bestimmt werden kann (eine Gleichung also, in der der Funktionsname auf beiden Seiten des Gleichheitszeichens stehen darf). Und trotz dieser Verallgemeinerung des Funktionsbegriffs (gegenüber dem von E ULER in der Introductio gegebenen Begriff) sah und akzeptierte es D ’A LEMBERT, dass damit das Problem der schwingenden Saite nicht in voller Allgemeinheit mit den Mitteln der Analysis zu lösen sei.
S. 193
E ULER hingegen verfuhr ganz anders. Das war für ihn auch näherliegend. Denn E ULER hatte den Funktionsbegriff, wie in der Introductio niedergelegt, selbst erfunden. Selbst erfunden aber bedeutet: Zuvor, vor dieser Erfindung, hatte E ULER auch schon mit etwas hantiert, was – in der Tradition von L EIBNIZ und von J OHANN B ERNOULLI, E ULERs Lehrer – „Funktion“ genannt wurde. Kurz: E ULER hatte einen Vor-Begriff von „Funktion“, ehe er seine Definition in der Introductio formulierte. Diesen E ULER’schen Vor-Begriff der Funktion kann man in seinen frühen Artikeln nachlesen. Und natürlich hat E ULER diesen Vor-Begriff nicht vergessen (hervorragende Mathematiker, wie E ULER, haben ein phantastisches Gedächtnis) – sondern immer dann, wenn sein neuer Funktionsbegriff aus der Introductio zu eng war und für die angestrebten Zwecke größtmöglicher Allgemeinheit nicht ausreichte, griff E ULER auf diesen Vor-Begriff von „Funktion“ zurück. Beispielsweise verfuhr E ULER bei der analytischen Behandlung der schwingenden Saite so. In seinen Artikeln zu diesem Problem definierte E ULER neu, was er in Abweichung zur Introductio hier nun unter „Funktion“ verstehen wollte. Merkwürdigerweise fiel das seit dem 19. Jahrhundert wohl niemandem mehr auf: D ’A LEMBERT nicht und auch kaum jemandem in den folgenden zwei Jahrhunderten, der diese Kontroverse zwischen D ’A LEMBERT und E ULER zu analysieren versuchte.131 Dabei steht es klar und deutlich dort – E ULERs alter, früherer, allgemeinerer Funktionsbegriff. Er lautet: Wie f : z im Allgemeinen durch die Ordinate einer gewissen krummen Linie [Fig. 2] dargestellt werden kann, deren Abszisse z ist, sei AM B die krumme Li-
„Comme f : z peut être representé en général par l’appliquée d’une certaine courbe, dont l’abscisse est z, soit AM B la courbe dont les appliquées P M
130
Eine detailliertere Entfaltung dieses Konflikts ließ sich leider nicht durch die Zensur der Fachjournale bringen: Spalt (2009).
131
Eine Ausnahme, ein Mathematiker also, der E ULERs zwei verschiedene Funktionsbegriffe sehr wohl verstanden hatte (und daran eingehende mathematische Betrachtungen anknüpfte), war L OUIS F RANCOIS A NTOINE A RBOGAST (1759–1803): siehe Arbogast 1791.
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nie, deren Ordinaten P M die Funktionen der Abszissen AP bilden, die durch das Zeichen f : bezeichnet werden, sop dass sich P M = f : (t b) ergibt [. . . ]
fournissent les fonctions des abscisses AP qui sont désignées par le caractep re f : en sorte que P M soit = f : t b; [. . . ]“ (E 140, S. 71, § 21)
Hier expliziert der reife E ULER seinen (bzw.: den) älteren Vor-Begriff von „Funktion“ in aller wünschenswerten Klarheit. Es handelt sich (natürlich) um einen geometrischen Begriff. E ULER formuliert wie folgt: Gegeben sei eine beliebige „krumme“ Linie. Dann ist f : z die „Ordinate“ dieser „krummen“ Linie in Abhängigkeit von der „Abszisse“. Mit anderen Worten: Dieser Begriff „Funktion“ setzt eine „krumme“ Linie als gegeben voraus, dazu ein Koordinatensystem mit „Abszissen“ und „Ordinaten“, und knüpft daran an. Wir registrieren: E ULER bezeichnet hier „ f : “ ausdrücklich als „Zeichen“ für solche „Funktionen“. Somit ist es völlig klar, dass er hier eine andere Definition des Begriffs „Funktion“ gibt als in seiner Introductio. (Die genannte Abhandlung wurde 1748 verfasst und 1750 gedruckt, also etwa gleichzeitig mit der Introductio.) E U LER führt für seinen neuen Begriff (der eigentlich der alte ist) auch eine eigene Bezeichnungsweise ein: „ f : “. Damit markiert E ULER seinen Funktionsbegriff aus der Introductio ganz ausdrücklich als einen anderen als den früheren. Und gemäß dem Grundsatz, dass Verschiedenes auch verschieden zu bezeichnen ist, prägt E ULER für den früheren Funktionsbegriff – den er jetzt in einer Weise expliziert hat, wie das zuvor nicht geschehen ist – die neue Notation „ f : x“, bei zusammengesetztem Argument: „ f : (x + a)“.132 132
Ausführlicher dazu Spalt 2011. – Wie ich erst jetzt sehe, ist das Zeichen „ f : “ auch Dugac 1983, S. 174 aufgefallen. P IERRE D UGAC (1926–2000) bezeichnet es lapidar als Zeichen für eine „beliebige“ Funktion (la fonction arbitraire), jedoch ohne uns zu verraten, was seiner Auffasung nach E ULER unter „beliebiger“ Funktion verstanden haben könnte. Statt eine Quelle anzuführen oder wenigstens ein inhaltliches Argument zu geben, verweist D UGAC auf einen zehn Jahre früheren Text E ULERs, in dem derselbe mathematische Sachverhalt (partielle Integration eines Differenzials einer Funktion zweier Veränderlicher) behandelt wird (E 45) – jedoch ohne Verwendung des Zeichens „ f :“, sondern mit der Bezeichnung „ f “. Damit insinuiert D UGAC, ohne es zu formulieren, das Folgende: E ULER hat in diesen zehn Jahren den Schritt von (irgendeinem) spezielleren zu (irgendeinem) allgemeineren Funktionsbegriff vollzogen. In der Sache hat D UGAC nicht viel Recht. Richtig ist, dass die (durch „ f :“ bezeichnete) ‚GFunktion‘ gegenüber der ‚AFunktion‘ – zu diesen Begriffen siehe den Text oben gleich – der allgemeinere Begriff ist. (Denn zu jeder Formel lässt sich eine Kurve zeichnen, aber es gibt nicht zu jeder Kurve eine Formel – solange die Theorie der Fourieranalyse nicht entwickelt ist, was erst im 19. Jahrhundert geschah.) Aber: Erstens hat schon und gerade der junge E ULER mit dem Begriff der ‚GFunktion‘ gearbeitet, mit dem allgemeineren also; denn den konnte er von seinen Vorgängern übernehmen, während er den Begriff ‚AFunktion‘ erst erfinden musste. Und zweitens hat E ULER nicht den all-
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3. Die Grundlagen der Algebraischen Analysis
Man könnte dies E ULERs ‚geometrischen‘ Funktionsbegriff nennen und durch ‚GFunktion‘ bezeichnen – gegenüber E ULERs ‚algebraischem‘ Funktionsbegriff aus der Introductio, der dann als ‚AFunktion‘ bezeichnet werden könnte.w Dabei bezieht sich dieses letzte ‚algebraisch‘ auf E ULERs Funktionsbegriff und ist nicht zu verwechseln mit dem, was E ULER (wie auch wir heute in ähnlicher Weise) als „algebraische“ Funktion verstehen. E ULER verwendet diesen ‚geometrischen‘ Funktionsbegriff beispielsweise in seinen Artikeln zur analytischen Behandlung der schwingenden Saite, aber auch an anderen Stellen.
ab S. 625
Interessanterweise hat sehr viel später auch ein weiterer namhafter Mathematiker einen solchen zweifachen (ja sogar: dreifachen!) Funktionsbegriff gebildet: F ELIX K LEIN. Euler handhabt zwei verschiedene Funktionsbegriffe nebeneinander
In der 1768–70 publizierten dreibändigen Integralrechnung x geht es E ULER in erster Linie um die unbestimmte Integration. Der ideale Gegenstand dafür ist natürlich seine AFunktion: der „Rechenausdruck“. In genau diesem Sinne bezeichnet er in seiner Integralrechnung eine allgemeine Funktion zunächst durch einen Großbuchstaben. Doch dabei bleibt es nicht. Soweit ich sehe erstmals in § 463 des ersten Bandes notiert E ULER knapp: [. . . ] wenn man eine beliebige Funktion von Z so bezeichnet: Φ : Z (E 385, § 463, S. 329) Mathematisch ist E ULER dort gerade damit befasst, die Differenzialgleichung P dx +Q dy = 0 in einem besonderen Fall zu integrieren. P und Q sind jeweils AFunktionen zweier Veränderlicher x und y. Wenn zur Lösung der Differenzialgleichung nun etwa w
Spalt 2011
x
Euler 1828/1829/1830; siehe auch E 342, E 366, E 385.
132 (Forts.)
gemeineren Begriff anstelle des spezielleren verwendet, sondern beide nebeneinander: jeden für den richtigen Zweck. (Näheres folgt im Text oben, zu Ende des nächsten Abschnitts.) E ULERs großartige Erfindung ist nicht ein möglichst allgemeiner Funktionsbegriff, sondern sein speziellerer: die ‚AFunktion‘. Die Formel: der „Rechenausdruck“ erwies sich als der Dreh- und Angelpunkt der Sturm- und Drangzeit in der Entwicklung der Funktionenlehre, denn (nur) er konnte rein algebraisch – oder: formal – differenziert und integriert werden. Höchst verständlich ist es, dass E ULER erst dann die Notwendigkeit einer zweiten Notationsweise für „Funktionen“ empfunden haben kann, nachdem er einen zweiten Funktionsbegriff geprägt hatte. Und das geschah in seiner 1748 publizierten Introductio. Dort vermied E ULER die Notation „ f “ für allgemeine Funktionen, sondern folgte der Vorgabe seines Lehrers J OHANN B ERNOULLI und nutzte im allgemeinen Fall Großbuchstaben als Funktionsbezeichung: „Z “ bezeichnet eine ‚AFunktion‘ der Veränderlichen z.
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Eulers Begriff von Funktion und Zahl unbestimmt nach x integriert wird, dann wird die resultierende Integrations„konstante“ nur eine Konstante hinsichtlich der Veränderlichen x sein – kann also sehr wohl noch eine Funktion der anderen Veränderlichen y sein; und zwar eine völlig beliebige Funktion von y. Eine solche völlig beliebige Funktion ist dann aber natürlich kein „Rechenausdruck“, keine AFunktion – denn dies ist doch nur eine bestimmte Art von Funktion –, sondern im allgemeinsten Fall eben eine GFunktion. Die aber notiert E ULER, wie wir wissen, als „ f : y“. Und genau das geschieht in E ULERs Integralrechnung. In Band 3 der Integralrechnung, in einer mathematisch vergleichbaren Situation, wird E ULER sogar etwas ausführlicher und schreibt klar und deutlich: [. . . ] wobei f : y eine wie auch immer beschaffene Funktion von y bezeichnet, die von sich selbst her in keiner Weise bestimmt ist, sondern völlig von unserem Belieben abhängt. (E 385, S. 37, § 33) Auch an dieser Stelle benötigt er eine möglichst allgemeine Funktion von y (weil er zuvor eine Funktion von den beiden Veränderlichen x und y nach x integriert hat). Damit zeigt E ULER unmissverständlich: Seine GFunktion ist allgemeiner als seine AFunktion. Unbestimmt integrieren hingegen lässt sich natürlich nur eine A Funktion, im Allgemeinen aber nicht eine GFunktion: E ULER hantiert in seiner Integralrechnung virtuos mit zwei verschiedenen Funktionsbegriffen. Ergebnis: Für seine beiden Funktionsbegriffe AFunktion und GFunktion verwendet E ULER grundsätzlich zwei verschiedene Bezeichnungsweisen: für die AFunktion einen einzelnen Buchstaben (vorzugsweise einen Großbuchstaben), für die GFunktion die Notation „ f : “. Die Bezeichnungsweise „ f ( )“ für Funktionen – drei Nachbemerkungen
(1) E ULER-Verehrer schreiben ihrem Helden auch die Erfindung der (noch heute üblichen) Notation „ f ( )“ zur Bezeichnung einer allgemeinen Funktion zu, ohne Doppelpunkt, dagegen mit Klammern als Notationsbestandteil: Klammern, zusammen mit dem Zeichen f für Funktion verdanken wir E ULER, der sie in seinem Artikel E 45, vorgelegt im Jahr 1734 und gedruckt im Jahr 1740, verwendet. (Juschkewitsch 1976, S. 60) Dieses Urteil ist falsch. (i) Ein zweiter Beleg für E ULERs Verwendung dieser Notation ist bisher nicht nachgewiesen.133 Es ist eher eine versehentliche Notation.134 (ii) Bei E ULER gehören die Klammern nicht zur Funktionsbezeichung, sondern 133 134
Das war mir noch nicht klar, als ich Spalt 2011, S. 486 verfasst habe. Wohl mit Recht merkt der Herausgeber H ENRI D ULAC im Jahr 1936 an dieser Stelle an: „Aber später bezeichnet [E ULER] Funktionen von y oder von x + n y durch f .y, [korrekt wäre: f : y] Φ : (x + n y).“ (in: E 45, S. 59, Anmerkung)
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3. Die Grundlagen der Algebraischen Analysis sie werden nur im Falle eines zusammengesetzten Arguments verwendet.y (2) Nicht bei E ULER, sondern bei D ’A LEMBERT finden wir die uns heute geläufige Bezeichnungsweise häufiger verwendet (dort immer mit zusammengesetztem Argument), beispielsweise in jenem Aufsatzpaar zur mathematischen Behandlung der schwingenden Saite, das den Beginn seiner Kontroverse mit E ULER bildete. Gleich auf der dritten Seite gibt es die Bezeichnung „Φ(t + s) + ∆(t − s)“z , und die „Gleichung der Kurve“ wird durch „y = Ψ(t + s) + Γ(t − s)“z beschrieben. Im gleich folgenden Aufsatz notiert D ’A LEMBERT: Ψ(t + s) − Ψ(t − s) = ∆t × Γs, wobei ∆t und Γs Funktionen von t und von s bezeichnen [. . . ] (d’Alembert 1747/49b, S. 229) Was er dabei unter „Funktion“ verstehen wollte, verriet D ’A LEMBERT an dieser Stelle freilich nicht; zwei Seiten später spricht er immerhin von „Funktionen“ als von „Potenzen“ von s. Ob aber D ’A LEMBERT der Erfinder der Bezeichnungsweise „ f ( )“ für Funktionen ist, weiß ich bisher nicht. In seinem Encyclopédie-Artikel „Fonction“ von 1764 findet sich diese Bezeichnung nicht.a (3) Die deutsche Übersetzung der E ULER’schen Integralrechnung von J OSEPH S ALOMON (1793–1856) ist textlich und auch in der Notation sehr frei. Wo E ULER vorgibt: [. . . ] wenn man eine beliebige Funktion von Z so bezeichnet: ϕ : Z (Euler 1913, § 463, S. 293) überträgt S ALOMON: „[. . . ] irgendeine Funktion Z , die wir durch ϕ(z) bezeichnen wollen, [. . . ]“ (Euler 1828/1829/1830, Bd. 1, § 463, S. 271) Das heißt: S ALOMON lässt nicht nur den Doppelpunkt weg, sondern er identifiziert sogar E ULERs Namen für (i) Funktion – E ULERs „ϕ“ – und (ii) die unabhängig Veränderliche der Funktion – E ULERs „Z “. S ALOMON identifiziert die beiden von E ULER genau geschiedenen Bezeichnungsweisen für seine zwei Funktionsbegriffe (denn er schreibt: Z = ϕ(z)).135 Demzufolge hat der Übersetzer S ALOMON gar nicht verstanden, dass E ULER fein säuberlich zwei Funktionsbegriffe unterschied. Damit wollen wir es nun aber mit E ULERs Funktionsbegriffen genug sein lassen und wenden uns etwas Allgemeinerem zu: E ULERs Größenbegriff. EULERS ALGEBRA MIT GRÖSSEN Wir beginnen mit dem Anfang von E ULERs famoser Rechnung zur Darstellung der Exponentialfunktion mit positiver Basis. Dem voraus schicken wir E ULERs Überlegungen zur allgemeinen Exponentialgröße. y 135
E 45, S. 59, § 7.
z
d’Alembert 1747/49a, S. 216
a
d’Alembert 1764
Entsprechend verfährt S ALOMON auch sonst, beispielsweise in § 33 des 3. Bandes der Inte-
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Eulers Begriff von Funktion und Zahl Eulers Vorüberlegung: Die allgemeine Exponentialgröße E ULER studiert die allgemeine Exponentialgröße als Beispiel einer „transzendenten“ Größe. „Offenbar nämlich können derartige [Größen] nicht zu den algebraischen gerechnet werden, da in diesen nur konstante Exponenten vorkommen dürfen.“b E ULER untersucht a z , indem er zunächst a variiert. Er unterscheidet: (i) a = 1 (dann ist stets a z = 1, und es liegt gar keine „Funktion“ vor, sondern eine „Konstante“); (ii) a > 1 (dann wird a z mit z „unendlich groß“, für z = 0 ist a z = 1, für z < 0 „werden die Werte von a z kleiner als 1, bis für z = −∞ a z = 0 wird“c ); (iii) a < 1, aber positiv („dann nehmen nämlich die Werte von a z ab, während z über 0 hinaus wächst, und sie nehmen zu, wenn für z negative Zahlen gesetzt werden. Denn ist a < 1, so ist a1 > 1.“d ). (iv) „Ist a = 0, so findet sich zwischen den Werten von a z ein sehr großer Sprung. So lange nämlich z eine positive Zahl und größer wie 0 ist, ist beständig a z = 0; ist z = 0, so wird a 0 = 1; ist aber z eine negative Zahl, so erhält a z einen unendlich großen Wert. Denn ist z. B. z = −3, so wird a z = 0−3 = 013 = 01 , also unendlich groß. [(v)] Noch viel größere Sprünge aber kommen vor, wenn die konstante [Größe] einen negativen Wert, z. B. den Wert −2 hat. Denn setzt man dann für z ganze Zahlen, so werden die Werte von a z abwechselnd positiv und negativ, wie aus der Reihe ersichtlich ist: a −4 , 1 + , 16
a −3 , 1 − , 8
a −2 , 1 + , 4
a −1 , 1 − , 2
a0,
a1,
a2,
a3,
a4,
u. s. w.
1,
−2,
+4,
−8,
+16,
u. s. w.
Außerdem aber werden, wenn man dem Exponenten z gebrochene Werte gibt, die Potenzen a z = (−2)z bald [wirkliche], bald [eingebilp 1 dete] Werte besitzen. So wird z. B. a 2 = −2 [eingebildet], während p p 3 3 1 a 3 = −2 = − 2 [wirklich] ist. Ob aber die Potenz a z , sobald der Exponent z irrationale Werte erhält, [wirkliche] oder [eingebildete] Werte liefert, läßt sich überhaupt gar nicht bestimmen.“ (Euler 1983, S. 74 f., § 99) Oben sehen wir, dass E ULER vor dem Term 01 nicht zurückschreckt, sondern ihn als ebenso zulässig wie jeden anderen behandelt. Dabei wird der Term 10 offenkundig durch eine Einsetzung von a = 0 in den Term a1 erhalten, nicht aber durch b c
Euler 1983, S. 73, § 96 Euler 1983, S. 74, § 98
d
Euler 1983, S. 74, § 8
gralrechnung, der oben (S. 215) wiedergegeben ist. Wo E ULER „ f : y“ schreibt, gibt S ALOMON „ f (y)“ wieder.
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3. Die Grundlagen der Algebraischen Analysis einen „Grenzübergang“. Denn von derartigem wie „Grenzübergang“ oder „Grenze“ ist in der Introductio nicht die Rede. Die Exponentialgröße mit positiver Basis > 1 Aus seinen Vorüberlegungen zieht E ULER folgende Konsequenz: „Der angeführten Unbequemlichkeit bei den negativen Werten von a halber wollen wir voraussetzen, dass a eine positive Zahl und größer als 1 sei, da sich auf diesen Fall der andere, wo a eine positive Zahl, aber kleiner als 1 ist, leicht zurückführen lässt. Setzt man a z = y, und nimmt man für z alle [wirklichen] Werte, welche zwischen den Grenzen +∞ und −∞ liegen, so wird y alle positiven zwischen den Grenzen +∞ und 0 enthaltenen Werte annehmen. Denn für z = ∞ ist y = ∞, für z = 0 ist y = 1, und für z = −∞ ist y = 0. Umgekehrt gibt es zu jedem beliebigen positiven Werte von y immer auch einen [wirklichen] Wert von z mit der Beschaffenheit, dass a z = y ist. Dagegen kann der Exponent z keinen [wirklichen] Wert besitzen, wenn y einen negativen Wert hat.“ (Euler 1983, S. 75, § 100) Kurz darauf bringt E ULER ein Beispiel: „Ist z. B. a = 10, so kennt man aus unserem dekadischen Zahlensystem ohne Weiteres die Werte von y, welche zu ganzzahligen Werten von z gehören; denn es ist 101 = 10, 102 = 100, 103 = 1000, 104 = 10000, 1 1 1 = 0, 1 , 10−2 = 100 = 0, 01 , 10−3 = 1000 = ferner 100 = 1 und 10−1 = 10 0, 001. Setzt man aber für z einen Bruch, so findet p man den Wert von 1 y durch Wurzelausziehung. So ist z. B. 10 /2 = 10 = 3, 162277 usw.“ (Euler 1983, S. 75 f., § 101) Dieses letzte Beispiel ist instruktiv, denn es zeigt: Jedenfalls beim Rechnen nutzt E ULER ganz selbstverständlich die Dezimaldarstellung der irrationalen Zahlen. Darstellung der Exponentialgrößen durch Reihen Nun E ULERs ganz erstaunliche Reihenentwicklung der Exponentialgröße unter Rückgriff auf den allgemeinen binomischen Lehrsatz: „Da a 0 = 1 ist, und mit wachsendem Exponenten zugleich auch der Wert der Potenz zunimmt, falls a eine Zahl größer als 1 ist, so folgt daraus, dass, wenn der Exponent unendlich wenig größer ist als 0, auch die Potenz die Einheit nur um unendlich wenig übersteigen wird. Ist daher ω eine unendlich kleine Zahl oder ein beliebig kleiner, jedoch von 0 verschiedener Bruch, so wird aω = 1 + ψ ,
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Eulers Begriff von Funktion und Zahl wenn ψ ebenfalls eine unendlich kleine Zahl (quoque numero infinite parvo) bedeutet; denn aus dem vorhergehenden Kapitel ist bekannt, dass, wenn nicht ψ unendlich klein sein würde, es auch ω nicht sein könnte. Es ist somit entweder ψ = ω, oder ψ > ω, oder ψ < ω, und zwar wird dies offenbar von der Größe von a abhängen. Da nun a noch unbekannt ist, so wollen wir ψ = kω setzen. Alsdann wird: a ω = 1 + kω , oder wenn wir a als Basis der Logarithmen nehmen: ω = log(1 + kω) . [. . . ] Da a ω = 1 + kω ist, so wird, welche Zahl man auch für i setzen möge: a i ω = (1 + kω)i . Es ist mithin (nach dem binomischen Lehrsatz): i (i − 1) 2 2 i (i − 1)(i − 2) 3 3 i k ω + k ω +··· a i ω = 1 + kω + 1 1·2 1·2·3 Setzt man nun i = ωz , wobei z irgendeine endliche Zahl bedeuten soll, so wird i , weil ω eine unendlich kleine Zahl ist, unendlich groß, und da hieraus ω = zi folgt, so wird ω gleich einem Bruche mit unendlich großem Nenner, also, wie angenommen, unendlich klein sein. Substituiert man daher zi für ω, so erhält man: 1 1(i − 1) 2 2 1(i − 1)(i − 2) 3 3 a z = 1 + kz + k z + k z 1 1 · 2i 1 · 2i · 3i 1(i − 1)(i − 2)(i − 3) 4 4 k z + · · · , (3.5) + 1 · 2i · 3i · 4i eine Gleichung, die vollkommen richtig ist, sobald für i ein unendlich großer Wert gesetzt wird. k aber ist darin, wie wir sahen, eine bestimmte endliche Zahl, deren Wert von a abhängt. Da aber i eine unendlich große Zahl ist, so wird i −1 = 1; denn offenbar nähert sich der Wert des i i −1 Bruches i immer mehr der Einheit, je größer die Zahl ist, die man für i setzt; es wird daher, wenn i eine Zahl bedeutet, die größer ist als jede nur denkbare Zahl, der Bruch i −1 i gerade gleich der Einheit (unitatem adaequabit) werden. Aus demselben Grunde aber wird i −2 = 1, i i −3 i = 1 u. s. w. Folglich wird i −1 1 = , 2i 2
i −2 1 = , 3i 3
i −3 1 = 4i 4
u. s. w.
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(3.6)
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3. Die Grundlagen der Algebraischen Analysis und man erhält daher, wenn man diese Werte einsetzt: az = 1 +
k3z3 k4z4 kz k 2 z 2 + + + + · · · in inf. 1 1·2 1·2·3 1·2·3·4
Diese Gleichung gibt aber zugleich die Beziehung an, welche zwischen a und k besteht; denn setzt man z = 1, so wird: a = 1+
k2 k3 k4 k + + + +··· 1 1·2 1·2·3 1·2·3·4
Wenn z. B. a = 10 ist, so muss, wie wir vorher fanden, notwendig ungefähr k = 2, 302 58 sein.“ (Euler 1983, S. 86–88, §§ 114–116) Und in dieser Art argumentiert E ULER noch ein Weilchen weiter. Für k = 1 werden die beiden letzten Reihen zur Exponentialfunktion e z bzw. zur Reihendarstellung von e. Die Zahl e berechnet E ULER dann auf 23 dezimale Nachkommastellen. – Die Bezeichnung „e“ wird in der Introductio nicht eingeführt.
S. 271
E ULER rechnet hier also ganz frei mit „unendlich kleinen“ und mit „unendlich großen“ „Zahlen“, „Brüchen“ oder „Werten“. Eine Zahl mit „unendlich großem“ Nenner und „endlichem“ Zähler nennt E ULER „unendlich klein“. Das Produkt einer „unendlich kleinen“ mit einer „unendlich großen“ Zahl ist eine „endliche“ Zahl.136 Wenn E ULER von i verlangt, eine „Zahl“ zu bedeuten, die „größer ist als jede nur denkbare“ Zahl, so ist dies nur dann kein offenkundiger Widerspruch, wenn zum Attribut „denkbar“ noch das weitere „endlich“ hinzutritt. Gewiss hat E ULER so gedacht. Dass die Gleichung 3.5 „vollkommen richtig“ sein soll, wenn nur „für i ein [sic] unendlich großer“ Wert gesetzt wird, kann, wörtlich genommen, ebenfalls nicht stimmen – denn jedenfalls müssen unterschiedliche „(unendliche) Werte“ von i unterschiedliche „(endliche) Werte“ von a z ergeben. Höchstwahrscheinlich würde E ULER darauf antworten: Ja gewiss, aber diese Unterschiede sind doch nur „unendlich klein“! Ähnlich ist es mit den Gleichungen 3.6, die allesamt nicht streng gelten können, da sie sonst sofort zu Widersprüchen führten.
S. 235
Es bleibt uns nur die Feststellung: E ULER rechnet in der Introductio ganz unbefangen nach den gewöhnlichen algebraischen Regeln auch mit „Zahlen“, für die die Geltung dieser Regeln unklar, jedenfalls unbewiesen, ist. E ULER bildet sogar Terme, welche die algebraischen Regeln zu verletzen scheinen: Ist 01 tatsächlich ein erlaubter Bruch? Wir müssen und werden darauf zurückkommen. 136
Wir erinnern uns daran, dass auch L EIBNIZ so gerechnet hat (siehe S. 115) – auch wenn jener Text E ULER natürlich nicht bekannt war. Freilich waren die Rechengegenstände unterschiedlich: bei L EIBNIZ waren es „Veränderliche“, bei E ULER sind es „Zahlen“. Aber dies ist eben die Art, wie man die „unendlichen“ Größen (kleine wie große) haben möchte. Ausführlicher dazu bei der Behandlung der „Ω-Analysis“, ab S. 519.
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Ein Blick auf Eulers unstrenge Gleichungen von heute aus Von heute aus können wir rückblickend E ULERs algebraische Verfahrensweise mit „unendlich kleinen“ und „unendlich großen“ „Zahlen“ recht bequem deuten, indem wir – ähnlich, wie wir das bereits bei seinem Lehrer J OHANN B ERNOULLI getan haben – dem gewöhnlichen Prädikat137 = noch ein zweites, gröberes Prädikat ≈ beiseite geben, das „von gleicher Größenklasse“ bedeutet: S. 175 i −1 1 ≈ , 2i 2
i −2 1 ≈ , 3i 3
i −3 1 ≈ 4i 4
u. s. w.
So könnte auch mit Gleichung 3.5 verfahren werden: Auch dort ist = durch ≈ zu ersetzen, wenn die so formulierte Aussage algebraisch streng – einfacher gesagt: korrekt – sein soll. Anders als J OHANN B ERNOULLI jedoch legitimiert E ULER seine Rechnungen nicht durch ausdrücklich formulierte und allgemeine Geltung beanspruchende „Postulate“ oder dergleichen, sondern er begnügt sich mit dem einen oder anderen „offenbar“.138
Eulers Größenbegriff in seiner Algebra Der ältere E ULER hat als Erstes nach seiner vollständigen Erblindung im Jahr 1766 ein recht elementares Werk diktiert, die Vollständige Anleitung zur Algebra. Darin wird in fünf von sieben Abschnitten, in 562 von insgesamt 1052 Paragrafen das Rechnen (mit „Zahlen“) behandelt.139 Obwohl E ULER länglich vom Rechnen mit Zahlen handelt, sieht er dort keine Veranlassung, den Begriff der Zahl näher zu bestimmen. Oder sollte er dazu keine Idee haben? Während E ULER in seiner Introductio die „Größe“ als etwas bestimmt hat, das einen oder mehrere „Werte“ hat, packt er in seiner Algebra die Sache anders an (dies ist einer der wenigen mathematischen Texte, die E ULER in Deutsch verfasst hat): „Erstlich wird alles dasjenige eine Größe genennt, welches einer Vermehrung oder einer Verminderung fähig ist, oder wozu sich noch etwas hinzusetzen oder davon wegnehmen lässt.“ (E 387, Teil 1, § 1, S. 9/14140 ) Dies ist eine sehr vage Erklärung. Jedenfalls ist es eine Erklärung der „veränderlichen“ Größe, nicht auch der „Konstanten“. Was fällt darunter? Sicher die „Zahl“, denn jede Zahl „ist einer Vermehrung oder Verminderung fähig“. Mit dieser Bestimmung sind dann aber nicht nur die 1, sondern sogar die 0 „Zahlen“! (Es sei denn, das erste bzw. dritte „Oder“ in dieser Bestimmung dürfte nicht als ausschließendes Oder genommen werden – wäre also ein Und –: dann wäre die 0 keine „Zahl“.141 ) 137
Wir wissen: Ein logisches Prädikat kann mathematisch eine Relation sein. Das ist hier der Fall. Siehe jedoch S. 238! 139 Das passt übrigens recht gut zu der obigen These über den Gegenstand der Algebra – siehe S. 62. 140 Die zweite Seitenangabe bezieht sich hier und künftig auf die – sprachlich leicht modernisierte – Ausgabe Euler ca. 1923; siehe auch Euler 1771. 141 Dieses Thema wird D ’A LEMBERT genauer aufgreifen: siehe S. 256. 138
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3. Die Grundlagen der Algebraischen Analysis Nach E ULERs Auffassung zählen sicher auch die „unendlich großen“ Zahlen zu den „Größen“, denn wie wir gerade gesehen haben, vermehrt und vermindert E U LER auch eine solche Zahl (er nennt sie gern i ). Doch auch die traditionellen geometrischen Gegenstände wie „Linie“, „Fläche“ usw. fallen unter diese Bestimmung. Und ebenso zahlreiche empirische Gegenstände: Entfernung, Dauer, Temperatur, Druck, Helligkeit usw. E ULERs Bestimmung der „Größe“ artikuliert das, was J OHANN B ERNOULLI (und L’H OSPITAL e ) unausgesprochen ließen: Sie ist eine radikale Neubestimmung dieses klassischen Begriffs – im offenkundigen Interesse der Anwendbarkeit der DifferenS. 235 zialrechnung. Denn damit die Bestimmung des „Differenzials“ als eine „(unendS. 236, lich kleine) Vermehrung oder Verminderung“ sinnvoll ist, muss der Gegenstand, Punkt 1 um dessen „Differenzial“ es sich handeln soll, „vermehrbar“ oder „verminderbar“ sein. Zeitgleich distanziert sich der Enzyklopädist D ’A LEMBERT in vorsichtiger ab S. 255 Weise von diesem – damals – modernen Größenbegriff. S. 167
Wie wird eine Größe bestimmt? E ULER erläutert, wie durch die „Bestimmung“ der „Größe“ die „Zahlen“ – und also die „Werte“ – zustandekommen: „Es lässt sich aber eine Größe nicht anders bestimmen oder ausmessen, als dass man eine Größe von eben derselben Art als bekannt annimmt, und das Verhältnis anzeiget, worinnen eine jegliche Größe, von eben der Art, gegen derselben steht. Also wann die Größe einer Summa Gelds bestimmt werden soll, so wird ein gewisses Stück Geld als z. E. ein Gulden, ein Rubel, ein Taler, oder ein Dukaten und dergleichen für bekannt angenommen, und angezeigt wie viel dergleichen Stücke in gemeldeter Summa Gelds enthalten sind. [. . . ] Hieraus ist klar, dass sich alle Größen, durch Zahlen ausdrücken lassen, und also der Grund aller Mathematischen Wissenschaften darin gesetzt werden muss, dass man die Lehre von den Zahlen, und alle Rechnungsarten, so dabei vorkommen können, genau in Erwägung ziehe, und vollständig abhandele. Dieser Grundteil der Mathematik wird die Analytik oder Algebra genennet. “ (E 387, Teil 1, §§ 3, 5; S. 9 f./15 f.)
S. 81
Meint E ULER damit dasselbe wie zuvor L EIBNIZ (in seinem zu E ULERs Zeit unpublizierten) Manuskript? Im Unterschied zu L EIBNIZ betont E ULER jedenfalls sofort die Notwendigkeit, „alle Rechnungsarten, so dabei vorkommen können, genau in Erwägung zu ziehen“. Offenbar sieht er das Rechnen als einen den Zahlbegriff mit konstituierenden Aspekt an. e
Siehe l’Hospital 2 1716, S. 2; vgl. auch S. 189.
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Eulers Begriff von Funktion und Zahl Mit dieser Bestimmung scheint D ESCARTES’ Messung von Streckenlängen auf al- S. 18 les „Messbare“ ausgedehnt. Die Veränderliche „z“ ist bei D ESCARTES wie bei E ULER dieselbe Bezeichnung, doch bei E ULER scheint sie für sehr viel mehr Gegenstände zu stehen; im 18. Jahrhundert sind das auch Gegenstände, die aus heutiger Sicht der Physik zuzurechnen sind. Was meint E ULER, wenn er sagt, dass sich „alle Größen durch Zahlen ausdrücken lassen“? Ist das ein Programmsatz, der es verlangt, alle „Größen“ durch „Zahlen“ auszudrücken? So sind wir heute vielleicht geneigt, diese Formulierung zu verstehen: als eine frühzeitige und also hellsichtige Forderung E ULERs an die Mathematiker. Oder ist das einfach eine andere Formulierung für den uns aus der Introdctio bekannten Satz: „Die Bedeutung einer veränderlichen Größe ist noch nicht er- S. 197 schöpft, solange nicht sämtliche bestimmten Werte für sie gesetzt worden sind.“? Die defensivere Deutung ist sicher die Letzte. Ich sehe keinen Anlass, sie aufzugeben.
Was bedeutet diese Bestimmung der Größen für den Zahlbegriff?
E ULER sagt: Auf die angegebene Weise „lassen sich alle Größen durch Zahlen ausdrücken“. Diese angegebene Weise liefert jedoch nur zwei Arten von „Zahlen“: „ganze“ (für uns heute: „natürliche“) und „gebrochene“. Anders gesagt: Alle anderen Zahlenarten, die E ULER kennt – „Negative“, „Irrationale“, „Transzendente“, „Eingebildete“ –, sind ihrem Wesen nach keine „Zahlen“! p Da dieser Zahlenbereich aber für das Rechnen nicht ausreicht (nicht einmal 2 wird erfasst!), sieht sich E ULER vor die Aufgabe gestellt, weitere Zahlenarten zu bestimmen. Dieser Aufgabe nimmt er sich dann auch mit großer Hingabe an. Das werden wir uns im Einzelnen anzusehen haben. Wir bemerken: In der Introductio hat E ULER von der „veränderlichen“ Größe verlangt, dass sie „alle bestimmten Werte ohne Ausnahme“ umfasst. Mit seiner Größenbestimmung in der Algebra hingegen beschränkt E ULER den Größenbegriff auf die (Maß-)Zahlen: auf die „ganzen“ und die „gebrochenen“ Zahlen. Die „Werte“ sind das Allgemeinere im Sinne des Umfassenderen. Alle anderen „Zahlen“ als die „ganzen“ und die „gebrochenen“ sind damit problematisch geworden. Dieses Problematisch-Werden der „Zahlen“ veranlasst E ULER in der Algebra zu ihrer näheren Behandlung. In der Introductio war eine solche nähere Behandlung der „Zahlen“ unnötig: weil sie dort gar nicht vorkamen, sondern nur (als) „Werte“. EULERS ZAHLBEGRIFF E ULERs Analysis ist auf „Größen“ gegründet, sekundär dann auf „Werte“, nicht jedoch auf „Zahlen“. „Zahlen“ geraten erst mittelbar in E ULERs Analysis: wenn es darum geht, den Begriff der „Veränderlichen“ zu erklären. „Veränderliche“ haben laut Introductio verschiedene „Werte“: „bestimmte“ – und dann vielleicht auch „unbestimmte“? Zu den „bestimmten“ Werten der „veränderlichen“ Größen zählen jedenfalls die „Zahlen“.
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3. Die Grundlagen der Algebraischen Analysis
S. 198
Die „Zahlen“ gliedert E ULER in fünf bis sieben Zahlenarten: „Ganze“, im Folgenden: Zahlenart 1 (bestehend aus „Positiven“ und „Negativen“), „Gebrochene“ (Zahlenart 2), „Irrationale“ (Zahlenart 3) und „Eingebildete“ (Zahlenart 4). Daneben nennt E ULER noch die „Transzendenten“ (Zahlenart 7) und die „Null“. Wie sich in der weiteren Entfaltung der E ULER’schen Analysis zeigt, ist das noch immer nicht alles! E ULER nutzt in seiner Analysis noch weitere Zahlenarten, nämlich „unendlich Kleine“ und „unendlich Große“ (Zahlenart 5), und gelegentlich ist auch von „Dezimalzahlen“ (Zahlenart 6) die Rede. Zahlenart 1: „Positive“ und „negative“ Zahlen Was sagt E ULER zur mathematischen Bestimmung der „negativen“ Zahlen? Bei der Erklärung von „Addition“ und „Subtraktion“ führt E ULER die „Zeichen“ + und − ein. Sodann bindet er diese „Zeichen“ an die „(ganzen) Zahlen“ und nennt das Ergebnis wieder: „Größe“; genauer: „bejahende“ Größe und „verneinende“ oder „negative“ Größe.f „Positive“ und „negative“ Zahlen sind demnach: „(Rechen-)Zeichen“ zusammen mit einer „Zahl“; dabei meint „Zahl“: „ganze“ (heute und auch bei E ULER, siehe sogleich: „natürliche“) oder „gebrochene“ Zahl. Während nach E ULER die „ganzen“ und die „gebrochenen“ Zahlen aus „Größen“ entstehen, entstehen nach ihm umgekehrt die „positiven“ und die „negativen“ Größen aus der Verbindung von „(Rechen-)Zeichen“ und „ganzer“ Zahl; und die „negative“ Größe nennt er umstandslos auch „negative“ Zahlg – offenbar ist damit die – von E ULER nicht näher erklärte – Verbindung von (Rechen-)Zeichen und ganzer Zahl gemeint. Das ist eine bemerkenswerte Umkehrung der Konstruktionsweise: Der ‚substanzialen‘ Bestimmung der „ganzen“ und „gebrochenen“ Zahl wird von E ULER eine rein zeichenhafte Bestimmung der „positiven“ und „negativen“ Zahlen beiseite gestellt. Die Ordnung der „positiven“ und der „negativen“ Zahlen
Als Deutung für die „negativen“ Zahlen gibt E ULER sofort das Beispiel Schulden: Was jemand schuldig ist, werde durch „negative“ Zahlen bezeichnet, was jemand „wirklich besitzt“ durch „positive“. Eine Begründung dafür gibt E ULER nicht. (E U LER ist keineswegs der Erste, der so denkt. Auch J OHN WALLIS (1616–1703) hatte so argumentiert.142 ) Offenkundig ist die von E ULER akzeptierte Perspektive die des Besitzenden, nicht die des Schuldners – denn für einen Schuldner sind Schulden f g
142
Vgl. E 387, Teil 1, § 16, S. 13/19. Vgl. E 387, Teil 1, § 17, S. 13/19. Vgl. Tropfke 3 1933, S. 100. Das Reden über „Schulden“ bei sonst unlösbaren Aufgaben ist natürlich viel älter. Es findet sich bereits im 1202 erschienenen Liber abaci von L EONARDO F IBONAC CI (siehe Leonardo 1857, S. 251, 284 bzw. Leonardo 2003, S. 365, 405).
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Eulers Begriff von Funktion und Zahl etwas sehr Wirkliches, das ihn (in der Regel) bedrückt und gar seine wirtschaftliche Existenz ruinieren kann. Aus dieser empirischen Deutung der „positiven“ und der „negativen“ Zahlen gewinnt E ULER deren – mathematische! – Anordnung: „Da nun die negative Zahlen als Schulden betrachtet werden können, in so fern die positive Zahlen die wirkliche Besitzungen anzeigen, so kann man sagen, dass die negative Zahlen weniger sind als nichts [. . . ]“ (E 387, Teil 1, § 18, S. 14/20) Auf diese Weise konstruiert E ULER die beiden Zahlenreihen, die für uns heute die „ganzen“ Zahlen bilden: „Die positiven Zahlen aber entstehen, wann man erstlich zu 0, oder nichts, immerfort eines zusetzt, da dann die Reihe der sogenannten natürlichen Zahlen entspringt, nämlich 0,
+1 ,
+2 ,
+3 ,
+4 ,
+5 ,
+6 ,
+7 ,
+8 ,
+9 ,
+10 ,
und so fort ins Unendliche. Wird aber diese Reihe rückwärts fortgesetzt, und immer eins mehr weggenommen, so entspringt folgende Reihe der negativen Zahlen 0,
−1 ,
−2 ,
−3 ,
−4 ,
−5 ,
−6 ,
−7 ,
−8 ,
−9 ,
−10 ,
und so fort ohne Ende.“ (E 387, Teil 1, § 19, S. 14/20) Die Tatsache, dass E ULER hier mathematische Konsequenzen aus einer empirischen Rechtfertigung des Begriffs „negative“ Zahl zieht, ist höchst wichtig. Eine Analyse dieser Tatsache gehört jedoch in eine Geschichte des Zahlbegriffs und würde hier zu weit führen. Die Rechenregeln für die „positiven“ und die „negativen“ Zahlen
Addition und Subtraktion für „positive“ und „negative“ Zahlen sind leicht erklärt. Wie aber steht es um die Multiplikation (und damit auch: die Division)? Bei „positiven“ Zahlen „ist gar kein Zweifel, dass die daher entstehenden Produkte nicht auch positive sein sollten: nämlich +a mit +b multipliziert, gibt unstreitig +ab: was aber herauskomme, wenn +a mit −b oder −a mit −b multipliziert werde, erfordert eine besondere Erörterung.“ (E 387, Teil 1, § 31, S. 17/23) Für diese „besondere Erörterung“ greift E ULER erneut auf die willkürliche empirische Rechtfertigung der „negativen“ Zahlen als „Schulden“ zurück:
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3. Die Grundlagen der Algebraischen Analysis „Wir wollen erstlich −a mit 3, oder +3, multiplizieren; weil nun −a als eine Schuld angesehen werden kann, so ist offenbar, dass wenn diese Schuld 3-mal genommen wird, dieselbe auch 3-mal größer werden müsse; folglich wird das gesuchte Produkt −3a sein. Ebenso, wenn −a mit b das ist +b multipliziert werden soll, so wird herauskommen −ba, oder welches einerlei −ab. Hieraus machen wir den Schluss, dass wenn eine positive Größe mit einer negativen multipliziert werden soll, das Produkt negativ werde; woher diese Regel gemacht wird, + mit + gibt + oder plus. Hingegen + mit −, oder − mit + multipliziert, gibt − oder minus.“ (E 387, Teil 1, § 32, S. 17 f./23 f.) Offenkundig weiß E ULER keine mathematische Begründung für die Multiplikationsregeln für „positive“ und „negative“ Zahlen. Stattdessen gründet er diese Regeln auf die empirische Rechtfertigung der „negativen“ Zahlen als Schulden. Und so begründet E ULER das Produkt zweier „negativer“ Zahlen −a und −b: „Hierbei ist zuerst klar, dass das Produkt, in Ansehung der Buchstaben heißen werde, ab; ob aber das Zeichen + oder − dafür zu setzen sei, ist noch ungewiss, so viel aber ist gewiss, dass es entweder das eine, oder andere sein muss. Nun aber, sage ich, kann es nicht das Zeichen − sein. Denn −a mit +b mult. gibt −ab, und also −a mit −b mult. kann nicht eben das geben, was −a mit +b gibt, sondern es muss das Gegenteil herauskommen, welches nämlich heißt, +ab. Hieraus entsteht diese Regel, − mit − multipliziert gibt + ebensowohl, als + mit +.“ (E 387, Teil 1, § 33, S. 18/24) Bemerkenswerterweise vergisst E ULER jetzt seine empirische Rechtfertigung der „negativen“ Zahlen als „Schulden“.143 Stattdessen verfährt er rein mathematisch: Er verlangt von dem „Produkt“ zweier „negativer“ Zahlen, eine „Zahl“ zu sein – die demzufolge eines der beiden (bisher nur bekannten) „[Vor-]Zeichen“ haben muss. E ULERs Argumentationsweise entnehmen wir: Das „Gegenteil“ einer „negativen“ Zahl ist eine „positive“ Zahl. Da der Begriff „Gegenteil einer Zahl“ nicht erklärt war, können wir kaum anders, als diese Setzung E ULERs als Definition dieses Begriffs „Gegenteil“ zu verstehen: „Negative“ und „positive“ Zahlen sind „Gegenteile“ zueinander. Das ist eine Sprechweise. Sie passt sehr gut zu den Multiplikationsregeln. Aber eine Sprechweise ist kein Argument!144 Auch der Rückgriff auf die empirische Rechtfertigung der „negativen“ Zahl als einer „Schuld“ macht die Sache nicht selbstverständlich. Eine „Schuld“ ist ein bestimmtes Vertragsverhältnis zweier Parteien. Was ist das „Gegenteil“ dieses Vertragsverhältnisses? Das „Gegenteil“ des Bestehens eines Vertragsverhältnisses ist das Nicht-Bestehen dieses Verhältnisses. E ULER will aber nicht das Vetragsverhältnis „Schuld“ aufheben, sondern er will es beibehalten und umkehren. 143 144
Dass das mathematisch korrekt ist, kommt gleich zur Sprache. B OLZANO wird dieses Pseudo-Argument kritisieren: siehe S. 302.
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Eulers Begriff von Funktion und Zahl Diese Deutung des Begriffs „Gegenteil“ ist gewiss nicht selbstverständlich. Sie ist eher eine gewagte Setzung: die Deutung von „Gegenteil“ als „Umkehrung“. Aber E ULER hat Glück: Seine neue willkürliche Setzung hier produziert keinen Widerspruch, denn er kann sich einen – vielleicht von ihm nicht bedachten – zusätzlichen Freiheitsgrad zunutze machen: Was die „Multiplikation“ mit einer „negativen“ Zahl sein soll, ergibt sich nicht aus dem Begriff (oder: einer Deutung von) „negative“ Zahl. Vielmehr bedarf der Begriff „Multiplikation mit einer negativen Zahl“ seinerseits einer Festlegung. (Denn die Forderung „so oft setzen, wie der Multiplikator die Eins enthält“ läuft bei einer „negativen“ Zahl ins Leere: diese enthält die „Eins“ gar nicht.) Die entsprechenden Regeln für die Division leitet E ULER natürlich aus den Regeln für die Multiplikation her.h Alle diese Regeln kurz zusammengefasst: „[. . . ] gleiche Zeichen geben plus, ungleiche aber minus.“ (E 387, Teil 1, § 56, S. 25/31) Zahlenart 2: „Gebrochene“ Zahlen oder „Brüche“ Auch das Bilden eines „Bruches“ motiviert E ULER durch ein Beispiel: „Wenn sich eine Zahl als zum Ex[empel] 7 durch eine andere als [zum Exempel] 3, nicht teilen lässt, so ist dieses nur so zu verstehen, dass sich der Quotus nicht durch eine ganze Zahl ausdrücken lässt, keineswegs aber, dass es an sich unmöglich sei, sich einen Begriff von dem Quotus zu machen. Man darf sich nur eine Linie, die 7 Fuß lang ist, vorstellen, so wird wohl niemand zweifeln, dass es nicht möglich sein sollte, diese Linie in 3 gleiche Teile zu zerscheiden und sich einen Begriff von der Größe eines solchen Teils zu machen.“ (E 387, Teil 1, § 68, S. 30/35 f.) Dies ist erneut ein empirisches Beispiel. Wiederum zieht E ULER aus einem solchen Beispiel kurz entschlossen eine mathematische Konsequenz: „Da man sich nun einen deutlichen Begriff von dem Quotus, der in solchen Fällen herauskommt, machen kann, obgleich derselbe keine ganze Zahl ist, so werden wir hierdurch auf eine besondere Art von Zahlen geleitet, welche Brüche oder gebrochene Zahlen genennt werden. Also haben wir in obigem Exempel, wo 7 durch 3 dividiert werden soll, einen deutlichen Begriff von dem daher entspringenden Quotus und man pflegt denselben auf folgende Art anzuzeigen: 37 ; wo die oben gesetzte Zahl 7 das Dividend und die unten gesetzte Zahl 3 der Divisor ist.“ (E 387, Teil 1, § 69, S. 30/36) h
Vgl. E 387, Teil 1, §§ 55 f., S. 25/31
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3. Die Grundlagen der Algebraischen Analysis ist ein „Bruch“. Seine „kleinste Form“ ist 52 .i In einer strengen Redeweise müsste man also wohl sagen, beides seien unterschiedliche „Formen“ desselben „Bruchs“. 48 120
Die nicht gewählte Alternative bei den „Brüchen“ Eine zur „Subtraktion“ analoge Verfahrensweise bei der „Division“ würde „Brüche“ anderer Art hervorbringen. Diese Analogie wäre folgende Konstruktion: Zu jeder „positiven“ wie „negativen“ Zahl wird durch Vorsetzen des Rechenzeichens „:“ eine neue „Zahl“ gebildet: : 1,
: 2,
: 3,
...
: (−1) ,
: (−2) ,
: (−3) ,
... ,
und dies wären dann die neuen Rechenobjekte! (In der Antike sind die frühen ägyptischen Rechner genau so verfahren, selbstverständlich nur für ihr Analogon zu den „positiven“, den „ganzen“ Zahlen.j Aber auch L EONARDO F IBONACCI kennt diese Objekte.k ) Mit heutigen Mitteln wären diese neuen Objekte zu deuten als: 1 , 1
1 , 2
1 , 3
...
1 , −1
1 , −2
1 , −3
... .
Freilich folgt das Rechnen mit diesen Objekten anderen Regeln als das Rechnen mit den gewöhnlichen Brüchen. Das beginnt schon bei der Addition: : 3+ : 3 = : 2 : 6 ,
das heißt:
1 1 11 + = . 3 3 26
Ohne diese Rechenstruktur der „Stammbrüche“ hier zu erörtern, bescheiden wir uns mit der Feststellung: E ULER zeigt keineswegs eine systematische Herangehensweise an den Begriff der Zahl, sondern er greift die vorgefundene Rechenpraxis auf, obwohl er dafür keine mathematisch stringente Rechtfertigung („Konstruktion“) anzubieten hat.
Zahlenart 3: „Irrationale“ Zahlen: als Individuen Die „irrationalen“ Zahlen – Teil I
Nach der Behandlung der Regeln der Bruchrechnung geht E ULER zu einem Sonderfall der Multiplikation über: der Multiplikation einer Zahl mit sich selbst, genannt „Quadrat“.l Auch diese spezielle Art der Multiplikation hat nicht in jedem Fall eine Umkehrung. Zwar gibt es Zahlen, deren Quadrate 1, 4, 9 sind, auch solche, deren Quadrat erkennt,m doch gibt z. B. 12 14 ist, wie man aus deren Umwandlung in den Bruch 49 4 es keineswegs immer eine solche „Quadratwurzel“. i
Vgl. E 387, Teil 1, § 91, S. 38/43. j Vgl. Vogel 1958. Vgl. Leonardo 1857, S. 37 bzw. Leonardo 2003, S. 65. l E 387, Teil 1, § 115, S. 46/51 m Vgl. E 387, Teil 1, § 124, S. 49/54 k
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Eulers Begriff von Funktion und Zahl Ausführlich erläutert E ULER das Beispiel der „Quadratwurzel“ aus 12, nämlich 6 zu klein so: 3 ist zu klein, 4 zu groß. Auch 3 12 ist zu groß usw. Schließlich sind 3 13 7 und 3 15 zu groß. E ULER konstatiert (ohne dies an dieser Stelle strikt zu beweisen – was ihm natürlich möglich wäre), dass es „nicht möglich“ ist, zwischen diesen beiden eine gebrochene Zahl anzugeben, deren Quadrat exakt 12 ist.n Gleichwohl „kann man doch nicht sagen, dass die Quadratwurzel von 12 an und für sich selbsten unbestimmt wäre, sondern es folgt aus dem Angeführten nur so viel, dass dieselbe durch Brüche nicht könne ausgedrückt werden, ungeachtet sie notwendig eine bestimmte Größe hat.“ (E 387, Teil 1, § 127, S. 51/56) Warum aber soll „die Quadratwurzel von 12“ eine „Zahl“ (E ULER sagt: „bestimmt“) sein? Warum soll es möglich sein, eine derartige „Zahl“ zu definieren? – Von solchen Problemen lässt sich ein E ULER offenkundig nicht plagen. Seine Feststellung – es gibt nur näherungsweise „gebrochene“ Zahlen, deren „Quadrat“ 12 ist – gibt E ULER Grund zur Einführung (heute sagen wir: Definition) einer neuen Zahlart: „Hierdurch werden wir auf eine neue Art von Zahlen geleitet, welche sich keineswegs durch Brüche ausdrücken lassen und gleichwohl eine bestimmte Größe [gemeint: magnitudo] haben, wie wir von der Quadratwurzel aus der Zahl 12 gesehen haben. Diese neue Art von Zahlen werden nun Irrationalzahlen genennt, und solche entspringen, sooft man die Quadratwurzel aus einer Zahl suchen soll, welche kein Quadrat ist. [. . . ] Bisweilen pflegen auch solche Zahlen Surdische genennt zu werden.“ (E 387, Teil 1, § 128, S. 51/56) E ULER verfährt hier genau so wie schon bei der Einführung der „negativen“ – nicht aber: der „gebrochenen“ – Zahlen: Er nutzt ein Symbol für ein Rechenzeichen zur Kennzeichnung der neuen Zahlart. Bei den „negativen“ Zahlen war es das Rechenp zeichen „−“ (minus), bei den „irrationalen“ Zahlen ist es das Rechenzeichen „ “ (Quadratwurzel aus). (Das ist natürlich keineswegs neu. E ULER führt hier eine Tradition fort, die von den Rechenmeistern der frühen Neuzeit stammt:145 Wurzelzeichen hat wohl als Erster C HRISTOPH RUDOLFF drucken lassen – allerdings nicht nur eines für sämtliche Wurzelarten, sondern für jede Wurzelart ein eigenes.146 ) Dennoch besteht ein Unterschied zwischen beiden Verfahren der Einführung einer neuen Zahlart: Während die „negativen“ wie auch die „gebrochenen“ Zahlen zwar nur als Zeichen, aber doch systematisch erklärt waren (nämlich zu sämtlichen n 145 146
Vgl. E 387, Teil 1, §§ 126 f., S. 50 f./55. Es sei an den Abschnitt ab S. 39 sowie an Anmerkung 75 von S. 100 erinnert. Siehe Rudolff 1525, f. E iiijr ; f. [E vi]v . – Ein Symbol für den Begriff „Wurzel“ findet sich in Handschriften schon früher, siehe Curtze 1902, S. 524 (zur Datierung dieses Textes Eneström 1902). – Übrigens findet sich bei RUDOLFF auch ein Dezimalkomma: f. Br (das es bei Stevin 1958 bekanntlich nicht gibt), bleibt aber folgenlos; Stifel 1553 ignoriert diese Passage gar gänzlich.
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3. Die Grundlagen der Algebraischen Analysis p p p „ganzen“ Zahlen), ist dies bei p den „Irrationalen“ anders: Wohl sind o2, 3 und 5 „Irrationale“, nicht jedoch 4 – denn dies ist sowohl +2 als auch −2. Die „Irratiop nalen“ sind also wirkliche Individuen: Im Einzelfall muss geprüft werden, ob a wirklich eine ist (dann ist es eine „surdische“ Zahl) – oder nicht doch eine „ganze“ oder eine „gebrochene“ Zahl! Eulers Rechtfertigung der Existenz der Irrationalen
Es wäre ganz verfehlt, zu denken, E ULER sei ein Formalist im modernen Sinn gewesen. Auch wenn E ULER seine neuen mathematischen Objekte aus Zeichen bildet, so genügen ihm diese Zeichen allein nicht, um sein Vorgehen zu legitimieren! E ULER stellt durchaus Betrachtungen an, die über diese Sphäre der Zeichen hinausgehen: „Ungeacht[et] ddasse sich nun solche Irrationalzahlen durch keinen Bruch vorstellen lassen, so haben wir doch einen deutlichen Begriff von der Größe [gemeint: magnitudo] derselben. Denn z. E. [zum Exempel] die Quadratwurzel aus 12 mag auch immer noch so verborgen scheinen, so wissen wir doch dass dieselbe eine solche Zahl ist, welche mit sich selbst multipliziert just 12 hervorbringt. Und diese Eigenschaft ist hinlänglich, uns einen deutlichen Begriff von dieser Zahl zu geben, insonderheit da wir immer näher zu dem Wert derselben gelangen können.“ (E 387, Teil 1, § 129, S. 51/56) E ULER nennt also zwei Gründe für die „Existenz“ der je einzelnen „Irrationalen“: 1. Wir haben einen „deutlichen Begriff“ von diesen Zahlen. 2. Wir können ihren „Wert“ beliebig genau annähern. Über das Bestehen des ersten Grundes – es ist ein erkenntnistheoretischer Grund – wird man vielleicht streiten können, aber der Zweite ist ein mathematischer: Eine beliebig genaue Bestimmung des Objektes durch „gebrochene“ Zahlen ist möglich, also ist es erlaubt, seine Existenz zu postulieren. Sämtliche Gegenstände der Mathematik sind nun einmal idealer Natur: Sie sind nur gedacht. Also können wir uns – unter geeigneten Bedingungen – neue Gegenstände denken. Und die beliebig genaue numerische Bestimmbarkeit sollte nun wirklich ein mathematisch zulässiger Schöpfungsgrund für neue Objekte sein. Wohlwollend könnte man sagen: E ULER führt die „Irrationalen“ als „Grenzwerte“ der „Rationalen“ ein. Allerdings verwendet E ULER den Begriff „Grenze“/„Grenzwert“ hier nicht! Er hat also diese Idee gehabt (dass die „Rationalen“ die „Irrationalen“ beliebig gut annähern) – aber eine klare Formulierung dieser Idee hat E ULER hier nicht gegeben: weder mittels des Grenzbegriffs – den Grenzwertbegriff nahm er nicht wichtig – noch gar in epsilontischer Weise, also „mittels ε und N “.
S. 391
Wir bemerken ergänzend: E ULER greift an dieser Stelle nicht auf die „Dezimalbrüche“ zurück! Ihm genügen die gewöhnliche Brüche zur Feststellung der beliebig genauen Bestimmbarkeit. So wird es später auch W EIERSTRASS angehen. o
Vgl. E 387, Teil 1, § 122, S. 49/54.
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Eulers Begriff von Funktion und Zahl Und wir bemerken ein Weiteres: Mit der Einführung der neuen Gegenstände „Irrationalzahlen“ ist es mathematisch keineswegs getan: Auch das Rechnen mit diesen neuen Objekten muss definiert werden! Dabei mögen die Erklärungen für die „Addition“ und die „Subtraktion“ nahe liegend sein, doch was soll die „Multiplikation“ mit einer „Irrationalen“ sein? Aus dem Begriff der Multiplikation für natürliche Zahlen ergibt sich das keineswegs, und auch nicht aus dem Begriff der Multiplikation für „negative“ Zahlen. Dass es hier einer Erklärung bedarf, wird ein wenig durch den Trick verdeckt, p p p eindass mit der „Zahl“ a auch sogleich die (spezielle!) „Multiplikation“ a · a p geführt liegende Erklärung, was denn wohl „5· 3“ p wird, sowie durch die sehr nahe p p (= 3 · 5) bedeuten soll. Was aber „ a · b“ bedeuten soll, bedarf, mathematisch streng genommen, selbstverständlich einer eigenen Festlegung!
Die „irrationalen“ Zahlen – Teil II
Leider ist es mit den – je einzelnen – „Quadratwurzeln“ nicht getan. Auch die höheren Potenzen geben Anlass zur Schöpfung neuer Zahlen. „Wenn aber die vorgegebene Zahl kein wirklicher Kubus ist, so lässt sich auch die Kubikwurzel davon, weder durch ganze, noch gebrochene Zahlen, ausdrücken; also da 43 keine Kubikzahl ist, so kann unmöglich weder in ganzen noch gebrochenen Zahlen, eine Zahl angezeigt werden, deren Kubus genau 43 ausmache.“ (E 387, Teil 1, § 160, S. 60/65 f.) Und wieder: Die Kubikwurzel aus 43 lässt sich weder durch ganze noch durch gebrochene Zahlen ausdrücken – „da wir aber gleichwohl einen deutlichen Begriff von der Größe derselben haben“p und sie beliebig genau annähern können (dieses zweite, mathematisch eigentlich entscheidende Argument wiederholt E ULER an dieser Stelle freilich ¢ q nicht!), „so bedienet man sich [um] dieselben anzuzeigen ¡p 3 dieses Zeichens “ . Und was der Quadrat- und der Kubikwurzel recht ist, ist den höheren Wurzeln natürlich billig: „Wir erhalten also daher eine unendliche Menge neuer Arten von Irrational- oder Surdischen Zahlen, weil so oft die Zahl a keine solche wirkliche Potestät [d. i. Potenz] ist als die Wurzel anzeiget, so oft ist es auch nicht möglich, diese Wurzel durch ganze Zahlen oder Brüche auszudrücken, folglich gehöret dieselbe in dasjenige Geschlecht von Zahlen, welche Irrationalzahlen genennt werden.“ (E 387, Teil 1, § 194, S. 71/77) p
E 387, Teil 1, § 162, S. 61/66
q
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3. Die Grundlagen der Algebraischen Analysis Dieses „Geschlecht“ der „Irrationalzahlen“ ist offenkundig eine recht wenig übersichtliche Vielfalt von Individuen. E ULER verfährt hier im Grundsatz wie schon E UKLID (nur eben für „Zahlen“ statt wie E UKLID für „Größen“) – und es sei an das B REGER-Zitat von S. 124 erinnert. Zahlenart 4: „Unmögliche“ oder „eingebildete“ Zahlen Was nun den „Irrationalen“ recht ist, das ist den „Eingebildeten“ billig. Unter der Überschrift „Von den aus eben dieser Quelle entspringenden unmöglichen oder imaginären Zahlen“ entwickelt E ULER seinen Begriff dieser „Unmöglichen“ bzw. „Eingebildeten“, und zwar gleich nach seiner Einführung der quadratischen „Irrationalen“: „Weil nun alle mögliche Zahlen, die man sich nur immer vorstellen mag, entweder größer oder kleiner sind als 0, oder etwa 0 selbst; so ist klar, dass die Quadratwurzel von Negativzahlen nicht einmal unter die möglichen Zahlen können gerechnet werden: Folglich müssen wir ˜ sagen, dass dieselben unmögliche Zahlen sind. Und dieser Umstand leitet uns auf den Begriff von solchen Zahlen, welche ihrer Natur nach unmöglich sind, und gemeiniglich imaginäre Zahlen, oder eingebildete Zahlen genennt werden, weil sie bloß allein in der Einbildung stattfinden. p p p p Dahero bedeuten alle diese Ausdrücke −1, −2, −3, −4 etc. solche unmögliche oder imaginäre Zahlen, weil dadurch Quadratwurzeln von Negativzahlen angezeigt werden.“ (E 387, Teil 1, § 143 f., S. 55/60 f.) Hier besteht nun nicht einmal mehr die Möglichkeit, diese Gegenstände „beliebig genau“pzu bestimmen – und dennoch hat E ULER kein Problem, die „Ausdrücke“ wie −1 „Zahlen“ zu nennen. Allmählich wird es abenteuerlich. Erste Eigenschaften der „Eingebildeten“
Wenn wir schon nicht wissen, was die „Eingebildeten“ sind, so sollten wir uns wenigstens um ihre Kennzeichnung kümmern: Welche Eigenschaften haben diese „Eingebildeten“? Lesen wir bei E ULER weiter: „Von diesen behauptet man also mit allem Recht, dass sie weder größer noch kleiner sind als nichts; und auch nicht einmal nichts selbsten, als aus welchem Grund sie folglich für unmöglich gehalten werden müssen.“ (E 387, Teil 1, § 144, S. 55/61) S. 225
Das ist zuallererst einmal überraschend: Können nicht die „negativen“ Zahlen als „Schulden“ betrachtet werden? Wenn dem so ist, dann kann eine „Wurzel“ aus einer „negativen“ Zahl doch als eine Zahl betrachtet werden, deren Quadrat eben diese „Schulden“ ergibt – was dem „Guthaben“ recht ist, muss den „Schulden“ billig sein!?
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Eulers Begriff von Funktion und Zahl E ULER freilich geht auf dieses Thema mit keiner Silbe ein. Er vergisst seine empirische Rechtfertigung der „negativen“ Zahlen und schreibt stattdessen, was zitiert wurde. Ist das, was er da schreibt, aber nicht höchst problematisch? E ULER spricht hier so, als ließen sich Zahlen mit „unmöglichen“ Eigenschaften als mögliche Zahlen denken! Sicher ist es erlaubt, E ULER hier nach einer Rechtfertigung für die Einführung solcher Zahlen mit „unmöglichen“ Eigenschaften zu fragen. Eulers Rechtfertigung der Existenz der Eingebildeten
E ULER sieht diese Frage und beantwortet sie so: „Gleichwohl aber werden sie unserm Verstand dargestellt, und finden ˜ in unserer Einbildung statt; daher sie auch bloß eingebildete Zahlen genennt werden. p Ungeacht[et] aber diese Zahlen, als z. E. −4, ihrer Natur nach ganz und gar unmöglich sind, so haben wir davon doch einen hinlänglichen Begriff, indem wir wissen, dass dadurch eine solche Zahl angedeutet werde, welche mit sich selbsten multipliziert zum Produkt −4 hervorbringe; und dieser Begriff ist zureichend um diese Zahlen in der Rechnung gehörig zu behandeln.“ (E 387, Teil 1, § 145, S. 56/61) Von welcher „Darstellung in unserem Verstande“ ist hier die Rede? Doch offenp mit der bar von der „Darstellung“ durch die Verbindung des Rechenzeichens p Zahl −4, denn diese Verbindung X = −4 erlaubt eine rechnerische (oder: ‚algebraische‘) Rückbindung an die bekannten „Zahlen“: X2 ist der Radikand von X und also: −4. Die spezielle Rechenoperation „Multiplikation mit sich selbst“ ergibt bei einer „eingebildeten“ Zahl eine „wirkliche“ Zahl als Ergebnis. Die allgemeine Multiplikation zweier „eingebildeter“ Zahlen führt sogar zu einer „wirklichen“ Zahl: p p p p −3 · −4 = (−3) · (−4) = 12 . Für die Division gilt das Analoge. Auch die Addition solcher „eingebildeter“ Zahlen lässt sich bewältigen, wenn man ein bisschen pfiffig ist – und die Weitergeltung der sonst üblichen Rechenregeln unterstellt: p p p p p p p p p p p −3 + −5 = 3 · (−1) + 5 · (−1) = 3 · −1 + 5 · −1 = ( 3 + 5) · −1 p Das so entstehende −1 nennt E ULER „das Unmögliche, das in der Zahl vorkommt“r . Entsprechend die Subtraktion. Ergebnis: Mit den „eingebildeten“ Zahlen lassen sich – quasi experimentell – die r
E 387, Teil 1, § 147, S. 56/61
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3. Die Grundlagen der Algebraischen Analysis gewöhnlichen Rechenoperationen nach den gewöhnlichen Rechenregeln bewältigen, ohne dass weitere Schwierigkeiten entstehen. Dies dürfte in E ULERs Augen die Rechtfertigung für ihre „Existenz“ sein. Auch wenn E ULER hier nicht pedantisch formuliert, so wird man ihn nicht so deuten dürfen, als ob irgendeine „Einbildung“ einer „nicht möglichen“ Zahl ein legitimer Gegenstand des Rechnens sein könne. Eine Fortgeltung der üblichen Rechenregeln wird E ULER schon verlangen wollen. Eine „Zahl“, die sowohl „gerade“ (also: ohne Rest durch 2 teilbar) als auch „ungerade“ ist, können wir uns vielleicht „einbilden“ – doch reicht dies allein nicht hin, sie rechnerisch aufzufassen. Wir wüssten einzig von ihr, dass ihr Doppeltes gerade ist, doch was lässt sich algebraisch damit anfangen?
Zahlenart 5: „Unendlich große“ und „unendlich kleine“ Zahlen Unendlich große und unendlich kleine Zahlen in der Algebra
Die Reihe der „Brüche“
1 1 1 1 1 , , , , , ... 2 3 4 5 6 kann „ohne Ende fortgesetzt werden“. Dabei behalten die Brüche aber „noch immer einige Größe“ – mit „Größe“ ist hier „Großheit“ (magnitudo) gemeint. „[. . . ] so pflegt man zu sagen, dass der Nenner unendlich groß sein müsste, wann endlich der Bruch zu 0 oder nichts werden sollte. Dann das Wort unendlich will hier ebensoviel sagen als dass man mit dem gemeldeten Bruche niemals zu Ende komme.“ (E 387, Teil 1, § 81, S. 33 f./39 f.) S. 219 S. 180
S. 116
S. 219
Wir erinnern uns an E ULERs Handhabung der „unendlich großen“ Zahlen in der Introductio sowie bei seinem Lehrer J OHANN B ERNOULLI. Im folgenden Paragrafen nennt E ULER diesen Begriff des Unendlichen „allerdings fest gegründet“s , im darauf folgenden Paragrafen nennt er ihn „aus den ersten Gründen unserer Erkenntnis hergeleitet“t . Er bezeichnet ihn hier nun durch „∞“.u Dies kann nur bedeuten, dass E ULER als „unendlich“ (∞) das erklärt, was die Mathematiker das „potenziell Unendliche“ nennen, die Philosophen das „synkategorematische“ Unendlich. Im klaren Widerspruch dazu behandelt E ULER „unendlich“ jedoch schon durch dessen Symbolisierung mit „∞“ (oder mit „i “ wie in der Introductio) wie auch in seinen anschließenden Ausführungen als einen eigenständigen Gegenstand „Unendlich“ – indem er mit ihm wie mit einer endlichen Zahl rechnet: Die eben zitierte Rede, „dass der Nenner unendlich groß sein muss, damit der Bruch zu 0 oder nichts wird“, fasst E ULER auch symbolisch und schreibt unter Bezugnahme auf das letzte Langzitat: s
E 387, Teil 1, § 82, S. 34/40
t
E 387, Teil 1, § 83, S. 34/40
u
Vgl. E 387, Teil 1, § 82, S. 34/40.
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Eulers Begriff von Funktion und Zahl 1 den Quotus anzeigt, wenn man das Divi„[. . . ] da dieser Bruch ∞ dend 1 durch den Divisor ∞ dividieret. Nun wissen wir schon, dass, 1 wenn man das Dividend 1 durch den Quotus, welcher ist ∞ , oder 0 wie wir gesehen haben, dividieret, alsdenn der Divisor, nämlich ∞ herauskomme; daher erhalten wir einen neuen Begriff von dem Unendlichen, nämlich dass dasselbe herauskomme, wenn man 1 durch 0, dividiert; folglich kann man mit Grund sagen, dass 1 durch 0 dividiert eine unendlich große Zahl oder ∞ anzeige.“ (E 387, Teil 1, § 83, S. 34 f./40)
Das nun ist starker Tobak! Denn E ULER sagt hier nichts weniger in Worten, als die symbolisch geschriebenen Gleichungen 1 =0 ∞
und
1 =∞ 0
–vGl–
besagen. Und darüber hinaus spricht E ULER sogar von mehreren „unendlich großen“ Zahlen – denn sonst hätte seine Formulierung von „einer unendlich großen Zahl“ keinen Sinn, es müsste „die unendlich große“ Zahl lauten. Dies Letztere konkretisiert E ULER sogar noch: „Denn da 01 eine unendlich große Zahl andeutet, und 20 unstreitig zweimal so groß ist; so ist klar, dass auch sogar eine unendlich große Zahl noch 2-mal größer werden könne.“ (E 387, Teil 1, § 84, S. 35/40) Wenn aber 20 größer ist als 10 , und zwar doppelt so groß, dann folgt nach den üblichen algebraischen Regeln durch Bildung der Kehrwerte: 02 ist kleiner als, genauer: halb so groß wie 01 – und das, obschon doch unstreitig 20 = 0 = 01 ist!? Demnach gilt zugleich 0 0 0 0 ist kleiner als und ist gleich . 2 1 2 1 Ein Widerspruch par excellence in E ULERs Algebra! „Unendlich kleine“ und „-große“ Größen in der Differenzialrechnung – „revera esse cyphram“
In seiner 1755 erschienen Vollständigen Anleitung zur Differenzialrechnung erläutert E ULER genauer seine Begriffe der „unendlich kleinen“ und „unendlich großen“ Größen. „Eine unendlich kleine Größe aber ist nichts anders als eine verschwindende Größe, und folglich in der Tat = 0.“ (Euler 1790–93, Bd. 1, S. 79, § 83)
„Sed quantitas infinite parva nil aliud est nisi quantitas evanescens, ideoque revera erit = 0.“ (E 212, S. 77, § 83)
E ULERs „revera esse = 0“ oder auch „revera esse cyphram“v überträgt der Übersetzer M ICHELSEN meist mit „in der Tat = 0“, aber auch mit „wirklich Null“. E ULER v
E 212, S. 78, § 84
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3. Die Grundlagen der Algebraischen Analysis schreibt statt „0“ oder „cyphram“ gelegentlich auch „nihil“, was M ICHELSEN mit „Nichts“ verdeutscht. (Da das Lateinische keinen Artikel kennt, lässt es sich diesem Satz allein nicht ansehen, dass M ICHELSENs Übertragung „eine unendlich kleine Größe“ sachlich korrekt ist.) In der „Vorrede“ der Differenzialrechnung betrachtet E ULER „Zuwächse“ der Veränderlichen x, die er mit „ω“ bezeichnet und als „immer kleiner“ annimmt, bis „ω = 0“w wird. Er nennt sie „verschwindende Inkremente“ und sagt von ihnen, dass sie „gleich Nullen sind“x , Mehrzahl also. Mit dieser „Null“ bezeichnet E ULER somit nicht eine „Grenze“ (dieses Wort hat E ULER hier nicht, auch kein äquivalentes), sondern die – und also: jede – „verschwindende“ Größe. Begriffliche Klarheit geht anders.147 Bezeichnungen
E ULER setzt also die „unendlich kleinen“ Größen „in der Tat = 0“. Daher sieht er sich gezwungen, „[. . . ] dem Einwurfe [zu] begegnen, warum wir die unendlich kleinen Größen nicht beständig mit dem Zeichen 0 bezeichnen, sondern dazu besondere Zeichen gebrauchen. Denn da alle Nullen einander gleich sind, so scheint es überflüssig, dass man sich zu ihrer Bezeichnung verschiedener Zeichen bedient.“ (Euler 1790–93, Bd. 1, S. 80, § 84) Analysieren wir, was E ULER hier sagt. Das ist zunächst zweierlei: (1) E ULER nennt die „unendlich kleinen“ Größen „Nullen“. Die „verschiedenen Zeichen“, mit denen er sie bezeichnet, sind natürlich die Differenziale: „ dx “, „ dy “ usw. Die Differenzialrechnung fiele in sich zusammen, wenn die (also: alle) dx , dy usw. tatsächlich „einander gleich“ wären. Sie sind es (im Allgemeinen) nicht. (2) Und: Es gibt nur eine einzige „Zahl“ 0. Schlussfolgerung: Der Sache nach (philosophisch gesprochen: ihrem Wesen nach) sind die „unendlich kleinen“ Größen und die Zahl 0 voneinander verschieden. Wenn E ULER sie – also: eine „unendlich kleine“ Größe und die Zahl 0 – einander gleich setzt (dass er das tut, werden wir sofort sehen), dann kann diese Gleichsetzung keine Identität sein. Wenn E ULER also tatsächlich schreibt (wir werden das gleich sehen): „ dx = 0“, dann muss es sich – wenn das Argument widerspruchsfrei sein soll – bei diesem „=“ um ein anderes Prädikat (mathematisch: eine andere Relation) als das übliche „=“ handeln.148 w
Euler 1790–93, Bd. 1, S. L
x
Euler 1790–93, Bd. 1, S. LVIII
147
Dies gilt, auch wenn C ANTOR 117 Jahre später eine „Nullfolge“ (im Verständnis des 18. Jahrhunderts und bis 1872 also: eine „verschwindende Größe“) als die „reelle“ Zahl 0 definieren wird, genauer: als ein Element der Menge (Äquivalenzklasse) der „reellen“ Zahl 0 – siehe S. 460. 148 Wir erinnern uns: Einen ähnlichen Fall hatten wir bereits bei E ULERs Lehrer J OHANN B ERNOULLI – siehe S. 175.
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Eulers Begriff von Funktion und Zahl E ULER nennt die Gleichheit einer „unendlich kleinen“ Größe mit 0 im Text immer wieder „revera = 0“. Andererseits aber hat er in § 83 die „unendlich kleine“ Größe ausdrücklich als „eine verschwindende“ Größe bezeichnet – sodass sie demzufolge eine „Veränderliche“ sein muss. Damit erhebt sich folgende Frage: Kann E ULERs „revera = 0“ angemessen begrifflich und symbolisch gefasst werden? Und wenn ja: wie? (i) durch „ dx ∼ = 0“ im Sinne von „endlich gleich 0“ (statt durch E ULERs „revera esse =“) oder (ii) durch „lim dx = 0“, wie es uns heute allgemein (in der Standard-Analysis) geläufig ist? Achtung: In jedem Fall handelt es sich bei „revera esse = 0“ um eine einstellige Relation; es sei denn, man ist bereit, statt 0 auch jede andere (endliche?) Zahl zuzulassen.
Die „arithmetische Vergleichung“ von Größen
E ULER unterscheidet dann „[. . . ] zwei Arten der Vergleichung von Größen, wovon die eine die arithmetische und die andere die geometrische ist. Bei jener sehen wir auf die Differenz, bei dieser auf den Quotienten, der aus der Vergleichung der Größen entspringt; und obgleich das arithmetische Verhältnis zwischen jeden zweien Nullen gleich ist, ist es deswegen das geometrische nicht.“ (Euler 1790–93, Bd. 1, S. 80, § 84) Mit „arithmetische Vergleichung“ zweier Größen a und b meint E ULER die Bildung ihrer Differenz a − b, mit „geometrischer Vergleichung“ die Bildung ihres Quotienten ba . Die wichtige, bei E ULER wegen seiner Notationsweise nicht leicht zu verstehende Passage ist: „Wenn man also [. . . ] durch dx eine unendlich kleine Größe bezeichnet, so ist allerdings sowohl dx = 0, als a dx = 0, wo a jede endliche Größe bedeutet. Das ungeachtet aber ist das geometrische Verhältnis a dx : dx ein endliches Verhältnis, nämlich a : 1, und es dürfen daher die beiden unendlich kleinen Größen dx und a dx , obgleich beide = 0 sind, nicht miteinander verwechselt werden, wenn es auf die Untersuchung ihres Verhältnisses ankommt. Auf eine ähnliche Art verhält es sich, wenn verschiedene unendlich Kleine dx und dy vorkommen. Denn wenngleich beide = 0 sind, so ist doch ihr Verhältnis nicht bekannt; und in der Bestimmung des Verhältnisses zwischen jenen zweien solchen unendlich kleinen Größen besteht das ganze Geschäfte der Differenzialrechnung.“ (Euler 1790– 93, Bd. 1, S. 81 f., § 86)
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3. Die Grundlagen der Algebraischen Analysis Nun zu unserer Deutungsalternative: (i) Wenn wir in diesem Zitat E ULERs „arithmetisch gleich“ wörtlich verstehen als: „in gewöhnlichen Ziffern geschrieben gleich“ und statt „= 0“ stets „∼ = 0“ setzen,149 dann bekommt alles Hand und Fuß: Die „unendlich kleinen“ Größen dx , dy usw. sind zwar „arithmetisch gleich“ 0: dx ∼ = 0,
S. 219 S. 180
dy ∼ = 0,
nämlich in gewöhnlichen Ziffern geschrieben von 0 nicht unterschieden, doch ihr dy Quotient dx kann alles Mögliche sein: irgendein „Wert“: irgendeine „Zahl“ (sogar eine „eingebildete“!) oder auch +∞ oder −∞. Wenn wir E ULERs Denkweise der „unendlich großen“ Zahlen berücksichtigen, (die der seines Lehrers J OHANN B ERNOULLI entsprechen könnten), dann könnte E ULER daran gedacht haben, dass eine „Dezimalzahl“ auch Stellennummern von unendlicher Größe hat. (ii) Wir können aber auch auf die Veränderlichkeit von dx und dy abstellen und dy sagen: Solange dx und dy nicht verschwunden sind, ist dx gewiss ein endliches dy
Verhältnis; es gilt nun, lim dx für den Fall lim dx = 0 und lim dy = 0 zu untersuchen. (Das war L EIBNIZ’ Strategie.) Welche Denkweise kommt der E ULERs näher? Sehen wir zu! Im folgenden Paragrafen formuliert E ULER unversehens eine Rechenregel: „Hieraus folgt die durchgängig angenommene Regel, dass die unendlich kleinen Größen gegen die endlichen Größen verschwinden, und also in Ansehung dieser weggelassen werden können.“ (Euler 1790–93, Bd. 1, S. 82, § 87) Das gilt selbstverständlich auch für „unendlich Kleine“ höherer Ordnung wie dx 2 , dx 3 usw.:y x + dx + dx 2 ∼ =x. In dieser „durchgängig angenommenen Regel“150 sagt E ULER klar und deutlich: „Die unendlich Kleinen verschwinden gegen die Endlichen.“ Dies passt schlecht zu der Deutung „lim dx = 0“: denn diese Gleichung für die „unendlich Kleine“ dx nimmt keinerlei Bezug auf eine „Endliche“. Besser passt obige „durchgängig angenommen Regel“ E ULERs zu der Deutung „ dx ∼ = 0“: denn das Bestehen einer solchen ‚Näherungsgleichung‘ kennzeichnet gerade das Rechnen mit „unendlich Kleinen“ und ist bei ausschließlich „Endlichen“ gegenstandslos. Somit entfällt der Deutungsvorschlag „lim dx = 0“ als gut zu E ULERs Denken passend! y
Vgl. Euler 1790–93, Bd. 1, S. 83, § 88.
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Es sei an die Feststellung in Anmerkung 113 auf S. 175 erinnert.
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Auch sie könnte man eine ‚Kürzungsregel‘ nennen. Allerdings unterscheidet sich diese hier von der auf S. 176 angegebenen!
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Eulers Begriff von Funktion und Zahl Bemerkenswert freilich ist E ULERs Bewertung seiner Regel: „Hierdurch fällt der Vorwurf, als ob sich die Analysis des Unendlichen von der geometrischen Schärfe entferne, von selbst über den Haufen, da man nichts weglässt, als was in der Tat Nichts ist.“ (Euler 1790–93, Bd. 1, S. 82, § 87) Da E ULER durch seine Regel aber „in der Tat“ etwas weglässt (es scheint, als bedeuteten damals die Worte „in der Tat“ etwa das Gegenteil dessen, was sie wörtlich sagen), hat dieser Satz mehr rhetorischen denn sachlichen Wert. Wir heute denken es etwa so: E ULER führt hier eine neue Relation in die Analysis ein. Es handelt sich um eine ‚Näherungsgleichheit‘ : Eine Größe oder Zahl ist ‚fastgleich 0‘. Unglücklicherweise notiert E ULER dies mit demselben Symbol wie die gewöhnliche Gleichheit, durch „= 0“. Wenn sachlich Verschiedenes gleich bezeichnet wird, kann das leicht zu Missverständnissen und Irrtümern führen. S TOLZ urteilt scharf: „Wer das nicht zugeben will, dem bleibt nichts übrig, als eine [konstante] Größe, die kleiner ist als jede angebbare, als Nichts oder Null zu erklären. Das tat denn auch E ULER. Wenn er aber fortfährt: Obgleich je zwei Nullen einander gleich seien, so könne ihr geometrisches Verhältnis von dem Verhältnis der Gleichheit verschieden sein∗ , so verfällt er in den schweren Fehler, dass er in einer und derselben Untersuchung die nämlichen zwei Größen sowohl als gleich als auch als ungleich betrachtet. Kein Wunder, dass man sich nach solchen Zumutungen an den gesunden Menschenverstand nach der Klarheit und Widerspruchslosigkeit der alten Geometrie zurücksehnte!“ (Stolz 1891, S. 14 f.) Doch hilft ein solch prägnantes Urteil weiter? Wem? Um E ULER genauer zu verstehen, halten wir in unserer Analyse von E ULERs Denken besser beides auseinander und schreiben weiterhin für diese neue ‚Fast-Gleichheit‘ „∼ = 0“. Ein Unterschied zwischen Eulers und Johann Bernoullis Differenzialrechnung
Wir haben betont, dass J OHANN B ERNOULLIs Prädikat (Relation) „unendlich kleiner“ lautet. E ULERs Prädikat hingegen ist anders. Es lautet einfach: „unendlich klein“. Dieser Unterschied ist bedeutsam! Insbesondere ist J OHANNs Prädikat eine zweistellige Relation (≈), E ULERs Prädikat hingegen eine einstellige (∼ = 0) – eine Eigenschaft also. Wie wir gesehen haben schreibt E ULER: dx = 0 . Nach unserer Rekonstruktion heißt das genauer: dx ∼ eigentlich: (· ∼ = 0, = 0) dx , ∼ „· = 0 angewandt auf dx “, gelesen: „ dx ist unendlich klein“. ∗
E ULER’s Diff.-Rechnung deutsch von M ICHELSEN § 83, S. 310, § 112 f.
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3. Die Grundlagen der Algebraischen Analysis Missversteht man dies jedoch und deutet man diese einstellige Relation „∼ = 0“ ∼ um in eine zweistellige („=“), deren zweites Relatum durch 0 besetzt ist („· ∼ = ·“ → „∼ = 0“), ergibt sich durch (die nur dann erlaubte!) Addition von 0 daraus die ‚Näherungsgleichung‘ : 0 + dx ∼ =0
(Rekonstruktion E ULER)
mit der (korrekten) E ULER’schen Bedeutung: „0 + dx ist unendlich klein“. Bei J OHANN B ERNOULLI hingegen lautet die entsprechende ‚Größengleichung‘ nach unserer Rekonstruktion – siehe Formel 3.2 auf S. 176: 0 + dx 6≈ dx .
(Rekonstruktion J OHANN B ERNOULLI)
mit der Bedeutung: 0 + dx und dx sind nicht von gleicher „Größenklasse“. Wir sehen: Es ist wichtig, J OHANNs ‚Ordnungsgleichheit‘ ≈ und E ULERs ‚Näherungsgleichheit‘ ∼ = auseinanderzuhalten! Im Stile E ULERs würde beides in gleicher Weise symbolisiert: 0 = 0 + dx = dx .
(Text E ULER)
Zugegeben: Dies Letztere ist einfach und elegant. Es hat aber ohne begleitende verbale Erläuterungen keinen mathematischen Sinn, weil es die Schlussfolgerung 0 = dx zu erlauben scheint, während eine korrekte Symbolisierung wie etwa 0 ∼ = 0+ dx 6≈ dx diese Schlussfolgerung verbietet. Jedenfalls ist dies nicht reine Algebra. E ULERs begleitende verbale Erläuterungen sind bei seinen Zeitgenossen keineswegs auf fruchtbaren Boden gefallen: Ich kenne niemanden, der E ULERs Differenziallehre aufgegriffen oder gar weiterentwickelt – oder dies versucht – hat. Die Unterscheidung zwischen ‚Ordnungsgleichheit‘ (≈) und ‚Nährungsgleichheit‘ (∼ =) ist, wenn sie nicht symbolisch dargestellt ist, nicht einfach zu verstehen. Obwohl es sich doch um sehr Unterschiedliches handelt: um eine zweistellige (≈) bzw. um eine einstellige Relation (∼ = 0). Erst die Nichtstandard-Analysis hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unterschiedliche Gleichheitsrelationen eingeführt, die erste Publikation dazu sogar gleich drei:151 1. ∼ = für „endlich gleich“ oder „bis auf unendlich kleinen Fehler gleich“; 2. ≈ für „von gleicher Größe“; 3. ∼ für „von gleicher Größenordnung“ mit der Bedeutung: Der Quotient beider Terme ist endlich. Dies sind allesamt gewöhnliche zweistellige Relationen. 151
Vgl. Schmieden und Laugwitz 1958, S. 18 – siehe ab S. 524.
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Eulers Begriff von Funktion und Zahl
Ein Deutungsversuch für Eulers „unendliche“ Zahlen Wir haben gesehen: E ULER äußert sich widersprüchlich. Einerseits „sagt das Wort unendlich, dass man niemals zu Ende kommt“, ist also eine Eigenschaft – andererseits kann man S. 234 es laut E ULER durch „∞“ bezeichnen und in Formeln verwenden, genau wie „Größen“ und S. 235 „Zahlen“, also wie andere Gegenstände auch. Eine saubere mathematische Deutung verlangt das Aufgeben mindestens einer der beiden einander widersprechenden Forderungen E ULERs. Da sich E ULER nicht nur des Zeichens „∞“ bedient, sondern es auch in Formeln – insbesondere in einem Bruch – einsetzt, erscheint es ratsam, E ULERs Kennzeichnung von „unendlich“ als einer Eigenschaft („etwas, das niemals zu Ende kommt“) aufzugeben und stattdessen „∞“ bei E ULER als einen mathematischen Gegenstand zu deuten, der „Zahlen“ und „Größen“ in gewissem Sinne gleichartig ist. Jedenfalls kann ∞ wie Größen und Zahlen in Formeln verwendet werden. (Siehe dazu auch S. 248.) Jedenfalls ist klar: E ULER rechnet mit dem AKTUALEN Unendlich! Freilich spricht er das keineswegs aus. Allerdings hat dies zur Konsequenz, dass das eine Symbol „∞“ für (unendlich viele) verschiedene „Zahlen“ steht. Aber E ULER hat dies wirk- S. 248 lich praktiziert! Wie kann das mathematisch und in E ULERs Denkwelt gedacht werden? Geht das konkreter als nur in der reinen Rede von „unendlich kleiner als“ bzw. „unendlich klein“? In einer historischen Situation, in der E ULER nicht einmal über einen rein mathematischen Begriff von „negative“ Zahl (und, wie wir gesehen haben, auch von „irrationale“ Zahl und von „eingebildete“ Zahl) verfügt, ist es alles andere als sinnvoll, mathematische Konstruktionen, die erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts möglich wurden (Stichwort: Nichtstandard-Analysis), hier als Deutungshilfe heranzuziehen – Konzepte, die maßgeblich auf moderne Logik gegründet sind. (Gleichwohl hat es derartige Versuche gegeben und gibt sie weiterhin.) Wie aber dann? Vielleicht kann uns hier B ERNARD B OLZANO (1781–1848) helfen. Zwar ist B OLZANO gut zwei Generationen jünger als E ULER, doch die mathematischen Mittel, die B OLZANO zur Verfügung hat, sind weitaus näher an E ULERs Denkwelt, als es die mathematischen Konstruktionen des 20. Jahrhunderts sind. Ohne an dieser Stelle auf B OLZANOs Denken näher einzugehen, greife ich eine einzige seiner Ideen heraus, um zu prüfen, ob sie uns helfen könnte, E ULERs Denken des „Unendlichen“ (groß wie klein) zumindest ein wenig zu verstehen. B OLZANO betrachtet den vollendeten symbolischen Ausdruck 1 + 1 + 1 + in inf. und nennt ihn eine „unendlich große“ Zahl.z Ein „aktuales“ Unendlich also. In ähnlicher Weise sagt E ULER von der „Reihe“ 1 + 1 + 1 + 1 + 1 + 1 + 1 + 1 + 1 + 1 + 1 + etc. , sie „müsse unendlich sein“a . Wenn wir jetzt unterstellen, E ULER habe sein „∞“ in dieser z
Vgl. RZ, fs 8v ; 31v
a
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3. Die Grundlagen der Algebraischen Analysis
Weise gedacht, erhalten wir folgende Deutung der E ULER’schen Auffassung von „Unendlich“: Wenn ∞ = 1 + 1 + 1 + in inf. , dann ist nach E ULER
ebenso
1 = 0, 1 + 1 + 1 + in inf. 1 = 1 + 1 + 1 + in inf. 0
und also (die folgende Ungleichung nach RZ, f. 31v , wobei B OLZANO sagt, dass „1 + 1 + in inf. doch gewiss nicht = 2 + 2 + in inf.“ sei) 2 1 1 = 2 · = 2 · (1 + 1 + 1 + in inf.) > 1 + 1 + 1 + in inf. = 0 0 0 S. 235
– wie es auch E ULER sagte. Bestehen bleibt freilich die missliche Folgerung: 0=
0 0 < = 0. 2 1
Betrachtungen dieser Art finden sich in B OLZANOs Manuskript Reine Zahlenlehre. Es stammt aus den Jahren 1830–35 und wurde 1976 erstmals vollständig gedruckt. Mir scheint es sehr plausibel, dass E ULER im 18. Jahrhundert in etwa derselben Weise gedacht haben könnte wie B OLZANO im mittleren 19. Jahrhundert. (Wobei eine nähere Analyse zeigt, dass B OLZANOs Konstruktion in RZ nicht fehlerfrei war: Becker 1990.)
Zahlenart 6?: Dezimalbrüche Wir heute sind das Dezimalsystem zur Darstellung der Zahlen sehr gewohnt. Auch gebrochene Zahlen schreiben wir häufig in dieser Technik, als Dezimalbrüche: 2, 5 für 2 21 usw. – im digitalen Zeitalter erst recht. Für E ULER waren Dezimalbrüche offenkundig keineswegs so selbstverständlich wie für uns heute. Natürlich kannte er sie. Aber die Dezimalbrüche waren für ihn keine selbstverständliche oder gar universelle Darstellungsform der „Zahlen“. Sie war allenfalls ein Hilfsmittel für besondere Zwecke, insbesondere für die tabellarische Erfassung von Zahlwerten. Einer dieser besonderen Zwecke war die Berechnung und Darstellung von Logarithmen, ein anderer die Darstellung von Zinsen. Beides hatte eine lange Tradition.152 Im Zusammenhang mit dem Logarithmus kommt E ULER auch in seiner Algebra auf die Dezimalbrüche zu sprechen, und nur in diesem Zusammenhang. Nachdem er dort die Art der Dezimalschreibweise der „ganzen“ Zahlen erläutert hat, folgt: „Wie nun von der Rechten zur Linken die Bedeutung der Ziffern immer 10-mal größer und folglich von der Linken zur Rechten immer 10-mal 152
Schon die 1585 gedruckte La Pratique d’Arithmetique von S TEVIN enthält dezimale Zinstabellen: Stevin 1585, S. 72–95 (freilich ohne Dezimalkomma).
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Eulers Begriff von Funktion und Zahl kleiner wird, so kann man nach diesem Gesetz noch weiter gehen und gegen die rechte Hand fortrücken, da dann die Bedeutung der Ziffern immerfort 10-mal kleiner wird. Hier muss man aber die Stelle wohl bemerken, wo die Ziffern ihren natürlichen Wert haben, dieses geschieht durch ein Komma, so hinter diese Stelle gesetzt wird. Wenn man dahero diese Zahl geschrieben findet, als 36, 54892, so ist dieselbe also zu verstehen: erstlich hat die Ziffer 6 ihre natürliche Bedeutung, und die Ziffer 3 auf der zweiten Stelle von [d. i. nach] der 5 , die Linken 30. Aber nach dem Komma bedeutet die Ziffer 5 nur 10 8 9 4 folgenden 4 sind 100 , die Ziffer 8 bedeutet 1000 , die Ziffer 9 10000 , und 2 die Ziffer 2 100000 ; woraus man sieht, dass je weiter diese Ziffern nach der rechten Hand fortgesetzt werden, ihre Bedeutungen immer kleiner und endlich so klein werden, dass sie vor [d. i. für] nichts zu achten sind. ˜ Diese Art die Zahlen auszudrücken heißt nun ein Dezimalbruch, und auf diese Art werden auch die Logarithmen in den Tabellen dargestellt. Daselbst wird z. E. der Logarithmus von 2 also ausgedruckt 0, 3010300. [. . . ] “ (E 387, Teil 1, § 244 f., S. 87 f./93 f.)
Zahlenart 7?: „Transzendente“ Zahlen Vielleicht seinem Gegenstand geschuldet enthält E ULERs Vollständige Anleitung zur Algebra den Begriff „transzendent“ nicht, auch nicht bei der Behandlung der Logarithmen in Kapitel 21 des ersten Teils. Insgesamt sind E ULERs Äußerungen über „transzendente“ Zahlen sicher spärlich – wenn es sie überhaupt gibt. In der Introductio nennt E ULER den Umfang eines Kreises mit Radius 1 (also 2π) eine „transzendente Größe“ (quantitas transcendens) und nicht eine „transzendente Zahl“, wie es Petrie 2012 fälschlich behauptet.153 Die Euler’sche Zahl e zählt E ULER zu den „transzendenten Ausdrücken“ (ex153
B RUCE J. P ETRIE behauptet, E ULER nenne den „Kreisumfang“ (und also: 2π) einen „Wert“ (Petrie 2012, S. 287, Z. −14). Aber wir wissen bereits: E ULER unterscheidet „Größe“ und „Wert“ ganz klar: „Größen“ haben „Werte“. Diese Unterscheidung gilt insbesondere auch für „beständige“ Größen: siehe die erste Definition der Analysis, S. 195 oben. Den „Kreisumfang“ nennt E U LER eine „transzendente Größe“ (quantitas transcendens) (E 101, § 7, S. 20, im Original: S. 6) – und also nicht „Wert“ (valor). Für E ULER ist der „Kreisumfang“ c eine „Größe“, welche den „Wert“ 2·3, 1415 . . . hat. P ETRIE hingegen vermag es nicht, (konstante) „Größe“ und „Wert“ auseinanderzuhalten. Er offenbart sein Fehlverständnis an der angegebenen Stelle im Druck: „[. . . ] if c [= 2π] denotes the circumference of a circle [. . . ]“ Seine in eckigen Klammern hinzugefügte Ergänzung zeigt mit dem Gleichheitszeichen seinen Irrtum. (Es ist wirklich beachtlich, was heutzutage in vorgeblich anspruchsvollen Fachzeitschriften publiziert werden kann (sogar solche Abstrusitäten wie Barany 2011 – siehe dazu auch Anmerkung 205 auf S. 297). Offenkundig ist das gefeierte Verfahren des „peer review“ keineswegs eine Garantie für Qualität; allerdings sichert dieses Verfahren die Konformität des Gedruckten, kurz: ist ein Instrument der Zensur.)
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3. Die Grundlagen der Algebraischen Analysis pressiones transcendentibus), nennt sie jedoch zugleich auch eine „Zahl“ (numerus).b Eine explizite Äußerung E ULERs zu „transzendenten Zahlen“ ist mir (trotz Petrie 2012) bislang nicht bekannt. Fazit Zahlen: Was sind nach Euler die Zahlen, und wozu sind sie gut?
S. 225 S. 232
S. 238
Für E ULER geht es bei den „Zahlen“ allein ums Rechnen. Dass „Zahlen“ auch dem Messen dienen sollen, wird von E ULER nur bei den „ganzen“ und den „gebrochenen“ Zahlen beachtet, bei „Surdischen“ (den „Irrationalen“) schon nicht mehr. Aus diesem Grunde sind die Dezimalbrüche nicht Bestandteil seiner theoretischen Betrachtung, sondern nur ein Gestaltungsmittel für tabellarisch erfasste Zahlen: Logarithmen, Zinsen oder die Werte der Kreisfunktionen Sinus, Cosinus usw. Auch die Anordnung der „Zahlen“ interessiert den Rechner E ULER übrigens nicht. Die Reihe der „negativen“ ganzen Zahlen entsteht, indem man die Reihe der „natürlichen“ Zahlen „rückwärts fortsetzt“. Dort mögen sich dann auch die „Negativen“ „Gebrochenen“ und „Irrationalen“ einfinden – E ULER sagt das immerhin beiläufig, verwendet es aber selbstverständlich.154 Und wann eine Zahl „zwischen“ zwei anderen liegt, hat er nach meiner Kenntnis ebenfalls nicht begrifflich erfasst (anders übrigens als sein mathematisch weit weniger bedeutender Zeitgenosse K ÄSTNERc ). In heutiger Sprache: E ULER hat sich weder für die „Anordnung“ noch für die „topologischen“ Eigenschaften seiner „Zahlen“ interessiert. „Grenzwerte“ sind ihm nicht wichtig, von ‚Epsilontik‘ ist keine Rede. E ULERs Analysis besteht aus kühnen Rechnungen mit „Größen“ und „Zahlen“, insbesondere „unendlich kleinen“ und „unendlich großen“. Dabei wird das Prädikat (die einstellige Relation) „unendlich klein“ freihändig verwendet – allenfalls gnädig einmal beiläufig einmal eine „Regel“ dafür eingeworfen. E ULER kennt mindestens fünf verschiedene Arten von „Zahlen“. Eine Wesensbestimmung für alle „Zahlen“ hält er nicht für erforderlich – oder für nicht möglich. Jedenfalls leistet E ULER eine solche Wesensbestimmung nur für die „ganzen“ und die „gebrochenen“ Zahlen. Auch was das „Rechnen“ sei, sagt E ULER nicht. Er praktiziert es einfach. Nach seiner Praxis zu urteilen ist „Rechnen“ eine regelgeleitete Bestimmung von „Zahlen“ aus gegebenen „Zahlen“. Diese Regeln selbst werden praktiziert. Sie werden jedoch nur im Ausnahmefall ausgesprochen 155 – und nie begründet. b c
154 155
E 71, § 21 Vgl. Kästner 1760, § 315, S. 163. Siehe seine Beschreibung des Funktionsverlaufs der Exponentialfunktion: S. 218. Siehe S. 238; oder etwa so:
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Eulers Begriff von Funktion und Zahl Dieses regelgerechte Rechnen ist nach E ULER geeignet, neue Zahlarten hervorzubringen: „Negative“, „Irrationale“, ja sogar „Eingebildete“ und „Unendliche“. Den „Eingebildeten“ stehen die „wirklichen“ Zahlen gegenüber: die „ganzen“ und „gebrochenen“ – „positive“ wie „negative“ – sowie die „surdischen“ („irrationalen“) Zahlen. Ergebnis: E ULER hat keinen scharfen, keinen allgemeinen Begriff von „Zahl“. Insbesondere gibt E ULER keine Wesensbestimmung der Zahl. (Wie es auch im Fall der „Größe“ zu sein scheint.) Jenseits der „ganzen“ und der „gebrochenen“ Zahlen S. 194, 221 sind seine Zahlarten rein symbolische Produkte des regelgeleiteten Rechnens. Kurz: Die „Zahlen“ können keine Grundlage für E ULERs Analysis als einer wissenschaftlichen Lehre abgeben. Rückblick auf Leibniz
Wir können jetzt zurückblicken und E ULERs Denken der „Zahl“ mit demjenigen von L EIBNIZ vergleichen. (Dabei ist es unerheblich, dass L EIBNIZ’ Text zu E ULERs S. 80 Zeit noch nicht ediert war.) L EIBNIZ war bestrebt, einen allgemeinen Begriff der Zahl zu gegeben. Allerdings kamen ihm dabei gewisse etablierte Rechenregeln in die Quere. E ULER hingegen S. 131 setzt ganz und gar auf die Geltung der Rechenregeln – und verzichtet als Konsequenz darauf, den Begriff „Zahl“ allgemeingültig zu bestimmen. Gegenüber L EIBNIZ kehrt E ULER also das Verhältnis von Denken und Rechnen in der Mathematik um: Während bei L EIBNIZ klar das Denken (die Bildung von Begriffen) Vorrang hat, gibt E ULER klar dem Rechnen (dem regelgeleiteten Operieren) den Vorzug; sogar Begriffsbildungen gründet E ULER auf das Rechnen („Negative“, „Brüche“, „Irrationale“, „Eingebildete“, „unendliche“ Zahlen). KONVERGENZ Wie wir gesehen haben spielt der Begriff der Konvergenz bei E ULERs Entwicklung einer Funktion in ihre Taylorreihe keine Rolle, denn es war dort davon keine Rede. S. 206 Hat E ULER überhaupt keinen Begriff von Konvergenz? Doch, auch E ULER handelt gelegentlich von der Konvergenz, allerdings recht selten. Konvergenz und Divergenz E ULER behandelt den Begriff „Konvergenz“ nicht in seinen Lehrbüchern der Analysis oder der Differenzial- oder der Integralrechnung. Stattdessen definiert und erörtert er diesen Begriff (nur) in kleinerem Rahmen. „Wollte man aber 5ab mit 3cd multiplizieren, so könnte man auch wohl setzen ˜ aber hier eben nicht auf die Ordnung derer miteinander multiplizierten 3cd 5ab: da es Zahlen ankommt, so pflegt man die bloße[n] Zahlen zuerst zu setzen und schreibt für das Produkt 5 · 3abcd , oder 15abcd , weil 5 mal 3 soviel ist als 15.“ (E 387, Teil 1, § 36, S. 16/25)
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3. Die Grundlagen der Algebraischen Analysis E ULER definiert die Konvergenz wie folgt: Wir nennen Reihen konvergent, wenn ihre Glieder beständig kleiner werden und endlich völlig verschwinden wie bei 1+
1 1 1 1 1 + + + + + u. s. w. , 2 4 8 16 32
deren Summe unbezweifelbar = 2 ist. Denn je mehr Glieder man wirklich addiert, desto mehr nähert man sich der 2; wenn man hundert Glieder addiert, ist der Fehler zur Zwei sehr gering, nämlich ein Bruch, dessen Nenner aus 30 Ziffern besteht und dessen Zähler 1 ist. Derartige Reihen haben also ohne Zweifel eine Summe und sind richtig, wie es ihnen in der Analysis zugeschrieben wird. (E 247, S. 586) Und dazu passend:
Divergent heißen Reihen, deren Glieder nicht gegen nichts streben, sondern entweder niemals unter eine gewisse Grenze abnehmen oder ins Unendliche hinaufwachsen. Solche sind 1 + 1 + 1 + 1 + 1 + u. s. w. sowie 1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6 + u. s. w. , von denen viele Glieder addiert eine immer größere Summe ergeben. (E 247, S. 586)
ab S. 276
Urteilen wir jetzt nicht besserwisserisch: „Diese Definitionen sind falsch!“, sondern konstatieren wir nüchtern: Diese Begriffe „Konvergenz“/„Divergenz“ sind nicht die unsrigen.156 E ULERs Konvergenzdefinition besagt: Eine Reihe heißt „konvergent“, wenn ihre Glieder 1. beständig kleiner werden (modern gesprochen: „monoton fallen“) und 2. beliebig klein werden (modern gesprochen: ihre Folge den „Grenzwert“ 0 hat). Da sich dieser Begriff „Konvergenz“ von dem heutigen unterscheidet, bezeichne ich ihn durch ‚AKonvergenz‘ (wie schon bei E ULERs neuem Funktionsbegriff: ‚AFunktion‘), im Gegensatz zur (heutigen) ‚WKonvergenz‘ („W“ für ‚Werte-Analysis‘). Und bei Bedarf entsprechend: ‚ADivergenz‘. 156
Gelegentlich wurde dies auch von anderen bemerkt, etwa Knobloch 2007, S. 250, unerwähnt in Knobloch 1991, S. 288.
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Eulers Begriff von Funktion und Zahl Das Bemerkenswerte: Anders als unser heutiger Begriff ‚WKonvergenz‘ garantiert E ULERs Begriff ‚AKonvergenz‘ keinen endlichen „Grenzwert“. Nach E ULERs Begriff ist die „harmonische Reihe“ 1+
1 1 1 1 + + + +... 2 3 4 5
‚Akonvergent‘ denn ihre Glieder werden immer kleiner und schließlich beliebig klein. Aber schon J AKOB B ERNOULLId wie auch J OHANN B ERNOULLIe hatten bewiesen, dass gilt: 1 1 1 1 1+ + + + +... = ∞. 2 3 4 5 Für uns heute besagt diese Gleichung hingegen: Diese Reihe ist ‚Wdivergent‘. Anzumerken ist noch: Dies ist eine der wenigen Passagen, in denen E ULER das anspricht, was wir heute einen „Grenzwert“ nennen. In E ULERs Analysis spielt der Grenzwertbegriff keine Rolle. Die unendliche Reihe als Rechenobjekt oder: „wahre Summe“ und „Fehler“ Bei der Division von 1 durch 1−x entsteht schrittweise eine Reihe – und dabei stets ein Divisionsrest: 1 : (1 − x) = 1 1−x x Das heißt, die Division von 1 durch die Differenz 1 − x ergibt im ersten Schritt 1 und lässt dabei den Rest x: x 1 : (1 − x) = 1 + . 1−x Probe: x 1−x x 1 1+ = + = . 1−x 1−x 1−x 1−x Rechnet man so weiter, erhält man: + −
1 1−x 1 1−x 1 1−x 1 1−x
= 1+
x 1−x
x2 = 1+x + 1−x = 1 + x + x2 +
x3 1−x
= 1 + x + x2 + x3 +
x4 1−x
usw. d e
Kowalewski 1909, Erster Teil, S. 18 f. Vgl. Joh. Bernoulli 1742a, Kor. III, S. 8.
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3. Die Grundlagen der Algebraischen Analysis Daraus zieht E ULER in seiner Differenzialrechnung folgenden Schluss: „Wer also die Summe dieser endlichen Reihe 1 + x + x2 + x3 4
x 1 setzet, der irrt sich um 1−x ; und wer behauptet, dass die Summe = 1−x dieser Reihe, 1 + x + x 2 + x 3 + . . . + x 1000 1001
1 sei, der irrt sich um die Größe x1−x , und diese Zahl würde, wenn = 1−x x größer als die Einheit wäre [d. h. x > 1], eine außerordentliche Größe haben. Hieraus erhellet, dass der, welcher die Summe eben dieser Reihe, bis ins Unendliche fortgesetzt, oder die Summe von
1 + x + x2 + x3 + . . . + x∞ ∞+1
1 = 1−x setzet, die wahre Summe um x1−x zu klein angibt, und wenn nun x größer als 1 ist, so ist dies allerdings ein unendlich großer Unterschied. Zugleich erhellet hieraus, warum die Summe der unendlichen Reihe
1 + x + x 2 + x 3 + x 4 + x 5 + etc. in der Tat =
1 1−x
ist, wenn x einen Bruch, der kleiner als die Einheit ∞+1
ist, bedeutet. Es wird nämlich alsdann der Fehler x1−x unendlich klein oder Null, und braucht daher nicht in Anschlag gebracht zu werden. So ist, wenn man x = 12 setzt, in der Tat 1+
1 1 1 1 1 1 + + + + + etc. = =2 2 4 8 16 32 1 − 1/2
und aus eben dem Grunde wird die wahre Summe der übrigen Reihen, wenn x einen Bruch bedeutet, auf eine ähnliche Art gefunden.“ (Euler 1790–93, Bd. 1, S. 97, §§ 106 f.)
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Uns fällt sofort auf, dass E ULER in der letzten Formelzeile sagt: „in der Tat = 0“. Wir haben dies „in der Tat =“ als „bis auf einen unendlich kleinen Fehler gleich“ rekonstruiert: 1 1 1 1 1 1 1+ + + + + + etc. ∼ = 2. (3.7) = 2 4 8 16 32 1 − 1/2 Achten wir auf E ULERs Worte! E ULER spricht von der „wahren Summe“. Die 1 „wahre Summe“ von 1 + x + x 2 + x 3 + . . . ist 1−x , und zwar uneingeschränkt. Wir können E ULERs „wahre Summe“ einer Reihe auch ihre ‚ASumme‘ nennen.
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Eulers Begriff von Funktion und Zahl „Wahre Summe“ und ‚Wert-Summe‘ E ULER denkt unendliche Reihen anders als wir heute. Er denkt die unendliche Reihe als einen Rechenausdruck, (im Allgemeinen) entstanden aus einem endlichen Term, typischerweise durch das Rechenverfahren der Division. Wir heute sind darauf trainiert, die unendliche Reihe als Gegenstand an sich zu betrachten, nicht als einen durch eine Rechnung entstandenen Rechenausdruck. Von diesem Gegenstand an sich sind wir es gewohnt, nach dessen „Wert“ zu fragen. Dieser „Wert“ S ist für uns mittels unseres Begriffs der Konvergenz (also: ‚WKonvergenz‘) erklärt: a 0 + a 1 + a 2 + a 3 + . . . = lim (a 0 + a 1 + a 2 + . . . + a n ) = S . n→∞
Offenkundig ist dieser „Wert“ S manchmal etwas gänzlich anderes als E ULERs „wahre Summe“ (die wir ‚ASumme‘ nennen wollen). Um diesen Unterschied sprachlich zu fassen, können wir den eben definierten „Wert“ S die ‚Wert-Summe‘ der unendlichen Reihe oder auch ‚WSumme‘ nennen. – E ULERs ‚ASumme‘ darf durchaus eine „Größe“ sein (aus der durch Zuweisung eines „Wertes“ an die Veränderliche ein „Wert“ werden kann); unsere ‚WSumme‘ hingegen ist stets als „Zahl“ definiert (und nur durch solche „Zahl-“Gleichungen können bei uns heute dann 1 definiert werden). „Funktions-“Gleichungen wie 1 + x + x 2 + . . . = 1−x A Den Unterschied zwischen der ‚ Summe‘ und der ‚WSumme‘ nennt E ULER den „Fehler“. Im Falle der unendlichen Reihe 1 + x + x2 + x3 + . . . ist dieser „Fehler“ henrest“.
x ∞+1 . 1−x
Wir heute nennen diesen E ULER’schen „Fehler“ den „Rei-
Damit lässt sich der Unterschied zwischen E ULERs Denken der unendlichen Reihe und dem unsrigen etwa so kennzeichnen: (i) E ULER interessiert sich für die „wahre Summe“ (‚ASumme‘) der unendlichen Reihe. Wie wir gesehen haben, denkt sich E ULER auch „unendlich große (natürliche)“ Zahlen, hier bezeichnet durch „∞“. Daher gibt es für E ULER keinen Unterschied zwischen einem „endlich“ und einem „unendlich“ langen ‚Reihenanfang‘. In jedem Fall gibt es für E ULER sowohl die „wahre Summe“ als auch den „Fehler“. Der „Fehler“ ist die Differenz zwischen der „wahren Summe“ und dem ‚Reihenanfang‘ – der seinerseits „endlich“ wie auch „unendlich“ lang sein darf. Am „Fehler“ kann E ULER erkennen, ob der „unendlich“ lange ‚Reihenanfang‘ „in der Tat =“ der „wahren Summe“ ist oder nicht. (ii) Wir heute interessieren uns für die ‚Wert-Summe‘ (‚WSumme‘) der unendlichen Reihe. Diese ‚WSumme‘ existiert jedoch nur dann, wenn die Reihe „konvergiert“ (im hier eingeführten Sinne, also: ‚Wkonvergiert‘ ). Dann fallen ‚ASumme‘ und ‚WSumme‘ zusammen, weil E ULERs „Fehler“ „unendlich klein“ ist bzw. (gleichbedeutend:) unser „Reihenrest“ „den Grenzwert 0 hat“.
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3. Die Grundlagen der Algebraischen Analysis Somit gilt: ‚ASumme‘ und ‚WSumme‘ fallen (genau!) dann zusammen, wenn der „Fehler“ „unendlich klein“ ist bzw. der „Reihenrest“ den „Grenzwert“ 0 hat. Falls dieser „Fehler“ jedoch nicht „unendlich klein“ ist bzw. der „Reihenrest“ nicht den „Grenzwert“ 0 hat, existiert nur die ‚ASumme‘, nicht jedoch die ‚WSumme‘. Wenn wir die Reihe durch R, den (endlichen) ‚Reihenanfang‘ durch A, den „Fehler“ durch F sowie die „wahre“ Summe durch AS und die ‚WSumme‘ durch W S symbolisieren, gelten also: E ULER:
R = A + F =A S (
W
heute:
R = lim A =
in jedem Fall, S, falls
∞
lim F = 0 ,
sonst.
E ULERs Begriffsbildungen sind offenkundig einfacher. Vor allem: Sie verzichten auf den Begriff des Grenzwerts! Dafür verlangen sie die Zulassung von ∞ als legitime „Größe“ oder „Wert“.
Euler ist es um die „wahre Summe“ zu tun
In seiner Vollständigen Anleitung zur Algebra behandelt E ULER ausführlich die unendliche Reihe 1 + x + x2 + x3 + . . .
S. 247
Er hat sie dort nicht als Reihe mit veränderlichen Gliedern, sondern als Zahlenreihe, und schreibt daher „a“ statt „x“. Nach Vorführen des Divisionsverfahrens 1 : (1 − a), wie wir es bereits dargestellt haben, fährt E ULER fort: „[. . . ] dadurch wird der vorgelegte Bruch aufgelöst, welche ist:
1 1−a
in eine unendliche Reihe
1 + a + aa + a 3 + a 4 + a 5 + a 6 + a 7 + a 8 + a 9 + a 10 + a 11 + a 12 etc. ins Unendliche. Und von dieser unendlichen Reihe kann man mit Recht 1 .“ (E 387, behaupten, dass ihr Wert ebensoviel sei, als der Bruch 1−a Teil 1, § 292, S. 107/114) Dazu im direkten Anschluss E ULERs trockene Erläuterung: „Dieses scheinet anfänglich sehr wunderbar; jedoch wird es durch die Betrachtung einiger Fälle begreiflich werden: Es sei erstlich a = 1, so wird unsere Reihe 1 + 1 + 1 + 1 + 1 + 1 + 1 + 1+1 etc. bis ins Unendliche, 1 welche dem Bruch 1−1 , das ist 10 , gleich sein soll. Wir haben aber schon oben bemerket, dass 10 eine unendlich große Zahl sei, und dieses wird hier von Neuem auf das Schönste bestätiget.
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Eulers Begriff von Funktion und Zahl Wann man aber setzt a = 2 so wird unsere Reihe = 1 + 2 + 4 + 8 + 16 + 32 + 64 etc. 1 1 bis ins Unendliche, deren Wert sein soll 1−2 , das ist −1 = −1; welches dem ersten Anblick nach ungereimt scheint. Es ist aber zu merken, dass wann man irgendwo in obiger Reihe will stehen bleiben, darzu allezeit noch ein Bruch gesetzt werden muss. Also wann wir z. E. bei 64 still stehen, so müssen wir zu
1 + 2 + 4 + 8 + 16 + 32 + 64 128 noch diesen Bruch 1−2 , das ist 128 = −128 hinzusetzen, woraus ent−1 steht 127 − 128, das ist −1. Geht man aber ohne Ende fort, so fällt der Bruch zwar weg, man stehet aber hingegen auch niemals still. Dieses ist demnach zu beobachten, wann für a größere Zahlen als 1 angenommen werden. Nimmt man aber für a kleinere Zahlen, so lässt sich alles leichter begreifen. 1 = 1 1 = 11 = 2, welches folEs sei z. E. a = 21 so bekommt man 1−a
gender Reihe gleich sein wird: 1+
1− 2
2
1 1 1 1 1 1 1 + + + + + + etc. 2 4 8 16 32 64 128
ohne Ende. Dann [d. i.: denn] nimmt man nur zwei Glieder so hat man 1+ 12 , und so fehlt noch 12 . Nimmt man drei Glieder, so hat man 1 34 , fehlt noch 41 ; nimmt man vier Glieder so hat man 1 78 , fehlt noch 81 : woraus man sieht, dass immer weniger fehlt, folglich wann man unendlich weit fortgeht, so muss gar nichts fehlen.“ (E 387, Teil 1, §§ 293 f., S. 107 f./114 f.) Hier sehen wir E ULERs radikal algebraischen (oder: rechnerischen) Zugriff auf die „unendliche Reihe“. Die „unendliche Reihe“ ist ein Rechenobjekt. Sie entsteht (paradigmatisch) durch den Divisionsalgorithmus, und sie repräsentiert deren Ausgangsterm: die ASumme (im Allgemeinen eine „Größe“, kein „Wert“). Dass die ASumme etwas Anderes ist als die WSumme, das weiß E ULER selbstverständlich. In seiner Differenzialrechnung formuliert er dieses Wissen so: „Wir werden also diese Schwierigkeiten und anscheinenden Widersprüche gänzlich vermeiden, wenn wir dem Worte Summe eine andere Bedeutung geben, als es gewöhnlich zu haben pflegt. Wir wollen also den Ausdruck, aus dessen Entwicklung eine unendliche Reihe entsteht, die Summe dieser Reihe nennen.“ (Euler 1790–93, Bd. 1, S. 100, § 111)
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3. Die Grundlagen der Algebraischen Analysis E ULER beansprucht hier das Wort „Summe“ als Namen für jenen Gegenstand, den wir ‚ASumme‘ nennen, und er setzt das als eine WILLKÜRLICHE Definition: „Wir wollen nennen.“
Unser Problem mit Eulers Perspektive
Warum tun wir uns heute so schwer, E ULERs Perspektive auf die Reihenlehre als das zu akzeptieren, was sie doch offenkundig ist (E ULER ist hier unser Kronzeuge): als mathematisch schlüssig? Ich sehe dafür zwei Gründe. Der erste Grund besteht sicher in der Ausrichtung unseres Mathematikunterrichts: Wir sind darauf trainiert, nach dem „Wert“ der analytischen Objekte zu fragen. Wir Heutigen sind in der ‚Werte-Analysis‘157 erzogen. E ULER war diese ‚WerteAnalysis‘ noch unbekannt. In seiner Analysis (der „Algebraischen Analysis“) ging es ums Rechnen, um das Verknüpfen von Rechenobjekten („Rechenausdruck“). Den zweiten Grund sehe ich in folgendem Wesensunterschied zwischen E ULERs „Algebraischer Analysis“ und unserer ‚Werte-Analysis‘: Die „Algebraische Analysis“ ist eine Lehre ohne „Anordnung“. Ihre maßgeblichen Rechenobjekte sind „Größen“ und „Funktionen“. Diese aber lassen sich nicht (in nahe liegender Weise) ihrer „Großheit“ gemäß anordnen. Die „Werte“ sind in der „Algebraischen Analysis“ nur von nachgeordneter Wichtigkeit. Aber auch die „Werte“, zu allererst: die „Zahlen“, waren damals alles andere als ein einheitliches System – und schon gar keines, das der „Großheit“ nach angeordnet war. Wir sehen es heute so: Das lag daran, dass die „eingebildeten“ Zahlen (unsere „imaginären“ Zahlen von heute) noch selbstverständlich dazu gehörten – und diese lassen sich nun einmal nicht gänzlich (linear) anordnen. Deshalb ist für E ULER die „Anordnung“ (der Größen wie der Werte) uninteressant – und jedenfalls nicht Gegenstand der Grundlagen der Analysis oder der Differenzial- und Integralrechnung. Er erwähnt die Anordnung daher nur beiläufig.158 Zusammenfassung zu Eulers Konvergenzbegriff Der Konvergenzbegriff E ULERs und unser heutiger sind verschieden, aber in gleicher Weise allgemein: Für jede vorgelegte Reihe gilt: Sie ist ‚Akonvergent‘ bzw. ‚Wkonvergent‘ oder nicht.159 Bei den Summenbegriffen ist das kaum anders. E ULERs Begriff der „wahren Summe“, hier ‚ASumme‘ genannt, ist zwar recht speziell. Er greift sicher nur dann, wenn man jenen Rechenausdruck kennt (oder erraten hat), aus dem sich eine vorgegebene unendliche Reihe entwickeln lässt. Hat man nur die unendliche Reihe 157 158
Ausführlicher zu diesem Begriff das nächste Kapitel. Siehe etwa S. 232, in dem Zitat aus § 143. 159 Für eine Besonderheit der AKonvergenz siehe S. 267.
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Eulers Begriff von Funktion und Zahl und kennt diesen Rechenausdruck nicht, kennt man die „wahre Summe“ der Reihe nicht – obwohl es sie geben könnte. Ein allgemeines Rezept, das es erlaubt, zu einer vorgegebenen unendlichen Reihe ihre ‚ASumme‘ sicher zu ermitteln (und also auch ein negatives Resultat zu erhalten, falls diese ‚ASumme‘ nicht existiert ), gibt es nicht. Dies Letztere nun gilt freilich auch für unseren heutigen Begriff der ‚WSumme‘ S: Welches dieser Wert ist, lässt sich nicht allgemein entscheiden. Findet man einen solchen Wert, hat man Glück gehabt oder viel Sachverstand erworben. Es kann aber gut sein, dass man keinen solchen Wert findet, obwohl die vorgelegte Reihe ‚Wkonvergiert‘. Wir halten als unser Hauptergebnis fest: Wie der Rechenausdruck E ULERs Funktionenlehre dominiert, so domimiert er auch E ULERs Reihenlehre: in Gestalt der „wahren Summe“. Abschließend sei erwähnt, dass es schon früh, verstärkt jedoch ab den 1970er Jahren Versuche gegeben hat, bei E ULER auch den heutigen Konvergenzbegriff (also die ‚WKonvergenz‘ ) zu finden.160 Heute halte ich diese Versuche für missglückt (auch wenn ich das früher anders gesehen habe). Diese Versuche beruhen auf einer unzulässigen Interpretation gewisser E ULER’scher Äußerungen. Die Einzelheiten sind etwas technisch und sollen hier nicht ausgebreitet werden. Schon die hier eingenommene allgemeinere Perspektive zeigt jedoch, wie sehr E ULER vom Rechenausdruck her (und also: „algebraisch“) denkt. Eine plötzliche Konzentration auf „Werte“ statt auf den Rechenausdruck passt dazu ganz und gar nicht. Außerdem wäre es doch etwas überraschend, wenn die Tatsache, dass E ULER den modernen Konvergenzbegriff hat, erst zwei Jahrhunderte nach E ULERs Ableben bemerkt worden wäre – obwohl doch seit 1817/21 dieser Konvergenzbegriff die Analysis dominiert und grundlegend neu strukturiert hat (darauf kommen wir noch zu sprechen).
STETIGKEIT Der Begriff Angesichts des bisher erzielten Ergebnisses von der Dominanz des Rechenausdrucks in E ULERs Analysis wundert es nicht mehr, wenn der Rechenausdruck in gewissem Sinn auch für E ULERs Kurvenlehre bedeutsam sein sollte. Und so ist es auch! E ULER nennt eine Kurve – im Sprachgebrauch der damaligen Zeit: eine „krumme“ Linie – dann „stetig“, wenn sie durch einen Rechenausdruck (einen einzigen!) beschrieben werden kann.f f
160
Siehe Euler 1788b, S. 9, § 9, Euler 1836, S. 3 f., § 9 bzw. E 102, Kap. 1, § 9, S. 11. Siehe etwa Reiff 1889, S. 119; Laugwitz 1978, S. 31, Laugwitz 1983a, S. 170 f., Laugwitz 1983b, S. 316 mit Anmerkung bis S. 317, Laugwitz 1986, S. 50. Die späteren Texte wischen die zuvor gegen diese These vorgebrachten Argumente Faber 1935, S. XIV, Anmerkung 1 leichter Hand beiseite, ohne sie zu widerlegen, und insbesondere ignorieren sie die von Pringsheim 1905 geäußerten Bedenken, die bei E ULER herausgelesene Konvergenzbedingung sei sogar falsch.
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3. Die Grundlagen der Algebraischen Analysis
S. 214
Nun erinnern wir uns an E ULERs zweiten, den geometrischen Funktionsbegriff ‚ Funktion‘. Diesem lag eine „krumme“ Linie zugrunde, und dann war f : z erklärt als: die „Ordinate“ in Abhängigkeit von der „Abszisse“. Wenn E ULER nun eine „krumme“ Linie dann „stetig“ nennt, wenn sie durch einen einzigen Rechenausdruck beschrieben werden kann, dann besagt das in E ULERs Denkwelt einfach: Eine ‚GFunktion‘ ist dann „stetig“, wenn sie als eine ‚AFunktion‘ gefasst werden kann. Untechnisch gesprochen: Eine Kurve ist „stetig“, wenn sie durch einen Rechenausdruck beschrieben werden kann. Oder anders gesagt: Für E ULER sind die „stetigen“ „krummen“ Linien genau die, die in seine Funktionenlehre (genauer: in seine AFunktionen-Lehre) fallen. E ULERs „stetige“ ‚GFunktionen‘ sind also die an sich guten (weil rechnerisch: algebraisch handhabbaren) ‚AFunktionen‘. Da E ULERs Begriff „stetig“ wiederum nicht der unsrige heute ist, nennen wir ihn natürlich ‚AStetigkeit‘.161 G
Der Vergleich mit heute E ULERs ‚AStetigkeit‘ ist für „Kurven“ festgelegt: Eine „Kurve“ ist ‚Astetig‘ oder nicht. Wenn wir die „Kurve“ jedoch im Sinne E ULERs als ‚GFunktion‘ auffassen, dann lässt sich – nur – im übertragenen Sinn auch sagen: Eine ‚GFunktion‘ ist ‚Astetig‘ oder nicht. In unserer heutigen Analysis ist das anders.162 Wir sagen hier grundsätzlich von „Funktionen“, sie seien „stetig“ oder nicht. Für uns heute besagt die „Stetigkeit“ einer „Funktion“, dass diese „Funktion“ keine plötzlichen Änderungen in ihrem Wertverlauf erleidet: Eine Funktion f heißt stetig für den Wert x 0 , wenn jede kleine Änderung am Wert x 0 garantiert nur kleine Änderungen am zugehörigen Funktionswert f (x 0 ) bewirkt. Will man das technisch ganz korrekt aufschreiben, wird es etwas kompliziert. Denn es ist nicht einfach, die Bedingung „garantiert“ logisch zu fassen. Der Trick besteht darin, die Reihenfolge der vorhandenen Stellschrauben umzukehren. Um eine Sicherheit „garantieren“ zu können, kann man sagen: Der entstehende Fehler wird gewiss kleiner als irgendeine Toleranz ε gehalten werden können. Diese „irgendeine“ Toleranz kann man dann nach Belieben klein vorgeben – die gegebene Garantie besagt dann, dass der begangene Fehler sicher kleiner als diese zugelassene Toleranz ist. Das setzen wir nun für die Stetigkeit um: Eine Funktion f heißt stetig am Wert x 0 , wenn es zu jeder Toleranz ε > 0 eine Sicherheitsmarge δ > 0 gibt, sodass für alle Werte x im Be161
Wenn Begriffe nicht nur von einer Person verwendet werden – und das ist hier der Fall, siehe ab S. 267 –, dann vergebe ich lieber sachbezogene Namen. Andere gehen anders vor. So tauft Lützen 1983, S. 301 E ULERs Stetigkeitsbegriff „E-Stetigkeit“. 162 Wie es dazu kam, wird in den folgenden Kapiteln angesprochen.
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Vier Weiterführungen reich der Sicherheitsmarge von x 0 gilt: f (x) liegt im Toleranzbereich von f (x 0 ). Oder noch etwas formaler: Eine Funktion f heißt stetig am Wert x 0 , wenn es zu jeder Toleranz ε > 0 eine Sicherheitsmarge δ > 0 gibt, sodass für alle Werte x mit |x 0 − ¯ ¯ ¯ ¯ x| < δ gilt: f (x 0 ) − f (x) < ε. Dies ist der heutige Stetigkeitsbegriff. Er wird hier ‚Wstetig‘ genannt. Wir sehen: Heute ist bei der „Stetigkeit“ von „Werten“ die Rede: von „Werten“ x 0 der „unabhängig“ Veränderlichen x wie von „Werten“ der „Funktion“ f . Bei E ULER ist das nicht der Fall. E ULERs „Stetigkeit“ handelt nicht von „Werten“, sondern fragt danach, ob es einen „Rechenausdruck“ für die „Kurve“ gibt. EULERS DENKMUSTER DER ANALYSIS: „ALGEBRAISCHE ANALYSIS“ Das Denkmuster bei E ULER ist offenkundig geworden: Für ihn steht immer der Rechenausdruck im Zentrum seiner Aufmerksamkeit: – bei der Beschreibung der „Funktion“, – bei der Frage, ob eine unendliche Reihe eine „wahre Summe“ hat, – bei der Klassifizierung der Kurven. Es ist also sehr treffend, E ULERs Analysis den Titel „Algebraische Analysis“ beizulegen. Diese Taufe hat E ULERs Nachfolger J OSEPH L OUIS L AGRANGE (1736–1813) S. 276 bei ausgangs des 18. Jahrhunderts vollzogen. Anm. a VIER WEITERFÜHRUNGEN (1) D’ALEMBERTS BEGRIFF DER GRÖSSE: EINE KRITIK AN EULER E ULERs großer französischer mathematischer Zeitgenosse war J EAN -B APTIST LE R OND D ’A LEMBERT (1717–83). D ’A LEMBERT war auch ein bedeutender philosophischer Kopf – und nicht zuletzt ein maßgeblicher Akteur bei dem Großunternehmen der Aufklärung, der Encyclopédie.163 D ’A LEMBERT hat sich weitaus differenzierter mit dem Begriff „Größe“ auseinandergesetzt als E ULER. Im 1757 erschienenen Band 7 der Encyclopédie beginnt D ’A LEMBERT seinen Eintrag Grandeur mit folgendem Satz: „Größe. Hier eines jener Worte, von dem alle Welt glaubt, eine klare Idee zu haben, das aber dennoch sehr schwer gut zu definieren ist.“ (d’Alembert 1757, S. 855, Sp. 1) Im Weiteren führt D ’A LEMBERT dann aus (ich strukturiere seinen Text ein wenig): 163
Zu E ULERs philosophischen Positionen siehe jetzt Thiele 2014, S. 840–845.
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3. Die Grundlagen der Algebraischen Analysis
Definition. „Die Mathematiker definieren Größe gewöhnlich als das, was einer Vermehrung und Verminderung fähig ist. [Folgerung.] Nach diesem Begriff sind weder das Unendliche noch die Null Größen, denn das Unendliche kann nicht vermehrt, die Null nicht vermindert werden. Daher betrachten viele Mathematiker zum einen die Null und zum anderen das Unendliche nicht als Größen, sondern als Grenze von Größen [. . . ] Siehe Grenze. [Bemerkung.] Es ist zweifellos möglich, sich so auszudrücken, und man soll nicht über Worte streiten. Aber es widerspricht dem gewöhnlichen Gebrauch, zu sagen, das Unendliche ist gar keine Größe, denn man spricht von einer unendlichen Größe. Es scheint also, dass man eine Definition der Größe suchen muss, die den üblichen Begriffen eher entspricht. Folgt man darüber hinaus der gängigen Definition, müsste man alles Größe nennen, was der Vermehrung und Verminderung fähig ist. Nun ist das Licht der Vermehrung und Verminderung fähig. Dennoch würde man sich ganz unpassend ausdrücken, wenn man das Licht als eine Größe betrachten würde. [Definition.] Andere ändern die vorstehende Definition ein wenig ab und setzen oder anstelle von und; sie definieren die Größe als das, was einer Vermehrung oder Verminderung fähig ist. [Bemerkung.] Nach dieser Definition, in der oder ausschließend gemeint ist, wäre Null eine Größe; denn sie ist zwar keiner Verminderung, wohl aber einer Vermehrung fähig. Diese Definition ist also noch weniger gut als die vorhergehende. [Definition (Größe).] Mir scheint, man kann die Größe gut als das definieren, was aus Teilen zusammengesetzt ist. [Folgerung.] Es gibt zwei Arten von Größen: die konkrete Größe und die abstrakte Größe. Siehe konkret und abstrakt. ˜ Die abstrakte Größe ist eine, deren Begriff nicht irgendeinen besonderen Gegenstand bezeichnet. Sie ist nichts anderes als Zahlen, die man auch numerische Größen nennt. Siehe Zahl. Folglich ist die Zahl 3 eine abstrakte Größe (quantité), denn sie steht ebenso für 3 Fuß wie für 3 Stunden usw. ˜ Die konkrete Größe ist eine, deren Begriff einen bestimmten Gegenstand umfasst. Sie kann entweder aus koexistierenden Teilen bestehen oder aus aufeinander folgenden. Unter diese Vorstellung fallen zwei Arten: die Ausdehnung und die Zeit.“ (d’Alembert 1757, S. 855, Sp. 1 f.)
Reflexion D ’A LEMBERT entscheidet sich gegen die Neufassung des Größenbegriffs, wie sie von den die Differenzial- und Integralrechnung praktizierenden Mathematikern
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Vier Weiterführungen vertreten und durch J OHANN B ERNOULLI (unausgesprochen!) initiiert wurde: die „Größe“ als ein nicht näher bestimmtes Etwas, das „der Vermehrung und/oder der Verminderung fähig ist“. Stattdessen stellt sich D ’A LEMBERT hier auf den traditio- S. 167, 221 nellen Boden in der Nachfolge des A RISTOTELES. Das bringt begriffliche Probleme mit sich. Wenn „Größe“ aus „Teilen“ zusammengesetzt und „Zahl“ eine „(abstrakte) Größe“ ist, dann ist die Eins keine „Zahl“, denn sie ist nicht aus Teilen zusammengesetzt. Sie bleibt die (undefinierbare) Einheit des Zählens. Damit ist D ’A LEMBERT philosophisch nicht weiter als E UKLID, der bestimmt hatte: 1. Einheit ist das, wonach jedes dbestimmte Etwase Eines genannt wird. 2. Zahl ist die aus Einheiten zusammengesetzte dVielheit (pl~hjoc)e. 3. Teil einer Zahl ist eine Zahl, die Kleinere von der Größeren, wenn sie die Größere genau misst. (Euklid, VII, Definitionen 1–3, S. 141) Man könnte hier denken: „1 = 21 + 12 , also hat 1 Teile!?“ Aber 12 ist, jedenfalls für E UKLID, keine „Zahl“, sodass dieses Argument zumindest in der früheren Zeit nicht greift. Die durch A RISTOTELES kanonisierte klassische Dichotomieg zwischen der (diskreten) „Vielheit“ und der (kontinuierlichen) „Größe“: Quantum (posìn)
Vielheit (pl~hjoc) zählbar
Größe (mègejoc) messbar
wird von D ’A LEMBERT so aufgefasst: Größe
abstrakte (diskret: Zahl)
konkrete (kontinuierlich)
D ’A LEMBERT unterscheidet zwischen der „abstrakten“ Größe als einem Begriff, der keinen „besonderen Gegenstand“ bezeichnet, und der „konkreten“ Größe als einem Begriff, der „besondere Gegenstände“ bezeichnet. Demzufolge hat D ’A L EMBERT zwar den abstrakten Begriff des Diskreten („Zahl“), nicht aber einen abstrakten Begriff des Kontinuierlichen („(Größe)“, z. B. „quantité“) – denn er hat keinen allgemeinen Begriff der für die Analysis benötigten „Zahlen“; ich sage dazu: er hat keinen ‚analytischen‘ Zahlbegriff. Zwischen „grandeur“ und „quantité“ macht D ’A LEMBERT keinen Unterschied: g
Vgl. Aristoteles, Metaphysik, 1020a10.
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3. Die Grundlagen der Algebraischen Analysis „Die (grandeur) wird auch (quantité) genannt, siehe (quantité).“ (d’Alembert 1757, S. 855, Sp. 2) Wir sehen: J OHANN B ERNOULLIs unausgesprochene und E ULERs ausgesprochene Alternative zu dieser klassischen Dichotomie bzw. zum klassischen Größenbegriff kann als dessen Überwindung gelten. Der Preis dafür ist der Verzicht auf eine Wesensbestimmung der Sache: Allein die Eigenschaft „vermehrbar/verminderbar“ bleibt als Bestimmung von „Größe“ übrig. Diese E ULER’sche Bestimmung von „Größe“ hatte ein Jahrhundert Bestand. Dass sie inhaltlich leer sei, wurde aber schließlich doch noch bemängelt. In dem 1875 im Verlag F. A. B ROCKHAUS erschienenen 94. Band der Allgemeinenen Encyklopädie der Wissenschaften und Künste, herausgegeben von J. S. E RSCH und J. G. G RU BER heißt es im Artikel „Größe“: „Größe wird gewöhnlich erklärt als das was einer Vermehrung oder Verminderung fähig ist. Indessen laboriert diese Definition an dem Übelstande, dass sie das, was erklärt werden soll, eigentlich schon voraussetzt. Denn die Begriffe der Zu- und Abnahme, die ja mit denen der Vermehrung und Verminderung vollkommen identisch sind, involvieren bereits den Begriff der Größe in ihrem Inhalte. Man kann ja doch nur durch eine Zahlgröße bestimmen, wieviel oder wie wenig eine Zu- oder Abnahme betragen hat. Wir sind also durch die oben gegebene Erklärung um nichts klüger geworden, sondern wissen nur, was wir schon vorher wussten: dass nämlich jede Größe auf der Zusammenfassung eines gleichartigen Mannigfaltigen beruht. [. . . ] Der Begriff der Größe lässt sich nicht nur auf alles anwenden, was der Vermehrung oder Verminderung fähig ist, sondern auch auf alles, was der Dauer und verschiedenen Gradbestimmungen unterliegt. In diesem Sinne kann man einen Unterschied zwischen extensiven, potensiven und intensiven Größen machen. Ferner kann man auch stetige oder zusammenhängende und unstetige oder nicht zusammenhängende Größen unterscheiden.“ (Zacharias 1875, S. 2, Sp. 1 f.) Diese Kritik bestätigt die Unsere: E ULERs Begriff „Größe“ ist gerade so gebildet, dass er die möglichst uneingeschränkte Anwendung der Differenzial- und Integralrechnung auf empirische Gegenstände erlaubt; eine in der Sache begründete Rechtfertigung für E ULERs Bestimmung gibt es nicht. Insofern ist D ’A LEMBERTs philosophische Distanz zu E ULERs Begriff in der Sache begründet. (2) DER BEGRIFF DER GRÖSSENORDNUNG S. 175, 238 ff.
Den Begriff „Größenordnung“ haben wir bei den bisher behandelten Autoren nicht ausgesprochen gefunden. Dennoch haben wir seine symbolische Fassung als
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Vier Weiterführungen Relation als modernes Hilfsmittel eingesetzt, um für uns einen Zugang zu früherem Denken zu finden. Im 18. Jahrhundert wird der Begriff „Größenordnung“ im Sinne von „Unendlichkeitsordnung“ in der Mathematik geprägt. d’Alembert D ’A LEMBERT schreibt in seinem Artikel „unendlich Kleines“ in dem im Jahr 1765 erschienenen Band 8 der Encyklopédie das Folgende:
Es bleibt noch, ein Wort zu den unendlich Kleinen verschiedener Ordnung zu sagen und zu erklären, was darunter zu
„Il nous reste à dire un mot des infinimens petits de différens ordres, & à expliquer ce qu’on doit entendre par-là.
verstehen ist. Nehmen wir die Glei-
Prenons l’équation même y =
x2 , a
chung y = die wir schon bei dem Wort U NENDLICH betrachtet haben, so sagen wir in der Mathematik gewöhnlich, wenn x unendlich klein ist, y sei unendlich klein von zweiter Ordnung, d. h. unendlich klein im Verhältnis zu x, wie es x im Verhältnis zu a ist. Die Erklärung dieser Art ist dieselbe, wie wir sie schon bei dem Wort U NENDLICH gegeben haben: Sie bedeutet, je kleiner man x nimmt, desto kleiner wird das Verhältnis von y zu x, sodass man es stets kleiner machen kann als irgendeine gegebene Größe. Siehe G RENZE usw.
x2 a
que
nous avons déja considérée au mot I N FINI , on dit ordinairement en Géometrie que quand x est infiniment petit, y est infiniment petit du second ordre, c’est-à-dire aussi infiniment petit par rapport à x, que x l’est par rapport à a; l’explication de cette maniere de parler est la même que nous avons déja donnée au mot I NFINI: elle signifie que plus on prendra x petit, plus le rapport de y à x sera petit, ensorte qu’on peut toûjours le rendre moindre qu’aucune quantité donnée. Voyez L IMITE, &c.“ (d’Alembert 1765a, S. 703, Sp. 2 f. ) y
2
betrachtet das Verhältnis x , wobei er y = xa gesetzt hat. Folglich y y x ist x = a . In der Tat wird also das Verhältnis x mit x beliebig klein. D ’A LEMBERTs Idee ist: Der zunächst für „Größen“ erklärte Begriff „unendlich klein“ wird auf das „Verhältnis“ zweier Größen übertragen. Zu einer Nutzanwendung seiner Begriffsbestimmung schweigt sich D ’A LEMBERT freilich aus. Sicher passt seine Bestimmung zu dem Grundsatz, den er im selben Jahr im folgenden Band der Encyclopédie proklamiert hat, und zwar im Eintrag zu „Grenze“ (ob „limite“ mit „Grenze“ oder mit „Grenzwert“ zu übertragen ist, muss stets aus dem Textzusammenhang entschieden werden): D ’A LEMBERT
Die Theorie der Grenzen ist die Grundlage der wahren Metaphysik des Differenzialkalküls. Siehe D IFFERENZIAL , F LUXION , E XHAUSTION , U NENDLICH .
„La théorie des limites est la base de la vraie Métaphysique du calcul differentiel. Voyez D IFFÉRENTIEL , F LUXION , E XHAUS TION , I NFINI .“ (d’Alembert 1765b, S. 542)
Beim Begriff „Unendlichkeitsordnung“ hat D ’A LEMBERT diese Maxime umgesetzt.
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3. Die Grundlagen der Algebraischen Analysis
Der Fortschritt, der zugleich ein Rückschritt ist
ab S. 170 ab S. 173
Wir haben ausführlich erörtert, dass und wie J OHANN B ERNOULLI sein „Postulat 1“ handhabt. Für uns Heutige haben wir diese Handhabungen mittels des Begriffs „Größenklasse“ zu verstehen versucht. D ’A LEMBERT legt nun eine Begriffsbestimmung vor, die unser Verstehenshilfsmittel zu betreffen scheint. Er spricht von „unendlich Kleinen“ „verschiedener Ordnung“. Eine Bestimmung eines bislang undefinierten wichtigen Begriffs ist auf jeden Fall ein Gewinn an begrifflicher Klarheit. So betrachtet ist D ’A LEMBERTs Bestimmung zweifellos zu begrüßen. Zu fragen ist jedoch: Hat der in neuer Klarheit, aber eben auch: neu bestimmte Begriff jene Eigenschaften, jene Qualitäten, die dem vorher unbestimmten Begriff eigen waren? In anderer Formulierung: Ist die neue Begriffspräzisierung geglückt? Das erste (und große) Verdienst von J OHANN B ERNOULLIs „Postulat 1“ ist es, Beweise der für die Anwendungen so wichtigen und von L EIBNIZ aufgestellten Differenzialregeln zu ermöglichen. Eine solche Begründungskraft aber hat die von D ’A LEMBERT vorgelegte Begriffsklärung nicht! Es ist nicht ersichtlich (und D ’A LEMBERT hat das auch nirgendwo behauptet), dass der in dieser Weise bestimmte Begriff der „Unendlichkeitsordnung“ der „Größen“ geeignet sei, die Differenzialregeln zu beweisen. In der Konsequenz gibt D ’A LEMBERT mit seiner Begriffsbestimmung jenen Gewinn preis, den L EIBNIZ’ geometrische Konstruktion (um es zu betonen: die D ’A L EMBERT nicht kannte!) erbringt, und den J OHANN B ERNOULLI s Begriffskonstruktion in „Postulat 1“ algebraisch nachbildete. Die Folge: Die Differenzialregeln, speziell also: die Multiplikationsregel für Differenziale, werden unbeweisbar. Was L EIBNIZ streng geometrisch und J OHANN B ERNOULLI rein algebraisch: unter Rückgriff auf sein „Postulat 1“ beweisen konnte, das gelingt mit der Bestimmung des Begriffs der „Unendlichkeitsordnungen“ gemäß D ’A LEMBERT (und, wie wir gleich sehen werden: auch gemäß K ÄSTNER) mit der epsilontischen Fassung des Begriffs „Größenordnung“ nicht mehr! Diese Betrachtung könnte es erlauben, hier von einer missglückten Begriffsklärung zu sprechen. Kästner Bereits vier Jahre vor Erscheinen der D ’A LEMBERT’schen Bestimmungen der „Größenordnungen“ in der Encyklopédie lehrt der L EIBNIZ-Kenner und als Lehrbuchautor berühmt gewordene A BRAHAM G OTTHELF K ÄSTNER (1719–1800) in der ersten Auflage seines Lehrbuchs Anfangsgründe der Analysis des Unendlichen das Folgende: „y = au m und t = bu m−n können beide alle Grenzen übersteigen, d. i. unendlich werden, und doch wird y in Vergleichung mit t unendlich.
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d’Alembert – Kästner
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Vier Weiterführungen Es gibt also unendlich große Größen von verschiedenen Ordnungen; da man y von einer höhern Ordnung heißt, in Vergleichung, mit welcher die andere, t verschwindet. ˜ Überhaupt heißt hier y ein Unendlich-Großes von der Ordnung m, es mag m ein bejahter Bruch oder eine ganze bejahte Zahl sein.“ (Kästner 1761, § 11, S. 4) Wenn die Veränderliche x „unendlich abnimmt“, heißen die Größen k · x m und l · x m+n entsprechend „unendlich Kleine von verschiedenen Ordnungen“h . Dazu ein Beispiel K ÄSTNERs: „Wenn in der Parabel y y = c x die Ordinate y unendlich klein von der yy ersten Ordnung wird, so wird x = c unendlich klein von der zweiten. Weil sich nämlich die Abszisse wie das Quadrat der Ordinate verhält, so nimmt die Abszisse viel schneller ab als die Ordinate, wenn die Ordinate klein ist, weil das Quadrat eines eigentlichen Bruches kleiner als der Bruch selbst ist. Gegenteils wenn x unendlich klein von der Ordnung 1 ist, so ist y unendlich klein von der Ordnung 21 oder = ∞ 21 .“ (Kästner 1761, § 11, S. 4 f.) K ÄSTNERs Bezeichungsweise „= ∞ 12 “ hat sich nicht durchgesetzt, ist aber bemerkenswert. Sein Begriff der Unendlichkeitsordnung ist derselbe wie der D ’A L EMBERT s, und auch das bei beiden Autoren als Erstes gegebene Beispiel ist dasselbe. (Im Übrigen zeigt diese Passage, dass im Jahr 1761 der Gebrauch des Begriffspaars „Abszisse“/„Ordinate“ noch nicht in derselben Weise normiert war wie heute.) (3) DIE TAYLORREIHE IN DER ALGEBRAISCHEN ANALYSIS – LAGRANGE Schon L EIBNIZ hatte die Eigenschaft der unendlichen Reihen hervorgehoben, eine unmittelbare Berechnung der Werte beispielsweise der trigonometrischen Funktionen zu ermöglichen, sodass das Nachschlagen dieser Werte in Tafeln nicht mehr erforderlich würde. S. 102 Auch die Analysis des 20. Jahrhunderts betonte diese Eigenschaft der unendlichen Reihen, die Funktionswerte beliebig genau darzustellen. Insbesondere die nach B ROOK TAYLOR (1685–1731) benannte Reihendarstellung einer Funktion „ist praktisch und theoretisch von allergrößter Bedeutung“i , denn ihre „wesentlichste Bedeutung“ liegt darin, „dass aus der Kenntnis einer Funktion und ihrer Ableitungen an einer Stelle x 0 Schlüsse auf die Werte dieser Funktion an benachbarten Stellen x 0 + h gezogen werden können.“ (Knopp 5&6 1931–33, Bd. 2, S. 113) h i
Kästner 1761, § 11, S. 5 Knopp 5&6 1931–33, Bd. 2, S. 113
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3. Die Grundlagen der Algebraischen Analysis Es geht also um die Darstellung: f (x 0 + h) = f (x 0 ) + h f 0 (x 0 ) +
h 2 00 h3 f (x 0 ) + f 000 (x 0 ) + . . . 1·2 1·2·3
(3.8)
Dabei sind die f 0 , f 00 usw. die ersten, zweiten . . . „Ableitungen“ der Funktion f .
S. 206
Wie wir bereits wissen, hat schon E ULER diese heute nach TAYLOR benannte Reihenentwicklung angeführt. E ULERs Nachfahr J OSEPH L OUIS L AGRANGE (1736– 1813) rückte diese Reihenentwicklung einer Funktion noch weit stärker als E ULER in das Zentrum der Analysis. Im Jahr 1797 gründete L AGRANGE die gesamte Differenzial- und Integralrechnung auf diesen Sachverhalt, indem er zum Auftakt seines Lehrbuchs Théorie des Fonctions Analytiques den Lehrsatz bewies, dass sich jede beliebige Funktion f in die Form 3.8 bringen lässt. (In diesem Buch – wie auch schon ein Vierteljahrhundert zuvor164 – nutzte L AGRANGE übrigens die noch heute übliche Strich-Notation für die Ableitungsfunktionen: f 0 , f 00 , . . . sowie den Namen „Ableitung“: „fonction derivée“.165 ) L AGRANGE war sich darin mit E ULER einig: 3.8 ist eine Darstellungsform jeder Funktion. Über E ULER hinaus jedoch ging es L A GRANGE darum, diese Form f (x 0 + h) = f (x 0 ) + h P + h 2 Q + h 3 R + . . . einer beliebigen Funktion f unabhängig von der Differenzialrechung zu etablieren. Denn dann konnte man umgekehrt mittels der Definitionen P = f 0 (x 0 ) , 1 · 2 · Q = f 00 (x 0 ) ,
(3.9)
1 · 2 · 3 · R = f 000 (x 0 ) , usw.
die Differenzialrechung begründen. Dies hatte den Vorteil, die Differenzialrechnung ohne Nutzung der „unendlich kleinen“ Größen entwickelt zu haben – und damit ohne einen immer als problematisch angesehenen Begriff bei der Grundlegung dieser wichtigen Lehre ausgekommen zu sein. Stattdessen ließ sich auf diese Weise die Differenzialrechnung rein algebraisch entwickeln: durch die Gleichungen 3.9.
164
Lagrange 1869, § 1, S. 442. – Übrigens bezieht sich L AGRANGE zu Beginn dieser Abhandlung ausdrücklich auf einen 1710 erschienenen Aufsatz von L EIBNIZ mit dem Titel „Symbolismus memorabilis calculi“ („Ein denkwürdiger Symbolismus des dalgebraischen und infinitesimalene Kalküls“ ): Leibniz 1710. 165 Die Idee dazu dürfte wohl von E ULER stammen, der diese Bezeichnung in seinem 1767 erschienenen berühmten Aufsatz De usu functionum discontinuarum in analysi verwendete, indem R er F 0 : ω zu F : ω integrierte: „Setzt man F 0 : ω = Ω, erhält man F : ω = Ωd ω“ (E 322, § 21).
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Vier Weiterführungen Kritik an Lagrange (und damit: an Euler) L AGRANGEs Beweis, jede Funktion lasse sich in eine Potenzreihe entwickeln, hat sich als nicht haltbar erwiesen. (Anders formuliert: Der Funktionsbegriff hat sich gewandelt.) Crelles Kritik
AUGUST L EOPOLD C RELLE (1780–1855) hat L AGRANGEs Théorie des Fonctions Analytiques im Jahr 1823 in Deutsch publiziert. Dabei kritisiert er L AGRANGEs Beweisführung harsch (C RELLE schreibt „k“, wo L AGRANGE „i “ und wir heute „h“ schreiben): „Meines Erachtens ist dieser Beweis, dass die Reihe für die Entwickelung einer beliebigen Funktion f (x + k), die Größe k nur in Potenzen von ganzen positiven Exponenten enthalten kann, erstens unzulänglich, wenigstens schwach und für Prinzipien einer ganzen Wissenschaft viel zu verwickelt; dann aber ist auch, glaube ich, ein Beweis überhaupt nicht nötig.“ (Lagrange 1823, S. 17) Der Übersetzer C RELLE bringt vielerlei Kritik gegen L AGRANGEs Beweis vor. Wir wollen dieser Kritik hier nicht im Einzelnen nachgehen, sondern die Sache grundsätzlich aufgreifen. Lagranges Begriff der Funktion
Als Erstes prüfen wir, was L AGRANGE unter „Funktion“ versteht: „Man nennt Funktion einer oder mehrerer Größen, jeden Rechnungsausdruck, in welchem diese Größen auf irgendeine Weise vorkommen, sei es abgesondert oder verbunden mit andern Größen, die dman als gegebene und unveränderliche Werte besitzend betrachtete, während die Funktionsgrößen alle möglichen Werte erhalten können.“ (Lagrange 1823, Einleitung, S. 3)
„On appelle fonction d’une ou de plusieurs quantités toute expression de calcul dans laquelle ces quantités entrent d’une manière quelconque, mêlées ou non avec d’autres quantités qu’on regarde comme ayant des valeurs données et invariables, tandis que les quantités de la fonction peuvent recevoir toutes les valeurs possibles.“ (Lagrange 1881, Introduction, S. 15)
Damit verschiebt L AGRANGE E ULERs Funktionsbegriff zu dem, was bisher in der Literatur als „E ULERs Funktionsbegriff“ (gemeint: die ‚AFunktion‘) verstanden wird: Die „Funktion“ ist ein aus „Größen“ – veränderlich oder nicht – und „Zahlen“ gebildeter „Rechenausdruck“. Dieser „Rechenausdruck“ besteht demnach aus S. 199, 209 „Größen“ und ist selbst wiederum eine „Größe“ (vielleicht eine „Konstante“, wie E ULER bemerkt hatte). L AGRANGE bildet also die E ULER’sche Tradition der „Algebraischen Analysis“ weiter. Dabei hat L AGRANGE die Wesensbestimmung von
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3. Die Grundlagen der Algebraischen Analysis „Funktion“ verlagert: Bei ihm ist „Funktion“ nicht mehr wie bei E ULER eine „veränderliche Größe“, welche durch einen „Rechenausdruck“ nur „beschrieben“ wird – sondern bei L AGRANGE ist die „Funktion“ dieser „Rechenausdruck“. – Eine mathematische Konsequenz dieser Begriffsverschiebung ist: Jetzt gibt es auch „konS. 202, stante“ „Funktionen“, anders als bei E ULER. Punkt 5 In diesem Sinne ist L AGRANGE der Vollender der „Algebraischen Analysis“. L A GRANGE gründet die Analysis noch radikaler aufs Rechnen („Algebra“) als E ULER . Lagranges Fehler im Beweis
Im ersten Schritt des Beweises seines Satzes geht es L AGRANGE um Folgendes: „Wir wollen nun eine Funktion f x einer beliebigen veränderlichen Größe x betrachten. Setzt man x + k statt x, wo k eine beliebige unbestimmte Größe ist, so erhält man f (x + k) und man kann diese Größe nach der Theorie der Reihen in eine Reihe von der Form f x + pk + qk 2 + r k 3 . . .
(∗)
entwickeln, worin die Koefficienten p, q, r . . . der verschiedenen Potenzen von k, neue, von der Stammgröße f x abgeleitete, und von k unabhängige Funktionen von x sind.∗ “ (Lagrange 1823, S. 14, § 1 f.) Es geht L AGRANGE dann zunächst um den Beweis, dass als Potenzen von k nur natürliche Zahlen möglich sind und nicht etwa auch gebrochene (und also Wurzelausdrücke von k). Sein entscheidendes Argument dafür lautet: „Andernteils weiß man aus der Natur der Gleichungen, dass eine Wurzelgröße allemal so viele verschiedene Werte hat, als ihr Exponent Einheiten, und dass folglich jede irrationale Funktion so viele verschiedene Werte hat, als man Kombinationen aus den verschiedenen Werten der Wurzelgrößen, die sie enthält, machen kann. Könnte also die Entm wicklung der Funktion f (x + k) ein Glied von der Form uk n haben, so müsste erstlich f x notwendig eine irrationale Funktion sein und folglich eine gewisse Zahl verschiedener Werte haben; die nämliche Zahl von Werten müsste dann f (x + k) und dessen Entwicklung haben.“ (Lagrange 1823, S. 15 f., § 2) Anders als L AGRANGE (und C RELLE) bemerken wir: L AGRANGE greift in dieser Argumentation maßgeblich auf den Begriff des „Funktionswertes“ zurück. Denn p 1 L AGRANGE argumentiert hier mit der Vielfachheit der Wurzel-„Werte“ : u 2 = u ∗
L AGRANGE bezeichnet die Veränderung von x durch i . Der Übersetzer hat statt i , weil dieser Buchstabe teils unbequem ist, teils von einigen Schriftstellern, nach G AUSS, zur Bezeichnung p von − 1 ausschließlich gebraucht wird, den Buchstaben k gesetzt. [Zusatz des Übersetzers C RELLE – D. D. S P.]
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Vier Weiterführungen p 1 hat im Allgemeinen zwei „Werte“, u 3 = 3 u hat (im Komplexen) deren drei, ebenp 2 3 so u 3 = u 2 usw. Aber: „Werte“ gehen in L AGRANGEs (und E ULERs) Begriff der Funktion überhaupt nicht ein! Jedenfalls nicht primär – sondern nur sekundär in der Weise, dass die den „Rechenausdruck“ bildenden „Größen“ ihrerseits „Werte“ haben. Demzufolge ist L AGRANGEs Vorgehen unzulässig, einen Beweis über „Funktionen“ wesentlich auf den Begriff der „(Funktions-)Wertes“ zu gründen!166 Exkurs über den Begriff „Funktionswert“ in der Algebraischen Analysis Den Begriff „Funktionswert“ gibt es bei L AGRANGE (wie bei E ULER) nicht! Keiner von beiden bildet diesen Begriff und erklärt, was er bedeuten soll. Nun wird man zunächst geneigt sein, zu sagen: „Das ist auch unnötig – es versteht sich von selbst, was ein Funktionswert ist! »Funktionswert« ist der »Wert«, den man erhält, wenn man der (oder den) unabhängig Veränderlichen (jeweils) einen »Wert« beilegt!“ Vermutlich denkt – zunächst – jede(r) so, die oder der heute Analysis treibt. Das Problem aber sind nicht die Normalfälle. Deren Behandlung versteht sich in der Tat von selbst. Das Problem sind die Sonderfälle. Was beispielweise soll sin ∞ sein? Die heutige Antwort auf die letzte Frage – „Das ist nicht definiert“ – ist nur die heutige Antwort. Sie ist aber nicht die einzig Mögliche; und wir werden sehen, dass in der Tat Mathematiker nach E ULER und L AGRANGE darauf eine andere Antwort gegeben haben.
Wenn aber L AGRANGE (wie auch E ULER) den Begriff „Funktionswert“ nicht in die Algebraische Analysis einbezieht, dann existiert dieser Begriff innerhalb der Algebraischen Analysis gar nicht! Und dann ist es klarerweise auch nicht erlaubt, einen Beweis auf diesen der Theorie fremden Begriff zu gründen. Ein Fehler, den Lagrange begangen hat, und einer, den er nicht begangen hat
In der heutigen Analysis betrachtet ist L AGRANGEs Satz, jede Funktion könne in ihre Taylorreihe entwickelt werden, in dieser Allgemeinheit falsch. Heute beweist man die Entwickelbarkeit einer Funktion in ihre Taylorreihe nur für den Fall, dass die betreffende Funktion bestimmte Voraussetzungen erfüllt. Das verleitet Historikerinnen und Historiker der Mathematik in der Regel zu dem Urteil, L AGRANGE habe einen „falschen“ Satz formuliert (und bewiesen).167 Dem ist aber nicht so. L AGRANGE und E ULER haben nicht einen falschen Satz formuliert, sondern einen anderen. Der Satz nämlich, den wir heute formulieren, handelt von „Funktionen“, die „Funktionswerte“ haben – L AGRANGE (und E ULER) hingegen formulierten ihren Satz als einen, der von „(veränderlichen) Größen“ handelt. Das aber ist etwas ganz Anderes. 166 167
Eine solche Überlegung fehlt in der bisherigen Literatur zu L AGRANGE. So denkt beispielsweise die populäre Mathematikhistorikerin J UDITH G RABINER in ihrer Dissertation von 1966, die sie im Jahr 1990 unverändert unter dem Titel The calculus as algebra drucken ließ.
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3. Die Grundlagen der Algebraischen Analysis Vielleicht wendet man hier ein: Aber „Größen“ haben doch „Werte“! Die Erwiderung auf diesen Einwand lautet: Ja, das ist richtig: „Größen“ haben „Werte“. Aber diese „Werte“ sind nicht Gegenstand der Theoriebildung der Algebraischen Analysis. Die Algebraische Analysis – siehe E ULERs Introductio – interessiert sich nicht für (einzelne) „Werte“, sondern (nur) für „Größen“; und zwar deswegen, weil die „Größen“ das Allgemeine (die „Gattung“) sind, während die „Werte“ nur je besondere Einzelfälle (die „Arten“) darstellen – aber Einzelfälle sind für die aufs Allgemeine angelegte Lehre unmaßgeblich. Ich fasse zusammen: (1) Sicher problematisch ist L AGRANGEs Satz (den er übrigens gar nicht so völlig klar formuliert), jede „Funktion“ könne in ihre Taylorreihe entwickelt werden. – Zu klären ist: Wie ist der Begriff „Funktion“ definiert? Wenn „Funktion“ im Sinne von E ULER oder L AGRANGE gemeint sind, ist der Satz (fast 168 ) richtig, da er sich auf die Geltung der Regeln des Differenzialkalküls stützen kann. (2) Zutreffend ist das Urteil, L AGRANGE habe den Satz nicht völlig korrekt bewiesen. Einen Fehler in seinem Beweisgang haben wir ihm nachgewiesen. (3) Allerdings wusste L AGRANGE, dass die Entwickelbarkeit einer Funktion in ihre Taylorreihe keineswegs für jeden „Wert“ gilt. Dies Letztere sei noch belegt, zeigt es doch, dass L AGRANGE sehr wohl ein grundsätzlich zutreffendes Verständnis der Sachlage hatte. Seinen Beweis ergänzt L AGRANGE durch folgenden klaren und deutlichen Hinweis: ˜ „Dieser Beweis ist allgemein und strenge, solange x und k [unbestimmt bleiben]; aber er [hörte] auf es zu sein, wenn man x bestimmte Werte [beilegte]; denn es [könnte] möglich [sein], dass diese Werte [Wurzeln] in f x aufheben, die [nichtsdestoweniger] in f (x + k) bleiben [könnten]. Wir werden weiter unten, im fünften Abschnitte, diese besondern Fälle, und was daraus folgt, untersuchen.“ (Lagrange 1823, S. 16, § 2)
„Cette démonstration est générale et rigoureuse tant que x et i demeurent indéterminées; mais elle cesserait de l’être, si l’on donnait à x des valeurs déterminées; car il serait possible que ces valeurs détruisissent quelques radicaux dans f x, qui pourraient néanmoins subsister dans f (x +i ). Nous examinerons plus bas(n.◦ 34) ces cas particuliers et les conséquences qui en résultent.“ (Lagrange An V [= 1797], § 10, S. 8)
L AGRANGE weiß also sehr wohl, dass die Entwickelbarkeit der Funktion in eine Taylorreihe zwar allgemein, nicht jedoch für jeden einzelnen Wert gilt. – Er löst die 168
−2
Im Jahr 1823 publizierte C AUCHY die „Funktion“ f (x) = e −(x ) , deren sämtliche Ableitungen für x = 0 verschwinden. Folglich ist diese Funktion in x = 0 nicht in ihre Taylorreihe entwickelbar. – Siehe Cauchy 1895, S. 229 f. = Cauchy 1899b, S. 394.
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Vier Weiterführungen im Zitat formulierte Ankündigung in der Tat ein und diskutiert in aller Ausführlichkeit solche Ausnahmefälle. Vielleicht ist es angemessen, die Lage so zu beschreiben: Ausgangs des 18. Jahrhunderts war die Bedeutung des „Funktionswerts“ für die Analysis auch den akademischen Mathematikern169 allmählich ins Bewusstsein gerückt. Es fehlte ihnen jedoch ein dazu passendes Begriffsgerüst: Sie beugten sich noch immer der Autorität E ULER und wagten es nicht, dessen Begriffssetzungen aufzugeben. (4) DAS KONVERGENZVERSTÄNDNIS VON LACROIX E ULER hat einen anderen Begriff der Konvergenz als wir heute. Nach E ULER ‚Akonvergiert‘ eine Reihe immer dann, wenn ihre Glieder beständig abnehmen und eine Nullfolge bilden. S. 246 Es ist interessant, dass dieser E ULER’sche Konvergenzbegriff Eingang in ein bekanntes Lehrbuch gefunden hat, das erstmals 1797 und dann in zweiter Auflage 1810 gedruckt wurde. Es handelt sich um den ersten Band des sehr verbreiteten Buchs Traité du Calcul Différentiel et du Calcul Integral von S YLVESTRE F RANÇOIS L ACROIX (1765–1843). (L ACROIX war übrigens der Lehrer von C AUCHY.) In der zweiten Auflage untersucht L ACROIX ausführlich das AKonvergenzverhalten der binomischen Reihe und betrachtet schließlich ein konkretes Beispiel: µ
10 1+ 11
¶9 2
µ ¶2 µ ¶ µ ¶ 9 10 9·7 10 9 · 7 · 5 10 3 9 · 7 · 5 · 3 10 4 = 1+ · + · + 3 + + . . . (3.10) 2 11 22 · 2! 11 2 · 3! 11 24 · 4! 11
Die Glieder dieser Reihe werden zunächst größer: 9 10 · , 2 11 µ ¶2 9·7 10 9 10 · < 2 · , 2 11 2 · 2! 11 1
. 23 · 3! 11 24 · 4! 11 Die Reihe 3.10 ist ab dem 4. Glied Akonvergent. L ACROIX treibt es noch weiter und präsentiert die binomische Reihe für µ
169
99 1+ 100
¶−2 .
(3.11)
Bei den nicht an den Akademien arbeitenden Mathematikern, also den anwendungsbezogen Arbeitenden (wozu auch die mathematische Lehre zu rechnen ist – ein Bereich, mit dem E ULER nie konfrontiert war), war es spätestens im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts klar, dass sich alle Nutzbringung der Analysis nur den mit ihrer Hilfe errechneten „(Funktions-)Werten“ verdankte. – Siehe Spalt (2008).
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3. Die Grundlagen der Algebraischen Analysis Von ihr sagt er, die ersten 100 Glieder dieser Reihe bildeten „ein wachsendes Fortschreiten (progression)“j . Wenn wir uns das Leben erleichtern und – anders als L ACROIX – zur schnelleren Übersicht die algebraische Darstellung (1 + x)−2 = 1 − 2x + 3x 2 − 4x 3 + 5x 4 − + . . . nutzen, so sehen wir: µ µ µ ¶ ¶ µ ¶ ¶ ¶ µ 99 99 3 99 4 99 2 99 −2 = 1−2 −4 +5 −+... +3 1+ 100 100 100 100 100 Der Quotient zweier aufeinanderfolgender Glieder n
¡
¢ 99 n 100
und (n + 1)
¡
¢ 99 n+1 100
ist
µ ¶ n + 1 99 1 99 q= · = 1+ · . n 100 n 100 Nun gilt: 1 100 1 100 1 > ⇐⇒ > −1 = ⇐⇒ n < 99 . n 99 n 99 99 Demzufolge gilt q > 1, solange n < 99. Wir sehen: Zunächst nehmen die Reihenglieder ihrem Betrage nach zu. Das 99. und das 100. Glied sind betragsmäßig gleich: µ ¶ µ ¶ 99 98 99 99 99 · = 100 · . 100 100 1+
Dann nehmen die Reihenglieder dem Betrage nach ab. Die Reihe 3.11 ist somit ab dem 100. Glied Akonvergent. L ACROIX bietet also eine lehrbuchmäßige Erörterung der AKonvergenz. Dass das im Jahr 1810 nur noch sehr knapp dem aktuellen Stand der Entwicklung der Analysis entspricht, werden wir im Folgenden sehen.170 WA S WA R D I E A L G E B R A I S C H E A N A LY S I S ? JOHANN BERNOULLIS BEITRAG S. 117
S. 167
L EIBNIZ hatte seinen Differenzialkalkül für „veränderliche“ Größen entworfen. Diese „veränderlichen“ Größen waren geometrischer Natur, paradigmatisch: „veränderliche“ „(krumme) Linien“. J OHANN B ERNOULLI greift den L EIBNIZ’schen „Differenzialkalkül“ auf, löst ihn aber von dessen geometrischer Basis ab. Bei J OHANN dient die Geometrie nur noch als eine „Anwendung“ des Differenzialkalküls – der Kalkül selbst handelt nicht j
170
Lacroix 1810–1819, Bd. 1, S. 7, § 6 In der Dissertation Domingues 2008 habe ich keinen Hinweis auf diese aus heutiger Sicht anstößige Betrachtung gefunden.
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Was war die Algebraische Analysis? mehr von geometrischen „Größen“, sondern nur noch von „Größen“, ohne spezifizierendes Attribut. Eine Verallgemeinerung. Freilich gibt J OHANN B ERNOULLI meines Wissens keine Erklärung darüber, was eine solch allgemeine „Größe“ sei. Konsequenterweise greift J OHANN bei seinen Beweisen der Regeln des Differenzialkalküls auch nicht mehr – wie L EIBNIZ – auf geometrische Konstruktionen zurück (hier „Grundkonstruktion“ genannt). Vielmehr stützt sich J OHANN allein auf S. 118 Argumentationen, die wir hier über den Begriff „Größenklasse“ der betrachteten Veränderlichen rekonstruiert haben. Die Anwendung des „Kontinuitätsgesetzes“ ab S. 175 (eine geometrische Grenzwertrechnung) wird durch J OHANNs „Postulat 1“ ersetzt: S. 117 durch ein rein algebraisches (nämlich: die Rechnung betreffendes) Argument. Dieses „Postulat 1“ betrifft zwar das Rechnen, doch es statuiert keine Gleichheit. Damit macht J OHANN klar: Zur Rechtfertigung des Differenzialkalküls wird ein nicht algebraischer Grundsatz benötigt („Postulat 1“). Eine Rechtfertigung dieses „Postulats 1“ unterbleibt bei J OHANN – wie auch L EIB NIZ keine Rechtfertigung seines „Kontinuitätsgesetzes“ gegeben hat. Das „Kontinuitätsgesetz“ diente L EIBNIZ als ein durch die geometrische Anschauung legitimiertes Rechenprinzip. J OHANNs nun allgemein gefordertes „Postulat 1“ ist nicht mehr legitimiert, sondern bloße Forderung. Bemerkenswert (und wichtig) ist, dass J OHANNs „Postulat 1“ nicht als algebraische G LEICHUNG formuliert ist. Und bei sorgfältiger Präsentation der Argumente, etwa in L’H OSPITALs Buch, wird das auch so gehandhabt: Die in „Postulat 1“ statuierte „Gleichheit“ („[. . . ] wird weder vermindert noch vermehrt.“) ist keine strikte Gleichheit. In meiner Analyse oben habe ich vorgeschlagen, die durch J OHANNs „Postulat 1“ geforderte Relation durch ein zweites, gröberes Gleichheitszeichen ≈ darzustellen. Auf diese Weise bleibt der von L EIBNIZ erfundene Differenzialkalkül als ein „Kalkül“ erhalten, der keinen Fehler (paradigmatisch: x + dx = x bzw. dx = 0) hervorbringt. Dieser Vorschlag ist einer von heute aus: Er basiert auf der seit der Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelten „Strukturmathematik“, die den Relationsbegriff extensiv ausgeweitet und nutzbar gemacht hat. Dieser Vorschlag ist dazu gedacht, uns Heutigen das Verständnis der J OHANN B ERNOULLI’schen Argumentation zu erleichtern. Ganz sicher ist dieser Vorschlag nicht geeignet, das damalige Denken J OHANNs und seiner Zeitgenossen und Nachfolger im 18. Jahrhundert aus sich heraus zu erhellen. Ähnliches gilt für den von mir oben eingeführten Begriff der „Größenklasse“. (Ich hatte auch von einer ‚Grobgleichheit‘ gesprochen.) Auch er ist moderner Natur. Seit K ÄSTNER und D ’A LEMBERT wird eine „Größenordnung“ in epsilontischer Weise gefasst. Diese freilich dient zur Klassifikation des Wachstumsverhaltens von „Funktionen“. Noch später dann haben S CHMIEDEN /L AUGWITZ die Begriffe ‚Größenklasse‘ und ‚Größenordnung‘ in expliziter Weise gekennzeichnet.
Johann Bernoulli
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S. 175
S. 175 S. 261, 259
ab S. 524
3. Die Grundlagen der Algebraischen Analysis Bei J OHANN B ERNOULLI gibt es noch keine „Funktionen“ (und auch keine „unendlich kleinen Zahlen“) in einem der Nichtstandard-Analysis vergleichbaren Sinn. Dennoch schien mir der Begriff „Größenordnung“ nützlich, um uns Heutigen einen ersten Zugriff auf J OHANNs Denkweise zu erleichtern. EULERS DENKEN DER ALGEBRAISCHEN ANALYSIS S. 167
S. 238
S. 128
S. 236
J OHANN B ERNOULLI hat mit seinem Postulat 1 gezeigt: Zur Begründung des Differenzialkalküls wird ein nicht algebraischer Grundsatz benötigt, und er hat einen solchen formuliert. Bei J OHANNs Schüler E ULER sucht man die herausgehobene Betonung eines solchen in allgemeiner Weise formulierten Grundsatzes vergeblich. Vielmehr wird erforderlichenfalls (konkret: in § 87 der Differenzialrechnung) inmitten einer Beweisführung so eben nebenbei als „maxime receptus“ ein Grundsatz formuliert, ohne den E ULERs kühne Rechnungen mit den Differenzialen unbegründet wären. E ULER erweckt so den Anschein, als lasse sich die Analysis (wie der Differenzialkalkül) rein algebraisch fassen. Tatsächlich jedoch erlaubt sich E ULER dort, wo es ihm nützlich erscheint, Abweichungen von den allgemeinen Rechengesetzen der Arithmetik. Mit der „Algebraischen Analysis“ geht E ULER einen ersten gewaltigen Schritt auf dem Weg, der L EIBNIZ vorschwebte: dem Weg der Konstruktion der Mathematik als eine Ars characeristica. Seine „Funktionenlehre“ ist ein pures Rechen mit Größen (und Zahlen), ganz ohne die heute in der Analysis als zentral betrachteten Begriffe „Konvergenz“ und „Stetigkeit“. Diese E ULER’sche „Funktionenlehre“ hat Ähnlichkeit mit dem, was wir eine „Theorie der formalen Potenzreihen“ nennen. Auch E ULERs Differenzialrechnung ist ein pures Rechnen, diesmal mit „Differenzialen“, und wiederum vermissen wir aus heutiger Sicht den heute als für diese Lehre zentral betrachteten Begriff „Grenzwert“. E ULER begnügt sich damit, seine Differenzialrechnung als eine Rechnung mit „Nullen“ zu begründen – eine mathematisch völlig unbefriedigende Vorgehensweise, die auch keinen Nachfolger gefunden hat. In seiner „Integralrechnung“ schließlich geht es nicht (dem Vorbild L EIBNIZ’ folgend) um das bestimmte, sondern um das unbestimmte Integrieren – und also wiederum eine rein algebraische Technik. Aber auch die gewöhnlichen und partiellen Differenzialgleichungen werden im letztgenannten Werk behandelt und vieles mehr. Jedenfalls „die unbestimmten Integrationen, die elementar ausführbar sind, finden sich fast vollständig.“k E ULER entwickelt die Algebraische Analysis nach dem Muster des absolutistisch regierten Staates: (1) An die Spitze stellt er die Formel (den „Rechenausdruck“), (2) und diese Formel regiert alles in der Analysis, wirklich alles (zuallererst „Funktion“, dann aber auch „wahre Summe“ bei den unendlichen Reihen und „stetige“ Kurven): in absolutistischer Weise. k
Thiele 1982, S. 121
270
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Was war die Algebraische Analysis? (3) Die Geltung der Formeln ist nicht mehr in jedem Fall aus (als objektiv behaupteten) abstrakten Gründen hergeleitet, sondern wird im Einzelfall vom Kardinal-Premier E ULER dekretiert. Diese dekretierten Formeln behaupten eine eigene, neuartige Rationalität. Zu (1): Die Formel symbolisiert eine Rechenhandlung. Sie ist die Etikette der Algebraischen Analysis. Als solche bestimmt sie die mathematische Existenz aller Objekte – wie im absolutistischen Hofzeremoniell (paradigmatisch: am französischen Hof) „die soziale Existenz der in sie verstrickten Menschen selbst an sie [d. i. die Etikette] gebunden war.“l Die Formel ist, wie die höfische Etikette, eine „Regulations-, Sicherungs- und Überwachungsapparatur“m , eine „Maschinerie“n . Zu (2) und (3): Zuallererst und ganz grundlegend bestimmt die Formel, welches der Gegenstand der Analysis ist: nämlich die „Funktion“. Anhand der Formel werden die „Funktionen“ klassifiziert und ihre Eigenschaften entfaltet. Die wohl wichtigste Funktion, die Exponentialfunktion, wird von E ULER sogar gänzlich aus der Formel a ω = 1 + kω entwickelt. Dies geschieht in einer kühnen Manier, die – streng rechnerisch ge- ab S. 219 nommen – an manchen Stellen vollkommen unsinnig ist: Die dabei verwendeten Formeln 3.6 etwa: S. 219 i −1 1 = , 2i 2
i −2 1 = , 3i 3
i −3 1 = 4i 4
u. s. w.
bedeuten streng algebraisch nichts anderes als: −1 = 0 ,
−2 = 0 ,
−3 = 0
u. s. w.
und also rechnerischen Unsinn. Doch E ULER lässt die Formel, selbst wenn sie algebraischen Unsinn ergibt, nicht in Misskredit bringen, sondern behauptet sie einfach, indem er sie interpretiert. Auf diese Weise dekretiert der Kardinal-Premier E ULER die herrschende „Rationalität“o . Eine Begründung gibt E ULER in leichter Prosa, durchsetzt mit vielen „offenbar“, und greift dabei die Vorgabe seines Lehrers J OHANN B ERNOULLI auf, unendlich Kleine(re)s dürfe weggelassen werden. Einer höheren Instanz, einer vorausgesetzten Grundlage, bedarf ein E ULER – so erweckt er den Anschein – nicht. Während sich J OHANN B ERNOULLI noch auf ein (als allgemeingültig unterstelltes) „Postulat 1“ berufen hatte, verzichtet E ULER auf dergleichen Rechtfertigungsreden. Er rechnet nach seinen eigenen allenfalls versteckt als solchen artikulierten Grundsätzen und sieht sich in keiner Pflicht, grundsätzlich über seine Vorannahmen Rechenschaft abzulegen. Damit demonstriert E ULER: Nicht eine allgemeine Vernunft bestimmt die Algebraische Analysis, sondern die (Setzungen der) Person E ULER. l m
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3. Die Grundlagen der Algebraischen Analysis
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Auch den Zahlbegriff handhabt E ULER sehr pragmatisch: Eigentlich gibt es nur die „natürlichen“ und die „gebrochenen“ Zahlen, denn „Zahlen“ kommen durch das (exakte) Messen zustande. Gleichwohl bildet E ULER eine ganze Heerschar weiterer „Zahlen“. Sie sind ihm Rechenhilfsmittel – nichts weiter. Ihre Rechtfertigung (von der „Existenz“ einer „Zahl“ im heutigen Sinne war damals noch keine Rede) bestand darin, nützliche Ergebnisse zu liefern. Nützliche Ergebnisse mittels der „Eingebildeten“ hatten vor E ULER schon andere erzielt, doch E ULER leitete in der Nachfolge seines Lehrers J OHANN B ERNOULLI solche nützlichen Resultate auch aus „unendlichen“ Zahlen her, verweisend auf die „durchgängig angenommene Regel“, wonach die „unendlich Kleinen“ gegen die „Endlichen“ „verschwinden“. Paradigmatisch haben wir E ULERs Herleitung der Potenzreihenentwicklung der Exponentialfunktion betrachtet. Klar wurde aber auch: Um die Klärung der dabei entstehenden Widerspüche (etwa hinsichtlich der Anordnung wie der, dass 1 1 1 1 1 = 0 und also auch 2∞ = 12 · ∞ = 0 – und somit ∞ = 2∞ – zwar 2∞ > ∞, aber auch ∞ gilt) hat sich E ULER nicht geschert. Daher ist es sicher von Grund auf verfehlt, wenn sich die historiografischen Parteigänger der Nichtstandard-Analysis zu der Behauptung versteigen, E ULERs Zahlbegriff habe irgendetwas mit dem Zahlbegriff der Nichtstandard-Analysis zu tun. Das ist sicher so hanebüchen wie deren Bezugnahme auf L EIBNIZ. Eine Verwandtschaft zwischen E ULERs Rechnungsweisen und den in der Nichtstandard-Analysis heute üblichen besteht allenfalls darin, dass bei beiden Methoden gelegentlich die Geltung der üblichen algebraischen Gesetze außer Kraft gesetzt wird, indem auf die ‚Größenordnung‘ der betrachteten Terme Bezug genommen wird. Man könnte ganz allgemein von ‚Kürzungsregeln‘ sprechen (die Nichtstandard-Analysis heute bildet etwa den „Standardanteil“ einer Zahl). Solche ‚Kürzungsregeln‘ gibt es in der der heutigen Standard-Analysis nicht; diese operiert stattdessen mit „Limesregeln“. Insofern besteht eine größere Nähe von E ULERs Rechenpraxis zu derjenigen der heutigen Nichtstandard-Analysis als zur heutigen Standard-Analysis. Allerdings ist der Status dieser ‚Kürzungsregeln‘ in beiden Methoden gravierend verschieden: E ULERs Regeln sind rein intuitiv und kommen sehr beiläufig daher – die entsprechenden Regeln der heutigen Nichtstandard-Analysis sind nur durch Rückgriff auf heutige Algebra (Stichwort: „Filter“) oder, methodisch gründlicher und sachlich damit weiter tragend, auf moderne Logik und Modelltheorie zu formulieren. In dramatischer Weise noch unschärfer wird E ULER bei seiner „Erklärung“ der Differenzialen. Sie sind „Veränderliche“, aber gleichwohl „Nullen“ – und dennoch keineswegs („arithmetisch“) = 0. Dem großen Ansehen E ULERs zuliebe kann man sich bemühen, seiner Begleitprosa zu seinen Rechenexzessen einen mathematischen Sinn zu unterlegen. Beispielhaft habe ich oben einen solchen Weg beschritten. Andere haben das in ganz anderer Weise versucht.171 171
Besonders hervorgetan hat sich dabei D ETLEF L AUGWITZ (1932–2000) – siehe etwa Laugwitz 1983a, Laugwitz 1985.
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Was war die Algebraische Analysis?
Das große Manko all dieser „Rechtfertigungen“ (die Obige nicht ausgeschlossen) besteht darin, dass E ULER sie nicht gibt, sondern sie durch seine offenkundig lückenhaften Darlegungen allererst möglich macht oder vielleicht sogar zu verlangen scheint. Das nackte Faktum ist: E ULER behauptet, bloß zu rechnen – formuliert aber keine allgemeinen Regeln, die sein spezifisch analytisches (d. h.: nicht algebraisches) Rechnen bestimmen. E U LER hantiert meisterhaft mit Termen: aber eben nicht nach ausformulierten Regeln, sondern so, wie es dem Meister richtig dünkt.172 E ULER ist der allein bestimmende Kardinal-Premier der Algebraischen Analysis, der dekretiert, was dort gültig ist – er als Person, nicht von ihm formulierte Regeln, Postulate oder Gesetze.
E ULERs völlig unbestreitbare mathematische Größe erwächst aus seinen beispiellosen Rechenkünsten, gepaart mit einem fast prinzipienlos zu nennenden Pragmatismus. Nennen wir nochmals E ULERs Funktionsbegriff – genauer gesagt: seine beiden Funktionsbegriffe. Es ist wirklich bemerkenswert (und aus der heutigen Praxis heraus fast unbegreiflich), dass E ULER zwei wesensverschiedene Funktionsbegriffe nutzt, ja im Bedarfsfall sogar nebeneinander, im selben Werk.173 S. 215 Bis fast auf den heutigen Tag glaubten nahezu alle Mathematiker (und Mathematikhistoriker), E ULERs Begriff der Funktion sei einzig und allein der „Rechenausdruck“. Gewiss, es gab einige Deutungen, die sich auf E ULERs Prosa bezogen und daraus einen „allgemeineren“, einen fast modernen Funktionsbegriff herauslesen wollten. Sogar E ULERs Kontrahent beim Streit über die angemessene mathematische Behandlung der schwingenden Saite, D ’A LEMBERT, folgte E ULERs begrifflicher Vorgabe zum Funktionsbegriff als „Rechenausdruck“ weitgehend und getraute sich nur wenig Abweichung (statt des „Rechenausdrucks“ ließ D ’A LEM BERT „Gleichungen“ als „Funktionen“ zu). Aber erst im Jahr 2011 fand es eine erst- S. 212 rangige internationale historische Fachzeitschrift (zu meiner Freude, das sei zugegeben) angebracht und wert, einen Hinweis zu publizieren, dass sich E ULER eines zweiten, vom „Rechenausdruck“ definitorisch klar unterschiedenen Funktionsbegriffs bediente.174 Anders gesagt: Im Bedarfsfall (nämlich dann, wenn es ihm von der Sache her opportun erschien, er also mit dem „Rechenausdruck“ nicht weiterkam) ließ E ULER seine zugrunde gelegte Definition Definition sein und griff nach einer anderen. (Dabei muss man ihm zugute halten, dass er dies durchaus nicht verbarg, sondern klar und deutlich formulierte. Dass seine Leserschaft dies nach dem 18. Jahrhundert kaum mehr wahrnahm, darf man dem Autor nicht anlasten.)
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Exzellente Mathematiker (wie etwa L AUGWITZ) goutieren das und fühlen sich herausgefordert, es E ULER gleich zu tun. 173 Bereits Spalt 2011, S. 493 f. 174 Siehe ab S. 211. – In Sonar 2011, S. 462, Z. 10–14 fehlt leider der Hinweis auf den Vortrag „Kannte Euler unstetige Funktionen?“, den ich auf Einladung von Professor S ONAR am 13. Januar 2009 in seinem Kolloquium halten durfte.
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Kapitel 4: D i e B e g r ü n d u n g d e r We r t e - A n a l y s i s
VOM WANDEL DER DINGE Im Jahr 1913 formulierten die Herausgeber von E ULERs Integralrechnung eine Aufgabe für die Historiographie der Mathematik: „Es ist eine Frage, die die Geschichte der Mathematik noch zu klären hat, durch welche Ursachen die strengen Methoden der Griechen im Laufe der Zeit außer Gebrauche gekommen sind, und wodurch das Gefühl für die Unentbehrlichkeit dieser Methoden später wieder geweckt worden ist. Bei E ULER und L AGRANGE fehlen diese Methoden noch vollständig, wenige Jahrzehnte später sind sie bei G AUSS, B OL ZANO , C AUCHY , A BEL mit vollem Bewusstsein wieder in Gebrauch. Wir müssen uns hier mit der Feststellung begnügen, dass E ULER als Kind seiner Zeit sich jener Methoden nicht bedient hat, dass er darum nicht imstande war, sich über die Konvergenz unendlicher Prozesse deutliche Vorstellungen zu bilden [. . . ]“ (Engel und Schlesinger 1913, S. XIII) Der Frage nach den Ursachen können wir hier nicht nachgehen, das muss der Spezialliteratur vorbehalten bleiben.175 Was uns hier aber möglich ist, das ist eine genauere Kennzeichnung dessen, was die E ULER-Herausgeber allgemein „Methoden“ nennen. Im vorigen Kapitel haben wir gesehen, dass E ULER (und L AGRANGE) keineswegs „unstreng“ vorgegegangen sind, sondern dass sie einfach mit anderen Gegenständen arbeiteten, als wir es gewohnt sind: insbesondere mit allgemeinen „Größen“, ohne dass dabei deren einzelne „Werte“ in Betracht gezogen wurden. Wenn man diese Grundeinsicht bei E ULER (und L AGRANGE) akzeptiert, dann wird die übliche Rede von deren „unstrengen Methoden“ falsch. Vielmehr entpuppen sich dann E ULER und L AGRANGE als genau so ehrenwerte („strenge“) Mathematiker wie der Fachmann von heute oder zu E UKLIDs Zeit. Nicht die „Strenge“ hat sich gewandelt, sondern die behandelten Gegenstände sind andere geworden. Dieser Wandel der Gegenstände ist der Hauptströmung der Geschichtsschreibung der Analysis bisher entgangen.176 Dieser Hauptströmung geht es nicht um 175
Eine Antwort auf den zweiten Teil der Frage („[. . . ] wodurch das Gefühl [. . . ] später wieder geweckt worden ist“) versucht Spalt (2008). 176 Demgegenüber hat sich der vorgebliche „Wandel der Strenge“ als Kampfbegriff der heutigen Schlaumeier gegen die früheren Einfältigen etabliert – paradigmatisch: Grabiner 1974.
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4. Die Begründung der Werte-Analysis den Wandel der Dinge, sondern um die – möglichst lange (fast: ewige) – Beständigkeit der Dinge.177 Zur Kennzeichnung dieses Wandels der Gegenstände der Analysis verwende und vergebe ich in diesem Buch bestimmte Namen. Der für das vorige Kapitel wichtige Name „Algebraische Analysis“ ist seit L AGRANGE eingeführta und treffend. Für jene Theorien, welche die „Algebraische Analysis“ um 1817/20 ablösen), gibt es bislang keinen Namen.178 Daher schlage ich einen (Sammel-)Namen dafür vor: ‚WerteAnalysis‘.179 Was hat es damit auf sich? D E R D O P P E LT E A U F T A K T, T E I L 1 : B E R N A R D B O L Z A N O 1817 Im Jahr 1817 verkündete der „Weltpriester, Doktor der Philosophie, k. k. Professor der Religionswissenschaft und ordentliches Mitglied der k. Gesellschaft der Wissenschaften zu Prag“ B ERNARD B OLZANO (1781–1848) eine Revolution der Analysis. (Ein „Weltpriester“ ist ein Priester, der keinem Orden angehört, sondern der Kirche innerhalb eines Bistums dient.b ) B OLZANOs Predigten wurden von der kaiserlich-königlichen Obrigkeit als sozialrevolutionär gewertet. Dies führte an Weihnachten 1819 zur Unterzeichnung eines Bescheids durch Kaiser F RANZ I. über B OLZANOs Entfernung aus der Prager Universität, ein Publikationsverbot und seine zeitweise Stellung unter Polizeiaufsicht. Anders als seine theologischen Aktivitäten blieben B OLZANOs mathematische Neuerungen hingegen ohne unmittelbare Konsequenzen – und ohne unmittelbare Wirkungen: Prag ist weit weg von Paris, das damals noch immer das Zentrum der Mathematikproduktion war. Dort aber nahm niemand jene Abhandlung aus dem fernen Ausland zur Kenntnis, die den sperrigen, aber mathematisch klaren Titel trägt: „Rein analytischer Beweis des Lehrsatzes, dass zwischen je zwei Werten, die ein entgegengesetztes Resultat gewähren, wenigstens eine reelle Wurzel der Gleichung liege“. Wie ihr biedermeierisch verschnörkelter Titel sagt, geht es in dieser Abhandlung um jenen Satz, den wir heute den „Nullstellensatz“ nennen. Er ist eine (geringfügige) Spezialisierung des allgemeineren „Zwischenwertsatzes“: Eine stetige Funktion einer Veränderlichen nimmt mit je zwei Funktionswerten A und B auch jeden Wert C zwischen A und B an. Oder die von B OLZANO behandelte, unwesentlich spezialisierte Variante: a b
Prominent verwendet im Untertitel von Lagrange An V [= 1797]. Vgl. Grimm und Grimm 1984, Bd. 28, Sp. 1671 f.
177
So kommen solch absurde Buchtitel wie 3000 Jahre Analysis und andere zustande. Heute ist die Analysis noch keine 400 Jahre alt, wie hier gezeigt wird. 178 Stattdessen ist die Rede von der „neuen Strenge“ üblich, auf die gerade verwiesen wurde. 179 Das spricht sich besser als das systematisch ebenfalls mögliche ‚WAnalysis‘ . Der altbekannte Name „Algebraische Analysis“ würde systematisch zu ‚AAnalysis‘ .
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Der doppelte Auftakt, Teil 1: Bernard Bolzano 1817 Eine stetige Funktion, die sowohl einen positiven als auch einen negativen Funktionswert hat, hat auch den Funktionswert 0. Was findet B OLZANO an diesem Lehrsatz wichtig? BOLZANOS ZIELSETZUNG B OLZANOs Motivation, diesen Lehrsatz zu behandeln, ist darin begründet, dass nach seiner Auffassung „ein völlig richtiger Beweis“ desselben „unbekannt sei.“c B OLZANO nennt sieben Mathematiker, die „schon verschiedene Beweisarten für ihn versucht haben“d (darunter die illustren Namen L ACROIX und L AGRANGE), und er nennt auch die genauen Fundorte der von ihm kritisierten Beweise. B OLZANO trägt fünf verschiedene Kritiken an den Beweisen seiner Vorgänger vor. Sein Bedenken richtet sich auf die jeweils verwendeten Beweismethoden und hat zwei Stoßrichtungen. Beide Male geht es ihm um Methodenreinheit. Fachliche Methodenreinheit Zum einen verlangt B OLZANO fachliche Methodenreinheit: Ein Lehrsatz der „reinen Mathematik“ dürfe keinesfalls aus „Betrachtungen“ hergeleitet werden, die „in einen bloß angewandten (oder speziellen) Teil derselben, namentlich in die Geometrie gehören.“e (Wir registrieren beiläufig: Das antike Ideal der Mathematik, die Geometrie, wird von B OLZANO als „bloß angewandter Teil der Mathematik“ gesehen!) Konkret wendet er sich etwa dagegen, einen (nämlich: jenen besagten) Lehrsatz der Analysis mittels Argumenten aus der Geometrie zu beweisen, nach der Art: Wenn eine stetige Funktion positive und negative Funktionswerte hat, muss sie auch den Funktionswert 0 haben, weil eine Linie, die auf beiden Seiten einer anderen Linie (hier: der x-Achse) verläuft, diese auch „schneiden“ muss. Ein solches Argument sei „gegen die gute Methode“f . Wir bemerken: B OLZANO unterscheidet „Funktion“ und die von der Funktion bestimmte „Linie“ scharf. Anlässlich seiner zweiten Kritik proklamiert B OLZANO: „Niemand wird wohl in Abrede stellen, dass der Begriff der Zeit und vollends jener der Bewegung in der allgemeinen Mathematik eben so fremdartig sei als der des Raumes.“ (RaB, S. 6) Selbstverständlich „stellte“ es im Jahr 1817 außer B OLZANO kein Mathematiker „in Abrede“, dass „Zeit“ und „Bewegung“ sehr legitime Begriffe der Analysis seien.180 B OLZANOs gegenteilige Formulierung ist ein rhetorischer Kniff, um der c e 180
RaB, S. 3 d RaB, S. 4 RaB, S. 4 f. f RaB, S. 4 Noch im Jahr 1837 wollte W ILLIAM R OWAN H AMILTON (1805–65) die Algebra als die „Wissenschaft der reinen Zeit“ verstehen: Hamilton 1965.
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4. Die Begründung der Werte-Analysis
S. 102, 113
Leserschaft die Neuartigkeit seiner Perspektive als eine Selbstverständlichkeit erscheinen zu lassen. Der große Erfolg der Differenzial- und Intergalrechung beruhte doch gerade auf dem Begriff der „verschwindenden“ Größe, auf den sich N EWTON wie L EIBNIZ stützte – und welcher andere Begriff konnte dem der „verschwindenden“ Größe zugrunde liegen als die „Zeit“ oder die „Bewegung“? Zwar hatte L EIBNIZ die „verschwindenden“ Größen auch auf den Namen „unendlich klein“ getauft, ein Name, der frei ist von zeitlichen oder mechanischen Inhalten. Aber das war eben nur ein anderer Name für jenen Gegenstand, der gewöhnlich „verschwindende“ Größe hieß. Und „Namen“ sind – auch in der Mathematik – Schall und Rauch. Auf die Definition, auf den Begriffsinhalt kommt es an, nicht auf den Namen. B OLZANOs hier vorgetragene Position steht derjenigen seiner Zeitgenossen vollkommen entgegen. Erst zwei Generationen später werden die Mathematiker beginnen, B OLZANO hier zu folgen, als Erste die Logiker (F REGE, RUSSELL). Wir werden zu prüfen haben, wie (weit) sich B OLZANO in seiner Analysis des Begriffs der „Zeit“ bzw. der „Bewegung“ entledigte. Doch zunächst zur zweiten Form der Methodenreinheit, die B OLZANO forderte. Logische Methodenreinheit B OLZANO unterscheidet die psychologische scharf von der logischen Perspektive: den Beweiszweck „Gewissmachung“ vom Beweiszweck „Begründung“.g So gesteht B OLZANO ohne Weiteres zu, dass „eine jede kontinuierliche Linie von einfacher Krümmung, deren Ordinaten erst positiv, dann negativ sind (oder umgekehrt), die Abszissenlinie notwendig irgendwo in einem Punkte, der zwischen jenen Ordinaten liegt, durchschneiden müsse.“ (RaB, S. 4) Dazu sagt er: „Gegen die Richtigkeit sowohl als auch gegen die Evidenz dieses geometrischen Satzes ist gar nichts einzuwenden.“ (RaB, S. 4) Doch bei einem mathematischen Beweis gehe es nicht um „bloße Gewissmachungen“h , sondern um „Begründungen“h . Eine „Begründung“ eines Satzes aber ist die „Darstellung [seines] objektiven Grundes“h , seine folgerichtige Herleitung aus „Grundsätzen oder Grundwahrheiten“h . Von der „geometrischen Wahrheit“ des Satzes, dass eine „kontinuierliche“ Linie, die beidseits einer anderen liegt, diese auch „schneidet“, müsse man trotz ihrer „Evidenz“ zugeben: „Sichtbar sind die Begriffe, aus denen sie besteht, so dsehre zusammengesetzt, dass man nicht einen Augenblick anstehen kann, zu sagen, sie gehöre keineswegs zu jenen einfachen Wahrheiten, welche g
Vgl. RaB, S. 5.
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Der doppelte Auftakt, Teil 1: Bernard Bolzano 1817 man eben deshalb, weil sie nur Grund von andern, selbst keine Folgen sind, Grundsätze oder Grundwahrheiten nennet; sie sei vielmehr ein Lehrsatz oder eine Folgewahrheit, d. h. eine solche Wahrheit, die ihren Grund in gewissen anderen hat und daher auch in der Wissenschaft durch Herleitung aus denselben dargetan werden muss.“ (RaB, S. 5) Eine „Folgewahrheit“ ist eine Wahrheit, die in „objektiver Abhängigkeit“i von anderen Wahrheiten besteht. Erkenntnis und Ontologie Bei D ESCARTES waren „klare und distinkte Erkennis“ und „Wahrheit“ eins. B OLZA - S. 38 NO trennt die „Gewissmachung“ von der „Begründung“ scharf. Die „Gewissmachung“ interessiert B OLZANO weniger. Vorrangig ist ihm die „Begründung“, die „Darstellung der objektiven Gründe“. Eine „objektive Wahrheit“ oder „Wahrheit an sich“ ist für B OLZANO ein „Satz an sich“ j . – Allgemein: „Unter einem Satze an sich verstehe ich nur irgendeine Aussage, dass etwas ist oder nicht ist; gleichviel, ob diese Aussage wahr oder falsch ist; ob sie von irgendjemand in Worte gefasst oder nicht gefasst, ja auch im Geiste nur gedacht oder nicht gedacht worden ist. Verlangt man ein Beispiel, wo das Wort Satz in der hier festgesetzten Bedeutung erscheint: so gebe ich Folgendes, dem viele Ähnliche zur Seite gestellt werden können. »Gott, als der Allwissende, kennt nicht nur alle wahren, sondern auch alle falschen Sätze; nicht nur diejenigen, die irgendein geschaffenes Wesen für wahr hält, oder von denen es sich eine Vorstellung macht, sondern auch jene, die niemand für wahr hält, oder sich auch nur vorstellt, oder je vorstellen wird.«“ (WL, 1, § 19, S. 77) Ein solcher „Satz an sich“ ist – trotz der Etymologie – nichts Gesetztes, kein „Etwas, welches von jemand gesetzt (also auf irgendeine Art hervorgebracht oder verändert) worden ist.“k Ganz im Gegenteil: Die „Wahrheiten an sich“ „werden von niemand, selbst vom göttlichen Verstande nicht gesetzt. Es ist nicht etwas wahr, weil es Gott so erkennt; sondern im Gegenteil Gott erkennt es so, weil es so ist.“ (WL, 1, § 25 d) S. 115) Gegenüber D ESCARTES hat der Priester B OLZANO den Gott schon ein gutes Stück weit aus dem Weltgeschehen verabschiedet. Die „Wahrheit an sich“ besteht ohne Gottes Zutun. Und der Mensch kann sie kraft seines Verstandes erkennen, indem er die logischen Verhältnisse der „Sätze an sich“ betrachtet. Zur Wahrheit gelangt man, B OLZANO zufolge, durch logische Analyse der Sätze an sich. i
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4. Die Begründung der Werte-Analysis Eine fachliche Erkenntnis aus der Forderung nach logischer Methodenreinheit Aus seiner Forderung nach logischer Methodenreinheit gewinnt B OLZANO eine überraschende Konsequenz: „Nun denke, wer da will, dem objektiven Grunde nach, warum eine Linie unter den vorhin erwähnten Umständen ihre Abszissenlinie durchschneide: so wird gewiss jeder sehr bald gewahr werden, dass dieser Grund in nichts Anderem liege als in jener allgemeinen Wahrheit, zufolge derer jede stetige Funktion von x, welche für einen Wert von x positiv, für einen andern negativ wird, für irgendeinen dazwischen liegenden Wert von x zu Null werden muss. Und dies ist eben die Wahrheit, die hier bewiesen werden soll.“ (RaB, S. 5 f.)
S. 266
„Nun denke, wer da will [. . . ]“. Hier spricht jenes selbstbewusste Subjekt, das – wenn es sich sozialpolitisch äußert – von der Obrigkeit als gefährlich erkannt und kaltgestellt wird. In dieser Abhandlung äußert sich B OLZANO nicht sozialpolitisch, sondern mathematisch – jedoch in vergleichbarer Weise revolutionär: Kein Mathematiker vor ihm ließ je die Behauptung drucken, der Begriff „Funktionswert“ gehöre in den Kanon der mathematischen „Grundwahrheiten“.181 Ganz im Gegenteil! Gerade einmal 30 Jahre vorher hatte es der akademische Mathematiker L AGRANGE noch ausdrücklich abgelehnt, einen Lehrsatz über „Funktionen“ deswegen infrage zu stellen, weil dieser Lehrsatz für einzelne „Funktionswerte“ ungültig ist. B OLZANO stürzt die – seit und durch E ULER kanoniserte – Sichtweise um, die Funktionenlehre (oder: Analysis) sei auf den allgemeinen Größenbegriff zu gründen. Stattdessen verlangt B OLZANO jetzt, den Begriff „Funktion“ an den Begriff „Wert“ zu binden und darauf zu gründen. B OLZANO bringt das Singuläre – den „Wert“ – gegen das Allgemeine – die „Größe“ – in Stellung. Er stellt das individuelle Subjekt gegen und über die herrschende Ordnung der sich auf Gott berufenden absoluten Herrschaft. Der republikanische Geist begehrt gegen die absolutistische Denkweise auf. BOLZANOS DURCHFÜHRUNG SEINES PROGRAMMS Hier ist nicht der Raum, B OLZANOs mathematische Leistung umfassend darzustellen und zu würdigen. Auch eine Untersuchung der Quellen, aus denen er ge181
Eine Ausnahme davon stellt das 1812/13 in Wien erschienene zweibändige Werk Anfangsgründe der gesammten theoretischen Mathematik von J OHANN PASQUICH (1753–1829) dar. Dort wird eine Grundlegung der Mathematik aus der Sicht der anwendungsbezogen arbeitenden Mathematik unternommen. Aber dieser Teil der Mathematik wird weder von den damaligen akademischen Mathematikern noch von der heutigen Mathematikgeschichtsschreibung zur Kenntnis genommen. Zwar muss sich PASQUICH einige mathematische Kritik an seinem Werk gefallen lassen, doch spricht der Praktiker dort z. B. in unerreichter Deutlichkeit die einfache Wahrheit aus, dass (auch) mathematisches Tun „Arbeit“ sei. Für B OLZANO – der PASQUICH in den Jahren 1809/10 und das genannte Werk eingehend im Oktober 1813 studiert hat (vgl. Bolzano 1979, Bolzano 1983) – dürfte dieses Werk eine Inspiration für seine eigene Grundlegung der Mathematik gewesen sein.
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Der doppelte Auftakt, Teil 1: Bernard Bolzano 1817 schöpft hat, muss hier unterbleiben. Ich muss mich hier auf die knappe Darstellung des mathematischen Kerns seiner analytischen Neuerungen beschränken – und dabei wiederum zuerst auf seine zu seinen Lebzeiten publizierten Texte. Seine umfangreichen, jedoch erst ab 1975 publizierten Manuskripte müssen hier im Wesentlichen außen vor bleiben – so interessant und, gemessen an der Entstehungszeit 1830−35, für Jahrzehnte einzigartig etwa seine Konstruktion eines analytischen Zahlbegriffs auch ist.182 Stetigkeit Das letzte Langzitat B OLZANOs zeigt schon, dass er offenkundig einen anderen Begriff von „Stetigkeit“ hat, als ihn E ULER statuierte. Und so ist es: S. 253 „Nach einer richtigen Erklärung nämlich versteht man unter der Redensart, dass eine Funktion f (x) für alle Werte von x, die inner- oder außerhalb gewisser Grenzen liegen [. . . ], nach dem Gesetze der Stetigkeit sich ändre, nur so viel, dass, wenn x irgendein solcher Wert ist, der Unterschied f (x+ω)− f (x) kleiner als jede gegebene Größe gemacht werden könne, wenn man ω so klein, als man nur immer will, annehmen kann; [. . . ]“ (RaB, S. 7 f.) Prüfen wir diese Definition genau! (1) Wir ignorieren die Ungenauigkeit, dass B OLZANO mit „x“ hier zuerst eine „Veränderliche“, dann aber einen ihrer „Werte“ bezeichnet.183 (2) Was meint B OLZANO mit „ω“? Das steht nicht in dieser Abhandlung, wohl aber ganz ausdrücklich in der zeitgleich verfassten und kurz zuvor publizierten mit dem schönen Titel: „Der binomische Lehrsatz, und als Folgerung aus ihm der polynomische, und die Reihen, die zur Berechnung der Logarithmen und der Exponentialgrößen dienen, genauer als bisher erwiesen“. Dort lautet § 14 kurz und bündig: „Willkürlicher Satz. Eine Größe zu bezeichnen, die kleiner als jede gegebene werden kann, wählen wir das Zeichen ω, Ω, oder sonst ein ähnliches.“ (Bolzano 1816, S. 15) Damit ist klar: Das ω in B OLZANOs Stetigkeitsdefinition bezeichnet eine „Veränderliche“.184 182
Dazu etwa Spalt 1990a, Spalt 1991a; siehe aber auch die Seiten 242, 286 f., 451, 679. Merkwürdigerweise kreidet niemand B OLZANO diese Ungenauigkeit an, nicht einmal Rusnock und Kerr-Lawson 2005, die diese Definition doch akribisch analysieren. 184 Rusnock und Kerr-Lawson 2005, S. 306 ziehen zur Begründung dieses Urteils § 15 von Bolzanos früherer Abhandlung heran. Dabei dürften sie Seiten- und Paragrafennummer verwechselt haben. 183
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4. Die Begründung der Werte-Analysis (3) Die Betragsstriche, die wir heute in der Formel | f (x + ω) − f (x)| < ε schreiben, hat B OLZANO im Wort „Unterschied“ aufgenommen. Derartige Betragsstriche werden generell erst in späterer Zeit geschrieben. (4) Rusnock und Kerr-Lawson 2005, S. 306 bezeichnen © ª es als „natürlich“, B OLZA NO hier den Variabilitätsbereich w | − ω0 5 w 5 ω0 (also positive und negative „Werte“) für ω anzudichten. Dies verkennt, dass im Jahr 1817 eine „Größe“ immer als entweder „positiv“ oder als „negativ“ gedacht wurde, niemals jedoch als beides zugleich, wie es die beiden modernen Historiker behaupten. Auch wenn B OLZANO den Begriff „Wert“ unstreitig in den Kanon der analytischen Anfangsbegriffe aufnimmt, so macht er ihn doch nicht zum alleinigen Grundbegriff (oder gar: Anfangsbegriff) der Analysis. Einen nach wie vor maßgeblichen Platz unter den analytischen Anfangsbegriffen nimmt auch bei B OLZANO die „Größe“ ein. Dies zeigt sich in der obigen Stetigkeitsdefinition: Dort ist „x“ zunächst eine „Größe“, dann ein „Wert“, und das in dieser Definition wichtige „ω“ ist ebenfalls eine (veränderliche) „Größe“. Richtig ist daher: Es ist unsicher, ob B OLZANO 1817 auch negative „Größen“ ω in Betracht zog. In seinem späteren Manuskript Funktionenlehre jedenfalls hat er das ganz ausdrücklich getan. 185 Dennoch definiert B OLZANO nur die einseitige Stetigkeit – in seiner späteren Manuskriptversion sogar für beide Seiten, aber auch dort nur getrennt: eben weil damals kein Mathematiker – und auch B OLZANO nicht! – an „Größen“ mit „Werten“ wechselnder Vorzeichen dachte. Es waren die Größen „positiv“ oder „negativ“, nicht aber deren „Werte“; diese waren stets „absolute“ Zahlen.186 (In der konkre185
B OLZANOs pedantische Stetigkeitsdefinition in einem einzigen Satz und ohne jegliche Gleichung wie Ungleichung: „Wenn eine einförmige Funktion Fx von einer oder auch mehreren Veränderlichen so beschaffen ist, dass die Veränderung, die sie erfährt, indem eine ihrer Veränderlichen x aus dem bestimmten Werte x in den veränderten x + ∆x übergehet, in das Unendliche abnimmt, wenn ∆x in das Unendliche abnimmt, wenn also der Wert Fx sowohl als auch der Wert F(x + ∆x), der Letztere wenigstens anzufangen von einem gewissen Werte der Differenz ∆x für alle kleineren abermals messbar ist, der Unterschied F(x + ∆x) − Fx aber seinem absoluten Werte nach kleiner als jeder gegebene Bruch N1 wird und verbleibt, wenn man nur ∆x klein genug nimmt, und so klein man es dann auch noch ferner werden lässt: so sage ich, dass sich die Funktion Fx für den Wert x stetig verändere, und zwar bei einem positiven Zuwachse oder in positiver Richtung, wenn das nur eben Gesagte bei einem positiven Werte von ∆x eintritt; und dass sie dagegen sich stetig verändere bei einem negativen Zuwachse von x oder in negativer Richtung, wenn das Gesagte bei einem negativen Werte von ∆x statt hat: wenn endlich das Gesagte bei einem positiven sowohl als negativen Zuwachse von x gilt; so sage ich schlechtweg nur, dass Fx stetig sei für den Wert x, oder ich setze, wenn etwa ein Missstand zu besorgen ist, zu, dass Fx stetig sei für einen positiven sowohl als negativen Zuwachs.“ (FL, I, § 2, S. 14 f. = FLGA , fs. 9v , 10r ) 186 Diese Beobachtung fehlt bei Rusnock und Kerr-Lawson 2005. Wenn Jarník 1961, S. 83 die einseitige Stetigkeit als eine Spezialisierung des Stetigkeitsbegriffs darstellt, zeigt dies freilich, dass er
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Der doppelte Auftakt, Teil 1: Bernard Bolzano 1817 ten Rechenpraxis freilich kommen B OLZANO gelegentlich auch negative „Werte“ unter!l ) (5) Dass der Unterschied f (x + ω) − f (x) nicht nur gelegentlich „kleiner als jede gegebene Größe gemacht werden“ könne, sondern (ab irgendeinem „Wert“ der „Veränderlichen“ ω) stets, scheint mir B OLZANOs selbstverständliche Meinung zu sein.187 (B OLZANOs spätere, ausführlichere Definition der Stetigkeit in seiner Funktionenlehre 188 lässt hier keinen Zweifel.) (6) Die „Sicherheitsmarge“, die wir heute189 durch den griechischen Buchstaben δ bezeichnen, nennt B OLZANO 1817 nicht, wohl aber in seiner späteren Langfassung („[. . . ] der Letztere wenigstens anzufangen von einem gewissen Werte der Differenz [. . . ]“). Dieser „Wert“ ist unser heutiges „δ“. Allenfalls dies könnte man B OLZANOs Definition von 1817 als einen – geringfügigen – Mangel ankreiden.190 Mit dieser sehr geringfügigen Einschränkung können wir sagen: Das Obige ist genau die heute noch übliche sogenannte „ε-δ-Definition der Stetigkeit“ (sie wird hier wegen E ULERs früherer abweichender Begriffsbildung ‚WStetigkeit‘ genannt). S. 253 Es gilt einzig die Einschränkung, dass für B OLZANO (wie für seine Zeitgenossen) eine „veränderliche Größe“ entweder positiv oder negativ ist, sodass hier zwar die „punktweise“, aber nur die „einseitige“ Stetigkeit definiert wird.
Lokale Stetigkeit vor Bolzano (und Cauchy) Wenn man nicht die höchsten Ansprüche an die Präzision stellt, darf man A BRAHAM G OTTHELF K ÄSTNER (1719–1800) als ersten Lehrer der ‚WStetigkeit‘ (häufig auch: „lokale“ Stetigkeit) bezeichnen. Denn bereits in dessen erstmals 1760 erschienenen Lehrbuch Anfangsgründe der Analysis endlicher Größen heißt es in § 322: „Erklärung. In einer Reihe von Größen, erfolgt das Wachstum oder das Abnehmen derselben, nach dem Gesetze der Stetigkeit (lege continui) wenn nach jedem Gliede der Reihe eines folget, oder vor ihm vorhergehen kann, das so wenig als man nur will von dem angenommenen Gliede unterschieden ist, sodass der Unterschied zweier aufeinanderfolgenden Glieder, weniger als jede gegebene Größe betragen kann.“ (Kästner 1760, § 322, S. 180) Dies ist der heutige Begriff der Stetigkeit, formuliert jedoch nicht für „Funktionen“ (und deren „Werte“), sondern allgemeiner für „Größen“ und ohne den Begriff „Wert“, jedoch in analytischen Begriffen („Größe“, „Reihe“, „Glied“), nicht etwa in geometrischen. l
Vgl. etwa FL, I, § 35, S. 39 = FLGA , f. 28r .
den Gang dieser geschichtlichen Begriffsentwicklung verkennt: Auch hier entwickelte sich der allgemeinere Begriff („beidseitige“ Stetigkeit) aus dem spezielleren („einseitige“ Stetigkeit). 187 Rusnock und Kerr-Lawson 2005, S. 305 f. diskutieren dies länglich und kommen zum selben Ergebnis wie ich. 188 Siehe in Anmerkung 185. 189 Der heutige Stetigkeitsbegriff ist ab S. 254 dargestellt. 190 Merkwürdigerweise unterlassen Rusnock und Kerr-Lawson 2005 dies.
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4. Die Begründung der Werte-Analysis Konvergenz Auch mit seinem Konvergenzbegriff kehrt sich B OLZANO von der Algebraischen Analysis ab.191 B OLZANO betrachtet Reihen von „Größen“ (wir sagen dazu heute: „Folgen“ von „Funktionen einer Veränderlichen“), die er so notiert – B OLZANO schreibt Kommata, wo wir heute Pluszeichen haben: F 1 (x), F 2 (x), F 3 (x), . . . , F n (x), . . . , F n+r (x), . . . und klassifiziert: „Unter diesen ist besonders merkwürdig die Klasse derjenigen Reihen, welche die Eigenschaft besitzen, dass die Veränderung (Zu- oder Abnahme), welche ihr Wert durch eine auch noch so weit getriebene Fortsetzung ihrer Glieder erleidet, immer kleiner verbleibt als eine gewisse Größe, die wieder selbst so klein, als man nur immer will, angenommen werden kann, wenn man die Reihe schon vorher weit genug fortgesetzt hat.“ (RaB, S. 19 f.) B OLZANOs Formulierung „[. . . ] durch eine auch noch so weit getriebene Fortsetzung ihrer Glieder [. . . ] immer kleiner verbleibt als [ein beliebig gewähltes ε > 0], wenn man die Reihe schon vorher weit genug fortgesetzt hat [. . . ]“ ist sehr knapp und dicht. Es handelt sich hier um eine wunderbare Prosaformulierung für den tiefliegenden (d. h.: logisch anspruchsvollen) – heutigen – Begriff der Konvergenz. Wir Mathematikerinnen und Mathematiker sind heute darauf dressiert, das mittels der logischen „Quantoren“ („es gibt“ und „für alle“) zu formulieren, und sagen stattdessen, aber in derselben Bedeutung: Für jedes ε > 0 gibt es eine natürliche Zahl n, sodass für jede natürliche Zahl r gilt: |F n (x) + F n+1 (x) + F n+2 (x) + . . . + F n+r (x)| < ε . Das ist zwar sprachlich kürzer, aber wer nicht in Formulierungen mit logischen „Quantoren“ eingeübt ist, wird diese knappere Formulierung weniger gut verstehen als B OLZANOs prosaische längere. Die Bedeutung beider ist, wie gesagt, dieselbe. Klar ist jedenfalls: Bei der „Konvergenz“ fragt B OLZANO nach dem „Wert“ der (beliebig weit getriebenen) „Fortsetzung“ der Reihe und verlangt von ihm, „immer kleiner zu verbleiben als jede gegeben Größe“. B OLZANO gibt auch hier ein an einem „Wert“ bemessenes Kriterium. Dies ist genau das gewöhnlich nach C AUCHY benannte allgemeine Konvergenz191
Es sei an die ‚AKonvergenz‘ erinnert: siehe S. 246.
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Der doppelte Auftakt, Teil 1: Bernard Bolzano 1817 kriterium für Reihen, also jener Begriff, den wir hier ‚WKonvergenz‘ nennen.192 Dabei sei betont: In B OLZANOs Bestimmung ist von keinem „Grenzwert“ die Rede. Das könnte Anlass geben, genau diesen Begriff zu bilden und ihn etwa ‚KonvergenzBz‘ zu taufen. ‚KonvergentBz‘ besagte dann die Geltung der von B OLZANO (und später auch von C AUCHY) formulierten Bedingung an die Reihe – ohne Bezugnahme auf einen „Grenzwert“. Achtung: Dieser Sprachgebrauch unterscheidet sich von dem heute in der Analysis Üblichen! Wählte man ihn dennoch,193 so ermöglichte er eine eindeutigere Redeweise: Wenn dann von ‚KonvergenzBz‘ die Rede wäre, würde damit nicht zugleich die Existenz eines „Grenzwerts“ behauptet. Die Formulierung „Die Folge (a n )n∈N ist ‚konvergentBz‘ gegen a.“ besagt ein Doppeltes: „(i) Es gilt die KonvergenzBz-Bedingung; und (ii) a ist der Grenzwert.“ Doch wenn die Bedingung (i) gilt, dann existiert – unter gewissen Umständen – beweisbar ein Grenzwert (ii) für diese Folge. – Beim heute üblichen Sprachgebrauch ist die Formulierung „Die Folge (a n )n∈N ist »konvergent« gegen a.“ ein Pleonasmus und hat eher die Bedeutung: „a ist tatsächlich der Grenzwert der Folge.“ Wir werden sehen, dass diese üppigere Fassung von C AUCHY rührt. S. 321 B OLZANO fasst das Kriterium rein sprachlich und kommt ohne jegliche Symbolik aus. Er gibt ihm keinen Namen. Statt „. . . kleiner verbleibt als eine gewisse Größe, die . . . “ hätte B OLZANO noch genauer formulieren können: „. . . kleiner verbleibt als ein gewisser Wert, der . . . “. „Werte“ sind für B OLZANO stets „absolut“, haben also kein „Vorzeichen“. Jedenfalls: B OLZANO veröffentlicht hier das allgemeine Konvergenzkriterium, vier Jahre früher als C AUCHY. Und ein Vorbild dazu gab es nicht.
Grenze In einem Lehrsatz dieser Abhandlung findet sich die folgende Formulierung: Hat man eine Reihe von veränderlichen Größen, so kann der Fall eintreten, dass „es jedesmal eine gewisse beständige Größe [gibt], und zwar nur eine, der sich die Glieder dieser Reihe immer mehr nähern, und der sie so nahe kommen können, als man nur will, wenn man die Reihe weit genug fortsetzt.“ (RaB, S. 21) Eine solche Größe wird gewöhnlich „Grenze“ (hier: der Reihe veränderlicher Größen) genannt. B OLZANO tauft diesen Sachverhalt nicht – wie er auch den Sachverhalt ‚WKonvergenz‘ zwar mit großer Genauigkeit beschreibt (‚konvergentBz ‘), aber nicht tauft. Aber wie bei der ‚WKonvergenz‘, so sind wir auch hier berechtigt, zu sagen: B OLZANO hat den Sachverhalt der (eindeutig bestimmten) „Grenze“ klar beschrieben. 192
Siehe S. 246.
193
Beispielsweise Tannery 1886, S. 39 ist so verfahren.
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4. Die Begründung der Werte-Analysis Zahl, Veränderliche, Wert, Funktion und Größe Seine Begriffe von „Zahl“, „Veränderliche“, „Wert“, „Funktion“ und „Größe“ erklärt B OLZANO nur in seinen nachgelassenen Manuskripten. Daher kommen wir nicht umhin, einen kurzen Blick in diese erst ab 1975 publizierten Texte zu werfen, wenn wir B OLZANOs Denken verstehen wollen. Zahl
Die „Zahlen“ denkt B OLZANO stets nur im Kollektiv, genauer: in Reihen. Als Erstes erklärt er den Begriff „Reihe der natürlichen Zahlen“ – wie, das braucht uns hier nicht zu interessieren. Als wesentlich heben wir nur hervor, dass B OLZANO das erste Glied der Reihe der natürlichen Zahlen als eine „Einheit einer beliebigen Art“ bestimmt, die anderen Reihenglieder als „Summen“.m Wenn nun eine „Einheit einer anderen Art A“ betrachtet wird, so ensteht daraus die Reihe der „Zahlen von der Art A“. Und jetzt kann B OLZANO die Begriffe „abstrakte“ und „konkrete Zahl“ bilden: „Die Beschaffenheit, vermöge deren ein jedes dieser Glieder zu einer Zahl wird (die es somit behält, wie auch die Gegenstände selbst, die man zu Einheiten annimmt, gewechselt werden mögen), nenne ich eine Zahl in der abstrakten Bedeutung des Wortes, oder eine abstrakte Zahl; und im Gegensatze mit solchen abstrakten Zahlen (d. h. den bloßen Beschaffenheiten) nenne ich die Glieder selbst konkrete Zahlen oder Zahlen in der konkreten Bedeutung des Wortes. Diese konkreten Zahlen werden im Deutschen, besonders mit Ausnahme der ersten oder der Einheit, auch Anzahlen genannt. “ (RZ, f. 1v ) Etwas anschaulicher gesprochen nennt B OLZANO also die „natürlichen Zahlen“ 1, 2, 3 usw. „abstrakte Zahlen“, während 2 Äpfel, 5 l Milch und 8 Groschen „konkrete Zahlen“ sind. Letzteres zeigt: Auch die „angewandte Mathematik“194 gilt für Mathematik! Allerdings sind „konkrete Zahlen“ Dinge (nämlich „Einheiten“ oder „Inbegriffe von Einheiten“), die wir uns „unter gewissen Begriffen aufgefasst“ denken – und nicht etwa Begriffe. B OLZANO betont (er formuliert das sogar eigens in einem „Lehrsatz“), der Begriff der Zahl enthalte nicht den Begriff der Zeit.n Der Grund dafür besteht darin, dass B OLZANO den Begriff der Zeit auch nicht in seinen Begriff „Reihe“ aufgenommen haben will.195 Wichtig an B OLZANOs Zahlbegriff ist noch das Folgende: (1) B OLZANOs „Zahl“ ist keine „Menge von Dingen (derselben Art)“. Zum Ersten, m 194 195
Vgl. RZ, fs 1r , 1v , weniger detailliert auch WL, 1, § 87.4, S. 410.
n
Vgl. RZ, fs 11r , 12v .
Den Begriff „Angewandte Mathematik“ hat bereits K ÄSTNER. B OLZANOs Erklärung des Begriffs „Reihe“ findet sich in EG, fs 159r –160r . Wir wollen ihm hier nicht nachgehen.
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Der doppelte Auftakt, Teil 1: Bernard Bolzano 1817 weil „wir bekanntlich auch die Einheit als eine Zahl zu betrachten pflegen“o – und ein einzelnes Ding ist oder bildet für B OLZANO – und zu B OLZANOs Zeit – keine „Menge“. Zum Zweiten, weil „es auch Mengen oder Inbegriffe gibt, die aus unendlich vielen Einheiten bestehen. Solche unendliche[n] Mengen aber können auf keine Weise gezählt werden, wie man sie denn eben deshalb auch unzählbar nennt, und somit dürfen sie nicht als Zahlen in der eigentlichen Bedeutung des Wortes angesehen werden.[196] “ (RZ, f. 5r ) B OLZANO folgt hier dem von ihm sehr geschätzten L EIBNIZ, für den das Unendliche kein Eines war.197 Allerdings wird es B OLZANO belassen. S. 679 bei p p dabei nicht 1 1 (2) Offenkundig fallen die Gegenstände 4 , 2, −1, ∞, ∞ , 0 nicht unter B OL - Anm. a ZANO s Zahlbegriff. B OLZANO nennt sie Zahlen „in uneigentlicher Bedeutung“p . Es sind „bloße Vorstellungen von Zahlen [. . . ], denen kein Gegenstand entspricht, indem sie eine Zahl mit Bestimmungen denken, die sich in ihr nicht vereinigen lassen.“ (RZ, f. 2v ) Es handelt sich um „gegenstandlose Vorstellungen“q . Veränderliche, Wert
Für unsere Zwecke hier können wir die Begriffe „Begriff“ und „Vorstellung“ bei B OLZANO identifizieren.198 Damit verstehen wir B OLZANOs Begriffspaar „einförmig“/„mehrförmig“: Eine Zahlenvorstellung, die bezogen auf einerlei Einheit nur ein einziges in derselben Zahlenreihe vorkommendes Glied vorstellt, heißt einförmig; jede andere heißt zwei-, drei- oder mehrförmig. (Vgl. RZ, f. 10r .) Diese Begriffsbildung erlaubt es B OLZANO, den Begriff der „Veränderlichen“ – und nebenbei: den Begriff „Wert“! – ohne Bezugnahme auf die Zeit zu fassen: Ist die Zahlenvorstellung M mehrförmig, so heißen jene Zahlenvorstellungen, die unter M fallen, auch die Werte von M , und M heißt veränderlich. Sind jene Zahlenvorstellungen, die unter M fallen (die „Werte“) selbst mehrförmig, so heißen sie unbestimmte Werte, sonst bestimmte oder einzelne Werte. (Vgl. RZ, fs 10v , 11r .) o
RZ, f. 4v
p
RZ, f. 2v
q
RZ, f. 3r
196
Im Weiteren führt B OLZANO aus, es sei „auch bloß eine endliche Menge von Einheiten noch nicht sofort eine Zahl, sondern wir unterscheiden gezählte und nicht gezählte Mengen; und nur die Erstern nennen wir Zahlen (in der konkreten Bedeutung des Wortes). “ (RZ, f. 5r ) 197 Siehe S. 98 bei Anmerkung u, auch S. 133, und vgl. dazu C ANTORs Bestimmung, wiedergegeben auf S. 638. 198 Genaueres etwa in WL, 1, § 23.9, S. 99 und § 73 S. 330.
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4. Die Begründung der Werte-Analysis Hier zeigt sich der strenge logische Denker B OLZANO: „Zeit“ gehört nicht in die Mathematik! Und beiläufig bestimmt B OLZANO hier auch seinen neuen Grundbegriff der Analysis, den Begriff „Wert“: „Wert“ ist irgendein Zahlbegriff. „Wert“ muss also keine wirkliche „Zahl“ sein, sondern es kann sich auch um einen Zahlbegriff in „uneigentlicher p Bedeutung“, um einen „gegenstandlosen Begriff“ handeln – wie etwa 0, 1 ∞, 4 oder −2. Funktion, Größe
Den Begriff „Funktion“ fasst B OLZANO in einer radikal allgemeinen Weise: ˜ „Die veränderliche Größe W [ist] eine Funktion von einer oder mehr veränderlichen Größen X , Y , Z , wenn es gewisse Sätze von der Form: d»edie[199] Größe W hat die Beschaffenheit w, w 1 , w 2 d«e gibt, welche ableitbar sind aus gewissen Sätzen der Form d»edie[200] Größe X hat die Beschaffenheit ξ, ξ0 , ξ00 , – die Größe Y hat die Beschaffenheit η, η0 , η00 ; die Größe Z hat die Beschaffenheit ζ, ζ0 , ζ00 , u. s. w.d«e“ (AG, fs 11v , 12r )
„Funktion“ ist demnach für B OLZANO eine grundsätzlich beliebige Bestimmung der Eigenschaften („Beschaffenheiten“) einer (zu bestimmenden) „Größe“ durch die Eigenschaften („Beschaffenheiten“) anderer (der bestimmenden) „Größen“. Keine Rede von einem „Rechenausdruck“, von einer „Gleichung“ oder auch nur von einer „Abhängigkeit“ – und schon gar keine Rede von einer vorausgesetzten „krummen Linie“; sondern einfach nur: „Sätze“, die irgendwelche Eigenschaften von „Größen“ aus Sätzen „ableiten“, die ihrerseits irgendwelche Eigenschaften anderer „Größen“ beschreiben. Wir müssen noch schauen, was B OLZANO unter „Größe“ versteht. Zunächst seine Vorüberlegung: „Ich halte nämlich dafür, dass man am Besten tue, zweierlei Bedeutungen, in denen das Wort Größe genommen wird, eine weitere, und eine engere zu unterscheiden. Unter den Größen im engeren Sinne [ist] nur eben das zu verstehen, was man sonst wohl auch stetige Größen nennt; im weiteren Sinne [ist] aber das Wort so anzunehmen, dass es neben den stetigen auch noch die sogenannten unstetigen oder diskreten Größen, doch sonst nichts anderes umfasse.“ (EG, f. 1r ) Dann seine Bestimmung: „In diesem weiteren Sinne nennen wir nun (wie ich glaube) jeden Gegenstand eine Größe (QUANTUM), wenn wir denselben als gehörig zu einer solchen Art von Dingen betrachten, deren je zwei immer nur ei199
in der Edition: „der“
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Der doppelte Auftakt, Teil 1: Bernard Bolzano 1817 nes von folgenden zwei Verhältnissen gegeneinander behaupten können: sie müssen entweder einander gleich sein, oder das eine derselben muss einen dem andern gleichen Teil enthalten.“ (EG, f. 1v ) Eine B OLZANO’sche „Größe“ ist ein Gegenstand, den man mit anderen Gegenständen in genau eine der beiden Beziehungen: (i) „gleich“ und (ii) „ist als Teil enthalten in“ setzen kann. Die beiden Gegenstände müssen „gleich“ oder einer „als Teil im andern enthalten“ sein. D ’A LEMBERT hatte im Jahr 1771 in der Encyclopédie noch verlangt, „Größen“ S. 256 müssten miteinander „verglichen“ und als „kleiner“ oder „größer“ bzw. „gleich“ oder „ungleich“ erkannt werden können.r B OLZANO dampft diese Forderung auf ihren logischen Kern ein: auf die Grundverhältnisse „gleich“ oder „als [echter] Teil enthalten“. Fragen wir nun: Gibt es solche „Gegenstände“, von denen B OLZANO hier spricht, eigentlich? Gibt es zwei „Gegenstände“ einer Art, die „einander gleich sind“? Oder vor allem: von denen der eine „Gegenstand“ einen „Teil enthält“, der dem anderen „Gegenstand“ „gleich“ ist? Mir fallen keine wirklichen Gegenstände ein, die diese Eigenschaften aufweisen. (Man wird vielleicht, wie schon E ULER, an Geldmengen denken. Aber zwei verschiedene sol- S. 222 che Mengen sind eben nicht gleich, sondern „gleich“ allenfalls hinsichtlich ihrer „Werte“.) B OLZANO nennt auch keine. Mir scheint: Wirkliche „Gegenstände“ solcher Art gibt es schwerlich. Sollte dies zutreffen, so bedeutete das: B OLZANO bestimmt hier keine wirklichen Gegenstände, sondern abstrakte Begriffe – in der Sprache B OLZANOs: „gegenstandlose Begriffe“. Demnach wäre B OLZANOs „Größe“ ein abstrakter Begriff, der abstrakte Begriffe nach einem der beiden „Verhältnisse“ „gleich“/„enthält einen dem anderen gleichen Teil“ betrachtet. Ein Beispiel für eine solche B OLZANO’sche „Größe“ ist etwa jede Gesamtheit gerader Linien endlicher Länge („Strecken“). Betrachtet man endlich viele solcher Strecken, liegt eine diskrete „Größe“ vor; betrachtet man alle Strecken – sagen wir: der Länge höchstens 1 –, hat man eine kontinuierliche „Größe“.
Ein gutes halbes Jahrhundert später wird G EORG C ANTOR solche Gegenstände, die B OLZANO „Größe“ genannt hat, auf den Namen „Menge“ taufen und damit ei- S. 138; 638 ne neuerliche Revolution der Analysis einläuten. Bei B OLZANO ist diese neue C AN TOR ’sche Revolution zur „Mengen-Analysis“ schon angebahnt. Es konnte nur niemand bemerken: B OLZANOs diesbezügliche Manuskripte blieben im 19. Jahrhundert ungedruckt. Gedruckt – wenn auch erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts rezipiert – wurde B OLZANOs „Rein analytischer Beweis . . . “, ein Text des jungen B OLZANO, der ihm immerhin und zu Recht den Ehrentitel „Begründer der Werte-Analysis“ einträgt. r
Vgl. d’Alembert 1771, S. 653, Sp. 1.
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4. Die Begründung der Werte-Analysis
Kapriziöse Funktionen
Wer einen solch allgemeinen Begriff der Funktion propagiert, wie dies B OLZA NO getan hat, dem sollten auch ‚kapriziöse‘ Funktionen201 in Betracht kommen, Funktionen also mit vollkommen unerwarteten analytischen Eigenschaften. So war es auch. Gleich zu Beginn des ersten Abschnitts seines Manuskriptes Funktionenlehre konstruiert B OLZANO die folgende Funktion, übrigens zur Motivation des Begriffs „stetig“. B OLZANO gibt seine Konstruktion in vielen Worten und langen Sätzen, ich notiere hier etwas kompakter: „Da es [. . . ] erlaubt ist, uns das Gesetz der Abhängigkeit einer Zahl von einer anderen zu denken, wie wir wollen,“s können wir uns folgende Funktion denken: ( hat (Fall α) a · x, falls x die Form 2m+1 2n W (x) = a · x + b sonst. (Fall β) (Vgl. FL, I, § 1 = FLGA , fs 9r , 9v .) Dabei sind a, b das, was B OLZANO „messbar“ nennt – wir dürfen sie uns als „reelle“ Zahlen denken – und b 6= 0. B OLZANO unterscheidet also bei der Definition des Funktionswertes W (x), ob der „Wert“ x ein (maximal gekürzter) Bruch mit einer Zweierpotenz als Nenner ist, oder ob dies nicht der Fall ist. Im ersten Fall (α) soll der Funktionswert ax sein, im zweiten Fall (β) soll dieser Wert um b vermehrt werden. Die Mathematiker erkennen sofort die besondere Vertracktheit dieser Definition: Die Fälle α und β liegen sowohl jeweils für sich als auch gegenseitig „dicht“. Das heißt: Zwischen je zwei Werten x des Falles α gibt es einen (und folglich: unendlich viele) Werte sowohl des Falles α als auch des Falles β. Und umgekehrt. Betrachten wir nun einen „Zuwachs“ ∆x der „Veränderlichen“ x.202 Sowohl für den „Wert“ x als auch für den um einen „Zuwachs“ vermehrten „Wert“ x + ∆x ist zu prüfen, nach welcher der beiden Vorschriften (Fall α oder Fall β) der zugehörige Wert W (x) bzw. W (x + ∆x) erklärt ist. Es ergeben sich vier verschiedene Kombinationen. Tragen wir diese vier Kombinationen, die sich für den „Zuwachs“ der Funktion ∆W = W (x + ∆x) − W (x) ergeben, in eine Tabelle ein: s
FL, I, § 1 = FLGA , f. 9r , Z. 12–14
201
In der Literatur sind andere Titel geläufig. Diese werden der Sache nicht gerecht. Diese Funktionen wurden nicht aus methodischen Gründen erfunden, sondern offenbarten Kapriolen der Begriffsbildung: schier unglaublich scheinende Phänomene. Auch W EIERSTRASS verwandte dieses Attribut: am 15.12.1874 in einem Brief an DU B OIS -R EYMOND (Acta mathematica 39 (1923), S. 205) und in einem Brief vom 16.12.1874 in einem Brief an S CHWARZ (Dugac 1973, S. 140). 202 Selbstverständlich (und übrigens anders als C AUCHY, der dies nicht für erforderlich hält) definiert B OLZANO den Begriff „Zuwachs“ – und zwar sowohl für Funktionen von einer als auch für Funktionen von mehreren Veränderlichen: FL, Einleitung § 4, S. 3 f. = FLGA , fs 2v , 3r . Das tut hier aber nichts zur Sache.
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Der doppelte Auftakt, Teil 1: Bernard Bolzano 1817
∆W = W (x + ∆x) − W (x) x + ∆x
x (Fall α)
(Fall β)
(Fall α)
a(x + ∆x) − ax = a∆x
a(x + ∆x) − (ax + b) = a∆x − b
(Fall β)
a(x + ∆x) + b − ax = a∆x + b
a(x + ∆x) + b − (ax + b) = a∆x
Wir sehen in den gerahmten Kästchen: Es ergeben sich drei verschiedene Berechnungsvorschriften für ∆W . Der Unterschied von je zweien dieser drei Werte ist b oder sogar 2b. Nun liegen die Fälle α und β, wie gesagt, sowohl jeweils für sich als auch gegenseitig „dicht“. Demzufolge gilt: Wenn die Differenz ∆x kleiner wird als jedes gegebene N1 , so wird – gleichgültig, ob x dem Fall α oder dem Fall β unterliegt – der Wert ∆W stets sämtliche drei Werte aus der obigen Tabelle annehmen – und verbleibt folglich niemals „beliebig klein“. (|∆W | wird zwar immer wieder = 0, aber dann sicher auch wieder = b und = 2b.) Mit anderen Worten: Diese Funktion W ist FÜR JEDEN W ERT x unstetig. Besonders interessant ist das Folgende: Der Mathematiker B OLZANO hat hier das philosophische Problem ignoriert, zu prüfen, ob die von ihm so definierte „Abhängigkeit“ W (x) überhaupt eine „Funktion“ bestimmt – ob also W (x) eine „Größe“ sei! Dem Philosophen B OLZANO sind hier die mathematischen Pferde durchgegangen. Klar ist: Eine Prüfung dieser Frage hätte notwendigerweise zu einem negativen Ergebnis geführt. Eine „Abhängigkeit“ ist keine „Größe“– nämlich kein „Gegenstand“ einer „Art“, sodass je zwei dieser „Gegenstände“ „entweder einander gleich sind“ oder der eine „einen dem anderen gleichen Teil enthält“! Die Sache steht ganz anders: Indem B OLZANO die „Abhängigkeit einer Zahl von einer anderen“ als Funktionsbestimmung erlaubt, formuliert er den größtmöglichen Allgemeinbegriff von „Funktion“, kurz gesagt: den noch heute allgemein akzeptierten (soweit es den überhaupt gibt) Funktionsbegriff (und damit das, was in der Vulgär-Mathematikgeschichte – unzutreffenderweise – der „D IRICHLET’sche Funktionsbegriff“ heißt). S. 364 Bolzanos berühmte kapriziöse Funktion
Als B OLZANOs Manuskript Funktionenlehre zu Beginn der 1920er Jahre analysiert wurde, stellte man eine andere darin enthaltene kapriziöse Funktion heraus. Sie ist recht verwickelt definiert und hat, B OLZANO zufolge, diese merkwürdige Eigenschaft: In keinem noch so kleinen Intervall ist sie monoton, oder, in B OLZANOs Worten: Es lässt sich kein Wert x und „kein ω klein genug auffinden [. . . ], um behaupten zu können, dass [Fx] innerhalb x und x ± ω nur eines von Beyden tue, fortwährend wachse oder fortwährend abnehme.“t Später nennt B OLZANO diese Funktion als ein Beispiel dafür, t
FL, I, § 75, S. 66 = FLGA , f. 49r
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4. Die Begründung der Werte-Analysis „dass eine Funktion sogar stetig sein könne und doch keine Abgeleitete hat“. (FL, II, § 19, S. 98 = FLGA , f. 74v ) (Unter „Abgeleitete“ versteht B OLZANO natürlich das, was wir heute „Ableitung“ nennen.) Der Erstveröffentlicher M ARTIN J AŠEK (1879–1945) sowie daran anknüpfend V OJ ˇ T ECH J ARNÍK (1897–1970) spitzten die Sache zu und behaupteten (und J ARNÍK bewies) von B OLZANOs Funktion, dass sie zwar stetig sei, jedoch an keinem (inneren) Wert ihres Definitionsintervalls eine endliche oder unendliche Ableitung besitze.u Auch der B OLZANO-Herausgeber B OB VAN R OOTSELAAR (1927–2006) merkte an, diese Funktion sei „sogar nirgends differenzierbar.“v Dies hatte Jašek 1923 bewiesen. Mit anderen Worten: Die Mathematiker des 20. Jahrhunderts waren bestrebt, B OLZANO als (ersten) Erfinder einer Funktion mit möglichst kapriziösen Eigenschaften zu präsentieren. B OLZANO selbst war nicht ganz so weit gegangen, sondern hatte seiner Funktion nur weniger exotische Eigenschaften attestiert. Zugleich kritisierten dieselben Mathematiker des 20. Jahrhunderts einige „Fehler“, die B OLZANO in seiner Funktionenlehre (und auch speziell bei seiner Untersuchung jener kompliziert definierten kapriziösen Funktion) unterlaufen seien. Hier ist nicht der Ort, diese Kritiken im Detail zu analysieren. Generell aber darf man sagen: Wie auch anderswo203 gilt hier, dass solche B OLZANO-Kritik manchmal übers Ziel hinausschießt und B OLZANO Unrecht tut. Zumeist übersieht diese Kritik, dass B OLZANO gewisse Begriffe anders definiert hat, als es von heute aus vermutet – und ihm unbesehen unterstellt – wird.
S. 316
Das bedeutet nicht, B OLZANO seien in seiner Analysis keinerlei Denkfehler unterlaufen; oft aber sind es nicht die, die ihm attestiert werden. So definiert B OLZANO beispielsweise die „Stetigkeit für Funktionen mehrerer Veränderlicher“ anders, als wir das heute tun – mit der Folge, dass mit diesem Begriff ein Lehrsatz beweisbar (und von B OLZANO bewiesen) wird, der nach unserem Begriff der „Stetigkeit für Funktionen mehrerer Veränderlicher“ falsch ist. Übrigens findet sich dieser fragliche Lehrsatz auch bei C AUCHY (wir werden darauf zu sprechen kommen), und er wird heutzutage auch C AUCHY als „falsch“ angekreidet, übrigens wiederum zu Unrecht. Allerdings stimmen B OLZANOs und C AUCHYs Begriffe der „Stetigkeit einer Funktion mehrerer Veränderlicher“ ihrerseits nicht miteinander überein – was die Sache etwas unübersichtlich gestaltet. Darauf ist hier nicht einzugehen.
BOLZANOS FUNKTIONENLEHRE B OLZANO formuliert und beweist in seiner Funktionenlehre etliche Lehrsätze, darunter die Folgenden, die – mit Ausnahme des Letzten – noch heute zum Kanon gehören (ich gebe sie in heutigen Formulierungen und mit modernen Namen): u 203
Vgl. Jašek 1923, Jarník 1922.
v
Siehe FLGA , Anmerkung 38 auf S. 103.
Dazu etwa Spalt 1990a, Spalt 1991a.
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Der doppelte Auftakt, Teil 1: Bernard Bolzano 1817
Stetigkeit der termgegebenen Funktionen. Die ganz rationalen Funktionen sind für sämtliche Werte stetig, die gebrochen rationalen Funktionen für sämtliche Werte, an denen der Nenner ungleich 0 ist.w
Polstellen sind Unstetigkeitsstellen. Wenn | f (x)| für x → x 0 über alle Grenzen wächst, ist die Funktion für x = x 0 unstetig.x
Abgeschlossenheit des Wertebereichs. Wenn die Funktionswerte einer auf einem endlichen, abgeschlossenen Intervall stetigen Funktion einen Häufungswert C haben, so ist C auch Funktionswert.y
Schrankensatz. Eine auf einem endlichen, abgeschlossenen Intervall definierte stetige Funktion ist beschränkt.z
Extremwertsatz. Eine auf einem endlichen, abgeschlossenen Intervall definierte stetige Funktion hat ein Maximum und ein Minimum.a
Zwischenwertsatz. Eine stetige Funktion nimmt mit je zwei Werten auch jeden dazwischen liegenden Wert an.b
Verkettung. Die Verkettung zweier stetiger Funktionen ist stetig.c Stetigkeitsübertragung. Eine Funktion mehrerer Veränderlicher, die in jeder Veränderlichen stetig ist, ist stetig.d Darüber hinaus studiert B OLZANO vielerlei Phänomene bei stetigen Funktionen, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann. Als wichtig anzumerken ist aber das Folgende: B OLZANO vermeidet den Begriff „Grenzwert“! Diesen Begriff definiert B OLZANO nicht, und er verwendet ihn auch nicht (abgesehen von seiner berühmten kapriziösen Funktion, die er nur mittels eines Grenzprozesses erklären kann). B OLZANO betreibt ganz konsequent ‚Epsilontik‘. Das heißt, er operiert mit „verschwindenden Größen“ und betrachtet genauestens deren Änderungsverhalten. Anders gesagt: Eine Gleichung der Form lim f (x) = A findet sich bei B OLZANO nicht, ebensowenig die Begriffe „Grenzwert“ oder „Häufungswert“ oder deren Äquivalente. Der Satz von Bolzano-Weierstraß Der berühmteste nach B OLZANO (mit-)benannte Satz der Analysis ist in heutiger Formulierung der
Satz von Bolzano-Weierstraß. Eine beschränkte unendliche Folge hat einen Häufungspunkt. w
Vgl. FL, I, §§ 7 f., S. 18 = FLGA , f. 12v . x Vgl. FL, I, § 9, S. 19; § 19, S. 27 f.; § 20, S. 28 = FLGA , fs. 13r f., 19r (zweimal). y Vgl. FL, I, § 22, S. 29 = FLGA , f. 20r . z Vgl. FL, I, S 21, S. 29 = FLGA , f. 20r . a Vgl. FL, I, § 24, S. 30 = FLGA , fs 20v f. b Vgl. FL, I, § 29, S. 33 = FLGA , f. 23r . c Vgl. FL, I, § 31, S. 36 = FLGA , f. 26r . d Vgl. FL, I, § 39, S. 41 = FLGA , f. 30r . – Es sei an die Ausführungen am Ende des vorangehenden Abschnittes erinnert.
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4. Die Begründung der Werte-Analysis Natürlich hat B OLZANO diesen Sachverhalt nicht in genau diesen Worten aufgeschrieben. Nicht „Folgen“, sondern „Reihen“ waren die paradigmatischen Gegenstände der damaligen (und auch: von B OLZANOs) Analysis, und es ging auch nicht um „Elemente“ irgendeiner „Menge“ (die Mengenlehre und in deren Gefolge die Topologie waren zu Zeiten von B OLZANO nicht existent), sondern allenfalls um „Zahlen“, modern gesprochen: um einen „metrischen Raum“. B OLZANO formuliert den Sachverhalt zweimal: in jüngeren Jahren in seiner Abhandlung zum Zwischenwertsatz sowie später in seiner Funktionenlehre: (1) In der Abhandlung zum Zwischenwertsatz aus dem Jahr 1817 gibt es eine Formulierung, die Ähnlichkeit mit dem Sachverhalt des Satzes von Bolzano-Weierstraß hat. Dort heißt es: „Wenn eine Eigenschaft M nicht allen Werten einer veränderlichen Größe x, wohl aber allen, die kleiner sind, als ein gewisser dWerte u, zukömmt: so gibt es allemal eine Größe U , welche die Größte derjenigen ist, von denen behauptet werden kann, daß alle kleineren dWerte vone x die Eigenschaft M besitzen.“ (RaB, § 12, S. 25) In den Begriff der „Folge“ übertragen besagt das: „Eine beschränkte Folge hat ein Supremum.“ Ein „Supremum“ ist ein „Häufungswert“, nicht jedoch umgekehrt. (2) In seiner aus den Jahren 1834–42 stammenden Funktionenlehre heißt es: „Aus § wissen wir nun, dass sich die unendlich vielen Zahlen x 1 , x 2 , x 3 , x 4 . . . entweder alle oder doch ein so großer Teil derselben, dass ihre Menge schon selbst unendlich ist, in ein Paar Grenzen p und q einschließen lassen, welche einander so nahe rücken können, als wir nur immer wollen, und aus § ergibt sich, dass eine dieser Grenzen durch c, die andere durch c ± ω vorgestellt werden könne, wenn wir durch c eine gewisse nicht außerhalb a und b liegende beständige Zahl, durch ω aber eine Zahl, die ins Unendliche abnehmen kann, bezeichnen.“ (FL, I, § 20, S. 28 = FLGA , f. 19v – Am Rand verweist B OLZANO auf sein Manuskript „Messbarkeit der Zahlen“, ohne nähere Ortsangabe. – B OL ZANO s Praxis, Indizes oberhalb statt unterhalb zu notieren, ignoriere ich hier.) Die Verweise „§ “ im Zitat gehen ins Leere, und auch die modernen Herausgeber haben sie nicht aufgelöst.204 Ist es also unzulässig, B OLZANOs Namen mit dem genannten Satz in Verbindung zu bringen? Nein. Es ist sehr wohl zulässig, diesen Sachverhalt mit B OLZANOs Namen zu verknüpfen, denn B OLZANO hat diese Sachlage in seiner frühen Abhandlung zum Beweis des Zwischenwertsatzes in aller Genauigkeit studiert. Das zeige ich im folgenden Abschnitt. 204
Nur FL, S. 28, Anmerkung gibt zum zweiten Verweis die Fußnote: „NB. Die zwei §§, auf welche sich hier berufen wird, sind in der Lehre von der Messbarkeit der Zahlen erwiesen.“
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Der doppelte Auftakt, Teil 1: Bernard Bolzano 1817 Die Essenz von Bolzanos Beweis des Zwischenwertsatzes Fragen wir abschließend zu B OLZANO: Worin besteht seine zentrale mathematische Neuerung in seiner Abhandlung Rein analytischer Beweis . . . ? Welches ist B OLZANOs zentrales Beweisargument für den Zwischenwertsatz? Was bietet B OL ZANO im Jahr 1817 (und später in seinem ausführlichen Manuskript Reine Zahlenlehre e ) seinerseits, nachdem er die Beweisführungen sämtlicher Mathematiker vor ihm – mit der Ausnahme G AUSS – zu diesem Gegenstand als unzulänglich verworfen hat? Worum geht es im Zwischenwertsatz? Es geht dort darum, die Existenz eines mathematischen Gegenstandes – hier: die Existenz einer gewissen „Zahl“ – zu beweisen. Mathematische Gegenstände sind für B OLZANO Begriffe. Es geht beim Zwischenwertsatz also um den Nachweis, dass ein bestimmter Begriff (eine „Zahl“ mit gewissen Eigenschaften) besteht. Was heißt: ein Begriff besteht? Wann ist ein mathematischer Begriff bestimmt? In der Geometrie werden die Gegenstände konstruiert, in den neuen mathematischen Disziplinen (Analysis, Algebra; natürlich auch in der Arithmetik) müssen die Gegenstände definiert oder konstruiert werden. B OLZANOs Problem – besser: das Problem der Analysis, insofern sie auf den „Wert“ gegründet wird – besteht darin, einen brauchbaren Zahlbegriff zu bilden. B OLZANO sagt: „für die Analysis brauchbar“ heißt: „messbar“. In diesem Sinne hat der reife B OLZANO eine „Reine Zahlenlehre“ entworfen, deren Kernbegriff die „messbare Zahlenvorstellung“ ist.f Und der junge B OLZANO? Wie hat der junge B OLZANO den Zwischenwertsatz bewiesen? Mit welchem Zahlbegriff? – Mit diesem: Wie anfangs dargelegt betrachtet B OLZANO unendliche Reihen S. 284 F 1 (x) + F 2 (x) + F 3 (x) + . . . + F n (x) + . . . + F n+r (x) + . . . , von denen er ‚WKonvergenz‘ verlangt: sie bleiben [. . . ] durch eine noch so weit getriebene Fortsetzung ihrer Glieder immer kleiner [. . . ] als [ein beliebig gewähltes ε > 0], wenn man die Reihe schon vorher weit genug [= n] fortgesetzt hat [. . . ] In seinem Beweis gelangt B OLZANO nach vielen Mühen und sorgfältigen Betrachtungen zu dem Kernsatz: „Dass aber die Voraussetzung auch einer unveränderlichen Größe, die diese Eigenschaft der Annäherung an die Glieder unsrer Reihe hat, keine Unmöglichkeit enthalte; folgt daraus, weil es bei dieser Voraussetzung möglich wird, diese Größe so genau, als man nur immer will, zu bestimmen.“ (RaB, § 7, S. 22) e
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4. Die Begründung der Werte-Analysis Diese „unveränderliche Größe“ nennt B OLZANO im nächsten Satz „X“. Das ist ein bisschen keck, denn er hat ein solches „X “ nicht. Er hat nur festgestellt: Die Existenz dieses X „enthält keine Unmöglichkeit“. Sie ist also möglich. Aber Möglichkeit ist nicht Sein. Wir halten fest: B OLZANO hat hier nicht einen „Wert“ „X “ „konstruiert“. Aber B OLZANO kann zu Recht Folgendes sagen – und hier haben wir jetzt auch die im Satz von Bolzano-Weierstraß gefasste Existenz –:
„Denn gesetzt, man wollte X so genau bestimmen, dass der Unterschied zwischen dem angenommenen und dem wahren Werte von X eine auch noch so kleine gegebene Größe d nicht überschreitet: so suche man nur in der gegebenen Reihe ein Glied F n (x) von der Beschaffenheit aus, dass jedes folgende F n+r (x) von ihm um weniger als ±d verschieden sei. Ein solches F n (x) muss es nach der Voraussetzung geben. Ich sage nun, der Wert von F n (x) sei von dem wahren Werte der Größe X höchstens um ±d verschieden.“ (RaB, § 7, S. 22) Dies ist B OLZANOs entscheidendes Argument in seinem Beweis des Zwischenwertsatzes: Eine Größe X , die man so genau bestimmen kann, wie man will – nämP lich mittels der Reihe F n (x) – EXISTIERT. B OLZANO sagt hier: „Zahl“ ist das, was (durch „Zahlen“) beliebig genau bestimmt werden kann. Ohne den Klammerzusatz erscheint dieser Satz hoch plausibel, mit dem Klammerzusatz erscheint er zirkulär. Die Mathematik benötigte weitere 50 Jahre, um diese B OLZANO’sche Zahlbestimmung zirkelfrei zu präzisieren – obwohl C AUCHY bereits vier Jahre später einen S. 305 Vorschlag dazu unterbreitete. (B OLZANOs eigener Lösungsvorschlag aus der Zeit 1830/35 blieb als Manuskript bis 1962g bzw. 1975h der Öffentlichkeit verborgen.) Aber ohne den Klammerzusatz ist dies eine technisch durchaus handhabbare Zahlbestimmung: „Zahl“ ist alles, was – z. B. mittels endlicher „Dezimalbrüche“ – beliebig genau bestimmt werden kann. Und in genau diesem Sinne operierte die von B OLZANO nur ausgerufene, tatsächlich aber durch C AUCHY in Gang gesetzte ‚Werte-Analysis‘ nun ein halbes Jahrhundert lang. Fügen wir noch reflektierend hinzu: Der frühe B OLZANO bestimmt hier „Zahl“ S. 679 bei als ein „potenzielles“ Unendlich. Der späte B OLZANO wird es mit einer BestimAnm. a mung durch ein „aktuales“ Unendlich versuchen. g h
Bolzano 1962 – eine leider fachlich misslungene Edition. RZ – ein leider editorisch misslungener Druck.
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Der doppelte Auftakt, Teil 2: Augustin-Louis Cauchy 1821 D E R D O P P E LT E A U F T A K T, T E I L 2 : A U G U S T I N - L O U I S CAUCHY 1821 DAS PROGRAMM Im Jahr 1821 publiziert AUGUSTIN -L OUIS C AUCHY (1789–1857) mit dem Cours d’Analyse jenes erste Lehrbuch der Analysis, das Vorbild noch der heute üblichen Analysis-Lehrbücher ist. In der „Einleitung“ dieses Lehrbuchs spricht der Verfasser sofort Klartext und verkündet in nur zwei Sätzen einen totalen Bruch mit der bisherigen Analysis-Tradition: Man muss auch beachten, dass [die Herleitungen aus der Allgemeinheit der Algebra] dazu tendieren, den algebraischen Formeln einen unbestimmten Bereich zu unterlegen, während in der Wirklichkeit die Mehrheit dieser Formeln nur un˜ ter gewissen Bedingungen und für gewisse Werte jener Größen, die sie einschließen, fortbestehen. Durch die Be˜ stimmung dieser Bedingungen und dieser Werte und durch genaues Festsetzen der Bedeutung der Bezeichnungen, derer ich mich bediene, bringe ich jegliche Ungewissheit zum Verschwinden; und dann stellen die verschiedenen Formeln nichts weiter dar als Beziehungen zwischen wirklichen Größen, Beziehungen, ˜ die durch das Setzen von Zahlen anstelle von Größen selbst stets leicht zu verifizieren sind.
„On doit même observer [que les raisons tirées de la généralité de l’algèbre] tendent à faire attribuer aux formules algébriques une étendue indéfinie, tandis que, dans la réalité, la plupart de ces formules subsistent uniquement sous certaines conditions, et pour certaines valeurs des quantités qu’elles renferment. En déterminant ces conditions et ces valeurs, et en fixant d’une manière précise le sens des notations dont je me sers, je fais disparaître toute incertitude; et alors les différentes formules ne présentent plus que des relations entre les quantités réelles, relations qu’il est toujours facile de vérifier par la substitution des nombres aux quantités ellesmêmes.“ (CA, S. iij f.)
C AUCHY tritt hier mit der klaren Ankündigung auf, die GESAMTE bisherige Analysis umzuinterpretieren: Nicht „Größen“ (quantités) seien länger legitimer Gegenstand der Formeln, sondern „Werte“ (valeurs). Nur für diese „Werte“ sei ein „Fortbestehen“ der „Mehrheit dieser Formeln“ gewährleistet. Das ist eine unmissverständliche205 Aussage: C AUCHY verkündet, die bisherige („Algebraische“) Analysis sei durch eine gänzlich neue (Deutung) zu ersetzen. (Beiläufig merken wir an: Der Mathematiker C AUCHY formuliert nicht so sorg205
Unmissverständlich natürlich nur für des Lesens Mächtige. Ein postmoderner Literat wie M I CHAEL J. B ARANY ist – selbst nach der Ankündigung „einer systematischen Lektüre der Einleitung“ (Barany 2011, im ersten Satz des „Abstracts“ ) – nicht imstande, auch nur jene beiden Sätze als Ganzes zur Kenntnis zu nehmen. Dementsprechend unbegründet sind seine phantastischen Deutungen des Textes. Erstaunlich, dass Sokal und Bricomont 1999 noch immer nicht zum Handapparat des Herausgebers einer Zeitschrift mit wissenschaftlichem Qualitätsanspruch zu gehören scheint.
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4. Die Begründung der Werte-Analysis sam wie der Mathematiker und Philosoph B OLZANO: In dessen Sprache gesagt geht es C AUCHY natürlich nicht um – subjektive – „Gewissmachungen“, sondern um – objektive – „Begründungen“.) Dieses Programm hat C AUCHY in seinem Werk mit großer Konsequenz und hoher Präzision umgesetzt. Wann immer C AUCHY eine Funktion f (x) studiert, stets gibt er genau an, zwischen welchen „Werten“ die „Veränderliche“ x variiert. Für diesen – wie wir heute sagen: – „Definitionsbereich“ der Funktion f (x) nutzt C AU CHY eine Standardnotation: Es geht ihm um „die Werte zwischen den Grenzen x 0 und X“. Also: Der Anfangspunkt des Definitionsintervalls von x heißt „x 0 “, der Endpunkt „X“. (Man beachte, dass der – indizierte – kleine Buchstabe kursiv, der große hingegen steil gesetzt ist.) Wir heute notieren diesen „Definitionsbereich“ der Funktion als „[x 0 , X]“, und auch C AUCHY hat für ein solches Intervall eine Bezeichnungsweise: „M((x 0 , X))“. C AUCHY verwendet diese Bezeichnung jedoch nicht zur Angabe des Definitionsbereichs einer Funktion, sondern nur zur Angabe ihres Wertebereichs. Reflexion Wer den vorliegenden Text bis hierher gelesen hat, der oder dem ist es unmittelbar klar: Eine derartige Umdeutung der bisherigen Lehre verlangt eine Überprüfung sämtlicher bisheriger Lehrsätze wie auch deren Beweise. Und dabei steht natürlich zu erwarten, dass zumindest die Beweise neu gefasst werden müssen, möglicherweise auch manche Lehrsätze selbst. C AUCHYs Zeitgenossen hingegen war dies überhaupt nicht klar, und vielen Mathematikern und Mathematikhistorikern (beiderlei Geschlechts) ist dies bis heute nicht klar. Den Früheren wird man das von heute aus nicht vorwerfen dürfen. Denn C AU CHY s so verkündetes Unterfangen war in der gesamten Geschichte der Mathematik ohne Beispiel. Noch niemals waren die grundlegenden Begriffe einer – sehr erfolgreichen! – mathematischen Theorie uminterpretiert und damit die gesamte Lehre abgewandelt worden. In der Geometrie war man noch nicht (ganz) so weit. Zwar gab es inzwischen eine langwierige Diskussion um die Beweisbarkeit des Parallelenpostulats aus den übrigen Axiomen und Postulaten E UKLIDs. Doch noch war niemand öffentlich auf die Idee verfallen, in Abhängigkeit von der Geltung bzw. von der genauen Formulierung des Parallelenpostulats verschiedene Geometrien zu konstruieren. Seit 1792 hatte sich C ARL F RIEDRICH G AUSS (1777–1855) für das Parallelenproblem interessiert. Am 8. November 1824 schrieb er in einem Brief: „Die Annahme, dass die Summe der 3 Winkel kleiner sei als 180◦, führt auf eine eigene, von der unsrigen (euklidischen) ganz verschiedene Geometrie, die in sich selbst durchaus konsequent ist, und die ich für mich selbst ganz befriedigend ausgebildet habe, sodass ich jede Aufgabe derselben auflösen
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kann mit Ausnahme der Bestimmung einer Konstante, die sich a priori nicht ausmitteln lässt.“ (Gauß 1900, Bd. VIII, S. 188[206] ) G AUSS veröffentlichte dazu jedoch nichts. J ÁNOS B ÓLYAI (1802–60) und N IKOLAI I WANOWITSCH L OBATSCHWESKI (1792–1856) formulierten 1825 bzw. 1826 erstmals Gedanken über eine „vorgestellte“ andersartige Geometrie, die jedoch erst 1832 bzw. 1835 im Druck erschienen – woraufhin G AUSS seinen Anspruch verkündete, diese „Ideen“ schon seit Jahrzehnten zu besitzen. Vermutlich hat keiner von C AUCHYs Zeitgenossen dessen grundsätzliche Neufassung der Analysis verstanden – ganz zu schweigen von der Bedeutung dieser Neufassung für die Wissenschaft Mathematik. Selbst die hervorragendsten Mathematiker der Zeit waren nicht imstande, sich eine derartige Neufassung einer mathematischen Theorie vorzustellen, wie sie C AUCHY – und B OLZANO – tatsächlich vollzogen. Dafür lässt sich ein Indiz anführen. Wie wir wissen, hatte die ‚AFunktion‘ bei E ULER nichts von dem, was wir heute ihren „Definitionsbereich“ nennen. E ULERs ‚AFunktion‘ war eine „abhängige Veränderliche“, nichts weiter. Zwar hatte diese Veränderliche „Werte“, doch dafür interessierte sich E U LER s Algebraische Analysis nicht im Einzelnen. Wenn wir von heute aus auf diese Begriffswelt zurückblicken, verstehen wir unmittelbar, dass E ULER außerstande war, das zu erfinden, was heute „Fourieranalyse“ heißt. Die „Fourieranalyse“ ist eine Technik, um eine ganz beliebige ‚GFunktion‘ f (x) durch eine un- S. 214 endliche trigonometrische Reihe darzustellen: f (x) =
∞ X n=0
b n cos nx +
∞ X
a n sin nx .
n=1
Aber diese Technik verlangt eine Grundbedingung: Die ‚GFunktion‘ f (x) muss ein endliches Intervall als „Definitionsbereich“ haben: x 0 5 x 5 X. (Das hat seinen Grund darin, dass die „Fourierkoeffizenten“ a n , b n als „bestimmte Integrale“ über diesem „Definitionsbereich“ berechnet werden, und das führt nur dann zu überwiegend endlichen Werten, wenn dieser Definitionsbereich endlich ist.) J EAN -B APTISTE -J OSEPH F OURIER (1768–1830) erfand diese Technik und publizierte sie ausführlich in einem Buch aus dem Jahr 1822.i Das war F OURIER natürlich nur deshalb möglich, weil er den „Funktionswerten“ der „Funktionen“ Aufmerksamkeit schenkte und sich nicht für ‚AFunktionen‘ , sondern für ‚GFunktionen‘ interessierte – und diese haben oft natürlicherweise einen nur endlichen Bereich für ihre „Abszissen“.207 Jetzt die spannende Frage: Wie haben die Mathematiker des 19. Jahrhunderts diese Tatsache begriffen, dass der große E ULER die „Fourieranalyse“ nicht erfunden hatte? Lesen wir dazu einen der tiefgründigsten Mathematiker des mittleren 19. Jahrhunderts: R IEMANN! R IEMANN schreibt in seiner Dissertation im Jahre 1851 dazu Folgendes: „Die Fähigkeit, für alle innerhalb eines gegebenen Intervalls liegenden Werte von z durch dasselbe Abhängigkeitsgesetz bestimmt zu werden, schrieb i 206 207
Fourier 1822 Die diesbezüglichen Angaben in Guillaume 1985, S. 753 sind unzulänglich (auch im Original). Noch ein paar Worte zur Sache auf S. 364.
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4. Die Begründung der Werte-Analysis
man früher einer gewissen Gattung von Funktionen zu (functiones continuae nach E ULERs Sprachgebrauch); neuere Untersuchungen haben indes gezeigt, dass es analytische Ausdrücke gibt, durch welche eine jede stetige Funktion für ein gegebenes Intervall dargestellt werden kann. Es ist daher einerlei, ob man die Abhängigkeit der Größe w von der Größe z als eine willkürlich gegebene oder als eine durch bestimmte Größenoperationen bedingte definiert. Beide Begriffe sind infolge der erwähnten Theoreme kongruent.“ (Riemann 1953b, S. 3 f.) Das zeigt: Nicht einmal R IEMANN verstand im Jahr 1851, dass die Aufnahme des Wertbegriffs in die analytischen Grundbegriffe (und insbesondere auch in den Funktionsbegriff) eine Um- und Neudeutung der alten Lehre verlangte und bedeutete. R IEMANN urteilt lapidar, „neuere Untersuchungen“ (also: jene F OURIERs) hätten ein Ergebnis erbracht, das „E ULERs Sprachgebrauch“ überflüssig mache. In R IEMANNs Geschichtsschreibung erscheint F OURIER ganz einfach als E ULER – in diesem Gebiet – mathematisch überlegen. Dieses Urteil ist keine geringe Ungeheuerlichkeit: E ULER wird von F OURIER mathematisch übertrumpft!? So jedenfalls stellt R IEMANN es dar. R IEMANN scheint sich keine Sekunde die Frage zu stellen, wie plausibel dieses Urteil eigentlich sei. Ich halte dieses Urteil R IEMANNs für höchst unplausibel und sehe die Sache – zugegeben: aus größerem zeitlichen Abstand –, wie dargelegt, grundlegend anders.
CAUCHYS STUFENAUFBAU DER GRUNDLAGEN DER ANALYSIS Zahl, Größe und Wert C AUCHYs Analysis glänzt durch klare Definitionen und einen strengen Begriffsaufbau. Der maßgebliche Anfangsbegriff ist weiterhin die „Größe“, jetzt aber fest gekettet an deren „Werte“. Zahl
S. 305
S. 1
Nach C AUCHY entstehen „Zahlen“ durch das Messen von „Großheiten“ (grandeurs), also von Ausgedehntem.j Das bedeutet: C AUCHY fasst auch die „Irrationalen“ als „Zahlen“ (wie, das wird noch zur Sprache kommen). Ich verdeutliche die Situation an einem nicht von C AUCHY stammenden Beispiel: Nach dem Fallgesetz ist der Fallweg proportional zum Quadrat der Fallzeit. Wenn man die Differenz (d. i. das „arithmetische“ Verhältnis) zwischen dem aktuellen Moment des Fallens und dem Moment des Fallbeginns durch t bezeichnet und ebenso die Differenz zwischen dem Ort des fallenden Körpers im aktuellen Moment und dem Moment des Fallbeginns durch s, so besteht zwischen den Größen t und s der Zusammenhang: s ist proportional zu t 2 , als Gleichung (mit der „Konstanten“ k) geschrieben als: s = k · t 2 . Misst man etwa die Größe t mit der Maßeinheit T , so erhält man als Zeitmaße t 1 = AT und t 2 = BT , und vergleicht man das Zweite mit dem Ersten, so erhält man als „geometrisches“ Verhältnis tt12 = BA die „Zahl“ BA als das („geometrische“) Verhältnis der beiden Zeitwerte t 2 und t 1 . – In diesem Sinne ist die „Zahl“ gemessen. j
B A
als Maß bestimmt: B wird mittels A
Vgl. CA, S. 17.
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Der doppelte Auftakt, Teil 2: Augustin-Louis Cauchy 1821
Die Größe und ihr Wert
Solche Messungen bringen „absolute“ Maße der „Großheiten“ (oder: des Ausgedehnten) hervor. Deren „Veränderungen“, genauer: „die Vermehrung oder die Verminderung“k des Ausgedehnten (der „Großheit“) nennt C AUCHY „Größe“ (quantité). Nochmals klar: Nach C AUCHY ist „Größe“: die Vermehrung oder die Verminderung einer Großheit (eines Ausgedehnten). Stellt man dem absoluten Maß der „Größe“ (einer „Zahl“ also) das „Vorzeichen“ + oder − vor, dann betrachtet man diese „Zahl“ als „Größe“, und zwar als „positive reelle“ oder als „negative reelle“. (Was ein „Vorzeichen“ sei, wird nicht gesagt. Aber offenbar bezeichnet es die Art der „Größe“: ob sie „Vermehrung“ oder „Verminderung“ ist; und nur so hat C AUCHY die „Größe“ bestimmt: als entweder eine „Vemehrung“ oder eine „Verminderung“.) Das erinnert an die Vorgehensweise, S. 224 wie wir sie bei E ULER gesehen haben. Doch da wir offen lassen mussten, was eine „Größe“ für E ULER ist, kann auch das Verhältnis der Größenbegriffe dieser beiden S. 194 Mathematiker einstweilen nicht näher bestimmt werden. Eine solche „positive reelle“ oder „negative reelle“ Größe ist dazu „bestimmt“, „Zuwachs“ oder „Verminderung“ „auszudrücken“. (C AUCHY denkt dabei an einen „Zuwachs“ oder eine „Verminderung“ von „Großheiten“.l ) Ein „Wert“ – bei C AUCHY gelegentlich auch: „Zahlwert“ (valeur numerique) – ist also grundsätzlich eine „Zahl“ (und zwar eine „absolute“ Zahl, weil alle Zahlen „absolut“ sind, sind sie doch durchs Messen entstanden). Notation
C AUCHYs Notation ist vorbildlich genau: Eine „Zahl“ wird durch einen steilen Großbuchstaben dargestellt: Eine „positive Größe“, welche diesen „Wert“ A hat, wird durch „+A“ dargestellt (es darf aber auch „A“ sein), während die ihr „entgegengesetzte“ „negative“ Größe durch „−A“ bezeichnet wird. (Was „entgegengesetzt“ sei, wird nicht ausdrücklich gesagt.) Weitaus häufiger jedoch bezeichnet C AUCHY die „Größen“ durch kursive (und nicht indizierte) Kleinbuchstaben: „a“ und gleichbedeutend „+a“ bezeichnen die „Größe“ mit dem „Wert“ A, und „−a“ bezeichnet die „entgegengesetzte“ Größe, ebenfalls mit dem „Wert“ A. Cauchys Beweis der Vorzeichenregel – und Bolzanos Kritik daran
C AUCHY kann die Vorzeichenregel beweisen. Ich formuliere sie so:
Folgerung. Da a und +a sowie b und +b gleichbedeutend sind, kann man für die positive Größe a und die negative Größe b mit jeweils dem Wert A auch schreiben: +a = +A, k l
+b = −A;
Cauchy 1938, S. 216 Vgl. Cauchy 1938, S. 216.
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4. Die Begründung der Werte-Analysis für die „entgegengesetzten“ Größen gilt dann −a = −A,
−b = +A.
Nun C AUCHYs Argument: Wenn man in den letzten vier Gleichungen für a und b ihre Werte zwischen Klammern wieder einsetzt, erhält man die Formeln +(+A) = +A
+(−A) = −A
−(+A) = −A
−(−A) = +A .
In jeder dieser Formeln nennt man das Vorzeichen des zweiten Gliedes das Produkt der beiden Vorzeichen des ersten dGliedese. Zwei Vorzeichen miteinander multiplizieren heißt ihr Produkt bilden. Die Betrachtung der [letzten vier] Gleichungen genügt zur Aufstellung der Vorzeichenregel, wie sie im folgenden Lehrsatz ausgesprochen ist:
Lehrsatz. Das Produkt zweier gleicher Vorzeichen ist stets +, das Produkt zweier entgegengesetzter Vorzeichen ist stets − . (CA, S. 334) Ein, wie es scheint, einwandfreier Beweis, der darauf beruht, dass „positive“ und „negative“ Größen einander wechselseitig „entgegengesetzt“ sind. An Letzterem hat B OLZANO freilich Kritik geübt. Er moniert: „Wenn aber irgendein Ding A mit einem anderen B in einer gewissen, mit einer dritten C dagegen in einer andern Beziehung entgegengesetzt ist; so folgt hieraus noch keineswegs, dass B und C einerlei Dinge sein müssen. Die beiden Dinge +pos A und −pos A sind nur einander entgegengesetzt hinsichtlich der Art wie sie als Teile einer möglichen Summe gedacht werden können. Die beiden Dinge −pos A und −neg A dagegen sind einander entgegengesetzt hinsichtlich auf diejenige Beschaffenheit, die das Ding A zu einer Größe überhaupt macht. Wollten wir also den Schluss, dass +pos A und −neg A ein und dasselbe Ding sind, mit vollem Rechte uns erlauben; so müssten wir erst erweisen, dass jene beiden Rücksichten im Grunde einander gleichgelten. Allein dies eben ist es, was ich nicht zu erweisen vermag; obgleich ich zugestehe dass die von mir selbst aufgestellte Erklärung von dem Begriffe einer Größe zeigt, dass jene beiden Rücksichten jedenfalls sehr verwandt sind.“ (AG, f. 62r ) Mit anderen Worten: B OLZANO wendet ein, dass „entgegengesetzt“ ein „konträrer“, jedoch kein „kontradiktorischer“ Begriff ist. B OLZANO erläutert: „So sind z. B. die Vorstellungen blau und gelb, ingleichen blau und witzig und andere dergleichen nicht kontradiktorisch, sondern bloß konträr. Denn sie schließen einander wohl aus; das Blaue kann nicht gelb, nicht witzig sein. Aber nicht jeder Gegenstand, welcher der einen [Beschaffenheit] mangelt, findet sich im Gebiete der andern; nicht alles, was nicht blau ist, muss darum schon gelb oder witzig sein.“ (WL, 1, § 103.3, S. 477)
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Der doppelte Auftakt, Teil 2: Augustin-Louis Cauchy 1821
Diese Kritik ist offenkundig nicht unberechtigt. C AUCHY behandelt seinen Begriff „entgegengesetzt“ als einen kontradiktorischen, ohne das jedoch begründet zu haben. Dennoch trifft B OLZANOs Kritik C AUCHY nicht! Denn C AUCHY hat seinen Begriff „Größe“ doch als einen aus zwei kontradiktorischen Arten („Vermehrung“/„Verminderung“ einer „Großheit“) bestimmt. S. 301 Allerdings hat er das, soweit ich sehe, nicht in seinen Lehrbüchern verraten, sondern nur eher nebenbei (und ob auch schon einmal früher als 1849, weiß ich nicht) – aber davon konnte B OLZANO keine Kenntnis haben. Und B OLZANOs Verständnis von „Größe“ war, wie wir wissen, ein ganz anderes. S. 289 Wir sehen aber auch: C AUCHYs nach begrifflicher Klarheit strebende Sprache fordert alsbald zur logischen Analyse heraus.
VERÄNDERLICHE, GRENZE, IRRATIONALZ AHLEN, FUNKTION, FUNKTIONSWERT UND UNENDLICH KLEINE Veränderliche Wir haben bereits C AUCHYs Begriff der „Größe“ vorgestellt. Nun die – seit der Er- S. 301 findung der „Veränderlichen“ durch L EIBNIZ klassische Unterscheidung: S. 73 ff. Man nennt veränderliche Größe [oder „On nomme quantité variable celle que Veränderliche] jene, von der man anl’on considère comme devant recevoir nimmt, dass sie nacheinander viesuccessivement plusieurs valeurs difféle untereinander verschiedene Werte rentes les unes des autres. erhalten muss. Demgegenüber nennt man jede On appelle au contraire quantité conGröße konstant [oder eine Konstanstante [. . . ] toute quantité qui reçoit une te] [. . . ], die einen festen und bevaleur fixe et déterminée.“ (CA, S. 19 = stimmten Wert erhält. RL, S. 13 = CD, S. 269 = T, S. 16) Hier ist festzuhalten: (1) Der Begriff „nacheinander“ enthält die Zeit, ist also im strengen Sinne kein mathematischer. (2) Auf die bei E ULER wesentliche Forderung, die „Veränderliche“ müsse „alle nur denkbaren Zahlen ohne Ausnahme“ umfassen, verzichtet C AUCHY. Er möchte nur „viele“ Werte, nicht mehr „alle.“ (3) Klar ausgesprochen ist hier: Die „Veränderliche“ ist nur dann bestimmt, wenn ihre „Werte“ gegeben sind; naturgemäß müssen ihre „Werte“ alle gegeben sein. Also: Ohne Wertbestimmung keine „Veränderliche“. Erst die „Werte“ geben der „Veränderlichen“ ihre Bestimmtheit. (4) C AUCHYs Bestimmung der „Veränderlichen“ ist somit das gerade Gegenteil der E ULER’schen Bestimmung: Für E ULER war die „Veränderliche“ die „unbestimmte“ Größe. S. 195 Grenze Damit kommen wir zum alles dominierenden Fundamentalbegriff von C AUCHYs Analysis: dem Begriff „Grenze“: Cauchy
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4. Die Begründung der Werte-Analysis
Definition (Grenze). Wenn sich die einer einzigen Veränderlichen nacheinander [oder: aufeinander folgend] zugewiesenen Werte unbestimmt einem festen Wert annähern, sodass sie sich von ihm schließlich so wenig unterscheiden, wie man nur will, so heißt dieser Letztere die Grenze aller anderen.
„Lorsque les valeurs successivement attribuées à une même variable s’approchent indéfiniment d’une valeur fixe, de manière à finir par en différer aussi peu que l’on voudra, cette dernière est appelée la limite de toutes les autres.“ (CA, S. 19 = RL, S. 13 = CD, S. 269 = T, S. 17)
Damit ist klar gesagt: Die „Grenze“ ist ein „Wert“. Man könnte „limite“ bei C AU also auch als „Grenzwert“ übersetzen. C AUCHY schreibt für „A ist die Grenze der Veränderlichen x“:
CHY
A = lim x . Wenn sich die „Werte“ der „Veränderlichen“ von einem „festen Wert [. . . ] schließlich so wenig unterscheiden [. . . ]“, dann heißt das: Die „Veränderliche“ nimmt diesen „Wert“ nicht an. – Dieses wichtige Prinzip sollten wir uns merken. Der Deutlichkeit halber sei diese zuletzt angeführte allgemeine Gleichung konkretisiert: Sie macht aus E ULERs ‚Fast-Gleichung‘ 3.7 von S. 248 eine exakte Gleichung: ¶ µ 1 1 1 1 1 1 + + etc. = = 2. lim 1 + + + + 2 4 8 16 32 1 − 1/2 Dies gelingt mittels des lim-Operators. Weder die Notation „lim“208 – eine Abkürzung – noch diese Begriffsbestimmung209 sind neu. Neu ist jedoch der Stellenwert, den C AUCHY dem Begriff „Grenze“ zuweist. Er wird an zwei fundamentalen Orten des C AUCHY’schen Begriffsaufbaus der Analysis verankert.
Cauchys Begriff „Grenze“ ist mehrdeutig!
Ganz wichtig: C AUCHYs Begriff „Grenze“ ist mehrdeutig. Es kann also mehr als eine Grenze geben. Dies ergibt sich bei sorgfältiger Lektüre der obigen Definition: (1) C AUCHY sagt: Der Veränderlichen sollen „nacheinander folgend“ Werte „zugewiesen“ werden. Es ist demnach nicht von allen Werten der Veränderlichen die Rede, sondern von „Wertzuweisungen“. Derer aber kann es vielerlei geben! (2) C AUCHY spricht nicht von „der Grenze“ schlankweg, sondern von „der Grenze bestimmter Werte“ (nämlich jener, die durch „Zuweisung“ von „Werten“ an die „unabhängig“ Veränderliche bei der ‚abhängig‘ Veränderlichen entstehen). 208 209
Diese findet sich bereits in l’Huilier 1786 sowie in Carnot 1786 bzw. in Carnot An V [= 1797]. Wir haben die Sache bereits bei L EIBNIZ gesehen (siehe S. 104). Erstmals (aber nicht in dieser Klarheit) gibt sie Gregorius a St. Vincentio 1647, S. 54 f.
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Der doppelte Auftakt, Teil 2: Augustin-Louis Cauchy 1821 Meines Wissens ist dieser Begriff „Grenze“ ohne Vorbild. Wir heute nennen dies in topologischer Sprache einen „Häufungspunkt“. (Wir werden ihn bei W EIER STRASS wiederfinden.) S. 394 Fundament 1: „Irrationalzahl“ als „Grenze“ Mittels dieses Fundamentalbegriffs „Grenze“ bestimmt C AUCHY das Wesen der „Irrationalzahl“: Eine irrationale Zahl ist die Grenze „Un nombre irrationel est la limite des der verschiedenen Brüche, die dafür diverses fractions qui en fournissent des mehr und mehr annähernde Werte valeurs de plus en plus approchées.“ (CA, liefern. S. 19) (Ein fast unnötiger Hinweis: Hier spricht C AUCHY von „der Grenze“ – sie muss in diesem Falle also eindeutig bestimmt sein.) Hier haben wir ein frühes Beispiel für die Idee zum „Stufenaufbau“ des Zahlbegriffs: Die „Irrationalzahlen“ werden ausgehend von den „Brüchen“ bestimmt.210 Zur Vollendung der Idee eines „Stufenaufbaus“ des Zahlbegriffs fehlt die Erörterung – und: Klärung – der Frage, was es heißen soll, dass eine „Zahl“ „existiert“. Dieses Problem wurde in letzter Schärfe erst im Jahr 1872 aufgeworfen – und es wurden zwei alternative Lösungsvorschläge vorgelegt. → Kapitel 6 Dass auch ein „Bruch“ als „Grenze“ aus – anderen – „Brüchen“ bestimmt werden kann, ist selbstverständlich. Und damit gilt bei C AUCHY die allgemeine Feststellung: Jede (reelle) Zahl ist als eine „Grenze“ bestimmbar. Das Rechnen mit „Zahlen“ und mit „Größen“ Aufgrund dieser Konstruktion kann C AUCHY das Rechnen mit den Irrationalzahlen auf (i) den Begriff „Grenze“ und (ii) das Rechnen mit Brüchen zurückführen. Dies unternimmt er im ersten Anhang seines Cours d’Analyse in aller Gründlichkeit. Dort erläutert er auf 15 Druckseiten der Werkausgabe (19 Seiten der Originalausgabe) im Detail die Grundrechenarten (Addieren und Subtrahieren, Multiplizieren und Dividieren, Potenzieren und Wurzelziehen, Exponenzieren und Logarithmieren) – und zwar sorgfältig getrennt jeweils für „Zahlen“ und für „Größen“. Dabei verfährt er nach zwei Mustern: (a) Bei den Rechenoperationen für „Zahlen“ werden (ab der Multiplikation) die Operationen mit irrationalen „Zahlen“ dadurch erläutert, dass die „irrationale“ Zahl als „Grenze“ einer „Größe“ mit nur rationalen Werten aufgefasst wird (und zwar zunächst nur einer der beiden Operanden, dann beide). (b) Die höheren Rechenoperationen für „Größen“ werden erklärt, indem bestimmt wird, welche „Werte“ sie haben. Beispielhaft: Das Produkt einer ersten Größe mit einer zweiten ist eine dritte Größe [einer neuen Gattung], welche als Zahlwert das Produkt der Zahlwerte 210
Sowohl C ANTOR also auch D EDEKIND werden ein halbes Jahrhundert später das Problem der Definition der Irrationalzahl genau so anpacken – siehe Kapitel 6.
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4. Die Begründung der Werte-Analysis der beiden anderen hat und als Vorzeichen das Produkt ihrer Vorzeichen. (CA, S. 339) Bei der Erklärung des „Produkts“ zweier „Zahlen“ unterläuft C AUCHY wohl ein Fehler: Obwohl er die „Zahl“ als Verhältnis bestimmt hat, erklärt er: Die Zahl A mit der Zahl B multiplizieren heißt mit der Zahl A genauso verfahren, wie man mit der Einheit verfährt, um B zu erhalten. (CA, S. 337) Korrekterweise müsste er aber doch jenes „Verhältnis“ angeben, welches das Produkt ist. (Das ist natürlich möglich.m ) Allerdings funktioniert C AUCHYs Argument nur für rationale Faktoren. Und mehr braucht er auch gar nicht, da er die „irrationale“ Zahl als „Grenze“ von „rationalen“ Zahlen bestimmt hat.
S. 309
Die zweite grundlegende Bestimmung (nach „Irrationalzahl“), die C AUCHY mittels des Fundamentalbegriffs „Grenze“ gibt, ist die des „Funktionswerts“. Aber ehe wir das darlegen können, ist zu klären, was C AUCHY unter „Funktion“ versteht. Funktion C AUCHY hat seinen Funktionsbegriff immer und immer wieder formuliert, wortgleich: Wenn veränderliche Größen in solcher Weise untereinander verbunden sind, dass man aus dem gegebenen Wert der einen von ihnen die Werte aller übrigen erschließen kann, so betrachtet man gewöhnlich diese verschiedenen Größen als mittels dieser einen von ihnen ausgedrückt, welche dann den Namen unabhängig Veränderliche erhält; und die anderen Größen, welche mittels dieser unabhängig Veränderlichen ausgedrückt sind, nennt man Funktionen dieser Veränderlichen.
„Lorsque des quantités variables sont tellement liées entre elles que, la valeur de l’une d’elles étant donnée on puisse en conclure les valeurs de toutes les autres, on conçoit d’ordinaire ces diverses quantités exprimées au moyen de l’une d’entre elles, qui prend alors le nom de variable indépendante; et les autres quantités exprimées au moyen de la variable indépendante sont ce qu’on appelle des fonctions de cette variable.
Wenn veränderliche Größen in solcher Weise untereinander verbunden sind, dass man aus den gegebenen Werten einiger von ihnen die Werte aller übrigen erschließen kann, so betrachtet man diese verschiedenen Größen als mittels mehrerer von ihnen ausgedrückt, welche dann den Namen un-
Lorsque des quantités variables sont tellement liées entre elles que, les valeurs de quelques-unes étant données on puisse en conclure celles de toutes les autres, on conçoit ces diverses quantités exprimées au moyen de plusieurs d’entre elles, qui prennent alors le nom de variables indépendantes; et
m
Siehe Spalt 1996, S. 65 f.
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Der doppelte Auftakt, Teil 2: Augustin-Louis Cauchy 1821 abhängig Veränderliche erhalten; und die übrigen Größen, welche mittels der unabhängig Veränderlichen ausgedrückt sind, nennt man Funktionen dieser nämlichen Veränderlichen.
les quantités restantes, exprimées au moyen des variables indépendantes sont ce qu’on appelle des fonctions de ces mèmes variables.“ (CA, S. 31 = RL, S. 17 = CD, S. 273 = T, S. 17)
(1) C AUCHY definiert hier, sauber getrennt, zunächst den Begriff der „Funktion einer Veränderlichen“ und dann den Begriff der „Funktion mehrerer Veränderlicher“. (2) Das Wesen der „Funktion“ bestimmt C AUCHY in der Tradition von L AGRAN GE : „Funktion“ ist eine „Verbindung“ von „veränderlichen Größen“ – nun jedoch S. 263 (i) aufbauend auf einer Bestimmung des Begriffs „Größe“ und (ii) mit der zusätzli- S. 301 chen doppelten Bestimmung, die „Funktion“ müsse (a) „Werte“ haben, und diese „Werte“ müssten (b) durch die „Werte“ der unabhängig Veränderlichen „ausgedrückt“ werden bzw. sich aus ihnen „erschließen lassen“. (3) Anders als E ULER verlangt C AUCHY zur Beschreibung einer „Funktion“ weder einen „Rechenausdruck“ (E ULERs ‚AFunktion‘ ) noch eine „krumme Linie“ (E ULERs ‚GFunktion‘ ). Stattdessen spricht C AUCHY, genau wie L AGRANGE, nur unbestimmt von einer „Verbindung“ der „unabhängig Veränderlichen“ – die offenbar geeignet sein muss, die „Werte“ der Funktion „auszudrücken“ bzw. zu „erschließen“. (4) Grundsätzlich betrachtet kann C AUCHY also weit mehr Gegenstände als „Funktionen“ akzeptieren, als es E ULER möglich war. Jetzt das Erstaunliche: C AUCHY nutzt diese neue Freiheit nicht! Seine Funktionsbestimmung ist nur dann wirklich allgemeiner als die E ULER’schen Bestimmungen, wenn sich C AUCHY auch tatsächlich neuer Bestimmungsmethoden bedient – also anderer Methoden als der Beschreibung mittels algebraischer Formeln (oder der Vorgabe einer Kurve). Davon jedoch ist bei C AUCHY nichts zu lesen. Während sich B OLZANO sofort der (Umgangs-)Sprache zur Konstruktion neuartiger „Funktionen“ bedient, ist von C AUCHY dergleichen nicht bekannt geworden. Anders als B OLZANO beschränkt S. 290 sich C AUCHY auf die Nutzung der tradierten Definitionsmethoden für „Funktionen“. (5) Im Vergleich mit den Bestimmungen aller Protagonisten der „Algebraischen Analysis“ erhält C AUCHYs Definition der „Funktion“ durch die ausdrückliche Verwendung des Funktionswerts (die es weder bei E ULER in dessen Definition von ‚AFunktion‘ noch bei L AGRANGE gibt!) allerdings einen völlig neuen Sinn. (6) „Funktion“ ist für C AUCHY eine „Verbundenheit“ (oder eben: „Abhängigkeit“) von Größen – und zwar eine solche „Verbundenheit“/„Abhängigkeit“, dass daraus die „Werte“ der „Funktion“ aus gegebenen „Werten“ der „unabhängig“ Veränderlichen „erschließbar“ sind. Allerdings: Obwohl die Möglichkeit dieser Werterschließung notwendig ist, so ist sie doch sekundär; primär ist bei C AUCHY die „Verbundenheit“ der Größen. Da bleibt er ganz traditionell. (7) Da C AUCHYs Funktionsdefinition weder den „algebraischen Ausdruck“ noch die geometrische „krumme Linie“ nennt, sondern stattdessen nur von der „Ver-
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4. Die Begründung der Werte-Analysis bundenheit“ der „unabhängig Veränderlichen“ spricht, mittels derer die „abhängig Veränderliche“ „ausgedrückt“ werde, ist es möglich, sie im heutigen modernen Sinn als eine „Abbildung“ zu deuten. Die moderne „Abbildung“ setzt die Wertbestimmung – oder: die Relation der „Werte“ – als primär; die „Verbundenheit“ (von Definitions- und Wertebereich) ist dann nur noch sekundär davon abgeleitet. Gegenüber C AUCHYs Funktionsbegriff kehrt also der moderne Abbildungsbegriff die Rangordnung von „Größe“/„Menge“ einerseits und „Wert“ andererseits hinsichtlich der Bestimmung um: Bei C AUCHY folgt aus der „Verbundenheit“ der Größen die Wertbestimmung; bei der modernen „Abbildung“ bestimmt die Relation der „Werte“ die – ansonsten uninteressante – Verbindung zwischen Definitions- und Wertebereich. Es versteht sich, dass eine Deutung von C AUCHYs Funktionsbegriff als moderne „Abbildung“ historiografisch nicht legitim ist. Allerdings hat diese Möglichkeit eine reale Konsequenz: Es ist möglich, C AUCHYs analytische Darlegungen im modernen Sinn zu deuten – und also misszuverstehen.211 (8) Es gibt keine Anzeichen dafür, dass C AUCHY in seiner Konstruktionsvorstellung der „Funktion“ (abgesehen von seiner Einbeziehung des Begriffs „Wert“!) über diejenigen von E ULER (und L AGRANGE) hinausgegangen sei. Auch C AUCHY denkt bei der Beschreibung einer „Funktion“ an einen Rechenausdruck. (9) C AUCHY bezeichnet eine „Funktion“ der einen „unabhängig Veränderlichen“ x durch „ f (x)“, eine Funktion von zwei „unabhängig Veränderlichen“ x und y durch „ f (x, y)“. Es sei festgehalten: Diese Bezeichnungen sind in seiner Begriffswelt vollkommen korrekt! Denn für den „Funktionswert“ (was das bei C AUCHY ist, wird gleich verraten) der „Funktion“ f (x) für den „Wert“ x 0 der „Veränderlichen“ x steht C AUCHY die Bezeichung „ f (x 0 )“ (bzw. analog: „ f (x 0 , y 0 )“) zur Verfügung, und er nutzt sie auch! Um es zu wiederholen: C AUCHY unterscheidet in seiner Notation strikt zwischen einer „Veränderlichen“ x und einem ihrer „Werte“ (x 0 oder X). Einfache Beispiele für „Funktionen“: (i) Zur Funktion einer Veränderlichen: Betrachten wir die drei Größen sin x, x, e x . Aus einem „Wert“ von x lassen sich die „Werte“ von sin x und e x erschließen. Daher heißen x die „unabhängig Veränderliche“, sin x und e x die „abhängig Veränderlichen“. (ii) Zur Funktion zweier Veränderlicher: Sind x und y die Koordinaten eines veränderlichen Punktes P auf zwei zueinander senkrechten Achsen, gemessen vom Achsenschnittpunkt aus, und r der Abstand von P zum Achsenschnittpunkt, und stehen die Veränderlichen x, y, r in dem Zusammenhang x2 + y 2 = r 2 , so folgen daraus212 211
Für ein neueres Beispiel siehe Anmerkung 224 auf S. 314. 212 Ich notiere hier „±“, weil C AUCHY Wurzelwerte als vielfache denkt, wie gleich am Ende von Punkt 6 der folgenden Erörterung zu sehen sein wird.
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Der doppelte Auftakt, Teil 2: Augustin-Louis Cauchy 1821
q x = ± r 2 − y2 ,
p y = ± r 2 − x2 .
Ist also der „Wert“ von r bekannt, so zeigt z. B. die letzte Gleichung die Größe y als „Funktion“ der „unabhängig Veränderlichen“ x. (iii) Aus der Gleichung y = x1 kann man für jeden „Wert“ von x, der nicht Null ist, den „Funktionswert“ von y erschließen. Für den „Wert“ x = 0 ist dies nicht unmittelbar möglich. Dieses letzte Beispiel zeigt einen Handlungsbedarf auf: Was soll der „Wert“ der „Funktion“ f (x) = x1 für x = 0 sein? C AUCHY gibt darauf eine Antwort – allerdings eine, die uns Heutige überrascht. Dies führt uns endlich zu der zweiten fundamentalen Stelle, an der C AUCHY den Begriff „Grenze“ in seiner Analysis verankert: dem Begriff „Funktionswert“. Fundament 2: „Funktionswert“ als „Grenzen“ Die folgende grundlegende Begriffsbestimmung bei C AUCHY haben (fast) alle Mathematiker und bis zum Jahr 1992 auch alle Mathematikhistoriker (beiderlei Geschlechts) übersehen – mit Konsequenzen, die noch angesprochen werden müssen. C AUCHYs Erklärung des Begriffs „Funktionswert“ ist die Folgende: ab S. 315
Definitionen (Funktionswert, Sonderwert). Wenn sich ein besonderer Fall darbietet, in dem die gegebene Definition nicht unmittelbar den Funktionswert liefern kann, den man betrachtet, dann sucht man die Grenze oder die Grenzen, gegen welche diese Funktion konvergiert, während sich die Veränderlichen unbestimmt den besonderen Werten annähern, die ihnen zugewiesen sind; und wenn eine oder mehrere Grenzen dieser Art existieren, ˜ so sind sie als ebenso viele Funktionswerte unter den gegebenen Voraussetzungen anzusehen. Die wie eben gesagt bestimmten Werte der vorgelegten ˜ Funktion werden wir deren Sonderwerte nennen.
„S’il se présente un cas particulier dans lequel la définition donnée ne puisse plus fournir immédiatement la valeur de la fonction que l’on considère, on cherche la limite ou les limites vers lesquelles cette fonction converge, tandis que les variables s’approchent indéfiniment des valeurs particulières qui leur sont assignées; et, s’il existe une ou plusieurs limites de cette espèce, elles sont regardées comme autant de valeurs de la fonction dans l’hypothèse admise. Nous nommerons valeurs singulières de la fonction proposée celles qui se trouvent déterminées comme on vient de le dire.“ (CA, S. 51)
Auch diese uns sehr überraschende Definition verdient eine ausführliche Diskussion. (1) Geschichtlich erstmals wird hier eine präzise Definition des Begriffs „Funktionswert“ gegeben. Im vorangehenden Kapitel haben wir gesehen, welch unterge-
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4. Die Begründung der Werte-Analysis ordnete Rolle der Begriff des Funktionswertes bei C AUCHYs akademischen213 Vorgängern spielte.214 (2) C AUCHY hat diese Definition nicht ausdrücklich als „Definition“ gekennzeichnet. Aber der Begriff „valeurs singulières“ ist (im Original wie in der Werkausgabe) kursiviert – und somit ist klar, dass hier etwas definiert wird. (3) Selbstverständlich ist aus heutiger Sicht der Begriff des Funktionswertes für die Analysis essentiell – C AUCHYs analytisches Begriffsgebäude ist das historisch erste Beispiel dafür. Das wird auch im Weiteren sehr deutlich werden. (4) Der „Funktionswert“ ist eine „Grenze“. Er ist also nicht einfach irgendein „Wert“, sondern jeder „Wert“, der durch eine Veränderliche „unbestimmt angenähert“ wird. (5) In heutiger Sprache ausgedrückt sagt C AUCHY: „Funktionswert“ ist gleichbedeutend mit: „Funktionenlimes sein.“ Aus dieser Perspektive betrachtet sieht man sofort: Wenn der so definierte „Funktionswert“ EINDEUTIG UND ENDLICH ist, ist die Funktion für dieses Argument „stetig“. (6) Offenkundig unterscheidet sich C AUCHYs Begriff des Funktionswertes von dem Heutigen: Heute verlangen wir jedenfalls, dass der Funktionswert für ein einziges Argument eindeutig sei – C AUCHY jedoch lässt für ein einziges Argument ausdrücklich VIELE Funktionswerte zu. Im Fall der Funktion f (x) = x1 sind es für x = 0 die „Werte“ +∞ und −∞. Dafür hat C AUCHY sogar eine besondere Notation: Er verwendet Doppelklammern bzw. Doppelzeichen:n p p n
1
a = ((a)) n ,
tan((∞)) = M((−∞, +∞)) ,
0
1 ∞
=∞
1 −∞
= M((0, 1)) .
(7) Die mathematikgeschichtliche Literatur hat diese C AUCHY’sche Definition des Begriffs „Funktionswert“ bislang nicht zur Kenntnis genommen, sondern ihn keiner besonderen Betrachtung gewürdigt.215 (8) Wir werden Hinweise dazu geben, dass sich wesentlich aus diesem Fehlverständnis C AUCHYs auch jene Fehldeutungen erklären, die heutzutage gemeinhin S. 315, als „Fehler“ C AUCHY s gelten. Es sind nicht Denkfehler von C AUCHY , sondern DeuS. 329 ff. tungs- oder Verständnisfehler seiner Leserschaft. (9) Schließlich sei daran erinnert: Auch die „Ableitung“ einer Funktion ist heute n
Siehe etwa CA, S. 345, 53, 70.
213
Dass es sich bei den nicht akademischen Mathematikern anders verhielt, wurde in Anmerkung 169 auf S. 267 angedeutet. 214 C AUCHYs Lehrer L ACROIX hat dem „Funktionswert“ eine gewisse – sich im Laufe der Zeit offenbar steigernde – Aufmerksamkeit gewidmet. Man vergleiche etwa L ACROIX’ Behandlung der a in den beiden Auflagen seines Traité du Calcul Différentiel et du Reihenentwicklung von a−x Calcul Integral (1797: S. 3; 1810: S. 4–6). – Übrigens ist L ACROIX meines Wissens der Erste, der den Begriff „Funktionswert“ in die Definition des Begriffs „Funktion“ aufgenommen hat (Lacroix Ans V–VI [= 1797–1798], Bd. 1, S. 1). 215
Mir ist keine inhaltliche Auseinandersetzung mit Spalt 1996, Spalt 2002 bekannt.
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Der doppelte Auftakt, Teil 2: Augustin-Louis Cauchy 1821 für ein bestimmtes Argument x 0 als „Grenze“ definiert: f 0 (x 0 ) := lim
h→0
f (x 0 + h) − f (x 0 ) . h
So wird man selbst aus der heutigen Perspektive C AUCHYs Bestimmung der „Sonderwerte“ einer Funktion, in heutiger Notation: © ª f (x 0 ) := lim f (x) = lim f (X) | X → x 0 , x→x 0
keinesfalls als abwegig betrachten können, sondern sie als eine durchaus bedenkenswerte Möglichkeit anerkennen müssen, Analysis zu konstruieren. Ein – wesentlicher – Unterschied zwischen beiden Definitionen (derjenigen C AUCHYs wie der unsrigen) besteht darin, dass in der ersten Formel die Eindeutigkeit der Grenze verlangt wird, nicht jedoch in der zweiten Formel (bei C AUCHY). Die „unendlich Kleinen“ Seit N EWTON und L EIBNIZ werden die „unendlich kleinen“ „Größen“ (kurz: die „unendlich Kleinen“) als „veränderliche“ „Größen“ bestimmt, die (oder: deren „Werte“) kleiner als jede vorgegebene Größe (oder: als jeder vorgegebene „Wert“) werden. Einzig E ULER – und zuvor J OHANN B ERNOULLI – haben von „unendlich kleinen“ „Zahlen“ gesprochen (freilich ohne diesen Begriff zu konkretisieren). – C AUCHY stellt sich klar in die Haupttradition und definiert immer wieder:
Definition (unendlich Kleine). Wenn die nacheinander [oder: aufeinander] folgenden Zahlwerte einer gleichen Veränderlichen in solcher Weise unbestimmt abnehmen, dass sie unter jede gegebene Zahl absinken, sagt man, dass diese Veränderliche das wird, was man ein unendlich Kleines oder eine unendlich kleine Größe nennt. Eine Veränderliche dieser Art hat Null als Grenze.
„Lorsque les valeurs numériques successives d’une même variable decroissent indéfiniment de manière à s’abaisser audessous de tout nombre donnée, on dit que cette variable devient ce qu’on nomme un infiniment petit ou une quantité infiniment petite. Une variable de cette espèce a zéro pour limite.“ (CA, S. 19 = RL, S. 16 = T, S. 17; unwesentlich ergänzt in CD, S. 273; unwesentlich geändert in CA, S. 37; )
In C AUCHYs Zeichen: lim α = 0 Wir halten drei Punkte fest: (1) Erneut stützt sich C AUCHY hier auf den nicht mathematischen Begriff Zeit. S. 303, (2) Von der Sache her ist es klar, dass C AUCHY hier 0 als einzige „Grenze“ der Punkt 1 Veränderlichen will – auch wenn seine „Grenzen“ prinzipiell nicht eindeutig sind.
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Freilich hat C AUCHY dies hier nicht ausdrücklich formuliert. sin x1 ist keine „unendlich kleine“ Größe: sin 10 = M((−1, +1)).216 (3) Und das Wichtigste: „unendlich Kleine“ sind nicht „Zahlen“, sondern „Größen“ – wie bei fast allen Vorgängern. Sie sind „Veränderliche“ – und demzufolge von der „Konstanten“ mit dem „Wert“ Null verschieden. Den „Wert“ Null nehmen sie grundsätzlich nicht an. Daher könnte C AUCHY folgende Definition geben:
Definitionen (nicht bei Cauchy). Anstelle von: „für die unbestimmt abnehmenden Werte der (unendlich kleinen) Größe α“ sagen wir oft auch kurz: „für die unendlich kleinen Werte von α“. – Anstelle von „für die unbestimmt wachsenden Werte der (unendlich großen) Größe n“ sagen wir oft auch kurz: „für die unendlich großen Werte von n.“ C AUCHY hat diese Definitionen nicht gegeben. Aber er hat sie verwendet. Man könnte auch von einer ‚metaphorischen‘ Redeweise C AUCHYs sprechen, die nicht selten zu finden ist.217 Sie steht in der Tradition D ’A LEMBERTs,218 die von C AUCHYs Lehrer L ACROIX fortgeführt wurde.219 Es ist natürlich heikel, die vorstehende Definition als eine ‚C AUCHY’sche Definition‘ zu bezeichnen – denn C AUCHY hat sie eben, soweit ich sehe, gerade nicht ausgesprochen. Und im Allgemeinen wird mit sogenannten „impliziten Definitionen“ in der Mathematikgeschichtsschreibung manches Schindluder getrieben. Dennoch halte ich die Zuschreibung der obigen Definition zu C AUCHYs Begriffssystem für gerechtfertigt. Ich begründe dieses Urteil wie folgt: (i) Diese Definition fügt sich genau in die C AUCHY’sche Begriffswelt. (ii) Und nur sie fügt sich genau in die C AUCHY’sche Begriffswelt. Denn wer so pedantisch220 (a) das Rechnen mit „Zahlen“ von dem Rechnen mit „Größen“ unterscheidet, (b) wer die einzelnen Rechnungsarten für diese beiden Gegenstände je einzeln definiert, (c) und wer ebenso sorgfältig „rationale“ und „irrationale Zahlen“ auseinanderhält: der müsste, wenn er eine neue Art von „Zahlen“ einführte,221 sich ebenfalls dazu äußern, wie mit diesen zu „rechnen“ sei – etwa was die „Summe“ einer „endlichen“ und einer „unendlich kleinen“ „Zahl“ sei usw. Davon Ein Bild der Funktion sin x1 zeigt K LEIN – siehe S. 630. Siehe etwa S. 321 oder in Anmerkung 274 auf S. 380. 218 „Somit ist die Metaphysik des Unendlichen und der unendlich kleinen Größen, die größer oder kleiner sind als die anderen, im Differenzialkalkül vollständig unnütz. Man bedient sich des Begriffs unendlich klein, um die Ausdrücke abzukürzen.“ (d’Alembert 1754, S. 987, Sp. 2) 216
217
219
„Man drückt diese Umstände in abkürzender Weise aus und bedient sich dabei der Bezeichnungen des Unendlichen und des unendlich Kleinen, indem man als Grundsatz festsetzt, dass jede Potenz einer unendlich[ groß]en Größe vor einer solchen verschwindet, deren Exponent höher ist, oder im Gegensatz, dass jede Potenz einer unendlich kleinen Größe gegenüber einer solchen mit kleinerem Exponenten vergeht.“ (Lacroix 1810–1819, Bd. 1, S. 18) 220 Es sei an den Bericht auf S. 305 erinnert. 221 C AUCHY tut das sogar bei den „symbolischen Ausdrücken“, die für ihn ausdrücklich keine Zahlen
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Der doppelte Auftakt, Teil 2: Augustin-Louis Cauchy 1821 aber ist bei C AUCHY nirgendwo auch nur die geringste Spur zu finden. Demzufolge sind alle Vereinnahmungen C AUCHYs als einen frühen Nichtstandard-Analytiker unzulässig.222 Kleine Verschnaufpause: Eine Bemerkung zum Wesen der Mathematik sowie zur gegenwärtigen Fachliteratur Analysisgeschichte Wie in Anmerkung 205 auf S. 297 angesprochen ist verständiges Lesen nicht ganz einfach. Weit lieber schreibt und publiziert der Wissenschaftler, denn das erhöht die Reputation. Dementsprechend quer liegt eine Studie wie diese zum Mainstream, beruht sie doch auf intensiver Lektüre. Wer nicht einmal imstande ist, eine dreiseitige Einleitung223 (oder wenigstens zwei zusammenhängende Sätze daraus) als Ganzes zur Kenntnis zu nehmen, wird von vornherein die Lektüre von (im Original) 58 Seiten mathematischer Konstruktionen, noch dazu im „Anhang“, über so Elementares wie „positive“ und „negative“ „Größen“ (und „Zahlen“!) sowie das Rechnen mit > und 0], wenn man die Reihe schon vorher weit genug [= n] fortgesetzt hat [. . . ]“ Und in seinem Beweis des Zwischenwertsatzes erzeugt B OLZANO aus dieser Voraussetzung den Grenzwert. Dies zeigt: Nach B OLZANOs Verständnis lässt sich der S. 285 Grenzwert aus der Konvergenzbedingung konstruieren. • C AUCHY hingegen verlangt ausdrücklich das Bestehen der Grenze und formuliert unter dieser Voraussetzung sein Konvergenzkriterium – das werden wir gleich sehen. Dies soll hier ‚KonvergenzCy ‘ heißen. Aus diesem Grunde möchte ich im Weiteren sagen: Im Gegensatz zu B OLZANO setzt C AUCHY bei seiner Definition die Existenz des „Grenzwerts“ voraus. Das bedeutet für das Weitere: • Unter ‚konvergentBz ‘ verstehe ich künftig allein die Eigenschaft des (heute gewöhnlich nach C AUCHY benannten) Konvergenzkriteriums, wie es im oben nochmals eingerückten B OLZANO-Zitat formuliert ist. • Unter ‚konvergentCy ‘ hingegen verstehe ich (i) jene Eigenschaft sowie (ii) das zusätzliche Gegebensein der Grenze. Man mag über die Richtigkeit dieser Unterscheidung geteilter Meinung sein. Dennoch möchte ich sie treffen, aus dem eben genannten Grund. In jedem Falle ist begriffliche Klarheit von Nutzen. Cauchys Umformulierung
Zu der „Reihe“ 4.4 betrachtet C AUCHY die (von ihm nicht so genannten) „Partialsummen“: s n = u 0 + u 1 + u 2 + . . . + u n−1
(4.7)
Dazu gibt er die (ebenfalls nicht spezifizierte) Formulierung, die als „Lehrsatz“ zu deuten ist:
Lehrsatz (Konvergenzsatz). Damit die Reihe 4.4 konvergent ist, „[. . . ] pour que la série [4.4] soit convergenist es notwendig und hinreichend, te, il est nécessaire et il suffit que des valeurs dass die wachsenden Werte von n croissantes de n fassent converger indéfinidie Summe 4.7 unbestimmt gegen ment la somme [4.7] vers une limite fixe en eine feste Grenze gehen lassen, mit d’autres termes, il est nécessaire et il suffit anderen Worten, dass sich für unque, pour des valeurs infiniment grandes du endlich große Werte der Zahl n die nombre n, les sommes Summen s n , s n+1 , s n+2 , . . . von der Grenze s und folglich untereinander um unendlich kleine Größen unterscheiden.
diffèrent de la limite s, et par consequent entre-elles, de quantités infiniment petites.
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4. Die Begründung der Werte-Analysis Zudem sind die aufeinander folgenden Differenzen der ersten Summe s n zu jeder folgenden jeweils durch diese Gleichungen bestimmt:
D’ailleurs, les différences successives entre la première somme s n et chacune des suivantes sont respectivement déterminées par les équations
s n+1 − s n = u n , s n+2 − s n = u n + u n+1 , s n+3 − s n = u n + u n+1 + u n+2 , ............... Damit also die Reihe 4.4 konverDonc, pour que la série [4.4] soit convergent ist, ist es vor allem notwengente, il est d’abord nécessaire que le terme dig, dass das allgemeine Glied u n général u n décroisse indéfiniment, tandis unbestimmt abnimmt, während n que n augmente; mais cette condition ne wächst; doch ist diese Bedingung suffit pas, et il faut encore que, pour des vanicht hinreichend[229] , sondern es leurs croissantes de n, les différentes sommüssen noch für wachsende Wermes te von n die verschiedenen Summen u n + u n+1 , u n + u n+1 + u n+2 , ......... , d. h. die Summen der Größen
c’est-à-dire les sommes des quantités
un ,
u n+1 ,
u n+2 ,
... ,
genommen ab der ersten und in einer solchen Anzahl, wie man will, enden, indem sie beständig numerische Werte unterhalb jeder angebbaren Grenze annehmen.
prises, à partir de la première, en tel nombre que l’on voudra, finissent par obtenir constamment des valeurs numériques inférieures à toute limite assignable.
Wenn umgekehrt diese verschiedenen Bedingungen erfüllt sind, ist die Konvergenz der Reihe gesichert.
Réciproquement, lorsque ces diverses conditions sont remplies, la convergence de la série est assurée.“ (CA, S. 115 f.r )
Im vorletzten Halbsatz (ab dem Wort „sondern“) sagt C AUCHY der Sache nach ganz eindeutig das, was wir heute ‚epsilontisch‘ so formulieren: Damit die Reihe „konvergiert“, muss es zu jedem ε > 0 ein N geben, sodass für alle M gilt: |s N+M − s N | < ε .
(4.8)
r
Ebenso in T, S. 48 f., ebenfalls nicht ausdrücklich als „Lehrsatz“ ausgesprochen. Hervorhebung des Lehrsatzes hinzugefügt.
229
Hier distanziert sich C AUCHY vom Begriff der AKonvergenz seines Lehrers L ACROIX – siehe ab S. 267.
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Der doppelte Auftakt, Teil 2: Augustin-Louis Cauchy 1821 Es wäre hilfreich gewesen, wenn C AUCHY an dieser Stelle jenen Sachverhalt benannt hätte, den B OLZANO in die Worte gekleidet hatte: S. 295 „Dass aber die Voraussetzung auch einer unveränderlichen Größe, die diese Eigenschaft der Annäherung an die Glieder unsrer Reihe hat, keine Unmöglichkeit enthalte; folgt daraus, weil es bei dieser Voraussetzung möglich wird, diese Größe so genau, als man nur immer will, zu bestimmen.“ (RaB, § 7, S. 22) Denn genau so argumentiert C AUCHY hier: Den für seinen Konvergenzbegriff erforderlichen Nachweis der Existenz der „Grenze“ s erhält C AUCHY im Sinne von 4.8: Zu jeder Genauigkeit ε lässt sich für die (sonst nicht bekannte!) „Grenze“ s als „Wert“ die Zahl s N vorzeigen: als eine ε-genaue Näherung. Ein einfacher Lehrsatz – und ein weiteres Beispiel für Cauchys abweichende Analysis
Eine unmittelbare Konsequenz für C AUCHYs Konvergenzbegriff ist der von mir so genannte Summensatz:s
Lehrsatz (Summensatz). Wenn die verschiedenen Glieder der Reihe 4.4 Funktionen einer gleichen Veränderlichen x sind, und zwar stetig in dieser Veränderlichen in der Nähe eines besonderen Wertes [X], für welchen die Reihe konvergiert, dann ist auch die Summe s der Reihe in der Nähe dieses besonderen Wertes [X], eine in x stetige Funktion.
„Lorsque les différents termes de la série [4.4] sont des fonctions d’une même variable x, continues par rapport à cette variable dans le voisinage d’une valeur particulière pour laquelle la série est convergente, la somme s de la série est aussi, dans le voisinage de cette valeur particulière, fonction continue de x.“ (CA, S. 120 = T, S. 56)
Der Beweis dieses Lehrsatzes ist denkbar einfach: Zu beweisen ist die Stetigkeit der Summenfunktion s, und zwar unter der Voraussetzung, dass die Gliedfunktionen u i selbst stetig sind. Es ist also zu zeigen, dass für jeden unendlich kleinen Zuwachs α der unabhängig Veränderlichen x auch der Zuwachs der Funktion s(x) unendlich klein ist, sofern nur die Zuwächse der Reihenglieder u n (x) ebenfalls unendlich klein sind. Das aber ergibt sich unmittelbar, denn es ist s(x + α) − s(x) = s n (x + α) − s n (x) + r n (x + α) − r n (x) . Da die s n endliche Summen stetiger Funktionen sind, ist die erste Differenz rechts vom Gleichheitszeichen eine endliche Summe unendlich kleiner Größen und also unendlich klein. Und auch r n (x) wie auch r n (x+α) sind wegen der vorausgesetzten ‚KonvergenzCy ‘ ebenfalls unendlich klein. Da dieses letzte Argument üblicherweise bezweifelt wird, sei es im Detail analysiert. s
Spalt 1981, S. 40 f.
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4. Die Begründung der Werte-Analysis
Feinanalyse des Cauchy’schen Konvergenzbegriffs
Zu beachten ist C AUCHYs maßgebliche Voraussetzung: Die u n sind „Größen“, die von der „Veränderlichen“ x abhängen – in C AUCHYs Begriffen: „Funktionen“: u 0 (x) + u 1 (x) + u 2 (x) + . . . = s n (x) + r n (x) = s(x) . Dies gilt es zu bedenken, wenn wir C AUCHYs ausführliche Formulierung in seinem Beweis seines Satzes lesen: Der Zuwachs von s n wird für alle möglichen Werte von n eine unendlich kleine Größe; und derjenige von r n wird zugleich mit r n unwahrnehmbar, wenn man n einen sehr beträchtlich großen Wert beilegt.
„L’accroissement de s n sera, pour toutes les valeurs possibles de n, une quantité infiniment petite; et celui de r n deviendra insensible en même temps que r n , si l’on attribue à n une valeur très considerable.“ (CA, S. 120 = T, S. 55 f.)
Der „Zuwachs von s n = s n (x) für alle möglichen Werte von n“ ist die Differenz s n (x+α)−s n (x) für beliebige Werte von n für lim α = 0; der entsprechende Zuwachs von r n = r n (x) für beliebige Werte von n ist die Differenz r n (x+α)−r n (x) für lim α = 0. C AUCHYs ausführliche Formulierung von 4.6 besagt also: r n (x + α) − r n (x) wird mit beliebig wachsendem n und lim α = 0 unendlich klein. Wenn wir auch an dieser Stelle C AUCHYs Programm umsetzen und die „gewissen Werte“ der betrachteten Größen bestimmen sowie „die Bedeutung der Bezeichnungen“ „genau festsetzen“, dann ist C AUCHYs Kennzeichnung so zu symbolisieren: Für alle Werte x 0 wird r n (x 0 + α) − r n (x 0 ) mit wachsendem n und lim α = 0 unendlich klein. Genauer: Für alle Werte x 0 wird r N (x 0 + α) − r N (x 0 ) für N → ∞ und lim α = 0 unendlich klein. Noch genauer: Für alle Werte x 0 wird (und verbleibt): r N (x 0 + A) − r N (x 0 ) für N → ∞ und A → 0 ist beliebig klein. Da aber auch der Wert x 0 noch als „Grenze“ X → x 0 aufgefasst werden kann, kom-
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Der doppelte Auftakt, Teil 2: Augustin-Louis Cauchy 1821 men wir am Ende zu folgender genauesten Formulierung: Für Xm → x 0 muss es eine natürliche Zahl m 0 geben, sodass für alle Werte M > m 0 wird (und verbleibt): r N (XM + A) − r N (x 0 ) für N → ∞ und A → 0 ist beliebig klein. Versuchen wir, dies Letzte ‚epsilontisch‘ zu formulieren: Für alle Genauigkeiten δ (der Bestimmung von x 0 ) und für alle Toleranzen ε > 0 gibt es Werte m 0 (für die Annäherung von x 0 ), N und α0 , sodass (i) für alle M, M0 > m 0 gilt: |X M − XM0 | < δ sowie (ii) für N > n 0 und A < α0 stets gilt: |r N (XM + A) − r N (x 0 )| < ε . In die von C AUCHY gepflogene ‚Grenzwertsprache‘ – so will ich die Nutzung des lim-Operators nennen – rückübersetzt ist damit C AUCHYs Konvergenzdefinition 4.6 von S. 320 erläutert durch die Bedingung: lim r n (x 0 ) = lim r N (X) = 0 .
(4.9)
X→x 0 N→∞
Wir sehen, wie verwickelt die ‚epsilontische‘ Formulierung, wie elegant hingegen die Darstellung des Sachverhalts in der ‚Grenzwertsprache‘ ist. (Einen Term wie den Mittleren der letzten Formelzeile schreibt C AUCHY nicht: Die uns heute so geläufigen Subskripte zum lim-Operator müssen erst noch erfunden werden.) Wir sehen weiter: Dies ist genau C AUCHYs Begriff „Funktionswert“ für die „Funktion“ r n = r n (x) für den „Wert“ x = x 0 : Es sind sämtliche „Grenzen“ der „Veränderlichen“ r n (x 0 ) zu ermitteln – und dabei sind natürlich auch die „Grenzen“ für alle X → x 0 zu beachten! C AUCHYs ausführliche Wiedergabe seines Konvergenzbegriffs in seinem Beweis des ‚Summensatzes‘, die zu Beginn dieses Abschnitts angeführt wurde, ist also keine willkürliche Setzung (oder: Definition), sondern die direkte Konsequenz aus seinem Begriff „Funktionswert“, hier anzuwenden auf die „Größe“ r n (x 0 ). Der (jeder!) Konvergenzbegriff entfaltet BEI F UNKTIONENREIHEN in Cauchys Analysis andere Wirkungen als in unserer heutigen Analysis
Diese Analyse zeigt: C AUCHYs Konvergenzbegriff unterscheidet sich TECHNISCH (in S. 321 den logischen Bedingungen) nicht von unserem Heutigen. ‚KonvergentCy ‘ verlangt technisch über ‚konvergentBz ‘ hinaus die Existenz des Grenzwerts – sonst nichts. Im Übrigen stimmen beide Begriffe untereinander und mit dem heutigen Konvergenzbegriff überein.
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4. Die Begründung der Werte-Analysis Doch wir haben gerade gesehen: Jenseits des Technischen entfaltet der Konvergenzbegriff innerhalb des C AUCHY’schen Begriffssystems der Analysis überraschend andere Eigenschaften als in der uns heute gewohnten Analysis. Das liegt jedoch nicht an dem Unterschied, den ich hier zwischen ‚konvergentBz ‘ und ‚konvergentCy ‘ formuliert habe, sondern hat allein mit C AUCHYs Begriff „Funktionswert“ zu tun. Konvergenz verlangt, wenn es um Funktionenreihen geht: Für einen bestimmten „Wert“ x 0 muss lim r n (x 0 ) = 0 n→∞
gelten. (a) Für uns heute besagt dies: Untersuche lim r (x 0 ) – und sonst nichts. n→∞
(b) In C AUCHYs Begriffssystem hingegen bedeutet die abgesetzte Formel oben das Bestehen der Gleichung 4.9 und also, dass für sämtliche möglichen Grenzprozesse N → ∞ und X → x 0 die „Größe“ r N (X) stets auf die 0 hinauslaufen muss. Und diese Grenzprozesse dürfen sogar miteinander gekoppelt sein, etwa im Falle von x 0 = 0 durch X = N1 , sodass dann beispielsweise auch lim r N ( N1 ) zu betrachten N→∞
ist!230 Damit ist klar: In C AUCHYs Analysis ist der Konvergenzbegriff stärker als in unserer heutigen Analysis. Denn er verlangt mehr. Das hat aber nichts mit der (technischen) Formulierung des Konvergenzbegriffs (z. B. bei C AUCHY) zu tun, sondern das ist allein Konsequenz seines Begriffs „Funktionswert“. Deshalb nochmals: C AUCHY verlangt für den Begriff „Funktionswert“ , „die Grenzen zu suchen“, die sich ergeben, während sich die Veränderlichen unbestimmt den besonderen Werten annähern, die ihnen zugewiesen sind; und wenn eine oder mehrere ˜ Grenzen dieser Art existieren, so sind sie als ebenso viele Funktionswerte unter den gegebenen Voraussetzungen anzusehen.
S. 309
Aber zur Ermittlung aller dieser Grenzen gehört es im Falle oben nun einmal, auch die „Annäherung“ X → x 0 mit in Betracht zu ziehen. Ergebnis: Durch C AUCHYs von dem unsrigen abweichenden Begriff „Funktionswert“ kommen dem Konvergenzbegriff (jedem Konvergenzbegriff!) bei der Betrachtung von Funktionenreihen andere Eigenschaften zu als dann, wenn wir unseren heutigen Funktionsbegriff zugrunde legen. Natürlich können wir diesen Effekt des Konvergenzbegriffs (sei es der C AUCHYsche oder der B OLZANO’sche, das macht hier wie gesagt keinen Unterschied) für Funktionenreihen auch in unserer gegenwärtigen Analysis konstruieren. Das geschieht mittels des Begriffs „stetige Konvergenz“, siehe den folgenden Abschnitt. Daher lautet das höchst interessante Ergebnis unserer Begriffsanalyse: Der Begriff der Konvergenz (also: sowohl ‚KonvergenzCy ‘ als auch ‚KonvergenzBz ‘), ange230
Für ein konkretes Beispiel dazu siehe S. 330.
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Der doppelte Auftakt, Teil 2: Augustin-Louis Cauchy 1821 wendet auf Funktionenreihen, bezeichnet in C AUCHYs Analysis das, was wir heute „stetige Konvergenz“ nennen. Was bedeutet das für die Übersetzung des C AUCHY’schen Begriffs „convergence“? Wir könnten auf die Idee kommen zu sagen: Unter mathematischen Gesichtspunkten ist C AUCHYs „convergence“ (wenn es um Funktionenreihen geht) in der Sache durch „stetige Konvergenz“ zu übersetzen. Allerdings ist „stetige Konvergenz“ für Zahlenreihen kein sinnvoller Begriff. Die Antwort auf die gestellte Frage lautet einfach: Auf die Übersetzung, die Wortwahl also, kommt es hier überhaupt nicht an. Denn ‚konvergentCy ‘ und ‚konvergentheute ‘ sind technisch dieselben Begriffe (wenn wir einmal von dem feinen Unterschied absehen, der hier durch den Begriff ‚konvergentBz ‘ gefasst ist). Was in der Sache deutlich zu unterscheiden ist, das sind die Begriffe ‚FunktionswertCy ‘ und ‚Funktionswertheute ‘. Sie machen den entscheidenden strukturellen Unterschied zwischen C AUCHYs und unserer (Standard-)Analysis aus.
Der Begriff „stetige Konvergenz“ Unser heutiger Begriff „stetige Konvergenz“ ist wie folgt definiert:
Definition (stetige Konvergenz). Eine Folge ( f n )n∈N heißt „stetig konvergent“, wenn für jeden Wert X und für jede Folge (Xn )n∈N mit lim Xn = X der Grenzn→∞ wert lim f n (Xn ) n→∞
existiert (und somit eindeutig ist). (Vgl. Hahn 1921, S. 238) Ist ( f n )n∈N stetig konvergent, so wird durch X 7−→ lim f n (Xn ) für n→∞
lim Xn = X
n→∞
eine Funktion f definiert, die wir „Grenzfunktion“ der Folge ( f n )n∈N nennen wollen. Für reelle Funktionenfolgen gilt in jedem Häufungspunkt X des zugrunde gelegten Definitionsbereichs, allgemeint stetige Konvergenz in X
=⇒
gleichmäßige Konvergenz in X .
Der Begriff „stetige Konvergenz“ ist mächtiger, voraussetzungsvoller als der Begriff „gleichmäßige Konvergenz“. In jedem Lehrbuch der heutigen Analysis steht nun folgender231
Satz. Wenn die Funktionenfolge ( f n )n∈N für den Wert X gleichmäßig konvergiert, so ist die Grenzfunktion f für diesen Wert X stetig. t 231
Hahn 1948, S. 224 Das Thema wird nochmals aufgegriffen werden: siehe S. 360.
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4. Die Begründung der Werte-Analysis
Da der Begriff „stetige Konvergenz“ mächtiger ist als der Begriff „gleichmäßige Konvergenz“, garantiert dem obigen Lehrbuchsatz zufolge die Voraussetzung der „stetigen Konvergenz“ für die Gliedfunktionen ebenfalls die Stetigkeit der Grenzfunktion. Anders gesagt: C AUCHYs Satz ist korrekt. Er lässt sich in der heutigen Analysis natürlich auch direkt beweisen:
Satz. Wenn die Funktionenfolge ( f n )n∈N für den Wert X stetig konvergiert, so ist die Grenzfunktion f für diesen Wert X stetig. Die Umkehrung gilt nur unter der Zusatzbedingung, dass der Limes inferior der Schwankungen der Funktionenfolge in X den Wert 0 hat, d. h. limn ωn (X) = 0.232 Und deswegen warnt auch jedes Lehrbuch heute: Nicht jede nur „konvergente“ Funktionenfolge hat eine „stetige“ Grenzfunktion. Zu Recht. Allerdings hat C AUCHY diese falsche Behauptung auch nirgends formuliert.
Die traditionell falsche Lesart
S. 323
Wer nun also C AUCHYs Begriff „Funktionswert“ keine besondere Aufmerksamkeit schenkt und ihn so deutet, wie wir es heute gewohnt sind – und das scheinen sämtliche Mathematiker und Mathematikhistoriker (beiderlei Geschlechts) vor 1991 (und also vor allem auch vor Robinson 1966, S. 270 f.) getan zu haben233 –, hat deswegen mit diesem Lehrsatz (hier ‚Summensatz‘ genannt) ein Problem: denn dann scheint er falsch zu sein. Aber eine falsche Lesart macht noch keinen falschen Lehrsatz; sie desavouiert nur die Person (Leserin oder Leser), nicht aber den Satz. Aber wo steckt des Rätsels Lösung? Ist es nicht wahr, dass C AUCHYs Begriff der Konvergenz, also ‚konvergentCy ‘, dasselbe besagt wie der unsrige? Die Antwort auf diese Frage ist ein entschiedenes: Ja, aber! – Im vorletzten Abschnitt wurde das (auf dem Wege der Begriffsanalyse) bereits erläutert, aber da die Sachlage etwas exotisch – anders gesagt: hoch interessant – ist, soll sie ein zweites Mal beleuchtet werden, diesmal sozusagen von außen her. Ja, es stimmt: C AUCHYs Konvergenzbedingung ‚konvergentCy ‘ stimmt technisch mit der unsrigen überein. 232 233
Vgl. Carathéodory 1929, S. 525, Satz 6; Hahn 1948, S. 225. Das gilt enttäuschenderweise auch für Sonar 2011, S. 510 f. Die bisherigen Rettungsversuche für C AUCHY (seit Robinson 1966, S. 272 – in der Folge von Lakatos 1982 dann auch Spalt 1981) deuten C AUCHYs „convergent“ als „gleichmäßig konvergent“. Dass ich seit 1991 mit der Deutung „stetig konvergent“ eine andere Deutung vorgelegt habe als die Tradition, ist manchem Leser entgangen (etwa Sonar 2011, S. 512) und wurde bislang zwar mit institutionellen Mitteln nachdrücklich bekämpft, nach meiner Kenntnis jedoch noch von niemandem öffentlich sachlich zu beurteilen gewagt. – Auch die Übersetzer des Cours d’analyse ins Amerikanische mochten dieses Eisen nicht anfassen: Meinen Hinweis an sie auf diesen Punkt ließen sie unbeantwortet und offenkundig unbedacht: Bradley und Sandifer 2009.
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Der doppelte Auftakt, Teil 2: Augustin-Louis Cauchy 1821 Aber im Zusammenspiel mit C AUCHYs Begriff „Funktionswert“ zeigen sich beim S. 309 Konvergenzbegriff (und zwar sowohl bei dem von C AUCHY wie bei dem unsrigen!) ganz andere Wirkungen als dann, wenn wir unseren Begriff „Funktionswert“ nutzen. Analysis ist aber (wie jede Theorie) ein Zusammenspiel vieler Begriffe. Das bedeutet: Wenn sich ein einziger dieser Begriffe ändert, kann das Auswirkungen auf die Theoriegestalt haben: nämlich auf die Wirkungsweise (oder: die Bedeutung) anderer Begriffe. So ist es hier. C AUCHY behandelt von Anfang an „Konvergenz“ als eine Eigenschaft von Funktionenreihen. Da „Konvergenz“ eine Aussage über „Werte“ ist, ist S. 319 C AUCHYs Konvergenzbegriff von Anfang an mit seinem Begriff des Funktionswerts verquickt. Die „Funktionswerte“ jedoch sind etwas, was nach C AUCHYs Verständ- S. 309 nis aus den Gegebenheiten ermittelt werden muss: Die „Grenzen“ sind zu „suchen“. Wir nennen das heute: die „Funktionenlimites“ bilden (und zwar alle). Wir heute hingegen gehen ganz anders vor: Wir definieren „Konvergenz“ zunächst für Zahlenreihen. (Dabei gibt es keinen „Funktionswert“.) Dann übertragen wir den Konvergenzbegriff auf Funktionenreihen – und ändern ihn dabei natürlich nicht ab. Denn für uns ist das Wertefeld (der „Wertebereich“) einer „Funktion“ nichts anderes als eine Gesamtheit von im Prinzip willkürlichen Zahlen. Und hier steckt der Unterschied: Wo wir willkürlich definieren (müssen), hat C AUCHY keine Freiheit, sondern muss ermitteln, „suchen“, welches angesichts der je konkreten Gegebenheiten die „Grenzen“, die „Funktionenlimites“ sind. Für C AUCHY sind die Funktionswerte nicht willkürlich definiert (definierbar), sondern durch die Art der Funktion bestimmt – und zwar in der Weise, die wir heute „Funktionenlimes“ nennen. Ergebnis: Der auf Funktionenreihen angewandte Konvergenzbegriff greift auf den Begriff „Funktionswert“ zurück. Aber ‚FunktionswertCy ‘ und ‚Funktionswertheute ‘ unterscheiden sich gravierend. Daher bringt auch das Zusammenspiel der Duette ‚konvergentCy ‘/‚FunktionsbegriffCy ‘ einerseits und ‚konvergentheute ‘/‚Funktionsbegriffheute ‘ andererseits je eine unterschiedliche Melodie zustande. Das ist alles. Manchmal ist das Einfache nicht ganz leicht zu verstehen. Vielleicht hilft noch etwas Anschauung. Ein lehrreiches Beispiel Das technisch einfachste Beispiel, um die unterschiedliche Funktionsweise des Zusammenspiels von Funktionswert- und Konvergenzbegriff in C AUCHYs Analysis einerseits und in unserer heutigen Analysis andererseits zu zeigen, ist die Betrachtung der Folge der Parabelfunktionen im Einheitsintervall: x0 ,
x1 ,
x2 ,
x3 ,
... ,
xn ,
...
für 0 5 x 5 1 .
(4.10)
Wir heute sagen: Für n → ∞ „konvergiert“ diese Folge gegen die Funktion: f (X) =
( 0 falls 0 5 X < 1
(4.11)
1 falls X = 1 ,
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4. Die Begründung der Werte-Analysis denn für jedes 0 < X < 1 wird XN mit wachsendem N beliebig klein. Diese Grenzfunktion 4.11 hat am Wert X = 1 einen Sprung mit der Höhe 1, ist dort also (linksseitig) „unstetig“. Also haben wir hier ein Beispiel einer „konvergenten“ Reihe „stetiger“ Funktionen (denn die x n sind allesamt „stetig“) – ohne dass die Grenzfunktion ihrerseits „stetig“ ist: Sie hat beim Wert x = 1 einen Sprung (für alle Werte X < 1 ist ihr Funktionswert = 0, aber für X = 1 ist ihr Funktionswert = 1). Ganz anders aber sieht diese Situation in C AUCHYs Augen (in seiner Analysis) aus! In C AUCHYs Augen erfüllt die vorgelegte Reihe 4.10 gar nicht die Konvergenzbedingung: Sie ist nicht ‚konvergentCy ‘. – Und warum ist das so? Die überraschende Antwort lautet: Weil C AUCHYs Begriff „Funktionswert“ anders ist als der unsrige. – Neue Frage: Was soll denn der Begriff „Funktionswert“ hier? Von dem ist doch nirgends die Rede. Anwort: Aber doch! S. 320; 325 C AUCHYs Konvergenzbegriff beruht auch auf dem Begriff Funktionswert. Denn er lautet: Gl. 4.9
lim r n = 0 . Dies aber ist nichts anderes als die Forderung an den „Funktionswert“ der „Funktion“ (nämlich: „Veränderlichen“) r n , den einzigen Wert 0 zu haben. Dieser Bedingung aber genügt die vorgelegte Beispielsreihe 4.10 nicht. Und das wollen wir jetzt genau ausrechnen. Um Anschluss an C AUCHYs Begrifflichkeit zu finden, schreiben wir die „Folge“ 4.10 in eine „Reihe“ um (denn C AUCHYs Satz handelt nicht von „Folgen“, sondern von „Reihen“): u0 = x 0 , u n = x n+1 − x n
für n > 0 .
(4.12)
Dann ergibt sich: s n = u 0 + u 1 + . . . + u n−1 = x 0 + (x 1 − x 0 ) + (x 2 − x 1 ) + . . . + (x n − x n−1 ) = x n sowie r n = u n + u n+1 + u n+2 + . . . = (x n+1 − x n ) + (x n+2 − x n+1 ) + . . . = −x n . Die Frage lautet nun: Ist diese Reihe für X = 1 ‚konvergentCy ‘? Das heißt: Gilt eindeutig
lim r n (1) = 0 ?
(4.13)
Jetzt machen wir uns 4.9 von S. 325 oder die abschließende Beobachtung aus unserem Abschnitt „Fundament 1“ von S. 305 zunutze und betrachten die 1 als eine „Grenze“, als: lim 1 − N1 . Dies erlaubt (mit Rückgriff auf eine elementare Überlegung zur „Euler’schen N→∞
Zahl“ e – es geht dabei um die „stetige Verzinsung“) folgende Rechnung: Ein Wert von
lim r n (1) ist
µ ¶ µ ¶ 1 N 1 = lim − 1 − = −e −1 6= 0 ! lim r N 1 − N→∞ N→∞ N N
Damit ist gezeigt: lim r n (1) ist nicht in jedem Fall
=
0
– womit 4.13 mit Nein beantwortet ist. Ergebnis: Die Reihe 4.12, welche durch die Folge 4.10 definiert wird, ist für den Wert X = 1 als nicht ‚konvergentCy ‘ nachgewiesen. Folglich ist C AUCHYs Satz nicht auf sie anwendbar:
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C AUCHY hat also mitnichten (durch seinen – wie wir wissen: korrekt bewiesenen! – Satz) S. 324 fehlerhaft behauptet, diese Reihe 4.12 habe eine stetige Grenzfunktion 4.11. Analyse dieses Beispiels Rückblick: Worin besteht der hier entscheidende Unterschied zwischen C AUCHYs Analysis und unserer heutigen? Offenkundig nicht im Konvergenzbegriff! C AUCHYs Konvergenzbegriff ‚konvergentCy ‘ und unser heutiger „konvergent“ besagen, für sich genommen, dasselbe! Aber: C AUCHYs Begriff „Funktionswert“ unterscheidet sich gravierend von unserem heutigen. Anders als wir heute bestimmt C AUCHY, „die Grenzen“ – und also: alle „Grenzen“ – als „Funktionswert(e)“. Im Falle der Konvergenz geht es um die „Funktion“ r n (x). Die Konvergenzbedingung lautet: Ihr „Funktionswert“ soll allein die 0 sein. Nun ist aber r n (x) eine „Funktion“ von zwei „Veränderlichen“, nämlich von x und von n. Für die eben vorgestellte Beispielsreihe ergibt sich: In C AUCHYs Betrachtungsweise hat ¡ ¢ r n (1) auch andere Werte als 0, nämlich dann, wenn der Wert 1 als lim 1 − N1 betrachtet N→∞
und dieses N mit dem Wert des Indexes n identifiziert wird. In der Betrachtungsweise unserer heutigen Analysis ist dies unzulässig: Wir betrachten den Wert 1 als Individuum, für den ganz unabhängig von seiner Umgebung (und also: unabängig von allen 1 − N1 ) der Funktionswert r n (1) bestimmt sein muss. Für uns ist der „Funktionswert“ notwendig ein einziger, bei Bedarf auch willkürlich gesetzter Wert. Und dies macht hier den maßgeblichen Unterschied zwischen C AUCHYs Analysis und der unsrigen aus: C AUCHY muss „die Grenzen“ ermitteln, die sich aus der Problemstellung ergeben – wir verlangen eine (im Prinzip: ganz willkürliche, aber) eindeutige Definition. C AUCHY nimmt den „Wert“ 1 grundsätzlich als eine „Grenze“ und also: als zugehörig zum Kontinuum. Für uns heute ist der „Wert“ 1 ein Individuum, das mit seiner Umgebung nichts zu tun hat, von ihr abgelöst, isoliert betrachtet und bestimmt werden darf. Für C AUCHY ist das unmöglich. Für ihn ist die „Zahl“ selbstverständlich eine „Grenze“ im Kontinuum. So hat C AUCHY den Begriff „Zahl“ bestimmt. S. 305
D I FF E R E N Z E N V E R H Ä LT N I S U N D A B L E I T U N G C AUCHY gibt – als Erster – jene Definition der „Ableitung“ (fonction dérivée), die wir noch heute gelten lassen. Das Differenzenverhältnis Zunächst die Vorbereitung: Wenn die Funktion y = f (x) zwischen zwei gegebenen Grenzen der Veränderlichen x stetig bleibt und wenn man dieser Veränderlichen einen Wert zwischen jenen beiden Grenzen beilegt, dann bewirkt ein unendlich kleiner Zuwachs dieser Veränderlichen
„Lorsque la fonction y = f (x) reste continue entre deux limites données de la variable x, et que l’on assigne à cette variable une valeur comprise entre les deux limites dont il s’agit, un accroissement infiniment petit, attribué à la variable, produit un accroissement infini-
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4. Die Begründung der Werte-Analysis einen unendlich kleinen Zuwachs der Funktion selbst. S. 314
ment petit de la fonction elle-même.“ (RL, S. 22)
Dies ist nochmals die Stetigkeitseigenschaft. Dann folgt zur weiteren Vorbereitung der Begriff „Differenzenverhältnis“: Wenn man dann [diesen Zuwachs als] ∆x = i setzt, so sind demzufolge die beiden Glieder des Differenzenverhältnisses
„Par conséquent, si l’on pose alors ∆x = i , les deux termes du rapport aux différences
f (x + i ) − f (x) ∆y = ∆x i unendlich kleine Größen. Aber während diese beiden Glieder unbestimmt und zugleich gegen die Grenze Null laufen, kann das Verhältnis selbst gegen eine andere Grenze laufen, sei sie positiv oder negativ. Wenn diese [positive oder negative] Grenze existiert, hat sie für jeden besonderen Wert [X] von x einen bestimmten Wert; der [oder: sie] aber ändert sich mit x.
seront des quantités infiniment petites. Mais, tandisque ces deux termes s’approcheront indéfiniment et simultanément de la limite zéro, le rapport lui-même pourra converger vers une autre limite, soit positive, soit négative. Cette limite, lorsqu’elle existe, a une valeur déterminée pour chaque valeur particulière de x; mais elle varie avec x.“ (RL, S. 22)
Halten wir zuallererst fest: C AUCHY spricht hier von der Existenz „der Genze“ und von „dem bestimmten Wert“, den es „für jeden besonderen Wert von x“ geben soll. Das bedeutet klipp und klar: Hier ist die eindeutige Bestimmtheit der „Grenze“ und also: des betreffenden „Wertes“ verlangt. Fragen wir nun wieder: Was ist dieses „Differenzenverhältnis“? Es ist erklärt als ein Quotient aus zwei „Veränderlichen“: f (x + i ) − f (x) und i . Es ist demnach eine „Veränderliche“, die von anderen „Veränderlichen“ (nämlich der Differenz f (x + i ) − f (x) und der „unendlich Kleinen“ i ) „abhängt“, genauer: eine „Verbindung“ zweier „Veränderlicher“, die es gestattet, aus den Werten dieser Letzteren (durch Division) einen neuen Wert zu finden.234 Kurz: Damit ist das „Differenzenverhältnis“ als eine „Funktion“ im Sinne C AUCHYs nachgewiesen. Von dieser neu definierten „Funktion“ gilt: (a) Der Nenner ist eine „unendlich Kleine“. (b) Vom Zähler wird verlangt, er möge (in Abhängigkeit vom Nenner) eine „unendlich Kleine“ sein. Ergebnis: Für lim i = 0 hängt das „Differenzenverhältnis“ (allein) von der „Veränderlichen“ x ab. C AUCHY gibt ein Beispiel: Wenn man beispielsweise f (x) = x m , m eine ganze Zahl wählt, so ist das Verhältnis der unendlich kleinen Differenzen 234
Dieses „Finden“ ist das Ergebnis jenes „Suchens“, das C AUCHY bei der Bestimmung der „Funktionswerte“ verlangt – siehe S. 309.
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Der doppelte Auftakt, Teil 2: Augustin-Louis Cauchy 1821 m(m − 1) m−2 (x + i )m − x m = m x m−1 + x i + . . . + i m−1 i 1·2 und hat die Größe m x m−1 zur Grenze, d. h. eine neue Funktion der Veränderlichen x. (RL, S. 22) ∆ xm C AUCHY sagt also: Hier ist lim ( i ) = mx m−1 . i →0
Die Ableitung Nach diesen Vorbereitungen gibt C AUCHY die Definition der „Ableitung“: So ist es auch im Allgemeinen; nur hängt „Il en sera de même en générale; seudie Gestalt der neuen Funktion, welche lement la forme de la fonction nouf (x + i ) − f (x) velle qui servira de limite au rapport als Grenze des Verhältnisses i f (x + i ) − f (x) dient, von der Gestalt der vorgelegten dépendra de la fori Funktion y = f (x) ab. Um diese Abhän- me de la fonction proposée y = f (x). gigkeit anzuzeigen, nennt man die neue Pour indiquer cette dépendance, on Funktion[235] abgeleitete Funktion [oder donne à la nouvelle le nom de fonctikurz Ableitung] und bezeichnet sie mit on dérivée, et on la désigne, à l’aide de Hilfe eines Akzentes durch d’un accent, par la notation 0 0 y oder f (x) . y0 ou f 0 (x) . “ (RL, S. 22 f.) Hier gibt C AUCHY den Begriff der „Ableitung“ einer Funktion, wie er noch heute in der Anfängervorlesung die Regel ist. Es handelt sich bei der „Ableitung“ um eine „Funktion“, die Wert-für-Wert bestimmt wird. Dass sie dennoch unter C AUCHYs Funktionsbegriff fällt, haben wir uns eben überlegt. In C AUCHYs Begriffswelt sind die „Werte“ als „Grenzen“ gefasst. Demzufolge ist es erlaubt, beim Bilden der „Ableitung“ in dem Quotienten f (x + h) − f (h) h für einen Wert x = X die Bestimmung von X als Grenzprozess zu nehmen – und diesen mit h zu verknüpfen. Ob sich daraus etwas Interessantes ergibt, ist mir nicht bekannt. Ein exotischer Deutungsversuch von C AUCHYs Definition
Wenn man C AUCHYs Definition der „Ableitung“ auf ihren symbolisierten Aspekt verkürzt, sie also nur auf der Ebene der „Größen“ nimmt und nicht über die „Wer235
Hier sagt C AUCHY also, dass er ‚Wert-zu-Wert‘ definierte „Funktionen“ zulässt!
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4. Die Begründung der Werte-Analysis te“ nachdenkt, die doch durch „lim“ erzeugt werden, dann lautet sie: f (x + i ) − f (x) − f 0 (x) ist unendlich klein, falls f 0 (x) endlich ist. i Mit dieser (impliziten!) Definition der „Ableitung“ – die C AUCHY so nicht gegeben hat – gilt folgender:
Lehrsatz. Die Ableitung einer Funktion ist stetig. Beweis. Wenn die Grenze des Differenzialquotienten einem bestimmten Intervall existiert, dann sind sowohl
∆y ∆x
für alle Werte von x in
f (x + i ) − f (x) − f 0 (x) i als auch (man ersetze x durch x + i sowie i durch −i , was natürlich zulässig ist, da es sich nur um Bezeichnungen handelt): −
f ([x + i ] − i ) − f (x + i ) + f 0 (x + i ) −i
mit lim i = 0 unendlich klein, folglich auch ihre Summe: f 0 (x + i ) − f 0 (x) – w. z. b. w. Diesen Satz und Beweis gab L AUGWITZ.236 Doch dieser Beweis ist falsch. Denn er verlangt „x“ zunächst als einen „Wert“, setzt dann jedoch x = x + i – aber x + i ist in C AUCHYs Analysis gewiss eine „Veränderliche“, kein „Wert“. Ich habe geglaubt, diesen Beweis (und also auch den Satz) auch für die von C AUCHY formulierte Definition „Ableitung“ übernehmen zu können.237 Doch auch mein Beweis ist falsch. Er beginnt mit der Gleichung f 0 (X) = lim f 0 (X + α) , α=0
und deren Geltung ist keineswegs gesichert: Sie verlangt bereits die Stetigkeit der „Ableitung“ am Wert X; die aber muss keineswegs bestehen, sondern soll erst bewiesen werden. Mit anderen Worten: Der von L AUGWITZ als in C AUCHYs Analysis gültig behauptete Satz ist nicht bewiesen. Und tatsächlich ist C AUCHYs Begriff „Ableitung“ keineswegs (unser) Begriff „stetige Ableitung“, denn in C AUCHYs Analysis gilt natürlich der
Lehrsatz. Es ist möglich, dass die abgeleitete Funktion für einen Wert der Veränderlichen nicht stetig ist.
Beweis durch Angabe eines Beispiels. Wir betrachten die Funktion 236
Erstmals in Laugwitz 1987, S. 268.
237
Siehe Spalt 1996, S. 121.
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Der doppelte Auftakt, Teil 2: Augustin-Louis Cauchy 1821
1 . x Sie hat für den Wert x = 0 gemäß C AUCHYs Definition von „Funktionswert“ den S. 309 eindeutig bestimmten Wert f (x) := x 2 · sin
f (0) = 02 · M((−1, +1)) = 0 . Die Unstetigkeit der Ableitung für x = 0 kann man sich folgendermaßen überlegen. Für x 6= 0 lautet die Ableitung: µ ¶ 1 1 1 2 0 f (x) = 2x · sin + x cos · − 2 x x x 1 1 = 2x · sin − cos (4.14) x x Ist die stetige Fortsetzung dieser Funktion für x = 0 möglich? Berechnen wir dazu einfach C AUCHYs „Funktionswert“ für x = 0: f 0 (0) = 2 · 0 · M((−1, +1)) − M((−1, +1)) = M((−1, +1)) Somit ist f 0 (x) für x = 0 nicht eindeutig bestimmt, f 0 (x) also für den Wert x = 0 nicht stetig.238 Damit ist der von L AUGWITZ für C AUCHYs Analysis als gültig behauptete Lehrsatz von S. 334 in C AUCHYs Analysis widerlegt. Vom Bilden der Ableitungen
C AUCHY hält es offenbar für nicht erforderlich, sogleich darauf hinzuweisen, dass aus der Stetigkeit einer Funktion an einem Wert nicht die Existenz ihrer „Ableitung“ für diesen Wert folgt. Vielmehr zeigt er einen konstruktiven Weg auf, „Ableitungen“ zu bilden. In einem ersten Schritt zählt er die „einfachen“ Funktionen auf:u a+x,
a−x,
ax ,
a , x
xa ,
Ax ,
log x
sowie sin x ,
cos x ,
arcsin x ,
arccos x .
Sodann berechnet er deren „Ableitungen“. Anschließend beweist er die Kettenregel für „Ableitungen“ – und wendet sich dann dem neuen Begriff „Differenzial“ zu. u 238
RL, S. 23; den Logarithmus bezeichnet C AUCHY durch „L“. In CD, S. 333 betrachtet C AUCHY die Funktion f (x) = x sin x1 sowie daraus abgeleitet x · f 0 (x) = x sin x1 − cos x1 für x = 0.
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4. Die Begründung der Werte-Analysis
Dies mag der Tatsache geschuldet sein, dass C AUCHY in seinen ersten drei Vorlesungszyklen an der École polytechnique (1816–17, 1818–19, 1820–21) nur etwa ein Zehntel bzw. (im dritten Zyklus) ein Sechstel der Zeit auf die Differenzialrechnung verwandte; erst ab seinem vierten Vorlesungszyklus (1822–23) überstieg der für die Differenzialrechnung verwendete Zeitaufwand die 40-%-Marke und erreichte im Letzten (1828–29) sogar fast die 60-%-Marke.v Zur Zeit der Erstellung des Manuskripts für den Resumé des Leçons données à l’École Royale Polytechnique sur le Calcul Infinitésimal war seine Vorlesungszeit für die Differenzialrechnung also recht knapp bemessen. (In den ersten beiden Vorlesungszyklen verwandte C AUCHY hingegen mehr als 50 % seiner Zeit auf die Analyse algébrique, also auf Inhalte aus seinem Cours d’analyse! Im folgenden Zyklus halbierte sich dieser Anteil, wurde in den beiden folgenden Zyklen auf weniger als ein Zehntel reduziert und entfiel schließlich ganz.)
DAS DIFFERENZIAL BEI FUNKTIONEN EINER VERÄNDERLICHEN C AUCHYs Idee ist es nun, die „unendlich kleine“ Größe i als Produkt einer gewissen „endlichen“ Größe h und einer „unendlich kleinen“ Größe α zu schreiben: i = αh. Damit ergibt sich aus f (x + i ) − f (x) f (x + αh) − f (x) = i αh die Formel f (x + αh) − f (x) f (x + i ) − f (x) = h. α i
(4.15)
„Die Grenze, gegen welche das erste Glied der Gleichung [4.15] läuft, wenn sich die Veränderliche α unbestimmt der Null nähert und die Größe h konstant bleibt, heißt das Differenzial der Funktion y = f (x). Es wird durch den Kennbuchstaben d wie folgt angezeigt: dy
oder
d f (x) .
Es ist leicht, seinen Wert zu erhalten, wenn man denjenigen der Ableitung y 0 oder f 0 (x) kennt. In der Tat, nimmt man die Grenzen bei beiden Gliedern der Gleichung [4.15], so findet man ganz allgemein d f (x) = h f 0 (x) .
(4.16)
Im Sonderfall f (x) = x wird die Gleichung [4.16] zu dx = h . v
(4.17)
Gilain 1989, S. 30
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Der doppelte Auftakt, Teil 2: Augustin-Louis Cauchy 1821 Daher ist das Differenzial der unabhängig Veränderlichen x nichts anderes als die endliche Konstante h. Damit wird Gleichung [4.16] zu d f (x) = f 0 (x) dx
(4.18)
oder, was auf dasselbe hinauskommt, zu dy = y 0 dx .
(4.19)
Daraus ergibt sich, dass die Ableitung y 0 = f 0 (x) einer beliebigen Funkdy tion y = f (x) genau gleich dx ist, d. h. dem Verhältnis aus dem Differenzial der Funktion und demjenigen der dunabhängige Veränderlichen – oder, wenn man will, [die Ableitung ist gleich] dem Koeffizienten, mit welchem man das zweite Differenzial [also jenes der unabhängig Veränderlichen] multiplizieren muss, um das Erste [also das der Funktion] zu erhalten. Aus diesem Grunde nennt man die Ableitung manchmal auch Differenzialkoeffizient.“ (RL, S. 27) C AUCHY bestimmt das „Differenzial“ als jene „Funktion“, die das Produkt aus der „Ableitung“ und einer weiteren „Veränderlichen“ h = dx ist. Ein „Differenzial“ ist nach C AUCHY eine „Funktion“ zweier unabhängig Veränderlicher: x und h, wobei stets die Bezeichnungsweise h = dx anzuwenden ist. Damit bestimmt C AUCHY das „Differenzial“ als eine grundsätzlich endliche Größe (die aber natürlich den „Wert“ 0 haben kann, in dieser Hinsicht also „unendlich klein“ „werden“ kann). Dass bereits L EIBNIZ eine solche Perspektive eingenommen hatte239 – es sei an L EIBNIZ’ (d) x, (d) y erinnert240 –, konnte C AUCHY nicht wissen. Eine „Produktregel“ für diesen Begriff „Differenzial“ gibt C AUCHY an dieser Stelle nicht241 , wohl aber eine „Kettenregel“. Dies geschieht wie folgt. Mit ∆y = f (x + αh) − f (x) ist gemäß der Definition dy die Grenze von ∆y f (x + i ) − f (x) ·h = . i α Dies bedeutet ∆y → dy , α
also
∆y = dy + β mit lim β = 0 α
oder ∆ y = α ( dy + β) .
(4.20)
„Sei z eine zweite Funktion der Veränderlichen x. Man erhält ebenso ∆ z = α ( dz + γ) , 239 241
Darauf verweist Bos 1974, S. 59. 240 Siehe ab S. 117. Auch nicht an der vergleichbaren Stelle CD, S. 287–295.
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4. Die Begründung der Werte-Analysis γ nochmals eine unendlich kleine Größe. Daraus findet man dz + γ ∆z = ∆y dy + β und durch Übergang zu den Grenzen [mittels α → 0] ∆z dz z 0 dx z0 lim = = 0 = . ∆y dy y dx y 0
(4.21)
Demnach gilt der
Lehrsatz. Das Verhältnis zwischen den unendlich kleinen Differenzen zweier Funktionen einer Veränderlichen x hat das Verhältnis ihrer Differenziale oder ihrer Ableitung zur Grenze. Nehmen wir jetzt an, dass die Funktionen y und z durch die Gleichung z = F(y) untereinander verbunden sind. Dann erhält man ∆z F(y + ∆y) − F(y) = ∆y ∆y und also durch Übergang zu den Grenzen [mittels α → 0] und Beachten der Formel [4.21] ∆z z 0 = 0 = F0 (y) , lim ∆y y dz = F0 (y) dy , z 0 = y 0 F0 (y) .“ (RL, S. 30 f.) Indem wir „F(y)“ statt „z“ schreiben, ergibt die vorletzte Gleichung d F(y) = F0 (y) dy . Insgesamt ist damit bewiesen:242
Lehrsatz (Kettenregel). Für z = F(y) = F( f (x)) gilt dz = F 0 (y) dy = F0 (y) f 0 (x) dx . C AUCHY hat eine völlig neue 243 Definition des Begriffs „Differenzial“ gegeben. Dieses grundsätzlich endliche „Differenzial“ ist nur insofern eine „unendlich klei242
Der Lehrsatz ist zwar – in anderen Worten – bei C AUCHY kursiviert, nicht aber als solcher bezeichnet. 243 Denn von der Vorgängerschaft L EIBNIZ’ – siehe bei Anmerkung 240 auf S. 337 – konnte C AUCHY
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Der doppelte Auftakt, Teil 2: Augustin-Louis Cauchy 1821 ne“ Größe, als ihr Faktor dx hinsichtlich lim dx = 0 betrachtet werden kann. – Bis heute ist dieser Begriff des Differenzials (in der Standard-Analysis) gültig geblieben. dz dy dz = dy · dx , C AUCHY beweist die Kettenregel also keineswegs über die Gleichung dx w wie es in der Infinitesimalmathematik üblich ist. C AUCHYs Analysis dennoch als eine Vorläuferin einer heutigen Nichtstandard-Analysis zu deuten, bedarf einigen Mutes – und ist, wie die detaillierte Analyse seines Begriffssystems zeigt, völlig unberechtigt. DAS INTEGRAL Während die Mathematiker des 18. Jahrhunderts in der Nachfolge von J OHANN B ERNOULLIs Integralrechnung x das „Integral“ als „Veränderliche“ – nämlich als „Umkehrung des Differenzials“ – eingeführt haben (also als „unbestimmtes“ Integral), führt es C AUCHY wieder244 als „Wert“ ein, und zwar als die folgende „Grenze“: n−1 X lim (x i +1 − x i ) f (x i ) , n=∞
i =0
Diese „Grenze“ konstruiert C AUCHY in seinem Resumé des Leçons données à l’École Royale Polytechnique sur le Calcul Infinitésimal von 1823. Dabei bedient er sich eines besonderen Argumentationsschemas, das er vorbereitend in seinem Cours d’analyse von 1821 darlegt. Wir folgen ihm darin. Eine Vorbetrachtung über Größen C AUCHY „nennt [. . . ] ein Mittel (moyenne) unter mehreren gegebenen Größen dc, c 0 , c 00 , . . . e eine neue Größe dM(c, c 0 , c 00 , . . .)e, welche zwischen der kleinsten und der größten unter den gegebenen eingeschlossen ist“y . Mit den von C AUCHY nicht verwendeten Bezeichnungen „min“, „max“ heißt das: min(c, c 0 , c 00 , . . .) 5 M(c, c 0 , c 00 , . . .) 5 max(c, c 0 , c 00 , . . .) . Im Zentrum steht nun der
„Lehrsatz. Seien b, b 0 , b 00 , . . . mehrere Größen desselben Vorzeichens der Anzahl n und a, a 0 , a 00 , . . . beliebige Größen derselben Anzahl. Man hat ¶ µ a a 0 a 00 a + a 0 + a 00 + . . . = M , 0 , 00 , . . . . b + b 0 + b 00 + . . . b b b
w
244
Siehe etwa Laugwitz 1986, S. 27.
x
Joh. Bernoulli 1914
y
(4.22)
CA, S. 27
nicht wissen. Es sei an L EIBNIZ erinnert: siehe ab S. 105.
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4. Die Begründung der Werte-Analysis
Beweis: Seien g die größte und k die kleinste der Größen a a 0 a 00 , , , ... . b b 0 b 00 [g und k existieren für jeden Wert von n.] Die Differenzen a b a0 g− 0 b a 00 g − 00 b ... g−
und und und
a −k , b a0 −k , b0 a 00 −k , b 00 ...
sind allesamt positiv. Multipliziert man die ersten beiden mit b, die zweitfolgenden mit b 0 usw., so erhält man die Produkte g b−a 0
g b −a
0
g b 00 − a 00 ...
und a − k b , und a 0 − k b 0 , und a 00 − k b 00 , ... ,
die alle dasselbe Vorzeichen haben, und zwar das der Größen b, b 0 , b 00 , . . . Folglich sind die Summen dieser beiden Arten von Produkten, also g (b + b 0 + b 00 + . . .) − (a + a 0 + a 00 + . . .) , a + a 0 + a 00 + . . . − k(b + b 0 + b 00 + . . .) , sowie die Quotienten dieser Summen, mit b + b 0 + b 00 + . . . genommen, also a + a 0 + a 00 + . . . a + a 0 + a 00 + . . . , −k , g− b + b 0 + b 00 + . . . b + b 0 + b 00 + . . . Größen mit demselben Vorzeichen; daraus schließt man µ ¶ a + a 0 + a 00 + . . . a a 0 a 00 .“ = M(g , k) = M , , , . . . b + b 0 + b 00 + . . . b b 0 b 00 (CA, S. 368) Dann beweist C AUCHY den
„Lehrsatz. Wenn man mit α, α0 , α00 . . . neue Größen bezeichnet, die alle dasselbe Vorzeichen haben, dann hat man aufgrund der Gleichung [4.22]
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Der doppelte Auftakt, Teil 2: Augustin-Louis Cauchy 1821 ¶ µ αa α0 a 0 α00 a 00 αa + α0 a 0 + α00 a 00 + . . . =M , , ,... αb + α0 b 0 + α00 b 00 + . . . αb α0 b 0 α00 b 00 µ ¶ a a 0 a 00 = M , 0 , 00 , . . . .“ b b b (CA, S. 369, 28) Und letztlich: „Wenn man b = b 0 = b 00 = . . . = 1 annimmt, so schließt man aus diesem Lehrsatz, dass die Summe αa + α0 a 0 + α00 a 00 + . . . gleichwertig ist dem Produkt von α + α0 + α00 + . . . mit einem Mittel der Größen a, a 0 , a 00 , . . . “ (CA, S. 28) „. . . “ steht dabei für endlich viele Größen – oder zumindest muss es möglich sein, unter den betrachteten Größen a, a 0 , a 00 , . . . eine größte und eine kleinste zu ermitteln. – C AUCHYs letztgewonnenes Ergebnis als Gleichung (die α haben gleiche Vorzeichen, die a sind beliebige Größen) lautet: αa + α0 a 0 + α00 a 00 + . . . = (α + α0 + α00 + . . .) · M(a, a 0 , a 00 , . . . )
(4.23)
Diese Gleichung wird alsbald nützlich sein. Wir bemerken: Es handelt sich um einen Satz, eine Gleichung über Größen. In einer Theorie der Analysis, die den Begriff „Größe“ nicht enthält – wie beispielsweise unsere heutige –, gelten die Sätze und die Gleichungen dieses Abschnittes nicht, weil sie in dieser Form dort gar nicht sinnvoll sind. Das Integral C AUCHYs Resultat ist:
Lehrsatz (eindeutige Existenz des bestimmten Integrals). Wenn eine Funktion f (x) einer Veränderlichen x stetig ist zwischen den endlichen RX Grenzen x 0 und X, dann hat sie ein bestimmtes Integral f (x) dx , welx0
ches durch die folgende Grenze erklärt ist: ZX f (x) dx = lim
n=∞
x0
n−1 X
(x i +1 − x i ) f (x i ) ,
i =0
wobei die x i +1 − x i eine beliebige Teilung der Differenz X − x 0 ( X = x n ) in Elemente gleichen Vorzeichens ist. (vgl. RL, S. 126 f.)
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4. Die Begründung der Werte-Analysis C AUCHYs Argument für die Existenz und Eindeutigkeit dieser Grenze sei zusammenfassend dargestellt. (1) Die zu betrachtende Größe ist natürlich die Treppenfläche245 S = (x 1 − x 0 ) f (x 0 ) + (x 2 − x 1 ) f (x 1 ) + . . . + (X − x n−1 ) f (x n−1 ) .
(4.24)
mit irgendeiner Teilung (x i ) der Differenz X − x 0 der verlangten Art. (2) Es gilt gemäß Gleichung 4.23 und dem Zwischenwertsatz für die nach Voraussetzung stetige Funktion f (x) für die zugehörige, auch von n abhängige Größe S: n−1 X S= (x i +1 − x i ) f (x i ) = (X − x 0 ) · f (x 0 + θ(X − x 0 )) . i =0
Dabei ist θ eine Zahl > 0 und < 1, die durch die Anwendung des Zwischenwertsatzes entsteht. (3) Ist nun eine zweite Teilung (x 0j ) von X−x 0 der verlangten Art eine Verfeinerung der Ersten (x i ), so gilt für jede Teil-Größe Si der Ersten ebenso (x 0j = x i , x 0j +m = i i i x i +1 ): Si =
ι= j i X +m i −1
ι= j i 0 = (x j i +mi
0 (x ι+1 − x ι0 ) f (x ι0 )
− x 0j i ) f (x 0j i + θi0 (x 0j i +mi − x 0j i ))
= (x i +1 − x i ) f (x i + θi0 (x i +1 − x i )) = (x i +1 − x i )[ f (x i ) ± εi ] Wegen der Stetigkeit der Funktion f (x) sind die εi sehr kleine Zahlwerte. Mit n = ∞ (um C AUCHYs Schreibweise für unser „n → ∞“ zu verwenden) gehen die εi sämtlich gegen 0. In Abhängigkeit von einem Wert N von n betrachtet konstituiert jeder Zahlwert εi (N) eine Größe εi (n), und für sie gilt lim εi (n) = 0. Dies gilt für jeden n=∞
Wert von i . P (4) Die Differenz beider Summen S und S0 = Si ist daher S − S0 =
n−1 X
(x i +1 − x i ) f (x i ) −
i =0 n−1 X
=∓
n−1 X
(x i +1 − x i )[ f (x i ) ± εi ]
i =0
(x i +1 − x i )εi .
(4.25)
i =0
(5) Sind also (x i ) und (x k00 ) zwei verschiedene Teilungen der Differenz X − x 0 der verlangten Art, so betrachten wir eine dritte Teilung (x 0j ) dieser Differenz X − x 0 , welche gemeinsame Verfeinerung beider Teilungen (x i ) und (x k00 ) ist. Analog zu 245
C AUCHY entwirft (in der Tradition der „Algebraischen Analysis“) seine Analysis ganz ohne Figuren. Erst D IRICHLET lässt wieder geometrische Betrachtungen in der Analysis zu und zeigt auch Figuren in seiner Vorlesung: siehe S. 369.
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Der doppelte Auftakt, Teil 2: Augustin-Louis Cauchy 1821 Gleichung 4.25 ist S00 − S0 = ∓
X k
00 (x k+1 − x k00 )ε00k
der betreffende Zusammenhang zwischen der nach Gleichung 4.24 berechneten Größe S00 aus der Teilung (x k00 ) und der Größe S0 aus der gemeinsamen Verfeinerung (x 0j ). (6) Nach Gleichung 4.23 der Vorbetrachtungen gilt X (x i +1 − x i ) · εi = (X − x 0 ) · M(ε0 , ε1 , . . .) , Xi 00 (x k+1 − x k00 ) · ε00k = (X − x 0 ) · M(ε000 , ε001 , . . .) . k
Die „Mittel“ im zweiten Glied dieser Gleichungen sind nun für endliche Werte von n „Mittel“ aus endlich vielen Größen: (sehr kleinen) εi und ε00k . Für wachsende Werte von n haben die εi und die ε00k sämtlich die Grenze 0. Also muss auch deren „Mittel“ die Grenze Null haben d. h. unendlich klein sein. (7) Folglich hat die gemäß Gleichung 4.24 berechnete Größe S = (x 1 − x 0 ) f (x 0 ) + (x 2 − x 1 ) f (x 1 ) + . . . + (x 0 − x n−1 ) f (x n−1 ) für n = ∞ eine Grenze, welche unabhängig von der ursprünglichen Art der Teilung der Differenz X − x 0 in Elemente x i +1 − x i gleichen Vorzeichens ist. Diese Grenze ist das bestimmte Integral ZX lim S = f (x) dx . n=∞
x0
Damit ist der Lehrsatz über die Existenz und die Eindeutigkeit des bestimmten Integrals streng bewiesen.246 Diesen Beweis wird man sehr elegant nennen dürfen: Er ist bei aller Strenge durch seine geschickte Organisation (Betrachtung der „Verfeinerung“ einer Teilung) kurz. Als Hauptproblem stellt sich die Bezeichnungsweise – bei der „Verfeinerung“ einer Teilung – heraus; begrifflich gibt es dabei jedoch kein Problem. 246
Vgl. RL, S. 122–126. – Mathematiker, die Geschichtsschreibung im Stile der Rechtsprechungsmethode (vgl. dazu Laugwitz und Spalt 1988) betreiben und sie nicht als die Arbeit des Nachdenkens fremder Gedankengänge verstehen, sehen hier gleich „zwei Fehler. [C AUCHY] benutzt unter der Hand, dass f auf [x 0 , X] gleichmäßig stetig ist (diese Tatsache kennt er noch nicht), und bedient sich in dem abschließenden Konvergenzargument stillschweigend der Vollständigkeit von R.“ (Heuser 4 1988, S. 693) Hier werden also heutige Begriffe (die „Abbildung“ f gab es für C AUCHY so wenig wie die „Gruppe“ für E UKLID) statt früherer Begriffe gelesen – woraus kaum etwas anderes als Begriffsverwirrung erwartet werden kann. C AUCHY handelt von „Größen“, nicht von „Werten“, und C AUCHYs Beweisführung gründet ganz wesentlich auf der „Größe“: siehe S. 339 ff. – einem Begriff also, von dem in diesem Lehrbuch trotz seines gewaltigen Umfangs nirgendwo die Rede ist.
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4. Die Begründung der Werte-Analysis Unnötig zu sagen, dass C AUCHY die detaillierte Ausführung dieses Beweises der Leserschaft überlässt und so auch diese Bezeichnungsproblematik übergeht. R E K A P I T U L AT I O N D E R R E V O LU T I O N Unabhängig und in Unkenntnis voneinander und aus gänzlich unterschiedlichen Motiven247 haben B OLZANO und C AUCHY die Algebraische Analysis von E ULER und L AGRANGE grundsätzlich überwunden. Auf den ersten Blick scheint es, als hätten B OLZANO und C AUCHY dieselbe Theoriebildung vor Augen gehabt: Beide geben gleichsinnige Definitionen von „Stetigkeit“ und „Konvergenz“ und betrachten sie als grundlegend, und beide stützen ihre Definitionen und Beweise auf den Begriff „Wert“. Bei genauerem Hinsehen aber zeigt sich eine riesige Diskrepanz zwischen den beiden Theoriegebäuden, die antagonistischer kaum sein könnte.
S. 276
Schließlich wurden B OLZANOs und C AUCHYs Lehre in gänzlich verschiedener Weise zur Kenntnis genommen: Der im damaligen Zentrum der Mathematikentwicklung, in Paris, wirkende C AUCHY fand unmittelbar große Aufmerksamkeit mit seinen Schriften. Den im randständigen Prag wirkenden B OLZANO hingegen nahm zunächst niemand zur Kenntnis. Noch dazu wurde B OLZANO bald (im Jahr 1820) aus der Universität entfernt und mit Publikationsverbot belegt. Aus diesem Grunde, so könnte man meinen, verbietet sich eine Gegenüberstellung der beiden Lehren: wenn die eine (die B OLZANOs) doch keine unmittelbare Wirkung auf die weitere Entwicklung der Analysis entfalten konnte. Mir scheint jedoch das Gegenteil richtig, und zwar aus zwei Gründen: (i) Die Verschiedenheit von B OLZANOs und C AUCHYs Theoriebildung zeigt klar: Es gab um 1817/21 tatsächlich (und also objektiv) die Möglichkeit, die Analysis in sehr unterschiedlicher Weise weiterzuentwickeln. (ii) Zwar erlangte C AUCHYs Theoriebildung die ganze Aufmerksamkeit der damaligen mathematischen Welt – doch B OLZANOs Konzeption entsprach in weit höherem Maße dem, wohin sich die Mainstream-Mathematik Jahrzehnte später entwickelte. Daher zeigt eine Gegenüberstellung der Theorien beider nicht nur den tatsächlichen Stand der Analysisentwicklung um 1825 auf, sondern zeigt zugleich, wie sehr C AUCHYs Begriffssystem gewandelt wurde, als es sich zum Mainstream entwickelte, der zur heutigen Theoriegestalt führte.
Zu konstatieren ist jedenfalls: Um 1817/21 widerfuhr der Mathematik etwas zuvor nie Dagewesenes: Ihr aktuell wichtigstes Lehrgebäude „Algebraische Analysis“ wurde von Grund auf umgestürzt – und es wurden tatsächlich mathematisch differierende Theorieentwürfe vorgelegt. Ich rekapituliere. Wert B OLZANO wie C AUCHY nehmen absichtsvoll den Begriff „Wert“ unter die Grundbegriffe der Analysis auf. 247
Überlegungen dazu in Spalt (2008).
344
Bolzano ↔ Cauchy
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Rekapitulation der Revolution
Bolzano
Ich denke, B OLZANO war sich der Revolution gar nicht bewusst, die dieser Begriffswandel für die hergebrachte Analysis (die Algebraische Analysis) bedeutete. Er kannte die Analysis gar nicht anders, denn er hatte alle ihm erreichbare Anwender-Literatur gelesen, statt in der akademischen Analysis eines E ULER (also der Algebraischen Analysis) unterrichtet zu werden. In der Ersteren aber war der Wertbegriff in der Funktionenlehre gängig.z Cauchy
Bei C AUCHY sehe ich die Lage gänzlich anders. C AUCHY war in der akademischen Analysis unterrichtet worden, nämlich von L ACROIX. Dort aber hatte der Wertbegriff bei den Grundbegriffen der Analysis keinen Platz. Ich lese C AUCHYs „Vorwort“ zum Cours d’analyse als eine bewusste und gezielte Absage an die alte Lehre und S. 297 zugleich als eine bewusste und gezielte Ankündigung, sie durch eine neue Lehre zu ersetzen. Sollte diese Einschätzung zutreffen, würde sie C AUCHY eine starke innere Überzeugung zuschreiben. Denn wer eine anerkannte mathematische Lehre beiseite schiebt und stattdessen alternativ eine neue Variante vorschlägt, der muss von sich und seiner Sache sehr überzeugt sein. (Eine andere Erklärung wäre es, C AU CHY ein instrumentelles Verhältnis zur Mathematik zuzubilligen: akzeptiert wird, was funktioniert. Das aber erscheint sowohl für jene Zeit als auch für den bigotten C AUCHY248 als abwegig.) Funktion Beim Funktionsbegriff liegen B OLZANO und C AUCHY so weit auseinander, wie es weiter kaum vorstellbar ist. Cauchy
C AUCHY bleibt (in ontologischer Hinsicht – also bei der Antwort auf die Frage: Was ist eine Funktion?) auf dem Stand E ULERs: Eine „Funktion“ ist eine „abhängige S. 199, 306 Veränderliche“. Dabei darf auch das Verfahren der Grenzbildung (Limesbildung) zur Anwendung gelangen. Wo die Algebraische Analysis den höchst problematidy schen Begriff „Differenzialquotient“ hatte (ein „Quotient“ dx aus zwei „unendlich kleinen“ Größen dx , dy – die vielleicht sogar „Nullen“ sind: E ULER!), setzt C AUCHY S. 236 eine sorgfältig Wert-zu-Wert definierte „Funktion“, die „Ableitung“: f 0 (x) = lim
h→0
z 248
f (x + h) − f (x) . h
Spalt (2008) Die Standard-Biografie ist heute Belhoste 1991.
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4. Die Begründung der Werte-Analysis Und an die Stelle der Größe „Stammfunktion“ in der Algebraischen Analysis tritt bei C AUCHY die als „Wert“ definierte Funktion „bestimmtes Integral“: ZX f (x) dx = lim
n→∞
x0
n−1 X
(x i +1 − x i ) f (x i ) .
i =0
Bolzano
S. 288
S. 289
S. 290 f.
S. 316
S. 309
B OLZANO lässt nicht erkennen, ob ihm der E ULER’sche Funktionsbegriff bekannt ist. Als B OLZANO seine Größenlehre so weit entwickelt hatte, dass es um den Funktionsbegriff gehen musste, war er um größtmögliche Allgemeinheit bemüht. Im Ergebnis formulierte B OLZANO einen Funktionsbegriff, wie er allgemeiner kaum denkbar ist: „Funktion“ ist alles (!), was mittels korrekt gebildeter Sätze irgendwelche Eigenschaften (bei B OLZANO: „Beschaffenheiten“) von irgendwelchen „Größen“ zu einer neuen Konstruktion miteinander verknüpft. Beim Wort genommen verlangt B OLZANO zwar, die „Funktion“ müsse eine „Größe“ sein. Allerdings ist daraus eine Einschränkung für die von B OLZANO betrachteten Wert-Bildungen nicht ersichtlich. Dabei fasst B OLZANO „Größen“ (einer Art) als all solche Gesamtheiten, die – wie wir heute sagen – linear angeordnet sind (nicht: „werden können“!): Je zwei „Größen“ (einer Art) sind entweder einander gleich, oder die eine ist in der anderen als „(echter) Teil“ enthalten. Selbstverständlich denkt B OLZANO in seiner Größenlehre nur an „gegebene“ oder „existierende“ „Größen“. Er geht nicht so weit, „Größen“ willkürlich zu konstruieren (als linear angeordnete Gesamtheit). Daher meine Betonung bei „angeordnet sind“ im vorangehenden Absatz. In seiner Funktionenlehre jedoch, in der B OLZANO „Größen“ auch als „Funktionen“ bestimmt werden lässt, sieht er Handlungs-, genauer: Denkfreiheit. „Funktionen“ darf ich mir denken, wie ich will (solange es nur eben „Funktionen“ sind). Eine Funktionenlehre über diesem so allgemeinen Grundbegriff „Funktion“ ist nicht ganz einfach. B OLZANO hat sie nur sehr ansatzweise begonnen. Dabei orientiert sich der reife B OLZANO natürlich auch an C AUCHYs Cours d’analyse. Das ist beispielsweise bei dem Begriff „Stetigkeit bei mehreren unabhängig Veränderlichen“ deutlich. In C AUCHYs Cours liest B OLZANO den Lehrsatz, dass eine „Funktion“ mehrerer Veränderlicher, die für jede Veränderliche einzeln „stetig“ ist, ebenfalls „stetig“ ist. Dieser Lehrsatz gefällt B OLZANO offenbar. Also richtet B OLZANO seine Definition „Stetigkeit bei mehreren unabhängig Veränderlichen“ gerade so ein, dass er diesen Satz ebenfalls beweisen kann.a Dass diese Definition etwas abenteuerlich ausfällt (und sich von derjenigen C AUCHYs unterscheidet), ficht B OLZANO dabei nicht an. (Dass B OLZANO C AUCHYs spezielle Definition für „Funktionswert“ nicht auffällt, hat er mit – fast249 – allen Zeitgenossen und Nachfolgern C AUCHYs gemein. Das wird ihm niemand ankreiden wollen.) a 249
Siehe FL, I, § 38 = FLGA , fs. 29r , 29v . Siehe jedoch ab S. 362.
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Rekapitulation der Revolution Konvergenz und Stetigkeit Für „Stetigkeit“ und „Konvergenz“ geben B OLZANO und C AUCHY dieselben Bestimmungen (auch wenn B OLZANO den Namen „Konvergenz“ nicht gebraucht), und keiner von beiden kann dafür ein Vorbild nennen. Auf den ersten Blick ist das eindrucksvoll und verleitet zu der Reaktion: „Das sind also die richtigen Begriffe!“ Wir haben gesehen: Im Detail betrachtet ist dieses Urteil falsch. Die Bedeutung eines Begriffs ergibt sich erst im Zusammenspiel mit anderen Begriffen: Nur ein ganzes Netz aus Begriffen kann einen Sinn konstituieren. Da sich der Begriff „Funktionswert“ bei B OLZANO und C AUCHY sehr drastisch unterscheidet, dieser Begriff jedoch mit den beiden Begriffen „Stetigkeit“ und „Konvergenz“ in enger Wechselwirkung steht, erhalten Letztere in B OLZANOs und in C AUCHYs Lehre unterschiedliche Bedeutungen. Wir erkennen diese Unterschiedlichkeit am leichtesten, wenn wir B OLZANOs und C AUCHYs Begriffe in unsere Heutigen übersetzen. Das führt zu folgenden Entsprechungen: (a–1) B OLZANOs ‚KonvergenzBz ‘ ist unsere heutige „Konvergenz“ (manche nennen diese Eigenschaft lieber „C AUCHY-Folge sein“, aber das ist hier wenig passend und eher geeignet, Konfusion zu stiften). (a–2) Die Bedeutung von C AUCHYs „convergence“ entspricht (im Falle von Funktionenreihen) unserer heutigen „stetigen Konvergenz“. (b–1) Die Bedeutung von B OLZANOs „Stetigkeit“ ist unsere heutige „einseitige“ Stetigkeit. (b–2) Und schließlich ist C AUCHYs „Stetigkeit“ unser heutiges „(beidseits) stetig ergänzbar“. (Wie sähe eine Übersetzung der Begriffe des Einen in die Lehre des Andern aus?) Der neue Konvergenzbegriff wurde alsbald rezipiert. Während in dem 1803 erschienenen Band 1 („von A bis D“) des Klügel’schen Wörterbuches der Begriff „Convergenz“ nicht verzeichnet ist, findet sich im 1833 erschienenen ersten Supplementband ein vierzigseitiger Artikel zu diesem Begriff.b Ergebnis So gleich die Perspektive von B OLZANO und C AUCHY („Wert“!) und so gleichklingend ihre analytischen Grundbegriffe klingen („Stetigkeit“, „Konvergenz“), so unterschiedlich fallen die Theoriezuschnitte der beiden Neuerer aus. Cauchy
C AUCHY ist bestrebt, die von ihm als erforderlich erkannte grundlegende Erneuerung der Analysis so traditionserhaltend wie möglich zu gestalten: Die „Funktion“ bleibt, was sie bei E ULER war: eine „veränderliche Größe“. C AUCHY verzichtet gegen E ULER nur auf deren Beschreibung durch einen „Rechenausdruck“. b
Klügel 1803–1836, 1. Supplementband (1833), S. 416–456
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4. Die Begründung der Werte-Analysis Auch der neue Begriff „Funktionswert“ wird so einengend wie nur möglich bestimmt: „Funktionswert“ ist für C AUCHY allein das, was sich aus den gegebenen Bedingungen erschließen lässt. C AUCHY will nur das Unausweichliche zulassen, das freilich – noch immer in der absolutistischen Denkweise des möglichst Allgemeinen – so umfassend wie möglich: sämtliche „Grenzen“, die sich finden lassen, sind „Funktionswerte“. Jede Einschränkung hier würde dem Mathematiker einen Gestaltungsspielraum eröffnen: welchen der möglichen Werte er zulassen oder ausschließen möchte. Einen solchen Gestaltungsspielraum will oder kann C AUCHY dem Individuum nicht zugestehen. Stattdessen soll es die ihm vorgegebenen oder vorfindlichen Regeln befolgen und ausführen. Das Individuum soll seine Pflicht als Mathematiker erfüllen, nicht Individualität leben. Kurz: C AUCHY versucht sich in Restauration. Seine Analysis ist daher eine Übergangstheorie: Zwar stützt sie sich maßgeblich auf den neuen Begriff „Wert der Funktion“ („Funktionswert“), doch belässt sie es zugleich beim traditionellen Funktionsbegriff: „Funktion“ ist eine „Verbindung von Veränderlichen“. Bolzano
B OLZANO sucht Freiräume, die er nach eigenem Gutdünken gestalten kann. Sein kritischer Geist zersetzt die vorgefundene Mathematik als unzulänglich. An ihre Stelle setzt B OLZANO Neues. Dieses Neue gewährt dem Mathematiker Freiräume zur Gestaltung, zuallererst bei den Anfangsbegriffen „Größe“, „Funktion“ und „Funktionswert“. Hier darf der Mathematiker nach B OLZANO gestalten („Was hindert mich, zu denken . . . ?“), so gut er es vermag. Dieser Gestaltungsspielraum ist kein absoluter. Keine Rede von Anything goes! Sondern Arbeit am Begriff ist bei B OLZANO gefragt: Wie sind die Begriffe zutreffend zu fassen? Was ist „Größe“? Und ist Mathematik dann „Größenlehre“? Die Beweise müssen „objektiv“ sein und also: vernünftig. Die außermenschliche Instanz der „wahren Sätze an sich“250 ist für B OLZANO der Gradmesser des Richtigen – nicht irgendeine gewachsene (unvernünftige) Tradition. Die Analysis wird zum intellektuellen Abenteuer. (Und B OLZANO trägt manche Blessuren davon, denn nicht jedes Argument gelingt ihm dort.) Kurz: B OLZANO versucht sich als Neuerer. Methodisches Auch im Methodischen unterscheiden sich B OLZANO und C AUCHY fundamental. Cauchy
C AUCHY führt ein neues grundlegendes Konstruktionsprinzip in die Analysis ein: die „Grenzbildung“: lim x 250
Dazu WL, Bd. 1.
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Rekapitulation der Revolution In C AUCHYs Analysis ist alles als „Grenze“ konstituiert: „Zahl“, „Funktionswert“, „Ableitung“, „Integral“ – und sogar „Funktion“ bzw. „Größe“. Was sich diesem Muster nicht fügt, wird abgewertet: Die „Eingebildeten“ werden von C AUCHY nicht als „Zahlen“ gefasst, sondern als „symbolische Ausdrücke“.c C AUCHYs Begriff „Grenze“ ist ein „Hüllenoperator“. Er sorgt dafür, dass alle analytischen Gegenstände „abgeschlossen“ werden. Lücken bleiben in C AUCHYs Analysis keine. Durch C AUCHYs Grenzbildung wird alles zusammengehalten. Alles, S. 305 denn seine „Grenze“ ist unser heutiger „Häufungswert“. Dieser Grenzbegriff findet problemlos Eingang in Gleichungen. Mit ihm kann – mit gewissen Einschränkungen betreffend die Existenz der behandelten „Grenzen“ – nach den üblichen Regeln der Algebra gerechnet werden. In C AUCHYs ‚Grenzwertsprache‘ – so wollte ich C AUCHYs Methode nennen, das Fremdwort ist: „Li- S. 325 meskalkül“ – behält das Rechnen einen großen Stellenwert. Insofern trägt C AU CHY s Cours d’analyse nicht ganz zu Unrecht den Untertitel I.re Partie: Analyse Algébrique. Bolzano
Bei B OLZANO habe ich den Begriff „Grenze“ nicht finden können, die Sache aber sehr wohl: In aller wünschenswerten Klarheit kennzeichnet B OLZANO den Begriff S. 285 „Supremum“ – gibt aber auch dieser Sache keinen Namen. Den Begriff „Grenze“ meidet er. Stattdessen predigt B OLZANO ‚Epsilontik‘: Im Detail beweist er, wie mit „Größen, die kleiner als jede gegebene werden können“, zu rechnen ist.d Er bezeichnet sie durch „ω“. Damit hat B OLZANO eine Alternative zu C AUCHYs lim-Operator: die „Größe“ A ±ω. Allerdings ist diese B OLZANO’sche „Grenze“ im Gegensatz zur C AUCHY’schen eindeutig, eben: A. Merke: Wer mit eindeutig bestimmten „Grenzen“ arbeitet, muss ‚epsilontisch‘ argumentieren, wer unter „Grenze“ die „Häufungspunkte“ versteht, kann mit dem lim-Operator rechnen. Ausblick: Anarchie! Um es nochmals festzuhalten: Um 1817/21 wurde der Mathematik ihr aktuell wichtigstes Lehrgebäude von Grund auf umgestürzt, und statt seiner wurden mathematisch differierende Theorieentwürfe vorgelegt. So etwas hatte es noch nie gegeben. B OLZANOs Entwurf – auch wenn er zunächst nicht zur Kenntnis genommen wurde – neben C AUCHYs offenbart: Dem Neuaufbau der Analysis auf dem Wertbegriff war aus innermathematischen Gründen keine eindeutige Entwicklungsrichtung vorgeschrieben. Vielmehr gab es Spielräume möglicher Begriffsentwicklungen. c
Siehe CA, S. 118 ff.
d
Siehe Bolzano 1816, S. 15–27.
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4. Die Begründung der Werte-Analysis Zugleich gab es durch das beginnende Erstarken der höheren Ausbildungsinstitutionen (insbesondere zur Ingenieursausbildung) und dem damit verbundenen Bedeutungsverlust der Akademien keine oberste Autorität, welche verbindliche (mathematische) Leitlinien zur Ausgestaltung der Neuentwicklung hätte dekretieren können. Und schließlich war die Mathematikausbildung an den höheren Lehranstalten noch keineswegs in einem solchen Maße inhaltlich standardisiert, wie wir das heute kennen, schon gar nicht über die Institutionsgrenzen hinaus. Wo es aber in einer Einrichtung erste Traditionsbildungen gab – etwa an C AUCHYs Wirkungsstätte École polytechnique, wo er von November 1815 bis zum Sommer 1830 lehrte –, konnte sich ein engagierter Dozent (wie etwa C AUCHY) dagegen durchsetzen. Das war natürlich nicht unbedingt zur Freude oder gar zum Nutzen der Studierenden.251 Mit anderen Worten: Die neu aufblühende ‚Werte-Analysis‘ bot gute Chancen auf einen anarchischen Begriffswildwuchs. Und das bei einer mathematischen Theorie!?
251
Vgl. Gilain 1989.
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Kapitel 5: Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872
N I C H T V E R S T E H E N D E R C AU C H Y ’ S C H E N A N A LY S I S Dass C AUCHY mit seinem radikalen Umsturz der bisherigen Analysis, der Algebraischen Analysis also, nicht ohne Kritiker bleiben würde, ist klar. Laute Kritik im Druck aber gab es denn doch erstaunlich wenig. Insbesondere C AUCHYs Grundanliegen, die Analysis jetzt auch auf den „Wert“ zu gründen, war meines Wissens kein Gegenstand großer Debatten. (Die Zeit dafür war also reif; wohl sogar überreif.) Dennoch gab es natürlich Kritik: im Einzelfall. NIELS HENRIK ABEL 1826 Der wohl erste, jedenfalls aber der berühmteste Kritiker C AUCHYs ist N IELS H EN RIK A BEL (1802–29). Abels Kritik In einer Fußnote einer 1826 erschienenen Abhandlung schreibt A BEL: „In der oben angeführten Schrift des Herrn C AUCHY (Seite 131) findet man folgenden Lehrsatz: »Wenn die verschiedenen Glieder der Reihe u 0 + u 1 + u 2 + u 3 + . . . u. s. w. Funktionen einer und derselben veränderlichen Größe sind, und zwar stetige Funktionen, in Beziehung auf diese Veränderliche, in der Nähe eines besonderen Wertes, für welchen die Reihe konvergiert, so ist auch die Summe s der Reihe, in der Nähe jenes besonderen Wertes, eine stetige Funktion von x.« Es scheint mir aber, dass dieser Lehrsatz Ausnahmen leidet. So ist z. B. die Reihe 1 1 sin ϕ − sin 2ϕ + sin 3ϕ − . . . u. s. w. 2 3 unstetig für jeden Wert (2m + 1)π von ϕ, wo m eine ganze Zahl ist. Bekanntlich gibt es eine Menge von Reihen mit ähnlichen Eigenschaften.“ (Abel 1826, S. 316)
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872 Cauchys Zurückweisung der Kritik In einer 1853 erschienen Abhandlung präsentiert C AUCHY für die Reihe 1 1 sin x + sin 2x + sin 3x + . . . 2 3
(5.1)
(die der von A BEL vorgelegten strukturell gleich ist, d. h. sie hat genau dasselbe „Konvergenz“- und „Stetigkeits“-Verhalten; hier sind die Problemstellen x = mπ) folgende Rechnung; der Übergang zur zweiten Formelzeile ergibt sich aus der Setzung x := n1 :a µ
sin(n + 1)x sin(n + 2)x sin(n + 3)x lim r n (x) = lim + + +... n +1 n +2 n +3 Ã ! ∞ sin k 1 X n = lim · k n k=n+1
¶
n
Z∞ = 1
sin x · dx = 0, 6244 . . . x
Nach der uns aus dem vorangehenden Kapitel geläufigen Deutung252 heißt das in C AUCHYs Analysis: Für die vorgelegte Reihe 5.1 ergibt sich am „Wert“ x = 0 = lim n1 für den „Reihenrest“: lim r n (0) = lim r n
S. 323
¡ ¢ 1 n
6= 0 ,
sodass diese Reihe am „Wert“ x = 0 nicht ‚konvergiertCy ‘ (dort nicht „stetig konvergent“ ist); folglich sagt der fragliche Satz, der ‚Summensatz‘ also, auch nichts über die „Stetigkeit“ der Grenzfunktion von 5.1 aus – auch wenn A BEL vom Gegenteil überzeugt ist. C AUCHY kann mit dieser Rechnung die Anwendbarkeit seines Satzes auch auf die von A BEL behaupteten „Ausnahmen“ verteidigen. C AUCHY rechnet auf die zitierte Weise vor, dass die von A BEL ins Feld geführten „Ausnahmen“ zu seinem Lehrsatz keine Ausnahmen – weniger vornehm: keine Widerlegungen – sind, sondern Reihen, zu deren Grenzfunktion sein Satz keine Aussage trifft; denn diese Reihen genügen nicht der Voraussetzung seines Satzes (‚KonvergenzCy ‘ ). Abels Wirkung Wer C AUCHYs Analysis nicht im Detail kennt, versteht diese Verteidigung C AUCHYs nicht. Das waren sämtliche Mathematiker253 und Mathematikhistoriker – jedena 252 253
Vgl. Cauchy 1900, S. 33 Siehe S. 325, Formelzeile 4.9. Bis zur Erfindung der Nichtstandard-Analysis, die eine eigene Deutung von C AUCHYs Analysis hervorbrachte.
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Abel
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Nichtverstehen der Cauchy’schen Analysis falls ist mir vor dem Jahr 1966b keine Verteidigung C AUCHYs gegen A BELs Kritik bekannt. Aus diesem Grunde wird A BEL an dieser Stelle als scharfsinniger Kritiker C AUCHYs gefeiert. Dieses Lob verkennt zweierlei: (1) A BEL hat zwar kritisiert, seine Kritik jedoch mit keinem mathematischen Argument begründet. A BEL behauptet einfach, C AUCHYs Satz sei falsch, und er behauptet, Gegenbeispiele vorgelegt zu haben. Doch A BEL hat nicht bewiesen, dass seine Reihen C AUCHYs Satz tatsächlich widerlegen. (2) A BEL hat auch C AUCHYs Beweis des Satzes nicht erschüttert. Wenn der Satz wirklich falsch ist, muss es auch dessen Beweis sein. Einen Fehler in C AUCHYs Beweis hat A BEL jedoch nicht aufgezeigt. Für abenteuerlich falsch halte ich heute254 die These von I MRE L AKATOS (1922– 74), A BEL habe sich „nie von dem L EIBNIZ-C AUCHY’schen theoretischen Rahmen gelöst.“c Einen solchen „L EIBNIZ-C AUCHY’schen theoretischen Rahmen“ gab es nie, und also konnte A BEL sich auch nie seiner bedienen. L AKATOS deutet L EIBNIZ’ und C AUCHYs Begrifflichkeit als eine, in der die „unendlich Kleinen“ „Zahlen“ sind, nicht veränderliche „Größen“. Nach den bis heute erzielten Forschungsergebnissen – die auch oben vorgestellt wurden –, ist dies sicher falsch. Allenfalls bei J O HANN B ERNOULLI und E ULER kann man ein Argumentieren mit unendlich klei- S. 180, 219 nen „Zahlen“ (die keine „Veränderlichen“ sind) finden – freilich ohne jeglichen Vorschlag auch nur eines der beiden, wie denn solche „Zahlen“ gedacht werden könnten. Kurz: So augenfällig A BELs Einwurf sein mag, so fehlt ihm doch jegliche mathematische Begründung. Die Tragik der Abel’schen Kritik Es kann hier nicht darum gehen, die gepriesenen mathematischen Verdienste A BELs in den höheren Regionen der Analysis infrage zu stellen. Aber A BEL ist ein bemerkenswertes Beispiel dafür, dass neue Ergebnisse auch auf einer unsicheren Grundlage erzielt werden können, denn die von A BEL verwendeten analytischen Grundbegriffe sind gelegentlich unscharf. Das kann dann sogar zur Folge haben, dass dem Autor ein Fehlschluss unterläuft. Möglicherweise ist A BEL das sogar an genau jener Stelle passiert, an der er seine Kritik an C AUCHY vorträgt. Der Lehrsatz, dem A BEL seine Kritik folgen lässt, lautet: b c
254
Vgl. Robinson 1966, S. 270 f. Lakatos 1982, S. 50
Dies gilt unbeschadet der Tatsache, dass Lakatos 1982 (in seiner englischen Fassung) Anlass für meine Dissertation Spalt 1981 war und mich damals sehr inspiriert hat. Es gibt jedoch kein Gebot, nach der Promotion das Lernen einzustellen – vgl. allerdings Anmerkung 167 auf S. 265.
Abel
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872
„Lehrsatz V. Es sei u 0 + u 1 X + u 2 X2 + . . . u. s. w. eine [konvergente] Reihe, in welcher u 0 , u 1 , u 2 kontinuierliche Funktionen einer und derselben veränderlichen Größe x sind, zwischen den Grenzen x = x 0 und x = x 1 , so ist die Reihe f (x) = u 0 + u 1 X0 + u 2 X02 + . . . u. s. w. , wo X0 < X, konvergent und eine stetige Funktion von x, zwischen denselben Grenzen. “ (Abel 1826, S. 315, A BELs Symbolnotation in die C AUCHY’sche Weise überführt; x 0 und x 1 sind die Intervallgrenzen, X, X0 Werte von x in diesem Intervall) „Konvergenz“ definiert A BEL zuvor wie folgt: „Erklärung. Eine beliebige Reihe u 0 + u 1 + u 2 + . . . + u m u. s. w. soll konvergent heißen, wenn, für stets wachsende Werte von m, die Summe u 0 +u 1 +. . . +u m sich immerfort einer gewissen Grenze nähert. Diese Grenze soll die Summe der Reihe heißen.“ (Abel 1826, S. 313) Da es keinerlei Hinweise darauf gibt – genauer: alles spricht dagegen –, dass A BEL C AU Begriff „Funktionswert“ übernommen habe, ist die Bedeutung von A BELs Konvergenzbegriff genau diejenige unseres heutigen Konvergenzbegriffs. CHY s
Der Beweis dieses Lehrsatzes V wird vom Herausgeber der A BEL’schen Werke, P ETER S YLOW (1832–1918), als „in einem Punkt falsch“d beurteilt. In seinem Beweis benutzt A BEL ein anspruchsvolles Argument, das nicht garantiert wahr ist. (Genau geht es darum, eine endliche obere Schranke für eine unendliche Reihe anzugeben.) Dugac 1978, S. 375 präsentiert (unter Verwendung von S YLOWs Argument) ein Gegenbeispiel gegen A BELs Beweis des Lehrsatzes V. Allerdings widerlegt dieses Beispiel zwar A BELs Beweisargument, nicht jedoch seinen Satz. D UGACs Beispiel ist x un = für x > 0 . (1 + x 2 )n Die daraus gebildete Reihe255 X
X x 1 1 =x =x· 2 n 2 n (1 + x ) (1 + x ) 1− 1
=x·
1+x 2
1 + x2 1 = +x x2 x
ist konvergent (und eine stetige Funktion). Für den Lehrsatz V ergibt sich daraus kein d 255
S YLOW in: Abel 1881, Bd. I, S. 303 Die zweite der folgenden Gleichungen enthält die Summenformel der geometrischen Reihe: 1 1 + q + q2 + q3 + ... = . 1−q Siehe dazu nach Formelzeile 3.7 auf S. 248.
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Abel
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Nichtverstehen der Cauchy’schen Analysis
Problem, allerdings für A BELs Beweis dieses Lehrsatzes, denn dort bildet A BEL – für diesen konkreten Fall betrachtet – eine obere Schranke von n=p X
x 2 n n=m (1 + x ) für alle Werte von x. Da p beliebig groß sein darf, kann das wegen des Terms x1 in der Summe oben nicht gelingen. Freilich wird man hier A BEL mit dem Argument beiseite springen können, dass er heute sogenannte „offene“ oder „halboffene“ Definitionsintervalle – wie hier: x ∈]0, ∞[ – nicht in Betracht gezogen haben dürfte: Er verlangt in seinem Lehrsatz V die Konvergenz „zwischen den Grenzen x 0 und x 1 “, und dieses „zwischen“ dürfte inklusive gemeint sein.
ZUSAMMENFASSENDE BEWERTUNG VON ABELS KRITIK A BELs Kritik ist somit durch vier Merkmale gekennzeichnet: (i) A BEL hat sie nicht mathematisch begründet. (ii) Dennoch ist sie in A BELs Denkwelt berechtigt. (iii) Innerhalb von C AUCHYs Denkwelt ist sie unberechtigt. (iv) A BEL hat an vergleichbarer Stelle, an der er C AUCHY kritisiert, möglicherweise selbst einen mathematischen Fehler begangen. Insofern ist A BELs verbreiteter Ruhm als C AUCHY-Kritiker alles andere als gut fundiert. Vom Standpunkt einer Theorie der Analysis wie etwa der heutigen aus betrachtet, die sich von C AUCHYs Theorie unterscheidet, erscheint sie als im Grunde berechtigt. Doch C AUCHYs Theoriebildung tut sie unrecht. PHILIPP LUDWIG SEIDEL 1850 Als definitive Widerlegung von C AUCHYs Lehrsatz über die „Stetigkeit“ einer „konvergenten“ Reihe „stetiger“ Funktionen gilt die 1850 publizierte Abhandlung „Note über eine Eigenschaft der Reihen, welche discontinuirliche Functionen darstellen“e von P HILIPP L UDWIG S EIDEL (1821–96).f Studieren wir sie also! Seidels Kritik an Cauchy S EIDELs Kritik an C AUCHYs Lehrsatz lautet: „Hieraus würde folgen, dass Reihen der vorausgesetzten Art nicht geeignet sind, diskontinuierliche Funktionen in der Nähe der Stellen, wo ihre Werte springen, noch darzustellen; – mit anderen Worten: dass durch ein Aggregat stetiger Größen diskontinuierliche auch dann nie repäsentiert werden können, wenn man die Form des Unendlichen zu Hilfe nimmt; sodass das Letztere nicht, wie es einen Übergang vom Rationalen zum Irrationalen bildet, so auch eine Brücke zwischen stetigen und nicht stetigen Größen zu schlagen vermöchte. Denn die Konvergenz der Reihe würde aufhören, also die gewählte Form ihren Sinn verlieren, wo die Diskontinuität beginnt.“ (Seidel 1850, S. 381) e
Seidel 1850
f
Lakatos 1979, S. 123–125, 133, Lakatos 1982
Abel – Seidel
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872 S EIDEL kritisiert C AUCHYs Lehrsatz also wegen dessen angeblicher Konsequenzen. Zunächst ist diese Kritik, wie zu lesen war, sehr allgemein. Aber sie wird auch konkreter: „Gleichwohl steht der Satz im Widerspruch mit dem, was D IRICHLET gezeigt hat, dass z. B. die F OURIER’schen Reihen auch dann immer konvergieren, wenn man sie zwingt, diskontinuierliche Funktionen darzustellen; [. . . ] Man braucht selbst nicht den intrikaten Gang der D IRICHLET’schen Beweise nachzugehn, um sich zu überzeugen, dass die Allgemeinheit des Satzes, von welchem die Sprache ist, Einschränkungen hat: auch die gewöhnlichsten Integrale, welche diskontinuierliche Werte haben, z. B. das bekannte Z ∞ sin xα dα α 0 können Beispiele davon abgeben;[256] denn man kann dieses, durch bloße Zerlegung des unendlichen Intervalles, in welchem es zu nehmen ist, in eine unendliche Anzahl endlicher, verwandeln in eine Reihe, deren einzelne Glieder Integrale sind, von denen man fast à vue beweist, dass sie stetig von x abhängen, und welche Reihe notwendig stets konvergiert, weil ihre Summe immer einem der drei möglichen Werte des ganzen Integrals gleich ist.“ (Seidel 1850, S. 382 f.) S EIDEL behauptet also, C AUCHYs Satz sei mit der bekannten Darstellung auch unstetiger Reihen durch konvergente trigonometrische Reihen, aber beispielsweise auch mit den Eigenschaften der genannten Funktion – heute heißt sie „Integralsinus“ – nicht vereinbar. Allerdings bleibt S EIDEL einen Beweis seiner Behauptung schuldig. Die Behauptung eines Widerspruchs ist noch kein Beweis dafür, dass diese Behauptung wahr ist. Seidels Beweiskritik S EIDEL analysiert C AUCHYs Beweis in zwei Passagen. Die Erste lautet: „Der Beweis, auf welchen dieser Satz am angeführten Orte [also: in C AUCHYs Cours d’analyse – siehe S. 323] gegründet wird, beruht im Wesentlichen auf der Bemerkung, dass man die Summe der ganzen Reihe abteilen kann in die Summe einer Anzahl n ihrer ersten Glieder und in die Ergänzende alles Folgenden. Die Letztere kann man, was auch x sei, bei der vorausgesetzten Konvergenz der Reihe durch Vergrößerung von n so klein machen als man nur immer will; dasselbe wird von der Veränderung geschlossen, die sie erleidet, wenn x nur 256
Näheres zum Integralsinus auf S. 371; dort auch eine Figur dazu.
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Seidel
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Nichtverstehen der Cauchy’schen Analysis um wenig geändert wird; das Inkrement der Summe der ersten n Glieder nimmt ohnedies, da sie aus einer endlichen Zahl kontinuierlicher Funktionen von x besteht, zugleich mit der Änderung von x unendlich ab: es scheint also, dass man n so groß und das Inkrement von x so klein wählen kann, dass die Änderungen beider Teile, also auch der ganzen Reihe, kleiner gemacht werden als eine beliebig kleine Größe, und hiermit wäre die Kontinuität der Summe der Reihe, in dem Sinne, in welchem sie hier genommen wird, erwiesen.“ (Seidel 1850, S. 382) S EIDEL rekapituliert also C AUCHYs Beweis, indem er sagt: (i) In s(x + α) − s(x) = s n (x + α) − s n (x) + r n (x + α) − r n (x)
(5.2)
werde „das Inkrement der ersten Summe“, also s n (x+α)−s n (x), als Summe endlich vieler stetiger Funktionen zusammen mit der Änderung α unendlich klein; (ii) und es „scheine“, dass man α so klein wählen könne, dass auch r n (x +α)−r n (x) kleiner gemacht werden könne als eine beliebig vorgegebenen Größe. Wenn S EIDEL jetzt hinzufügte, dass Letzteres eine (zwingende) Konsequenz von C AUCHYs Begriff der „Konvergenz“ und seines Begriffs von „Funktionswert“ ist, wäre C AUCHYs Beweis korrekt wiedergegeben. Das jedoch tut S EIDEL nicht. Er hält C AUCHYs Satz für falsch – und also muss auch C AUCHYs Beweis falsch sein. Da am Argument (i) kaum Kritik möglich scheint, muss sich S EIDELs Kritik auf (ii) richten. In verklausulierter Weise bringt S EIDEL dies in der zweiten Passage zu C AUCHYs Beweis zum Ausdruck. Nach seinem bereits wiedergegebenen Verweis auf die Fourierreihen und den Integralsinus erklärt er: „Wenn man, ausgehend von der so erlangten Gewissheit, dass der Satz nicht allgemein gelten kann, also seinem Beweise noch irgendeine versteckte Voraussetzung zu Grunde liegen muss, denselben einer genauern Analyse unterwirft, so ist es auch nicht schwer, die verborgne Hypothese zu entdecken; man kann dann rückwärts schließen, dass diese bei Reihen, welche diskontinuierliche Funktionen darstellen, nicht erfüllt sein darf, indem nur so die Übereinstimmung der übrigens richtigen Schlussfolge mit dem, was andererseits bewiesen ist, gerettet werden kann. Auf solche Art erhält man einen Satz, welcher sich auf diese Klasse von Reihen bezieht, und so ausgesprochen werden kann:
Theorem. Hat man eine konvergierende Reihe, welche eine diskontinuierliche Funktion einer Größe x darstellt, von der ihre einzelnen Glieder kontinuierliche Funktionen sind, so muss man in der unmittelbaren Umgebung der Stelle, wo die Funktion springt, Werte von x angeben können, für welche die Reihe BELIEBIG LANGSAM konvergiert.“ (Seidel 1850, S. 383)
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872 Für die Formulierung, die ihn zu seinem Satz geführt hat, ist S EIDEL sehr gefeiert worden. Wissenschaftstheoretiker haben diese S EIDEL’sche Vorgehensweise als eine „Methode der Beweisanalyse“ gelobt.257 Unsere Lektüre der Quellen hat schon jetzt ergeben: Dieses Urteil kann nicht stimmen! S EIDEL „analysiert“ nicht C AUCHYs Beweis. Denn dazu, so darf man wohl sagen, gehörte zwingend eine Analyse der von C AUCHY in seinem Beweis verwendeten Begriffe („stetig“, „konvergent“ usw.). Eine solche Analyse der Begriffe C AUCHYs unterlässt S EIDEL jedoch. Stattdessen setzt S EIDEL seine eigenen Begriffe GANZ SELBSTVERSTÄNDLICH als die einzig korrekten voraus (und unterstellt sie C AUCHY). Das ist vielleicht der Normalfall der menschlichen Kommunikation – eine lobenswürdige „wissenschaftliche Methode“ aber ist das keineswegs. Seidels Missverständnis von Cauchy S EIDELs Argumentation beginnt nun wie folgt. In der Gleichung 5.2 betrachtet er die rechte Seite als Summe der drei Terme ∆s n , r n (x) und r n (x +α) und erklärt – die Summenfunktion der Reihe bezeichnet er durch F (x) = s(x) –: „Zum Beweise der Kontinuität von F (x) in der Gegend des bestimmten Wertes x wird also erforderlich sein zu zeigen, dass man für diesen Wert gleichzeitig n so groß aber endlich, und α so klein aber von Null verschieden machen kann, dass die drei Bedingungen erfüllt werden: < τ ∆s n (5.3) r n (x) < %0 r (x + α) < %00 n
wo τ, %0 , %00 beliebig klein anzunehmende absolute Größen bezeichnen, und sämtliche Ungleichheiten abgesehen vom Vorzeichen zu nehmen sind. Bestehen sie alle zugleich, so wird dann aus [analog zu 5.2] ∆F dem Zahlenwerte nach < τ + %0 + %00 , kann also so klein gemacht werden, als man nur will.“ (Seidel 1850, S. 385 f.; Bezeichungen hier und im Weiteren angepasst) Jetzt stellen wir die einfache Frage: Was ist bei S EIDEL „x“? Das letzte Zitat gibt die klare Antwort: „x“ ist für S EIDEL ein „Wert“. Obwohl, so müssen wir hinzufügen, in seinem „Theorem“ „x“ eine „Größe“ darstellt! Und schon ahnen wir: Hier wird der Hase im Pfeffer liegen! Denn bei C AUCHY bezeichnet „x“ eine „Veränderliche“ (und „Werte“ heißen bei C AUCHY „x 0 “ oder „X“ oder dergleichen – aber eben nicht „x“). Hier also liegt ein begrifflicher Dissens zwischen S EIDEL und C AUCHY vor! Ab sofort werden wir uns nicht wundern, wenn 257
„S EIDEL schließlich war es überlassen, das Rätsel zu lösen, indem er den schuldigen versteckten Hilfssatz in C AUCHYs Beweis ausfindig machte.“ (Lakatos 1979, S. 123) Ähnlich auch Lakatos 1982, S. 51, 57.
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Nichtverstehen der Cauchy’schen Analysis beide zu scheinbar widersprüchlichen Ergebnissen gelangen – denn offenkundig meinen die beiden Autoren mit den von ihnen benutzten Symbolen und Begriffen Verschiedenes! Seidels Begriff der Konvergenz S EIDEL erläutert nun, was er unter der „Konvergenz“ der Reihe versteht: „Es sei nun % eine Größe, kleiner als der kleinere der beiden Werte %0 und %00 , und man verstehe unter ν (abhängig von α) die möglichst kleine positive ganze Zahl, welche gleichzeitig allen Bedingungen genügt: r ν (x + α) < r (x + α) < ν+1 r < ν+2 (x + α) etc. in inf.
% %
(5.4)
%
(Bedingungen, die sich, bei der vorausgesetzten Konvergenz der Reihe, immer müssen erfüllen lassen) [. . . ]“ (Seidel 1850, S. 386 f.) Da x ein „Wert“ ist, handelt es sich bei dem, was S EIDEL unter „Konvergenz“ versteht, offenkundig um das, was auch wir heute darunter verstehen (keineswegs aber um das, was C AUCHY darunter verstanden haben wollte). S. 319, 325 Seidels Dilemma S EIDEL unterscheidet nun (in der Fortsetzung des eben abgebrochenen Zitats): „[. . . ] – so können zwei Fälle eintreten: entweder es wird, (I) während α alle Werte von 0 bis η [eine Obergrenze von α] durchläuft (einschließlich der Grenzen), ν für irgendeinen darunter einen Maximalwert erlangen (und dann überhaupt nur eine endliche Zahl verschiedener Werte haben); oder (II) es kann ν in der nächsten Nähe von α = 0, zugleich mit dem ohne Ende abnehmenden α, über alle Grenzen wachsen. Geschähe nämlich das Letztere in der Nähe eines andern bestimmten Wertes von α als bei α = 0, so würde man diesen dadurch ausschließen können, dass man η kleiner machte, sodass er nicht mehr in das Intervall von 0 bis η fiele. Es braucht also nur der bezeichnete Fall berücksichtigt zu werden.“ (Seidel 1850, S. 387) Diese Betrachtung zeigt, wie strikt S EIDEL damit argumentiert, dass x ein „Wert“ (und also keine „Veränderliche“) ist. S EIDELs weitere Argumentation ist zwar wortreich, aber einfach: Im Fall (I) gibt es ein νmax , sodass die Gleichungen 5.4 für dieses νmax und für alle „Werte“ α (< η) erfüllt sind. – Damit ist die Erfüllung der Ungleichungen 5.3 garantiert, und ∆F kann beliebig klein gemacht werden: Die Reihe F (x) ist als „stetig“ bewiesen.
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872 Im Fall (II) hingegen gibt es ein solches νmax nicht. Also kann das eben angeführte Argument nicht gelingen. Und folglich kann in diesem Fall die „Stetigkeit“ der Summenfunktion F (x) nicht auf diese Art bewiesen werden. Diese letzte Bemerkung ist nun wichtig. S EIDELs Argumentation ist hier delikat: Die Tatsache, dass in diesem Fall (II) die sonst funktionierende Beweisführung versagt, bedeutet keineswegs, dass die Summenfunktion in diesem Fall garantiert unstetig ist! Es könnte ja eine andere Beweisführung möglich sein – weiß mans? An dieser Stelle weiß S EIDEL offenbar nicht weiter. Er hat offenkundig kein Argument gefunden, um sagen zu können, in welchen Spezialfällen von (II) die Summenfunktion F (x) „stetig“ oder „unstetig“ ist. S EIDEL präsentiert keine weitere Beweisidee. Seidels Beweis seines Satzes Aus seiner Not macht S EIDEL eine Tugend. Dies gelingt ihm in drei Schritten: Erstens gibt er dem Fall (II) einen Namen, und zwar den Namen „beliebig langsame Konvergenz“.g Zweitens nutzt er die (schon durch diese Namensgebung suggerierte) einfache Tatsache, dass auch eine „beliebig langsame Konvergenz“ eine „Konvergenz“ ist. (Denn Fall (II) besagt: Alle Gleichungen 5.4 gelten für sämtliche „Werte“ von α (< η) – nur gibt es eben keinen einzigen Index νmax , der für alle diese Gleichungen gemeinsam funktioniert. Aber da jede dieser Gleichungen gilt, besteht auch an jedem „Wert“ x + α „Konvergenz“ im Sinne S EIDELs.) Und damit ist schon alles getan, denn den dritten Schritt S EIDELs haben wir schon gesehen: Es ist die Art, wie er seinen Satz formuliert. S EIDEL hat bewiesen: Wenn Fall (I) vorliegt, ist die Summenfunktion F (x) stetig.
(S1 )
Man kann diesen Satz rein logisch auch so formulieren (die sogenannte „Kontraposition“): Wenn die Summenfunktion F (x) unstetig ist, liegt Fall (II) vor.
(S2 )
Denn die Fälle (I) und (II) sind Gegensätze. – Dies Letztere aber ist genau die Weise, in der S EIDEL sein „Theorem“ formuliert hat! Wir heute258 formulieren den Sachverhalt übrigens in der Weise S1 . Dazu verwenden wir den Begriff „gleichmäßige Konvergenz“. Er ist das Gegenteil des S EI DEL ’schen Begriffs „beliebig langsame Konvergenz“ – in S EIDEL s Analyse also: sein Fall (I). In heutigen Lehrbüchern steht der Lehrsatz:259 Eine gleichmäßig konvergente Reihe stetiger Funktionen hat eine stetige Grenzfunktion. g 258
(S01 )
Seidel 1850, S. 389. Diese Tradition geht auf W EIERSTRASS zurück: siehe S. 405.
259
Es sei an S. 327 erinnert.
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Nichtverstehen der Cauchy’schen Analysis Da „gleichmäßig konvergent“ die Verneinung von „beliebig langsam konvergent“ und also von S EIDELs Fall (II) ist, ist der Begriff „gleichmäßig konvergent“ gleichbedeutend mit S EIDELs Fall (I). Worin also besteht Seidels Leistung? Klar ist: S EIDEL hat den Begriff „beliebig langsam konvergent“ geprägt. Wir geben heute dem Gegenteil dieses Begriffs den Namen „gleichmäßig konvergent“ und nutzen diesen. Und sonst? Den von S EIDEL bewiesenen Satz haben wir eben in drei Varianten formuliert. Sie sind sämtlich logisch gleichbedeutend. Doch keine dieser Formulierungen ist gleichbedeutend mit oder steht in Widerspruch zu dem von C AUCHY aufgestellten (und korrekt bewiesenen) Satz! Nach unserer Analyse hat C AUCHY den folgenden Sachverhalt bewiesen, über- S. 326 setzt in die Sprache von S EIDELs Analysis: Eine stetig konvergente Reihe stetiger Funktionen hat eine stetige Grenzfunktion.
(C)
Nun folgt aus „stetig konvergent“ die Eigenschaft „gleichmäßig konvergent“. S. 327 Demzufolge hat S EIDEL einen allgemeineren Satz bewiesen als C AUCHY. Von einer „Beweisanalyse“ keine Spur! S EIDEL hat nicht C AUCHYs Beweis analysiert, sondern die Sache. Er tat dies von einem – gegenüber C AUCHY grundlegend anderen – Blickwinkel aus: S EIDEL betrachtete allein „Werte“, wo C AUCHY zuerst von „Größen“ ausging, die dann „Werte“ annehmen. S EIDELs Selbsteinschätzung, er habe C AUCHYs Satz widerlegt, ist falsch. Er hat, bei Lichte besehen, C AUCHYs Satz nicht einmal korrekt verstanden. Insofern ist es völlig unangebracht, S EIDEL nachzusagen, er habe einen „versteckten Hilfssatz“ in C AUCHYs Beweis „ausfindig gemacht“, oder gar: „Der versteckte Hilfssatz ist, dass dieses Maximum νmax (α) für jedes feste α existiert. Diese Forderung erhielt später den Namen »gleichmäßige Konvergenz«.“ (Lakatos 1979, S. 125; Bezeichnungen angepasst) Stattdessen: S EIDEL hat C AUCHY gar nicht verstanden – oder anders formuliert: er hat ihn missverstanden. Noch genauer: S EIDEL hat nicht einmal versucht, C AU CHY zu „verstehen“ – wenn „verstehen“ etwas damit zu hat, die Gedanken des anderen aufzunehmen. Denn S EIDEL hat nicht gefragt: Welches sind C AUCHYs Begriffe? Vielmehr hat S EIDEL einfach sein eigenes Denken, seine eigene Begriffswelt anstelle der C AUCHY’schen gesetzt – und zugleich behauptet, dies sei die „richtige“ Begrifflichkeit. Wie Mathematiker eben vorzugehen pflegen, auch heute noch. Jedoch: S EIDEL hatte dafür kein mathematisches Argument, sondern nur eine grundsätzlich andere Sichtweise. Eine „grundsätzlich andere Sichtweise“ nennt man auch: ein Vorurteil. (Freilich befand er sich damit in bester Gesellschaft, denn allen Zeitgenossen erging es so – allen mit der möglichen Ausnahme B JÖRLING, wie wir gleich sehen S. 362 werden.)
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872 UNSICHERHEITEN BEIM BEGRIFF DES FUNKTIONSWERTS
S. 467
C AUCHYs grundstürzende Neudefinition der Analysis wurde von seinen Zeitgenossen (und Nachfolgern: bis heute) nicht in ihrem ganzen Ausmaß wahrgenommen. Es gab zwar, soweit ich sehe, keinerlei grundlegenden Widerspruch gegen C AU CHY s Forderung, dem Begriff „Wert“ Aufmerksamkeit zu widmen und ihn in den Beweisführungen der Grundlagen der Analysis zuzulassen. Doch von einem über die Person C AUCHY hinausgehenden Verständnis für den damit in Gang gesetzten Paradigmenwechsel in der Analysis ist nichts zu erkennen. (B OLZANOs aus dessen Sicht methodisch begründeter Neuzugang ist von diesem Urteil natürlich auszunehmen.) Insbesondere kann keine Rede davon sein, dass C AUCHYs Begriff „Funktionswert“ irgendeine Resonanz oder auch nur Beachtung gefunden hätte. C AUCHYs Grundansatz: „Alles ist »Grenze«!“ 260 wurde schließlich von H EINE in ein formales System (jedoch gänzlich anderer Zielsetzung) gefasst. Wenn ich es recht sehe, wurde es in Frankreich erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts erneut erprobt – dann ohne ausdrückliche Bezugnahme auf C AUCHY: in dem Buch Théorie des nombres irrationels, des limites et de la continuité von R ENÉ B AIRE (1874–1932) aus dem Jahr 1905. EIN EINZIGER TREUER CAUCHY-LESER? Einzig bei E MANUEL G. B JÖRLING (1808–1872) habe ich Hinweise darauf gesehen, dass er sich C AUCHYs Begriffsbildung im Detail angeeignet hat. Zum Thema „Wann ist ein Funktionswert endlich?“ etwa schreibt er Folgendes: Wenn F (x) ein analytischer Ausdruck ist, der x (eine reelle Veränderliche) enthält, also eine Funktion von x, und wenn x 0 ein besonderer x-Wert ist; dann besagt die Redensart »F (x) hat nur einen endlichen Wert« oder gleichbedeutend »F (x) hat für x = x 0 nur einen endlichen Wert«, dass mindestens eines von beiden gilt: entweder bildet F (x 0 ) unmittelbar (d. h. wenn in F (x) x 0 anstelle von x eingesetzt wird) eine endliche und bestimmte Größe,∗ oder aber F (x 0 + ∆) konvergiert für positive oder negative ∆-Werte, die unbestimmt gegen 0 konvergieren, selbst unbestimmt gegen eine endliche und bestimmte Größe. (Björling 1854, S. 171 f., vgl. Bråting 2007, S. 533)
∗
Unter einer „endlichen und bestimmten (analytischen) Größe“ verstehen wir gewöhnlich jeden analytischen Ausdruck der Form a +bi (a und b reell, i eine der Quadratwurzeln von −1), deren beide Teile, auch der Koeffizient von i , reell und bestimmte Zeichen sind, jeder ein bestimmter Zahlwert oder eine bestimmte Zahl, 0 eingeschlossen.
260
Denkt man wie Jullien 2015, S. 41 „Grenze“ als „Konfrontation“, erkennt man C AUCHYs mathematische Fassung des aufkommenden Industriekapitalismus.Kapitalismus
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Unsicherheiten beim Begriff des Funktionswerts Dies ist genau C AUCHYs Begriff des Funktionswertes (im Falle seiner Endlich- S. 309 keit). Und beim Thema „Stetigkeit“ findet sich bei B JÖRLING folgende Passage:261 Die Rücksichtnahme auf den Platz verbietet es uns, weiter auf die Beweggründe für die vorgestellten Definitionen einzugehen. Sie stimmen jedenfalls dem Inhalt wenn nicht dem Wortlaut nach vollkommen mit denen bei Herrn C AUCHY überein. Es soll jedoch festgehalten werden, dass mit Absicht und nicht aus einer gewissen Nachlässigkeit gesagt wird, eine Funktion von x, die sich zwischen den beiden Grenzen von x stetig ändert, darf für jede Grenze von x nur einen einzigen endlichen Wert haben. (Björling 1854, S. 174, Anmerkung) Es ist selbstverständlich, dass eine für ein Argument mehrwertige oder unendliche Funktion für diesen Wert nicht „stetig“ sein kann – das gilt für C AUCHYs Analysis wie für sämtliche anderen bisher bekannten Fassungen einer ‚Werte-Analysis‘. Im formallogischen Stenogramm heißt das (wenn „s“ für „Die Funktion ist stetig.“ steht und „ee“ für „Die Funktion hat einen endlichen und eindeutig bestimmten Wert.“; „¬“ bezeichnet wie üblich die Verneinung): ¬(ee)
=⇒
¬(s) .
Logisch gleichbedeutend damit ist die Kontraposition: s
=⇒
ee .
Aber B JÖRLING sagt nicht dies, sondern er sagt „darf nur“ und also „muss“: „Damit s, muss ee.“ Das jedoch heißt im formallogischen Holzschnitt einfach: „Wenn ee, dann s.“: s ⇐= ee . Und das ist ein für C AUCHYs Analysis charakteristischer, wahrer Lehrsatz, wie wir S. 315 wissen: der ‚Fundamentalsatz der Funktionenlehre‘. B JÖRLING argumentiert hier genau in C AUCHYs Begriffswelt! Bei keinem anderen Autor – bis auf die gleich zu besprechende Ausnahme D I RICHLET – habe ich bislang Indizien dafür finden können, dass er sich C AUCHY s S. 367, analytische Grundbegriffe angeeignet habe. Punkte 3 f. Es scheint nicht üblich gewesen zu sein, ein Analysis-Lehrbuch systematisch durchzuarbeiten und sich dessen Begriffsbildungen im Detail anzueignen: nicht im mittleren 19. Jahrhundert bei den Mathematikern und nicht später bei den Mathematikhistorikern. DIRICHLETS ZÖGERLICHE POSITION J OHANN P ETER G USTAV (L EJEUNE ) D IRICHLET (1805–59) hat in den Jahren 1822–26 in Paris Mathematik gelernt, wurde also mit den neuesten Ideen konfrontiert. 261
Ich danke F REDRIK S TRÖMBERG für seine Unterstützung beim Verständnis dieser Passage.
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872 Zu diesen neuesten Ideen gehörten auch jene in dem Buch Théorie analytique de la chaleur von 1822 des Autors J EAN -B APTISTE -J OSEPH F OURIER (1768–1830). F OURIER zeigt, wie man eine beliebig gegebene Kurve über einem endlichen Intervall durch eine unendliche trigonometrische Reihe darstellen kann. Dabei ist die Beschränkung der Kurve auf ein endliches (Definitions-)Intervall entscheidend, da die Koeffizienten der Reihenglieder mittels bestimmter Integrale über das Definitionsintervall berechnet werden. – Da die Vorstellung des beschränkten Definitionsintervalls einer „Funktion“ außerhalb von E ULERs Begriffs- und Vorstellungswelt lag, konnte E ULER die F OURIER’sche Technik nicht erfinden, obwohl ihm die betreffenden Formeln (selbstverständlich) gelegentlich unterkamen262 ; sie hatten für E ULER eine andere Bedeutung als für F OURIER. F OURIERs Werk war für D IRI CHLET Anlass einer genaueren mathematischen Durchdringung der Sache. Dem reifen D IRICHLET wird eine besondere Qualität des exakten Denkens attestiert: J ACOBI schreibt über D IRICHLET an A LEXANDER H UMBOLDT: „Er allein, nicht ich, nicht C AUCHY, nicht G AUSS weiß, was ein vollkommen strenger mathematischer Beweis ist, sondern wir kennen es erst von ihm. Wenn G AUSS sagt, er habe etwas bewiesen, ist es mir sehr wahrscheinlich, wenn C AUCHY es sagt, ist eben so viel pro als contra zu wetten, wenn D IRICHLET es sagt, ist es gewiss [. . . ]“ (Pieper 1987, S. 99) Umso erstaunlicher ist es, dass sich bei D IRICHLET nirgendwo eine Definition des Begriffs „Funktionswert“ finden lässt. Dirichlets Funktionsbegriff Beim Wesen der Funktion stellt sich D IRICHLET genau in die Tradition von E ULER und C AUCHY, indem er verlangt, „dass der Begriff der Funktion y = f (x) zur einzigen Voraussetzung die Abhängigkeit der Variablen y von der Variablen x hat, aber keineswegs erfordert, dass die Funktion, um der Bedingung der Stetigkeit zu genügen, mathematisch definiert sei.“ (Dirichlet 1904, S. 4) Mit „nicht mathematisch definiert“ meint D IRICHLET die Bestimmung einer „Funktion“ durch eine „Kurve“: Eine „Funktion“ ist also eine abhängig Veränderliche, und diese Abhängigkeit wird beschrieben durch einen Rechenausdruck (D I RICHLET : „mathematisch“) oder mittels einer Kurve (D IRICHLET : „nicht mathematisch“). Auf den ersten Blick scheint diese zweifache Möglichkeit der Bestimmung einer „Funktion“ (algebraisch/geometrisch) eine unbequeme Konsequenz nach sich zu ziehen: Müssen dann nicht alle Lehrsätze über „Funktionen“ zweifach bewiesen werden: für beide möglichen Fälle der Funktionsbestimmung? 262
Vgl. etwa Burkhardt 1908, S. 70 f.; es sei auch an S. 299 erinnert.
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Unsicherheiten beim Begriff des Funktionswerts Glücklicherweise ist dies nicht der Fall. Denn aus einem Rechenausdruck (mit nur einer unabhängig Veränderlichen) kann man bequem eine zugehörige „Kurve“ konstruieren. (Das hat bereits E ULER in Band 2 seiner Introductio von 1748 dargelegt.) Insofern ist es vollkommen legitim, wenn sich D IRICHLET beim Beweis eines Satzes über „Funktionen“ „der bequemeren Darstellungsweise wegen der geometrischen Auffassung“h bedient. Konsequenterweise finden sich in D IRI CHLET s Analysisvorlesungen – anders als in E ULER s Monographie und in C AUCHY s Lehrbüchern – Bilder von Funktionsgraphen!263 Eine solche Vorgehensweise wird von den Lernenden zumeist als anschaulich empfunden. (Möglicherweise rührt daher J ACOBIs überschwängliches Urteil über D IRICHLET?) Der Funktionswert bei Dirichlet Zum „Funktionswert“ finden sich bei D IRICHLET keine Begriffsbestimmungen, sondern nur einzelne Aussagen. Und bemerkenswerterweise kommt der Begriff „Wert“ in D IRICHLETs Funktionsdefinition gar nicht vor! Insofern klingt D IRICHLETs Bestimmung zunächst fast wie die E ULER’sche, wonach eine „Funktion“ eine „veränderliche Größe“ sei, die von anderen Größen „abhänge“. Doch ist es klar, dass S. 199 D IRICHLET in ganz anderer Intensität als E ULER den Begriff „Funktionswert“ in seine analytische Theorie einbezieht. Dies zeigt auch der nächste Abschnitt. In seiner vielfach gelobten Abhandlung zur Bestimmung der Bedingungen, unter welchen eine Funktion durch ihre Fourierreihe darstellbar ist, aus dem Jahr 1837, heißt es im Falle der Bestimmung einer „Funktion“ durch eine „Kurve“ ϕ(β): „[. . . ] wir können jedoch, ohne die folgende Untersuchung im Geringsten zu erschweren, die Annahme machen, dass ϕ(β) für einzelne Werte von β eine plötzliche Veränderung erleidet, ohne jedoch unendlich zu werden. Die Kurve deren Abszisse β und deren Ordinate ϕ(β) ist, besteht alsdann aus mehreren Stücken, deren Zusammenhang über den Punkten der Abszissenachse, die jenen besonderen Werten von β entsprechen, unterbrochen ist, und für jede solche Abszisse finden eigentlich zwei Ordinaten statt, wovon die eine dem dort endenden und die andere dem dort beginnenden Kurvenstück angehört. Es wird im Folgenden nötig sein, diese beiden Werte von ϕ(β) zu unterscheiden und wir werden sie durch ϕ(β − 0) und ϕ(β + 0) bezeichnen.“ (Dirichlet 1837, § 6, S. 170 bzw. Dirichlet 1889/1897, Bd. 1, § 6, S. 156) Hier wird klar die C AUCHY’sche Vorstellung befolgt: Die „Grenzen“ gehören notwendigerweise zur Linie dazu. Die unausweichliche Konsequenz ist die Mehrwer- S. 349 tigkeit der „Funktion“, zumindest für einzelne Werte („Abszissen“) der unabhängig Veränderlichen: Dort „finden eigentlich zwei Ordinaten statt“. h 263
Dirichlet 1904, S. 4 Siehe Dirichlet 1904.
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872 Allerdings sieht D IRICHLET in solchen Fällen einen Konflikt zwischen der geometrischen und der algebraischen Behandlung, denn er schreibt: „Wo eine Unterbrechung der Stetigkeit eintritt und also die Funktion ϕ(x) zwei Werte hat, stellt die [trigonometrische] Reihe [für diese Funktion], welche ihrer Natur nach für jedes x einwertig ist, die halbe Summe dieser Werte dar.“ (Dirichlet 1837, § 6, S. 173 bzw. Dirichlet 1889/1897, Bd. 1, § 6, S. 159)
ab S. 370
Mit anderen Worten: Bei geometrischer Betrachtung muss die „Funktion“ in solchen Fällen (zwei nicht zusammenhängende Kurvenstücke) zwei „Funktionswerte“ haben – bei der algebraischen (rechnerischen) Behandlung jedoch ist die „Funktion“ „ihrer Natur nach“ stets einwertig. D IRICHLET sieht also diesen Konflikt zwischen der geometrischen und der algebraischen Behandlungsweise. Er gesteht in derartigen Fällen der „Funktion“ – die er grundsätzlich geometrisch denkt: als „Kurve“ – ausdrücklich auch zwei „Werte“ zu. Zugleich ist D IRICHLET der Überzeugung: „Ihrer Natur nach“ muss die „Funktion“ – in algebraischer Hinsicht – einwertig sein. Damit sagt D IRICHLET: Die „Natur“ der „Funktion“ ist es, eindeutig berechenbar zu sein. (Dadurch stellt D IRI CHLET die Zulässigkeit der geometrischen Bestimmung einer „Funktion“ infrage. Allerdings verbietet er die geometrische Bestimmung keineswegs – denn er denkt offenbar, die Beschränkung auf die Bestimmung der „Funktion“ durch einen Rechenausdruck sei eine viel zu sehr einschränkende Forderung – wie weiland E U LER . Allerdings steht D IRICHLET – anders als zuvor E ULER – jetzt die neue Technik der Fourieranalyse zur Verfügung, und das ändert die Sachlage sehr umfassend. D IRICHLET zögert noch, die Konsequenz daraus zu ziehen. Dazu gelangt erst sein Schüler R IEMANN.) Diese eindeutige Bestimmtheit ist nach D IRICHLET jedoch keineswegs willkürlich vorzugegeben, sondern sie ist gegeben: als „die halbe Summe“ der beiden geometrisch bestimmten Werte. Halten wir abschließend fest: Eindeutig unzutreffend ist die oft zu lesende Behauptung264 , von D IRICHLET stamme unser moderner Funktionsbegriff in jenem Sinne, dass eine „Funktion“ schon und immer dann „gegeben sei“, wenn eine eineindeutige ‚Wert-zu-Wert‘-Bestimmung vorliege. Der bloße Verweis auf die von D IRICHLET angegebene kapriziöse Funktion, die für rationale Werte den „Funktionswert“ c, für irrationale Werte den „Funktionswert“ d haben soll,i reicht dazu keineswegs aus, denn D IRICHLET hat aus diesem Beispiel keinerlei Konsequenzen für seine analytischen Begriffsbildungen gezogen, wie die obigen Zitate aus späterer Zeit klar zeigen. i
264
Dirichlet 1829, S. 169 Beiläufig wiederholt auch in Sonar 2011, S. 462.
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Unsicherheiten beim Begriff des Funktionswerts Dirichlets Stetigkeitsbegriff In der Vorlesungsmitschrift aus dem Jahr 1854 gibt D IRICHLET folgende Definition der „Stetigkeit“: „y = f (x) wird eine stetige und eindeutige oder einwertige Funktion von x genannt, wenn zu jedem Werte von x nur ein Wert von y gehört, und wenn einer allmählichen Veränderung von x auch eine allmähliche Veränderung von y entspricht, d. h. wenn für ein festes x die Differenz f (x + h) − f (x) mit beständig abnehmendem h gegen Null konvergiert. Stellt man also die Gleichung y = f (x) graphisch dar, indem man x als Abszisse, y als senkrechte Ordinate der durch sie repräsentierten Kurve betrachtet, so erfordert die Einwertigkeit und Stetigkeit der Funktion y [. . . ] Zur Stetigkeit einer Funktion wird auch noch erfordert, dass alle ihre Werte durchaus endlich seien.“ (Dirichlet 1904, S. 3 f.) Analysieren wir diese Passage wieder akribisch. (1) D IRICHLET definiert hier „stetig“ und „eindeutig“. (2) Sind „eindeutig“ und „stetig“ für eine „Funktion“ bei D IRICHLET gleichbedeutend? Fest steht: (a) D IRICHLET nennt beides in einem Atemzug („stetige und eindeutige“), und zwar gleich zweimal hintereinander. Insbesondere sagt D IRICHLET nicht: „y = f (x) wird eine stetige Funktion genannt, wenn sie eindeutig ist und ...“ (b) Wären „stetig“ und „eindeutig“ zwei verschiedene Begriffe, bedürfte es zweier Definitionen. (Das spricht etwa F REGE später unmissverständlich aus.) S. 567 (3) Daraus ziehe ich den Schluss: D IRICHLET definiert hier die beiden Begriffe „stetig“ und „eindeutig“ gemeinsam – und also auf dieselbe Weise! Anders gesagt: Für D IRICHLET sind „stetig“ und „eindeutig(er Funktionswert)“ synonym.265 (4) Kennten wir den ‚Fundamentalsatz der Funktionenlehre‘ (in C AUCHYs Analysis) nicht, dann hätten wir Probleme, D IRICHLETs Definition so zu deuten, wie S. 315 es eben geschehen ist, und stünden vor einem Rätsel.266 Aber D IRICHLET kann265
Dieses Ergebnis ergibt sich aus dem genauen Lesen des Textes. Dass dieses Ergebnis zunächst als unplausibel erscheint, kann und darf einer genauen Textanalyse keinen Abbruch tun. Findet man keine plausible Deutung eines genau analysierten Textes, entsteht die Frage nach der Authentizität des Textes: Ist er vielleicht verdorben und entspricht gar nicht der Absicht des Verfassers? – Im vorliegenden Fall aber entsteht diese Frage nicht. 266 L AUGWITZ beispielsweise war eine solche Sichtweise verschlossen, und daher konnte er sich keinen Reim auf den letzten Satz des letzten D IRICHLET-Zitats machen:
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872 te natürlich C AUCHYs Analysis aufs Beste, dachte in analytischer Hinsicht ebenso wie C AUCHY – und akzeptierte daher (so meine These hier) auch C AUCHYs ‚Fundamentalsatz der Funktionenlehre‘ . (5) D IRICHLETs Formulierung lässt den Schluss zu, dass er (für ein einziges x) mehrwertige (oder mehrdeutige) Funktionen zu akzeptieren bereit ist – das wären dann „unstetige“ Funktionen.267 Denn sonst hätte er die Eindeutigkeit nicht ausdrücklich formulieren müssen. (6) D IRICHLET spricht hier nicht von einem „Wert“ der Veränderlichen x, sondern von „einem festen x“. Das kann „Wert“ wie auch „Abszisse“ sein. (7) Bei D IRICHLETs „Stetigkeit“ handelt es sich klar und eindeutig um die „lokale“ Stetigkeit (auch „punktweise“ Stetigkeit genannt), also unseren heute üblichen Begriff. (8) Das Wort „konvergieren“ ist in D IRICHLETs Vorlesung bislang nicht definiert. Es steht für das Zeichen „lim“, das D IRICHLET später gebraucht. Anders formuliert: D IRICHLET definiert „Stetigkeit“ in der ‚Grenzwertsprache‘ – nicht ‚epsilontisch‘; genau wie C AUCHY. Dirichlets neuer Begriff der Stetigkeit in einer Veränderlichen im Falle mehrerer unabhängig Veränderlicher
Im Falle einer Funktion von mehreren „unabhängig“ Veränderlichen gibt D IRI CHLET folgende
Definition („Stetigkeit der Funktionen zweier Veränderlicher). Es sei f (x, y) eine Funktion der beiden voneinander unabhängigen Variablen x, y. Alsdann ist, entsprechend dem am Anfange unserer Vorlesung aufgestellten Begriff der Stetigkeit eines nur von einer einzigen Veränderlichen abhängigen Ausdrucks, zur Stetigkeit von f (x, y) erforderlich, dass diese Funktion für jedes beliebige Wertepaar x, y einen und nur einen ganz fest bestimmten Wert annehme, und dass, wenn beide Inkremente h, k ihrer Argumente unabhängig voneinander bis ins Unendliche abnehmen, auch die Differenz: f (x + h, y + k) − f (x, y) unaufhörlich sich der Null nähere.“ (Dirichlet 1904, S. 94 f.) S. 316
Hier ersetzt D IRICHLET in C AUCHYs Definition überall „Größe“ durch „Wert“. Außerdem verlangt er ausdrücklich die „Unabhängigkeit“ der „Inkremente“ h und k. Dies verändert den Begriff drastisch: Jetzt – durch diesen ANDEREN Begriff der „Merkwürdig ist die Feststellung (S. 4): »Zur Stetigkeit einer Funktion wird auch noch erfordert, dass alle ihre Werte durchaus endlich seien.«“ (Laugwitz 1996, S. 71, ebenso Laugwitz 2 2008, S. 60) (D IRICHLETs Hervorhebung „endlich“ ist bei L AUGWITZ getilgt.) 267 Dass D IRICHLET dergleichen betrachtet, haben wir im vorangehenden Abschnitt gesehen.
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Dirichlet
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Unsicherheiten beim Begriff des Funktionswerts „Stetigkeit einer Funktion mehrerer unabhängig Veränderlicher in einer Veränderlichen“ – wird C AUCHYs (und B OLZANOs) Lehrsatz von der Übertragbarkeit der Stetigkeit von jeder einzelnen Veränderlichen auf die Gesamtfunktion falsch. S. 316 Betrachten wir genau die Unterschiede dieser beiden Stetigkeitsbegriffe: (i) C AUCHYs Begriff verlangt für die Stetigkeit von beispielsweise f (X, y) die eindeutige Bestimmheit sämtlicher Grenzprozesse f (X0 , Y) für alle Grenzprozesse X0 → X WIE AUCH für sämtliche Werte Y von y (und also auch für sämtliche Grenzprozesse Y0 → Y für alle Werte Y von y). Kurz: Der Sache nach verlangt C AU CHY s Definition die eindeutige Bestimmtheit sämtlicher Grenzprozsse f (X0 , Y0 ) → f (X, Y) für alle Grenzprozesse (X0 , Y0 ) → (X, Y) und für alle Werte Y von y. (ii) D IRICHLET hingegen verlangt ausdrücklich die „Unabhängigkeit“ der „Inkremente“ h und k. Das kann, wie mir scheint, nur heißen: „das Eine oder das Andere, nicht beide zugleich“. Das bedeutet: Er begnügt sich im Beispiel mit der Forderung der Eindeutigkeit aller Grenzprozesse f (X0 , Y) → f (X, Y) für alle Grenzprozesse (X0 , Y) → (X, Y) . Der Wert Y ist unveränderlich. (iii) Während C AUCHY also die Stetigkeit von f (X0 , Y0 ) für jeden „Weg“ (X0 , Y0 ) → (X, Y) für alle Werte Y von y verlangt, beschränkt D IRICHLET diese Forderung der Stetigkeit auf f (X0 , Y) im „Halm“ (X0 , Y) → (X, Y) über Y. Dirichlets Begriff des bestimmten Integrals D IRICHLET gibt denselben Begriff des bestimmten Integrals wie C AUCHY.j Sein Be- S. 343 weis allerdings unterscheidet sich in zwei bemerkenswerten Aspekten von demjenigen C AUCHYs: (i) D IRICHLET argumentiert geometrisch und gibt sogar eine Figur dazu:
(ii) D IRICHLETs Beweis gründet nicht, wie derjenige C AUCHYs, auf dem Größenj
Vgl. Dirichlet 1904, S. 8–12.
Dirichlet
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872
ab S. 339
begriff, sondern wird ‚epsilontisch‘ geführt. Dabei stützt sich D IRICHLET auf jene „Eigenschaft“ stetiger Funktionen in einem „abgeschlossenen“ Intervall, die wir heute „gleichmäßige“ Stetigkeit nennen. D IRICHLET hat diesen Begriff nicht, sondern sieht die betreffende „Eigenschaft“ (er nennt sie „Fundamentaleigenschaft“k ) als eine „Folgerung“ aus der „Stetigkeit“ – natürlich im „abgeschlossenen“ Intervall, das für D IRICHLET die selbstverständliche Form des Intervalls ist: wie sie es auch für C AUCHY war. RIEMANNS KLARER SCHNITT BEIM FUNKTIONSBEGRIFF STÖSST DAS TOR ZUR MENGENLEHRE AUF Funktion und Funktionswert Dissertation
Bei D IRICHLETs Schüler B ERNHARD G EORG F RIEDRICH R IEMANN (1826–66) wird völlige Klarheit beim Begriff des Funktionswerts geschaffen. R IEMANNs Dissertation aus dem Jahr 1851 beginnt mit folgenden beiden Sätzen: „Denkt man sich unter z eine veränderliche Größe, welche nach und nach alle möglichen reellen Werte annehmen kann, so wird, wenn jedem ihrer Werte ein einziger Wert der unbestimmten Größe w ent˜ spricht, w eine Funktion von z genannt, und wenn, während z alle zwischen zwei festen Werten gelegenen Werte stetig durchläuft, w ebenfalls stetig sich ändert, so heißt diese Funktion innerhalb dieses Inter˜ ˜ valls stetig oder kontinuierlich. Diese Definition setzt offenbar zwischen den einzelnen Werten der Funktion durchaus kein Gesetz fest, indem, wenn über diese Funktion für ein bestimmtes Intervall verfügt ist, die Art ihrer Fortsetzung außerhalb desselben ganz der Willkür überlassen bleibt.“ (Riemann 1953b, S. 3) Die Stetigkeit ist hier zwar nicht sehr explizit beschrieben, aber der Begriff des Funktionswerts ist klar als „einziger Wert“ und also als „eindeutig“ bestimmt. Konsequenterweise sind damit für R IEMANN die Begriffe „Ordinate“ und „Funktionswert“ gleichbedeutend.l Doch es bleibt die Formulierung R IEMANNs, die „Funktion“ sei eine „Größe“, genauer: eine „veränderliche Größe“. Freilich „hängt“ R IEMANNs „Funktion“ nicht mehr „von anderen Größen ab“, sondern sie „nimmt“ nur noch „Werte an“. Demnach scheint für R IEMANN eine „Größe“ schon allein dadurch gegeben zu sein, dass sie „Werte annimmt“. „Größe“ ist für R IEMANN ein Etwas, das „Werte annimmt“; und wohl, weil es verschiedene „Werte“ sein können, ist dieses Etwas, diese „Größe“, „veränderlich“. Ergebnis: Als „Funktion“ lässt R IEMANN die bloße ‚Wert-zu-Wert‘-Bestimmung übrig! k l
Dirichlet 1904, S. 4 Vgl. etwa Riemann 1869, S. 5.
370
Dirichlet – Riemann
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Unsicherheiten beim Begriff des Funktionswerts
Der ‚relationale‘ Funktionsbegriff
R IEMANN erfindet jenen ‚relationalen‘ Funktionsbegriff, der – wenn auch in einer anderen mathematischen Sprache formuliert – noch heute Bestand hat. Diese grundlegende – man darf hier sicher sagen: revolutionäre – Neubestimmung wurde natürlich keineswegs sofort allgemein akzeptiert. Insbesondere R IEMANNs großer Kollege und methodischer Kontrahent W EIERSTRASS hielt tapfer dagegen, jedenfalls bis zum Jahr 1886. ab S. 402 (Registrieren wir in Klammern: Das erste Wort in R IEMANNs Dissertation ist „Denken“. Das passt genau zu R IEMANNs Stil, Analysis begrifflich und möglichst ohne zu rechnen zu betreiben.) Vorlesungen
In seiner Ausarbeitung von R IEMANNs in den Wintern 1854/55 und 1860/61 sowie im Sommer 1862 gehaltenen Vorlesungen über partielle Differenzialgleichungen hat K ARL H ATTENDORF (1834–82) unter Zugrundelegung von R IEMANNs Manuskript sowie eigenen Aufzeichnungen aus dem Winter 1860/61 im Jahr 1869 folgende Funktion publiziert: Z∞ „ 0
π + 2
sin βy dy = 0 y − π 2
für β > 0 , „
β = 0,
„
β < 0.
[. . . ] In Bezug auf β findet also in dem Werte des Integrals eine Diskontinuität statt, ein Sprung oder eigentlich zwei Sprünge nebeneinander. Diese Erscheinung kann man sich auch graphisch darstellen, indem man β als Abszisse, den Integralwert als Ordinate einer Kurve betrachtet (Fig. 3). Für negative Abszissen ist diese Kurve eine Parallele zur Abszissenachse, im Abstande π2 unterhalb, für positive Abszissen eine Parallele zur Abszissenachse, im Abstande π2 oberhalb, und der Punkt der Kurve für β = 0 fällt isoliert in den Anfangspunkt der Koordinaten.“ (Riemann 1869, S. 27) Anders als bei seinem Lehrer D IRICHLET „finden hier“ für x = 0 also nicht „zwei Ordinaten statt“. In der betreffenden Vorlesung folgen gleich noch zwei weitere Beispiele für derartige „merkwürdige Diskontinuität[en]“m . Das aber bedeutet: R IEMANN akzeptiert ein „offenes“ Intervall(-Ende) als mathematisch legitim. Dies widerspricht dem tradierten und bis zu diesem Zeitpunkt akzeptierten ARISTOTELischen Kontinuumsbegriff: Damit gehören die „Grenzen“ eines „Kontinuums“ NICHT MEHR NOTWENDIGERWEISE zum „Kontinuum“ dazu! Die Mengenlehre und, darauf aufbauend, die mengentheoretische Topologie im 20. Jahrhundert werden zeigen, welche kühne Konstruktionen mit diesem Begriff der „offenen“ Menge möglich sind. R IEMANN kann das nicht ahnen. m
Riemann 1869, S. 29
Riemann
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872 Größe S. 370
Wir haben gesehen: R IEMANNs Größenbegriff ist sehr vage. Seiner Dissertation zufolge ist eine (reelle) „Größe“ ein Etwas, das irgendwelche (wie auch immer bestimmten) „Werte annehmen“ kann. Damit ist zu einem allgemeinen Begriff „Größe“ nichts gesagt. Größe als Mannigfaltigkeit? In seinem am 10. Juni 1854 gehaltenen Habilitationsvortrag stellt sich R IEMANN die Aufgabe, „den Begriff einer mehrfach ausgedehnten Größe aus den allgemeinen Größenbegriffen zu konstruieren.“n Im Ergebnis bleibt R IEMANN allerdings begrifflich sehr unbestimmt. Er sagt nicht, was er unter einer „Größe“ verstehen will. Er sagt nicht einmal, wie eine „Größe“ bestimmt sei. Stattdessen führt R IEMANN den Begriff „Mannigfaltigkeit“ ein, und zwar als ein nicht näher bestimmtes Etwas, das „von Größenbegriffen gebildet“ werde. Dabei seien „Größenbegriffe [. . . ] nur da möglich, wo sich ein allgemeiner Begriff vorfindet, der verschiedene Bestimmungsweisen zulässt.“o Zwischen diesen „Bestimmungsweisen“ finde „von einer zu einer andern ein stetiger Übergang [statt] oder nicht“p , wodurch sich eine „stetige“ von einer „diskreten“ Mannigfaltigkeit unterscheide. Und „Größe“, „Größenbestimmung“, „Bestimmungsweise“ und „Mannigfaltigkeit“ sind R IEMANN noch immer nicht genügend Begriffe zur Erfassung der Problematik: „Bestimmte, durch ein Merkmal oder eine Grenze unterschiedene Teile einer Mannigfaltigkeit heißen Quanta.“ (Riemann 1854c, S. 255)
S. 289
Die „diskreten“ Größen kann man „zählen“; die „stetigen“ kann man „messen“ – sofern eine „Größe“ als „Maßstab“ dient. Fehlt ein solcher „Maßstab“, „so kann man zwei Größen nur vergleichen, wenn die eine ein Teil der andern ist, und auch dann nur das Mehr oder Minder, nicht das Wieviel entscheiden.“q (B OLZANO war in seinen unpublizierten Manuskripten hier genauer.) Möglicherweise aber kann man es auch so sehen: R IEMANN wollte unter „Größe“ alles fassen: das Zählbare, das Messbare und auch das (linear) Geordnete. Das gelang ihm nicht in einem Begriff. Viel später, nachdem die Mengenlehre etabliert war, arbeitete die Strukturmathematik nach dem Zweiten Weltkrieg genau diese drei Grundstrukturen der Analysis heraus: die algebraischen, die topologischen und die Ordnungsstrukturen. „Zahl“ als analytischer Grundbegriff?
Interessanterweise gibt es Hinweise darauf, dass R IEMANN mit einer Begründung der Analysis (oder: der Mathematik) auf den Begriff „Zahl“ liebäugelte. In diesem Sinne deuten lässt sich folgende Passage einer Vorlesungsmitschrift: „Der ursprüngliche Gegenstand der Mathematik ist die ganze Zahl; erst allmählich erweitert sich das Gebiet der Untersuchung. Diese Ern
Riemann 1854c, S. 255
o
Riemann 1854c, S. 254
p
Riemann 1854c, S. 254
q
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Unsicherheiten beim Begriff des Funktionswerts weiterung aber geschieht nicht willkürlich, sie ist vielmehr immer dadurch motiviert, dass die anfänglich beschränkte Betrachtungsweise auf das Bedürfnis einer solchen hinführt. So stellt die Aufgabe der Subtraktion die Forderung, solche Größen aufzusuchen, oder unsern Begriff der Größe so zu erweitern, dass die Ausführung jener immer möglich wird und führt hierdurch auf den Begriff des Negativen, die Division, wenn sie allgemein ausführbar sein soll, zu den Brüchen. Die Wurzelausziehung führt auf den Begriff der irrationalen Zahl.“ (Riemann 1987, S. 16, Riemann 1996, S. 21) Aber das ist nur ein sehr vager Ansatz. Er enthält noch immer den Begriff „Größe“ als Grundbegriff. Freilich zieht dieser Ansatz jene Konsequenz, die sich aus C AUCHYs Versuch ergibt, die „Größe“ als eigenständigen Grundbegriff vor der „Zahl“ beizubehalten und das Rechnen mit „Größen“ zumeist auf des Rechnen mit „Zahlen“ (als den „Werten“ der „Größen“) zurückzuführen. Eine weitere kapriziöse Funktion – und Riemanns Integralbegriff In seiner Habilitationsschrift aus dem Jahr 1854 konstruiert R IEMANN auf der Grundlage seines Funktionsbegriffs eine „Funktion“ mit sehr merkwürdigen Eigenschaften. Sie wird nur möglich, wenn der „Funktionswert“ als eindeutig verlangt ist: „Man bezeichne der Kürze wegen durch (x) den Überschuss von x über die nächste ganze Zahl, oder, wenn x zwischen zweien in der Mitte liegt und diese Bestimmung zweideutig wird, den Mittelwert aus beiden Werten 21 und − 21 , also die Null, ferner durch n eine ganze, durch p eine ungerade Zahl und bilde alsdann die Reihe f (x) =
X (nx) (x) (2x) (3x) + + +··· = ; 1 4 9 1,∞ nn
(5.5)
so konvergiert, wie leicht zu sehen, diese Reihe für jeden Wert von x; ihr Wert nähert sich, sowohl, wenn der Argumentwert stetig abnehmend, als wenn er stetig zunehmend gleich x wird, stets einem festen p Grenzwert, und zwar ist, wenn x = 2n (wo p, n relative Primzahlen) µ ¶ 1 1 1 ππ f (x + 0) = f (x) − 1+ + + · · · = f (x) − , 2nn 9 25 16nn µ ¶ 1 1 1 ππ f (x − 0) = f (x) + 1+ + + · · · = f (x) + , 2nn 9 25 16nn sonst aber überall f (x + 0) = f (x), f (x − 0) = f (x). Diese Funktion ist also für jeden rationalen Wert von x, der in den kleinsten Zahlen ausgedrückt ein Bruch mit geradem Nenner ist, unstetig, also zwischen je zwei noch so engen Grenzen unendlich oft, so
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872 jedoch, dass die Zahl der Sprünge, welche größer als eine gegebene Größe sind, immer endlich ist. “ (Riemann 1867, S. 242) Verschaffen wir uns eine Anschauung von der Sache. (nx) ist eine Sägezahnfunktion: (nx) 1 2
− n1
1 − 2n
1 2n
x
1 n
− 12
, die weiteren („stetigen“) NullDie Sprungstellen von (nx) sind die Werte ± 2k+1 2n k stellen sind die Werte ± n . (Hier ist die Abkehr von C AUCHYs Begriff „Funktionswert“ wichtig – sonst wäre diese Funktion als überall einwertige nicht möglich.) Die R IEMANN-Funktion nun ist eine Überlagerung solcher verdichteter Sägezahnfunktionen, deren Sprunghöhen durch den Faktor n12 verringert werden, um die Konvergenz der Reihe zu gewährleisten. S. 366
Anders als bei D IRICHLET hat diese R IEMANN’sche Kapriziöse jedoch eine Relevanz für R IEMANNs Theoriebildung: R IEMANN modifiziert den Begriff des bestimmten Integrals derart, dass seine Kapriziöse noch darunter fällt (und also trotz seiner hohen Unregelmäßigkeiten in R IEMANNs Sinne „integrierbar“ ist): „Um dieses festzusetzen, nehmen wir zwischen a und b der Größe nach aufeinander folgend, eine Reihe von Werten x 1 , x 2 , . . . , x n−1 an und bezeichnen der Kürze wegen x 1 − a durch δ1 , x 2 − x 1 durch δ2 , . . . , b − x n−1 durch δn und durch ε einen positiven echten Bruch. Es wird alsdann der Wert der Summe S = δ1 f (a+ε1 δ1 )+δ2 f (x 1 +ε2 δ2 )+δ3 f (x 2 +ε3 δ3 )+. . .+δn f (x n−1 +εn δn ) von der Wahl der Intervalle δ und der Größen ε abhängen. Hat sie nun die Eigenschaft, wie auch δ und ε gewählt werden mögen, sich einer festen Grenze A unendlich zu nähern, sobald sämtliche δ unendlich Rb klein werden, so heißt dieser Wert f (x) dx . a
Hat sie diese Eigenschaft nicht, so hat (Riemann 1867, S. 239)
Rb
f (x) dx keine Bedeutung.“
a
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Unsicherheiten beim Begriff des Funktionswerts In der Schreibweise von C AUCHY268 und D IRICHLET geht es R IEMANN also um ZX f (x) dx = lim
n=∞
x0
n−1 X
(x i +1 − x i ) f (ξi )
i =0
mit x i 5 ξi 5 x i +1 . Die Wahlfreiheit für die „Stützstellen“ f (ξi ) auch im Innern des Teilintervalls x i < x i +1 ermöglicht die bestimmte Integration weiterer (stetiger) Funktionen, als es C AUCHYs (und D IRICHLETs) Festlegung der „Stützstellen“ auf die Ränder der Teilintervalle zulässt. Ontologischer Rückblick auf Riemanns kapriziöse Funktion
Kehren wir nochmals zu R IEMANNs Kapriziöser zurück und fragen: Wie hat R IE MANN sie gebildet? Welcher Konstruktionsmittel hat er sich bedient? R IEMANNs kapriziöse Funktion ist eine unendliche Reihe. Ihre Bestandteile aber sind nicht nur gewöhnliche Rechenausdrücke, sondern das Herzstück von R IE MANN s kapriziöser Funktion ist das, was ich oben „Sägezahnfunktion“ genannt habe: (x); R IEMANN nennt es „den Überschuss von x über die nächste ganze Zahl“. Was IST ein „Überschuss über die nächste ganze Zahl“? Eine „Größe“? – Da wir nicht sehr genau wissen, was R IEMANN unter „Größe“ verstanden wissen wollte, können wir diese Frage nicht in seinem Sinne beantworten. Fest steht jedenfalls: Hier wird keine „unabhängig“ „Veränderliche“ mit anderem „verbunden“. Folglich übernimmt R IEMANN den C AUCHY’schen Funktionsbegriff nicht. S. 306 (x) ist keine „Verbindung“ von „Größen“, sondern eine Bestimmung von „Werten“, und zwar aus „Werten“ einer „unabhängig“ „Veränderlichen“ mittels gewisser Eigenschaften ihrer „Werte“ (konkret: mittels ihrer Eigenschaft, der „Wert“ könne eine „nächstgelegene“ ganze Zahl um einen gewissen „Wert“ „übertreffen“). R IEMANN bestimmt seine kapriziöse Funktion also in genau der Weise, wie es S. 288 B OLZANO definiert hat – unter Absehung von B OLZANOs Forderung, es müsse sich dabei um eine „Größe“ handeln. (R IEMANN kannte natürlich B OLZANOs Funktionsdefinition nicht.) R IEMANNs kapriziöse Funktion ist mittels einer ‚Wert-zuWert‘-Bestimmung erklärt. Und sie ist keine „Größe“. Kurz: R IEMANNs kapriziöse Funktion ist ein mathematischer Gegenstand, dessen Existenz als mathematischer Gegenstand in R IEMANNs Analysis oder der seiner Zeitgenossen nicht legitimiert ist. Gleichwohl markiert dieser neuartige Gegenstand einen sehr wichtigen Entwicklungsschritt in der Analysis des 19. Jahrhunderts. Es handelt sich um ein neues, genauer: ein neuartiges analytisches Objekt, anhand dessen sich beweisen lässt, dass R IEMANNs Integralbegriff eine Neuerung gegenüber dem früheren C AUCHY’schen darstellt. Wir sehen: Mit den beiden genannten kapriziösen Funktionen von B OLZANO und R IEMANN werden neue mathematische Gegenstände konstruiert, für die es 268
Siehe S. 341 – beachte jedoch die Ausführungen auf S. 382!
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872 in den herkömmlichen analytischen Grundbegriffen keine Legitimation und nicht einmal einen allgemeinen Begriff gibt – außer eben den Titel: „Funktion“. Nehmen wir diese Feststellung zum Anlass, nochmals über die Revolution der Analysis durch die Einführung des Wertbegriffs in den Kanon der analytischen Grundbegriffe nachzudenken. R I E M A N N Ü B E R S I E H T D E N S AC H V E R H A LT D E R GLEICHMÄSSIGEN KONVERGENZ Die Quelle Im Jahr 1976 publizierte D UGAC den folgenden Auszug einer Nachschrift einer R IEMANN’schen Vorlesung mit dem Titel „Theorie complexer Functionen“. Diese Nachschrift stammt von H ERMANN H ANKEL, einem exzellenten mathematischen Talent also, und findet sich ohne Datierung in der Handschriftenabteilung der Niedersächsischen Staats- und Universitätbibliothek in R IEMANNs Nachlass: „Wenn eine Reihe u 0 + u 1 + u 2 + . . ., deren Glieder Funktionen von x sind, konvergiert, so erhält man wiederum eine konvergente Reihe, wenn man mit dx multipliziert und zwischen solchen endlichen Grenzen integriert, zwischen denen die Konvergenz der gegebenen Reihe keine Unterbrechung erleidet. Denn[269] damit die Reihe der u konvergiert, muss lim (u n + u n+1 + . . . + u n+m ) = 0
n=∞
sein, daraus aber folgt, dass auch Z
b
lim a
(u n + . . . + u n+m ) dx = 0
denn bezeichnet ∆[270] den größten Wert der Summe u n + . . . + u n+m zwischen den Grenzen a und b, so ist der Wert des letzteren Integrals < ∆(b − a)
(5.6)
und konvergiert also mit wachsendem n jedenfalls gegen Null.“ (Dugac 1976, S. 221)
Da diese Vorlesungsnachschrift aus sehr kundiger Hand stammt, wird man kaum daran zweifeln, dass sie einen tatsächlichen Vortrag R IEMANNs wiedergibt. Allerdings ist das dort vorgetragene Argument falsch. 269
D UGAC schreibt: „Wenn“.
270
geändert aus „δ“
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Unsicherheiten beim Begriff des Funktionswerts Exkurs zur Sache: nicht gleichmäßige Konvergenz und kapriziöse Funktionen In seinem zwei Generationen später verfassten Lehrbuch Theorie und Anwendungen der unendlichen Reihen erläutert KONRAD K NOPP (1882–1957) den Sachverhalt an einem elementaren Beispiel: „Es sei etwa = 1 für alle rationalen x, die mit einem (positiven) Nenner s n (x) 5 n geschrieben werden können, = 0 für alle andern x. Dann ist s n (x) und folglich auch f n (x) über jedes beschränkte Intervall integrierbar, weil es dort nur endlich viele Sprungstellen aufweist [. . . ]. Auch ist p lim s n (x) = F (x) für jedes x vorhanden. Ist nämlich x rational, etwa q , (q > 0, p und q teilerfremd), so ist für n = q stets s x (x) = 1 und also auch F (x) = 1. Ist dagegen x irrational, so ist stets s n (x) = 0 und also auch F (x) = 0. Es ist somit P die durch f n (x) = lim s n (x) definierte Funktion F (x) =
( 1,
0,
falls x rational, falls x irrational.
Diese Funktion ist aber nicht integrierbar,[271] denn sie ist für jedes x unstetig.“ (Knopp 5 1964, S. 339) Die Funktionenreihe u n (x) wird hier also nicht direkt definiert, sondern stattdessen werden die – für die Konvergenzbetrachtung einzig relevanten – Partialsummen s n (x) = u 0 (x) + u 1 (x) + . . . + u n−1 (x) angegeben. (Daraus ergeben sich zwanglos die Glieder: u n (x) = s n+1 (x) − s n (x).) Bei der Konvergenz kommt es nur auf große Werte von n an. Für jede Rationalzahl p/q aber wird schließlich n = q werden und bleiben, und für all diese Werte von n ist s n (p/q ) nach Definition = 1. Für jede Irrationalzahl x hingegen bleibt unverrückbar s n (x) = 0. Tatsächlich also ist die Grenzfunktion F (x) die charakteristische Funktion der Rationalzahlen: Sie hat für jede Rationalzahl den Wert 1 und für jede andere den Wert 0. (Und es ist klar: Für R IE - S. 370 MANN s Begriff ist dies eine „Funktion“!) – Wie wir wissen hat D IRICHLET diese charakte- S. 366 bei ristische Funktion der Rationalzahlen bereits im Jahr 1829 veröffentlicht. Anm. i K NOPP fügt noch folgende Anmerkung hinzu (dabei nutzt er die abkürzende Schreibweise n! = 1 · 2 · 3 · . . . · n, gesprochen „n-Fakultät“): „Definiert man s n (x) ein klein wenig abweichend so, dass s n (x) = 1 gesetzt wird für alle rationalen x, deren Nenner in n! aufgeht (es sind dies bei jedem n außer den eben gebrauchten natürlichen Zahlen 5 n noch eine bestimmte 271
K NOPP denkt hier natürlich an das „R IEMANN“-Integral. Nach dem zu Jahrhundertbeginn gebildeten Integralbegriff von H ENRI L EBESGUE (1875–1941) ist diese Funktion durchaus integrierbar: Lebesgue 2 1928.
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872
Anzahl weiterer), und = 0 gesetzt wird für alle anderen x, so erhält man als lim s n (x) dieselbe Funktion F (x) wie eben. Nun aber lässt sich s n (x) und F (x) mit den üblichen Mitteln sogar durchaus geschlossen darstellen, denn es ist s n (x) = lim (cos2 n!πx)k und also k→∞
·
F (x) = lim
2
lim (cos n!πx)
k
¸
n→∞ k→∞
.
Dieses merkwürdige Beispiel einer überall unstetigen Funktion, die doch aus stetigen Funktionen mit Hilfe zweimaligen Grenzübergangs hergestellt werden kann, rührt schon von D IRICHLET her.“ (Knopp 5 1964, S. 339, Anmerkung 1) p
Denn n! · x wird für jedes rationale x = q irgendwann ganzzahlig, und für ein ganzzahliges Vielfaches von π hat der Kosinus einen der beiden Werte ±1; durch Quadrieren erhält man daraus den Wert 1. Für irrationale Werte von x hingegen ist cos n!πx niemals = ±1, sondern dem Betrage nach stets < 1; und der beliebig wachsende Exponent k sorgt dann dafür, dass dieser Wert beliebig klein wird, also den Grenzwert 0 hat. (Ganz deutlich: Diese Funktion stammt von D IRICHLET, nicht jedoch ihre Darstellung durch zweimaligen Grenzübergang. Diese Darstellung finde ich zuerst bei A LFRED P RINGS HEIM (1850–1942).272 In seinem Artikel „Grundlagen der allgemeinen Funktionenlehre“ in der Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften vom Jahr 1899 in einer Fußnote schreibt er ohne Quellenangabe: „Nicht selten lassen sich Funktionen, welche von dem ursprünglichen E U LER ’schen Funktionsbegriffe sehr weit entfernt zu sein scheinen, durch verhältnismäßig einfache Grenzwertbildungen analytisch fixieren; so z. B. die von D IRICHLET (Werke 1, p. 132) angeführte Funktion y, welche für alle rationalen x := c, für alle irrationalen := d wird durch: y = (c − d ) lim lim cos n!πx m + d .“ n=∞ m=∞
(Pringsheim 1899, S. 7, Anmerkung 31) S. 199, 211 S. 370
Dass die Rede vom „E ULER’schen Funktionsbegriff“ hier völlig unpassend ist, wissen wir. Die ‚Wert-zu-Wert‘-Bestimmung einer „Funktion“ wird ausdrücklich erst durch R IE MANN kanonisiert.)
Ein Irrtum Riemanns Der von R IEMANN in seiner Vorlesung vorgetragene Beweis ist falsch. Schlimmer: Das konnte R IEMANN wissen!273 Welches ist der Fehler im Beweis? 272
Das bestätigt PAUL M ONTEL (1876–1975), der in der französischen Ausgabe der Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften mit Einschluß ihrer Anwendungen in einer Anmerkung zu seih i nem Exposé „Intégration et dérivation“ zu dem Term lim
lim (cos m!πx)2n schreibt:
m=+∞ n=+∞
„Diesen Ausdruck verdanken wir A. P RINGSHEIM.“ (Montel 1909, S. 176, Anmerkung 184) 273 Sogar S EIDELs Abhandlung, die wir ab S. 355 ausführlich behandelt haben, war bereits publiziert.
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Riemann
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Unsicherheiten beim Begriff des Funktionswerts Dieses: In der Tat gilt wegen der vorausgesetzten Konvergenz der Reihe der u n (x) für einen jeden festen Wert x 0 von x lim r k (x 0 ) = 0 und also auch für jegliches dx : lim r k (x 0 ) · dx = 0 . ‚Epsilontisch‘ (und also in R IEMANNs Stil) formuliert: Es gibt zu vorgegebenem ε stets ein δ = δx0 und ein k x0 , sodass für k > k x0 gilt: r k (x 0 ) · dx < δk0 · dx . R IEMANN schätzt nun in 5.6 stets endlich viele dieser letzten Produkte δk0 · dx nach oben ab durch ∆ · (b − a). Dabei summiert er korrekt die dx allesamt zur Intervalllänge b − a auf. Damit das funktioniert, muss er jedoch die δk0 durch eine obere Schranke abschätzen dürfen, die er „∆“ nennt. Dies aber ist eine zusätzliche Voraussetzung! Sie lautet: Für beliebig vorgegebenes ε > 0 gibt es eine einzige natürliche Zahl k 0 und eine Gesamt-Toleranz ∆, sodass für alle k > k 0 und für jeden Wert x 0 im Intervall gilt: r k (x 0 ) < ∆ . Dann – und nur dann – funktioniert R IEMANNs Argument. Wir haben das bei der Analyse von S EIDELs Abhandlung bereits genau analysiert S. 359, und wissen daher: Hier wird vorausgesetzt, dass die vorgelegte Reihe der u n (x) Gln 5.4 „gleichmäßig“ konvergiert. Bewertung Unzweifelhaft hat sich R IEMANN hier geirrt: Sein Beweis ist korrekt nur dann, wenn er die „Konvergenz“ der vorgelegten Reihe als eine „gleichmäßige“ Konvergenz nimmt. Davon aber ist bei ihm keine Rede. Freilich gibt es keinen Anlass, dies zu dramatisieren. Schließlich handelt es sich nicht um eine Publikation, und wir wissen nicht, in welcher Verfassung R IEMANN war, als er dies in seiner Vorlesung vortrug. (Eher wäre Verwunderung darüber angebracht, dass H ANKEL hier keinen Anlass zur Kritik sah: H ANKEL hatte 1857–60 in Leipzig studiert, ehe er 1860 nach Göttingen kam und R IEMANN hören konnte. 1861 promovierte H ANKEL in Leipzig.) Ist es nicht tröstlich, dass sich selbst ein R IEMANN in einer Vorlesung einmal irrt? Klar ist aber: Den Sachverhalt der „gleichmäßigen“ Konvergenz hat R IEMANN jedenfalls an dieser Stelle nicht bemerkt – und konnte ihn also in seiner Bedeutung nicht würdigen. Ganz anders W EIERSTRASS. S. 406 Der Vollständigkeit halber sei angemerkt: In C AUCHYs Form der Analysis ist R IE -
MANN s Satz gültig (mitsamt diesem Beweis), denn wir wissen: In C AUCHY s Analysis
ist der Begriff „Konvergenz“, (für C AUCHY: die ‚KonvergenzCy ‘) – auf Funktionenrei-
Riemann
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872
S. 326
hen angewandt – stärker als die „gleichmäßige“ Konvergenz und erlaubt also eine Beweisführung à la R IEMANN.274 D I E A M B I VA L E N Z D E R W E RT E - R E VO LU T I O N GLEICHE BESTIMMUNGEN VON STETIGKEIT UND KONVERGENZ
S. 325, 328
B OLZANO und C AUCHY haben den Wertbegriff in den Kanon der Grundbegriffe der Analysis aufgenommen. Soweit sich dies in der Bestimmung der beiden Fundamentalbegriffe der Analysis „Stetigkeit“ und „Konvergenz“ widerspiegelt, haben sie dies in gleicher Weise getan. Dass sich dennoch die mathematische Bedeutung ihrer Konvergenzbegriffe unterscheidet, liegt nicht an der Definition dieser Begriffe, sondern verdankt sich den unterschiedlichen Begriffen des Funktionswerts bei B OLZANO und C AUCHY. ZWEI SEHR UNTERSCHIEDLICHE FUNKTIONSBEGRIFFE
S. 288
B OLZANO und C AUCHY unterscheiden sich in größtmöglicher Weise beim Begriff „Funktionswert“, und auch beim Funktionsbegriff finden sich grundlegende Unterschiede in ihrer analytische Theoriebildung: (1) Für C AUCHY ist eine „Funktion“ auf jeden Fall eine „Größe“: nämlich eine, die mit anderen „Größen“ „verbunden“ ist und deren „Werte“ sich aus den „Werten“ dieser anderen „Größen“ „erschließen lassen“. Eine solche „Verbindung“ von „Größen“ konkretisiert sich traditionell in den beiden Formen eines „Rechenausdrucks“ oder einer „Kurve“ (als „Verbindung“ von „Abszisse“ und „Ordinate“). (2) Auch B OLZANO erklärt eine „Funktion“ als eine „Größe“. Allerdings verlangt B OLZANO zur Bestimmung einer „Funktion“ nicht mehr (wie E ULER und L AGRAN GE und eben dann auch C AUCHY ) das Bestehen einer „Verbindung“ irgendwelcher „Größen“ (die dann die „unabhängig“ Veränderlichen heißen), sondern allein das Bestehen „gewisser Sätze“, welche die Eigenschaften der neuen „Größe“ aus den Eigenschaften der vorliegenden „Größen“ eindeutig formulieren. „Sätze“ aber sind etwas sehr viel Allgemeineres als eine „Verbindung“ – zumal wenn diese „Verbindung“ traditionell als „Kurve oder Rechenausdruck“ gedacht wird. „Sätze“ erlauben es, ganz beliebige Eigenschaften zu benennen und zu konstruieren. – Und wir haben bereits bemerkt, dass B OLZANO gelegentlich seine Be274
C AUCHY selbst hat diesen Satz jedoch anders bewiesen: Er hat in Z
X x0
Z s dx =
X x0
Z u 0 dx +
X x0
Z u 1 dx + . . . +
X x0
Z u n−1 dx +
X x0
r n dx
RX einfach x0 r n dx durch den Mittelwertsatz der Integralrechnung als r n (ξ) · (X − x 0 ) bestimmt, ξ ein Wert zwischen x 0 und X, und weiß: „Dieses Produkt wird für unendliche Werte von n Null“ (RL, S. 238). – Hier haben wir also ein Beispiel für C AUCHYs metaphorische Redeweise von „unendlichen“ Werten: siehe S. 312.
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Unterschiedliche Methodiken stimmung, eine „Funktion“ sei eine „Größe“, sogar vergisst – nämlich dann, wenn ihm sein revolutionärer Elan durchbrennt und er der Mathematik ein Objekt von völlig neuer Qualität erfindet. Mit anderen Worten: Für B OLZANO ist „Funktion“ S. 291 ein sehr viel allgemeinerer Begriff als für C AUCHY (und für sämtliche Mathematiker seiner Zeit) – und manchmal überschreitet B OLZANO sogar diese Grenze und denkt noch abstrakter, indem er „Funktion“ als eine reine ‚Wert-zu-Wert‘-Bestimmung denkt. ERGEBNIS Die Aufnahme des Wertbegriffs in den Kanon der analytischen Grundbegriffe zersetzt also den hergebrachten Funktionsbegriff E ULERs. C AUCHY versucht, dieser Zersetzung Einhalt zu gebieten, indem er konsequent an der „Größe“ als analytischem Anfangsbegriff festhält. Insbesondere beharrt C AUCHY darauf, dass „Funktionen“ weiterhin „Größen“ sind – wenn auch jetzt genauestens Rechenschaft darüber abzulegen sei, welches ihre „Werte“ seien. Wer jedoch nicht (mehr) in der Algebraischen Analysis E ULERs erzogen wurde – etwa B OLZANO, aber natürlich auch die jüngeren Nachfolger C AUCHYs –, wer also nicht (mehr) um die „Funktion“ als eine „Größe“ ohne nähere Bestimmung ihrer „Werte“ wusste, der lief Gefahr, den altehrwürdigen Größenbegriff zu vernachlässigen, zugunsten des neu eingebürgerten Wertbegriffs. Die Erwähnung des Größenbegriffs geriet allmählich zum Lippenbekenntnis, das scheinbar folgenlos auch unterbleiben konnte, und die zweite Mathematikergeneration des 19. Jahrhunderts – namentlich in der Person R IEMANN – konnte sogar auf eine genaue Bestimmung des Begriffs „Größe“ in der Analysis verzichten. Wenn es aber die „Größe“ nicht mehr (als wichtigen analytischen Grundbegriff) gab: Was war dann eine „Funktion“? Klar war sie irgendetwas mit „Werten“, bloß was? Die „Größen“ waren „untereinander verbunden“, sie waren „abhängig“ voneinander. Wie sollten nun die „Werte“ einer „Funktion“ untereinander zusammenhängen: Sollten auch sie „untereinander verbunden“ sein, sollten sie „abhängig“ voneinander sein? Die Analytiker drückten sich vor der Beantwortung dieser Frage. Offenbar hatten sie keine Antwort darauf. Stattdessen hielten sie sich an die Beschreibung der „Funktion“, denn die schien nach wie vor klar: „Rechenausdruck“ oder „Kurve“. Doch ganz allmählich schlichen sich neue Konstruktionsmethoden ein: Schon B OLZANO hatte eine kapriziöse Funktion allein als „Abhängigkeit von Zahlen“ erdacht. R IEMANN konstruierte eine weitere kapriziöse Funktion: ebenfalls, indem er eine ‚Wert-zu-Wert‘-Bestimmung definierte. Und niemand opponierte und kritisierte eine solche Konstruktion als unzulässig. Wirklich niemand? Doch – tatsächlich gab es jemanden, der sich dieser R IEMANN’schen Ausweitung des Funktionsbegriffs widersetzte: W EIERSTRASS. Ehe wir uns dem W EIERSTRASS’schen Denken der Analysis zuwenden, verfolgen wir jedoch noch einige der Wirkungen, die sich aus dem allmählichen Rückzug des Größenbegriffs in der Analysis ergaben.
‚Grenzwertsprache‘ ↔ ‚Epsilontik‘
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S. 372
S. 290 S. 374
ab S. 388
5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872 UNTERSCHIEDLICHE METHODIKEN CAUCHYS ‚GRENZWERTSPRACHE‘ Jener Zentralbegriff, mit dessen Hilfe C AUCHY die Algebraische Analysis – die (mit Größen) rechnende Analysis also – zur ‚Werte-Analysis‘ umwandelt, ist die „Grenze“. C AUCHYs Grenzbegriff ist der entscheidende Vermittlungsbegriff zwischen der (veränderlichen) „Größe“ und dem „Wert“: dem „Grenzwert“ der „Veränderlichen“.
S. 304 S. 297
Als „Wert“ ist die „Grenze“ ein Objekt, mit dem gerechnet werden kann. Die Grenzbildung (sprachlich gewohnter: „Grenzwertbildung“) ist eine Operation, die aus einer „Veränderlichen“ einen „Wert“ erzeugt – ursprünglich übrigens einen neuen „Wert“, also einen, welcher der betreffenden Veränderlichen nicht zugrunde liegt, der von ihr grundsätzlich nicht „angenommen“ wird. Da C AUCHY es sich zum Programm erkoren hat, genau festzusetzen, welche „Werte“ eine „Größe“ hat, ist der von ihm eingeführte lim-Operator ein genau passender Vermittlungsbegriff. Im Einsatz des lim-Operators konkretisiert sich C AU CHY s Umgestaltung der Algebraischen zur ‚Werte-Analysis‘. Daraus ergibt sich eine elementare, aber wichtige Feststellung: Die Anwendung des lim-Operators setzt die Existenz einer (veränderlichen) „Größe“ – und damit: die Akzeptanz und Nutzung des Größenbegriffs – voraus. Oder anders herum: Wer keinen Größenbegriff verwendet, DARF auch den lim-Operator nicht nutzen – oder muss ihn umdefinieren! RIEMANNS ‚EPSILONTIK‘
S. 374
In R IEMANNs Dissertation wie in seiner Habilitationsschrift (und erst recht in seinem Habilitationsvortrag) findet sich keine einzige Verwendung des lim-Operators. Und das, obwohl R IEMANN natürlich „Grenzwerte“ studiert, beispielsweise wenn er seinen neuen Begriff des bestimmten Integrals einführt. R IEMANN handelt von „Grenzwerten“, aber er meidet dabei den lim-Operator. R IEMANN spricht gleichbedeutend sowohl von „Grenze“ als auch von „Grenzwert“. Dabei ist ihm dies nicht in einer solchen Weise ein Fachbegriff, wie er das etwa bei C AUCHY ist. Sondern bei R IEMANN steht „Grenze“ (oder „Grenzwert“) einfach für einen – einen einzigen! – „Wert“, um den es ihm in seiner Betrachtung gerade geht – das kann auch einfach eine „Grenze“ der „unabhängig“ Veränderlichen sein, bis zu der deren Werte reichen sollen. (Letzteres handhabt auch C AUCHY so.)
S. 374
Stattdessen operiert R IEMANN konsequent mit der genauen Angabe der jeweiligen Sicherheitsmarge δ und der Fehlertoleranz ε – siehe etwa seine Definition des bestimmten Integrals. Diese Methodik nenne ich ‚Epsilontik‘. Sie wurde gelegentlich von K ÄSTNER angewendet und danach systematisch von B OLZANO praktiziert. R IEMANNs Lehrer D IRICHLET bediente sich ihrer gelegentlich. (D IRICHLET und R IEMANN hatten von den Werken B OLZANOs keine Kenntnis.)
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‚Grenzwertsprache‘ ↔ ‚Epsilontik‘
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Unterschiedliche Methodiken ‚EPSILONTIK‘ CONTRA ‚GRENZWERTSPRACHE‘ Jetzt das Wichtige: Die ‚Epsilontik‘ verlangt nicht den Begriff der Größe. ‚Epsilontik‘ operiert mit „Reihen von Werten“ (wir heute sprechen von „Folgen“), genauer: „Reihen“ oder „Folgen“ von „Zahlen“, und knüpft an Regelmäßigkeiten an, die in deren Bestimmung (ihrem „Bildungsgesetz“) enthalten sind. Allein entscheidend dabei ist diese Bestimmung, irgendwelche Eigenschaften ihres „Bildungsgesetzes“. Ob diese „Reihen“ (heute: „Folgen“) von Zahlen eine „Größe“ bilden oder nicht, ist dabei vollkommen unerheblich. Die ‚Grenzwertsprache‘ hingegen, also die Verwendung des lim-Operators, benötigt den Gegenstand „Größe“. Denn ohne „Größe“ hat der lim-Operator keine Basis: ist es doch sein Zweck, die „Grenze(n)“ der betrachteten „Größe“ zu bezeichnen. Dass man den lim-Operator auch auf beliebige Zahlenfolgen anwenden könne, zog C AUCHY offenbar nicht in Betracht (jedenfalls nicht von Anfang an: wie wir bei S. 319 seiner Einführung des Konvergenzbegriffs sehen konnten). Kurz: Im Gegensatz zur ‚Grenzwertsprache‘ verlangt die ‚Epsilontik‘ keinen zu- S. 325 grundeliegenden Größenbegriff. Der ‚Epsilontik‘ genügen irgendwelche Zahlen (-gesamtheiten) als Ansatzpunkt, beispielsweise Zahlenfolgen. MISSVERSTÄNDNISSE Jedenfalls moderne Leser tun sich gelegentlich schwer damit, die ‚Grenzwertsprache‘ zu verstehen. So kritisiert der über alle Zweifel an seiner Analysis-Kompetenz erhabene D ETLEF L AUGWITZ (1932–2000) nicht nur R IEMANN, sondern im gleichen Atemzug auch C AUCHY, W EIERSTRASS und C ANTOR wegen deren „offensichtlich falscher Formulierung“ des Konvergenzkriteriums: „Wundern wird man sich vielleicht noch mehr über offensichtlich falsche Formulierungen wie beim Konvergenzkriterium für eine Folge (S n ) [bei R IEMANN]: Die allgemeine Bedingung der Konvergenz ist . . . , dass S n+m − S n für jedes beliebige m mit wachsendem n ohne Ende abnimmt . . . (Man betrachte die harmonische Reihe!) [. . . ] Fast wörtlich die gleiche missverständliche Ausdrucksweise finden wir bei C AUCHY mehrfach ab dem Cours d’analyse 1821 [. . . ]“ (Laugwitz 1996, S. 188 bzw. Laugwitz 2 2008, S. 187) Man könnte dieses harsche Urteil eines namhaften Mathematikers über frühere Kollegen (das sehr spektakulär daherkommt) unkommentiert lassen. Allerdings wurde dieses Urteil gedruckt (und sogar übersetzt). Deswegen sollte man hinzufügen: Einem Historiker steht ein solches Urteil jedenfalls nicht gut zu Gesicht. Eine historisch-philosophische Bewertung wird eher fragen: Wie hat R IEMANN, wie haben die früheren Autoren das gemeint? Warum haben sie es so und nicht anders
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872 formuliert? Welches sachliche Problem steckt hinter diesen heute problematisch gewordenen Formulierungen?
S. 319
Den Autor C AUCHY können wir hier außen vor lassen. Zum Einen hat L AUGWITZ seinem Verweis auf C AUCHY keine genaue Quellenangabe beigegeben. Zum Anderen wissen wir schon: C AUCHYs Definition von „Konvergenz“ ist: lim r n = 0. Und C AUCHYs ausführliche Umformulierung ist sehr sorgsam und liefert ein auch ‚epsilontisch‘ betrachtet völlig korrektes Ergebnis: Gleichung 4.8 auf S. 322. Die ‚Grenzwertsprache‘ in der Hand von ‚Epsilontikern‘ (1) Riemann
In der Mitschrift einer R IEMANN’schen Vorlesung aus dem Jahr 1861 heißt es (ausgesprochen für komplexe Reihenglieder): „Eine unendliche Reihe, deren Glieder u 0 , u 1 , . . . nach irgendeinem Gesetze gebildet sind, konvergiert, wenn die Summe Sm =
n=m X
un
n=0
mit wachsendem m sich einer festen Grenze nähert, welche Letztere dann der Wert der Reihe heißt. Die allgemeine Bedingung der Konvergenz ist daher, dass S n+m − S n für jedes beliebige m mit wachsendem n ohne Ende abnimmt, in andern Worten, dass für jedes m lim
n+m X
n=∞ n
u n = 0 .“
(Riemann 1987, S. 34 f.; Riemann 1996, S. 42 f., erste Formel sinngemäß korrigiert.) (2) Cantor ab S. 458
G EORG C ANTOR hat den noch heute gültigen Begriff der reellen Zahl erfunden. In jener Abhandlung aus dem Jahr 1872, in der C ANTOR diesen Begriff erstmals (und knapp) publiziert, kennzeichnet er die „Konvergenz“ als jene Beschaffenheit einer unendlichen „Reihe“ (wir nennen das heute „Folge“) von rationalen Zahlen a1 ,
a2 ,
...
an ,
... ,
„[. . . ] dass die Differenz a n+m − a n mit wachsendem n unendlich klein wird, was auch die positive ganze Zahl m sei, oder mit anderen Worten, dass bei beliebig angenommenem (positiven, rationalen) ε eine
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Unterschiedliche Methodiken ganze Zahl n 1 vorhanden ist, sodass |a n+m − a n | < ε, wenn n = n 1 und wenn m eine beliebige positive ganze Zahl ist.“ (Cantor 1872, S. 93; im Original stehen statt der Betragsstriche Klammern; nochmals ausführlicher: S. 458) Offenkundig hat C ANTOR in diesem Text die Bedingungen an n und an m der Reihenfolge nach, in der diese Veränderlichen in der voranstehenden Formel vorkommen, behandelt. Diese formelinduzierte Reihenfolge ist in der Tat nicht die quantoreninduzierte Reihenfolge: für alle ε > 0 gibt es n 1 , sodass für alle n > n 1 und für alle m gilt: |a n+m − a n | < ε , die wir heutzutage herbeten. Es kann natürlich kein Zweifel daran bestehen, dass C ANTOR hier die korrekte Formulierung der „Konvergenz“ geben und nicht die falsche Bedingung: für alle ε > 0 und für alle m gibt es n 1 , sodass für alle n > n 1 gilt: |a n+m − a n | < ε
aufstellen will. Die Divergenz der „harmonischen Reihe“ 1+
1 1 1 + + +... 2 3 4
war einst von den Brüdern J AKOB und J OHANN B ERNOULLI auf unterschiedlichem Wege bewiesen worden und 1872 selbstverständlich allgemeines analytisches Basiswissen. In einer elf Jahre später erschienenen Abhandlung formuliert C ANTOR die nämliche Bedingung zweimal: (1) „ lim (a ν+µ − a ν ) = 0 (bei beliebig gelassenem µ)“r , ν=∞
(2) „[. . . ] Beschaffenheit, dass lim (b ν+µ − b ν ) = 0 (was auch µ sei)“s . ν=∞
(Die letztgenannte Stelle führt Laugwitz 1996, S. 188 an.) (3) Weierstraß
In einer Mitschrift aus unbekannter Hand von W EIERSTRASS’ letzter Vorlesung zur Funktionenlehre aus dem Jahr 1886 heißt es (die s n sind Zahlen, nicht etwa Funktionen, und mit „Stellenzahl“ bezeichnet W EIERSTRASS hier den Index n): „Bei einer solchen unbedingt summierbaren Reihe beweist man nämlich sehr leicht, dass lim |s n+r − s n | = 0 n=∞
für jedes r , d. h. dass die Änderung von s n mit wachsender Stellenzahl beliebig klein wird.“ (Weierstraß 1988c, S. 55) r
Cantor 1883, S. 186 – siehe unten, S. 460.
s
Cantor 1883, S. 187
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872 Da die s n Zahlen sind, kann sich W EIERSTRASS’ Formulierung „Änderung“ hier nur auf die Differenz s n+r − s n in Abhängigkeit von der Veränderlichen r beziehen. Demnach sagt W EIERSTRASS hier: „|s n+r − s n | wird mit wachsendem n beliebig klein“, ohne zuvor dem r einen festen Wert zugewiesen zu haben. Das aber ist vollkommen korrekt, L AUGWITZ’ Kritik daran (die nur behauptet, nicht jedoch begründet wird) ist unberechtigt.275 (Auch die unten auf S. 418 zitierte Vorlesungsmitschrift fasst den Sachverhalt völlig korrekt. Freilich steht dem das Vorlesungszitat gegenüber, das auf S. 431, Gl. 5.16, wiedergegeben ist.)
Zusammenfassende Beurteilung
Auch wenn natürlich kein Zweifel daran bestehen kann, dass R IEMANN, C ANTOR und W EIERSTRASS wussten, was „Konvergenz“ (einer Zahlenreihe) heißt, so bleibt doch die Tatsache bestehen, dass ein namhafter Mathematiker (L AUGWITZ) wie auch ein namhafter Mathematikhistoriker (H ENK J. M. B OS – vgl. Anmerkung 275) die angeführten Konvergenzformulierungen aus dem 19. Jahrhundert missverstehen konnten. Wie kann man das nachvollziehen? Heutzutage sind in den Grundvorlesungen Analysis zwei ‚epsilontische‘ Fassungen der „Konvergenz“ üblich: A1 ) Für alle ε > 0 gibt es eine natürliche Zahl N , sodass für alle natürlichen n > N und für alle m gilt: |S n+m − S n | < ε.t A2 ) Für alle ε > 0 gibt es eine natürliche Zahl N , sodass für alle natürlichen n > N und für alle m > N gilt: |S n − S m | < ε.u Dies übersetzt in die ‚Grenzwertsprache‘ wird zu: B) „Es gilt lim (|S n+m − S n | für alle m) = 0 .“ n→∞
Das aber geht aus syntaktischen Gründen offenkundig nicht: Eine Gleichung darf keine Worte enthalten! – Stattdessen bleiben nur Formulierungen wie C) „Für alle m gilt: lim |S n+m − S n | = 0.“ n→∞
oder: C0 ) „Es gilt lim |S n+m − S n | = 0 für alle m.“ n→∞
oder einfach: t 275
Vgl. etwa Knopp 5 1964, S. 128.
u
Vgl. etwa Courant 4 1971, Bd. 1, S. 35.
Leider habe ich mich einst auch zu diesem Fehlurteil an W EIERSTRASS’ Formulierung drängen lassen: siehe Spalt 1991b, S. 340, Anmerkung 1.
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‚Grenzwertsprache‘ ↔ ‚Epsilontik‘
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Unterschiedliche Methodiken C00 ) „lim |S n+m − S n | = 0.“ (Wie sonst?) Genau das also, was R IEMANN (Formulierung C0 ) bzw. C AU - S. 384 CHY (der Sache nach: Formulierung C00 ) sagen. Dies aber ist nichts anderes S. 321 als die ‚epsilontische‘ Formulierung der „Konvergenz“-Bedingung aus der ‚Grenzwertsprache‘, also aus: lim r n = 0 . Denn diese übersetzt sich wie folgt in die ‚Epsilontik‘:
S. 322,
D) „Für alle ε > 0 gibt es eine natürliche Zahl N , sodass für alle m gilt: |S N +m − S N | < ε .“ Und für diese Formulierung gilt: (a) Sie übersetzt die Formulierungen C, C0 und C00 der ‚Grenzwertsprache‘ in die ‚Epsilontik‘. (b) Sie ist völlig korrekt. Insbesondere erhält man aus ihr für n, m > N mit n − N = n 1 , m − N = m 1 wegen |S n − S m | = |S N +n1 − S N +m1 | 5 |S N +n1 − S N | + |S N − S N −m1 | < 2ε die Formulierung A2 oben. Ergebnis: Wenn der Epsilontiker nicht auf eine der Formulierungen der „Konvergenz“-Bedingung A1 , A2 fixiert ist, sondern auch an D denkt, hat er keinen Anlass, sich der von L AUGWITZ an R IEMANN, C ANTOR und W EIERSTRASS geäußerten fachlichen Kritik anzuschließen. METHODISCHES FAZIT UND EINE FACHLICHE KONSEQUENZ Halten wir drei Dinge fest: (i) Ab dem frühen 19. Jahrhundert waren die analytischen Grundbegriffe nicht mehr kanonisiert. (ii) Darüber hinaus wurden sie von verschiedenen Autoren unterschiedlich verstanden: „Größe“, „Funktion“, „Funktionswert“, „Konvergenz“. (iii) Schließlich gab es zwei grundlegend verschiedene Methodiken: ‚Grenzwertsprache‘ und ‚Epsilontik‘. Sie hatten zur Folge, dass die darin formulierten Begriffe nicht leicht und klar ineinander übersetzbar waren. Anders gesagt: Die Analysis war ab dem frühen 19. Jahrhundert in einem für eine mathematische Lehre bedenklich desolaten Zustand: Fundamentale Begriffe waren unterschiedlich definiert („Funktionswert“) oder konnten sogar trotz gleicher Formulierung bei unterschiedlichen Autoren unterschiedliche Bedeutungen haben („Stetigkeit“ und „Konvergenz“ bei B OLZANO oder bei C AUCHY). Evident erscheinende Kritik konnte falsch sein (so A BELs Kritik an C AUCHY). Scheinbar strenge Beweise konnten fehlerhaft sein (A BELs Beweis von Lehrsatz V in seiner Abhandlung zur Binomialreihe). Eine elementar erscheinende Formulierung konnte falsch gedeutet werden (etwa die der „Konvergenz“).
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Formel 4.8
5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872 Eigentlich ein Wunder, dass die Analysis damals nicht in den allergrößten Verruf geriet! Offenbar waren die mit ihrer Hilfe erzielten praktischen Resultate (ihre Rechenergebnisse) von größtem Nutzen. Ihre logische Verfassung jedoch war eine Katastrophe. D ESCARTES hätte diesen Zustand sicher nicht ertragen: Von „klaren“ und „deutlichen“ (Grund-)Begriffen war in der Analysis im früheren 19. Jahrhundert weit und breit keine Spur. Ehe wir uns im nächsten Kapitel dem Start des Rettungsunternehmens zuwenden, soll noch ein Blick auf W EIERSTRASS’ Anstrengungen zur Klärung der analytischen Grundbegriffe, insbesondere: der Anfangsbegriffe, geworfen werden – auch wenn ihnen letztlich kein Erfolg beschieden war. (Auf den Dualismus ‚Grenzwertsprache‘/‚Epsilontik‘ kommen wir abschließend nochmals kurz auf S. 661 zurück.) WEIERSTRASS’ RINGEN UM DIE GRUNDBEGRIFFE DER A N A LY S I S
S. 409 S. 431–435
Kapitel 6
Das analytische Denken von K ARL T HEODOR W ILHELM W EIERSTRASS (1815–97) war Zeit seines Lebens in Bewegung. Am 3. Oktober 1875 schrieb er in einem Brief an H ERMAN A MANDUS S CHWARZ: „[. . . ] Je mehr ich über die Prinzipien der Funktionentheorie nachdenke – und ich tue dies unablässig [. . . ]“v Besonders markant sind zwei Tatsachen: (i) In seiner letzten Vorlesung zur Funktionenlehre im Sommer 1886 akzeptierte W EIERSTRASS jenen Funktionsbegriff, den er zuvor mindestens 24 Jahre lang entschieden abgelehnt hatte. (ii) Bis in die genannte Vorlesung hinein versuchte W EIERSTRASS, einen präzisen analytischen Zahlbegriff zu konstruieren, blieb dabei jedoch ohne völlig zufriedenstellendes Resultat. (Dies ist umso bemerkenswerter, als bereits im Jahr 1872 sowohl sein Doktorsohn G E ORG C ANTOR , im Zusammenwirken mit E DUARD H EINE , wie auch – mit einer ganz anderen Herangehensweise – R ICHARD D EDEKIND analytisch brauchbare und begrifflich scharfe Konstruktionen der „reellen“ Zahl vorgelegt hatten. Offenkundig akzeptierte W EIERSTRASS diese Begriffe nicht.) Beide Tatsachen zusammengenommen erklären zwanglos, warum W EIERSTRASS kein Lehrbuch der Analysis verfasste.276 Gleichwohl – oder gerade deshalb – waren seine Vorlesungen zur Analysis weithin berühmt und veranlassten auch bereits fortgeschrittene Fachkollegen zur Reise nach Berlin, um W EIERSTRASS’ Vorlesung selbst zu hören. Diesem großen Ruf verdanken wir etliche Nachschriften seiner Vorlesungen aus ganz verschiedenen Zeiten. Diese sind nicht von W EIERSTRASS autorisiert. Dennoch sind wir auf ihrer Grundlage heute in der Lage, viele Entwicklungsschritte in W EIERSTRASS’ analytischem Denken im Einzelnen nachzuvollziehen. v
276
Weierstraß 1894 ff., Bd. 2, S. 235 Nirgendwo habe ich diese despektierliche Frage auch nur formuliert gefunden: Warum hat der große Revolutionär der Strenge (der vorgebliche Erfinder der ‚Epsilontik‘) und unermüdliche Lehrer K ARL W EIERSTRASS kein Lehrbuch der Analysis verfasst?
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‚Grenzwertsprache‘ ↔ ‚Epsilontik‘ – Weierstraß
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Weierstraß’ Ringen um die Grundbegriffe der Analysis Doch ehe wir W EIERSTRASS’ Ringen mit den Begriffen „Funktion“ und „Zahl“ studieren, sollen seine analytischen Grundbegriffe „Größe“, „Grenze“ und „Kontinuum“ sowie seine Version des „Satzes von Bolzano-Weierstraß“ betrachtet werden. GRÖSSE, GRENZE, KONTINUUM „Größe“, ‚Zahlgröße im engeren Sinn‘ Nicht hinterfragter Anfangsbegriff ist bei W EIERSTRASS die „Reihe“. W EIERSTRASS bildet die Vorstellung einer „Reihe“ verschiedener „Einzelvorstellungen“ α, β, γ, . . . , die in bestimmter Weise aufeinander folgen. Eine solche Vorstellung heißt ihm „Größe“.277 β , γ , ... |{z} |{z} „Einzelvorstellungen“ oder „Elemente“
Größe:
α , |{z}
Eine solche ‚Zahlgröße (im engeren Sinn)‘, so will ich sie nennen, besteht aus einzelnen „Gliedern“, ein „Glied“ wiederum setzt sich zusammen aus einer „Einzelvorstellung“ oder „Element“ (bezeichnet durch: „α“, „β“, „γ“ usw.) sowie der Angabe der „Anzahl“ für die jeweilige „Einzelvorstellung“ (hier bezeichnet durch: „α“, „β“, „γ“ usw.): a
Zahlgröße (im engeren Sinn):
=
αα , |{z}
ββ , γγ , |{z} |{z} Glieder
...
(5.7)
Da eine solche ‚Zahlgröße (im engeren Sinn)‘278 ein „Komplex“ ist (lateinisch „complexio“ heißt „Verknüpfung“), wird sie eine „komplexe Zahl“ genannt.279 Auch wenn ich es nicht aus einer Quelle belegen kann, so ist doch klar: Eine ‚Zahlgröße (im engeren Sinn)‘ besteht aus nur endlich vielen Gliedern.
Beispiel. Ein Haufen Menschen aus Männern, Weibern, Kindern, etwaw 12α + 37β + 2γ , ist eine solche ‚Zahlgröße (im engeren Sinn)‘. – Beachte: „+“ und „ ,“ sind hier gleichbedeutende Zeichen. w
Vgl. Weierstraß 1988a, S. 7.
277
In Weierstraß 1988c, S. 38 wird hier eine Reihe von „Dingen“ gefordert statt einer Reihe von „Vorstellungen“. Das ergibt aber keinen guten Sinn, wenn diese Dinge nicht „Gedankendinge“ sind. – Auf S. 548 findet sich eine Auffassung dieser W EIERSTRASS’schen Anfangsbegriffe durch einen späteren Philosophen (H USSERL).
278
meine Namensgebung Die damalige Wörterbuchbestimmung:
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„Complex heißt in der Analysis eine Größe, die aus mehreren, durch die Vorzeichen + und − verbundenen Teilen, zusammengesetzt ist, wie a+b−c.“ (Klügel 1803–1836, Bd. 1, S. 522)
Weierstraß
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872 Die genaue Angabe einer Reihenfolge der „Elemente“ bzw. der „Glieder“, ist nicht erforderlich, und es brauchen auch keine Beziehungen zwischen den „Elementen“ der verschiedenen „Glieder“ zu bestehen. Bei solchen „komplexen Zahlen“ oder ‚Zahlgrößen (im engeren Sinn)‘ lässt sich im Allgemeinen nur Gleichheit oder Ungleichheit feststellen, nicht jedoch Größer- oder Kleinersein. Allerdings lassen sich zwei solche Zahlgrößen (im engeren Sinn) stets addieren.x „Unbenannte Zahl“, „Grundreihe“, „Wert“ Wenn die Elemente α, β, γ, . . . einer Zahlgröße g in ganz bestimmten Beziehungen zueinander stehen, heißt g „unbenannte Zahl“; diese Beziehungen bestehen in der jeweiligen Angabe, welche „Anzahl“ von „Elementen“ ν gleich einem einzigen der vorausgehenden „Elemente“ ist – also einer Angabe wie der, wieviele „Elemente“ β durch ein „Element“ α ersetzt werden können; wie viele „Elemente“ γ durch ein „Element“ β ersetzt werden können usw. Das erste „Element“ α heißt dann die „Haupteinheit“, β, γ, . . . die „Untereinheiten“.y
Beispiel. Die „Zahlgröße“ 3 Reichsgulden, 20 Groschen, 5 Pfennig wird durch eine Angabe wie 12 Pf = 1 Gr, 30 Gr = 1 RG zur „unbenannten Zahl“.z Wenn man von einer zusammengesetzten Vorstellung α ausgeht und aus ihr, zusammen mit ihren „Bestandteilen“ β, γ, . . . , eine neue zusammengesetzte Vorstellung („Reihe“) bildet, heißt diese neue Vorstellung „Grundreihe“.a Achtung: Es handelt sich bei der „Grundreihe“ b
=
α,
β,
γ,
δ
um eine „Größe“, nicht um eine „Zahlgröße“. Erneut wird der Begriff des „Aufeinander-Folgens“ (und also der „Reihe“) nebenbei in die Begriffsbildung einbezogen.
Definition (Wert). Bildet man aus einer „Grundreihe“ eine „Zahlgröße“, so heißt deren Bedeutung der „Wert“ dieser Zahlgröße.b
ab S. 416
Dieser Begriff von „Bedeutung“ mutet uns fremd an, passt aber zur Denkweise von E ULER280 . Gemeint ist wohl: Verschiedene „Zahlgrößen“ können denselben „Wert“ haben. Es handelt sich also um das schwierige Problem der Gleichheit in der Mathematik. „Unbenannte Zahlen“ kann man natürlich addieren und multiplizieren, manchmal auch subtrahieren und dividieren – das soll hier nicht näher betrachtet werden. x a 280
Vgl.Weierstraß 1988c, S. 39. Vgl. Weierstraß 1988c, S. 40.
y
Vgl. Weierstraß 1988c, S. 39 f. Vgl. Weierstraß 1988c, S. 40.
z
Vgl. Weierstraß 1988b, S. 3.
b
Siehe S. 197 sowie S. 202 bei Anmerkung 128.
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Weierstraß’ Ringen um die Grundbegriffe der Analysis
‚Beliebige‘ Zahlgrößen
Der analytisch interessante und wichtige Fall ist nun die Bildung von „Grundreihen“ der folgenden Art: Als „Haupteinheit“ wird α = 1 gewählt, und die unendlich vielen „Untereinheiten“ werden als gewisse „Teile der 1“ bestimmt – beispielsweise gemäß 2β = 1α, 3γ = 1α usw., die so genannten „genauen Teile der Einheit“c . Dadurch entsteht die – unendliche! – „Grundreihe“ 1,
1 , 2
1 , 3
1 , 4
1 , 5
...
(5.8)
Eine andere Möglichkeit bilden die Wahlen 2β = 1α, 4γ = 1α, 8δ = 1α usw., die zur „Grundreihe“ 1 1 1 1 1, , , , , ... 2 4 8 16 führen. – Oder man wählt 10β = 1α, 102 γ = 1α, 103 δ = 1α usw. und erhält so die „Grundreihe“ 1 1 1 1 1, , , , , ... 2 3 10 10 10 104 Von jedem „Element“ ist genau bestimmt, an welcher „Stelle“ es steht. (W EIER STRASS legt damit die Reihe der natürlichen Zahlen, betrachtet als „Ordnungszahlen“, zugrunde.)
Definition (beliebige Zahlgröße). Eine ‚beliebige‘281 Zahlgröße wird nun aus „Gliedern“ gebildet, deren „Elemente“ aus einer solchen (unendlichen) „Grundreihe“ stammen. (Vgl. Weierstraß 1988c, S. 42) Eine solche ‚beliebige‘ Zahlgröße kann also aus unendlich vielen Bestandteilen zusammengesetzt sein: wenn unendlich viele „Elemente“ ihrer „Grundreihe“ in von 0 verschiedener „Anzahl“ in ihr vorhanden sind. Daher verallgemeinert der Begriff ‚beliebige‘ Zahlgröße den Begriff ‚Zahlgröße (im engeren Sinn)‘. Das heißt: S. 389, Eine ‚beliebige Zahlgröße‘ ist keine ‚Zahlgröße (im engeren Sinn)‘! Formel 5.7 Eine aus unendlich vielen Gliedern bestehende Zahlgröße ist kein trivialer mathematischer Gegenstand. Immerhin geht es, mindestens, um ein „potenzielles“ Unendlich. W EIERSTRASS sieht das natürlich und untersucht ihn im Detail. S. 416 Der Prototyp einer „Grundreihe“ für eine solche ‚beliebige‘ Zahlgröße ist die zuerst genannte „Grundreihe“ 5.8, denn bei ihr ist a priori klar, dass aus ihr gebildete ‚beliebige‘ Zahlgrößen unbeschränkt geteilt werden können. Klar ist: Auf diese Weise kann jeder Messvorgang durch eine geeignete ‚beliebige Zahlgröße‘ erfasst werden. Offen, gar unbeweisbar ist die Umkehrung des Messens: ob „jeder beliebigen aus unendlich vielen Elementen [korrekt: Gliedern] gebildeten Zahlgröße auch wirklich eine Länge entspricht.“d Ja, „es wäre wenigstens c 281
Weierstraß 1988b, S. 4
d
Weierstraß 1988c, S. 43
Auch diesen Namen habe ich vergeben. W EIERSTRASS verzichtet auf solch unterscheidende Attribute.
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872 die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass die Gesamtheit der positiven Zahlgrößen etwas Umfassenderes sei als die Gesamtheit der Strecken, die von A aus in Richtung AB möglich sind.“e Fest steht auch: „Die Zahlgröße selbst [hat] eine absolut bestimmte Existenz, sobald sie in dem angeführten Sinne gegeben ist [. . . ]“ (Weierstraß 1988c, S. 43) Denn es handelt sich dabei um einen mathematischen Gegenstand (oder: Begriff), der unabhängig von irgendwelchen wirklich durchgeführten oder theoretisch möglichen Messvorgängen ist. Da eine solche ‚beliebige‘ Zahlgröße aber ein unendlicher Gegenstand ist, heißt das zwingend: Sie ist durch ein „Bildungsgesetz“ bestimmt. Denn anders als durch ein allgemeines Gesetz können die unendlich vielen „Glieder“ einer ‚beliebigen‘ Zahlgröße nicht bestimmt werden. „Veränderliche“ W EIERSTRASS’ Begriff der „Zahlgröße“ erlaubt folgende Definition des Begriffs „Veränderliche“:
Definition (Veränderliche).282 Sieht man bei einer Zahlgröße g von den „Anzahlen“ der „Elemente“ ihrer „Glieder“ ab (also von α, β, γ, . . .), so heißt g „veränderliche“ Zahlgröße. (Vgl. Weierstraß 1988c, S. 38.) „Veränderlichkeit“ ist „die wahre Natur der Größe“f . Was sagt W EIERSTRASS hier? (1) Der Begriff „veränderliche“ Größe g besagt, dass es bei der „Zahlgröße“ a
=
αα ,
ββ ,
γγ ,
...
auf die „Anzahlen“ α, β, γ, usw. (α, β, γ usw. sind die „Elemente“ von g ) nicht ankommt; denn von ihnen ist „abzusehen“. (2) Eine „veränderliche“ Größe ist somit keine „Zahlgröße“! Denn das Wesentliche an einer „Zahlgröße“ g sind die „Anzahlen“ der „Elemente“ in α, in β usw. Erst aber, wenn von diesen „Anzahlen“ „abgesehen“ wird, ist g eine „veränderliche“ Größe. Das Attribut „veränderlich“ benennt hier eine Abstraktion: das „Absehen“ von den „Anzahlen“ der einzelnen „Elemente“. Eine „Zahlgröße“ wird zur „veränderlichen“ Größe, wenn dieser Abstraktionsprozess vollzogen ist. (3) Wir bemerken ergänzend: Von der „Zeit“ ist bei W EIERSTRASS nicht die Rede. e 282
Weierstraß 1988c, S. 63
f
Vgl. Weierstraß 1988c, S. 38
Siehe jedoch S. 394.
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Weierstraß’ Ringen um die Grundbegriffe der Analysis (4) Was ist an einer „veränderlichen“ Größe veränderlich? Nach W EIERSTRASS’ Bestimmung: gar nichts! (5) Oder, genauer betrachtet, doch: Nach W EIERSTRASS ist eine „veränderliche“ Größe ein Etwas, das eine „Zahlgröße“ war, aber nicht mehr ist: sie entsteht aus einer „Zahlgröße“, und zwar, indem sie das Wesen der „Zahlgröße“ verliert. Das erscheint als eine paradoxe Bestimmung. (6) W EIERSTRASS bestimmt „veränderlich“ als etwas Unbestimmtes: als eine „Zahlgröße“ mit unbestimmten „Anzahlen“. „Veränderliche“ ist W EIERSTRASS’ analytischer Grundbegriff schlechthin. Insofern kommt ihm in W EIERSTRASS’ Begriffsaufbau jene Rolle zu, die in der ‚MengenAnalysis‘ später der Begriff „Menge“ übernimmt. W EIERSTRASS gibt sogar den Begriff „unbeschränkt veränderlich“: ˜ Definition (unbeschränkt veränderlich). „Man nennt unbeschränkt ver-
änderlich die Größen, bei deren Definition man überhaupt keine Beschränkung macht. Solche Beschränkungen der Veränderlichkeit können in verschiedener Weise gemacht werden, so z. B. wenn man sich auf die reellen Werte zwischen zwei Grenzen a und b oder auf die komplexen Werte beschränkt, die einem begrenzten Flächenstück der Konstruktionsebene entsprechen.“ (Weierstraß 1988c, S. 57283 , vgl. auch Weierstraß 1988a, S. 181) Hilfreich wäre es gewesen, hätte W EIERSTRASS noch definiert:
Definition (Wert einer Veränderlichen – nicht bei Weierstraß). Wenn die Anzahlen sämtlicher Elemente einer veränderlichen Größe bestimmt werden, so heißt die Bedeutung der sich ergebenden Zahlgröße ein „Wert“ der Veränderlichen. „Grenze“
Zur „Veränderlichen“ gehört in der Analysis der Begriff „Grenze“. „Es fragt sich, welchen Begriff man damit im arithmetischen Sinne zu verbinden habe.“g
Definition (Grenze). „Ist x eine veränderliche Größe und ist a eine solche Stelle, dass in jeder Nähe derselben es unendlich viele gibt, die zu ˜ den Definierten gehören, so ist a eine Grenze der veränderlichen Größe, falls a nicht selbst zu den Definierten gehört.“ (Weierstraß 1988c, S. 57 f.) g 283
Weierstraß 1988c, S. 57 Der Herausgeber S IEGMUND -S CHULTZE merkt an, dass in einer Abschrift des der Edition zugrundegelegten Manuskriptes das Wort „Konstruktionsebene“ mehrfach zu „Zahlenebene“ verändert worden sei. – Weierstraß 1988c, S. 238
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872 Erste Beobachtungen: (1) Auffällig ist hier die Verwendung des Wortes „Stelle“. Es steht für ein Etwas, dessen Existenz problematisch ist. Müsste es statt „Stelle“ nicht einfach „Zahlgröße“ heißen?284 (2) Klar ausgesprochen ist die Forderung, die „Grenze“ müsse existieren – nämlich: sie müsse „zu den definierten [Zahlgrößen] gehören“. (3) Allerdings: Der hier verwendete Begriff „Veränderliche“ passt nicht zu dessen zuvor gegebener Definition! Denn hier versteht W EIERSTRASS unter „veränderliche Größe“ offenkundig eine „Vielzahl“ von „Zahlgrößen“. Ist aber irgendeine „Vielzahl“ von „Zahlgrößen“ nach W EIERSTRASS eine „Veränderliche“? Doch gerade nicht! W EIERSTRASS hat die „veränderliche“ Größe als eine Abstraktion des S. 392, Begriffs „Zahlgröße“ bestimmt. Doch eine „Vielzahl“ ist keine „Abstraktion“. (Ein Punkt 2 interessanter Denkfehler: die Vermengung einer intensionalen mit einer extensionalen Bestimmung.) Im Weiteren müssen wir also wohl W EIERSTRASS’ erklärten Begriff „Veränderliche“ durch den unerklärten, aber von ihm gemeinten (der extensionalen) ersetzen:
Definition (Veränderlicheneu – nicht bei Weierstraß). Eine Veränderliche ist eine Gesamtheit von Zahlgrößen.
S. 304
(4) Den Begriff „in jeder Nähe“ könnte W EIERSTRASS ‚epsilontisch‘ fassen, tut es aber nicht. (5) Dass die „Grenze“ „Wert“ jener „Veränderlichen“ sein darf, welche diese „Grenze“ hat, wird von W EIERSTRASS ausdrücklich verneint. Und auch eine Formulierung beim „Satz vom Verdichtungspunkt“ klärt, dass für W EIERSTRASS die „Grenze“ nicht „Wert“ der sie annähernden „Veränderlichen“ sein soll.285 Wir erinnern uns daran, dass auch C AUCHY so dachte. Wichtig ist jetzt: „Offenbar kann es solcher Grenzen mehrere geben. Ja, die Zahl solcher Grenzstellen kann sogar unendlich groß sein, wie z. B., wenn wir eine veränderliche Größe dadurch definieren, dass sie durch alle Zahlgrößen dargestellt werde, die sich aus einer endlichen Anzahl von Elementen zusammensetzen lassen, die sämtlich aus einer Haupteinheit und deren Teilen gebildet sind. Denn dann würden alle rationalen Zahlgrößen zu den Definierten gehören; in der Nähe jeder irrationalen Zahlgröße gibt es aber beliebig viele rationale Zahlgrößen, die ihr beliebig nahe kommen. Somit ist jede beliebige irrationale Zahlgröße eine Grenze der rationalen, d. h. der in diesem Falle Definierten.“ (Weierstraß 1988c, S. 58) 284 285
Vgl. jedoch den Begriff „Gebiet“, S. 395! Siehe S. 399 sowie beispielsweise Weierstraß 1988c, S. 65.
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Weierstraß’ Ringen um die Grundbegriffe der Analysis Dazu zwei Beobachtungen: (1) Nach dieser Wiedergabe hat W EIERSTRASS hier folgende sehr merkwürdige „veränderliche“ Größe definiert: die Gesamtheit aller Rationalzahlen. Diese Definition überschreitet nur dann seinen statuierten Begriffshorizont nicht, wenn er sie als abgezählt nimmt.286 (2) W EIERSTRASS versteht „Grenze“ als – potenziell mehrdeutigen – „Häufungspunkt“. Wie C AUCHY. Später wird diese „Grenze“ in der Topologie „Rand“ genannt S. 304, 305 (allerdings unter Einschluss solcher Werte, die auch zur „Veränderlichen“ gehören). Bei R IEMANN war dergleichen nicht zu finden. Das „Kontinuum“ bei Weierstraß – und Georg Cantors Kritik daran
Zunächst ist der Begriff „Gebiet“ zu bestimmen. Der Begriff „Gebiet“ setzt den Begriff der „Veränderlichen“ voraus – und zwar nicht den von W EIERSTRASS definier- S. 394 ten, sondern den von ihm gemeinten. Statt einer einzigen Veränderlichen betrachtet W EIERSTRASS auch einen „Verein“ oder ein „System“h von Veränderlichen. Darin haben die einzelnen Veränderlichen eine „bestimmte Reihenfolge“i .287 Von einem solchen „Verein“ von „Veränderlichen“ ist jetzt die Rede:
Definition (Gebiet). „Jedes bestimmte Wertsystem der Veränderlichen kann unzweideutig angegeben werden, indem wir festlegen, jeder einzelne Wert einer bestimmten Veränderlichen soll in dem Wertsystem die Stelle einnehmen, die die Veränderliche in der Reihenfolge derselben einnimmt. ˜ ˜ Die Gesamtheit der Wertsysteme nennen wir das Gebiet oder den Be˜ reich der Veränderlichen, jedes einzelne Wertsystem einen Punkt oder ˜ eine Stelle.“ (Weierstraß 1988a, S. 178) Wir heute nennen ein solches „Wertesystem“ ein „n-Tupel“ (x 1 , x 2 , . . . , x n ), die „Stelle“ nennen wir „Koordinate“ (x k ), und statt „Gebiet“ haben wir „Raum“ oder einen Teilbereich des Rn . Bei W EIERSTRASS finden sich eine knappe und eine ausführliche Kennzeichnung des „Kontinuums“. Wir wollen sie beide betrachten. h i
Weierstraß 1988b, S. 83 Weierstraß 1988a, S. 178
286
Dass die Gesamtheit der „Rationalzahlen“ „abzählbar“ ist, wusste G EORG C ANTOR jedenfalls 1872 (siehe seinen Brief an D EDEKIND vom 28. April in Noether und Cavaillès 1937, S. 12 f.); publiziert wurde die allgemeinere Aussage über die „Abzählbarkeit“ der „algebraischen Zahlen“ erstmals in Cantor 1874. Sie erhält ihre Bedeutung natürlich erst nach dem Beweis, dass es auch „überabzählbare“ Gesamtheiten gebe – siehe Cantor 1874, S. 117 f. 287 Wenn diese Veränderlichen „unbeschränkt veränderlich“ sind, nennen wir das heute den Rn – den wir uns freilich nicht als „abgezählt“ denken können, wie W EIERSTRASS es hier verlangt.
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872 In einem ersten Anlauf ist ein „Kontinuum“ dann gegeben, wenn mit einer „Stelle“ a eines „Gebietes“ „in einer hinreichend klein gewählten Umgebung von a sämtliche Stellen dieser Umgebung in dem Gebiete“j liegen. Hier bedeutet „Stelle“ soviel wie (seit C ANTOR) „Punkt“ oder das, was W EIERSTRASS zuvor „Wertesystem“ genannt hat. Gegen diese Bestimmung des „Kontinuums“ richtete G EORG C ANTOR im Jahr 1883 folgende Kritik: „[Diese] Definition des Kontinuums [. . . ] ist gewiss nicht richtig; sie drückt einseitig bloß eine Eigenschaft des Kontinuums aus, die aber auch erfüllt ist bei Mengen, welche aus G n [unser heutiger Rn ] dadurch hervorgehen, dass man sich von G n irgendeine »isolierte« Punktmenge (man vergleiche [Cantor 1882, S. 158]) entfernt denkt; desgleichen ist sie erfüllt bei Mengen, welche aus mehreren getrennten Kontinuis bestehen; offenbar liegt in solchen Fällen kein Kontinuum vor, obgleich nach [dieser Definition] dies der Fall wäre. Wir sehen hier also einen Verstoß gegen den Satz: »ad essentiam alicujus rei pertinet id, quo dato res necessario ponitur et quo sublato res necessario tollitur; vel id, sine quo res, et vice versa quod sine re nec esse nec concipi potest.«[288] “ (Cantor 1883, S. 194) Freilich adressierte C ANTOR diese Kritik nicht an W EIERSTRASS, sondern an B OL ZANO , speziell an § 38 von dessen Paradoxien des Unendlichen aus dem Jahr 1851. Möglicherweise wollte C ANTOR seinen Doktorvater W EIERSTRASS nicht öffentlich kritisieren und schob deshalb B OLZANO vor. Denn liest man B OLZANO, so findet man C ANTORs obige Kritik nicht gänzlich berechtigt, um es milde auszudrücken: „Versuchen wir nämlich, uns den Begriff, den wir mit den Benennungen »eine stetige Ausdehnung oder ein Kontinuum« bezeichnen, zu einem deutlichen Bewusstsein zu bringen: so können wir nicht umhin zu erklären, dort, aber auch nur dort sei ein Kontinuum vorhanden, wo sich ein Inbegriff von einfachen Gegenständen (von Punkten in der Zeit oder im Raume oder auch von Substanzen) befindet, die so gelegen sind, dass jeder einzelne derselben für jede auch noch so kleine Entfernung wenigstens einen Nachbar[n] in diesem Inbegriffe habe. Wenn dies nicht der Fall ist, wenn sich z. B. unter einem gegebenen Inbegriffe von Punkten im Raume auch nur ein Einziger befindet, der nicht so dicht umgeben ist von Nachbarn, dass sich für jede – nur klein genug genommene Entfernung ein Nachbar für ihn nachweisen lässt: so sagen wir, j 288
Weierstraß 1988b, S. 83 „Auf das Wesen irgendeiner Sache bezieht sich das, wodurch – wenn es gegeben ist – die Sache notwendigerweise gesetzt wird und wodurch – wenn es aufgehoben wird – die Sache notwendigerweise aufgehoben wird; oder das, ohne das die Sache und umgekehrt was ohne die Sache
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Weierstraß’ Ringen um die Grundbegriffe der Analysis
dass dieser Punkt vereinzelt (isoliert) dastehe, und dass jener Inbegriff eben deshalb kein vollkommenes Kontinuum darbiete.“ (Bolzano 1975a, S. 73) Während also W EIERSTRASS von einem „Kontinuum“ verlangt, es müsse eine hinreichend kleine „Umgebung“ U einer jeden seiner „Stellen“ vollständig enthalten, verlangt B OLZANO nur, dass U mindestens einen „Punkt“ mit ihm gemein habe. Modern formuliert: W EIERSTRASS denkt ein „Kontinuum“ als eine „offene“ Menge, B OLZANO als eine Menge aus „Häufungspunkten“. Die C ANTOR’sche Konstruktion (Entfernung einer Menge „isolierter“ Punkte) zerstört nur ein „Kontinuum“ in W EIERSTRASS’ Sinn, nicht aber notwendigerweise eines in B OLZA NO s Sinn.289 Demzufolge kann man kaum anders, als in B OLZANO einen hier von C ANTOR vorgeschobenen Pappkameraden zu sehen. Auch muss man konstatieren, dass C ANTOR den Begriff der „Grenze“, wie ihn sein Doktorvater prägte, jedenfalls nicht für sich übernahm. – Die zweite Kritik C ANTORs („desgleichen . . . “) lässt sich leicht mit dem Hinweis kontern, es solle mit der Definition nur ein einziges Kontinuum charakterisiert werden, nicht mehrere.
Kommen wir nun zu W EIERSTRASS’ detaillierterer Bestimmung des „Kontinuums“:
Definition (Kontinuum). „Im Gebiete der beiden veränderlichen Größen x und y seien x 0 und y 0 als beschränkt veränderliche Größen definiert. [. . . ] ˜ Wir sagen nun, der[290] Bereich von x 0 y 0 bilde ein Kontinuum, wenn wir von einer Stelle desselben zu einer anderen Stelle durch eine Reihe von Zwischenpunkten so gelangen können, dass jeder folgende Punkt in der Umgebung des Vorangehenden liegt. Es frägt sich nun, was es heißt, der Bereich einer oder mehrerer beschränkt veränderlicher Größen bilde ein einziges Kontinuum. Denn es kann z. B. x 0 [nicht] zwei Kreisen angehören, sodass für beide die Bedingung des Kontinuums erfüllt ist, aber doch nicht ein einziges Kontinuum stattfindet. Wenn wir irgendeine Stelle a haben, so kann in dem Gebiete eine Umgebung von a so definiert werden, dass jeder Punkt derselben zu den Werten x 0 gehört, vorausgesetzt, dass a im Innern des Gebietes der x 0 liegt. Wir nehmen nun in der Umgebung von a den [neuen] Punkt a 1 und können für diesen auch eine Umgebung definieren, sodass jeder weder sein noch begriffen werden kann.“ – Ich danke Prof. E BERHARD K NOBLOCH für die Übersetzung. 289 Die rationalen Zahlen im Intervall [0, 1] bilden im Sinne B OLZANOs ein „Kontinuum“. (Ob B OL ZANO diese Konsequenz gesehen hat, steht auf einem anderen Blatt.) Entfernt man daraus eine Zahl – einen „isolierten“ Punkt –, bleibt der „Kontinuums“-Charakter im Sinne B OLZANOs erhalten: Auch die verbleibenden Zahlen sind „Häufungspunkte“ der verbleibenden Zahlen. 290
In der Vorlage: „das“.
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S. 396 bei Anm. j
S. 394, Punkt 5
S. 458
5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872 Punkt derselben zu den Werten x 0 gehört. Wir nehmen nun in der Umgebung von a 1 den [neuen] Punkt a 2 willkürlich an, dessen Umgebung wieder zu den Werten von x 0 gehört. u. s. f. Von allen Punkten a 1 , a 2 , a 3 , . . . , zu denen wir auf diese Weise gelangen, können wir sagen, dass sie mit a kontinuierlich zusammenhängen. Wir sagen daher, der Bereich von x 0 bildet ein einziges Kontinuum, wenn wir von einer bestimmten Stelle a ausgehend zu jeder anderen Stelle von x 0 auf diese Weise kontinuierlich gelangen können. Ist es aber nicht möglich, von jeder einzelnen Stelle ausgehend zu jeder anderen zu gelangen, so bildet der Bereich von x 0 mehr als ein Kontinuum.“ (Weierstraß 1988a, S. 181–183; siehe auch Weierstraß 1988c, S. 67) Anders als in der vorigen kurzen Kennzeichnung kann ein W EIERSTRASS’sches „Kontinuum“ jetzt nicht mehr aus mehreren, untereinander unverbundenen Teilen bestehen. W EIERSTRASS weiß sehr wohl um die Feinheiten seines Kontinuumsbegriffs: „Denken wir uns nun in der Ebene nur einzelne Punkte ausgeschlossen, so können wir stets von einem nicht ausgeschlossenen Punkt zu einem anderen solchen auf einem stetig zusammenhängenden Wege gelangen, ja wir können immer einen Teil der Ebene aussondern, der die beiden Punkte miteinander verbindet. Letzteres können wir durch eine Reihe von Kreisen bewirken, die so beschaffen sind, dass der Mittelpunkt des einen immer im vorhergehenden liegt, und deren Radien so gewählt sind, dass sie alle ausgeschlossenen Punke ausschließen. “ (Weierstraß 1988c, S. 65 f.) Anders schon ist es, wenn die Anzahl der ausgeschlossenen Punkte unendlich groß ist, ohne dass sie darum eine Linie auszumachen brauchen. Liegen z. B. die ausgeschlossenen Punkte so auf der Peripherie eines Kreises, dass, wenn u 0 die in irgendeiner Richtung von irgendeinem Anfangspunkt auf der Peripherie gerechnete Bogenlänge ist und dieser Kreis die Einheit zum Halbmesser hat, für sie u 0 = 2ξπ ist, wo ξ alle rationalen Werte von 0 bis 1 durchlaufen darf, so wird dadurch ein bestimmter Teil der Ebene ausgeschieden, ohne dass die Punkte stetig eine Linie erfüllen. Zunächst gehören nun alle Punkte im Innern des Kreises zu den nicht ausgeschlossenen, nehmen wir also einen derselben zum Mittelpunkt eines Kreises an, dessen sämtliche Punkte definiert sein sollen, so erkennt man, dass dessen Halbmesser eine gewisse Grenze nicht überschreiten darf; nimmt man nun in diesem Kreise wieder einen neuen Punkt an und schlägt um ihn einen Kreis, der dasselbe leisten soll wie der Erste, so sieht man, wenn man sich dieses Verfahren
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Weierstraß’ Ringen um die Grundbegriffe der Analysis beliebig oft fortgesetzt denkt, dass man nie aus dem Innern des durch jene ausgeschlossenen Punkte begrenzten Kreises herauszukommen vermag, gerade so, wie eine ganz analoge Überlegung lehrt, dass man von einem Punkt des Äußern ausgehend, nie in den Kreis einzutreten imstande ist. Wir sehen somit, dass eine Punktfolge durchaus nicht stetig zu sein braucht, um eine zweifache Mannigfaltigkeit in mehrere Teile zu zerlegen. Man erkennt aber schon aus diesem Beispiel, dass es nicht a priori möglich ist, die möglichen Arten der Zerlegung einer Ebene in Teile anzugeben. Jedenfalls die von G EORG C ANTOR im Jahr 1883 geäußerte Kritik ist hier von W EI ERSTRASS pariert. DER „SATZ VOM VERDICHTUNGSPUNKT“ Den heute „Satz von Bolzano-Weierstraß“ genannten Lehrsatz bezeichnete W EI ERSTRASS als „Satz vom Verdichtungspunkt“k . Eine Fassung davon findet sich bereits in der Vorlesung von 1868.l In seiner letzten Vorlesung zur Funktionenlehre im Jahr 1886 gab ihm W EIERSTRASS folgende Version (zunächst für eine „einfache Mannigfaltigkeit“, in unserer Sprache: den „eindimensionalen“ Fall): ˜ Lehrsatz (Satz vom Verdichtungspunkt). „Ist x eine unbeschränkt ver-
änderliche Größe, die – wie man sagt – eine einfache Mannigfaltigkeit bildet und geometrisch durch eine Gerade repräsentiert wird, und wird in ihr eine andere veränderliche Größe x 0 so definiert, dass die Anzahl der definierten Stellen unendlich ist, so gibt es in dem Gebiete von x, für welches x 0 definiert ist, mindestens eine Stelle, in deren Nähe sich unendlich viele der definierten Stellen befinden. Eine solche Stelle kann entweder selbst zu den Definierten gehören, oder nicht; im letzteren Falle ist sie eine Grenzstelle. [. . . ] Wir wollen hier aber einen strengen Beweis des Satzes geben. Dabei beschränken wir uns zunächst auf ein endliches Intervall (a . . . a + d ). (Ist z. B. x 0 definiert durch n12 , wo n alle ganzen Zahlen von 1 bis ∞ durchlaufen soll, so ist (a . . . a + d ) = (0 . . . 1).) Diese Strecke halbieren wir. Dann gibt es mindestens in einer der beiden Hälften des Intervalls unendlich viele x 0 nach der Voraussetzung. Die beiden Intervalle, in die wir das Erste geteilt haben, sind (a . . . a + d2 ) und (a + d2 . . . a + d ). Das erste Intervall von diesen beiden, in welchem unendlich viele x 0 liegen, bezeichnen wir mit (a + ε d2 . . . a + (ε+1) d2 ), wo also ε = 0 oder = 1 ist, wir berücksichtigen also damit den Fall, dass in beiden Teilintervallen unendlich viele x 0 liegen. So wollen wir nun fortfahren. Wir zerlegen das Intervall (a+ε d2 . . . a+ (ε+1) d2 ) wieder in zwei gleiche Teilintervalle (a +ε d2 . . . a +(ε+1) d2 + d4 ) und (a + ε d2 + d4 . . . a + (ε + 1) d2 ). Das Erste dieser beiden, in welchem k l
Weierstraß 1988b, S. 86 f. Weierstraß 1986, S. 79 f.
Weierstraß
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872 unendlich viele der definierten x 0 liegen, bezeichnen wir mit (a + ε d2 + ε1 d4 . . . a + ε d2 + (ε1 + 1) d4 ), wo [auch] ε1 = 0 oder = 1 ist. So weiter verfahrend erhalten wir eine Reihe völlig eindeutig bestimmter Zahlen ε2 , ε3 , . . . , εn , und es ist alsdann a +ε
d d d + ε1 + . . . + εn n+1 2 4 2
der Anfangspunkt des ersten Intervalls, in dem sich überhaupt unendlich viele x 0 finden. Dieses Intervall selbst ist also µ µ ¶¶ ³ε ε ε ε1 ε2 ε2 εn ´ εn + 1 1 a +d + + + . . . + n+1 . . . a + d + + + . . . + n+1 . 2 4 8 2 2 4 8 2 Es sei nun
ε1 ε2 εn ´ + + . . . + n+1 d ; 2 4 8 2 dann gibt es innerhalb der Strecke µ ¶ d a n . . . a n + n+1 2 an = a +
³ε
+
unendlich viele der definierten Größen. Wir wollen uns nun die Reihe der a n ins Unbegrenzte fortgesetzt denken; alsdann erhalten wir schließlich a 0 = a + ηd ,
wo η =
∞ ε X k k=0 2
k+1
ist.
η ist hierbei eine völlig bestimmte Größe. a 0 , behaupten wir nun, ist eine Stelle, in deren Nähe sich unendlich viele der definierten x 0 zusammendrängen. Wir können nämlich zuerst setzen a 0 = a n + η0 d , wo η0 d > 0, und η0 so klein machen, wie wir wollen. d In dem Intervall (a n . . . a n + 2n+1 ) sind nun unendlich viele der de0 finierten Werte x enthalten. Man 〈kann〉[291] daher stets, wenn n so bestimmt ist, dass 2dn < g , Größen x 0 so finden, die von a 0 um weniger als g verschieden sind, da η0 d dann a fortiori < g ist. Damit ist der in Rede stehende Satz streng bewiesen. Wie wir sehen, beruht unser Beweis nur auf der Annahme der Existenz der Größen εν ; diese Annahme ist aber nur eine logische Folge der beiden Voraussetzungen, dass es unendlich viele definierte x 0 gibt und dass diese sich innerhalb des endlichen Intervalls (a . . . a + d ) befinden. Wir haben den Satz bisher nur unter der Voraussetzung bewiesen, dass x 0 zwischen endlichen Größen definiert sei; er läßt sich aber auch 291
Ergänzung vom Herausgeber S IEGMUND -S CHULTZE hinzugefügt.
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Weierstraß’ Ringen um die Grundbegriffe der Analysis leicht auf den Fall ausdehnen, dass x 0 von −∞ bis +∞ definiert sei. Denn entweder finden sich immer noch unendlich viele der definierten x 0 , die größer sind als eine beliebig große Größe a, dann wenden wir unseren Satz auf die im Unendlichen liegenden x 0 an; in diesem Falle sagt man, +∞ sei eine Grenzstelle der x 0 ; dasselbe gilt bzw. für −∞. Gibt es endlich in (−∞ . . . + ∞) eine endliche Strecke, von der wir wissen, dass in ihr unendlich viele x 0 liegen, so können wir auf diese den vorstehenden Beweis ohne Weiteres anwenden. Die Grenzstelle a 0 , die in dem vorstehenden Beweise eine so große Rolle spielte, ist eine ganz bestimmte Zahlgröße, der man noch mannigfaltige andere Formen geben kann, indem man der Teilung nicht die 2, sondern eine beliebige andere ganze Zahl zu Grunde legen kann. Die Hauptsache aber ist, dass diese Zahlgröße eine Existenz im arithmetischen Sinne insofern hat, als man sie durch eine Haupteinheit und beliebig viele Teile derselben darstellen kann.“ (Weierstraß 1988c, S. 60–62) Hier haben wir den – soweit ich sehe – einzigen Fall, in dem W EIERSTRASS den Beweis eines Satzes seiner elementaren Lehre der reellen Funktionen auf seinen Zahlbegriff gründet und nicht auf – wie zumeist – den Begriff der Dezimalzahl. S. 391 W EIERSTRASS betont dies im letzten Satz des vorstehenden Zitats ausdrücklich. W EIERSTRASS spricht seinen Satz auch noch für eine „n-fache Mannigfaltigkeit“ aus (eine „Stelle“ ist dabei, wie bereits erklärt, ein „bestimmtes Wertsystem“ für S. 395 die in Rede stehenden n einfachen Veränderlichen): ˜ Lehrsatz (Satz vom Verdichtungspunkt, allgemeiner Fall). „Angenom-
men, es seien in einer n-fachen Mannigfaltigkeit Stellen in irgendeiner Weise definiert, jedoch so, dass unendlich viele Stellen dieser Definition entsprechen, so gibt es mindestens eine Stelle, in deren Nähe sich unendlich viele definierte Stellen zusammendrängen. Nennen wir die Gesamtheit aller Stellen, die entstehen, wenn man dem x 1 alle Werte von a 1 − d bis a 1 + d , dem x 2 alle Werte von a 2 − d bis a 2 + d usw. anzunehmen gestattet und wir uns alle auf diese Weise möglichen Wertekombinationen der n Größen gebildet denken, die ˜ Umgebung der Stelle (a 1 , a 2 , . . . , a n ), so behaupten wir also, dass in jeder noch so kleinen Umgebung, d. h. wo d beliebig klein ist, mindestens einer Stelle es unendlich viele Stellen gibt, die der Definition entsprechen.“ (Weierstraß 1988c, S. 64) Und W EIERSTRASS setzt hinzu: „Es wird der Satz zuerst nur ausgesprochen für den Fall, dass die betrachteten Stellen ganz im Endlichen liegen, d. h. x 1 , x 2 , . . . , x n dem absoluten Betrag nach gewisse Grenzen nicht überschreiten.
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872 Für den Fall, dass die Grenzstelle im Unendlichen liegt, ist die Übertragung sehr leicht. [. . . ] Man kann den Satz sofort ausdehnen auf eine n-fache Mannigfaltigkeit von komplexen Größen.“ (Weierstraß 1988c, S. 64)
S. 438
Beim „Satz vom Verdichtungspunkt“ („Satz von B OLZANO-W EIERSTRASS“) handelt es sich um einen zentralen Lehrsatz der Analysis. W EIERSTRASS hat ihn streng bewiesen, indem er ihn auf seinen Zahlbegriff zurückgeführt hat. Damit wird der „Verdichtungssatz“ eine Brücke zum strengen Beweis auch anderer Lehrsätze in W EIERSTRASS’ Lehre, beispielsweise des Nullstellensatzes. WEIERSTRASS’ FUNKTIONSBEGRIFF (IM WANDEL) Am Gewerbeinstitut Vielleicht nicht besonders wichtig muss man es nehmen, wie W EIERSTRASS in der Frühzeit seines Unterrichts am damaligen Berliner Gewerbeinstitut (einem Vorläufer der Technischen Universität), wo er 1856–64 tätig war (wegen einer Erkrankung aber nur bis 1861 unterrichtetem ), den Begriff „Funktion“ definierte:
Definition (FunktionWei 1861 ). „Zwei veränderliche Größen können in einem solchen Zusammenhang stehen, dass zu jedem bestimmten Wert der einen ein bestimmter Wert der andern gehört, so heißt die Letztere eine Funktion der Ersteren.“ (Dugac 1973, S. 19 = Weierstraß 1861, S. 1) S. 370
Dies ist dieselbe Bestimmung, wie sie zuvor R IEMANN gegeben hat. W EIERSTRASS hält sie also für den Gewerbeschülern zumutbar. Frühe Universitätszeit Ganz anders liest es sich jedoch im Jahr 1874 an der Universität: „Es ist nicht möglich, den Begriff einer analytischen Funktion mit ein paar Worten zu definieren, sondern derselbe muss erst nach und nach entwickelt werden, und dies ist die Aufgabe dieser Vorlesung. [. . . ] Mit F OURIER, C AUCHY und D IRICHLET wurde die folgende Definition der Funktion gebräuchlich: Wenn mit einer veränderlichen Größe x eine zweite Größe y so zusammenhängt, dass zu jedem Werte von x ein Wert von y gehört, so ist y eine Funktion von x. Wir werden als Ergebnis dieser Vorlesungen zu der Überzeugung gelangen, dass wenn wir von einer Funktion weiter nichts wissen, als diese Definition aussagt, wir über die Beschaffenheit der Funktion gar keine Folgerungen ziehen können. [. . . ] m
Vgl. Knobloch 1998, S. 17.
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Weierstraß’ Ringen um die Grundbegriffe der Analysis Mit der obigen allgemeinen Definition der Funktion verhält es sich ebenso wie mit der folgenden geometrischen: Eine krumme Linie ist eine solche, die in keinem Teile gerade ist. Aus derartigen Definitionen kann keine positive Eigenschaft des Definierten entwickelt werden.“ (Weierstraß 1988a, S. 1 f., 4) Ist dieser W EIERSTRASS’sche Vergleich passend? Die von ihm angeführte geometrische Definition ist zirkulär (sie bestimmt „krumm“ durch „nicht gerade“), während die angeführte analytische Definition – in W EIERSTRASS’ Sinn – nichtssagend ist. Im Übrigen zeigt diese Passage: W EIERSTRASS dürfte (in Verbindung mit Hankel S. 366 bei 1882, S. 67) wohl die Quelle für die Mär vom „D IRICHLET’schen Funktionsbegriff“ Anm. 264 sein. Ein ‚substanzialer‘ Funktionsbegriff
Beachten wir die Art der Begriffsbestimmung, die W EIERSTRASS hier verlangt: W EI ERSTRASS fordert eine Definition, aus der sich die wesentlichen Eigenschaften des definierten Begriffs ableiten lassen. W EIERSTRASS steht hier also in der alten Tradition der Wesensbestimmung des fraglichen Begriffs, wie wir sie bisher immer bei den Autoren gesucht haben. Man könnte auch von einer ‚substanzialen‘ Definition sprechen.292 Während am Gewerbeinstitut eine ‚relationale‘ Definition für „Funk- S. 371 tion“ ausreichend war, sucht W EIERSTRASS an der Universität eine ‚substanziale‘. Späte Universitätszeit Etliche Jahre später formuliert W EIERSTRASS die weiteste Entwicklung seines ‚substanzialen‘ Funktionsbegriffs:
Definition (monogeneWei Funktion). „Wenn der Konvergenzbereich einer Reihe, deren Glieder rationale Funktionen einer Veränderlichen x sind, in der Art in mehrere Stücke zerlegt werden kann, dass in der Nähe jeder im Innern eines solchen Stückes gelegenen Stelle die Reihe gleichmäßig konvergiert; so stellt dieselbe in jedem einzelnen Stücke ˜ einen einwertigen Zweig einer monogenen Funktion von x dar, in verschiedenen Stücken aber nicht notwendig Zweige einer und derselben Funktion.“ (Weierstraß 1880, S. 90 bzw. Weierstraß 1894 ff., Bd. 2, S. 221; vgl. auch Weierstraß 1988c, S. 170 f.) Dabei bezeichnet der (von C AUCHY in anderem Sinn verwendete) Name „monogen“ 292
Diesen philosophischen Begriff habe ich in Spalt 1990b, S. 208 zur Kennzeichnung des Denkens von B OLZANO eingeführt. – Eine heute häufige Bezeichnung dafür ist: „konstruktiver“ Funktionsbegriff. Dieser Titel nimmt die zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgebrochene „Grundlagenkrise der Mathematik“ auf und ordnet W EIERSTRASS nachträglich einer der dort entstandenen Parteien zu.
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872 „sehr gut den Begriff, den wir mit dem Worte verbinden, indem er ausdrückt, dass das Gebilde respektive die Funktion aus einer Quelle abgeleitet werden kann, indem durch die Kenntnis eines einzigen Elementes der Funktion respektive des Gebildes dieselbe respektive dasselbe in ihrer ganzen Totalität vollständig bestimmt sind.“ (Weierstraß 1988c, S. 170 f. – Eine vergleichbare, aber blassere Formulierung zum Begriff „monogen“ findet sich in Weierstraß 1988b, S. 114.) Oder in H ILBERTs rückblickenden Worten auf W EIERSTRASS’ Werk: „Für die Weiterentwicklung der Theorie sieht W EIERSTRASS das Wesentliche und Wertvolle seiner Definition der analytischen Funktion in dem Umstande, dass eine jede durch eine analytische Gleichung ausgedrückte Eigenschaft der Funktion, wenn sie für einen noch so kleinen Bereich der komplexen Veränderlichen erfüllt ist, notwendig für den ganzen Definitionsbereich gilt, oder kurz gesagt, dass die Eigenschaften einer Stelle des Bereichs jeder Stelle zukommen. Diese Tatsache würde, wie W EIERSTRASS an Beispielen zeigt, nicht statthaben, sobald man die Funktion etwa durch einen analytischen Ausdruck oder durch eine beliebige unendliche Reihe von rationalen Funktionen definieren würde.“ (Hilbert 1965, Bd. 3, S. 332) Fragen wir wie üblich: Was ist eine „monogeneWei “ Funktion? Nach W EIERSTRASS: eine „Gesamtheit“ auseinander ableitbarer „Funktionenelemente“. (Ein „Funktionenelement“ ist eine Potenzreihe, zusammen mit ihrem Konvergenzbereich.) Darf man diese „Gesamtheit“ (und also: W EIERSTRASS’ „Funktion“) – im damals bereits zeitgemäßen Sprachgebrauch – eine „Menge“ nennen? Der österreichische Mathematiker K ARL M ENGER (1902–85) war dieser Ansicht,n Mathematikhistoriker wie F. A. M ONNA und G OTTFRIED R ICHENHAGEN widersprechen ihr.o In der Sicht von W EIERSTRASS ist diese Frage unwichtig: „Das letzte Ziel bildet immer die Darstellung einer Funktion.“ (Weierstraß 1988c, S. 176, das Schlusswort seiner letzten Vorlesung zur Funktionenlehre) Diese „Darstellung“ wird, wie zitiert, durch – auseinander ableitbare – Potenzreihen mit maximalem Konvergenzbereich gebildet. Dabei spielt die „gleichmäßige Konvergenz“ eine wichtige Rolle. Ein Beispiel eines „Funktionenelements“ Wir betrachten als ein Beispiel für ein „Funktionenelement“ die komplexe Potenzreihep s(x) =
X
(i x)n .
n =0 n p
Menger 1966, S. 607 o Monna 1975, S. 102 f.; Richenhagen 1985, S. 25 Dieses elegante Beispiel stammt aus Cartan 1961, S. 41.
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Weierstraß’ Ringen um die Grundbegriffe der Analysis
Sie hat den Konvergenzradius 1, d. h. für alle x mit |x| < 1 gilt s(x) = reelle Zahl. Es gilt: 1 1 1 − i a1 1 = · = · 1 − i x 1 − i a1 1 − i x 1 − i a1
1 1−i x 1−i a 1
=
1 · 1 − i a1
1 1−i a 1 −i x+i a 1 1−i a 1
1 1−i x .
– Sei a 1 eine
1 1 · x−a 1 . 1 − i a 1 1 − i 1−i a1
=
Entwickeln wir dies als Potenzreihe, erhalten wir µ ¶ X i (x − a 1 ) n X i n (x − a 1 )n 1 . = 1 − i a 1 n =0 1 − i a 1 (1 − i a 1 )n+1 n =0 Damit haben wir P(x − 0) = s(x) in eine neue Potenzreihe p P1 (x − a 1 ) entwickelt. Diese letztere Potenzreihe konvergiert für |x − a 1 | < |1 − i a 1 | = 1 + (a 1 )2 , und für a 1 6= 0 ist dies tatsächlich größer als 1 − |a 1 |: ihr Konvergenzradius ist bemerkenswerterweise größer als 1 − |a 1 |. In W EIERSTRASS’ Sprache ist also
P(x − 0) =
X
(i x)n
n =0
ein Funktionenelement,
P1 (x − a1 ) =
X i n (x − a 1 )n (1 − i a 1 )n+1 n =0
ein anderes Funktionenelement – und beides soll zur selben Funktion gehören, wie W EI ERSTRASS weiter darlegt.q
Die „gleichmäßige“ Konvergenz
Auf den Begriff „gleichmäßige“ Konvergenz war W EIERSTRASS’ Lehrer C HRISTOPH G UDERMANN (1798–1852) aufmerksam geworden,r der diese Begriffsbildung jedoch keinewegs als neu herausstellte. G UDERMANN dürfte sie bei A BEL gesehen haben.293 In seiner letzten Vorlesung zur Funktionenlehre erläutert W EIERSTRASS q
293
Vgl. Weierstraß 1925, S. 4.
r
Gudermann 1838, S. 251 f.
In einer Abhandlung aus dem Jahr 1829 (Abel 1829, S. 244) verwendet A BEL die Formulierung „beständig konvergent“ (toujours convergente), die er in einem Brief an A DRIEN -M ARIE L EGENDRE (1752–1833) wie folgt erläutert: „Ich habe gefunden, dass man diese Funktion in folgender Weise entwickeln kann: λ(x) =
x + A1 x 3 + A2 x 5 + A3 x 7 + . . . , 1 + B2 x 4 + B3 x 6 + B4 x 8 + . . .
wo Zähler und Nenner beständig konvergente Reihen sind, welches auch die Werte der Veränderlichen x und des Betrags c, reell oder imaginär, sein mögen.“ (Abel 1830, S. 76) Wie wir wissen (siehe S. 360) hat S EIDEL diesen Begriff unter anderem Namen ebenfalls erfunden.
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872 die Bedeutung dieses Begriffs – den er dort „gleichförmige“ Konvergenz nennt – nochmals ausführlich:294 „Wüssten wir nur, dass die Reihe absolut konvergent sei, so würde uns dies gestatten, für jeden bestimmten Wert des Arguments mit vorgeschriebener Genauigkeit den zugehörigen Funktionswert zu berechnen; durch die gleichförmige Konvergenz ist aber bedingt, dass – was für die Praxis von großer Bedeutung ist – der Wert des Arguments nicht mit absoluter Genauigkeit gegeben zu sein braucht, sodass man also sagen kann, dass eine solche Reihe die Funktion mit einer beliebigen Annäherung darstellt, wenn der Wert des Arguments mit beliebiger Annäherung angegeben werden kann. Dies ist deshalb für die Anwendungen so wichtig, weil die zu verwendenden Argumente dort entweder das Resultat von mit unvermeidlichen Fehlerquellen behafteten Messungen oder Beobachtungen oder selbst schon das Resultat vorangegangener Rechnungen sind, also nie mit absoluter Genauigkeit angegeben werden können. Verlangt man z. B., dass die Funktion mit einem Fehler berechnet werden solle, der kleiner ist als jede gegebene Größe als eine vorgeschriebene kleine Größe g , so zerlege man g in g 1 +g 2 ; dann kann man n Glieder von der Reihe so absondern, dass uns diese für x = x 0 den Funktionswert mit einem Fehler, der kleiner ist als g 1 , liefert; wählt man dann anstatt x = x 0 einen benachbarten Wert x = x 1 , sodass |G n (x 1 ) −G n (x 0 )| < g 2 , was man stets kann, da G n (x) eine stetige Funktion seines Arguments ist, so ist[295] ¯ ¯ ¯ f (x 0 ) −G n (x 1 )¯ < g . Hieraus erkennen wir, dass wir die Genauigkeit so weit treiben können, wie nur immer verlangt wird, ohne dabei aufhören zu müssen, uns im Gebiete der rationalen Zahlen zu bewegen, indem wir immer zu einem Argument x 0 ein ihm beliebig nahe kommendes rationales Argument x 1 angeben können. Wir sehen zu gleicher Zeit, wie wenig Bedeutung Reihen von nicht gleichförmiger Konvergenz für die Praxis haben, da man nie sicher ist, ein fehlerfreies Argument zu haben.“ (Weierstraß 1988c, S. 36) W EIERSTRASS räumt dem Begriff der „gleichmäßigen“ Konvergenz eine große praktische Bedeutung ein.296 Da er seine Funktionenlehre auf den Begriff der „Po294 295
Zum Begriff „absolut konvergent“ siehe S. 418. nach der Dreiecksungleichung:
296
Es sei daran erinnert, dass R IEMANN dieser Begriff einmal entgangen war: siehe ab S. 376.
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Weierstraß’ Ringen um die Grundbegriffe der Analysis tenzreihe“ begründet, trifft es sich gut, dass eine Potenzreihe im Inneren ihres Konvergenzbereichs stets gleichmäßig konvergiert, dort also die Begriffe „konvergent“ und „gleichmäßig konvergent“ zusammenfallen.
Aus gegebenem Anlass: Exkurs zu David Foster Wallace Dass der gefeierte297 D AVID F OSTER WALLACE (1962–2008) nicht imstande ist, den grundlegenden Begriff „gleichmäßige“ Konvergenz korrekt zu definieren,s ist geeignet, gewichtige Zweifel an seiner mathematischen Kompetenz zu wecken. (Dies gilt, obwohl der amerikanische Autor N EAL S TEPHENSON in seiner – übrigens erhellenden – „Einleitung“ diese Kompetenz in den Himmel hebt.t ) Jedenfalls sind die historiografischen Irrtümer von WALLACE derart zahlreich und grotesk, dass sie im vorliegenden Buch nicht angemerkt wurden. Pars pro toto sei eines angeführt: „Somit konnte B OLZANO seinen Satz wieder nur formulieren und geometrisch demonstrieren, dass er wahr ist – formal beweisen konnte er ihn nicht.“ (Wallace 2007, S. 243, Original: Wallace 2003, S. 189) Wenn man vor F REGE, P EANO, RUSSELL und H ILBERT von „formalen“ Beweisen sprechen darf, dann gewiss bei B OLZANO. Und dass B OLZANO seinen Zwischenwertsatz „geometrisch“ bewiesen habe, kann nur behaupten, wer nie auch nur einen Blick in B OLZANOs S. 295 Text geworfen hat. (Freilich erschien dessen englische Übersetzung erst ein Jahr nach der Publikation von WALLACE’ Werk: Bolzano 2004, S. 250–277.)
Der Vorzug des Weierstraß’schen Funktionsbegriffs
Der Sache nach reaktiviert W EIERSTRASS’ Begriff der „Funktion“ als eine Gesamtheit auseinander ableitbarer „Funktionselemente“ – und also im Wesentlichen: „Potenzreihen“! – den alten E ULER’schen algebraischen Funktionsbegriff „Rechenausdruck“, einschränkend298 ergänzt freilich um den bei E ULER fehlenden Aspekt S. 199 des Definitions- bzw. bei W EIERSTRASS: Konvergenzbereichs. Noch 1884 betont W EIERSTRASS den Vorzug seines Funktionsbegriffs299 vor dem ‚relationalen‘ R IEMANNs: S. 371 „Wenn ich die Gleichheit zweier Ausdrücke beweisen will, suche ich den Beweis möglichst zu gründen auf Umformungen der beiden Ausdrücke, die vermittelst der [arithmetischen] Grundoperationen möglich sind, sodass man, wenn auch die Umformungen nicht vollständig s
Wallace 2007, S. 202 f.; Wallace 2003, S. 156
t
Stephenson 2010, S. XXVI f.
297
Ich danke D ANIEL T YRADELLIS für diesen Hinweis. Da E ULER in der Introductio keinerlei Konvergenzbetrachtungen anstellt, schließt er auch heute als „divergent“ bezeichnete „Rechenausdrücke“ in seinen algebraischen Funktionsbegriff ein. Darauf macht zu Recht Laugwitz 1990, S. 35, Anmerkung 20 aufmerksam. 299 Wir können ihn mit dem philosophischen Terminus ‚substanzial‘ belegen – siehe S. 403, 435. 298
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872 durchgeführt werden können, doch zu der Einsicht gelangt, dass die eine Form durch eine geringere oder größere Anzahl von Transformationen in die andere übergeführt werden könne; was dann einen direkten Beweis gibt. Wenn man aber die Gleichheit dadurch beweist, dass man z. B. beide Ausdrücke in Form von bestimmten Integralen darstellt, so hat man beide Größen in unendlich kleine Elemente aufgelöst, die, in verschiedener Weise angeordnet, die gleiche Summe ergeben. Das ist kein so direkter Beweis, als wenn man den einen Ausdruck wirklich in den andern überführt. [. . . ] Um die Möglichkeit der Fortsetzung zu beweisen, ist R IEMANN gezwungen gewesen, was sich in seinen gesammelten Werken nicht ausgeführt findet,[300] was er aber in seinen Vorlesungen getan hat, zu den Potenzreihen seine Zuflucht zu nehmen. Er musste aus den Differenzialgleichungen denselben Lehrsatz ableiten, der sich auch bei C AUCHY findet, er musste zeigen, dass u + i v = x, ϕ + i ψ = y gesetz[t], y sich als Potenzreihe von x − x 0 darstellen lässt. Vermittelst dieser Potenzreihen wird dann gezeigt, dass die Funktion über dem ursprünglichen Bereich möglicherweise fortgesetzt werden kann und es werden Bedingungen dafür aufgestellt. Um aber jenen Lehrsatz aus den Differenzialgleichungen abzuleiten, muss man eine ganze Reihe von Sätzen aus der Integralrechnung zu Hilfe nehmen, es können also die Elemente der Funktionentheorie nicht an die Theorie der rationalen Funktionen angeschlossen werden.“ (Weierstraß 1925, S. 8, 10) W EIERSTRASS’ Funktionsbegriff 1884 kommt also ohne den Integralbegriff aus und beschränkt sich auf das Rechnen. Freilich benötigt W EIERSTRASS dabei den Begriff „gleichmäßige“ Konvergenz, der sicher keine „elementare“ Konstruktion aus „Grundoperationen“ ist.
Eine letzte Kehre Die Ursache: der Approximationssatz
Im Jahr 1885 publiziert W EIERSTRASS die Abhandlung „Über die analytische Darstellbarkeit sogenannter willkürlicher Funktionen reeller Argumente“. Darin beweist er den folgenden Satz, der bis heute grundlegend ist:
Lehrsatz (Approximationssatz). „Es sei x eine reelle Veränderliche, welche jeden dem Intervall (−∞ · · · + ∞) angehörigen Wert annehmen kann, ferner bedeute f (x) eine reelle und durchweg kontinuierliche Funktion von x, so lässt sich stets auf mannigfaltige Weise eine Reihe von ganzen 300
Hier übersieht W EIERSTRASS den Text Riemann 1953d.
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Weierstraß’ Ringen um die Grundbegriffe der Analysis [d. h. ganz rationalen] Funktionen f 1 (x), f 2 (x), . . . der Art bilden, dass für jeden der betrachteten Werte von x f (x) = f 1 (x) + f 2 (x) + · · · ist. Dabei ist die Reihe f 1 (x) + f 2 (x) + · · · in jedem endlichen Intervalle gleichmäßig konvergent.“ (Weierstraß 1903, S. 1) Das besagt: Jede („stetige“) Funktion lässt sich als unendliche Reihe „rationaler“ Funktionen darstellen – jedenfalls in einem endlichen Definitionsbereich. Die darstellende Reihe ist zwar keine Potenzreihe, aber sie ist immerhin eine Reihe aus „rationalen“ Funktionen – und sie hat ein sehr gutwilliges Konvergenzverhalten. S. 406 Diesen Satz mitsamt Beweis wiederholt W EIERSTRASS auch in den §§ 3 und 4 seiner Vorlesung vom Sommer 1886. Der Beweis dort operiert mit einer Integraldarstellung, und der Integrand enthält das, was wir heute eine „Deltafunkti2
on“ nennen (W EIERSTRASS nennt als Beispiel dafür e betrachten).
− x 2 301 k
,
und es ist k → ∞ zu
Die Wirkung: Akzeptanz des Riemann’schen Funktionsbegriffs!
Ehe W EIERSTRASS in seiner Vorlesung im Sommer 1886 seinen Approximationssatz formuliert und beweist, vollzieht er beim Funktionsbegriff eine vollständige Volte gegenüber seiner früher so leidenschaftlich verteidigten Position: Wir gestatten „der unabhängigen Variablen, alle Werte von −∞ bis +∞ anzunehmen, wodurch der Allgemeinheit kein Abbruch getan wird, indem der allgemeinere Fall, wo die Funktion nur für ein bestimmtes Wertegebiet der unabhängigen Variablen definiert ist, leicht auf diesen zurückgeführt werden kann. Wir setzen ferner voraus, dass die betrachtete Funktion stetig ist. Es wird fernerhin angenommen, dass die Funktion eine sogenannte willkürliche oder gesetzlose sei, ein Name, der nicht gut gewählt ist.“ (Weierstraß 1988c, S. 24) Notieren wir beiläufig: W EIERSTRASS artikuliert hier E ULERs Position aus dessen Introductio, wonach die auf „ein bestimmtes Wertgebiet“ eingeschränkte Veränderliche ein bloßer Sonderfall jener „allgemeinen“ Veränderlichen ist, die „alle Werte von −∞ bis +∞“ annehmen kann. Klar sehen wir W EIERSTRASS’ alte Denk- S. 195 weise: Das Erste ist das „Gesamtgebiet“. Es geht dem Einzelnen (einem „Teilgebiet“) vorher. Wenn zugleich Letzteres als „der allgemeinere Fall“ tituliert wird, ist dies bereits ein kräftiger Hinweis auf eine bevorstehende Umkehrung dieser alten Verhältnisse. 301
In der Werke-Publikation fehlt der Nenner, was der Herausgeber von Weierstraß 1988c, S. 231, Anmerkung 14 erfolglos zu rechtfertigen versucht: Ohne den Parameter k funktioniert der erforderliche Grenzprozess k → ∞ offenbar nicht.
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872
S. 371
S. 408
S. 403 S. 371
Klar ist: Mit „willkürliche oder gesetzlose“ Funktion meint W EIERSTRASS das, was sämtliche Literatur auf D IRICHLET zurückführt, was aber (nach B OLZANO!?) tatsächlich erst R IEMANN in aller Konsequenz formuliert hat: „Funktion“ als bloße ‚Wert-zu-Wert‘-Bestimmung. W EIERSTRASS nimmt also seinen gerade gewonnenen „Approximationssatz“ zum Anlass, seine bisherige ablehnende Haltung gegenüber der „Funktion“ als bloße ‚Wert-zu-Wert‘-Bestimmung aufzugeben und sich dem Mainstream anzuschließen. Denn sein neuer Satz gestattet es nun, auch eine solche „Funktion“, sofern sie nur „stetig“ ist, als „Rechenausdruck“ darzustellen. (Dass er jetzt die zuvor bei R IEMANN aufgespießte Kröte „Nutzung des Integralbegriffs“ selbst schlucken muss, übergeht W EIERSTRASS an dieser Stelle mit Schweigen.) Eine klassische Kapitulation also. W EIERSTRASS gibt seinen ‚substanzialen‘ Funktionsbegriff zugunsten des ‚relationalen‘ R IEMANNs auf.302 Stetigkeit und Nicht-Differenzierbarkeit sind vereinbar: Weierstraß’ kapriziöse Funktion Die Vorgeschichte (1): Riemann
S. 374
Wir erinnern uns: R IEMANN hat im Jahr 1854 eine kapriziöse Funktion definiert, die für eine „dichte“ Menge rationaler Argumente unstetig ist und dennoch – in R IEMANNs Sinne – bestimmt integriert werden kann. Bekanntlich kann man das „unbestimmte“ Integral aus dem Begriff des „bestimmten“ Integrals herleiten, indem man es als „bestimmtes Integral mit veränderlicher oberer Grenze und unbestimmter unterer Grenze“ definiert. Verfährt man auf diese Weise, erhält man mit dem so definierten unbestimmten Integral der R IEMANN-Funktion 5.5 von S. 373 das Beispiel einer stetigen Funktion, die in keinem Intervall differenzierbar ist.303 Da B OLZANOs kapriziöse Funktionen noch nicht publiziert waren, konnte H ENRI L EBESGUE (1875–1941) im Jahr 1904 zutreffend urteilen: „Dies ist das erste bekannte Beispiel einer Funktion, die im Allgemeinen keine Ableitung hat.“u Wohl die allgemeine Meinung im Jahr 1874
L EO KOENIGSBERGER (1837–1921), der über höhere Bereiche der Analysis arbeitete, mag als Zeuge für die Mitte der 1870er Jahre verbreitete allgemeine Meiu 302
Lebesgue 2 1928, S. 65 Dies konkretisiert das Urteil von L ÜTZEN: „In gewissem Sinne kann man W EIERSTRASS’ Arbeiten zu den Grundlagen der Analysis als Suche nach dem sinnvollsten Funktionsbegriff betrachten.“ (Lützen 1999, S. 239) Diese zweimalige Rede vom „Sinn“ ist etwas vage.
303
Lebesgue 2 1928, S. 65 beweist, dass diese Funktion an den Werten
2p+1 2n
nicht differenzierbar ist.
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Weierstraß’ Ringen um die Grundbegriffe der Analysis nung zum Verhältnis der Begriffe „Stetigkeit“ und „Differenzierbarkeit“ dienen. In seinem 1874 publizierten Lehrbuch Vorlesungen über die Theorie der elliptischen Functionen behandelt er R IEMANNs kapriziöse Funktion in einer langen Fußnote (S. 13–16) und schreibt begleitend im Haupttext: „Die Betrachtung der den unendlich kleinen Inkrementen der unabhängigen reellen Variabeln entsprechenden Funktionalveränderungen bildet den Gegenstand der Infinitesimalrechnung, deren Hauptlehren hier als bekannt vorausgesetzt werden, und es mag nur erwähnt werden, dass die Einleitung zur Lehre vom unendlich Kleinen und unendlich Großen der Fundamentalsatz bildet, dass jeder Funktion einer reellen Variabeln auch wirklich ein Differenzialquotient zugehöre, d. h. dass das Verhältnis der Inkremente der Funktion und der Variabeln nur in einzelnen Punkten einer endlichen Strecke unendlich oder Null oder durch endliche Sprünge unstetig sein könne, im Übrigen jedoch einen von dem unendlich kleinen Zuwachs der Variabeln unabhängigen endlichen Wert habe, wenn nicht die Funktion selbst innerhalb jener Strecke beständig unendlich oder konstant ist, oder innerhalb eines endlichen Intervalles unendlich viele Maxima und Minima oder auch endlich auf einer noch so kleinen Strecke jenes Bereiches endliche Stetigkeitssprünge besitzt.“ (Koenigsberger 1874, S. 13) KOENIGSBERGER ist also im Jahre 1874 und nach Kenntnisnahme der R IEMANNschen Funktion überzeugt (und nennt diese Überzeugung sogar einen „Fundamentalsatz“): Generell könne die Ableitung einer Funktion nur an „einzelnen Punkten“ unstetig sein. Dieses „an einzelnen Punkten“ hätte er wohl auf Nachfrage als „an isolierten Punkten“ präzisert (dass solche Ausnahmepunkte auch „Häufungspunkte“ haben könnten, dürfte er 1874 kaum erwartet haben). Freilich sieht er sich genötigt, die Eigenschaften der R IEMANN’schen Funktion als mögliche Ausnahmen von seinem „Fundamentalsatz“ anzuerkennen. Für KOENIGSBERGER stellt sich die Lage 1874 so dar: „In der Theorie der F OURIER’schen Reihen [wird] nachgewiesen, dass jede innerhalb eines bestimmten Intervalles nur in einer endlichen Anzahl von Punkten durch endliche Sprünge unstetige Funktion einer reellen Variabeln, die auch, wenn sie innerhalb des betrachteten Intervalles integrationsfähig ist, in einzelnen Punkten unendlich groß werden darf, sich für jene Strecke durch eine unendliche trigonometrische Reihe bis auf die Unstetigkeitsstellen vollständig darstellen lässt, und dass es somit, wie R IEMANN sich ausdrückt, einerlei ist, ob man die Funktion einer reellen Variabeln als eine willkürlich festgestellte Abhängigkeit zwischen zwei reellen Größen oder als eine durch bestimmte mathematische Größenoperationen bedingte definiert; beide Begriffe sind infolge des oben erwähnten Theorems einander kongruent.“ (Koenigsberger 1874, S. 15 f)
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872 Wie KOENIGSBERGER auf die Publikation der weiteren kapriziösen Funktionen reagiert hat, dürfte interessant sein. Die Vorgeschichte (2): Ein Gerücht über Riemann
In der erst im Jahr 1895 in Band 2 seiner Werke publizierten Abhandlung, deren Text er bereits am 18. Juli 1872 in der Akademie der Wissenschaften vorgetragen hatte, berichtet W EIERSTRASS von einer mündlichen Mitteilung „einiger Zuhörer“ einer R IEMANN’schen Vorlesung, wonach die durch die unendliche Reihe ∞ sin(n 2 x) X n2 n=1
(5.9)
„dargestellte“ Funktion die verbreitete Annahme widerlege, eine „eindeutige und stetige Funktion“ könne „nur an einzelnen Stellen unbestimmt [sein] oder unendlich groß werden“v . Positiv gewendet sagt W EIERSTRASS also, dies werde als ein Beispiel einer stetigen Funktion behauptet, die in keinem Intervall ableitbar sei. Im Jahr 1970 beweist J OSEPH G ERVER :
Lehrsatz 1. Die Ableitung von [5.9] existiert und ist gleich − 12 für jeden Punkt ξπ, für den ξ eine Rationalzahl der Form 2A+1 ist, d. h. eine 2B +1 Rationalzahl mit ungeradem Zähler und Nenner. (Gerver 1970, S. 34, 54)
sowie (ein Ergebnis von G ODEFREY H AROLD H ARDY (1877–1947) aus dem Jahr 1916 verschärfend)
Lehrsatz 2. Die Ableitung der R IEMANN-Funktion [gemeint: 5.9] existiert in keinem Punkt ξπ, für den ξ eine rationale Zahl der Form mit einer natürlichen Zahl N = 1 ist. (Gerver 1970, S. 54)
2A+1 2N
Die R IEMANN zugeschriebene Funktion 5.9 ist also, wie wir heute sagen, an jeweils einer „dichten“ Punktmenge differenzierbar wie nicht differenzierbar. Die damalige Ausdrucksweise für diesen Sachverhalt war: Diese Funktion ist „in keinem Intervall“ differenzierbar wie nicht differenzierbar. G ERVER entgeht (vielleicht aus sprachlichen Gründen?) die wichtige Unterscheidung zwischen „in keinem Intervall“ und „an keinem Wert eines Intervalls“, denn er schreibt R IEMANN jene Behauptung zu, die sein Lehrsatz 1 widerlegt. G ERVERs Resultat passt zu jener Form des Gerüchts über R IEMANN, die PAUL DU B OIS -R EYMOND (1831–89) in einer mit „März 1874“ datierten Abhandlung berichtet: Es „ist seit einigen Jahren wohl hauptsächlich in Deutschlands mathematischen Kreisen von der Möglichkeit von Funktionen ohne Diffev
Weierstraß 1895, S. 71; siehe auch Weierstraß 1988a, S. 220 sowie Weierstraß 1988c, S. 190 f.
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Weierstraß’ Ringen um die Grundbegriffe der Analysis renzialquotienten die Rede, besonders seitdem R IEMANN’sche Schüsin p 2 x
ler verkündeten, ihr Lehrer habe von der Reihe mit dem Gliede p 2 die Nichtdifferenzierbarkeit behauptet. Diese Reihe solle für gewisse, in jedem noch so kleinen Intervalle unbegrenzt oft wiederkehrende Werte von x keinen endlichen bestimmten Differenzialquotienten zulassen. Einen Beweis hierfür hat unseres Wissens keiner der R IEMANNschen Schüler zu Papiere gebracht, [. . . ]“ (du Bois-Reymond 1875, S. 28) In R IEMANNs Papieren hat sich zu der Funktion 5.9 nichts gefunden. Angesichts des Resultats von G ERVER könnte man das von W EIERSTRASS und DU B OIS -R EY MOND mitgeteilte Gerücht über R IEMANN für zutreffend halten – freilich nicht in der Form, die ihm W EIERSTRASS dann zu geben versuchte: „[. . . ] ich glaube daher, dass R IEMANN nur solche Funktionen im Auge gehabt hat, die für keinen Wert ihres Arguments einen bestimmten Differenzialquotienten besitzen. Der Beweis dafür, dass die angegebene trigonometrische Reihe eine Funktion dieser Art darstelle, scheint mir indessen eingermaßen schwierig zu sein; [. . . ]“ (Weierstraß 1895, S. 72) W EIERSTRASS hat demnach eine Funktion im Auge, die zwar stetig, aber dennoch für keinen Wert differenzierbar ist. Weierstraß’ kapriziöse Funktion
Ein solches Beispiel gibt W EIERSTRASS im mündlichen Vortrag im Jahr 1872, auch in seiner Vorlesung vom Sommer 1878w , publiziert es aber erst 1895:
Lehrsatz. „Es sei x eine reelle Veränderliche, a eine
UNGRADE GANZE
Zahl, b eine POSITIVE Konstante, KLEINER als 1, und f (x) =
∞ X
b n cos(a n xπ) ;
n=0
so ist f (x) eine stetige Funktion, von der sich zeigen lässt, dass sie, sobald der Wert des Produkts ab [304] eine gewisse Grenze übersteigt, AN KEINER S TELLE EINEN BESTIMMTEN D IFFERENZIALQUOTIENTEN BE SITZT .“ (Weierstraß 1895, S. 72) Der Beweis wird dann unter der Annahme ab > 1 + 23 π beendet. (Wir bemerken in Klammern: Diese „Funktion“ ist nicht durch eine „Potenzreihe“ dargestellt, wie es W EIERSTRASS doch in seinen Universitätsjahren – vor 1886 – verlangte!) Im Jahr 1916 beweist H ARDY: w 304
Weierstraß 1988b, S. 79–81 Die Rede ist hier vom „Produkt“ a · b!
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872
Lehrsatz. Keine der Funktionen C (x) =
X
a n cos b n πx ,
S(x) =
X
a n sin b n πx ,
mit 0 < a < 1, b > 1 besitzt an irgendeinem Punkt einen endlichen Differenzialkoeffizienten, wenn nur ab = 1 ist. (Hardy 1916, S. 303) Dieser schöne Satz passt gut zu W EIERSTRASS’ Formulierung. Sein Beweis ist jedoch durchaus vertrackter als W EIERSTRASS’ Rechnungen. Eine Nachgeschichte
Natürlich verbreitete sich die Kunde von W EIERSTRASS’ kapriziöser Funktion nach dessen mündlichem Vortrag, auch wenn der schriftliche Text nicht vorlag. Vielleicht deshalb publizierte der W EIERSTRASS-Schüler H ERMAN A MANDUS S CHWARZ (1842–1921) erstmals im Jahr 1873 seine eigene kapriziöse Funktion: „Wenn mit x eine veränderliche Größe, welche nur positive Werte annehmen soll, und mit E (x) jedesmal die größte in x enthaltene ganze Zahl bezeichnet wird, so stellt der Ausdruck p ϕ(x) = E (x) + x − E (x) , vorausgesetzt, dass der Quadratwurzel stets ihr positiver Wert beigelegt wird, eine für alle Werte der Variablen x eindeutig erklärte und kontinuierliche Funktion derselben dar, welche die Eigenschaft hat, dass zu größeren Werten des Argumentes stets größere Werte der Funktion gehören. Die Kurve,[305] welche in Bezug auf ein rechtwinkliges Koordinatensystem die Gleichung y = ϕ(x) hat, besteht aus unendlich vielen kongruenten Parabelstücken und besitzt in jedem Punkte, in welchem zwei dieser Parabelstücke zusammentreffen, also für alle ganzzahligen Werte von x und y, eine Ecke. [. . . ] Setzt man nun f (x) =
X ϕ(2n · x) n
2n · 2n
,
(n = 0, 1, 2, . . . ∞) ,
so wird behauptet: a. Die Funktion f (x) ist eine für alle Werte des Argumentes x eindeutig erklärte stetige Funktion dieser Variablen, welche die Eigenschaft hat, dass zu größeren Werten des Argumentes stets größere Werte der Funktion gehören. 305
Das Bild zeigt die S CHWARZ’sche Funktion ϕ(x): Schwarz 1873, S. 271.
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Weierstraß’ Ringen um die Grundbegriffe der Analysis b. Ein wie kleines Intervall x 0 . . . X man aber auch abgrenzen möge, stets lassen sich unendlich viele, diesem Intervalle angehörende Werte f (x 0 +h)− f (x 0 )
x 0 angeben, für welche der Quotient jede vorgeschriebeh ne, beliebig groß angenommene Zahl g überschreitet, wenn die Größe h von der positiven Seite her abnehmend dem Werte 0 sich nähert.“(Schwarz 1890, S. 270–272; vgl. auch Schwarz 1873, S. 34–35) Damit war erstmals explizit 306 eine Funktion mit einem Beweis dafür publiziert, dass diese stetige Funktion „in keinem Intervall“ (modern gesprochen: auf einer „dichten“ Menge nicht) differenzierbar ist. W EIERSTRASS’ Kapriziöse radikalisierte die Lage, indem sie zeigte, dass „Stetigkeit“ für keinen einzigen Funktionswert „Differenzierbarkeit“ garantiert. Wir halten zweierlei fest: (1) Mit R IEMANNs wie mit S CHWARZ’ kapriziösen Funktionen ist jene Begriffswelt gesprengt, welche eine „Funktion“ als eine „Größe“ fasst. Diese Kapriziösen sind als ‚Wert-zu-Wert‘-Bestimmungen konstituiert. (2) Es ist – jedenfalls im Druck – kein lauter Aufschrei zu vernehmen, derartige „Funktionen“ seien unzulässig. (Auszunehmen davon ist die Fundamentalopposition von L EOPOLD K RONECKER (1823–91). Sie blieb jedoch theoretisch, denn Analysis war nicht sein Arbeitsgebiet.307 ) WEIERSTRASS’ HARTNÄCKIGE ARBEIT AM ZAHLBEGRIFF Bis in seine letzte Vorlesung im Sommer 1886 hat W EIERSTRASS sich mit dem Zahlbegriff abgemüht, ohne aber ein gänzlich befriedigendes Resultat zu erlangen. Ohne auf alle Einzelheiten einzugehen308 seien hier die wichtigsten Grundzüge dargestellt. 306
Implizit war bereits das Integral der R IEMANN-Funktion ein Beispiel für eine solche Funktion – siehe S. 410 bei Anmerkung 303. 307 K RONECKERs Position kann als Vorahnung der späteren intuitionistischen Position gedeutet werden. Kennzeichnend ist seine Formulierung: „Ich glaube auch, dass es dereinst gelingen wird, den gesamten Inhalt aller dieser mathematischen Disziplinen zu »arithmetisieren«, d. h. einzig und allein auf den im engsten Sinne genommenen Zahlbegriff zu gründen, also die Modifikationen und Erweiterungen dieses Begriffs [Anmerkung: Ich meine hier namentlich die Hinzunahme der irrationalen sowie der kontinuierlichen Größen.] wieder abzustreifen, welche zumeist durch die Anwendung auf die Geometrie und Mechanik veranlasst worden sind. Der prinzipielle Unterschied zwischen der Geometrie und Mechanik einerseits und zwischen den übrigen hier unter der Bezeichnung »Arithmetik« zusammengefassten mathematischen Disziplinen andererseits besteht nach G AUSS darin, dass der Gegenstand der Letzteren, die Zahl, bloß unseres Geistes Produkt ist, während der Raum ebenso wie die Zeit auch außer unserem Geiste eine Realität hat, der wir a priori ihre Gesetze nicht vollständig vorschreiben können.“ (Kronecker 1887, S. 338 f.) 308 Dies ist in Spalt 1991b angestrebt. (Der letzte Absatz auf S. 319 dort ist mit Ausnahme der beiden letzten Sätze zu streichen.)
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872
ab S. 391
Zunächst sei an die grundlegende Begriffsbestimmung der ‚beliebigen‘ Zahlgröße erinnert, wie sie oben wiedergegeben ist. Die folgenden Betrachtungen knüpfen daran an.
Wert und Gleichheit S. 390
Der „Wert“ einer bestimmten beliebigen Zahlgröße ist ihre Bedeutung. „So hat z. B.
1 1 1 + +...+ n +... 2 4 2 einen vollständig bestimmten Wert. Die ganze Schwierigkeit besteht nur darin zu definieren, was man unter der Gleichheit zweier aus unendlich vielen Elementen gebildete[n] Zahlgrößen zu verstehen hat.“ (Weierstraß 1988c, S. 42) 1+
Hier beginnt die mathematische Arbeit. W EIERSTRASS definiert dazu die Begriffe „Bestandteil“ einer „Zahlgröße“, die „Äquivalenz“ für ‚beliebige‘ Zahlgrößen sowie die „Transformation“ von „Zahlgrößen“. Dabei tun sich gewisse Schwierigkeiten auf, beispielsweise die, ob „unendlich viele“ „Transformationen“ zulässig sein sollen. Darauf ist hier nicht einzugehen. Interessant ist folgende
Definition (endlicher Wert). „Von einer Zahlgröße a wollen wir sagen, sie habe einen endlichen Wert, wenn es [Zahl-]Größen c gibt, die, aus einer endlichen Anzahl von Elementen [bzw. Gliedern] bestehend, größer sind als a.“ (Weierstraß 1988b, S. 9)
S. 389, Formel 5.7
Das klingt zunächst paradox: Wird hier „endlich“ durch „endlich“ erklärt? – Keineswegs, sondern „endlicher Wert“ (einer Zahlgröße) durch „endliche Anzahl“, also durch den Begriff der „(endlichen) natürlichen (Ordinal-)Zahl“. Dabei wird der Begriff der „endlichen natürlichen Zahl“ vorausgesetzt: Die „Elemente“ einer Zahlgröße bilden definitionsgemäß eine Reihe, sind also angeordnet, zählbar. Somit liegt hier kein definitorischer Zirkel vor. Ein Beispiel für eine Zahlgröße mit einem „unendlich großen“ „Wert“ ist: 1·1,
1 1· , 2
1 1· , 3
1 1· , 4
...
„Wenn im Gegenteil jede [unbenannte] Zahl c, die aus einer endlichen [An-]Zahl von Elementen [Gliedern] zusammengesetzt ist, Bestandteil ˜ der [unbenannten] Zahl a ist, so wollen wir a unendlich groß nennen.“ (Weierstraß 1988b, S. 10; vgl. auch Weierstraß 1988c, S. 44)
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Weierstraß’ Ringen um die Grundbegriffe der Analysis W EIERSTRASS ist der Auffassung: „Zwischen zwei solchen unendlich großen [Zahl-]Größen ist nun weiter keine Vergleichung möglich.“ (Weierstraß 1988c, S. 44; vgl. auch Weierstraß 1988b, S. 10) Aber dies ist in seiner Theoriebildung keineswegs zwingend. Sein Begriff „Bestandteil“ (einer ‚beliebigen‘ Zahlgröße) lässt sich so abwandeln, dass nicht alle „unendlich großen“ Zahlgrößen gleich groß sind.309 Rechengesetze, Anordnung
Geht man von der „Grundreihe“ 5.8 aus, ist die Addition (endlich vieler!) ‚belie- S. 391 biger‘ Zahlgrößen unproblematisch, selbst wenn die Summanden unendlich viele „Glieder“ haben.
Definition. „Um eine Zahl[größe] a mit einer andern b zu multiplizieren, muss man jedes Element [Glied!] von a mit jedem Elemente [Glied!] von b multiplizieren und die Summe dieser einzelnen Produkte bilden.“ (Weierstraß 1988b, S. 10) Eindeutige Bestimmtheit, Endlichkeit des Wertes sowie Kommutativität, Assoziativität und die Distributivität mit der Addition können gezeigt werden. W EIERSTRASS’ Beweis für „Wenn b 0 > b ist, so ist auch ab 0 > ab.“x kommentiert der Mitschreibende H URWITZ als „nicht streng“y . Unendliche Summen ‚beliebiger‘ Zahlgrößen
Wieder legen wir die Standard-„Grundreihe“ 5.8 zugrunde. Sollen unendlich vie- S. 391 le je endliche „Zahlgrößen“ a 1 , a 2 , a 3 , . . . addiert werden, ist die Problemstellung klar: Von jedem „Element“ 1, 21 , 13 , 41 , . . . muss festgestellt werden, in welcher Anzahl es in den zu addierenden „Zahlgrößen“ a i enthalten ist. Da die a i als endlich und bestimmt vorausgesetzt werden, ist jede solche Anzahlbestimmung möglich. Wann ist a 1 + a 2 + a 3 + . . . ad inf. ein endlicher Wert? Natürlich nicht immer, etwa nicht im Falle 1 + 1 + 1 + . . . (Jede 1 ist also zu lesen als: 1 · 1 + 0 · 12 + 0 · 13 + . . .) Diese Frage beantwortet der
Lehrsatz (Summationskriterium). „Soll a1 +a2 +a3 +. . . einen endlichen Wert haben, so muss es auch Größen geben, die [. . . ] größer [sind] als jede beliebige aus einer endlichen [An-]Zahl von Summanden gebildete Summe.“ (Weierstraß 1988c, S. 45) Dies ist ein beweisbarer Satz.310 x 309 310
Weierstraß 1988b, S. 10
y
H URWITZ in: Weierstraß 1988b, S. 11, Fußnote
Vgl. Spalt 1991b, S. 327. Der Herausgeber D UGAC hat das nicht verstanden, als er schrieb:
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872 Aus dem Summationskriterium folgt leicht der Konvergenzsatz. Im Folgenden bezeichne s n die Summe a 1 + a 2 + a 3 + . . . + a n .
Lehrsatz (Konvergenzsatz). „Soll a1 + a2 + a3 + . . . einen endlichen Wert haben, [. . . ] so muss die [Vorstellung 311 ] der [Zahl-]Größen s 1 , s 2 , s 3 , . . . [. . . ] einen endlichen Wert haben, [. . . ] das heißt, nimmt man n hinlänglich groß, so muss s n+r − s n = a n+1 + a n+2 + . . . + a n+r für jedes r beliebig klein gemacht werden können.“ (Weierstraß 1988c, S. 45) Misslicherweise ist die Subtraktion von W EIERSTRASS bislang nicht erklärt! Einen Beweis dieses Satzes gibt van Dantscher 1908, S. 19 f. Unendliche Summen aus ‚beliebigen‘ Zahlgrößen sind assoziativ und kommutativ. Der Beweis folgt direkt aus der Definition der Addition ‚beliebiger‘ Zahlgrößen, beruht also letztlich darauf, dass stets die Grundreihe 5.8 von S. 391 vorausgesetzt ist, auf die sowohl die einzelnen Zahlgrößen als auch ihre Summe bezogen sind:
Lehrsatz. „Zerlegt man eine unendliche Reihe [d. h. Summe] von [beliebigen] Zahl[größ]en in Gruppen, vereinigt die Zahl[größ]en jeder Gruppe durch Summierung, und addiert dann alle Gruppen zueinander, so ist die Endsumme der Summe der unendlichen Reihe der Zahl[größ]en gleich.“ (Weierstraß 1988b, S. 13) Das bedeutet: Unendliche Reihen dürfen beliebig umgeordnet werden. In seiner Habilitationsschrift von 1854, publiziert 1867, hatte R IEMANN demgegenüber für nicht „absolut konvergente“ Reihen bewiesen:
Lehrsatz. Wenn eine konvergente Reihe nicht mehr konvergent bleibt, wenn man ihre sämtlichen Glieder positiv macht, kann die Reihe durch geeignete Anordnung der Glieder einen beliebig gegebenen Wert C erhalten. Beweis. „In der Tat, bezeichnet man in einer Reihe [dieser Art] die positiven Glieder der Reihe nach durch a 1 , a 2 , a 3 , . . . , die Negativen durch −b 1 , −b 2 , P P −b 3 , . . . , so ist klar, dass sowohl a, als b unendlich sein müssen; denn wären beide endlich, so würde die Reihe auch nach Gleichmachung der Zeichen konvergieren; wäre aber eine unendlich, so würde die Reihe divergieren.
Das Summationskriterium, wie es hier gegeben ist, ist nicht anderes als eine Neuformulierung des Endlichkeitskriteriums. (Dugac 1973, S. 81) Dem ist nicht so. Das „Endlichkeitskriterium“ bezieht sich auf eine einzelne „Zahlgröße“, das „Summationskriterium“ betrachtet (unendlich viele) verschiedene „Zahlgrößen“. 311 In der Nachschrift heißt es hier „Reihe“. Das ist nicht falsch, denn eine „Reihe von Vorstellungen“ ist nichts anderes als eine „zusammengesetzte Vorstellung“ – siehe Weierstraß 1988c, 37 f.
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Offenbar kann nun die Reihe durch geeigente Anordnung der Glieder einen beliebig gegebenen Wert C erhalten. Denn nimmt man abwechselnd so lange positive Glieder der Reihe, bis ihr Wert größer als C wird, und so lange negative, bis ihr Wert kleiner als C wird, so wird die Abweichung von C nie mehr betragen, als der Wert des dem letzten Zeichenwechsel voraufgehenden Gliedes. Da nun sowohl die Größen a, als die Größen b mit wachsendem Index zuletzt unendlich klein werden, so werden auch die Abweichungen von C , wenn man in der Reihe nur hinreichend weit fortgeht, beliebig klein werden, d. h. die Reihe wird gegen C konvergieren.“ (Riemann 1867, S. 235) Zu diesem R IEMANN’schen Satz setzte sich W EIERSTRASS also in ausdrücklichen Gegensatz. Er wollte wohl an dem, was wir die „Kommutativität“ der Addition nennen, auch für unendliche „Summen“ festhalten: Gehört diese Eigenschaft denn nicht zum Wesen der Addition?
Das Produkt zweier unendlicher ‚beliebiger‘ Zahlgrößen wird in nahe liegender Weise definiert: „Das Produkt (a 1 + a 2 + . . . ad inf.) · (b 1 + b 2 + . . . ad inf.) erhalte ich nach der Definition des Multiplizierens [sic], wenn ich jedes Element [d. h. Glied], welches in der einen Summe vorkommt, mit jedem Elemente [d. h. Glied] der andern Summe multipliziere.“ (Weierstraß 1988b, S. 13) W EIERSTRASS’ Formulierung von „der“ Definition der Multiplikation ist wiederum Ausdruck seines ‚substanzialen‘ Denkens: Wie die „Addition“ ist ihm die „Multiplikation“ nicht irgendeine nach Gutdünken festzusetzende Rechenoperation, sondern hat ihre Bedeutung a priori. Das angeführte Produkt ist beweisbar gleichz ∞ ∞ X X λ=1 µ=1
a λ b µ = (a 1 b 1 + a 1 b 2 + a 1 b 3 + . . .) + (a 2 b 1 + a 2 b 2 + a 2 b 3 + . . .)
Bis jetzt hat W EIERSTRASS keine „negativen“ Zahlgrößen erklärt. Dabei kann es natürlich nicht bleiben. Zwischenbilanz
Die „Zahl“ entsteht durchs Zählen. Sie ist also „Anzahl“. Ein geordnetes Aggregat von „Zahlen“ ist eine „Größe“ oder, wenn die „Anzahlen“ ihrer „Elemente“ wesentlich sind, „Zahlgröße“. Die wahre Natur der „Größe“ ist Veränderlichkeit, d. h. S. 392 bei das Absehen von den „Anzahlen“ der „Elemente“ (Bestandteile) der „Zahlgröße“. Anm. f Wenn eine Zahlgröße gebildet wird aus einer einzigen (dann so genannten) z
Vgl. Weierstraß 1988b, S. 13
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872
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„Haupteinheit“ mitsamt ihren Bestandteilen („genaue Teile“), haben wir eine „Grundreihe“, einen Sonderfall einer „unbenannten“ Zahl. „Unbenannte“ Zahlen lassen sich „addieren“ und „multiplizieren“ sowie (in begrenztem Umfang!) „teilen“; eine „Grundreihe“ gibt die Möglichkeiten der Teilbarkeit der aus ihr abgeleiteten Zahlgrößen vor. Eine ‚beliebige‘ Zahlgröße ist aus einer besonderen „Grundreihe“ gebildet, durch die „Elemente“: 1 1 1 1 , , , , ... (5.8) 1, 2 3 4 5 Jedes ihrer „Glieder“ (wie auch die „Elemente“) hat eine bestimmte „Stelle“ (eine Ordnungszahl). Eine ‚beliebige‘ Zahlgröße hat einen „Wert“: ihre Bedeutung; zwei können „äquivalent“ sein: wenn man die eine in die andere „transformieren“ kann. Wir sehen: Die ‚beliebige‘ Zahlgröße ist W EIERSTRASS’ mathematischer Begriff für beliebig genaue Messbarkeit. Will man mit „Zahlgrößen“ mehr als messen, nämlich mit ihnen rechnen, gelangt man zu einem ganz neuen Begriff: dem der „entgegengesetzten“ Zahlgröße. Rechnen wir also mit W EIERSTRASS! „Entgegengesetzte“ Zahlgrößen
W EIERSTRASS lehnt es ausdrücklich ab, „das Zeichen a − c in der rein formalen Bedeutung a − c + c = a [zu] verwenden.“a Das hat seinen Grund. Die „rein formale Bedeutung“ eines „Zeichens“ hilft W EI ERSTRASS nicht, denn seine „Zahlgrößen“ sind Begriffe, nicht Zeichen. Das Ziel steht klar vor Augen: „Aus dem Begriff der Summe ergibt sich zunächst jener der Differenz dadurch, dass man verlangt, zu einer gegebenen Zahl[größe] eine andere derart hinzuzufügen, dass die Summe einen vorgeschriebenen Wert hat.“ (Weierstraß 1988c, S. 46) Da nur „Zahlgrößen“ addiert werden können, kann das Problem durch die Konstruktion neuer „Zahlgrößen“ gelöst werden. Klar „liegt der Gedanke nahe, neue Einheiten einzuführen. Nun sieht man sofort, dass, wenn die Operation des Subtrahierens immer möglich sein soll, so muss man zu jeder Größe a noch eine andere a 0 einführen, sodass a + a 0 = 0 ist. Die Null selbst hat auch eine reale Bedeutung, da sie die Abwesenheit irgendeiner Einheit ausdrückt. Man müsste daher streng genommen das, was wir eben mit 0 bezeichneten, mit 0 0 0 . . . bezeichnen, in˜ des tut man es der Einfachheit halber nicht.“ (Weierstraß 1988c, S. 46) a
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Weierstraß’ Ringen um die Grundbegriffe der Analysis „Die 0 ist nicht Nichts, sondern ein Aggregat von Größen, in welchem zu jeder Größe auch die Entgegengesetzte enthalten ist.“ (Weierstraß 1988a, S. 42) Genau genommen ist die 0 die Zahlgröße 0·1,
1 0· , 2
1 0· , 3
1 0· , 4
1 0· , 5
...
Die Elemente einer ‚beliebigen‘ Zahlgröße wurden zu der „Grundreihe“ 5.8 gebildet. Sie bestehen also aus der „Einheit“ und deren „genauen Teilen“. Daher lässt sich die „Einheit“ auch als die „Haupteinheit“ bezeichnen. Dazu wird jetzt eine zweite „Haupteinheit“ eingeführt: „Wir wollen jedoch jetzt solche komplexe[n] Einheiten in den Zahlen einführen, dass das gleichzeitige Vorkommen beider Einheiten denselben Effekt hat, wie wenn keine der beiden Einheiten vorhanden wäre.“ (Weierstraß 1988a, S. 10) Dies lenkt „zur Betrachtung der aus mehr als einer Haupteinheit zusammengesetzten Zahlgrößen.“b
Definition (entgegengesetzte Zahlgrößen). „Zwei solche Zahl[größ]en a und a 0 sollen nun einander entgegengesetzt heißen. Insofern, als die Veränderung, die durch das Hinzufügen von a eintritt, durch das Hinzufügen von a 0 wieder aufgehoben wird, könnte man sie auch als sich aufhebende [Zahl-]Größen bezeichnen. (Weierstraß 1988c, S. 46 f.) H URWITZ notiert, dass ein Element sein Entgegengesetztes „zerstört, aufhebt, vernichtet.“c Halten wir fest: (1) Die „natürlichen“ Zahlen entstehen durch die Tätigkeit des Zählens. Zählen ist ein schaffendes Tun: Vorstellungen werden gebildet und reproduziert. Beim Zählen gibt es nur Aufbau, Konstruktion. (2) Die „entgegengesetzten“ Zahlgrößen entstehen durch die Tätigkeit des Rechnens. Rechnen aber ist ein schaffendes UND zerstörendes Tun: zerstörend dann, wenn das Rechnen zu einem vorgegebenen Resultat führen muss. Beim Rechnen wird aufgebaut und vernichtet, hinzugefügt und weggenommen. Rechnen verlangt auch Zerstörung. (3) Die „entgegengesetzten“ Zahlgrößen werden den ‚beliebigen‘ Zahlgrößen zum Zwecke des Rechnens beiseite gestellt, und zwar in der Weise, dass sie diese aufheben. (4) In der Konsequenz wird die Abwesenheit jeglicher Einheit nicht mehr allein durch die Null (genauer: durch 0 0 0 . . . ad inf.) gedacht, sondern in unendlich b c
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872 vielfältiger Weise durch a + a 0 . Dies gilt nicht nur für die Null, sondern für jede Zahlgröße: b = b + a + a 0 . (5) Die Denkmöglichkeiten einer Situation werden durch die Einführung der Vorstellung der „entgegengesetzten“ Zahlgrößen unendlich vervielfacht. Der Gewinn ist schrankenloses Rechnen-Können im Sinne von: von-jeder-Zahlgrößeausgehend-durch-Hinzufügen-jeden-Wert-erreichen-Können. Die ‚Rechengrößen‘ konstituieren eine neue, sehr viel reichhaltigere Denkwelt als die ‚Zähl-‘ und ‚Messgrößen‘. (6) W EIERSTRASS arbeitet das sehr klar heraus. Jedoch reflektiert er diesen ontologischen Aspekt nicht: Er nennt keine Existenzkriterien seiner jetzt konstruierten ‚Rechengrößen‘. Zwar lehnt er es ausdrücklich ab, hier das Attribut „formal“ zu verwenden, doch begründet er diesen Schritt nicht und bietet auch keine Alternative an. (7) Der Sache nach erzeugt W EIERSTRASS hier eine neuartige Denkwelt, die gut „formal“ heißen könnte: denn die Vorstellung der „entgegengesetzten“ Zahlgröße ermöglicht es beispielsweise, ein „Vermehren“ als ein „Vermindern“ zu denken: eine offensichtliche Kapriole des Denkens. W EIERSTRASS betrachtet es gelassener: „Es ist nun von Interesse zu sehen, dass sich in der Wirklichkeit Beziehungen finden, die genau den Charakter in sich tragen, den wir eben an entgegengesetzten [Zahl-]Größen kennengelernt haben.“ (Weierstraß 1988c, S. 47) Zu verweisen ist auf das Addieren „gerichteter Strecken“ sowie auf „das Verhältnis von Einnahme und Ausgabe“d . „So erkennt man sofort, dass den entgegengesetzten [Zahl-]Größen eine reale Existenz zukommt.“e Ist das wahr? Existiert die „entgegengesetzte“ Zahlgröße wirklich? Doch offenbar nicht: (i) Die Ausgabe des Einen ist die Einnahme des Anderen – es ist dasselbe, nur unter zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet. (ii) Die gerichtete Strecke ist eine, in der man unter den beiden Randpunkten eine Rangordnung statuiert: Start und Ziel. Aber es gibt keine Strecke, bei der sich die eine der beiden möglichen Rangordnungen von der ihr Entgegengesetzten auszeichnet. Akzeptieren wir diesen Standpunkt – der demjenigen von W EIERSTRASS widerspricht –, so sind wir der sicher nicht reizvollen Diskussion enthoben, ob durch die Addition je zweier „entgegengesetzter“ Zahlgrößen (gerichtete Strecken; Einnahme und Ausgabe; . . . ) stets dasselbe „reale Nichts“ entsteht oder vielleicht verschiedene (und in welchem Verhältnis diese zueinander stehen). ‚Beliebig zusammengesetzte‘ Zahlgrößen
W EIERSTRASS muss seine Begriffswelt erneut erweitern: Den ‚beliebigen‘ Zahlgrößen (die nur eine einzige „Haupteinheit“ haben) werden nun jene neuen Objekte beigesellt, die neben dieser ersten eine zweite, der ersten „entgegensetzte“ d e
Weierstraß 1988c, S. 47 Weierstraß 1988c, S. 47
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Weierstraß’ Ringen um die Grundbegriffe der Analysis „Haupteinheit“ haben. So entsteht eine neue Größenart. Ich nenne sie ‚beliebig zusammengesetzte‘ Zahlgrößen:
Definition (beliebig zusammengesetzte Zahlgrößen). Nimmt man eine beliebige Zahlgröße und zu deren Haupteinheit (= 1) und genauen Teilen, ihren Elementen ( 21 , 13 , 14 , . . .), die entgegengesetzte Einheit (= 0
0
0
10 ) und deren genauen Teile (= 12 , 13 , 14 , . . .), so kann man daraus eine beliebig zusammengesetzte Zahlgröße bilden. Die eine Haupteinheit heißt positiv, die Entgegengesetzte negativ. (Vgl. Weierstraß 1988c, S. 47) Damit beginnen die Möglichkeiten der arithmetischen Zahlkonstruktion – und auch deren Probleme.
Gleichheit der ‚beliebig zusammengesetzten‘ Zahlgrößen
Wann sind zwei ‚beliebig zusammengesetzte‘ Zahlgrößen einander gleich?
Definition (Gleichheit beliebig zusammengesetzter Zahlgrößen). Seien h, k zwei ‚beliebig zusammengesetzte‘ Zahlgrößen und a, c sowie b 0 , d 0 je die Aggregate ihrer „positiven“ und „negativen“ „Glieder“: h = a + b0 , Soll h = k, also
k = c + d0 .
a + b0 = c + d 0
sein, „und sollen die früheren Gesetze gültig bleiben“, so ist a + b0 + b = c + d 0 + b 0
also
(5.10)
0
a +b +b +d = c +d +b +d
(5.11)
a +d = c +b.
(5.12)
(Vgl. Weierstraß 1988c, S. 48) Diese Gleichheit ‚beliebiger‘ Zahlgrößen definiert nun die Gleichheit der ‚beliebig zusammengesetzten‘ Zahlgrößen: h =k. Nachzutragen ist: (1) Unausgesprochen vorausgesetzt ist dabei notwendigerweise die Endlichkeit der Aggregate a, b, c, d .
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872
S. 416
(2) Die bisherigen „Transformationen“312 – die den „Wert“ (die „Bedeutung“) einer „Zahlgröße“ ungeändert lassen – lassen sich, wie eben bei der Definition der Gleichheit in den Gleichungen 5.10 bis 5.12 durchgeführt, erweitern: „1) Zwei entgegengesetzte Elemente [Glieder!] können einfach fortgelassen werden. 2) Man kann zu einer Zahl[größe] ein beliebiges Element [Glied] zusetzen, muss aber gleichzeitig das entgegengesetzte Element [Glied] hinzufügen.“ (Weierstraß 1988b, S. 17) „Absoluter Betrag“
Definition (absoluter Betrag). Den „absoluten Betrag“ erhält man, indem man die „negativen“ Glieder als „positive“ nimmtf – genauer: wenn man die „positive“ wie die „negative“ „Einheit“ in der gleichen Weise als eine (neue) unbenannte „Einheit“ setzt. (Vgl. Weierstraß 1988c, S. 49.) Der „Wert“ (die „Bedeutung“) ist wieder ein Gemeinsames der einander gleichen ‚beliebig zusammengesetzten‘ Zahlgrößen – ohne dass dies noch ausdrücklich niedergeschrieben wird. Übrigens zeigt auch die Bestimmung des „absoluten Betrags“, dass „entgegengesetzten“ Zahlgrößen keine je eigene Realität zukommt – denn sonst könnte man nicht die eine als die andere nehmen: Welchen Sinn hätte es, z. B. „Weiber“ als „Männer“ zu nehmen? Summe und Differenz ‚beliebig zusammengesetzter‘ Zahlgrößen
Das Folgende ist nahe liegend.
Definition (Summe). Die Summe zweier ‚beliebig zusammengesetzter‘ Zahlgrößen erhält man durch Zusammenzählen ihrer jeweiligen Elementanzahlen. (Vgl. Weierstraß 1988b, S. 17) Dies gilt selbstverständlich auch im Falle einer Summe von unendlich vielen solchen Zahlgrößen.g Das Entgegengesetzte zu b bezeichnet man auch durch −b (statt durch b 0 ). (Vgl. Weierstraß 1988b, S. 17) Dann ist a − b = c gleichwertig mit a = b + c, und „alle Sätze der Addition lassen sich auf die Subtraktion übertragen.“h f g 312
Vgl. Weierstraß 1988b, S. 17. Vgl. Weierstraß 1988b, S. 18.
h
Weierstraß 1988b, S. 17
Deren Bestimmung blieb hier offen. Näheres in Spalt 1991b, S. 324–326.
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Weierstraß’ Ringen um die Grundbegriffe der Analysis Sind a, b positive ‚beliebig zusammengesetzte‘ Zahlgrößen aus unendlich vielen Elementen und a < b, so muss die Existenz der Differenz a − b begründet werden, denn in diesem Fall „können wir die Differenz nicht direkt bilden.“i Der beigegebene Existenzbeweis wird von H URWITZ zu Recht als „falsch“j bezeichnet. Wir können heute sagen: W EIERSTRASS fehlen die Mittel für einen sol- S. 422, chen Beweis. Punkt 6 Die von uns heute „Assoziativität“ genannte Eigenschaft der Addition ‚beliebig zusammengesetzter‘ Zahlgrößen ist leicht zu sehen.k Rationale und Irrationale – Existenzbeweis für Irrationale
In der Vorlesung 1886 liefert W EIERSTRASS nun einen Existenzbeweis für irrationale Zahlen nach. Doch zunächst müssen die Begriffe bestimmt werden. (Statt „Reihe“ können wir im Folgenden „Summe“ lesen, ein inzwischen bestimmter Begriff. Ebenso können wir jetzt unter „Zahl“ beliebige Summen von ‚beliebig zusammengesetzten‘ Zahlgrößen verstehen.) ˜ sind solche, Definition (rationale, irrationale Zahlen). „Rationalzahlen
die aus einer endlichen Reihe von [beliebig zusammengesetzten] Zahl˜ [größ]en bestehen. Irrational soll jede Zahl heißen, die nicht rational ist. (Weierstraß 1988a, S. 36; ähnlich Weierstraß 1988c, S. 58) Klar ist: „Daraus folgt, dass wir [die rationalen Zahlen] darstellen können als ein Vielfaches eines positiven oder negativen Teiles der Haupteinheit.“ (Weierstraß 1988c, S. 58) Natürlich denkt W EIERSTRASS hier nur an endliche Vielfache. – W EIERSTRASS definiert also die „Irrationalen“ nicht als „Grenze“ der „Rationalen“! Dabei steht ihm das Problem der Existenz mathematischer Gegenstände (oder Begriffe) ganz klar vor Augen: „Wie wird aber der Unterschied zwischen rationalen und irrationalen ˜ [Zahl-]Größen rein arithmetisch zu definieren sein? Wenn wir von der Existenz rationaler Zahlgrößen ausgehen, so hat es keinen Sinn, die irrationalen als Grenzen derselben zu definieren, weil wir zunächst gar nicht wissen können, ob es außer den rationalen noch andere Zahlgrößen gebe. Nur wenn man es mit extensiven Größen zu tun hat, kann man von ˜ der Grenze einer Strecke sprechen, nicht aber, wenn man sich auf den arithmetischen Standpunkt stellt.“ (Weierstraß 1988c, S. 58)
ab S. 393
i
Weierstraß 1988b, S. 15 nach Dugac 1973, S. 109; der Hrsg. U LLRICH schweigt dazu: Weierstraß 1988b, S. 16. k Vgl. Weierstraß 1988b, S. 18, Zeilen 112–21. j
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872 Statt „extensive“ Größen sagen wir heute auch „empirische“ Größen. Zu beweisen ist also der
Lehrsatz. Es gibt nicht rationale Zahlgrößen.313 Beweis. „Betrachten wir z. B. die Zahl e, die zusammengesetzt ist aus 1 den Elementen 1, 12 , 61 , . . . n! , . . . , so ist dies eine wohldefinierte Reihe, die eine ganz bestimmte Zahlgröße definiert; gleichwohl läßt sich zeigen, dass es keine rationale Zahlgröße gibt, die ihr nach den aufgestellten Definitionen gleich ist; daraus geht hervor, dass das Größengebiet mit den rationalen Zahlen nicht erschöpft ist.“ (Weierstraß 1988c, S. 58) Denn multiplizieren wir die Gleichung
e = 1+
1 1 + +... 1·2 1·2·3
mit λ!, so erhalten wir 1·2·3···λ·e = 1·2·3···λ+2·3···λ+...+1+
1 1 + +... . λ + 1 (λ + 1)(λ + 2)
„Von diesem Reste [rechts: nach „+1“ ] kann gezeigt werden, dass er kleiner als 1 ist. Denn er ist kleiner als 1 1 1 1 + 2 + 3 + 4 +··· = 1. 2 2 2 2 Bezeichnen wir daher die jedenfalls endliche [Zahl-]Größe auf der rechten Seite 1·2·3···λ+2·3···λ+...+1 mit G, so wird 1·2·3···λ·e = G +δ,
δ < 1.
[. . . ] Wäre nun e rational und hätte es den Nenner m, so würde me eine ganze Zahl sein, und wenn wir noch auf beiden Seiten mit 1 · 2 · 3 · · · (m − 1) multiplizieren, so würde sich ergeben 1 · 2 · 3 · · · me = k 0 , wo k 0 eine ganze Zahl ist. Nun ist oben gezeigt, dass auf der rechten Seite zu einer ganzen Zahl immer noch δ < 1 hinzukommt, also kann e nicht rational sein, es muss demnach irrational sein.“ (Weierstraß 313
Die Originalformulierung ist: „Aber die Zahlgrößen, wie wir sie im Vorstehenden definiert haben, umfassen zwar die rationalen Zahlen sämtlich, enthalten aber auch noch andere.“ (Weierstraß 1988c, S. 58)
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Weierstraß’ Ringen um die Grundbegriffe der Analysis 1988a, S. 36 f., Bezeichnungen angepasst: Dort wird zeitweise eine etwas allgemeinere Fassung behandelt.) (Dieser Irrationalitätsbeweis für e wird auf F OURIER zurückgeführt.314 ) Damit hat W EIERSTRASS bewiesen: Sein Begriff ‚beliebig zusammengesetzte‘ Zahlgröße – ja, sogar schon sein Begriff ‚beliebige‘ Zahlgröße! – ist so weit gefasst, dass er neben den Rationalzahlen auch Irrationalzahlen umfasst. (Das ist natürlich in der Unendlichkeit der gewählten „Grundreihe“ 5.8, begründet.) In W EIER - S. 391 STRASS ’ Formulierung: „Das Gebiet der aus einer Haupteinheit und deren Teilen gebildeten Zahlgrößen umfasst also sowohl die rationalen als auch die irrationalen Zahlgrößen.“ (Weierstraß 1988c, S. 58)
Weierstraß’ Reflexionen über den Namen „reelle“ Zahl
Für uns heute ist der Name „reelle“ Zahl ein mathematischer Fachbegriff, bei dessen Gebrauch wir wohl kaum die Bedeutung „wirklich“ assoziieren. (Ebensowenig bedenken wir beim Namen „komplexe“ Zahl die Bedeutung des Wortes „komplex“ als „zusammengefasst“.315 ) Das war selbst im mittleren 19. Jahrhundert noch ganz anders. Aus diesem Grund ist im Vorstehenden in Texten früherer Zeiten das Fremdwort „réelle“ in der Regel als „wirklich“ übertragen, das Fremdwort „imaginaire“ als „eingebildet“. W EIERSTRASS reflektiert den Gebrauch des Wortes „reell“ beim Zahlbegriff: „Es ist sehr unbequem für die mathematische Sprache, dass wir keinen allgemeinen Ausdruck haben für das, was früher mit reell bezeichnet wurde. Denn der Gegensatz zwischen Reellem und Imaginärem ist nun geschwunden. Als derselbe beseitigt wurde, hätten neue Benennungen eingeführt werden müssen. G AUSS hatte empfohlen, die positiven Zahlen »direkte«, die negativen »inverse« und die komplexen »laterale« Zahlen zu nennen. Was uns jedoch fehlt, ist ein Ausdruck für die positiven und die negativen Zahlen [einschließlich der Null] zusammen. Wir könnten sie »lineare Größen« nennen, doch ist dieser Ausdruck nicht allgemein angenommen. Um kurz zu sein, bedienen wir uns daher noch immer des Ausdrucks »reelle und imaginäre« Zahlen. Doch ist es jetzt ein rein technischer 314
So de Stainville 1815, S. 341 unter Berufung auf eine Mitteilung seines häufiger genannten Gewährsmannes P OINSOT. – Warum der W EIERSTRASS-Herausgeber S IEGMUND -S CHULTZE sich an dieser Stelle darüber wundert, „dass W. im Folgenden das »schwere Geschütz« des Transzendenzbeweises (1873) von e durch C HARLES H ERMITE (1822–1901) auffährt“ (Weierstraß 1988c, Anmerkung 65 auf S. 238), ist unverständlich. Vielleicht ist es dem Sachverhalt geschuldet, dass eine andere – aus der vorliegenden abgeleitete – Handschrift dieser Vorlesung „H ERMITE namentlich an dieser Stelle erwähnt.“ (a. a. O.) 315 Siehe jedoch Anmerkung 279 auf S. 389.
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872 Ausdruck, die Wörter selbst haben keinen wirklichen Sinn mehr. Jede [Zahl-]Größe, die aus der Haupteinheit, ihren Teilen und den entgegengesetzten[Zahl-]Größen gebildet ist, nennen wir reell. Imaginär soll eine [Zahl-]Größe heißen, bei welcher die zweite Koordinate nicht gleich Null ist. Komplexe Größen sollen die beiden vorhergehenden Arten in sich begreifen, es kann bei ihnen die zweite Koordinate auch Null sein. Eine Größe, bei welcher die erste Koordinate Null ist, heißt rein imaginär.“ (Weierstraß 1988a, S. 116 f.) W EIERSTRASS sieht die Notwendigkeit, einem geschichtlichen Begriffswandel durch Umbenennung Rechnung zu tragen; und er registriert bedauernd, dass die mathematische Konvention dieser Notwendigkeit nicht Folge leistet. Ihm war (1874) natürlich nicht bewusst, dass er kraft seiner künftig erworbenen Autorität wohl die Möglichkeit gehabt hätte, in diesem konkreten Fall diese mathematische Konvention zu durchbrechen. „Endlichkeit“ und unendliche Summen ‚beliebig zusammengesetzter‘ Zahlgrößen – Weierstraß’ Dilemma bis mindestens 1878
S. 424
Die „Endlichkeit“ einer ‚bliebig zusammengesetzten Zahlgröße‘ setzt W EIERSTRASS mit Rückgriff auf deren „absoluten Betrag“ wie folgt fest: „Die Endlichkeit einer [‚beliebig zusammengesetzten‘ ] Zahlgröße ist nun definiert durch die Endlichkeit ihres absoluten Betrages.“ (Weierstraß 1988c, S. 49) W EIERSTRASS spricht im Falle der „Endlichkeit“ einer solchen Zahlgröße auch von deren „endlichem“ Wert. Diese Festsetzung klingt zwar nahe liegend, ist aber angesichts des W EIERSTRASSschen Begriffs „absoluter Betrag“ zu eng! Betrachten wir das (zu W EIERSTRASS’ Zeiten natürlich längst traditionelle) Objekt h
S. 391
=
1,
1 − , 2
1 , 3
1 − , 4
1 , 5
1 − , 6
...
ad inf.
(5.13)
h ist in der W EIERSTRASS’schen Begriffswelt eine ‚beliebig zusammengesetzte‘ Zahlgröße: Sie besteht aus (i) der Standard-„Grundreihe“ 5.8 mit den „Elementen“ n1 und den „Anzahlen“ α = 1, β = 0, γ = 1, δ = 0, . . . sowie (ii) der „entgegengesetzten“ Standard-„Grundreihe“ mit den „Elementen“ − n1 und den „Anzahlen“ α0 = 0, β0 = 1, γ0 = 0, δ0 = 1, . . . Nach W EIERSTRASS’ eben wiedergebener Definition ist h jedoch nicht „endlich“, da ihr „absoluter Betrag“ nach der auf S. 424 wiedergegebenen Definition die Summe der beiden eben beschriebenen Teile (i) und (ii) von h ist; und diese sind jeder nicht endlich, deren Summe also erst recht nicht. Klar ist natürlich:
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Weierstraß’ Ringen um die Grundbegriffe der Analysis „Sind die Aggregate der positiven und der negativen Glieder für sich genommen endlich, so hat jedenfalls die [beliebig zusammengesetzte] Zahlgröße einen endlichen Wert.“ (Weierstraß 1988c, S. 48) Als höchst problematisch aber erweist sich W EIERSTRASS’ Untersuchung der hinreichenden Bedingung, „unter welcher die Summe von unendlich vielen beliebig [zusammengesetzt]en Zahlgrößen einen endlichen Wert hat.“l Es geht also um die Beantwortung der Frage, wann eine Summe von unendlich vielen ‚beliebig zusammengesetzten‘ Zahlgrößen a1 ,
a2 ,
a3 ,
a4 ,
...
(5.14)
„endlich“ ist. Die Mitschriften von W EIERSTRASS’ Ausführungen in seinen Vorlesungen dazu sind nach meiner Lektüre in ihren wesentlichen Teilen konfus. Einfach ist nur: „Die Summe aus diesen [Zahl-]Größen ist endlich, wenn die in [der Reihe] vorkommenden positiven Elemente [richtiger: „Glieder“] für sich und die vorkommenden negativen Elemente [dito] für sich eine endliche Summe geben.“ (Weierstraß 1988b, S. 18) Was aber, wenn dies nicht der Fall ist? (Auch die ‚beliebig zusammengesetzte‘ Zahlgröße 5.13 lässt sich als ein solche Reihe 5.14 deuten!) W EIERSTRASS’ Zusammenfassung seiner Betrachtungen lautet: „Damit die Summe aus unendlich vielen [‚beliebig zusammengesetzten‘ ] Zahlgrößen endlich sei, ist notwendig und hinreichend, dass es eine endliche angebbare [Zahl-]Größe g gibt, welche größer ist als die aus beliebig vielen der [‚beliebig zusammengesetzten‘] Zahlgrößen gebildeten Summe, die Zahlgrößen ihrem absoluten Betrage nach genommen.“ (Weierstraß 1988b, S. 19) Darauf folgt in der Mitschrift der Satz: „Ist nämlich a 1 + a 2 + a 3 + . . . die unendliche Summe [‚beliebig zusammengesetzter‘ Zahlgrößen], und A i der absolute Betrag von a i , so muss die Summe der absoluten Beträge von beliebig vielen der positiven Glieder der Zahlenreihe a 1 , a 2 , a 3 , . . . wie die von beliebig vielen der negativen Glieder kleiner sein als eine angebbare endliche [Zahl-] Größe.“ (Weierstraß 1988b, S. 19) Ich sehe hier bei W EIERSTRASS keine andere Idee als die von ihm zuvor klar geforderte getrennte Betrachtung der „positiven“ und der „negativen“ „Glieder“ sämtlicher in Rede stehender ‚beliebig zusammengesetzter‘ Zahlgrößen. Das passt auch zu W EIERSTRASS’ Bemerkung von 1886, die im ersten Langzitat des folgenden Ab S. 431 schnitts wiedergegeben ist. l
Weierstraß 1988b, S. 18
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872 Auch dem Verfasser dieser Vorlesungsmitschrift, H URWITZ, kommen hier Skrupel, denn er fügt nun in Klammern eine längere Bemerkung ein: „Gewöhnlich definiert man die Summe einer Reihe a 1 +a 2 +a 3 +. . . folgendermaßen: Man soll zu a 1 das folgende Glied a 2 addieren, zu dieser Summe s 2 die Zahl a 3 , zu der resultierenden Zahl s 3 die Zahl a 4 und so fort. Nähert sich nun s n mit wachsendem n einer bestimmten Grenze a, so nennt man die letztere die Summe der Reihe. a heißt also dann die Summe der Reihe, wenn a − s n > δ nur für eine endliche Anzahl von n’s ist, wo δ eine beliebig klein angenommene Größe ist. Dies stimmt nicht mit unserer Definition überein. Das Wesentliche der Addition ist nämlich die Unabhängigkeit des Resultates von der Anordnung der Glieder. Diese Unabhängigkeit ist bei unseren als summierbar bezeichneten Summen bewahrt, nicht aber bei allen den Reihen, für welche s n sich einer Grenze nähert mit wachsendem n. Z. B., 1, − 21 , + 13 , − 41 , + 51 , . . . ist eine Reihe von Elementen, welche nach unserer [also: der der Vorlesung – D. D. Sp.] Definition nicht summierbar ist, da die negativen Elemente für sich genommen eine unendlich große Summe ergeben, ebenso die positiven Elemente. [. . . ]“ (H URWITZ in Weierstraß 1988b, S. 19)
S. 425 S. 428
Warum W EIERSTRASS diesen „gewöhnlichen“ Weg316 nicht beschreiten kann, wissen wir: Wie H URWITZ richtig angegeben hat, setzt dieser Weg die „Existenz“ der „bestimmten Grenze a“ voraus – die aber will W EIERSTRASS zuvor bewiesen sehen. W EIERSTRASS hat 1878 folgendes Problem: Welche „Zahlgröße“ soll der „Wert“ der Reihe h in 5.13 sein? Leider gibt es keine formalen „Transformationsregeln“, um h in die Zahlgröße 0·1,
6·
1 , 10
9·
1 , 102
3·
1 , 103
1·
1 , 104
4·
1 , 105
7·
1 , 106
1·
1 , . . . ad inf. 107
umzuformen, denn in der Gleichung 1−
1 1 1 + − + − . . . = ln 2 2 3 4
steckt theoretisches Wissen, wie in allen Reihensummationen. Dieses Wissen aber ist sicher nicht durch allgemeine „Transformationsregeln“, wie sie W EIERSTRASS gibt, ersetzbar. Denn dies hieße: Es gibt einen (formal definierten) Algorithmus, der jede Reihe aus Rationalzahlen in eine ausgezeichnete Reihe transformiert, sagen wir: sie in ihre ‚Normalform‘ transformiert. Dieser wunderbare Algorithmus enthöbe uns ein für allemal des immer wieder leidigen Problems, wie denn der Begriff der „reellen“ Zahl zu bilden sei, da er 316
Wie ihn C AUCHY vorgegeben hat – siehe S. 321.
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Weierstraß’ Ringen um die Grundbegriffe der Analysis
eindeutig (und automatisch!) jede konvergente Reihe aus Rationalzahlen in ihren (auch: nicht rationalen) „Grenzwert“, eben ihre ‚Normalform‘ transformierte.
Wie schon zuvor bei der „Subtraktion“ zweier ‚beliebig zusammengesetzter‘ Zahlgrößen entsteht das Problem, eine Lösung wirklich – konstruktiv – anzugeben. Allgemein ist dieses Problem nicht (konstruktiv) zu lösen. So ist es nicht verwunderlich, wenn W EIERSTRASS im Jahr 1878 hier eine Lücke in seinem Zahlaufbau lässt. Sie besteht – um es zu wiederholen – darin, dass das Objekt 1− 21 + 31 − 14 +− . . . in keiner Weise als „konvergente“ Reihe in seiner Analysis Platz hat. Ein dramatischer Befund! Das aufgezeigte Problem besteht natürlich trotz der gleich wiederzugebenden Beobachtung 5.15, die nur in diesem speziellen Falle hilft. Wir übergehen W EIERSTRASS’ Definition der Multiplikation und der Division ‚beliebig zusammengesetzter‘ Zahlgrößen. Die Lösung des Divisionsproblems ist nicht trivial, gelingt W EIERSTRASS jedoch. Wichtiger ist der neue Konstruktionsansatz, den W EIERSTRASS in seiner letzten Vorlesung im Sommer 1886 vorlegt. Weierstraß’ Ausweg aus dem Dilemma der Zeit bis mindestens 1878
Erneut betont W EIERSTRASS im Sommer 1886 seine arithmetische Anschauung, wonach der „Grenzwert“ einer „konvergenten“ Reihe nicht einfach postuliert werden darf, sondern „arithmetisch definiert werden muss“m . Und er stellt – endlich einmal! – den wunden Punkt seiner bisherigen Konstruktion des Zahlbegriffs klar heraus: „Wenn nämlich die positiven und die negativen Glieder für sich betrachtet nicht bereits etwas Endliches oder Bestimmtes darstellen, so kann man sich auch keine Vorstellung davon machen, wie die Reihe – in der Gestalt wenigstens, wie sie vorliegt –, etwas Bestimmtes vorstellen könne.“ (Weierstraß 1988c, S. 55) Denn nicht in jedem Fall wird sich eine solche bestimmte „Vorstellung“ so leicht herstellen lassen wie in dem Fall (man fasse die Glieder paarweise zusammen) 1−
1 1 1 1 1 1 1 1 + − + − +... = + + +... 2 3 4 5 6 1·2 3·4 5·6
(5.15)
Im Sommer 1886 präsentiert W EIERSTRASS einen neuen Begriff „Zahlgröße“. Er gibt ihm wiederum keinen Namen. Daher soll dieser Begriff hier ‚allgemeine‘ Zahlgröße heißen. Dreh- und Angelpunkt der neuen Begriffsbildung – wir bleiben bei der W EIER STRASS ’schen Form der Darstellung – ist jetzt die Bedingung: Es gilt: m
lim |a n+1 + a n+2 + · · · + a n+r | = 0 für jedes r > 0 .
n=∞
(5.16)
Weierstraß 1988c, S. 54
Weierstraß
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872
S. 321
Spätestens seit dem Abschnitt ab S. 383, vor allem seit S. 385, wissen wir um die (aus ‚epsilontischer‘ Sicht) Unzulänglichkeit dieser Formulierung; aber wir sind uns sicher, dass diese Formulierung damals von W EIERSTRASS korrekt gedacht wurde. Das in diesem Sinne korrekt verstandene 5.16 könnte die ‚allgemeine Konvergenzbedingung‘ heißen. Es ist die ‚KonvergenzBz ‘ .
Definition (allgemeine Zahlgröße). „Wir wollen nun den Begriff der Zahlgröße dadurch erweitern, dass wir jede Reihe, welche die eben auseinandergesetzte Eigenschaft [5.16] hat, unter ihn einordnen, wobei die Reihenfolge der Elemente, durch die die betreffende Zahlgröße definiert ist, wesentlich ist.“ (Weierstraß 1988c, S. 55)
ab S. 458 S. 416
Erste Beobachtungen: (1) Dieser neue Begriff ist einerseits feiner als der alte, denn er trifft manche Unterscheidung, die der alte nicht trifft. (2) Andrerseits schließt er die nicht konvergenten Reihen gänzlich aus. (3) Mit seinem neuen Ansatz behandelt W EIERSTRASS eine „unendliche Summe“ ‚beliebig zusammengesetzter‘ Zahlgrößen in derselben Weise wie eine einzige ‚beliebig zusammengesetzte‘ Zahlgröße: Die „Anordnung“ der Summanden in der Summe wird nun genau so wesentlich wie die Reihenfolge der „Glieder“ in der Zahlgröße. (4) Anders als zuvor verlangt W EIERSTRASS jetzt die „Konvergenz“ der betrachteten (‚allgemeinen‘) Zahlgröße. Damit schließt er sich – endlich – der Vorstellung an, die C ANTOR und H EINE bereits 14 Jahre zuvor propagiert haben. Wir erinnern uns: Für ‚beliebige zusammengesetzte‘ Zahlgrößen war die paarweise „Gleichheit“ definiert. Deren Gemeinsames war der „Wert“ (ihre „Bedeutung“). Für die ‚allgemeine‘ Zahlgröße wird der „Wert“ jetzt als eine ausgezeichnete Zahlgröße eingeführt, siehe sogleich. Erst jetzt, erst in seiner neuen Konstruktion, wird „Wert“ bei W EIERSTRASS zu einem analytischen Begriff:
Definitionen (Standardgrundreihe, Wert). Es wird ein für allemal eine „Grundreihe“ g festgelegt, die aus unendlich vielen positiven „Elementen“ g = g 1 + g 2 + g 3 + . . . ad inf. besteht und einen endlichen (Grenz-)„Wert“ hat (d. h. der Konvergenzbedingung 5.16 genügt). Relativ zu dieser festen Grundreihe g wird nun der „Wert“ der ‚allgeP meinen‘ Zahlgröße a i definiert, a i beliebige positive oder negative „Glieder“ in bestimmter Reihenfolge. (Vgl. Weierstraß 1988c, S. 55 f.) Dabei bleiben die Glieder a i das, was sie bisher waren: „Anzahlen“ von (genauen Teilen) der „Haupteinheit“, zusammen mit diesem „Element“ (also der Haupteinheit oder ihrem genauen Teil). Wie der „Wert“ festzustellen ist, versteht sich von selbst. Das wird beim folgenden Beweis ausgeführt werden. Anders als bisher verlangt W EIERSTRASS jetzt also die „Konvergenz“ der „Grundreihe“. Damit wird – anders als zuvor – eine scharfe Unterscheidung zwischen
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Weierstraß
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Weierstraß’ Ringen um die Grundbegriffe der Analysis den (zugelassenen) „endlichen“ und den (jetzt ausgeschlossenen) „unendlichen“ Zahlgrößen getroffen. Ab sofort sind „unendliche“ Zahlgrößen gar nicht mehr zugelassen. Dies ist der Inhalt des folgenden Lehrsatzes:
Lehrsatz (‚Bestimmtheitssatz‘). Jede ‚allgemeine‘ Zahlgröße hat einen eindeutig bestimmten (endlichen) „Wert“.
Beweis. Die Konvergenzbedingung ist nach Voraussetzung erfüllt, d. h. zu jedem δ > 0 gibt es n 1 mit |a n+1 + a n+2 + . . . + a n+r | < δ
(*)
für jedes n > n 1 und jedes r . Nun wählt man als δ schrittweise die g i : (i) Sei zuerst δ = g 1 . Dann gibt es n 1 , ab dem (*) für jedes n > n 1 und jedes r erfüllt ist. Setze b1 = a 1 + a 2 + . . . + a n1 . (ii) Sei dann δ = g 2 und entsprechend b 2 = a n1 +1 + a n1 +2 + . . . + a n2 . Es ist |b 2 | < g 1 , da b 2 ein a n+1 + a n+2 +. . .+ a n+r ist. Usw. – Dies ergibt eine „Transformation“ X X a i 7−→ b i (Z) P P mit |b i +1 | < g i . Folglich ist |b i | endlich, also auch b i . Die „Transformation“ (Z) ist eindeutig. Denn ist auch X X a i 7−→ c i mit |c i +1 | < g i , so ist X
bi −
X
ci =
m X 1
bi + Rm −
µn X
¶ ci + Rn
1
≤ |a p+1 + a p+2 + . . . + a p+r | + R m − R n , und alle drei Summanden können beliebig klein gemacht werden, der P P erste wegen (∗ ), die beiden anderen, weil b i , c i endlich sind. (Vgl. Weierstraß 1988c, S. 55–57)
Bilanz im Jahr 1886
Welche Veränderungen ergeben sich aus W EIERSTRASS’ neuer Definition des Zahlbegriffs 1886 gegenüber der früheren?
Weierstraß
433
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872
S. 418 S. 391, 420
(1) Vor 1886 war W EIERSTRASS’ Zahlwelt bequem zu handhaben: Reihen durften beliebig umgeordnet werden. Allerdings war diese Zahlwelt für die Zwecke der Analysis nur eingeschränkt tauglich: einige – seit B OLZANO bzw. C AUCHY als „konvergent“ angesehene – Reihen hatten keinen „Wert“. (2) Ab 1886 war W EIERSTRASS’ Zahlwelt ärmer, aber zugleich feiner geworden: Nun hatten sämtliche im Sinne B OLZANOs bzw. C AUCHYs „konvergente“ Reihen einen wohlbestimmten endlichen „Wert“, und nur sie. (3) Allerdings waren die Zahlgrößen jetzt unbequemer zu handhaben: Die Reihen dürfen nicht mehr ohne Weiteres umgeordnet werden, ohne ihren Wert zu verändern. (Dass es so sein müsse, hatte R IEMANN bereits 32 Jahre zuvor vertreten.) (4) Anfangs war die typische Grundreihe 5.8: G
=
1,
1 , 2
1 , 3
1 , 4
. . . ad inf.
und also eine „divergente“ Reihe! Jetzt ist die typische Grundreihe g
=
g1 ,
g2 ,
g3 ,
g4 ,
. . . ad inf.
mit endlichem (Grenz-)„Wert“, also eine unwesentliche Verallgemeinerung der Dezimalreihe. Anders als G ist g eine „konvergente“ Reihe, eine endliche Messlatte. Der „Wert“ z. B. der Zahlgröße 1,
1 − , 2
1 + , 3
1 − , 4
. . . ad inf.
ist, bezogen auf G und ihre „Entgegengesetzte“, sie selbst, bezogen auf g der „Wert“ ln 2; im ersten Fall ist die Frage der Endlichkeit gesondert zu betrachten. Eine abschließende Beurteilung
Ist jetzt also alles gut? Hat W EIERSTRASS letztlich sein Ziel erreicht und eine korrekte Bestimmung des Begriffs „reelle“ Zahl in einer schlüssigen Begriffswelt erreicht? Ich meine nicht. Mir scheint die Bestimmtheit des neuen Begriffs „Wert“ nicht gesichert zu sein.
S. 392, 431
Was ist jetzt (ab 1886) der „Wert“ einer „Zahlgröße“, begrifflich? Wir erinnern uns: Noch im Jahr 1886 verlangt W EIERSTRASS von einer (‚allgemeinen‘) Zahlgröße ihre „Bestimmtheit“. Andererseits aber definiert W EIERSTRASS jetzt ein Verfahren, um jeder „Zahlgröße“ a einen „Wert“ Wg (a) bezüglich einer (jetzt als „konvergent“ vorausgesetzten) „Grundreihe“ g zuzuordnen. Das aber heißt: Wg (a) ist keine „bestimmte“ Zahlgröße, sondern allenfalls eine „bestimmbare“. Denn für eine „bestimmte“ Zahlgröße ist es erforderlich, jedes ihrer „Glieder“ genau zu kennen. Bei unendlich vielen Gliedern kann das nur heißen: ihr „Bildungsgesetz“ haben.
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Weierstraß’ Ringen um die Grundbegriffe der Analysis
Aber ein „Bildungsgesetz“ für a kann nicht stets eines für Wg (a) liefern. Wg be- S. 392 stimmt keine „Zahlgröße“, sondern „transformiert“ eine „Zahlgröße“ a in ein Etwas Wg (a) – das jedoch nur formal, nicht aber an sich eine „Zahlgröße“ im Sinne von W EIERSTRASS ist. Ein „Bildungsgesetz“ bestimmt einen (gedanklichen) „Gegenstand“. Wg bestimmt einen „Prozess“, der einen solchen „Gegenstand“ „transformiert“. Doch die Bestimmung des Ergebnisses dieser „Transformation“ ist ungewiss: Es ist keinesfalls so, dass dieses Transformationsergebnis sicher einem „Bildungsgesetz“ genügt. Damit jedoch fällt der Gegenstand Wg (a) (oder: das Ergebnis des Transformationsprozesses Wg ) aus dem Horizont der W EIERSTRASSschen Begriffswelt; denn dieser Gegenstand ist in der Regel nicht mehr eine durch ein „Bildungsgesetz“ bestimmte (‚allgemeine‘) Zahlgröße. Aber nur solche „bestimmten“ Objekte waren für W EIERSTRASS vorstellbar! Wenn W EIERSTRASS aber „bestimmt“ und „beliebig genau bestimmbar“ identifiziert – wie in seiner Konstruktion des Sommers 1886 geschehen –, bleibt er auf dem Präzisionsstand, den bereits B OLZANO 1817 erreicht hatte. S. 296 Somit überschreitet W EIERSTRASS 1886 seine statuierten Grundlagen: den Begriff der „völlig bestimmten“ Zahlgröße. In dem Bestreben, seinen Zahlbegriff für die traditionellen Zwecke der Analysis tauglich zu machen, ersetzt er die Betrachtung von „Gegenständen“ durch die eines „Prozesses“ mit ungewissem Resultat. Philosophisch gesprochen haben wir hier den Übergang vom ‚substanzialen‘ zum ‚relationalen‘ Denken. Denn die Transformation Wg ist eine „Relation“: eine Zuordnung einer „Reihe“ zu einer „Zahl“. Weierstraß’ einheitlicher Blick auf „Funktion“ und „Zahl(größe)“
Sowohl „Funktion“ als auch „Zahlgröße“ sind für W EIERSTRASS ‚substanziale‘ – und damit: gehaltvolle – Begriffe. Beide sind also zusammengesetzte Begriffe. Ihre Bestandteile nennt W EIERSTRASS jeweils „Elemente“. Diese „Elemente“ sind jedoch keineswegs einfache Entitäten (wie später bei C ANTOR und, ihm folgend, S. 404, 416 heutzutage in der Mengensprache), sondern sie sind ihrerseits aus weiteren mathematischen Begriffen zusammengesetzt. Dennoch ist eine gewisse Gleichartigkeit (Analogie) zwischen beiden Begriffsbildungen zu erkennen. Das hat auch H IL BERT bemerkt: „Die Potenzreihe ist sonach das Fundament seiner Theorie der analytischen Funktionen; die Potenzreihe gilt ihm begrifflich als das Analogon zu der Irrationalzahl, die er als eine unendliche Summe von rationalen Zahlen definiert, und sie erscheint ihm auch formal als die naturgemäßeste Grundlage für seine Theorie, indem er erkennt, dass das Rechnen mit Potenzreihen nach den gewöhnlichen Grundgesetzen der Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division erfolgt.“ (Hilbert 1965, Bd. 3, S. 332) Den Inhalt von H ILBERTs Analyse halte ich für zutreffend: die erkennbare Analogie zwischen W EIERSTRASS’ Funktions- und Zahlbegriff. (Für einen ‚relationalen‘
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872 Denker wie H ILBERT317 – oder: uns heute – mag das frappierend sein, für einen ‚substanzialen‘ Denker, wie es W EIERSTRASS ist, ist eine solche Ähnlichkeit wohl weniger überraschend als einfach der Ausdruck eines Denkstils.318 ) Nachdem wir oben W EIERSTRASS’ Begriffsbildungen so genau analysiert haben, sollten wir jetzt jedoch anmerken: H ILBERTs Wiedergabe von W EIERSTRASS’ Begriffen ist nicht sehr genau: (i) Statt nur von „Potenzreihen“ müsste H ILBERT (zweimal) von „Potenzreihen mit einem Konvergenzbereich“ sprechen.319 (ii) Die ‚beliebig zusammengesetzte‘ Zahlgröße W EIERSTRASS’ ist gerade keine S. 389 nach „Summe“, sondern eben eine „Zusammensetzung“. (Die „Summe“ als arithmetiAnm. 277 sche Operation wird dann definiert, indem festgesetzt wird, wie aus zwei solcherart S. 389, 417 „zusammengesetzten“ Zahlgrößen eine neue gebildet wird.) (iii) Die Bestandteile der „Zahlgröße“ sind „Glieder“ – und keinesfalls „rationale Zahlen“!320 Nachtrag: Wo bleibt der Zwischenwertsatz bei Weierstraß?
S. 428
S. 293
Es ist klar: Vor der 1886 eingeführten Neuerung war W EIERSTRASS’ Zahlwelt nicht „vollständig“, d. h. sie garantierte nicht für jede „konvergente“ Reihe die Existenz eines „Grenzwerts“ (es sei wieder auf das Beispiel 5.13 verwiesen). Das aber bedeutet: W EIERSTRASS war es nicht möglich, in seiner Begriffswelt vor 1886 die Gültigkeit des Zwischenwertsatzes zu beweisen (und ebensowenig etwa den „Schrankensatz“: dass eine stetige Funktion auf einem abgeschlossenen Intervall ihre Extremwerte annimmt)! Dessen ist sich W EIERSTRASS offenbar bewusst. Denn selbstverständlich ist ihm der Zwischenwertsatz samt Beweis bekannt. Dennoch führt er diesen Satz in seinen Universitätsvorlesungen, soweit ich sehe, nur ausnahmsweise an. Der Zwischenwertsatz in der Gewerbeschule 1861
In seiner Vorlesung im Jahr 1861 in der Gewerbeschule präsentiert W EIERSTRASS den Zwischenwertsatz wie folgt: ˜ Lehrsatz (Zwischenwertsatz). „Wenn eine kontinuierliche Funktion von
x für einen bestimmten Wert x 1 des Argumentes einen bestimmten Wert der Funktion y 1 und für einen andern bestimmten Wert x 2 einen be317
Das wird noch gezeigt werden: Siehe ab S. 578. Diesen schönen Begriff verdanken wir Fleck 1980. 319 Das weiß H ILBERT auch, wie es seinem darauf folgenden Satz zu entnehmen ist, der auf S. 404 wiedergegeben wurde. 320 Siehe Formelzeile 5.7 auf S. 389. Wie grundlegend dieses H ILBERT’sche Missverständnis ist, wird ab S. 454 dargelegt werden. 318
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Weierstraß’ Ringen um die Grundbegriffe der Analysis stimmten Wert der Funktion y 2 hat und ist y 3 ein beliebiger Wert zwischen y 1 und y 2 , so muss zwischen x 1 und x 2 wenigstens ein solcher Wert x 3 liegen, für welchen die Funktion [den Wert] y 3 annimmt. Zum Beweise dienen folgende Hilfssätze.
[Hilfssatz und Definition (Nachbarschaft).] Ist y = f (x) eine kontinuierliche Funktion von x und y 0 = f (x 0 ) nicht Null, so werden die Werte ˜ f (x) der Funktion, für alle Werte von x, welche in der Nachbarschaft von x 0 liegen, d. h. für welche die Differenz x − x 0 ihrem absoluten Betrage nach eine bestimmte Grenze nicht überschreitet, dasselbe Vorzeichen haben als f (x 0 ).
[Beweis.] Es folgt die Richtigkeit unmittelbar, wenn man, was nach der Erklärung der kontinuierlichen Funktion geschehen kann, die Grenze für x − x 0 = h so bestimmt, dass u = f (x 0 + h) − f (x) für alle Werte von h, welche dem absoluten Betrage [nach] diese Grenze nicht überschreiten, dem absoluten Betrage nach kleiner als y 0 wird; es hat dann jedenfalls f (x) = f (x 0 + h) − u [321] mit y 0 gleiches Vorzeichen.
[Hilfssatz (Nullstellensatz).] Ist ferner f (x) eine stetige Funktion von x und sind x 1 und x 2 zwei solche Werte des Argumentes, dass f (x 1 ) und f (x 2 ) verschiedenes Vorzeichen haben, so muss es zwischen x 1 und x 2 mindestens einen Wert x 0 geben, für welchen f (x) gleich Null wird.
[BeweisWei 1861 .] In der Nähe des Wertes x 1 wird es zwischen x 1 und x 2 eine stetige Folge von Werten geben, für welche f (x) dasselbe Zeichen hat wie für f (x 1 ) nach dem vorigen Hilfssatz; diese stetige Folge muss gegen x 2 hin notwendig eine Grenze haben, weil nicht für alle zwischen x 1 und x 2 liegenden Werte f (x) mit f (x 1 ) dasselbe Zeichen hat, sondern vielmehr nach der Voraussetzung für x 2 und nach dem vorigen Satze für die in der Nachbarschaft von x 2 liegenden Werte das entgegengesetzte Zeichen hat; bezeichnet x 0 die Grenze, sodass für alle Werte von x, welche zwischen x 0 und x 1 liegen f (x) mit f (x 1 ) dasselbe Zeichen hat, es aber zwischen x 0 und x 2 in der Nähe von (x 0 ) [sic] keinen weiteren Wert von x gibt, für welchen dasselbe stattfindet, so muss f (x 0 ) gleich Null sein, denn es kann nach dem vorigen Hilfssatz weder mit f (x 1 ) noch mit f (x 2 ) gleiches Vorzeichen haben.“ (Weierstraß 1861, S. 3 f.) Für die Gewerbeschüler ist dieser Beweis des Nullstellensatzes sicher mehr als ausreichend; der sprichwörtlichen „W EIERSTRASS’schen Strenge“ kann er freilich nicht genügen: denn die Existenz der „Grenze“ x 0 wird hier nur gefordert („muss notwendig eine Grenze haben“), nicht arithmetisch bewiesen. W EIERSTRASS argumentiert hier im Jahr 1861 an der Gewerbeschule so wie B OLZANO 1817. S. 296 321
Die Formel lautet in meiner Kopie des Typoskripts anders, ist jedoch nicht klar zu lesen.
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872
Der Zwischenwertsatz in der Universität 1878
S. 399
Deutlich anders verfährt W EIERSTRASS 17 Jahre später in der Universität. Dort präsentiert er den Zwischenwertsatz als eine Konsequenz aus dem „Satz vom Verdichtungspunkt“ – seine Version dessen, was heute der „Satz von Bolzano-Weierstraß“ heißt:
Lehrsatz (Nullstellensatz). „y = f (x) sei eine stetige Funktion von x. Gehört zu x 1 ein positiver Wert von y, zu x 2 ein negativer, so gibt es zwischen x 1 und x 2 einen Wert von x, für den y = 0 wird.
[BeweisWs 1878 .] Man kann jedenfalls zwischen x 1 und x 2 zwei Werte x 10
und x 20 so angeben, dass in dem Intervall x 1 . . . x 10 und zwischen x 2 und x 20 immer negativ ist. x1
x 10
x 20
y immer positiv
x2
Ist nun a eine ganze Zahl, sodass a1 kleiner als x 10 − x 1 und auch kleiner als x 2 − x 20 (und also auch a1n kleiner als x 10 − x 1 und kleiner als . . . m+1 , n−1 . . . na , wo x 2 − x 20 ), und betrachten wir die Intervalle m a a a m m +1 > x1 ≥ , a a
n n −1 ≥ x2 > , a a
so wird es unter diesen eine Anzahl geben, in denen y positiv ist; unter µ−1 µ diesen muss es ein letztes geben, a . . . a , sodass es in dem Intervalle µ a
µ+1
. . . a aufhört, dass in demselben y beständig positiv ist. µ So gehört zu jeder Zahl a eine Zahl µ, und alle Zahlen a liegen zwischen x 1 und x 2 . µ µ µ Betrachten wir nun etwa alle Stellen a1 , a 22 , a 33 , . . . , also alle Stellen µ für die Zahlenreihe a, a 2 , a 3 . . . , so muss es zwischen x 1 und x 2 eine a Stelle x 0 geben, sodass in jeder noch so kleinen Umgebung x 0 − δ . . . µ x 0 . . . x 0 + δ derselben sich Stellen a λλ in unendlicher Anzahl finden. Da aber y eine stetige Funktion von x sein soll, so kann ich nach Annahme von ε δ so klein wählen, dass in dem Intervalle x 0 −δ . . . x 0 . . . x 0 + δ y − y 0 < ε bleibt (y 0 ist gleich f (x 0 )). µ In dem Intervalle x 0 − δ . . . x 0 . . . x 0 + δ liegen aber Intervalle a nn . . . µn +1 an
ganz drin. Wäre nun y 0 positiv, so könnte ε so klein gewählt werden, dass y zwischen x 0 − δ und x 0 + δ beständig positiv wäre; wäre y 0 negativ, so könnte ε so klein genommen werden, dass y beständig negativ zwischen x 0 − δ und x 0 + δ wäre. Beides ist nicht zulässig; also muss y 0 = 0 sein, q. e. d.“ (Weierstraß 1988b, S. 87 f.) Der Beweis des Nullstellensatzes ist 1878 wesentlich akribischer konstruiert als 1861. Diese Akribie besteht darin, dass der 1861 ohne nähere Bestimmung verwendete Begriff „Wert“ genauer entfaltet wird, und zwar zum Begriff der „a-al-Zahl“, in leichter Verallgemeinerung der „Dezimalzahl“.
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Weierstraß’ Ringen um die Grundbegriffe der Analysis Auf den ersten Blick erscheint dies gegenüber Cauchy 1897 nicht als begrifflicher Fortschritt.322 Doch dieser erste Blick trügt. Denn W EIERSTRASS hat seinen Beweis (beinahe ausdrücklich) auf seinen „Satz vom Verdichtungspunkt“ gegründet – und ab S. 399 dieser garantiert ihm die „Existenz“ der Nullstelle innerhalb seines Zahlbegriffs! EIN VERÄNDERTER BLICK AUF WEIERSTRASS Mathematikgeschichtliche Urteile sind oftmals höchst skurril, wenn man sie aus mathematischer Perspektive betrachtet. Ein hübsches Beispiel dafür ist das Urteil über W EIERSTRASS’ grundlagentheoretische Leistung. Momentan herrscht große Einigkeit darin, dass es zu W EIERSTRASS’ besonderen Leistungen zur Grundlegung der Analysis gehören soll, die „reellen“ Zahlen streng definiert zu haben. Viermal dasselbe Fehlurteil (1) Jahrestage sind gern genommene Anlässe, Mathematikgeschichte vorzuzeigen. Anlässlich des 150. Geburtstages von W EIERSTRASS erschien (mit leichter Verspätung) eine Festschrift, und darin wird natürlich W EIERSTRASS’ Größe gepriesen. Der Mit-Herausgeber und Autor K LAUS KOPFERMANN lässt in seinem Beitrag keinen Zweifel daran, dass W EIERSTRASS in einem „exakten Konstruktionsprozess“n , ausgehend von den „natürlichen“ Zahlen, die „reellen“o Zahlen konstruiert habe. Das für W EIERSTRASS unüberwindliche Problem der Einbeziehung der „negativen“ Zahlen fasst KOPFERMANN souverän so zusammen: „Führt man jetzt sämtliche reellen Zahlen ein – im Wesentlichen geschieht das in der Vorlesung durch Paarbildung – [. . . ]“ (Kopfermann 1966, S. 82) Nur eben ist bei W EIERSTRASS von solcher „Paarbildung“ nirgends die Rede. (Sie wäre auch mit seiner ‚substanzialen‘ Herangehensweise unvereinbar!) Auf der gleichen Seite nimmt KOPFERMANN seine in W EIERSTRASS hineingelesene „Paarbildung“ freilich gleich wieder zurück, indem er schreibt: „W EIERSTRASS legt in seinem Konstruktionsprozess also die besondere Betonung auf die absolute Konvergenz. Es sieht so aus, als ob er in seinen Vorlesungen nie das Bedürfnis gehabt hat, Ergebnisse über beliebige Reihen zu bringen.“ (Kopfermann 1966, S. 82) Es ist aber keine Frage des „Bedürfnisses“, ob W EIERSTRASS der altbekannten Reihe 5.13 den „Wert“ ln 2 zuweisen möchte oder nicht, sondern es ist eine mathe- S. 428 matische Tatsache, dass das in seiner Theorie (derjenigen vor 1886) nicht möglich ist. (2) Ein eifriger Verkünder dieser heute herrschenden Meinung zu W EIERSTRASS’ grundlagentheoretischer Leistung ist der Mathematikhistoriker P IERRE D UGAC n 322
Kopfermann 1966, S. 79
o
Kopfermann 1966, S. 78
Siehe dessen Beweis des Nullstellensatzes im Anhang III seines Cours d’analyse: Cauchy 1897, S. 378–380.
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872
Anm. 324
ab S. 508 ab S. 458
ab S. 479
(1926–2000). In einer eingehenden Studie, die 1973 erschien,p hatte er die damals verfügbaren Mitschriften von W EIERSTRASS’ Vorlesungen analysiert. (Bis auf die – sehr gehaltvolle! – Letzte aus dem Jahr 1886q , die ihm noch nicht vorlag, sind das jene, die oben auch herangezogen wurden; einige weniger ergiebige habe ich jedoch unberücksichtigt gelassen.) (2–a) Im Jahr 1976 unterschied D UGAC drei verschiedene Theorien der reellen Zahlen: (i) jene von C HARLES M ÉRAY aus dem Jahr 1869; eine Theorie „gegründet auf denselben Grundsätzen“r sei „1871“ von C ANTOR und „1872“ von E DUARD H EINE vorgelegt worden.323 (ii) Eine zweite Theorie stamme von W EIERSTRASS und sei „zum ersten Mal 1872 von E. KOSSAK veröffentlicht, jedoch gegen 1863 ausgearbeitet worden“324 . (iii) Schließlich die „exakte“r Theorie von D EDEKIND. (2–b) Konsequenterweise nennt D UGAC in dem 1978 erschienenen Sammelwerk Geschichte der Mathematik 1700–1900 dann W EIERSTRASS den ersten Erfinder der „reellen“ Zahlen.s Er beginnt seine Darstellung zunächst etwas verhalten: „Wie W EIERSTRASS’sche Theorie der reellen Zahlen ist zwar nicht diejenige strenge Theorie, die als Erste konzipiert oder als Erste veröffentlicht wurde, aber jedenfalls die Erste, um die sich die umfassende Reform der Analysis kristallisierte, die ihr schließlich diejenige Gestalt gab, in der wir sie heute kennen.“ (Dugac 1978, S. 389) Kurz darauf heißt es sehr bestimmt: „Man kann die Ausarbeitung der W EIERSTRASS’schen Theorie der reellen Zahlen auf die Zeit um 1863 datieren.“ (Dugac 1978, S. 389) Der Schlusssatz seiner etwa eine dreiviertel Seite in Anspruch nehmenden Darstellung des W EIERSTRASS’schen Zahlbegriffs lautet unmissverständlich: „Durch Definition der Subtraktion für diese neuartigen Zahlen erhielt er dann die Menge R der reellen Zahlen.“ (Dugac 1978, S. 391)
S. 420
Dass W EIERSTRASS’ Konstruktion (vor 1886) gerade an der Erklärung der Subtraktion scheitert, ist D UGAC offenbar entgangen. Manchmal steckt der Teufel wirklich im Detail. (3) J ESPER L ÜTZEN schreibt in dem 1999 erschienenen Sammelband Geschichte der Analysis folgenden Satz: p
Dugac 1973
q
Weierstraß 1988c
r
Dugac 1976, S. 35
s
Dugac 1978, S. 389–391
323
Die von D UGAC angebene Quelle ist Cantor 1883, in der C ANTOR auf S. 184 das falsche Publikationsdatum 1871 seiner Abhandlung Cantor 1872 nennt (der Herausgeber der Gesammelten Abhandlungen hat es nicht korrigiert). Richtigerweise verweist D UGAC anschließend jedoch auf die letztgenannte Abhandlung. 324 Dugac 1976, S. 35. – Allerdings beurteilte W EIERSTRASS die Darstellung seiner Theorie durch KOSSAK als völlig wertlos, wie in seinem Brief vom 05.04.1895 an M AGNUS G USTAV M ITTAG -L EFFLER (1846–1927) nachzulesen ist: „Sie wissen, wie meine Einleitung in die Funktionentheorie von den Herren KOSSAK und [. . . ] verhunzt worden ist.“ (Kopfermann 1966, S. 80, Auslassung in der Quelle)
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Weierstraß’ Ringen um die Grundbegriffe der Analysis „Durch seine Konstruktion der reellen Zahlen löste W EIERSTRASS die Frage der Vollständigkeit, der sich C AUCHY und B OLZANO entzogen hatten.“ (Lützen 1999, S. 236) Jedenfalls vor 1886 war W EIERSTRASS’ Zahlbegriff sicher nicht „vollständig“. Und S. 436 ganz gewiss hat W EIERSTRASS von seinem Zahlbegriff nie jene Eigenschaft behauptet, die heute „Vollständigkeit“ heißt.325 (Dass weder B OLZANO noch C AUCHY ein Problem mit dem hatten, was heute „Vollständigkeit“ heißt, haben wir gesehen.) S. 295, 323 (4) Im bislang letzten deutschsprachigen Buch zur Geschichte der Analysis schreibt der Mathematiker T HOMAS S ONAR etwas mehr Prosa: „W EIERSTRASS musste nicht auf D EDEKIND und C ANTOR warten, sondern entwickelte seine eigene Konzeption der Irrationalzahlen (und damit von R). Diese Theorie entstand um 1863, wurde aber erst 1872 von E RNST KOSSAK in dessen Buch Die Elemente der Arithmetik publiziert. Es gibt Anlass zu vermuten, dass W EIERSTRASS sogar schon 1861 im Besitz dieser Theorie war [. . . ]. Die W EIERSTRASS’sche Konstruktion erscheint uns heute etwas mühsam und wir wollen seinen Ideen auch hier nicht folgen [. . . ] Es ist für uns hier nur wichtig, dass W EI ERSTRASS auf einem sauberen Konzept der reellen Zahlen aufbauen konnte.“ (Sonar 2011, S. 524) Zwei Seiten später allerdings liest es sich bei S ONAR etwas anders: „Nach der expliziten Konstruktion der reellen Zahlen durch R ICHARD D EDEKIND und G EORG C ANTOR konnte W EIERSTRASS dann ein für alle Mal den Begriff der Konvergenz in algebraischer Art und Weise fassen [. . . ]“ (Sonar 2011, S. 526) (Und dann folgt jene Bestimmung der „Konvergenz“, die C AUCHY bereits im Jahr 1821 publiziert hat, freilich in ‚epsilontischer‘ statt in der ‚Grenzwertsprache‘ und S. 319 somit ganz uncauchysch.) Wieso „dann“? Musste W EIERSTRASS nun auf C ANTORs „und“ D EDEKINDs Konstruktion der „reellen“ Zahlen warten? Auf S. 524 seines Buches sagt S ONAR: nein, auf S. 526 sagt er: ja. – Leider sind beide Urteile falsch. Wahr ist: W EIERSTRASS scherte sich keinen Deut um die Konstruktionen seiner jüngeren Kollegen aus dem Jahr 1872. (Sonst hätte er nicht im Jahr 1886 seine eigene Theorie zu verbessern gesucht.) ab S. 431 Für S ONAR ist klar: Entweder „hat“ man eine Theorie – oder eben nicht. Eine Theorie ist „sauber“t – oder eben nicht. Dass es auch eine Theorie in Arbeit geben kann (deren Entwicklungsstand man gelegentlich in einer Vorlesung berichtet, den man aber natürlich nicht im Druck fixiert), wird weder von ihm noch von den genannten Analysis-Historikern in Betracht gezogen. t 325
etwa Sonar 2011, S. 538 Diesen Namen hat H ANKEL bereits 1867 benutzt (Hankel 1867, S. 45, 59), aber erst D EDEKIND hat diesen Begriff (unter dem Namen „Stetigkeit“) definiert: siehe ab S. 487.
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872 Schaut man sich die Dokumente an, wie wir das ansatzweise getan haben,326 erkennt man, dass Letzteres hier der Fall war: W EIERSTRASS rang jahrzehntelang mit der Konstruktion eines für die Analysis geeigneten Zahlbegriffs – und blieb erfolglos. Wir haben hier also den wunderbaren, den gegenwärtigen Experten unglaublich327 anmutenden Fall: (1) Ein anerkannt bedeutender Mathematiker bemüht sich in seinem Spezialgebiet jahrzehntelang um die Konstruktion einer neuen Theorie. (2) Dabei scheitert er beständig. (3) Zeitgleich wird – auch von einem seiner Schüler – eine derartige Konstruktion vorgelegt (die so überzeugend ist, dass sie noch heute genutzt wird). Das alles ist vergleichsweise gut in Mitschriften von W EIERSTRASS’ Vorlesungen dokumentiert – aber kein Mathematiker und keine Mathematikgeschichtlerin mag das heute zur Kenntnis nehmen. Gedruckt wird immer wieder pure Ideologie: Bedeutende Mathematiker scheitern nicht! (Allenfalls machen sie dumme Fehler, jedenfalls dann, wenn es keine Landsleute sind: etwa C AUCHY!328 ) Die Frage – und eine Antwort Doch lassen wir einmal die mathematikgeschichtliche Perspektive beiseite und konzentrieren uns allein auf die Mathematik. Wenn W EIERSTRASS als Erster die „reellen“ Zahlen erfunden hätte, so müsste man die mathematische Frage beantworten können: Welche Konstruktion der „reellen“ Zahlen hat W EIERSTRASS gegeben? S ONAR spricht das an: „W EIERSTRASS musste nicht auf D EDEKIND und C ANTOR warten, sondern entwickelte seine eigene Konzeption der Irrationalzahlen (und damit von R).“u Die einfache Frage lautet: Welche denn? S ONAR sieht diese Frage auch und weicht ihr aus: „[. . . ] etwas mühsam und wir wollen seinen Ideen auch hier nicht folgen [. . . ]“u Kapitel 6
Heute kennen wir drei Bestimmungen des Begriffs „reelle“ Zahl: zwei wurden im Jahr 1872 publiziert (durch C ANTOR/H EINE und D EDEKIND) und eine im Jahr 1899 (durch H ILBERT). Wäre das Urteil zutreffend, dass W EIERSTRASS die „reellen“ Zahlen als Erster erfunden hätte, müsste dies eine vierte Konstruktion sein – oder ein Späterer müsste W EIERSTRASS plagiiert haben. Mathematisch wäre eine vierte Bestimmungsweise der „reellen“ Zahlen von höchstem Interesse. Doch noch niemand hat eine solche vorgelegt, und ebenu
Sonar 2011, S. 524
326
Im Druck im Jahr 1991 erschienen: Spalt 1991b; beachte jedoch Anmerkung 308 auf S. 415. Jedenfalls handelt seit dreißig Jahren niemand davon. 328 Ich weiß leider nicht, inwiefern die Rede von den „elementaren Fehlern“ in C AUCHYs Cours d’analyse auch in Frankreich anzutreffen ist. Prominent jedenfalls nicht. Dugac 1978 beispielsweise übergeht die Sache mit Schweigen. Amerikaner aber lieben diesen Topos, etwa Bressoud 1994, und auch Engländer sind dieser Sichtweise nicht abgeneigt: siehe Anmerkung 224 auf S. 314. 327
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Weierstraß’ Ringen um die Grundbegriffe der Analysis so wenig hat jemand ausdrücklich behauptet, G EORG C ANTOR (als W EIERSTRASSSchüler müsste der allererste Verdacht auf ihn fallen) habe eine Idee von W EIER STRASS als seine eigene publiziert.329 Wie oben gezeigt führt genaues Lesen zur Klarheit: W EIERSTRASS hat keine vollendete Bestimmung eines ‚analytischen‘ Zahlbegriffs gegeben, und somit besteht auch kein Ansatzpunkt für einen Plagiatsverdacht.330 Weierstraß’ wirkliche Leistungen für die Grundlagen der Analysis Ohne allen Zweifel war W EIERSTRASS einer der ganz großen Analytiker des 19. Jahrhunderts. Dieses Urteil soll hier in keiner Weise infrage gestellt werden.331 Es wurde schon früh begründet: Anlässlich seines 80. Geburtstags pries ihn ausgerechnet332 F ELIX K LEIN als den „Hauptrepräsentanten“ „derjenigen mathematischen Richtung“v , die „Arithmetisierung der Mathematik“v genannt wird: „Wo sonst Figuren als Beweismittel dienten, da sind es jetzt immer wiederholte Betrachtungen über Größen, die kleiner werden oder angenommen werden können, als jede noch so kleine vorgegebene Größe. Da werden Erörterungen vorangestellt, was die Stetigkeit einer Variabelen bedeuten soll oder nicht bedeuten soll und ob von Differenziation oder Integration einer Funktion überhaupt die Rede sein kann. Das ist der W EIERSTRASS’sche Habitus der Mathematik, die W EIER STRASS ’sche Strenge, wie man kurz zu sagen pflegt.“ (Klein 1895, S. 233) Freilich wollte solchem Lobpreis333 nicht jeder beipflichten. So schrieb etwa der von W EIERSTRASS promovierte G EORG C ANTOR am 8. Dezember 1895 an F ELIX K LEIN, er sei mit dessen Urteil über W EIERSTRASS nicht einverstanden:334 „Andrerseits will ich, da Sie mich zu einer offenen Äußerung auffordern, nicht leugnen, dass, wenn ich auch Ihrer Aussprache gewissermaßen die Bedeutung eines erfreulichen historischen Evenements beilege, v
Klein, S. 232
329
Natürlich hat C ANTOR seine eigene Theorie von der W EIERSTRASS’schen unterschieden (siehe S. 460). Dass Letztere nur Torso war, wird von C ANTOR nicht thematisiert. 330 Dass C ANTOR in gewisser Weise tatsächlich seine Idee von W EIERSTRASS gewonnen hat, wird noch gezeigt werden (ab S. 454) und wurde bereits vor über einem Vierteljahrhundert gedruckt (Spalt 1991b, S. 356–359). – Dass C ANTOR seine Idee von W EIERSTRASS genommen hätte, scheint mir in der Formulierung von D UGAC in Anmerkung 367 auf S. 514 insinuiert. 331 Dazu etwa H ILBERTs Nachruf, wieder abgedruckt in Hilbert 1965, Bd. 3, S. 330–338. 332 Man vergleiche K LEINs nachstehende Eloge mit seiner eigenen Vorgehensweise, die ab S. 611 gezeigt wird, insbesondere auf den S. 626–637. 333
K LEINs Formulierung „immer wiederholte Betrachtungen“ und ebenso das „bedeuten soll oder nicht bedeuten soll“ schmecken ein wenig nach vergiftetem Lob. 334 Es ist vielleicht kein Zufall, dass sich diese Kritik zwar in einer französischen, aber in keiner mir bekannten deutschen Darstellung der Geschichtsschreibung der Analysis findet und dieser C ANTOR-Brief (meines Wissens: nur) in Frankreich publiziert wurde.
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5. Das analytische Interregnum von 1817 bis 1872 ich doch mit vielen Ihrer Formulierungen nicht einverstanden bin, namentlich nicht mit der präponderierenden Stellung, welche von Ihnen bei der »Arithmetisierung der Mathematik« W EIERSTRASS zuerkannt wird. Man muss meines Erachtens bei W EIERSTRASS dasjenige, was er wirklich gemacht hat, von dem Mythus unterscheiden, mit welchem ihn seine Schüler, zur Befestigung und Erhöhung ihres eigenen Ansehens, gleichsam wie in einen dicken Nebel eingehüllt haben.“ (Dugac 1976, S. 165) Ohne allen Zweifel hat sich W EIERSTRASS enorme Verdienste um die Grundbegriffe der Analysis erworben – das soll hier keinesfalls in Zweifel gezogen werden. Allerdings bestehen diese Verdienste nicht in jenen Leistungen, die ihm gern zugeschrieben werden: • W EIERSTRASS ist es nicht gelungen, einen hinreichend präzisen und allgemeinen Begriff der ‚analytischen‘ Zahl (etwa: „reelle“ Zahl) zu formulieren. • W EIERSTRASS hat nicht die „unendlich kleinen“ Größen aus der Analysis verbannt. („Unendlich kleine“ Zahlen gab es im 19. Jahrhundert nur in den unpublizierten Manuskripten von B OLZANO, und der „unendlich kleinen“ Veränderlichen hat sich W EIERSTRASS genau so bedient wie jeder andere Analytiker im 19. JahrS. 466, hundert auch.335 ) Vielmehr erfolgte diese Verbannung ganz von selbst: durch die Punkt i Akzeptanz des von C ANTOR und H EINE konstruierten Begriffs der „reellen“ Zahl. • W EIERSTRASS hat auch nicht die ‚Epsilontik‘ erfunden – dieser Methode hatten S. 281, 284, sich (nach dem unbeachtet gebliebenen B OLZANO) auch schon D IRICHLET und 285; 369; 374 R IEMANN vor ihm bedient.
ab S. 431
ab S. 454
Auch wenn W EIERSTRASS mit seinen jahrzehntelangen Bemühungen um die Schärfung des Begriffs „reelle“ Zahl kein letztlicher Erfolg beschieden war, so müssen diese Bemühungen dennoch als eine ganz außerordentliche Leistung bewertet werden. Mit großer Hartnäckigkeit verfolgte W EIERSTRASS hier sein Ziel. Von keinem anderen Autor (wieder muss B OLZANO ausgenommen werdenw ) sind derartige Anstrengungen um die Klärung des analytischen Zahbegriffs bekannt. Und nach 25 Jahren Konstruktionsarbeit war W EIERSTRASS sogar bereit (und imstande!), eine maßgebliche Änderung an seiner Theorie vorzunehmen. (Sie brachte ihn zwar auch nicht gänzlich ans Ziel, überwand aber die bislang bestehenden handgreiflichen Mängel.) Und letztlich waren seine Bemühungen doch noch erfolgreich, wie wir sehen werden – wenn auch nicht aus seiner Feder und obwohl er selbst diesen Erfolg offenbar nie anerkannte. w
335
wegen RZ Das zitieren sogar Lützen 1999, S. 236 und Sonar 2011, S. 525 – wobei freilich Letzterer suggeriert, diese Bestimmung sei eine W EIERSTRASS’sche Neuerung. Davon aber kann keine Rede sein: Sie findet sich genau so wie bei W EIERSTRASS (mit der Ausnahme von J OHANN B ERNOULLI und E U LER ) bei sämtlichen Analytikern des 18. und 19. Jahrhunderts, bei D ’A LEMBERT , L ACROIX , B OL ZANO und, wie wir wissen, sogar bei C AUCHY : S. 311 und ursprünglich bei L EIBNIZ : S. 113.
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Weierstraß’ Ringen um die Grundbegriffe der Analysis Ähnlich steht es um W EIERSTRASS’ Ringen mit dem Funktionsbegriff. Aus heutiger Sicht hatte R IEMANN mit dem ersten Satz seiner Dissertation von 1851 schon alles klargemacht: „Funktion“ ist eine ‚Wert-zu-Wert‘-Bestimmung – fertig. Dieser Theorie schloss sich W EIERSTRASS aber nicht an. Ganz im Gegenteil suchte er sie zu bekämpfen. W EIERSTRASS wollte mit aller Macht das philosophische Denken in (den Grundlagen) der Mathematik behalten: Er suchte nach einem ‚substanzialen‘ Funktionsbegriff, also einem, aus dem sich die wesentlichen Eigenschaften der „Funktionen“ gewinnen lassen. Dieses Bemühen hat W EIERSTRASS zu tiefliegenden analytischen Begriffsbildungen geführt, worauf ich hier nicht näher eingehen konnte. Und es hat ihn auch zu seinem „Approximationssatz“ geführt, der dauerhaft mit W EIERSTRASS’ Namen verbunden ist. Dass W EIERSTRASS schließlich dieses Unterfangen aufgegeben und kapituliert hat, zeigt zweierlei: zum einen die hohe Kreativität seines Denkens und zum anderen seine intellektuelle Aufrichtigkeit und Souveräntität: er erkannte nicht nur das Scheitern seines Ansatzes, sondern er änderte auch seine fachliche Position. Dazu sind nicht viele Denker bereit und imstande.
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S. 370 S. 402
S. 409
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Kapitel 6: Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872
Wie sich allmählich herausstellte, war die Erfindung des Begriffs „reelle“ Zahl im Jahr 1872 ein Geniestreich, geeignet, die desolate Verfassung der Analysis im mittleren 19. Jahrhundert zu konsolidieren. Unterstützt wurde diese Konsolidierung durch die spätere Akzeptanz der Sprache der „Mengenlehre“ – dies Letztere wird im nächsten Kapitel behandelt. Dieser Geniestreich von 1872 wurde in drei Abhandlungen dreier Autoren publiziert, die in dem Zeitraum Mitte März bis Ende April 1872 erschienen: zuerst zwei Abhandlungen von E DUARD H EINE und G EORG C ANTOR in Zeitschriften und schließlich ein Separatdruck von R ICHARD D EDEKIND. D I E S I T UAT I O N A N T E HANKELS BESTANDSAUFNAHME ZUM BEGRIFF DER IRRATIONALEN Z AHL IM JAHR 1867 Der sehr jung verstorbene H ERMANN H ANKEL (1839–73) ist ein wunderbarer Chronist und genauer Denker der Analysis vor ihrer revolutionären Neugestaltung zur Mengenanalysis durch die Neufassung der Begriffe „reelle“ Zahl und „Funktion“. Sichtbar durch R IEMANN beeinflusst versucht sich H ANKEL an einer Präzisierung des Begriffs „Grenzwert“. Im Gegensatz zu C AUCHY hält H ANKEL den Begriff „Grenzwert“ für auf den Funktionsbegriff rückführbar;336 C AUCHY sah das Verhältnis bekanntlich umgekehrt. S. 309 In seiner 1867 erschienen Theorie des complexen Zahlsystems insbesondere der gemeinen imaginären Zahlen und der Hamilton’schen Quaternionen nebst ihrer geometrischen Darstellung. Vorlesungen über die complexen Zahlen und ihre Functionen in zwei Theilen. I. Theil. Theorie des complexen Zahlsystems (der zweite Teil ist nicht erschienen) geht es ihm in Abschnitt IV um „die Natur“ auch der „irrationalen reellen Zahlen und Größen, [die hier] zum ersten Male, wie mir scheint, von einem höheren und allgemeineren Gesichtspunkte strenge und systematisch dargestellt [werden]. Dass es dabei notwendig war, zuweilen in Betrachtungen einzugehen, welche »der Metaphysik des Kalküls« angehörig dsind unde sich in ihrer Form von den meisten rein mathematischen Deduktionen einigermaßen unterscheiden, liegt auf der Hand.“ (Hankel 1867, S. VII) 336
Vgl. dazu Hankel 1871.
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872
S. 128
H ANKEL entwickelt in großer, zuvor nicht gekannter Präzision den „formalen“ Begriff des Systems der rationalen Zahlen. Dabei greift er namentlicha auf die Vorarbeiten von H ERMANN G RASSMANN (1809–77) in dessen Ausdehnungslehre b zurück. Es sei nachdrücklich darauf hingewiesen: H ANKEL versteht unter „formal“ dasselbe wie „begrifflich“ – wie es auch L EIBNIZ mit seiner „Characteristica universalis“ vorschwebte: „Jene allgemeinen formalen Verhältnisse, deren Möglichkeit von der Beschränktheit unserer empirischen Anschauungen unabhängig ist, und die man, insofern sie die Bedingung der Möglichkeit realer Verhältnisse einschließen, transzendentale oder potenzielle nennen kann, werden auch nicht an realen Objekten, sondern an intellektuellen oder an Relationen solcher betrachtet werden müssen, wenn wir uns von ˜ der Zufälligkeit des Wirklichen befreien wollen. Die Bedingung zur Aufstellung einer allgemeinen Arithmetik ist daher eine von aller Anschauung losgelöste, rein intellektuelle Mathematik, eine reine Formenlehre, in welcher nicht Quanta oder ihre Bilder, die Zahlen[ ,] verknüpft werden, sondern intellektuelle Objekte, Gedankendinge, denen aktuelle Objekte oder Relationen solcher entsprechen können, aber nicht müssen.“ (Hankel 1867, S. 9 f.) Und nochmals unmissverständlich: „Ist Wissenschaft überhaupt im nominalistischen Sinne eines C ON DILLAC nur eine »langue bien faite«, so muss sie doch eben »bien faite« sein, d. h. ihre Begriffe müssen angemessen sein und einen realen Hintergrund haben, ohne den sie leer und abstrus bleiben. Reine Verknüpfung von Worten, die willkürlich gewählt sind, kann niemals Wahrheiten liefern, die sich auf die Dinge selbst beziehen.“ (Hankel 1867, S. 76)
ab S. 128
Nach H ANKEL handelt die „intellektuelle Mathematik“ also ausdrücklich von „Gedankendingen“. Dass sie sich dabei der „Zeichen“ (also: Symbole) bedient, ist seit D ESCARTES sonnenklar und seit L EIBNIZ Programm. Das geriet auch nicht in Vergessenheit. In seiner Kommentierung L AGRANGEs hält C RELLE nebenbei fest: „[. . . ] dass Zeichen keineswegs etwas Unwesentliches, sondern vielmehr etwas ungemein Wichtiges sind, ungefähr wie die Worte der Sprache für den Ausdruck der Gedanken. Die Zeichen sind die Sprache der Analysis und, strenge genommen, der ganzen Mathematik.“ (C RELLE in Lagrange 1823, S. 111) H ANKEL proklamiert eine solche Vorgehensweise nicht nur, er praktiziert sie a
Hankel 1867, S. 16
b
Graßmann 1844 und Graßmann 1862
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Die Situation ante auch. Dies sei knapp am Beispiel von H ANKELs Einführung der „negativen“ Zahlen belegt: „Indem wir so neue negative Zahlen einführen [. . . ], müssen wir offenbar den Begriff der Zahl, wie er oben gefasst wurde, erweitern. Es kann dies etwa geschehen, indem wir eine Zahl definieren als das Zeichen der Forderung einer Operation, welche an einem irgendwelchen Objekte vorzunehmen ist und zugleich als das aus der Erfüllung jener Forderung Resultierende, wenn jenes Objekt durch die numerische Einheit ersetzt wird.“ (Hankel 1867, S. 5, mit eigener Hervorhebung auch von „Begriff“ bei „Zahl“) „Zahl“ ist für H ANKEL also sowohl „Zeichen“ (einer „intellektuellen Mathematik“!) wie auch „Forderung einer Operation“, vorzunehmen „an einem irgendwelchen Objekte“. Damit ist ein ‚substanzialer‘ Zahlbegriff, an dem sich W EIERSTRASS unermüdlich abrackerte, aufgegeben. Nach einer beispielhaften Erläuterung und einem langen Zitat von G AUSS aus dem Jahr 1831, in dem G AUSS positive und negative Zahlen als „Relationen zwischen je zweien Gegenständen“c bestimmt, fasst H ANKEL den Begriff der Zahl so: „Die Zahl ist der begriffliche Ausdruck der gegenseitigen Beziehungen zweier Objekte, soweit dieselbe quantitativen Messungen zugänglich ist.“ (Hankel 1867, S. 6) H ANKEL sagt hier: „Zahl“ ist der „begriffliche Ausdruck“ einer zweistelligen Relation, von der verlangt wird, „quantitativ messbar“ zu sein. Aber natürlich ist nicht die Relation „messbar“, sondern diese Relation formuliert eine „Messbarkeit“. Messbarkeit wessen? Welche Gegenstände sollen gemessen werden? – Das wird hier nicht gesagt. H ANKEL versucht sich an einer ‚relationalen‘ Bestimmung des Zahlbegriffs; dabei hält er „Messbarkeit“ für den maßgeblichen Aspekt. Nun H ANKELs Begriff der „irrationalen“ Zahl. Nach seiner (in dem soeben erläuterten Sinn) formalen Konstruktion der „rationalen“ Zahlen resümiert er: „Wir haben somit auf eine gesetzmäßige Weise eine Reihe von Zeichen, die rationalen positiven und negativen Zahlen aus der numerischen Einheit durch Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division entwickelt, sodass für jede durch diese Operationen geschehene Verknüpfung zweier Zeichen wieder ein zusammenfassendes Zeichen vorhanden ist, welches überall an die Stelle der Zeichenverknüpfung selbst gesetzt werden kann. Die ganze Aufgabe des Zahlensystems besteht eben in dieser Zusammenfassung oder, wenn man will, symbolischen Darstellung.“ (Hankel 1867, S. 45, hier wie gelegentlich mit unkonventioneller Interpunktion) c
Hankel 1867, S. 5; das Zitat stammt aus Gauß 1863, S. 176.
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 Unter den von H ANKEL angegebenen Bedingungen „können die Zahlen [. . . ] als Repräsentanten der Objekte selbst angesehen werden“d . Dabei bleiben die „Objekte“ völlig unbestimmt. Sie fungieren bei H ANKEL als bloße Relata. Warum reichen die rationalen Zahlen nicht aus? „Es fragt sich, ob das Zahlensystem, das wir geschaffen haben, vollständig ist oder nicht. Gewiss ist es insofern vollständig, als es keine Aufgaben aus den vier Spezies gibt, welche nicht durch ein Zeichen desselben gelöst werden können.[337] Andererseits aber gibt es Aufgaben, welche ihre Lösung in ihm nicht finden, z. B. wenn die Zahl x gesucht wird, sodass xx = 2, so wird keine passende Zahl gefunden werden können, ebenso wenig, wenn xx = −1 sein soll.“ (Hankel 1867, S. 45) Analysis ist demnach mehr als Rechnen (Algebra): Analysis muss „Aufgaben lösen“. Das Problem In H ANKELs Perspektive müssen für die „irrationalen“ Zahlen neue geeignete „Zeichen“ geschaffen werden: „Unsere Aufgabe kann es hier nur sein, neue Zeichen zu schaffen für jene möglichen oder unmöglichen p Realen. Wir bezeichnen die Lösung der Gleichung xx = A mit x = A, und nennen sie eine irrationale Zahl. Es ist dann fraglich, was die Multiplikation bedeute, d. p h. welchen p formalen Gesetzen sie genüge. Da eben nur in dem Falle A A = A die Bedeutung des Produktes bestimmt ist, so steht p es in unserer Willkür, welche Gesetze wir z. B. der Verknüpfung B A unterlegen wollen, für welche in unserer bisherigen Reihe ein Zeichen im Allgemeinen nicht vorhanden ist.“ (Hankel 1867, S. 45 f.)
S. 419
Damit ist das Problem klar umrissen: Es geht sowohl um die Definition neuer Objekte („irrationale“ Zahlen) als auch um die Definition der Rechenoperationen mit diesen neuen Zahlen. (Wir sehen, welche intellektuellen Welten den jungen H ANKEL – und R IEMANN-Schüler – von dem nur eine Generation älteren W EIER STRASS trennen.) Dabei „ist klar: Man wird verzichten müssen, alle Aufgaben, welche die Einführung neuer Zeichen erfordern würden, vollständig und erschöpd 337
Hankel 1867, S. 45 Die Division durch Null hat H ANKEL natürlich ausgeschlossen: „Die Division mit Null ist daher gänzlich unbestimmt.“ (Hankel 1867, S. 31)
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Die Situation ante fend zu betrachten; man würde sich in ein ungeheures Labyrinth verirren, wenn man den bisherigen Gesichtspunkt der rein formalen Zahlenbildung ausschließlich festhalten wollte. Es stellt sich vielmehr das Bedürfnis ein, den elementaren formalen Verknüpfungen der Zahlen eine aktuelle Bedeutung unterzulegen, um zu sehen, ob es irgend etwas Reales gebe, welches der Auflösung der Gleichungen xx = A usf. entsprechen könne.“ (Hankel 1867, S. 46) Ein solches „ungeahntes Labyrinth“ der Zahlen hatte E ULER aufgezeigt. S. 223–245 H ANKEL sagt hier, die „rein formale Zahlenbildung“ sei nicht ausreichend. Da er unter „rein formal“ versteht: „rein intellektuell“, besagt dies: Einen „rein intellektuellen“ Zahlbegriff hält H ANKEL für unmöglich. (Gemeint ist natürlich: ein ‚analytischer‘ Zahlbegriff.) Hankels Blick in den Abgrund Jenen Weg, den H ANKEL bisher eingeschlagen hat, ist eine Generation zuvor bereits B OLZANO gegangen: „Zahlen“ als „Zeichen“ (für Begriffe!) zu definieren. B OL ZANO sprach von „Zahlenausdrücken“. Um den Bedürfnissen der Analysis zu genügen und mehr als nur die Rationalzahlen zu konstruieren, ließ B OLZANO ausdrücklich auch unendlich viele Rechenoperationen in einem „Zahlenausdruck“ zu.e Das lieferte ihm zwanglos solch höchst interessante „Zahlen“ wie etwa 1 1+1+1+...in inf. , die als „unendlich Kleine“ der Differenzial- und Integralrechnung sehr zupass kommen. Doch B OLZANOs Konstruktion enhält gewisse grundlegende Mängel,338 darin den W EIERSTRASS’schen Konstruktionsversuchen ebenbürtig. S. 415–435 Anders als B OLZANO hat H ANKEL nicht den Mut, das „aktuale“ Unendlich in seiner Konstruktion des Begriffs der „irrationalen“ Zahl zuzulassen: „Das Irrationale, was uns hier entgegengetreten ist, in der rein formalen Mathematik durch den Grenzbegriff dem Rationalen zu interpolieren, scheint mir der Natur der Sache deshalb ganz unangemessen, weil eben ein solcher Grenzbegriff auf der Vorstellung des Kleinen und Großen, welcher unserer Entwickelung durchaus fremd ist, und der Anordnung unserer Zahlen in eine stetige Reihe beruht, welche schon den Begriff der extensiven Größe involviert. ˜ Jeder Versuch, die irrationalen Zahlen formal, und ohne den Begriff der dextensivene Größe selbst zu behandeln, muss auf höchst abstruse und beschwerliche Künsteleien führen, die, selbst wenn sie sich in vollkommener Strenge durchführen ließen, wie wir gerechten Grund hae 338
RZ, ab S. 100. B OLZANOs Manuskript wurde erst im 20. Jahrhundert bekannt und publiziert. Freilich nicht in der Weise, wie es der ‚resultatistisch‘ argumentierende Herausgeber von B OLZA NO s Werk meint: siehe J AN B ERG (*1928) in RZ, S. 128, Anmerkung 60 und dazu kritisch etwa Spalt 1990a, Becker 1990, Spalt 1991a.
Hankel
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 ben zu bezweifeln, einen höheren wissenschaftlichen Wert nicht haben.“ (Hankel 1867, S. 46 f.)
S. 484
H ANKEL konkretisiert: Weil ein „rein intellektueller“ ‚analytischer‘ Zahlbegriff nicht möglich ist, bleibt nur der Rückgriff auf die „extensive“ Größe – in letzter Konsequenz: auf die Empirie (bzw. die durch sie konstituierte – oder kantisch überhöhte – „Anschauung“). Und schließlich zu seiner eigenen Konstruktion überleitend: „Jetzt aber hat uns der dialektische Prozess wieder auf unseren Aus˜ gangspunkt zurückgeführt. Das Irrationale verlangt zu seiner systematischen Fassung den dextensivene Größenbegriff.“ (Hankel 1867, S. 47) Dass dem nicht so ist, stellte sich fünf Jahre später heraus. Dies wird im Rest dieses Kapitels darzulegen sein. Gleichwohl gilt H ANKELs hellsichtiges Urteil – wenn auch nicht für die von ihm dargelegte Konstruktionen,339 sondern für jene, die nach ihm C ANTOR, H EINE und D EDEKIND vorgelegt haben: ˜ „Die Erweiterung des Zahlenbegriffs auf das Irrationale, und wollen wir sogleich hinzufügen, das Imaginäre, [war] der größte Fortschritt, den die reine Mathematik jemals gemacht hat.“ (Hankel 1867, S. 60)
DIE ARTIKULATION DER MISERE DURCH EDUARD HEINE ab S. 465
Der wunderbare Artikel „Die Elemente der Functionenlehre“ von H EINRICH E DU ARD H EINE (1821–81), auf den wir später detaillierter eingehen werden, ist datiert mit „Oktober 1871“. Er benennt mit seiner Eröffnungspassage in großer Klarheit die 1871 aktuelle Misere der Analysis: „Das Fortschreiten der Funktionenlehre ist wesentlich durch den Umstand gehemmt, dass gewisse elementare Sätze derselben, obgleich von einem scharfsinnigen Forscher bewiesen, noch immer bezweifelt werden, sodass die Resultate einer Untersuchung nicht überall als richtig gelten, wenn sie auf diesen unentbehrlichen Fundamentalsätzen beruhen. 339
Um es wenigstens anzudeuten: H ANKEL definiert die „irrationale“ Zahl als eine „Operation“ zwischen zwei „gleichartigen“ Größen, für die es in seinem Zahlensystem bisher kein Zeichen gibt. (Hankel 1867, S. 58) Dabei erklärt er den „Relationsbegriff“ „Größe“, der „in der reinen Anschauung unmittelbar gegeben“ sei, unter Berufung auf seine Analyse des E UKLID wie folgt: „Größe heißt ein Objekt, wenn es größer, kleiner als ein anderes, oder ihm gleich ist, und in letzterem Falle ihm überall substituiert werden kann; wenn es außerdem durch wiederholte Position vervielfacht (und geteilt) werden kann.“ (Hankel 1867, S. 48) (Lesehilfe: Hier werden von H ANKEL die drei Relationen „größer“, „kleiner“, „gleich“ aufgezählt.)
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Hankel – Heine
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Die Situation ante Die Erklärung finde ich darin, dass zwar die Prinzipien des Herrn W EIERSTRASS, direkt durch seine Vorlesungen und andere mündliche Mitteilungen, indirekt durch Abschriften von Heften, welche nach diesen Vorlesungen gearbeitet wurden, selbst in weiteren Kreisen sich verbreitet haben, dass sie aber nicht von ihm selbst in authentischer Fassung durch den Druck veröffenlicht sind, sodass es keine Stelle gibt, an welcher man die Sätze im Zusammenhange entwickelt findet. Ihre Wahrheit beruht aber auf der nicht völlig feststehenden Definition der irrationalen Zahlen, bei welcher Vorstellungen der Geometrie, nämlich über die Erzeugung einer Linie durch Bewegung, oft verwirrend eingewirkt haben. Die Sätze sind für die unten zugrunde gelegte Definition der irrationalen Zahlen gültig, bei welcher Zahlen gleich genannt werden, die sich um keine noch so kleine angebbare Zahl unterscheiden, bei welcher ferner der irrationalen Zahl eine wirkliche Existenz zukommt, sodass eine einwertige Funktion für jeden einzelnen Wert der Veränderlichen, sei er rational oder irrational, gleichfalls einen bestimmten Wert besitzt. Von einem anderen Standpunkte aus können allerdings mit Recht Einwände gegen die Wahrheit der Sätze erhoben werden.“ (Heine 1872, S. 172)
S. 587, nach Anmerkung d
Damit kennzeichnet H EINE präzise die aktuelle anarchische Lage der Analysis im Jahr 1872: (i) Die Wahrheit einiger „elementarer“ Sätze der Analysis hängt an der „nicht völlig feststehenden“ Definition der „irrationalen“ Zahlen. (ii) legt er in seiner Abhandlung eine solche „feststehende“ Definition der „irrationalen“ Zahlen vor, einschließlich (iii) eines Beweises dafür, dass aus dieser vorgelegten Definition die Wahrheit dieser „elementaren“ Sätze zu erweisen sei; gleichwohl kann (iv) diese vorgelegte Definition kritisiert werden – natürlich mit der Folge, dass dann die Wahrheit jener „elementaren“ Sätze weiterhin unerweislich sein wird. – Es sei denn, so wird man hinzufügen dürfen, es handele sich um eine konstruktive Kritik in dem Sinne der Vorlage einer Alternative zu H EINEs Konstruktion. (Ob etwas Derartiges tatsächlich im Bereich des Möglichen lag, wird noch konstruktiv S. 519 erörtert werden.) Ehe wir diese von H EINE vorgelegte Definition im Detail betrachten, schauen wir uns an, woher die Idee zu dieser bahnbrechenden Definition kommt. Mir scheint, sie lässt sich auf W EIERSTRASS zurückführen – genauer: auf eine formal minimale, inhaltlich jedoch gravierende Abänderung der W EIERSTRASS’schen Konstruktion, zu der W EIERSTRASS jedoch nicht gelangte – aufgrund seines Denkstils nicht gelangen konnte. Vergegenwärtigen wir uns daher nochmals W EIERSTRASS’ Konstruktion. RÜCKBLICK: WEIERSTRASS’ KONSTRUKTION Wir haben W EIERSTRASS’ hartes Ringen um einen bestimmten Begriff der Zahl gesehen. Erst im Jahr 1886 gelang ihm eine solche Lösung, die wenigstens sämtlichen
Heine – Weierstraß
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872
S. 432
S. 435
S. 389
seit B OLZANO und C AUCHY „konvergent“ genannten Reihen eine („allgemeine“) Zahlgröße als „Grenze“ zuwies. Diese Zahlgröße war – wenn schon nicht „vollkommen bestimmt“ (wie W EIERSTRASS es vermutlich sah), so doch wenigstens – beliebig genau bestimmbar. Der W EIERSTRASS’sche Zahlbegriff lautet von Anfang an (es sei an 5.7 erinnert): Eine „Zahlgröße“ ist eine „Reihe“ g aus (im allgemeinen Fall) unendlich vielen „Gliedern“ αi g i : g
S. 432
=
α1 g 1 ,
α2 g 2 ,
α3 g 3 ,
. . . ad inf. ,
(6.1)
wobei die g i seit 1886 eine „konvergente“ Reihe bilden und die Kommata immer im Sinne von Pluszeichen gedacht sind. Dabei ist αi die jeweilige „Anzahl“, mit der die „Untereinheit“ g i in dieser „Zahlgröße“ g enthalten ist. (Im Falle g i = 101−i handelt es sich um den Begriff „Dezimalzahl“.) CANTORS BLICK AUF WEIERSTRASS’ KONSTRUKTION Eine rationale Rekonstruktion Der W EIERSTRASS-Schüler G EORG C ANTOR (1845–1918) hat die Idee 6.1 nicht erfunden. Sicher aber hat er sie bei W EIERSTRASS gehört. Durch eine formal winzige Änderung an dieser Idee gelang ihm die bahnbrechende Erfindung des neuen Begriffs „reelle“ Zahl. Diese winzige Änderung ist: Denke jedes „Glied“ αi g i nicht länger als „Anzahl der g i “, wo g i ein „Teil der Einheit“ ist (und also ein Bruch g i = g10 !), sondern als Rationalzahl αi g10 . i
i
So betrachtet wird W EIERSTRASS’ ‚allgemeine‘ Zahlgröße 6.1 zu: a
=
α1
1 , g 10
ab 1886 mit der Zusatzbedingung: Die
α2
1 , g 20
1 g i0
bilden eine „konvergente“ Reihe. Die
α3
1 , g 30
...
(6.2)
Kommata sind hier weiterhin im Sinne von Pluszeichen gedacht. Die eben angestellte Betrachtung ist das, was man eine „rationale Rekonstruktion“340 nennt: Wenn die Geschichte vernünftig verliefe, dann auf diese Weise. So aber verläuft sie nicht (immer). 340
Dieser wissenschaftstheoretische Terminus stammt von I MRE L AKATOS (1922–74). Eine „rationale Rekonstruktion“ der Geschichte – der „Geschichte1 (der Klasse historischer Ereignisse)“ (Lakatos 1974, S. 290, Anmerkung 69) – formuliert deren „interne Geschichte“ – die „Geschichte2 ([die] Klasse historischer Sätze)“ (a. a. O). Diese „ist nicht einfach eine Auswahl methodologisch interpretierter Tatsachen: sie kann gelegentlich zu einer radikal verbesserten Variante dieser Tatsachen werden.“ (Lakatos 1974, S. 289) T HOMAS S. K UHN (1922–96) kritisierte daran:
454
Weierstraß – Cantor
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Die Situation ante Cantors wirkliche Übernahme der Weierstraß’schen Konstruktion In zwei im Jahre 1869 erschienen Artikeln befasste sich C ANTOR mit dem Problem von „Zahlensystemen“. Dort findet sich eine Darstellung, die offenkundig eng verwandt mit W EIERSTRASS’ Begriff der Zahlgröße 5.7 (bzw. 6.1) ist. C ANTOR betrach- S. 389; 454 tet Zahlen a, b, c, d , . . . in der Weise, „dass die verschiedenen Glieder [. . . ], der Größe nach geordnet, a,
b,
c,
d,
...
(6.3)
sind, und dass sie entsprechend in den Anzahlen a,
b,
c,
d,
...
a,
b,
c,
d,
...
(6.4)
vorkommen, wo
nicht bestimmte ganze Zahlen zu sein brauchen, sondern außerdem noch das unendliche Vorkommen der entsprechenden Zahlen in [6.3] angeben können. Man sagt nun: eine Zahl n wird in dem gegebenen Systeme dargestellt, wenn man n auf die Weise n = αa + βb + γc + . . .
(6.5)
erhalten kann, wo α die Werte 0,
1,
2,
... ,
a
und allgemein die Zahl λ, welche ein beliebiges Glied l der Reihe [6.3] multipliziert, die Werte 0,
1,
2,
... ,
l
annehmen darf.“ (Cantor 1869, S. 35)
„Das, was L AKATOS als Geschichte begreift, [ist] keineswegs Geschichte, sondern eine Philosophie, die Beispiele fabriziert. Betreibt man sie aber auf diese Weise, dann könnte die Geschichte prinzipiell nicht den mindesten Einfluss auf die vorangehende philosophische Position haben, die sie ausschließlich geformt hat. Das bedeutet [. . . ], dass ich darauf bestehe, dass in der einzigen Art von Geschichtsschreibung, die philosophischen Interessen standhalten kann, eine vorausgehende philosophische Position nicht das einzige selektive Prinzip ist und dass es als selektives Prinzip nicht unverletzlich ist. Wenn der Versuch einer narrativen Geschichtsschreibung Anmerkungen erfordert, die seine Machart aufweisen, dann ist die Zeit gekommen, die zugrunde liegende philosophische Position zu überprüfen.“ (Kuhn 1974, S. 318) Ein Beispiel für eine „rationale Rekonstruktion“ von Teilen von C AUCHYs Analysis ist in Spalt 1981 enthalten, ein Beispiel für eine an den historischen Ereignissen orientierte Darstellung von C AUCHYs Analysis ist Spalt 1996 sowie das Vorstehende.
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 Hier haben wir die W EIERSTRASS’schen Ingredienzen seines Begriffs „Zahlgröße“: „Glieder“, „Anzahlen“, Summenbildung. Wo W EIERSTRASS allerdings die „Grundreihe“ aus der „Haupteinheit“ α und deren „Untereinheiten“ β, γ usw. hat, dort hat C ANTOR steigende „Zahlen“: „[. . . ] das verbreitetste aller Zahlensysteme, das dekadische, [hat als] die Reihen [6.3] und [6.4] [. . . ]: 1,
10 ,
100 ,
1000 ,
10000 ,
...
9,
9,
9,
9,
9,
...
[. . . ]“ (Cantor 1869, S. 36) Damit ist klar: C ANTOR nimmt W EIERSTRASS’ Begriff „Zahlgröße“ kreativ auf (nicht etwa sklavisch) und probiert Abwandlungen. Ein Ergebnis dieser C ANTOR’schen Abhandlung ist die Formulierung von Bedingungen an „Zahlensysteme“, damit „[. . . ] in dem also erweiterten Zahlensysteme sämtliche Zahlengrößen und jede nur auf eine einzige Weise durch Addition unendlich vieler Glieder des Systems erhalten“ (Cantor 1869, S. 38) werden können. (Der Herausgeber Z ERMELO fügt im letzten Zitat hinter dem Wort „Zahlengrößen“ ein: „[d. h. alle reellen Zahlen]“. Diesen bestimmten Begriff „reelle“ Zahl gibt es freilich im Jahr 1869 noch nicht, noch nicht einmal bei C ANTOR.)
CANTORS DEUTUNG VON WEIERSTRASS’ KONSTRUKTION Im Jahr 1883 publiziert C ANTOR sein Verständnis von W EIERSTRASS’ Zahlbegriff: „Bei der [W EIERSTRASS’schen] Definitionsform [der irrationalen reellen Zahlen] wird eine Menge [sic] positiver rationaler Zahlen a ν zugrunde gelegt, die mit (a ν ) bezeichnet werde und welche die Bedingung erfüllt, dass, wieviele und welche auch von den a ν in endlicher Anzahl summiert werden, diese Summe immer unterhalb einer angebbaren Grenze bleibt. Hat man nun zwei solcher Aggregate (a ν ) und (a ν0 ), so wird strenge gezeigt, dass sie drei Fälle darbieten können; entweder ist jeder Teil n1 der Einheit in beiden Aggregaten, sofern man ihre Elemente in hinreichender, vergrößerungsfähiger, endlicher Anzahl summiert, stets gleich oft enthalten; oder es ist n1 , von einem gewissen n an, in dem ersten Aggregat stets öfter als in dem Zweiten denthaltene, oder drittens es ist n1 , von einem gewissen n an, in dem Zweiten stets öfter als in dem Ersten enthalten. Diesen Vorkommnissen entsprechend Eine Weiterentwicklung von L AKATOS’ Ideen bietet Koetsier 1991.
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Die Situation ante wird, wenn b und b 0 die durch die beiden Aggregate (a ν ) und (a ν0 ) zu definierenden Zahlen sind, im ersten Falle b = b 0 , im zweiten b > b 0 , im dritten b < b 0 gesetzt. Vereinigt man die beiden Aggregate zu einem neuen (a ν , a ν0 ), so gibt dieses die Grundlage für die Definition vonn b+b 0 ; bildet man aber aus den beiden Aggregaten (a ν ) und (a ν0 ) das Neue (a ν ·a µ0 ), in welchem die Elemente die Produkte aus allen a ν in alle a µ0 sind, so wird dieses neue Aggregat zur Grundlage der Definition für das Produkt bb 0 genommen. Man sieht, dass hier das Erzeugungsmoment, welches die Menge [sic] mit der durch sie zu definierenden Zahl verknüpft, in der Summenbildung liegt; doch muss als wesentlich hervorgehoben werden, dass nur die Summation einer stets endlichen Anzahl von rationalen Elementen [sic] zur Anwendung kommt und nicht etwa von vornherP ein die zu definierende Zahl b als die Summe der a ν der unendlichen Reihe (a ν ) gesetzt wird; es würde hierin ein logischer Fehler lieP gen, weil vielmehr die Definition der Summe a ν erst durch Gleichsetzung mit der notwendig vorher schon definierten fertigen Zahl b gewonnen wird. Ich glaube, dass dieser erst von Herrn W EIERSTRASS vermiedene logische Fehler in früheren Zeiten fast allgemein begangen [. . . ] worden ist [. . . ]. Trotzdem hängen, meiner Überzeugung nach, mit dem bezeichneten Fehler alle Schwierigkeiten zusammen, welche in dem Begriff des Irrationalen gefunden worden sind, wogegen bei Vermeidung dieses Fehlers die irrationale Zahl mit derselben Bestimmtheit, Deutlichkeit und Klarheit sich in unserm Geiste festsetzt wie die rationale Zahl.“ (Cantor 1883, S. 184 f.)
Wir erkennen klar die Begriffsverschiebung, die C ANTOR – bewusst und absichtlich oder nicht – vornimmt: • Von W EIERSTRASS wird die „Zahlgröße“ (i) als „Reihe“ aus „Gliedern“ gedacht, die ihrerseits „Anzahlen“ von „bestimmten Teilen der Haupteinheit“ (oder der „entgegengesetzten“ Haupteinheit) sind. (ii) Bei dieser „Reihe“ kommt es – ursprünglich – auf die Anordnung (Reihenfolge) der „Glieder“ NICHT an – nicht einmal (bzw. insbesondere auch dann nicht), wenn neben der „Einheit“ auch die „entgegengesetzte“ Einheit in die Konstruktion einbezogen ist. Vielmehr denkt W EIER STRASS – bis 1878 bzw. vor 1886 – die „Zahlgröße“ grundsätzlich nach dem Muster der ENDLICHEN Summe. (iii) Dass die „Zahlgröße“ notwendig „endlich“ sein müsse, fordert W EIERSTRASS bis 1878 nicht bzw. erst 1886. • C ANTOR hingegen denkt die „Zahlgröße“ (i) als „Aggregat“ „rationaler“ Zahlen. (ii) Diese „rationalen“ Zahlen sind grundsätzlich in einer bestimmten Reihenfolge gegeben. C ANTOR denkt die „Zahlgröße“ grundsätzlich nach dem Muster der UNENDLICHEN Summe. (iii) C ANTOR lässt von vornherein nur „endliche“ „Zahlgrößen“ zu.
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872
S. 462
Ausschlaggebend hinzu kommt freilich ein Weiteres: C ANTORs Bereitschaft, das „aktuale“ Unendlich als Begriff der Mathematik zu akzeptieren.
D I E N E U S C H Ö P F U N G – VA R I A N T E 1 : C A N TO R U N D HEINE 1872 CANTOR: ZAHLGRÖSSEN IM WEITEREN SINNE Die Definition der „Zahlengröße im weiteren Sinne“ In Band 5 der Mathematischen Annalen erscheint im Jahr 1872 eine Abhandlung von C ANTOR unter dem Titel „Über die Ausdehnung eines Satzes aus der Theorie der trigonometrischen Reihen“. In dieser mit „8. November 1871“ datierten zehnseitigen Abhandlung wird das in ihrem Titel genannte Thema nur im letzten Drittel behandelt. Stattdessen beginnt die Abhandlung nach einer Übersicht wie folgt:341 „Die rationalen Zahlen bilden die Grundlage für die Feststellung des weiteren Begriffes der Zahlengröße; ich will sie das Gebiet A nennen (mit Einschluss der Null). ˜ Wenn ich von einer Zahlengröße im weiteren Sinne rede, so geschieht es zunächst in dem Falle, dass eine durch ein Gesetz gegebene [sic] unendliche Reihe von rationalen Zahlen a1 ,
a2 ,
... ,
an ,
... ,
(6.6)
vorliegt, welche die Beschaffenheit hat, dass die Differenz a n+m − a n mit wachsendem n unendlich klein wird, was auch die positive ganze Zahl m sei, oder mit anderen Worten, dass bei beliebig angenommenem (positiven, rationalen) ε eine ganze Zahl n 1 vorhanden ist, sodass |a n+m − a n | < ε,[342] wenn n = n 1 und wenn m eine beliebige positive ganze Zahl ist. Diese Beschaffenheit der Reihe [6.6] drücke ich in den Worten aus: »Die Reihe [6.6] hat eine bestimmte Grenze b.« Es haben also diese Worte zunächst keinen anderen Sinn als den eines Ausdruckes für jene Beschaffenheit der Reihe, und aus dem Umstande, dass wir mit der Reihe [6.6] ein besonderes Zeichen b verbinden, folgt, dass bei verschiedenen derartigen Reihen auch verschiedene Zeichen b, b 0 , b 00 , . . . zu bilden sind.“ (Cantor 1872, S. 92 f.)
S. 454
(1) Wenn wir nur aufs Formale schauen, sehen wir unmittelbar: W EIERSTRASS’ Zahlbegriff 6.1, betrachtet in der Weise 6.2, ist nichts anderes als C ANTORs neuer 341 342
Einen Ausschnitt dieses Zitats haben wir bereits analysiert: S. 385. Im Original stehen runde Klammern statt der vom Herausgeber Z ERMELO in den Abhandlungen gedruckten Betragsstriche; vgl. S. 385.
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Die Neuschöpfung – Variante 1: Cantor und Heine 1872 Zahlbegriff 6.6, bis hin zur Wortwahl – mit den auf S. 457 beschriebenen Umdeutungen. Sogar W EIERSTRASS’ Wort „Reihe“ wird von C ANTOR hier beibehalten – allerdings (oder: natürlich?) in der Komma-Notation, während in jenen Passagen dieser Abhandlung, in denen C ANTOR eindeutig von unendlichen „Reihen“ handelt, die Plus-Notation steht. (2) C ANTOR nimmt hier eine Eigenschaft einer „Reihe“ – nämlich deren „Konvergenz“, genauer: deren ‚KonvergenzBz‘ – zum Anlass, ein neues mathematisches S. 285 Objekt zu bilden. Dieses neue Objekt nennt er „Grenze“, und bezeichnet es durch „b“. (3) Was dieses neue Objekt ist, sagt C ANTOR nicht! (Wir heute neigen vielleicht zu der Deutung, das neue Objekt b sei eine „Gesamtheit“ ‚konvergenterBz ‘ Folgen – doch genaues Lesen zeigt: Das sagt C ANTOR hier keineswegs! Das Wort „Menge“ verwendet C ANTOR hier nicht!) (4) Was also tut C ANTOR hier? Dies: Aus der Eigenschaft „Die Reihe a 1 , a 2 , . . . ist ‚konvergentBz ‘.“ konstruiert er ein Objekt b (namens „Grenze“). Er sagt freilich nicht, was dieses neue Objekt b sei. C ANTOR transformiert die altbekannte Aussage: „Diese Folge (aus rationalen Zahlen) konvergiert.“ in die Aussage: „Zu dieser Folge gibt es eine Grenze.“ So erhält jede ‚konvergenteBz ‘ Folge (aus rationalen Zahlen) eine „Grenze“ . „Konvergent sein“ und eine „Grenze haben“ sind dasselbe. Einfach durch Definition. (Mit den hier eingeführten Begriffen: ‚konvergentBz ‘ und ‚konvergentCy ‘ sind – für rationale Zahlen – identisch.) (5) Schon L EIBNIZ hatte „Zahlen“ als „Relationen“ gedacht. C ANTOR tut das S. 80 auch, natürlich im Stil seiner Zeit (in der „Relation“ etwas sehr anderes geworden ist). Und welche Relation wählt C ANTOR? – Die Relation „konvergent“! C ANTOR macht die Relation „konvergent“ zur Grundlage des ‚analytischen‘ Zahlbegriffs. Kann es verwundern, dass dies – wenn es technisch funktioniert – erfolgreich ist? Drehen wir jetzt den Spieß um und fragen (nicht: als was, sondern): Wie sind C ANTORs neue Objekte b konstituiert? Die Antwort ist offenbar: als „Grenzen“. Da erinnern wir uns: Auch C AUCHY ist so vorgegangen. Auch für C AUCHY war S. 305 jede „Zahl“ als „Grenze“ gefasst. Natürlich war das bei C AUCHY eine ganz anderer Begriffsrahmen als jetzt ein halbes Jahrhundert später bei C ANTOR. Doch ‚analytisch‘: begrifflich ist es dasselbe!
Cantors Begriff „Folge“ Der spätere C ANTOR hat das Wort „Folge“ einmal in einem Brief vom 28. Juli 1899 an D E DEKIND definiert: „Eine Vielheit heißt wohlgeordnet, wenn sie die Bedingung erfüllt, dass jede Teilvielheit ein erstes Element hat; eine solche Vielheit nenne ich kurz eine »Folge«.“ (Zermelo 1966, S. 444)
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872
In seinen mathematischen Abhandlungen aber behielt C ANTOR das Wort „Reihe“ auch für den neuen mathematischen Gegenstand, den wir heute „Folge“ nennen, bei: „Ich komme nun zur dritten Definitionsform der reellen Zahlen. Auch hier wird eine unendliche Menge rationaler Zahlen (a ν ) von der ersten Mächtigkeit zugrunde gelegt, von ihr jedoch eine andere Beschaffenheit verlangt als bei der W EIERSTRASS’schen Definitionsform; ich fordre, dass nach Annahme einer beliebig kleinen rationalen Zahl ε eine endliche Anzahl von Gliedern [sic] der Menge [sic] abgeschieden werden kann, sodass die übrig bleibenden paarweise einen Unterschied haben, der seiner absoluten Größe nach kleiner ist als kleiner als. Jede derartige Menge (a ν ), welche auch durch die Forderung Lim (a ν+µ − a ν ) = 0 ν=∞
(bei beliebig gelassenem µ)
(6.7)
charakterisiert werden kann, nenne ich eine Fundamentalreihe und ordne ihr eine durch sie zu definierende Zahl b zu, für welche man sogar zweckmäßig das Zeichen (a ν ) selbst gebrauchen kann, wie dies von Herrn H EINE, der in diesen Fragen nach vielen mündlichen Erörterungen sich mir angeschlossen hatte, in Vorschlag gebracht worden ist. (Man vergleiche Crelles Journal Bd. 74 S. 172.)“ (Cantor 1883, S. 186) C ANTOR nennt also ausdrücklich eine „Menge“ rationaler Zahlen eine „(Fundamental-) Reihe“.
Anordnung Dass C ANTOR unter „Reihe“ das versteht, was wir heute als „Folge“ bezeichnen, wird klar, wenn er die Anordnung zweier solcher „Reihen“, der „Reihe“ 6.6 mit der „Grenze“ b und der „Reihe“ a 10 ,
a 20 ,
... ,
a n0 ,
... ,
(6.8)
mit der „Grenze“ b 0 , erklärt: Man findet, „dass die beiden Reihen [6.6] und [6.8] eine von den folgenden drei Beziehungen stets haben, die sich gegenseitig ausschließen: entweder 1. wird a n −a n0 unendlich klein mit wachsendem n oder 2. a n −a n0 bleibt von einem gewissen n an stets größer als eine positive (rationale) Größe ε oder 3. a n − a n0 bleibt von einem gewissen n an stets kleiner als eine negative (rationale) Größe −ε. Wenn die erste Beziehung stattfindet, setze ich b = b0 ,
(6.9)
bei der Zweiten b > b 0 , bei der Dritten b < b 0 .“ (Cantor 1872, S. 93) S. 464
Wichtig ist hier: Die so definierte „Gleichheit“ ist nicht Identität! (C ANTOR erwähnt das etwas später im Vorbeigehen.) Stattdessen ist diese „Gleichheit“: Identität „b“ is auf eine unendlich kleine Größe.
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Die Neuschöpfung – Variante 1: Cantor und Heine 1872 ¡ ¢ ¡ ¢ Beispiel: Die beiden „Grenzen“ von n1 und −1 n sind in C ANTOR s Sinne „gleich“ – obwohl die sie definierenden „Folgen“ b und b 0 verschieden sind. Es gilt für diese „Grenzen“ b = b 0 = 0, obwohl eine die Zahl 0 definierende „Folge“ (etwa: 0, 0, 0, . . . ) ein dritter Gegenstand ist, der sich von den beiden anderen (und zwar in jedem „Glied“) unterscheidet. Es hat daher seinen guten Sinn, dass C ANTOR die Gleichung „a 1 , a 2 , a 3 , . . . = b“ vermeidet.343 Seine Gleichung „b = b 0 “ ist das, was wir heute eine „Äquivalenzrelation“ nennen. Die Sache hatte vorher F REGE, aber C ANTOR wird sie nicht von ab S. 174 F REGE haben. C ANTOR nutzt hier die Tatsache, dass die Differenz zweier ‚konvergenterBz‘ „Folgen“ eine ‚konvergenteBz‘ „Folge“ ist. Er kann das aber nicht so formulieren, weil er das Rechnen mit seinen neuen „Zahlen“ noch nicht erklärt hat. Dies geschieht erst im direkten Anschluss: Die Rechenoperationen Zunächst fasst C ANTOR seine neu definierten „Zahlengrößen“ namens „Grenzen“ zu einer Menge zusammen: „Die Gesamtheit der Zahlengrößen b möge durch B bezeichnet werden.“ (Cantor 1872, S. 93) Hier wird also historisch erstmals die „Menge“ unserer heutigen „reellen“ Zahlen gebildet. In diesem neuen Bereich B sind die „Zahlengrößen“ nicht nur angeordnet, wie er bereits gezeigt hat, sondern man kann mit diesen neuen Objekten auch rechnen – und das eleganterweise ganz wie gewöhnlich: „Mittels obiger Festsetzungen lassen sich die Elementaroperationen, welche mit rationalen Zahlen vorgenommen werden, ausdehnen auf die beiden Gebiete A und B zusammengenommen. Sind nämlich b, b 0 , b 00 drei Zahlengrößen aus B , so dienen die Formeln b = b 00 , b ± b 0 = b 00 , bb 0 = b 00 , b0 als Ausdruck dafür, dass zwischen den den Zahlen b, b 0 , b 00 entspre343
Sie hätte die unerquickliche Konsequenz, dass möglicherweise b
=
a1 , a2 , a3 , . . .
6=
a 10 , a 20 , a 30 , . . .
b
=
b0
b0
=
und zugleich gelten.
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 chenden Reihen a1 , a2 ,
...
a 10 , a 100 ,
...
a 20 , a 200 ,
...
respektive die Beziehungen bestehen lim(a n ± a n0 − a n00 ) = 0 , lim(a n a n0 − a n00 ) = 0 , ¶ µ an 00 lim 0 − a n = 0 [für a n0 6= 0] , an
S. 458
wo ich auf die Bedeutung des lim-Zeichens nach dem Vorhergehenden nicht näher einzugehen brauche. “ (Cantor 1872, S. 94) Ähnliche Definitionen werden für die Fälle aufgestellt, dass von den drei Zahlen eine oder zwei dem Gebiete A angehören. (Wir erinnern uns: Das „Gebiet“ A sind alle rationalen Zahlen.) Wir sagen heute kurz: „Mit ‚konvergentenBz‘ Folgen kann man gliedweise rechnen (wobei die Division durch 0 natürlich auszuschließen ist).“ Damit ist klar, dass sich auch die üblichen Rechengesetze (Kommutativität, Assoziativität, Distributivität von Multiplikation und Addition) von den rationalen Zahlen (den „Gliedern“ der Folgen) auf die neuen Objekte (die Folgen) übertragen. Die neue Einheit aus Rechnen und Messen Dieser neue ‚analytische‘ Zahlbegriff ist also in beiderlei Hinsicht vielversprechend: 1. Er ist algebraisch elegant. Denn jede neue „Zahlengröße“ b rührt von einer Folge „rationaler“ Zahlen (mit den „Komponenten“ a k ); für diese „rationalen“ Zahlen a i aber gelten die bekannten Rechengesetze. Somit gelten diese Rechengesetze für die „rationalen“ Zahlen per definitionem auch für die „Grenzen“ b. Kurz: Qua Konstruktion hat die neue ‚analytische‘ Zahl b die Geltung der üblichen Rechengesetze in sich aufgenommen. 2. Er ist ein optimaler Messbegriff. Denn diese neue „Zahlengröße“ ist zugleich als eine „Maßzahl“ konzipiert: Die vorausgesetzte Eigenschaft der sie definierenden Zahlenfolge ist: ‚konvergentBz ‘ und also: „beliebig genau“. Aus „beliebig genau bestimmbar“ (für die definierende Folge der a i ) wird nun: „beliebig genau bestimmt“ (für die „Grenze“ b); wiederum per definitionem. Die gleich doppelte Akzeptanz des aktualen Unendlich in der Mathematik Einen Wermutstropfen freilich gibt es – genau gesprochen sind es deren sogar zwei: 1. Es handelt sich bei einer jeden dieser neuen „Zahlen“ b um eine unendliche Menge solcher „rationaler“ Zahlen: Jedes b ist ein „aktuales“ Unendlich; denn
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Die Neuschöpfung – Variante 1: Cantor und Heine 1872 es besteht aus den unendlich vielen „rationalen“ Zahlen a i und wird seinerseits als ein mathematischer Gegenstand behandelt: als Objekt, mit dem man rechnen kann. 2. Es wird die Gleichheit zweier solcher Zahlen (und also: zweier „aktual“ unend- S. 460, licher Objekte) von vornherein gesetzt. C ANTORs Gleichung Gl. 6.9 b = b0 bedeutet nichts anderes als: Es wird eine „aktual“ unendliche Menge aus diesen Zahlen „b“ gebildet (und also: aus selbst „aktual“ unendlichen Objekten). Die obige Gleichung setzt unendlich viele Gegenstände (jeder davon ein „aktuales“ Unendlich) als „gleich“. Dieses Gleich-Gesetzte ist eine (einzelne!) neue „reelle“ Zahl – mit der in der gewohnten Weise gerechnet werden kann. Und also ist auch dieses neu konstituierte Unendlich ein „aktuales“. Wo W EIERSTRASS sich sehr mit dem Gleichheitsbegriff für seine „Zahlgrößen“ abmühte und sie mittels „Transformationsregeln“ zu vergleichen suchte, steckt S. 408, 416 C ANTOR all jene „Zahlengrößen“, die denselben Grenzwert haben,344 von vornherein in einen gemeinsamen Sack: indem er sie identifiziert, also: als „gleich“ setzt. Dieser Sack (vornehm: „Menge“) ist ein „aktuales“ Unendlich zweiter Stufe. Wir erinnern uns: L EIBNIZ hat schon beim ersten Schritt gepasst. Er lehnte das S. 179–187 „aktuale“ Unendlich als „Zahl“ aufs Heftigste ab – also bereits den ersten Schritt C ANTORs, die Konstitution eines b aus den unendlich vielen „rationalen“ a i als einem mathematisch erlaubten Rechenobjekt. EINE HIERARCHIE NEUER ZAHLBEREICHE – DIE GLEICHHEIT C ANTOR hat aus dem „Gebiet“ A der rationalen Zahlen ein neues „Gebiet“ B erzeugt. (Den Namen „reelle“ Zahlen für das Gebiet B verwendet C ANTOR in dieser Abhandlung nicht.) Der dabei verwendete Konstruktionsprozess lässt sich natürlich iterieren: „Das Gebiet B ergab sich aus dem Gebiete A; es erzeugt nun in analoger Weise in Gemeinschaft mit dem Gebiete A ein neues Gebiet C . Liegt nämlich eine unendliche Reihe b1 ,
b2 ,
... ,
bn ,
...
von Zahlengrößen aus den Gebieten A und B vor, welche nicht sämtlich dem Gebiete A abgehören, und hat diese Reihe die Beschaffenheit, dass b n+m − b n mit wachsendem n unendlich klein wird, was auch m 344
Das ist von der Sache her gesagt, nicht innerhalb C ANTORs Theorie. Diese Theorie muss erst noch entwickelt werden, und damit steht C ANTOR noch ganz am Anfang: bei der Formierung der Zahlen und der Formulierung der Rechenregeln. Vom „Grenzwert“ ist da noch lange keine Rede. (Obwohl es natürlich trivial ist, wie dies zu definieren sein wird.)
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 sei, eine Beschaffenheit, die nach den vorangegangenen Definitionen begrifflich etwas ganz Bestimmtes ist, so sage ich von dieser Reihe aus, dass sie eine bestimmte Grenze c hat. Die Zahlengrößen c konstituieren das Gebiet C . Die Definitionen des Gleich-, Größer- und Kleinerseins, sowie der Elementaroperationen sowohl unter den Größen c, wie auch zwischen ihnen und den Größen der Gebiete B und A werden dem Früheren analog gegeben.“ (Cantor 1872, S. 94 f.) C ANTOR bildet hier also ‚konvergenteBz ‘ Folgen aus „Gliedern“ – von denen ihrerseits jedes selbst eine solche ‚konvergenteBz ‘ Folge ist. Ein „aktuales“ Unendlich aus „aktualen“ Unendlichen. Ein bisschen halsbrecherisch mutet das schon an. Glücklicherweise führt dieser zweite Iterationsschritt nicht zu einer weiteren Bereicherung des Zahlbegriffs: „Während sich nun die Gebiete B und A so zueinander verhalten, dass zwar jedes a einem b, nicht aber umgekehrt jedes b einem a gleichgesetzt werden kann, stellt es sich hier heraus, dass sowohl jedes b einem c, wie auch umgekehrt jedes c einem b gleichgesetzt werden kann.“ (Cantor 1872, S. 95) Wie sich dies „herausstellt“, sagt C ANTOR nicht. (Wir nennen heute B die „Vervollständigung“ von A, und dieser Name ist so gewählt, dass man damit den von C ANTOR beschriebenen Sachverhalt als natürlich empfindet: Das Attribut „vollständig“ lässt sich nicht sinnvoll steigern.) Auch wenn sich die „Gebiete“ B und C „gewissermaßen gegenseitig decken“, so sind sie dennoch nicht einander „gleich“: „Obgleich hierdurch die Gebiete C und B sich gewissermaßen gegenseitig decken, ist es bei der hier dargelegten Theorie (in welcher die Zahlengröße, zunächst an sich im Allgemeinen gegenstandlos, nur als Bestandteil von Sätzen erscheint, welchen dalleine Gegenständlichkeit zukommt, des Satzes z. B., dass die entsprechende Reihe die Zahlengröße zur Grenze hat) wesentlich, an dem begrifflichen Unterschiede der beiden Gebiete B und C festzuhalten, indem ja schon die Gleichsetzung zweier Zahlengrößen b, b 0 aus B ihre Identität nicht einschließt, sondern nur eine bestimmte Relation ausdrückt, welche zwischen den Reihen stattfindet, auf welche sie sich beziehen.“ (Cantor 1872, S. 95) Damit hat C ANTOR jedenfalls zwei Probleme seiner Konstruktion benannt: (i) Die neue „Zahlengröße“ ist „gegenstandlos“, d. h. es gibt keinen Gegenstand, auf welchen diese Bestimmung zutrifft; auch keinen mathematischen. Daher „erscheint“ die „Zahlengröße“ „nur als Bestandteil von Sätzen“. (ii) Durch jede Limesbildung kann ein neuer Gegenstand entstehen. Dieser neue Gegenstand mag eine „Entsprechung“ im Gebiet B haben, doch kann er dennoch
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Die Neuschöpfung – Variante 1: Cantor und Heine 1872 von ihm verschieden sein. Im ärgsten Fall gehört jedes Glied einer solchen Limesbildung einem eigenen solchen Zahlen-„Gebiet“ an, sodass eine Theorie unendlicher „Ordinalzahlen“ erforderlich scheint, um den Sachverhalt theoretisch korrekt einzufangen. (Im Jahr 1872 hat C ANTOR eine solche Theorie der unendlichen „Ordinalzahlen“ noch nicht entwickelt.) Als Konsequenz dieser letzteren Überlegung sieht man: Eine Bildung unendlicher Mengen „reeller“ Zahlen ist höchst problematisch. Eher nebenbei bringt C ANTOR hier die Gleichheit zur Sprache: „Gleichheit“ ist nicht (nur) „Identität“ – denn die ist immer „Gleichheit“ –, sondern eine allgemeinere Relation: „Die Gleichsetzung zweier Zahlengrößen b, b 0 aus B [schließt] ihre Identität nicht [ein], sondern [drückt] nur eine bestimmte Relation [aus], welche zwischen den Reihen stattfindet“. Diese „Relation“ entpuppt sich als nichts anderes als E ULERs „revera = 0“, wie wir gleich genauer bei H EINE sehen werden. S. 235 HEINES VERSUCH DER REDUKTION DER HIERARCHIE In der bereits mit ihrer Einleitung angeführten Abhandlung buchstabiert H EINE S. 452 diese C ANTOR’sche Begriffsbildung der „reellen“ Zahl im Detail aus. Was C ANTOR in seiner Abhandlung auf zwei Seiten (plus weiteren zwei Seiten zum Thema Irrationalitäten höherer als zweiter Ordnung) skizziert, entfaltet E DUARD H EINE auf sechs großen Druckseiten genauer.f Gleich in der Einleitung formuliert H EINE seinen philosophischen Standpunkt: „Ich stelle mich bei der Definition auf den rein formalen Standpunkt,∗ indem ich gewisse greifbare Zeichen Zahlen nenne, sodass die Existenz dieser Zahlen nicht in Frage steht.“ (Heine 1872, S. 173) Vielleicht gedenkt H EINE damit, C ANTORs Problem der „Gegenstandlosigkeit“ des neuen Zahlbegriffs zu lösen? Gleichheit von Zahlenreihen Was C ANTOR „Zahlengröße im weiteren Sinne“ nennt, heißt bei H EINE „Zahlenrei- S. 458 he“g . Die „Zahlenreihen“ mit der „Grenze“ 0 zeichnet er besonders aus:
„Definition [Elementarreihe]. Jede Zahlenreihe, in welcher die Zahlen a n , mit wachsendem Index n, unter jede angebbare Größe herabsinken, heißt Elementarreihe.“ (Heine 1872, S. 174) Was klassisch die „unendlich Kleinen“ hieß, nennt H EINE „Elementarreihen“ (wenn wir nur den formalen Aspekt nehmen und die ontologische Ebene außer Betracht lassen). ∗
f g
Auf die in dieser Einleitung mitgeteilte Art leite ich seit vielen Jahren meine Vorlesungen über algebraische Analysis ein. Heine 1872, S. 174–179 Heine 1872, S. 174
Cantor – Heine
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 Gerechnet wird bei H EINE ebenfalls komponentenweise. Dann folgt
„Definition [»gleich« für Zahlenreihen]. Zahlenreihen a1 , a2 , etc. und ˜ b 1 , b 2 , etc. heißen nur und immer gleich, wenn die Zahlenreihe a 1 −b 1 , a 2 − b 2 , etc. eine Elementare ist.“ (Heine 1872, S. 175) S. 460
S. 537, 576 f.
Wie schon bei C ANTOR sehen wir: „Gleichheit“ ist „Identität“ – ‚bis auf eine unendlich Kleine‘. Mit anderen Worten: (i) Die altehrwürdigen „unendlich kleinen“ Größen, auf die seit L EIBNIZ die Differenzial- und Integralrechnung gegründet wurde, werden jetzt gebändigt, und zwar in zwei Etappen: In einem ersten Schritt werden sie hier als „Elementarreihen“ definiert; und in einem zweiten Schritt werden diese „Elementarreihen“ dann als = 0 bewiesen – siehe sogleich den „1. Lehrsatz“ in H EINEs § 2. (ii) Dafür wird der Begriff „(reelle) Zahl“ unscharf : Verschiedene mathematische Gegenstände werden als eine einzige Zahl identifiziert. Die „allgemeineren“ Zahlen Zu jeder „Zahlenreihe“ formuliert H EINE eine „Forderung. Einer jeden Zahlenreihe ein Zeichen hinzuzufügen. Man führt als Zeichen die Reihe selbst ein, diese in eckige Parenthesen gesetzt, sodass z. B. das zur Reihe a, b, c, etc. gehörende Zeichen [a, b, c, etc.] ist.“ (Heine 1872, S. 176) Dazu gehören dann in § 2: „1. Definition [Zahlzeichen]. Allgemeinere Zahl oder Zahlzeichen heißt das zu einer Zahlenreihe gehörende Zeichen.
2. Definition [»gleich« für Zahlzeichen]. Zahlzeichen heißen gleich ˜ ˜ oder sind vertauschbar, wenn sie zu gleichen, ungleich oder nicht vertauschbar, wenn sie zu ungleichen Zahlenreihen gehören (§. 1, Def. 3).“ (Heine 1872, S. 176)
Aus der nahe liegenden
„Festsetzung. Das Zahlzeichen, welches zu einer Zahlenreihe gehört, die nur gleiche Glieder a enthält, sei die rationale Zahl a selbst.“ (Heine 1872, S. 176) lässt sich leicht Folgendes beweisen:
„1. Lehrsatz. Das Zeichen jeder Elementarreihe ist 0.“ (Heine 1872, S. 176) Denn zu der „Elementarreihe“ 0, 0, 0, . . . gehört wegen der vorigen Festsetzung das „Zeichen“ 0: [0, 0, 0, . . .] = 0 , und nach der Definition von „gleich“ für „Zahlenreihen“ sind alle „Elementarreihen“ einander „gleich“.
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Die Neuschöpfung – Variante 1: Cantor und Heine 1872 In § 4 gibt H EINE dann die folgende Definition mit dem kennzeichnenden Satz: „3. Definition [Grenze]. Ist A ein bestimmtes Zahlzeichen, und sinkt A−B n mit wachsendem n unter jedes angebbare Zahlzeichen, so heißt A die Grenze der B n .
2. Lehrsatz. Das Zahlzeichen A ist die Grenze der Glieder a der Reihe, zu welcher es gehört.“ (Heine 1872, S. 179) Damit ist jedes „Zahlzeichen“ definitionsgemäß eine „Grenze“. Wie schon bei C ANTOR bemerkt ist dies genau C AUCHYs Denkweise („Alles ist Grenze!“), jetzt in S. 362 ein System formaler Definitionen gegossen. Irrationalitäten höherer Ordnung Hinsichtlich der Hierarchie der Zahlengebiete vertritt H EINE jedoch einen anderen Standpunkt als C ANTOR. H EINE spricht von „Irrationalitäten m+2ter Ordnung“. Er formuliert und beweist – gegen C ANTOR – den
„Lehrsatz. Die Irrationalitäten m + 2ter Ordnung sind keine neuen, sondern stimmen mit denen erster Ordnung überein.“
Beweis. Es sei (m) (m) A (m+1) = [A (m) 1 , A2 , A3 , . . . ] .
Ferner mögen a 1 , a 2 , a 3 , etc. rationale Zahlen vorstellen, die respektive (m) (m) [345] unter A (m) und sich von diesen um weniger 1 , A 2 , A 3 etc. liegen, 1 1 als respektive 1, 2 , 3 , etc. unterscheiden. Heißt das zu a 1 , a 2 , a 3 , etc. gehörende Zeichen, welches also eine irrationale Zahl erster Ordnung ist, A, so wird A (m+1) − A das Zeichen einer Elementarreihe oder Null, d. h. es ist A (m+1) gleich A.“ (Heine 1872, S. 180.) Was heißt hier „Übereinstimmung“? Gewiss nicht: Identität! H EINE beweist, dass sich jeder „Elementarreihe“ (oder: „gegen 0 konvergenten Folge“) eines „Gebietes“ eine „Elementarreihe“ des zweiten Gebietes – bei C AN TOR : B – zuordnen lässt. Ist damit auch jener Fall erfasst, in dem unendlich viele „Irrationalitäten höherer Ordnung“ in Rede stehen, etwa bei einer Limesbildung: (3) (4) (5) [A (2) 1 , A2 , A3 , A4 , . . . ] ? 0(2) Jedes A (m+2) m+1 kann als ein A m+1 betrachtet werden: 0(2) 0(2) 0(2) [A 0(2) 1 , A2 , A3 , A4 , . . . ]
Doch nur, wenn man unbegrenzt viele solcher Zuordnungen vornehmen KANN, bestimmt diese „Elementarreihe“ eine „Irrationalität 3. Ordnung“ (der sich wieder 345
(m) D. h.: a 1 < A (m) 1 , a2 < A 2 , . . .
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 eine solche 2. Ordnung zuordnen lässt). Der durch die hervorgehobene Passage beschriebene Sachverhalt ist jedenfalls grundlagentheoretisch gewiss nicht unproblematisch. EINE ERSTE TOPOLOGISCHE FASSUNG DES „SATZES VON BOLZANO-WEIERSTRASS“ C ANTORs Abhandlung von 1872, aus der wir bereits ausgiebig zitiert haben, enthält sogar eine erste Fassung des „Satzes von Bolzano-Weierstraß“ in später „topologisch“ genannten Begriffen: „Unter einem »Grenzpunkt einer Punktmenge P « verstehe ich einen Punkt der Geraden von solcher Lage, dass in jeder Umgebung desselben unendlich viele Punkte aus P sich befinden, wobei es vorkommen kann, dass er außerdem selbst zu der Menge gehört. Unter »Umgebung eines Punktes« sei aber hier ein jedes Intervall verstanden, welches den Punkt in seinem Innern hat. Danach ist es leicht zu beweisen, dass eine aus einer unendlichen Anzahl von Punkten bestehende 〈»beschränkte«〉 Punktmenge stets zum wenigsten einen Grenzpunkt hat.“ (Cantor 1872, S. 98, Ergänzung vom Hg. Z ERMELO)
S. 294
Moore 2008, S. 223 nennt dies die „erste publizierte Fassung des Satzes von Bolzano-Weierstraß“ – und meint damit natürlich: „. . . in topologischen Begriffen“. In einer späteren Abhandlung stellt C ANTOR klar: „Der Satz, dass jede aus unendlich vielen Punkten bestehende in einem n-fach ausgedehnten stetigen und im Endlichen liegenden Gebiete verbreitete Punktmenge zum wenigsten einen Grenzpunkt besitzt, dürfte in dieser Allgemeinheit zuerst von C. W EIERSTRASS ausgesprochen, bewiesen und aufs Umfassendste in der Funktionentheorie verwertet worden sein.“ (Cantor 1882, S. 149) Die wichtige Neuerung ist: Jetzt darf der „Grenzpunkt“ selbst zur Menge gehören. Bislang war dies grundsätzlich ausgeschlossen, bislang war die „Grenze“ grundsätzlich nicht „Wert“ der sie annähernden „Veränderlichen“. FREGES KRITIK AN CANTORS UND HEINES BEGRIFFSBILDUNGEN In dem 1903 erschienenen zweiten Band seiner Grundgesetze der Arithmetik hat G OTTLOB F REGE die Lehren C ANTORs, H EINEs und W EIERSTRASS’ (und Anderer) von den „Irrationalzahlen“ einer detaillierten Kritik unterzogen. F REGEs Wortwahl ist bisweilen beißend scharf. Die wichtigsten Punkte dieser Kritik seien angesprochen.
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Freges Kritik an Cantors und Heines Begriffsbildungen LOGISCHE UNTERSCHEIDUNGEN Für F REGE sind „Zahlen“ Begriffe. Ein „Begriff“ ist von seinem „Namen“ zu unterscheiden, dieser wiederumh vom „Zeichen“ des „Namens“. Statt von „Zeichen“ spricht F REGE lieber von „Figuren, weil der Zweck, etwas zu bezeichnen, gar nicht in Betracht kommt.“i DER ONTOLOGISCHE ASPEKT: WAS ist„Z AHL“? „Reelle“ Zahl fasst F REGE ganz traditionell, wie bereits L EIBNIZ, als „Größenver- S. 81 hältnis“: „Wenn wir nun unter »Zahl« die Bedeutung eines Zahlzeichens verstehen, so ist reelle Zahl dasselbe wie Größenverhältnis.“ (Frege 1893/1903, Bd. 2, S. 85, § 73) C ANTOR und H EINE (wie auch W EIERSTRASS) legen ihren Konstruktionen die Gesamtheit der natürlichen Zahlen zugrunde, also „Kardinalzahlen“ im Sinne C AN TOR s und „Anzahlen“ im Sinne F REGE s. Deswegen konstatiert F REGE : „Da die Anzahlen nicht Verhältnisse sind, müssen wir sie von den positiven ganzen Zahlen unterscheiden. Darum ist es nicht möglich, das Gebiet der Anzahlen zu dem der reellen Zahlen zu erweitern; es sind eben ganz getrennte Gebiete. Die Anzahlen antworten auf die Frage »wie viele Gegenstände einer gewissen Art gibt es?« während die reellen Zahlen als Maßzahlen betrachtet werden können, die angeben, wie groß eine Größe verglichen mit der Einheitsgröße ist.“ (Frege 1893/1903, Bd. 2, S. 155, § 157) Somit betrachtet F REGE sämtliche neuen Konstruktionen des Begriffs „reelle“ Zahl als bereits von der Grundanlage her verfehlt. „Erst müssen wir die Größenverhältnisse, die reellen Zahlen kennen; dann können wir entdecken, wie wir mit den Fundamentalreihen die Verhältnisse bestimmen können. Seltsam ist es, dem Zuordnen der Zeichen b, b 0 , b 00 , . . . irgendeine schöpferische Kraft zuzutrauen∗ . Das Hereinziehen der Geometrie ist also dadurch entscheidend, dass man sich damit des Inhaltes bemächtigt, auf den hier alle Anstrengungen gerichtet sind. Dann aber liegt das Entscheidende in der Geometrie, und C ANTORs Theorie ist keineswegs eine rein arithmetische.“ (Frege 1893/1903, Bd. 2, S. 88, § 76) ∗
Für die sonderbare Auffassung der Zeichen und dessen, was sie zu leisten haben, bei vielen neueren Mathematikern ist die grundlegende Wichtigkeit kennzeichnend, die dieser Handlung beigelegt wird; man sollte sie mit besonderen Caerimonien umgeben!
h
Siehe Frege 1893/1903, Bd. 2, S. 105 f., § 98. Frege 1893/1903, Bd. 2, S. 107, § 100
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 F REGE unterlaufen hier zwei Fehler. (i) Zum einen verkennt er die Tatsache, dass der Maßaspekt konstitutionell (ein traditionelleres Wort dafür ist: wesentlich) im neuen Zahlbegriff verankert ist. Die definierende Eigenschaft „konvergent“ (pedantisch: ‚konvergentBz ‘) ist: „beliebig genau“. Genauer ist wohl kaum denkbar. (ii) Außerdem verkennt F REGE grundsätzlich die Tatsache, dass Mathematik eine Konstruktion aus Begriffen ist. Eine solche aber haben C ANTOR und H EINE unzweifelhaft geliefert; und zwar eine, die nicht nur funktioniert (damit hatte B OL ZANO s Konstruktion ihre Probleme), sondern die auch reichhaltig genug ist, um auf sie die Lehrsätze der Analysis streng zu gründen (damit hatten W EIERSTRASS’ Konstruktionen ihre Probleme, wie wir gesehen haben). F REGE unterscheidet „inhaltliche“ Arithmetik von „formaler“ Arithmetik: „Warum kann man von arithmetischen Gleichungen Anwendungen machen? Nur weil sie Gedanken ausdrücken. Wie könnten wir eine Gleichung anwenden, die nichts ausdrückte, nichts wäre als eine Figurengruppe, die nach gewissen Regeln in eine andere Figurengruppe umgewandelt werden könnte! Nun ist es die Anwendbarkeit allein, was die Arithmetik über das Spiel empor und zum Range einer Wissenschaft erhebt. Die Anwendbarkeit gehört also notwendig dazu. Ist es da nun wohlgetan, das von ihr auszuschließen, was die Arithmetik erst zu einer Wissenschaft macht?“ (Frege 1893/1903, Bd. 2, S. 100, § 91) Nur die „inhaltliche“ Arithmetik ist Wissenschaft, denn nur sie hat Bezug zur Wirklichkeit: ist anwendbar. WAS IST „GLEICHHEIT“? Unter „Gleichheit“ versteht der reife346 F REGE „Identität“: „Was das Gleichheitszeichen betrifft, so werden wir gut tun, bei unserer Festsetzung zu bleiben, wonach die Gleichheit völliges Zusammenfallen, Identität ist. 346
Anfangs war dies anders: „Ob man, wie L EIBNIZ »dasselbe« sagt oder »gleich«, ist unerheblich. »Dasselbe« scheint zwar eine vollkommene Übereinstimmung, »gleich« nur eine in dieser oder jener Hinsicht auszudrücken; man kann aber eine solche Redeweise annehmen, dass dieser Unterschied wegfällt, indem man z. B. statt »die Strecken sind in der Länge gleich« sagt »die Länge der Strecken ist gleich« oder »dieselbe« [. . . ] Und ˜ so haben wir das Wort oben in den Beispielen gebraucht. In der allgemeinen Ersetzbarkeit sind nun in der Tat alle Gesetze der Gleichheit enthalten.“ (Frege 1986, S. 73 f., § 65) Verschiedene Gleichheitsbegriffe erörtert auch E DMUND H USSERL (1859–1938) in seiner Philosophie der Arithmetik von 1891: Husserl 1970b, S. 104.
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Freges Kritik an Cantors und Heines Begriffsbildungen Freilich sind Körper von gleichem Volumen nicht identisch, aber sie haben dasselbe Volumen. Die Zeichen auf beiden Seiten des Gleichheitszeichens dürfen also in diesem Falle nicht als Zeichen für die Körper, sondern für deren Volumina genommen werden, oder auch für die Maßzahlen, die sich bei der Messung durch dieselbe Volumeneinheit ergeben. Wir werden nicht von gleichen Vektoren sprechen, sondern von einer gewissen Bestimmung – nennen wir sie »Richtungslänge« – an diesen Vektoren, die bei Verschiedenen dieselbe sein kann. Bei dieser Auffassung wird der Fortschritt der Wissenschaft nicht eine Ausdehnung der Bedeutung der Formel »a = b« erfordern, sondern es werden nur neue Bestimmungen (modi) an den Gegenständen der Betrachtung unterworfen werden.“ (Frege 1893/1903, Bd. 2, S. 71, Anmerkung) Und später nochmals: „Nach W EIERSTRASS ist Gleichheit nicht Identität, während die Natur der Sache Identität verlangt.“ (Frege 1893/1903, Bd. 2, S. 151, § 151) Damit ist klar, dass er C ANTORs und H EINEs Erklärungen der „Gleichheit“ bei „Zahlengrößen im weiteren Sinn“ bzw. „Zahlenreihen“ nichts Gutes wird abgewinnen können. Denn deren „gleich“ ist klarerweise keine Identität, sondern lässt auch „unendlich kleine“ Unterschiede als „gleich“ gelten: die „Elementarreihen“, die = 0 sind. FREGES KRITIK AM formalen ZAHLBEGRIFF Kritik an Cantor Aus dieser ontologischen Position F REGEs heraus sind die Konstruktionen von C ANTOR und H EINE natürlich rundheraus abzulehnen: „In C ANTORs Definition kommt nur die Fundamentalreihe und die Zahl b vor und diese ist das Zahlreihezeichen. Von einem Größenverhältnisse ist dabei gar nicht die Rede. Das Zahlreihezeichen bezeichnet eben die Fundamentalreihe und darf schon deshalb nicht auch ein Größenverhältnis bezeichnen; dann wäre es ja zweideutig.“ (Frege 1893/1903, Bd. 2, S. 85, § 73) C ANTORs Verteidigung, er habe niemals „die Zeichen b, b 0 , b 00 , . . . eigentliche konkrete Größen“j genannt; als „abstrakte Gedankendinge“ seien sie „nur Größen im uneigentlichen oder übertragenen Sinne des Wortes“j , erwidert F REGE mit der Sentenz: „Es gehört wirklich ein starker Glaube dazu, Zeichen, die etwa mit Kreide auf eine Tafel oder mit Tinte auf Papier geschrieben werden, j
Cantor 1889, S. 476
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 die man mit seinen leiblichen Augen sehen kann, für abstrakte Gedankendinge zu halten, solcher Glaube, welcher Berge versetzen und Irrationalzahlen schaffen kann. “ (Frege 1893/1903, Bd. 2, S. 86, § 74) F REGE will „zwischen physischen und logischen Gegenständen unterscheiden“k : „Solche logische Gegenstände sind unsere Anzahlen[347] ; und es ist wahrscheinlich, dass auch die übrigen Zahlen dazu gehören. Wenn nun C ANTOR unter dem Ausdruck »abstraktes Gedankending« das versteht, was wir logischen Gegenstand nennen, so scheint in der Sache gute Übereinstimmung zwischen uns zu bestehen. Nur schade, dass diese abstrakten Gegenstände in C ANTORs Erklärungen gar nicht vorkommen! [. . . ] Auch die Fundamentalreihen können nicht damit gemeint sein.“ (Frege 1893/1903, Bd. 2, S. 86, § 74) Allerdings lässt es F REGE an einer Begründung dieses letzten Satzes fehlen: Warum kann eine „Fundamentalreihe“ kein „abstrakter Gegenstand“ sein? Genau das war doch – wohlverstanden, denn natürlich wird C ANTOR nicht die „Zeichen b, b 0 , b 00 , . . . “ als „abstrakte Gedankendinge“ verteidigt haben wollen – C ANTORs Behauptung! F REGEs vergleichsweise wohlwollende Deutung von C ANTORs Konstruktion ist die Folgende: „Mit jeder Fundamentalreihe steht eine gewisse Zahl in Verbindung, die keine Rationale zu sein braucht. Diese Zahlen sind also zum Teil neue, bisher noch nicht Betrachtete, und sie sollen eben durch die Fundamentalreihen bestimmt werden, mit denen sie in Verbindung stehen. Das Zeichen »b« bezeichnet dann nicht die Fundamentalreihe, sondern die mit ihr verbundene Zahl. Diese ist dann also selbst kein Zeichen, sondern wohl das, was C ANTOR ein abstraktes Gedankending nennt.∗ “ (Frege 1893/1903, Bd. 2, S. 89, § 77) Dennoch wird diese Darlegung C ANTORs Auffassung keineswegs gerecht. C AN möchte sehr wohl mit „b“ das abstrakte Gedankending „unendliche Reihe rationaler Zahlen“ (a 1 , a 2 , a 3 , . . .), genannt „Zahlengröße im weiteren Sinne“, bezeichnen. Es hätte Klarheit gebracht, wenn C ANTOR seine „Grenzen“ b als „Menge“ (oder: als „(Allgemein-)Begriff“) gefasst hätte, doch ist dies nicht geschehen. TOR
∗
Dann wäre der oben angeführte Ausdruck C ANTORs, nach dem das Zeichen »b« selbst ein abstraktes Gedankending sein sollte, ungenau und wäre so zu verstehen, dass »b« ein solches Gedankending bezeichne. Solche Ungenauigkeiten scheinen sich großer Beliebtheit zu erfreuen, sind uns dadurch aber nicht annehmbarer.
k
Frege 1893/1903, Bd. 2, S. 86, § 74
347
Also das, was wir heute nach C ANTOR als „Kardinalzahlen“ bezeichnen.
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Freges Kritik an Cantors und Heines Begriffsbildungen Kritik an Heine An H EINE übt F REGE noch schärfere Kritik: „Das Eigentümliche der H EINE’schen Theorie ist nun gerade, dass für sie die Zeichen Alles sind [. . . ]“ (Frege 1893/1903, Bd. 2, S. 96, § 86) Freilich habe H EINE „diesen Grundgedanken nicht bis zu Ende [durchgeführt], sondern zuletzt [seine] Zeichen etwas bezeichnen lassen, nämlich jene Zahlenreihen oder Zahlenfolgen, die den C ANTOR’schen Fundamentalreihen entsprechen.“ (Frege 1893/1903, Bd. 2, S. 96, § 86) Und man dürfe wohl annehmen, „dass diese Fundamentalreihen aus abstrakten Gedankendingen bestehen, um mit C ANTOR zu reden“l . H EINEs Formulierung, er nenne gewisse greifbare Zeichen Zahlen, übergießt S. 465 F REGE mit Spott: „H EINE betont hier zweimal die Existenz, und mit Recht; denn wir haben gesehen, wie ungenügend gerade die Frage nach der Existenz von C ANTOR beantwortet ist. Deshalb also nennt H EINE gewisse Zeichen Zahlen, um damit die Existenz dieser Zahlen sicherzustellen, allerdings auf empirischem, nicht rein logischem oder arithmetischem Wege. [. . . ] Wir sehen, dass die Zahlzeichen hier eine ganz andere Wichtigkeit haben, als man ihnen vor dem Aufkommen der formalen Theorien zuerkannt hat. Sie sind nicht mehr äußere Hilfsmittel wie Tafel und Kreide; sondern sie bilden einen wesentlichen Bestandteil der Theorie selbst.“ (Frege 1893/1903, Bd. 2, S. 97, § 87) Sehr zu Recht macht F REGE hier auf einen wunden Punkt bei H EINE aufmerksam: H EINE hat kein Substrat für das, was seine „Zeichen“ bezeichnen sollen. Wenn sie aber nichts bezeichnen, wird man sie kaum „Zeichen“ nennen dürfen. Wenn sie nicht bezeichnen können, haben „Zeichen“ keine Bedeutung. C ANTOR löste dieses Problem durch seinen Mengenbegriff: Er setzte die „Menge“ der „Zahlengrößen im weiteren Sinne“ als neue mathematische Gegenstände. Großes Glück für C ANTOR, dass es seinen Nachfahren gelang, die „Mengenlehre“ als mathematische Theorie auszuformulieren. Freilich nur auf axiomatischem Weg. Ontologische Bilanz zu Cantor und Heine Im Ergebnis hinsichtlich des Wesens ihrer Zahlbegriffe unterscheidet F REGE scharfsinnig und zutreffend zwischen C ANTOR und H EINE: l
Frege 1893/1903, Bd. 2, S. 96, § 86
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 „Wir werden demnach wohl annehmen dürfen, dass C ANTOR auf dem Boden der inhaltlichen, H EINE [. . . ] dagegen auf dem Boden der formalen Arithmetik steh[t]. Der Unterschied ist tief einschneidend. Freilich wird ein künftiger Geschichtsschreiber vielleicht feststellen können, dass es auf beiden Seiten an der folgerechten Durchführung fehlt, wodurch der Gegensatz doch wieder etwas von seiner Schärfe verliert.“ (Frege 1893/1903, Bd. 2, S. 98, § 88)
S. 138
Realgeschichtlich blieb diese philosophische Kritik F REGEs folgenlos: C ANTORs und H EINEs Begriffsbildungen sind formal äquivalent. Mathematisch ist das ausschlaggebend. C ANTOR gelang es (vergleichsweise spät!), mit dem Begriff „Menge“ seiner Konstruktion eine begriffliche Grundlage zu unterschieben (die von anderen genauer ausformuliert wurde); bei H EINE ist dergleichen nicht zu sehen. Wegen dieser späten C ANTOR’schen Abstraktion (und der formalen Äquivalenz beider Theorien) kommt H EINE mit einem blauen Auge davon. WOHER UND WARUM HAT HEINE DEN BEGRIFF DER „ZAHL“ ALS „ZEICHEN“? Seinen Begriff der „Zahl“ als einem „Zeichen“ begründet H EINE in dieser Abhandlung nicht, sondern verwendet ihn als selbstverständlich. Er wird ihn also kaum erfunden haben. Angesichts der späteren Bedeutung dieses Begriffs wüsste man gerne den Urheber. H EINE nennt ihn nicht. Schaut man in die Runde von H EINEs Zeitgenossen und liest diese im gegenwärtig aktuellen postmodernen Eifer, könnte man etwa auf H ANKEL verfallen: „H ANKELs Lösungsvorschlag für dieses Problem [was die natürlichen Zahlen sind] besteht darin, das Verständnis von dem, was Zahl »ist«, grundlegend zu verändern. Zahlen sollen nicht mehr inhaltlich gedeutet, sondern als blo˜ ße Zeichen auf dem Papier verstanden werden und sonst nichts. Ihre Eigenschaften sind das Ergebnis willkürlicher Festlegungen und nicht Folgen eines ihnen vorgängig innewohnenden Sinns. Die Erweiterung von Zahlbereichen soll deshalb so erfolgen, dass im neuen Bereich die ursprünglichen Operationsregeln, das heißt die formalen Gesetze erhalten bleiben[.] “ (Tyradellis 2006, S. 64)
Wie oben bereits dargelegt spricht H ANKEL keineswegs von Zeichen „auf Papier“, die „sonst nichts“ sind. „Zeichen“ sind H ANKEL „Begriffe“ der „intellektuellen Mathematik“. Freilich hat weder H ANKEL noch H EINE die Idee, „Menge“ als mathematischen Anfangsbegriff zu konstituieren. Kein Autor ist vor Missdeutungen gefeit. Hat H EINE H ANKEL so gelesen wie T YRADELLIS? Oder hat H EINE schlicht so gedacht wie H ANKEL? S. 465, Wenn H EINE im Jahr 1872 „seit vielen Jahren“ schon seine Vorlesungen über AlgebraiAnm. ∗ sche Analysis so einleitet, dann wird der 1821 Geborene das 1867 erschienene Buch des 1839 Geborenen kaum dafür zum Anlass genommen haben. Klar auf der Hand jedoch liegt H EINEs Defizit: Er benötigt ein begriffliches Substrat für seinen Zahlbegriff, philosophisch gesprochen: eine Ontologie. H EINE muss sagen, was S. 448
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Freges Kritik an Cantors und Heines Begriffsbildungen
„Zahl“ ist. Da ihm dazu nichts eingefallen ist, muss er F REGEs Kritik ohne Gegenwehr einstecken.
FREGES ABLEHNUNG DER NEUEN RELATIONEN F REGEs Zurückweisung der neuen Gegenstandsdefinitionen von C ANTOR und H EI hat natürlich auch F REGEs Zurückweisung der von C ANTOR und H EINE neu festgesetzten Relationen zwischen diesen Gegenständen zur Folge. Das beginnt mit der Gleichheit und setzt sich bei den Rechen- und den Ordnungsrelationen fort. An C ANTORs Definition der Gleichheit zweier „Zahlengrößen im weiteren Sinn“ S. 460 kritisiert F REGE: NE
„Die Fundamentalreihe 1.42 , 1.412 , 1.4142 , . . . muss bei C ANTOR als etwas Bekanntes vorausgesetzt werden, ebenso die Zahl 2 und die Bedeutung des Wortes »gleich«. Ob also jene Fundamentalreihe gleich der Zahl 2 sei, kann nicht Gegenstand einer willkürlichen Festsetzung sein, sondern muss sich ergeben.“ (Frege 1893/1903, Bd. 2, S. 83, § 71) (Dem hätte C ANTOR wohl widersprochen: Die „Reihen“ 1.42 , 1.412 , 1.4142 , . . . und 2, 2, 2, . . . sind verschieden, sodass ihre Gleichheit in der Tat eine Festsetzung ist – vielleicht aber keine ganz willkürliche.) H EINEs zwei Festsetzungen der „Gleichheit“: (i) für „Zahlenreihen“, (ii) für „Zahlzeichen“ hält F REGE nicht auseinander. Vielmehr zitiert er den Wortlaut von (ii) S. 466 mit der Quellenangabe von (i)m , um dann zu kritisieren: „Mit den Worten »wenn sie zu gleichen Zahlenreihen gehören« wird als bekannt vorausgesetzt, was das Wort »gleich« bedeute, und dieses selbe Wort soll erklärt werden.“ (Frege 1893/1903, Bd. 2, S. 73, § 59) Bei korrekter Lektüre wäre diese Kritik nicht möglich: In der Tat definiert H EI NE zunächst „gleich (für Zahlenreihen)“ (i) und gründet darauf sein „gleich (für Zahlzeichen)“ (ii). An C ANTORs Definition der Rechenoperationen moniert F REGE, dort würden „die Wörter »Summe«, »Differenz«, »Produkt« durch sich selbst erklärt; sie sind also bisher nur unvollständig erklärt gewesen, ein Verstoß gegen unsern ersten Grundsatz.[348] In Wirklichkeit ist also hiermit gar nichts geleistet, sondern fälschlicherweise etwas als Definition hingestellt worden, was als Lehrsatz hätte bewiesen werden müssen.“ (Frege 1893/1903, Bd. 2, S. 91, § 79) m 348
Frege 1893/1903, Bd. 2, S. 72, § 59 Dieser wird sogleich genannt werden.
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 Worin besteht hier F REGEs Verständnisproblem? Warum versteht F REGE hier nicht, dass C ANTOR wie H EINE das Operieren mit ihren neu definierten Objekten („Zahlengröße im weiteren Sinn“ bzw. „Zahlenreihe“) auf das Operieren mit deren Bestandteilen (den „rationalen“ Zahlen) gründen, dass also die Relationen =R , Nε und für alle m ∈ N gilt: |a n+m − a n | < ε . Das analytisch Entscheidende ist: Diese (‚epsilontische‘) Bedingung ist ein (seit B OL und C AUCHY) bekannter und wichtiger Begriff der Analysis, und die C ANTOR/H EI NE ’sche Konstruktion bedient sich dieses wichtigen Begriffs zur KONSTRUKTION des Zahlbegriffs. Demzufolge erlaubt diese neue Konstruktion jetzt etwas, was zuvor unmöglich war: einen strengen Beweis der E XISTENZ einer Zahl zu führen. Jetzt – erst jetzt! – ist es möglich, im Zuge einer Beweisführung aus der Konstruktion einer (den gesuchten „Wert“ beliebig genau annähernden) Folge rationaler Zahlen x 1 , x 2 , x 3 , . . . die Existenz ihres „(Grenz-) Werts“ mathematisch glasklar zu erschließen – denn dieser ist einfach die Folge selbst: die Folge als Zahlgröße genommen, unter Verwendung von H EINEs Notation:349 ZANO
(x n )n∈N 7→ [(x n )n∈N ]
bzw.
lim x n = [(x n )] .
n→∞
(6.10)
Die „konvergente“ „Folge“ ist „Repräsentant“ jener „reellen“ Zahl, die ihr „Grenzwert“ ist. Jetzt ist es nicht mehr nötig, sich auf den Grundsatz zu berufen, wenn ein „Wert“ „beliebig genau bestimmbar“ sei, sei er „bestimmt“. Vor der C ANTOR/H EINE’schen Erfindung ihres Begriffs „reelle“ Zahl hatten die Mathematiker keine andere Möglichkeit, die Existenz eines „Wertes“ zu beweisen, als sich auf 349
C ANTOR hat ausdrücklich die Folge (für C ANTOR: „Reihe“) „Grenze“ genannt: siehe S. 458; und H EINE geht natürlich genau so vor: siehe Heine 1872, S. 185, 187, 188.
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872
S. 296 S. 305
diesen Grundsatz zu berufen. (Und sie haben es getan, angefangen spätestens bei B OLZA NO und C AUCHY .) Dabei mussten sie jedoch mit dem Problem leben, dass „beliebig genau bestimmbar“ und „genau bestimmt“ offenkundig keine identischen Begriffe sind. Mangels Alternative jedoch durften sie an dieser Stelle keine Haarspalterei betreiben, wenn sie überhaupt Existenzbeweise führen wollten – bis C ANTOR, H EINE und D EDEKIND mit ihren neuen Konstruktionen kamen. Jetzt – erst jetzt – sind die Begriffe „beliebig genau bestimmbar“ und „genau bestimmt“ identifiziert: der Erste ist eine „Reihe“ als „Reihe“ (also als „potenzielles“ Unendlich), der Zweite ist eine „Reihe“ (womöglich sogar dieselbe) als „Zahl“ (und dann also als „aktuales“ Unendlich). Für jede Mathematikerin und jeden Mathematiker, die und der nicht reine Logik betreiben, ist klar: Dieser immense Zugewinn an analytischer350 Argumentationsmöglichkeit wiegt schwerer als mathematikphilosophische Bauchschmerzen ontologischer Art: So wollen wir Analysis treiben, genauer: so – wie in 6.10 angegeben – wollen wir „rechnen“; eine Lösung der bestehenden ontologischen Probleme (was genau ist eine „Zahlengröße“ im weiteren Sinne?) überlassen wir dann lieber den Philosophen (oder den Logikern).
Cantor bekämpft das aktuale Unendlich als Attribut beim Zahlbegriff
ab S. 179 Kapitel 6 S. 462
S. 179–187
Mit der allgemeinen Anerkennung und Übernahme dieser C ANTOR’schen Position wendet sich die Mathematik nach drei Jahrhunderten von der L EIBNIZ’schen Position ab und ergreift Partei für (in dieser Hinsicht:) dessen Widerpart J OHANN B ERNOULLI. Freilich geschieht dies nur grundsätzlich – aber gerade nicht hinsichtlich des Zahlbegriffs! Wir haben gesehen, dass C ANTOR bei der Konstitution seines Zahlbgriffs dem mathematischen Denken einen revolutionären Schritt zumutete: Er formierte die „reelle“ Zahl als ein „aktuales“ Unendlich, und sogar als eines zweiter Stufe, als ein Unendliches aus „aktual“ unendlichen Bestandteilen. Daher ist es höchst bemerkenswert, dass C ANTOR zugleich dem „aktual“ Unendlichen auch ablehnend gegenüberstand. „Unendlich“ als Eigenschaft (Attribut) der Zahlen, wie dies J OHANN B ERNOULLI (und E ULER) wollten, lehnte C ANTOR nämlich ganz genauso ab wie einst L EIBNIZ. Im Jahr 1883 formulierte C ANTOR seine Überzeugung: „Dagegen müssten alle Versuche, dieses unendlich Kleine gewaltsam zu einem eigentlichen unendlich Kleinen zu machen, als zwecklos endlich [sic] aufgegeben werden. Wenn anders überhaupt eigentlich unendlich kleine Größen existieren, d. h. definierbar sind, so stehen sie sicherlich in keinem unmittelbaren Zusammenhange mit den gewöhnlichen, unendlich klein werdenden Größen.“ (Cantor 1883, S. 172) Fünf Jahre später lieferte C ANTOR einen „Beweis“o für seine Überzeugung. Aber was schon L EIBNIZ (gegen J OHANN B ERNOULLI) nicht gelungen war, gelang auch o 350
Cantor 1887/88, S. 407 f. Dieses Attribut hier zum Substantiv Analysis gebildet, nicht etwa im Sinne aktueller philosophischer Positionsbeschreibung.
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Die Neuschöpfung – Variante 2: Dedekind 1872 G EORG C ANTOR nicht: einen überzeugenden Beweis zu führen. Z ERMELO, der Herausgeber von C ANTORs Gesammelten Abhandlungen (und ein Begründer einer axiomatischen Mengenlehre) kommentierte C ANTORs Beweis so: „Die Nicht-Existenz »aktual unendlich kleiner Größen« lässt sich ebenso wenig beweisen, wie die Nicht-Existenz der C ANTOR’schen Transfiniten, und der Fehlschluss ist in beiden Fällen ganz der nämliche, indem den neuen Größen gewisse Eigenschaften der gewöhnlichen »endlichen« zugeschrieben werden, die ihnen nicht zukommen können. Es handelt sich hier um die sogenannten »nicht archimedischen« Zahlensysteme bzw. Körper, deren Existenz heute als einwandfrei nachgewiesen betrachtet werden kann.“ (Z ERMELO in Cantor 1887/88, S. 439) Die philosophische Inkonsistenz von C ANTORs Denken besteht also darin, das „aktuale“ Unendlich zwar zur Konstruktion seiner Zahlbegriffe zuzulassen, es nicht jedoch als ‚analytisches‘ Prädikat zu akzeptieren, das man „Zahlen“ zuschreiben dürfe. (In C ANTORs Denkwelt wäre das freilich auch ein „aktuales“ Unendlich dritter Stufe: als eine Eigenschaft von „aktual“ Unendlichen zweiter Stufe – die also ihrerseits aus „aktualen“ Unendlichs bestehen. Allerdings schreckte C ANTOR, wie wir S. 463 wissen, vor einer solchen Konstruktion keineswegs grundsätzlich zurück.) Die Ω-Analysis wird es sich da etwas leichter machen. Sie wird ihre Objekte, die „ΩZahlen“, nur als „aktuale“ Unendlichs erster Stufe bestimmen. Anders als C ANTOR (wir erinnern uns: seine Gleichung b = b 0 ) wird sie auf eine vorgängige Identifizierung ungleicher „Ω-Zahlen“ verzichten und jede als Individuum eigenen Rechts belassen. Folglich wird das Attribut „unendlich“ als Eigenschaft für „Ω-Zahlen“ in der Ω-Analysis nur ein „aktuales“ Unendlich zweiter Stufe sein. Dagegen hätte C ANTOR also gar nichts einwenden dürfen, doch wurde er mit dieser Frage nie konfrontiert . . .
D I E N E U S C H Ö P F U N G – VA R I A N T E 2 : D E D E K I N D 1 8 7 2 NOCHMALS CANTOR 1872: DER BEZUG ZUR GEOMETRIE In einem zweiten Paragrafen von einer knappen Seite Länge überträgt C ANTOR seinen soeben bestimmten Begriff „Zahlengröße“ in die Geometrie: „Die Punkte einer geraden Linie werden dadurch begrifflich bestimmt, dass man unter Zugrundelegung einer Maßeinheit ihre Abszissen d. h. ihre Entfernungen von einem festen Punkte o der geraden Linie mit dem + oder − Zeichen angibt, je nachdem der betreffende Punkt in dem (vorher fixierten) positiven oder negativen Teile der Linie von o aus liegt. Hat diese Entfernung zur Maßeinheit ein rationales Verhältnis, so wird sie durch eine Zahlengröße des Gebietes A ausgedrückt; im andern Falle ist es, wenn der Punkt etwa durch eine Konstruktion be-
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 kannt ist, immer möglich, eine Reihe a1 ,
a2 ,
...
an ,
...
(6.6)
anzugeben, welche die in § 1 ausgedrückte Beschaffenheit und zur fraglichen Entfernung eine solche Beziehung hat, dass die Punkte der Geraden, denen die Entfernungen a 1 , a 2 , . . . a n , . . . zukommen, dem zu bestimmenden Punkte mit wachsendem n unendlich nahe rücken. Dies drücken wir so aus, dass wir sagen: Die Entfernung des zu bestimmenden Punktes von dem Punkte o ist gleich b, wo b die der Reihe [6.6] entsprechende Zahlengröße ist. Hierauf wird nachgewiesen, dass das Größer-, Kleiner- und Gleichsein von bekannten Entfernungen in Übereinstimmung ist mit dem in § 1 definierten Größer-, Kleiner- und Gleichsein der entsprechenden Zahlengrößen, welche die Entfernungen angeben. Dass nun ebenso auch die Zahlengrößen der Gebiete C , D, . . . befähigt sind, bekannte Entfernungen zu bestimmen, ergibt sich ohne Schwierigkeit. Um aber den in diesem § dargelegten Zusammenhang der Gebiete der in § 1 definierten Zahlengrößen mit der Geometrie der geraden Linie vollständig zu machen, ist nur noch ein Axiom hinzuzufügen, welches einfach darin besteht, dass auch umgekehrt zu jeder Zahlengröße ein bestimmter Punkt der Geraden gehört, dessen Koordinate gleich ist jener Zahlengröße, und zwar in dem Sinne gleich, wie solches in diesem § erklärt wird.∗ Ich nenne diesen Satz ein Axiom, weil es in seiner Natur liegt, nicht allgemein beweisbar zu sein. Durch ihn wird denn auch nachträglich für die Zahlengrößen eine gewisse Gegenständlichkeit gewonnen, von welcher sie jedoch ganz unabhängig sind. Dem Obigen gemäß betrachte ich einen Punkt der Geraden als bestimmt, wenn seine Entfernung von o mit dem gehörigen Zeichen versehen, als Zahlengröße, Wert oder Grenze λter Art gegeben ist.“ (Cantor 1872, S. 96 f.) Mit diesem Rückgriff auf die Geometrie versucht C ANTOR wohl, der zuvor eingeS. 464, standenen „Gegenstandlosigkeit“ seines Zahlbegriffs abzuhelfen: Trägt man den Punkt i neuen Zahlbegriff in die Geometrie hinein, so gibt es dort (geometrische) Gegenstände, die ihm entsprechen. Allerdings offenbart dieser Rückgriff C ANTORs auf die Geometrie, dass er sich bei seiner Konstruktion des Zahlbegriffs eines Kunstgriffs bedient hat: Nur weil ∗
Es gehört also zu jeder Zahlengröße ein bestimmter Punkt, einem Punkte kommen aber unzählig viele gleiche Zahlengrößen als Koordinaten im obigen Sinne zu; denn es folgt, wie schon oben angedeutet wurde, aus rein logischen Gründen, dass gleichen Zahlengrößen nicht verschiedene Punkte entsprechen können und dass ungleichen Zahlengrößen als Koordinaten nicht ein und derselbe Punkt zukommen kann.
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Die Neuschöpfung – Variante 2: Dedekind 1872 (oder: wenn) all jene verschiedenen „Zahlengrößen“ als „gleich“ betrachtet werden, die sich um eine „Elementarreihe“ (traditionell: eine „unendlich kleine“ Größe) unterscheiden, sind sie „total geordnet“ (d. h.: je zwei von ihnen sind mittels < vergleichbar). Dies erst garantiert, dass sie zum „Geschäfte des Messens“ taugen bzw. – geometrisch gesprochen – als „Koordinaten“ der „Punkte“ einer „Geraden“ dienen können. Ohne diesen Kunstgriff gelänge diese vollkommene Analogie zwischen den „bestimmten Punkten“ einer „Geraden“ und den neuen „Zahlengrößen“ nicht. Gegenüber D ESCARTES kehrt C ANTOR die Perspektive um: Waren es bei D ESCAR- S. 17 TES die geometrischen Objekte (‚Streckenlängen‘), mit denen gerechnet wurde, so sind es bei C ANTOR die Rechenobjekte, die allein das geometrische Objekt konstituieren sollen: Es soll in dem geometrischen Objekt „gerade Linie“ allein noch jene „Punkte“ geben (C ANTOR sagt, sie sollten „bestimmt sein“ – sie ganz allein!), die vorgängig als Rechenobjekt gefasst worden waren. DIE ENTSTEHUNG DER SCHRIFT Am 20. März 1872 erhielt R ICHARD D EDEKIND (1831–1916) ein Exemplar von C AN TOR s Artikel,p und sechs Tage zuvor hatte er ein Exemplar der H EINE ’schen Abhandlung erhalten.q D EDEKIND beendete da gerade das Vorwort seiner Schrift Stetigkeit und irrationale Zahlen. Den sachlichen Kern dieser Schrift will D EDEKIND am 24. November 1858 konstruiert haben.q Er habe „das Ergebnis meines Nachdenkens“q am 30. November 1858r seinem Freund H EINRICH D URÈGE (1821–1893) mitgeteilt, später „wohl dem einen oder andern meiner Schüler“q , und schließlich habe er am 11. Januar 1864r „auch hier in Braunschweig in dem wissenschaftlichen Verein der Professoren einen Vortrag über diesen Gegenstand gehalten“q . „Aber zu einer eigentlichen Publikation konnte ich mich nicht recht entschließen, weil erstens die Darstellung nicht ganz leicht, und weil außerdem die Sache selbst so wenig fruchtbar ist.“ (Dedekind 1872, S. 10) Jedenfalls im Jahr 1870 trug sich D EDEKIND mit der Absicht, die Sache zu formulierens , doch erst das Erscheinen der H EINE’schen Abhandlung hat ihn dazu veranlasst: „Dem Wesen nach stimme ich zwar vollständig mit dem Inhalte dieser Schrift überein, wie es ja nicht anders sein kann, aber ich will freimütig gestehen, dass meine Darstellung mir der Form nach einfacher zu sein und den eigentlichen Kernpunkt präziser hervorzuheben scheint.“ (Dedekind 1872, S. 11) p s
Dedekind 1872, S. 11 q Dedekind 1872, S. 10 r D EDEKIND in Dugac 1976, S. 203. Laut einem Brief von A DOLF D AUBER vom 20.06.1871 in Dugac 1976, S. 194.
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 Diesen „eigentlichen Kernpunkt“ findet D EDEKIND in C ANTORs Abhandlung benannt: „Wie ich beim raschen Durchlesen finde, so stimmt das Axiom in §. 2 derselben, abgesehen von der äußeren Form der Einkleidung, vollständig mit dem überein, was ich unten in §. 3 als das Wesen der Stetigkeit bezeichne.“ (Dedekind 1872, S. 11)
S. 493
D EDEKIND will also die Sache weit früher als C ANTOR und H EINE gehabt haben, ist jedoch mit der Publikation als Letzter dran. Nach seinen Angaben hat er seinen Text innerhalb von sechs Tagen niedergeschrieben. Ein erster Entwurf des Textes wurde 1976 von D UGAC veröffentlicht.t Da dort zwar die H EINE’sche, nicht aber die C ANTOR’sche Abhandlung erwähnt ist, muss dieser Entwurf kurz nach dem 14. März verfasst worden sein. Er stimmt am Anfang in den wesentlichen Zügen mit der Endfassung überein, auch die Titel der ersten vier Paragrafen sind dieselben. Dann aber verliert sich der Entwurf in der Untersuchung der Addition und Subtraktion der neu konstruierten Objekte. Formulierung und Beweis des alles entscheidenden „Satzes IV.“ fehlen allerdings in diesem Entwurf. DEDEKINDS VORGEHEN: EINE ANALOGIE VON ARITHMETIK UND GEOMETRIE D EDEKIND studiert Eigenschaften, und zwar die Eigenschaften (i) des „Systems aller rationalen Zahlen“u – die er mitsamt „ihrer Arithmetik“ voraussetzt – sowie (ii) „die gegenseitigen Lagenbeziehungen zwischen den Punkten einer geraden Linie“v . Der „Zahlkörper“ der rationalen Zahlen Beim „Zahlkörper“u der rationalen Zahlen benennt D EDEKIND folgende drei Eigenschaften: I. Ist a > b und b > c, so ist a > c. b liegt zwischen a, c. II. Sind a, c verschieden, so gibt es unendlich viele verschiedene Zahlen b zwischen a, c. III. Zu a gibt es die „Klasse“ A 1 der Zahlen, die kleiner sind als a, und die „Klasse“ A 2 aus den Zahlen, die größer sind als a. Für eine solche Zerlegung von R in A 1 , A 2 gilt, dass jede Zahl aus A 1 kleiner ist als jede aus A 2 .w Die Punkte der geraden Linie Nachdem auf der geraden Linie eine der beiden einander entgegengesetzten Richtungen als „links“ ausgezeichnet ist, gelten für diese Punkte folgende Eigenschaften: I. Liegt p links von q und q links von r, so liegt p links von r ; q liegt zwischen p und r. t
Dugac 1976, S. 203–209
u
Dedekind 1872, S. 13 v Dedekind 1872, S. 14
w
Vgl. Dedekind 1872, S. 14.
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Die Neuschöpfung – Variante 2: Dedekind 1872 II. Sind p, r verschieden, so gibt es unendlich viele verschiedene Punkte q zwischen p, r. III. Zu p gibt es die „Klasse“ P 1 der Punkte, die links von p liegen, und die „Klasse“ P 2 der Punkte, zu denen p links liegt. Jeder Punkt p 1 aus P 1 liegt links von jedem Punkt p 2 von P 2 .x Ein einseitiger Zusammenhang „Diese Analogie zwischen den rationalen Zahlen und den Punkten einer Geraden wird bekanntlich zu einem wirklichen Zusammenhange“x , wenn auf der Geraden ein Punkt ausgezeichnet und eine bestimmte Längeneinheit als Maß gewählt wird. Dann „kann für jede rationale Zahl a eine entsprechende Länge konstruiert werden“x . So entspricht jeder rationalen Zahl, „jedem Individuum in R“x , genau ein Punkt der Geraden L. Die „Gesetze“y der beiden vorigen Abschnitte entsprechen einander. DIE „STETIGKEIT“ DER GERADEN LINIE „Von der größten Wichtigkeit“y ist nun, dass dann unendlich vielen Punkten der Geraden L keine „rationale“ Zahl „entspricht“. „Die Gerade L ist unendlich viel reicher an Punktindividuen, als das Gebiet R der rationalen Zahlen an Zahlindividuen.“ (Dedekind 1872, S. 16) Nun sei es ein „Wunsch“, diesen Mangel zu beheben: „Will man nun, was doch der Wunsch ist, alle Erscheinungen der Geraden auch arithmetisch verfolgen, so reichen dazu die rationalen Zahlen nicht aus, und es wird daher unumgänglich notwendig, das Instrument R, welches durch die Schöpfung der rationalen Zahlen konstruiert war, wesentlich zu verfeinern durch eine Schöpfung von neuen Zahlen der Art, dass das Gebiet der Zahlen dieselbe Vollständigkeit oder, wie wir gleich sagen wollen, dieselbe Stetigkeit gewinnt, wie die gerade Linie.“ (Dedekind 1872, S. 16) Mit der „Stetigkeit (der geraden Linie)“ greift D EDEKIND den Begriff „Stetigkeit (einer unabhängig Veränderlichen)“ auf. Meines Wissens hat das als Letzter vor ihm (und als Erster überhaupt) C HRISTIAN W OLFF getan. Zeitgleich zu D EDEKIND S. 147 hat auch H ANKEL diesen Terminus benutzt.351 A DOLF D AUBER hat ihn mit D EDE x 351
Vgl. Dedekind 1872, S. 15.
y
Dedekind 1872, S. 16
„Die von einer irrationalen Zahl geforderte Operation kann als möglich gedacht werden, wenn das System der gleichartigen Größen, mit dem wir operieren, ein stetiges ist.“ (Hankel 1867, S. 59) Den Namen „vollständig“ verwendet H ANKEL zur Bezeichnung der Abgeschlossenheit eines Zahlensystems hinsichtlich seiner Rechenoperationen (Hankel 1867, S. 45).
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 (kontrovers) diskutiert,z und jedenfalls zu späterer Zeit findet er sich auch bei W EIERSTRASS. Es handelt sich offenkundig um einen Anfangsbegriff der Analysis, nämlich um jene Eigenschaft der in aller Funktionenlehre der ‚Werte-Analysis‘ wichtigen „unabhängig“ Veränderlichen, an welche der Begriff der ‚WStetigkeit‘ (für „Funktionen“, also für „abhängig“ Veränderliche) anknüpft. Der klassische Name dafür ist: „Kontinuum“. KIND
S. 399
Die traditionelle Gegenposition: „Anschauung“ statt „Begriff“? Am 20. Juni 1871 schreibt A DOLF D AUBER in einem Brief an D EDEKIND folgende wunderbare Passage (deren Sätze nur leider zu lang geraten sind): „Der Differenzpunkt unserer Anschauungen, auf den du noch besonders hinweisest, bei der Auffassung des Irrationalen, liegt wohl eben da, wo alle andern liegen, in der Verschiedenheit des Ausgangs vom Begriff oder von der Anschauung. Ich behaupte nur die diskrete Natur der Zahlreihe, als des Systems der bestimmten Begriffe der Vielheit; als System der allgemeinen Begriffe der Vielheit ist sie gewiss stetig, wie einmal aus der daufe Seite 10 ausgesprochenen Bemerkung hervorgeht, dass die Zahlreihe das Bildungsgesetz von den anschaulichen Größen entlehn[t], und dann aus der daufe Seite 12 versuchten Genesis des unendlich Kleinen, die sich ja natürlich auf die Zahlreihe, die demselben Bildungsgesetze wie die anschaulichen Größen folgte, ebenso oft bezieht. Indess freilich ist diese Stetigkeit der Zahlreihe für dich das Ursprüngliche, für mich das Abgeleitete. Ich kann mich eben nicht davon überzeugen, dass der menschliche Geist imstande wäre, durch den Begriff alle die charakteristischen Eigentümlichkeiten der anschaulichen Größen zu erschöpfen oder gar selbst zu produzieren, denn abgesehen von andern Gründen, die mir die Denkttätigkeit als eine verhältnismäßig untergeordnete Erscheinung in der realen Welt erscheinen lassen, kann ich die Denkakte nicht anders denn als diskrete Verflusspunkte des Bewusstseins in der anschaulich gegebenen Zeitform auffassen und finde in mir nur die allgemeine Möglichkeit, jeden beliebigen Punkt der Zeit, nicht aber die Fähigkeit, ihre Form stetig mit Bewusstsein zu besetzen, wodurch auch die Begriffe selbst, als Produkte der geistigen Tätigkeit, nur in abstracto, nicht in concreto, also speziell die Zahlreihe als bloße Form der Begriffe der Vielheit, nicht aber als System der bestimmten Begriffe der Vielheit, an der Stetigkeit teilzuhaben scheinen. Eine solche Stetigkeit beruht aber nicht auf dem Begriffe, sondern auf der Anschauung. Zwiespalt in den Ansichten muss sein, denn sonst wäre es ja langweilig in der Welt; dass aber gerade zwischen uns ein so tief schneidender Zwiespalt sein musste, bedauere ich umso mehr, da ich dadurch um die Hoffnung betrogen wurde von dir eingehende Bemerkungen sachlicher Natur über meine Arbeit zu erhalten.“ (Dugac 1976, S. 193) z
Siehe sogleich.
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Was bei H ANKEL noch etwas verschwurbelt daherkam, wird hier von D AUBER auf seinen S. 675 Begriff gebracht: Lässt sich die „Anschauung“ der „stetigen“ (oder, mehr traditionell: der „extensiven“) Größe begrifflich fassen – ja oder nein? D AUBER ist vom Nein überzeugt und weiß (im Juni 1871!) von D EDEKIND, dass dieser hierzu Ja sagt. Durch die Kritik der reinen Vernunft von I MMANUEL K ANT und deren zweite Auflage vom Jahr 1787 war folgende Bestimmung des Begriffs „Anschauung“ kanonisiert worden: „Diejenige Vorstellung, die vor allem Denken gegeben sein kann, heißt Anschauung. Also hat alles Mannigfaltige der Anschauung eine notwendige Beziehung auf das: Ich denke, in demselben Subjekt, darin dieses Mannigfaltige angetroffen wird. Diese Vorstellung aber ist ein Actus der Spontaneität, d. i. sie kann nicht als zur Sinnlichkeit gehörig angesehen werden. Ich nenne sie die reine Apperzeption, um sie von der empirischen zu unterscheiden, oder auch die ursprüngliche Apperzeption, weil sie dasjenige Selbstbewusstsein ist, was, indem es die Vorstellung Ich denke hervorbringt, die alle anderen muss begleiten können, und in allem Bewusstsein ein und dasselbe ist, von keiner begleitet werden kann. Ich nenne auch die Einheit derselben die transzendentale Einheit des Selbstbewusstseins, um die Möglichkeit der Erkenntnis a priori aus ihr zu bezeichnen.“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 132; S. 175 f.) Von L EIBNIZ bis (C ANTOR/H EINE einerseits und jetzt:) D EDEKIND war die „stetige“ unabhängig Veränderliche (oder eben: das „Kontinuum“) ein zentraler, grundlegender Begriff der Differenzial- und Integralrechnung – so grundlegend, dass ihn jetzt, nach fast zweihundert Jahren, H ANKEL wie D AUBER (und sicher nicht diese allein) für einen „apriorischen“ Begriff: für undefinierbar halten – mit K ANT zu sprechen: für eine „Vorstellung vor allem Denken“, eine „Anschauung“. In einer inzwischen berühmten Passage kontrastiert K ANT die philosophische und die mathematische Behandlung des Kontinuums: Die philosophische „hält sich bloß an allgemeinen Begriffen, diese [d. i. die mathematische] kann mit dem bloßen Begriffe nichts ausrichten, sondern eilt sogleich zur Anschauung, in welcher sie den Begriff in concreto betrachtet, aber doch nicht empirisch, sondern bloß in einer solchen, die sie a priori darstellet, d. i. konstruieret hat, und in welcher dasjenige, was aus den allgemeinen Bedingungen der Konstruktion folgt, auch von dem Objekte des konstruierten Begriffs allgemein gelten muss.“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 715 f, B 743 f.; S. 734 f.) K ANT sagt hier: Die Mathematik kann mit dem Begriff „Kontinuum“ „nichts ausrichten“, „sondern eilt gleich zur Anschauung“. Nur als „Anschauung“ also ist der Mathematik das „Kontinuum“ gegeben: „a priori“. So sieht es auch D AUBER, und er benennt wunderbar klar die Wurzel der Sache: Er kann „sich nicht davon überzeugen, dass der menschliche Geist imstande“ sei, „durch den Begriff“ die „charakteristischen Eigentümlichkeiten der anschaulichen Größen“ „selbst zu produzieren“. Genau dies getan zu haben, behaupten jedoch C ANTOR/H EINE und D EDEKIND im Jahr 1872: den Begriff „Stetigkeit“ einer unabhängig veränderlichen Größe begrifflich gefasst zu haben.
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872
Der lokalen Vollständigkeit halber seien noch D AUBERs Definitionen vorgestellt: „1. Alles, was als aus gleichartigen Teilen zusammengesetzt vorgestellt wird, heißt Größe. Die Wissenschaft von den Größen ist die Mathematik. 2. Anschaulich in Raum und Zeit aufgefasst oder in der Anschauung nachkonstruiert, heißen die Größen stetig, in denkender Nachbildung des Konstruktionsakts begrifflich gefasst, unstetig. Jene, vorzugsweise die Raumgrößen, bilden den Gegenstand der Geometrie, diese, die Zahlengrößen, den der Arithmetik. 3. Die stetigen oder kontinuierlichen Größen stellen sich als ausgedehnt und stetig, an sich ohne Teile, oder, falls willkürlich geteilt, mit lückenlos zusammenschließenden Teilen dar, die unstetigen oder diskreten Größen als zusammenhanglose Mannigfaltigkeiten, nicht in der Anschauung, sondern nur in Gedanken als Ganze gefasst, daher unausgedehnt und an sich aus Teilen bestehend, die durch unausfüllbare Lücken voneinander getrennt sind.“ (Dauber 1882, S. 1) Dass die „Rationalzahlen“ als eine doch sicher „diskrete“ Größe „Lücken“ haben, ist eine unrettbar falsche Formulierung (denn sie liegen „dicht“: zu je zweien gibt es weitere dazwischen) – und dass diese „Lücken“ der „Rationalzahlen“ „nicht ausfüllbar“ seien, war ein paar Jahre zuvor352 durch D EDEKIND (und C ANTOR und H EINE) widerlegt worden. D AUBERs Fehler besteht darin, die „diskreten“ Größen als „Teile“ der „Mannigfaltigkeit“ zu verstehen – denn „Teil“ ist nur etwas, das dem „Ganzen“ wesensgleich („homogen“) ist. Doch in aller Klarheit formuliert D AUBER hier nochmals den krassen Gegensatz zwischen den „in Gedanken gefassten“ „diskreten“ Größen und den – nach seiner Auffassung: nur! – „anschaulich gefassten“ (oder „in der Anschauung nachkonstruierten“) „stetigen“ Größen. Ein Gegensatz, der durch die schließliche Akzeptanz des von C ANTOR, H EINE und D EDEKIND konstruierten Begriffs der „reellen“ Zahlen als überwunden gilt; jedenfalls der Mainstream-Mathematik. Im zwanzigsten Jahrhundert wird L UITZEN E GBERTUS J AN B ROWER (1881–1966) mit Vehemenz die Berechtigung dieser Begriffsbildung bekämpfen.353 Doch jetzt zurück zu D EDEKIND.
Welche Konstruktionsmethoden sind zulässig? Nach D EDEKINDs Verständnis sind die „irrationalen“ Zahlen bislang nur in einer nicht zulässigen Weise eingeführt worden, nämlich mittels des Begriffs der „extensiven Größen – welcher aber selbst nirgends streng definiert wird“a , sondern eben: anschaulich. D EDEKIND wendet sich gegen eine solche Vorgehensweise: a
Dedekind 1872, S. 17
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D AUBERs Text trägt die Unterzeile: „Abdruck der Beigabe zum Programm 1875“ (Dauber 1882, S. 1). 353 Da dieser sehr vehement begonnene Widerstreit aufs Ganze gesehen dann doch wenig Resonanz in der mathematischen Welt fand (auch wenn es noch heute einige wenige Nachfolger in dieser Tradition gibt), kann dieses Scharmützel in diesem Buch keinen Niederschlag finden (siehe noch S. 670). Zuerst einmal müssen die Hauptkampflinien klargelegt werden.
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Die Neuschöpfung – Variante 2: Dedekind 1872 „Stattdessen fordere ich, dass die Arithmetik sich aus sich selbst heraus entwickeln soll.“ (Dedekind 1872, S. 17) Lassen wir die falsche Objektivierung beiseite, eine Lehre entwickele sich „aus sich selbst heraus“, so sehen wir hier bei D EDEKIND dasselbe Streben nach fachlicher Methodenreinheit, wie wir es zuvor bei B OLZANO gefunden haben. D EDE - S. 277 KIND fordert mit Nachdruck: „So wie die negativen und gebrochenen rationalen Zahlen durch eine freie Schöpfung hergestellt, und wie die Gesetze der Rechnungen mit diesen Zahlen auf die Gesetze der Rechnungen mit ganzen positiven Zahlen zurückgeführt werden müssen und können, ebenso hat man dahin zu streben, dass auch die irrationalen Zahlen durch die rationalen Zahlen allein vollständig definiert werden. Nur das Wie? bleibt die Frage.“ (Dedekind 1872, S. 17) Das Wesen der „Stetigkeit (der unabhängig Veränderlichen)“ D EDEKIND fragt mit großem Nachdruck: „Worin besteht denn nun eigentlich diese Stetigkeit? In der Beantwortung dieser Frage muss alles enthalten sein, und nur durch sie wird man eine wissenschaftliche Grundlage für die Untersuchung aller stetigen Gebiete gewinnen. Mit vagen Reden über den ununterbrochenen Zusammenhang in den kleinsten Teilen ist natürlich nichts erreicht; es kommt darauf an, ein präzises Merkmal der Stetigkeit anzugeben, welches als Basis für wirkliche Deduktionen gebraucht werden kann.“ (Dedekind 1872, S. 17 f.) Damit hat D EDEKIND klar die bisherige Kennzeichnung des Kontinuums in Misskredit gebracht354 und das Ziel seiner Begriffsbildung benannt: Sie muss als „Basis für wirkliche Deduktionen“ taugen. „Wirkliche Deduktionen“ sind natürlich jene, die gerade aktuell sind – was sonst? Nun also D EDEKINDs Antwort auf die Frage nach dem „Wesen der Stetigkeit (der unabhängig Veränderlichen)“:
Axiom (Prinzip der Stetigkeit). „Ich finde nun das Wesen der Stetigkeit in der Umkehrung, also in dem folgenden Prinzip: »Zerfallen alle Punkte der Geraden in zwei Klassen von der Art, dass jeder Punkt der ersten Klasse links von jedem Punkte der zweiten Klasse liegt, so existiert ein und nur ein Punkt, welcher diese Einteilung aller Punkte in zwei Klassen, diese Zerschneidung der Geraden in zwei Stücke hervorbringt.«“ (Dedekind 1872, S. 18) 354
Zunächst freilich wird diese Diskreditierung des klassischen Kontinuumsbegriffs ignoriert, etwa von Harnack 1881 (siehe S. 590) und sogar noch eine Generation später von F ELIX K LEIN (siehe S. 629).
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 D EDEKIND glaubt, die Reaktion seiner Leserschaft auf diese „Antwort“ zu ahnen: „Die meisten meiner Leser werden sehr enttäuscht sein zu vernehmen, dass durch diese Trivialität das Geheimnis der Stetigkeit enthüllt sein soll. Dazu bemerke ich Folgendes. Es ist mir sehr lieb, wenn jedermann das obige Prinzip so einleuchtend findet und so übereinstimmend mit seinen Vorstellungen von einer Linie; denn ich bin außerstande, irgendeinen Beweis für seine Richtigkeit beizubringen, und niemand ist dazu imstande. Die Annahme dieser Eigenschaft der Linie ist nichts als ein Axiom, durch welches wir erst der Linie ihre Stetigkeit zuerkennen, durch welches wir die Stetigkeit in die Linie hineindenken. Hat überhaupt der Raum eine reale Existenz, so braucht er doch nicht notwendig stetig zu sein; unzählige seiner Eigenschaften würden dieselben bleiben, wenn er auch unstetig wäre. Und wüssten wir gewiss, dass der Raum unstetig wäre, so könnte uns doch wiederdume nichts hindern, falls es uns beliebte, ihn durch Ausfüllung seiner Lücken in Gedanken zu einem stetigen zu machen; diese Ausfüllung würde aber in einer Schöpfung von neuen Punktindividuen bestehen und dem obigen Prinzip gemäß auszuführen sein.“ (Dedekind 1872, S. 18 f.) D EDEKIND betont hier die schöpferische Freiheit des Mathematikers. Es handele sich um eine begriffliche Schöpfung. Sie sei ganz unabhängig von den natürlichen Gegebenheiten. Dies macht aber sofort auch klar, dass anstelle des D EDEKIND’schen Vorschlags – nämlich: zu jedem „Schnitt“ (dieser Begriff wird sogleich definiert) genau eine neue Zahl zu definieren – auch andere möglich sind! Ob D EDEKIND diesen Freiheitsspielraum betont? Schließlich sei das Augenmerk auf D EDEKINDs Wortwahl gelenkt: D EDEKIND spricht von der („in Gedanken“ erfolgten) „Ausfüllung“ der „Lücken“. „Ausfüllung“ also, nicht „Auffüllung“ oder „Einengung“ oder dergleichen. „Ausfüllung“ aber heißt: Danach ist Schluss, mehr geht nicht: alles ist planiert. Das ist natürlich eine starke Botschaft. Diese starke Botschaft hat späteren Konstruktionen – die auch in den „reellen“ Zahlen bestehenden „Lücken“ weiter aufzufüllen (namentlich den Nichtstandard-Analytikern) – die Anerkennung sehr erschwert. DIE SCHÖPFUNG DER IRRATIONALEN Z AHLEN Die Definition des „Schnittes“ S. 482
Unter Rückgriff auf die Eigenschaft (III.) der rationalen Zahlen formuliert D EDE KIND nun seine berühmte Definition im „System R“ der rationalen Zahlen:
Definition (Schnitt). „Ist nun irgendeine Einteilung des Systems R in zwei Klassen A 1 , A 2 gegeben, welche nur die charakteristische Eigen-
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Die Neuschöpfung – Variante 2: Dedekind 1872 schaft besitzt, dass jede Zahl a 1 in A 1 kleiner ist, als jede Zahl a 2 in A 2 , so wollen wir der Kürze halber eine solche Einteilung einen Schnitt nennen und mit (A 1 , A 2 ) bezeichnen. Wir können dann sagen, dass jede rationale Zahl a einen Schnitt oder eigentlich zwei Schnitte hervorbringt, welche wir aber nicht als wesentlich verschieden ansehen wollen; dieser Schnitt hat außerdem die Eigenschaft, dass entweder unter den Zahlen der ersten Klasse eine Größte, oder unter den Zahlen der zweiten Klasse eine Kleinste existiert. Und umgekehrt, besitzt ein Schnitt auch diese Eigenschaft, so wird er durch diese größte oder kleinste rationale Zahl hervorgebracht.“ (Dedekind 1872, S. 19) D EDEKINDs Idee ist es also – um es mittels des Begriffs „Menge“ zu beschreiben –, einen „Schnitt“ aus einer Paarmenge (A 1 , A 2 ) aus jeweils „rationalen“ Zahlen zu konstruieren, wobei die Eigenschaft a 1 < a 2 für jedes a 1 in A 1 und für jedes a 2 in A 2 gilt (was wir heutzutage unter leichtem Missbrauch der Notation, aber gut verständlich auch als „A 1 < A 2 “ notieren). Die Existenz nicht rationaler Zahlen Nun zeigt D EDEKIND, dass sein Axiom für „wirkliche Deduktionen“ taugt (ich verknappe D EDEKINDs epische Formulierung des Beweises etwas, führe jedoch die Rechnungen aus): „Aber man überzeugt sich leicht, dass auch unendlich viele Schnitte existieren, welche nicht durch rationale Zahlen hervorgebracht werden. Das nächstliegende Beispiel ist Folgendes.“ Sei D eine positive ganze Zahl, nicht Quadrat einer ganzen Zahl. Dann gibt es eine positive ganze Zahl λ von der Art, dass λ2 < D < (λ + 1)2 . In A 2 nehme man jede positive rationale Zahl a 2 auf, deren Quadrat > D ist, in A 1 alle anderen rationalen Zahlen. (A 1 , A 2 ) ist ein Schnitt, der durch keine rationale Zahl hervorgebracht wird: Andern2 falls gäbe es zwei positive ganze Zahlen t , u mit D = ut 2 bzw. t 2 −Du 2 = 0, und u könnte minimal mit dieser Eigenschaft gewählt werden. Dann gäbe es ein λ mit λu < t < (λ + 1)u und also u 0 := t − λu positiv, ganz 2 und < u. Ebenso folgte aus λ < ut < (λ+1) auch λt < tu < Du < (λ+1)t , also t 0 := Du − λt positiv, ganz. Damit aber: t 02 − Du 02 = D 2 u 2 − 2Dλut + λ2 t 2 − D t 2 + 2Dλut − Dλ2 u 2 = λ2 (t 2 − Du 2 ) − D(t 2 − Du 2 ) = (λ2 − D)(t 2 − Du 2 ) = 0 im Widerspruch zur Annahme über u. Also ist das Quadrat jeder rationalen Zahl x entweder < D oder > D.
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 Seien nun A 1 die Klasse aller Zahlen x, deren Quadrat < D, sowie A 2 die Klasse aller Zahlen x, deren Quadrat > D ist. Dann gibt es weder in A 1 eine größte noch in A 2 eine kleinste Zahl: Mit y :=
x(x 2 + 3D) 3x 2 + D
(6.11)
erhält man y −x =
x 3 + 3D x − 3x 3 − D x 2x(D − x 2 ) = 3x 2 + D 3x 2 + D
sowie x 2 (x 4 + 6D x 2 + 9D 2 ) − D(9x 4 + 6D x 2 + D 2 ) (3x 2 + D)2 x 6 − 3D x 4 + 3D 2 x 2 − D 3 (x 2 − D)3 = = . (3x 2 + D)2 (3x 2 + D)2
y2 − D =
Dies zeigt: Falls x > 0 in A 1 , so ist x 2 < D und also y > x und y 2 < D, d. h. auch y gehört zu A 1 ; falls aber x in A 2 , so ist x 2 > D und also y < x sowie y 2 > D, d. h. auch y gehört zu A 2 . Somit wird (A 1 , A 2 ) durch keine rationale Zahl hervorgebracht. (Vgl. Dedekind 1872, S. 20.) Mit anderen Worten: Die Vorschrift 6.11 definiert ein Näherungsverfahren für D, das mit jedem Schritt eine bessere rationale Näherung < D ergibt. – Damit hat D EDEKIND auf arithmetischem Weg gezeigt, dass eine Nicht-Quadratzahl D keine rationale Wurzel hat. (1) D EDEKIND beschränkt sich gänzlich auf die Arithmetik der Rationalzahlen, selbst beim Existenzbeweis für seine Irrationalzahlen. (2) Der Existenzbeweis ist indirekt, die (hier nicht wiedergegebenen) Beweise für das Fehlen der Extrema in A 1 und A 2 sind nicht ganz nahe liegend. Die Definition der „irrationalen“ Zahlen Nach diesem Existenzbeweis für „Schnitte“ (A 1 , A 2 ), bei denen A 1 kein Maximum und zugleich A 2 kein Minimum haben, kann D EDEKIND folgende Definition geben und weiß schon, dass der beschriebene Sachverhalt tatsächlich eintritt:
Definition (irrationale Zahl). „Jedesmal nun, wenn ein Schnitt (A 1 , A 2 ) vorliegt, welcher durch keine rationale Zahl hervorgebracht wird, so erschaffen wir eine neue, eine irrationale Zahl α, welche wir als durch diesen Schnitt (A 1 , A 2 ) vollständig definiert ansehen; wir werden sagen, dass diese Zahl α diesem Schnitt entspricht, oder dass sie diesen Schnitt hervorbringt.“ (Dedekind 1872, S. 21) Wir konstatieren:
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Die Neuschöpfung – Variante 2: Dedekind 1872 (1) D EDEKIND legt Nachdruck darauf, neue mathematische Objekte zu konstituieren. Wie das möglich sei, sagt er jedoch nicht. Können Denkakte eine Zahl „erschaffen“? Wessen Denkakte? Können Denkakte überhaupt etwas erschaffen? H USSERL wird das alsbald bestreiten. S. 547 (2) Was diese sein sollen, sagt er nicht, sondern nur, durch welche Eigenschaft sie definiert sind. – Wir heute sind geneigt, D EDEKIND so zu verstehen (insbesondere nach der Vorgehensweise in seinem vorangehenden Existenzbeweis), als sei der „Schnitt“ die neue „Zahl“. Allerdings sagt D EDEKIND das nicht! Daher kann B ERTRAND RUSSELL 30 Jahre später D EDEKIND auch harsch kritisieren: 355 „Die Methode, das zu »postulieren«, was man braucht, hat viele Vorteile. Es sind dieselben, wie die Vorteile des Diebstahls gegenüber der ehrlichen Arbeit. Wir wollen dies anderen überlassen und mit unserer ehrlichen Arbeit fortfahren.“ (Russell 2002b, S. 83)
(3) Mittels der sehr bald danach von C ANTOR geprägten Begrifflichkeit kann man D EDEKIND hier fragen: Um wie viele Schöpfungsakte handelt es sich hier? Um überabzählbar viele?! (4) Aus heutiger Sicht könnten wir sagen: Der Sache nach nimmt D EDEKIND die Gesamtheit aller Schnitte als seine neuen Zahlen; er formuliert das nur nicht so. (Wenn er es so formulierte, entfiele seine pathetische Rede von der „Schöpfung“ der irrationalen Zahlen.) Doch ist dies eine Interpretation, die etwas in den Text hineinliest, was dort nicht ausdrücklich steht. Eine verpasste Vereinfachung des Begriffs „Schnitt“ Die Betrachtung stets zweier Mengen rationaler Zahlen A 1 und A 2 ist wenig praktisch. Das sieht auch D EDEKIND: „Offenbar ist ein Schnitt (A 1 , A 2 ) schon vollständig gegeben, wenn eine der beiden Klassen, z. B. die Erste A 1 bekannt ist, weil die Zweite A 2 aus allen nicht in A 1 enthaltenen rationalen Zahlen besteht, und die charakteristische Eigenschaft einer solchen ersten Klasse A 1 liegt darin, dass sie, wenn die Zahl a 1 in ihr enthalten ist, auch alle kleineren Zahlen als a 1 enthält.“ (Dedekind 1872, S. 22) Allerdings nimmt D EDEKIND dies nicht zum Anlass, seine Definition der „irrationalen“ Zahl zu vereinfachen. Er könnte einfach sagen:
Definition (nicht bei Dedekind). Eine irrationale Zahl ist eine Gesamtheit rationaler Zahlen, die mit jeder rationalen Zahl auch sämtliche kleineren enthält. 355
Das Vorbild dieser Kritik dürften F REGEs frühere Ausführungen sein (siehe S. 502), dazu insbesondere sein Satz: „Das aber ist der unbezahlbare Vorteil einer schöpferischen Definition, dass sie einen Beweis erspart. Und dieser Vorteil ist spielend zu erreichen: man braucht nur das Wort »Definition« statt des Wortes »Lehrsatz« als Überschrift zu wählen.“ (Frege 1893/1903, Bd. 2, S. 144 f., § 143)
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 Doch das tut D EDEKIND nicht.356 Über die Gründe dafür kann man nur spekulieren. (Vielleicht waren die sechs Tage eine doch etwas zu kurze Zeit, um einen eleganten Text zustandezubringen, selbst für einen D EDEKIND.) Die „reellen“ Zahlen Anordnung
Dass die „reellen“ Zahlen – D EDEKINDs „System R“ – aus der Gesamtheit R der „rationalen“ und der Gesamtheit der „irrationalen“ Zahlen gebildet werden, sagt D EDEKIND nur beiläufig.357 Nach seiner Konstruktion ist die Gesamtheit der so definierten „reellen“ Zahlen ein sehr heterogenes Gebilde: Es besteht aus gewöhnlichen „rationalen“ Zahlen sowie einer sehr großen Anzahl von durch „Schnitte“ (A 1 , A 2 ) solcher „rationaler“ Zahlen irgendwie definierten „irrationalen“ Zahlen. Entsprechend mühsam gestaltet sich die Analyse der „Anordnung“ dieser „reellen“ Zahlen.b Das sei hier übergangen. Das Prinzip der Stetigkeit gilt für die reellen Zahlen
Nachdem die „Anordnung“ der „reellen“ Zahlen geklärt ist, kann D EDEKIND sein Ziel ansteuern: „Zufolge der eben festgesetzten Unterscheidungen bildet nun das System R aller reellen Zahlen ein wohlgeordnetes Gebiet von einer Dimension; hiermit soll weiter nichts gesagt sein, als dass folgende Gesetze herrschen. I. Ist α > β und β > γ, so ist auch α > γ. Wir wollen sagen, dass die Zahl β zwischen den Zahlen α, γ liegt. II. Sind α, γ zwei verschiedene Zahlen, so gibt es immer unendlich viele verschiedene Zahlen β, welche zwischen α, γ liegen. III. Ist α eine bestimmte Zahl, so zerfallen alle Zahlen des Systems R in zwei Klassen A1 und A2 , deren jede unendlich viele Individuen enthält; die erste Klasse A1 umfasst alle die Zahlen α1 , welche < α sind, die zweite Klasse A2 umfasst alle die Zahlen α2 , welche > α sind; die Zahl α selbst kann nach Belieben der ersten oder der zweiten Klasse zugeteilt werden, und sie ist dann entsprechend die größte Zahl der ersten oder die kleinste Zahl der zweiten Klasse. In jedem Fall ist die Zerlegung des Systems R in die beiden Klassen A1 , A2 von der Art, dass jede Zahl der ersten Klasse A1 kleiner als jede Zahl der zweiten Klasse A2 ist, und wir sagen, dass diese Zerlegung durch die Zahl α hervorgebracht wird.“ (Dedekind 1872, S. 24 f.) b 356
Dedekind 1872, S. 22–24 Wohl aber später RUSSELL, der solche Gesamtheiten „Segmente“ nennt: siehe S. 506.
357
„Um nun eine Grundlage für die Anordnung aller reellen, d. h. aller rationalen und irrationalen Zahlen zu gewinnen, müssen wir zunächst [. . . ]“ (Dedekind 1872, S. 22)
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Die Neuschöpfung – Variante 2: Dedekind 1872 Die Beweise „unterdrückt“ er, „um den Leser nicht zu ermüden“c . Das Entscheidende ist nun ein Lehrsatz, der das „Prinzip der Stetigkeit neu formuliert: „Außer diesen Eigenschaften besitzt aber das Gebiet R auch Stetigkeit, d. h. es gilt folgender Satz: IV. Zerfällt das System R aller reellen Zahlen in zwei Klassen A1 , A2 von der Art, dass jede Zahl α1 der Klasse A1 kleiner ist als jede Zahl α2 der Klasse A2 , so existiert eine und nur eine Zahl α, durch welche diese Zerlegung hervorgebracht wird.
Beweis. Durch die Zerlegung oder den Schnitt von R in A1 und A2 ist zugleich ein Schnitt (A 1 , A 2 ) des Systems R aller rationalen Zahlen gegeben, welcher dadurch definiert wird, dass A 1 alle rationalen Zahlen der Klasse A1 , und A 2 alle übrigen rationalen Zahlen, d. h. alle rationalen Zahlen der Klasse A2 enthält. Es sei α die völlig bestimmte Zahl, welche diesen Schnitt (A 1 , A 2 ) hervorbringt. Ist nun β irgendeine von α verschiedene Zahl, so gibt es immer unendlich viele rationale Zahlen c, welche zwischen α und β liegen. Ist β < α so ist c < α; mithin gehört c der Klasse A 1 und folglich auch der Klasse A1 an, und da zugleich β < c ist, so gehört auch β derselben Klasse A1 an, weil jede Zahl in A2 größer ist als jede Zahl c in A1 . Ist aber β > α, so ist c > α; mithin gehört c der Klasse A 2 und folglich auch der Klasse A2 an, und da zugleich β > c ist, so gehört auch β derselben Klasse A2 an, weil jede Zahl in A1 kleiner ist als jede Zahl c in A2 . Mithin gehört jede von α verschiedene Zahl β der Klasse A1 oder der Klasse A2 an, je nachdem β < α oder β > α ist; folglich ist α selbst entweder die größte Zahl in A1 oder die kleinste Zahl in A2 , d. h. α ist eine und offenbar die einzige Zahl, durch welche die Zerlegung von R in die Klassen A1 , A2 hervorgebracht wird. Was zu beweisen war.“ (Dedekind 1872, S. 25 f.) Der heutige Name für diesen Sachverhalt ist „Vollständigkeit“: Wenn Satz IV. gilt, heißt das betreffende Zahlsystem „vollständig“.
Die Rechenoperationen
Wenn die neuen Gegenstände namens „reelle“ Zahlen ihren Namen zu Recht tragen, müssen mit ihnen auch Rechenoperationen ausgeführt werden können: „Um irgendeine Rechnung mit zwei reellen Zahlen α, β auf die Rechnungen mit rationalen Zahlen zurückzuführen, kommt es nur darauf an, aus Schnitten (A 1 , A 2 ), und (B 1 , B 2 ), welche durch die Zahlen α und c
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 β im Systeme R hervorgebracht werden,[358] den Schnitt (C 1 ,C 2 ) zu definieren, welcher dem Rechnungsresultate γ entsprechen soll.“ (Dedekind 1872, S. 26) D EDEKIND beschränkt sich „hier auf die Durchführung des einfachsten Beispieles, der Addition.“d Schon das ist mühsam genug und erfordert fast eine Druckseite. Doch die Durchführung zeigt keine Schwierigkeiten: „Ist c irgendeine rationale Zahl, so nehme man sie in die Klasse C 1 auf, wenn es eine Zahl a 1 in A 1 und eine Zahl b 1 in B 1 von der Art gibt, dass ihre Summe a 1 + b 1 = c wird; alle anderen rationalen Zahlen c nehme man in die Klasse C 2 auf. Diese Einteilung aller rationalen Zahlen in die beiden Klassen C 1 , C 2 bildet offenbar einen Schnitt, weil jede Zahl c 1 in C 1 kleiner ist als jede Zahl c 2 in C 2 . Sind nun beide Zahlen α, β rational [. . . ]“ (Dedekind 1872, S. 26) Man mag die Sache gar nicht weiter verfolgen, so langweilig ist sie.359 (Dass C 2 keine rationale Zahl c 2 mit c 2 < α + β enthält, beweist D EDEKIND indirekt.) „Ebenso wie die Addition lassen sich auch die übrigen Operationen der sogenannten Elementar-Arithmetik definieren, nämlich die Bildung der Differenzen, Produkte, Quotienten, Potenzen, Wurzeln, Logarithmen,“ (Dedekind 1872, S. 27)
S. 305
p und man gelangt auf diese Weise zu wirklichen Beweisen von Sätzen (wie z. B. 2· p p 3 = 6), welche meines Wissens bisher nie bewiesen sind.“ Was C AUCHY in seinem Lehrbuch (in seiner Begriffswelt, versteht sich) wirklich durchgeführt hat – und zwar jeweils getrennt für „Zahlen“ und für „Zahlgrößen“! –, das deutet D EDEKIND in seiner Separatschrift zum Thema nur an. Diese fehlende Durchführung verbindet D EDEKIND gleichwohl mit dem Selbstlob, „wirkliche Beweise“ für Sätze zu bieten, die „bisher nie bewiesen“ worden seien. Wenn dieses Nie bedeuten soll: „nie mit den hier vorgelegten Definitionen“, so hat D EDE KIND mit seiner Behauptung natürlich Recht; aber auch nur dann. (Die Nennung von „Potenzen, Wurzeln, . . . “ ist Schaumschlägerei, denn diese Operationen sind durch Rechenverfahren aus den vier Grundopertionen erklärt.) Wie bei Tannery 1886, S. 9–20 nachzulesen ist, ist das wirkliche Ausbuchstabieren der Durchführung der arithmetischen Grundoperationen mit den „Schnitten“ weder kurz noch kurzweilig. Zwei grundlegende Lehrsätze
S. 487, 493
Abschließend gibt D EDEKIND den Begriff „Grenzwert“ und beweist den „Schrankensatz“ sowie den „Konvergenzsatz“, die beide zu seinem „Prinzip der Stetigkeit“ IV. äquivalent sind. d 358 359
Dedekind 1872, S. 26 Anders herum ist es richtig: Jedem „Schnitt“ „entspricht“ eine „Zahl“! RUSSELL wird die Sache etwas schmackhafter gestalten: siehe S. 507.
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Die Neuschöpfung – Variante 2: Dedekind 1872
„Grenzwert“
Als Definition des für die Analysis grundlegenden Begriffs „Grenzwert“ schlägt D E DEKIND vor:
Definition (Grenzwert). „Man sagt, dass eine veränderliche Größe x, welche sukzessive bestimmte Zahlwerte durchläuft, sich einem festen Grenzwert α nähert, wenn x im Lauf des Prozesses definitiv zwischen je zwei Zahlen zu liegen kommt, zwischen denen α selbst liegt, oder was dasselbe ist, wenn die Differenz x − α absolut genommen unter jeden gegebenen, von Null verschiedenen Wert definitiv herabsinkt.“ (Dedekind 1872, S. 29) Das ist sehr prosaisch formuliert. Der „Grenzwert“ α ist vorgegeben. Der Begriff „veränderliche Größe“ bleibt jedoch unbestimmt. Das Wort „sukzessiv“ unterstellt eine Reihenfolge, von der ansonsten keine Rede ist. Das Wort „definitiv“ ließe sich ‚epsilontisch‘ präzisieren, und D EDEKIND tut dies auch sogleich. Ob der „Grenz- unten wert“ α „Wert“ der Veränderlichen x sein darf, lässt D EDEKIND hier offen. (Anders als D EDEKIND wird TANNERY 1886 sehr genau die beiden Begriffe „Grenzwert“, limite, und ‚KonvergenzBz‘, convergente, unterscheiden.e – Auf TANNERY S. 600 kommen wir noch zu sprechen.) Der Konvergenzsatz
Abschließend zu D EDEKIND sei dessen Formulierung des Konvergenzsatzes mitsamt Beweis gegeben:
Lehrsatz (Konvergenzsatz). „Lässt sich in dem Änderungsprozess einer Größe x für jede gegebene Größe δ auch eine entsprechende Stelle angeben, von welcher ab x sich um weniger als δ ändert, so nähert sich x einem Grenzwert. [. . . ]
[Beweis.] Es sei δ eine beliebige positive Größe (d. h. δ > 0), so wird der Annahme zufolge ein Augenblick eintreten, von welchem ab x sich um weniger als δ ändern wird, d. h. wenn x in diesem Augenblick den Wert a besitzt, so wird in der Folge stets x > a − δ und x < a + δ sein. Ich lasse nun einstweilen die ursprüngliche Annahme fallen, und halte nur die soeben bewiesene Tatsache fest, dass alle späteren Werte der Veränderlichen x zwischen zwei angebbaren, endlichen Werten liegen. Hierauf gründe ich eine doppelte Einteilung der reellen Zahlen. In das System A2 nehme ich eine Zahl α2 (z. B. a + δ) auf, wenn im Laufe des Prozesses definitiv x 5 α2 wird; in das System A1 nehme ich jede nicht in A2 enthaltene Zahl auf; ist α1 eine solche Zahl, so wird, wie weit auch der Prozess vorgeschritten sein mag, es noch unendlich oft eintreten, dass x > α1 ist. Da jede Zahl α1 kleiner ist als jede Zahl α2 , e
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 so gibt es eine völlig bestimmte Zahl α, welche diesen Schnitt (A1 , A2 ) ˜ des Systems R hervorbringt, und welche ich den oberen Grenzwert der stets endlich bleibenden Veränderlichen x nennen will. Ebenso wird durch das Verhalten der Veränderlichen x ein zweiter Schnitt (B1 , B2 ) des Systems R hervorgebracht: eine Zahl β1 (z. B. a −δ) wird in B1 aufgenommen, wenn im Laufe des Prozesses definitiv x = β1 wird; jede andere, in B2 aufzunehmende Zahl β2 hat die Eigenschaft, dass niemals definitiv x = β2 , also immer noch unendlich oft x < β2 wird; die Zahl β, durch welche dieser Schnitt hervorgebracht ˜ wird, heiße der untere Grenzwert der Veränderlichen x. Die beiden Zahlen α, β sind offenbar auch durch die folgende Eigenschaft charakterisiert: ist ε eine beliebig kleine positive Größe [sic], so wird stets definitiv x < α + ε und x > β − ε, aber niemals definitiv x < α − ε, und niemals definitiv x > β + ε. Nun sind zwei Fälle möglich. [i] Sind α und β verschieden voneinander, so ist notwendig α > β, weil stets α2 = β1 ist; die Veränderliche x oszilliert und erleidet, wie weit der Prozess auch fortgeschritten sein mag, immer noch Änderungen, deren Betrag den Wert (α−β)−2ε übertrifft, wo ε eine beliebig kleine positive Größe bedeutet. Die ursprüngliche Annahme, zu der ich erst jetzt zurückkehre, steht aber im Widerspruch zu dieser Konsequenz; [ii] es bleibt daher nur der zweite Fall α = β übrig, und da schon bewiesen ist, dass, wie klein auch die positive Größe ε sein mag, immer definitiv x < α + ε und x > β − ε wird, so nähert sich x dem Grenzwert α, was zu beweisen war.“ (Dedekind 1872, S. 30 f.) Gewiss ein mühsamer Beweis. Aber streng. REFLEXION
S. 482
S. 491
Was hat D EDEKIND hier vorgelegt? (1) Die erste Feststellung ist: etwas wenig Elegantes! Ganz offenkundig hat D E DEKIND diesen Text in großer Eile verfasst. Nahe liegende Glättungen sind unterblieben. So hat er beispielsweise bemerkt, dass bei seinen „Schnitten“ (A 1 , A 2 ) eine der beiden „Klassen“ außer Betracht bleiben kann, da sie das „Komplement“ der andern (im „System R“ der rationalen Zahlen) ist. Doch er hat diese mögliche Vereinfachung nicht umgesetzt. Somit hat D EDEKIND die Definition der „irrationalen“ Zahl verpasst, wie sie auf S. 491 gegeben ist. Mir scheint, sie wäre ihm durchaus möglich gewesen. (2) Gleichwohl ist D EDEKINDs Ansatz in unseren Augen fortschrittlicher als der C ANTOR’sche. Denn D EDEKIND geht auf die Betrachtung von Gesamtheiten aus – also das, was heute „Menge“ heißt –, während C ANTOR noch begrifflich bleibt, und zwar bei dem (von ihm „Reihe“ genannten) Begriff „Folge“, der von ihm nicht näher analysiert wird.
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Die Neuschöpfung – Variante 2: Dedekind 1872 (3) Wegen dieses gänzlich anderen ‚mengensprachlichen‘ Ansatzes bei D EDE KIND gegenüber dem noch begrifflichen bei C ANTOR hat D EDEKIND auch nicht C ANTORs Problem der „Hierarchie“ der reellen Zahlbegriffe. Er versteht C ANTORs S. 463 Problem an dieser Stelle nicht. Der letzte Satz des Vorworts von D EDEKINDs Schrift lautet: „Welchen Nutzen aber die, wenn auch nur [sic] begriffliche Unterscheidung von reellen Zahlgrößen noch höherer Art gewähren wird, vermag ich gerade nach meiner Auffassung des in sich vollkommenen reellen Zahlgebiets noch nicht zu erkennen.“ (Dedekind 1872, S. 11) (4) Ganz deutlich kommt bei D EDEKIND die schöpferische Freiheit des seine Begriffe konstruierenden Mathematikers zur Sprache: in seiner Formulierung von der „Erschaffung“ der „irrationalen“ Zahl. S. 490 Das Bewusstsein von der „schöpferischen Tätigkeit“ des Wissenschaftlers ist bei D EDE KIND durchgängig. Er spricht es bereits 1854 in seinem Habilitationsvortrag an und bedient sich dort der Formulierungen „neue Klassen von Zahlen zu schaffen“ und „neugeschaffene Zahlen“f , er „erzeugt“g eine Zahlenreihe und „schafft“h die „imaginären“ Zahlen. – Freilich „schafft“ der Wissenschaftler auf diese Weise nur Wissenschaft (die „als Werk des Menschen seiner Willkür unterworfen und von allen Unvollkommenheiten seiner geistigen Kräfte mit getroffen ist“i ), während „die Wahrheit“ „eine von unserm Zutun unabhängige Notwendigkeit ist“j . Worin besteht die Brücke zwischen solcher „Wissenschaft“ und der „Wahrheit“? Siehe dazu Punkt 6 sogleich.
(5) Im klaren Kontrast dazu steht die Unklarheit über den ontologischen Status dessen, was D EDEKIND da „erschaffen“ will: Was ist seine „irrationale“ Zahl? D E DEKIND sagt es nicht. Er selbst jedoch empfindet hier offenbar keinen Mangel. 15 Jahre später verfasst er unter dem Titel Was sind und was sollen die Zahlen? eine Art Nachfolgeschrift, und im Vorwort dort heißt es: „Dem Zwecke dieser Schrift gemäß beschränke ich mich auf die Betrachtung der Reihe der sogenannten natürlichen Zahlen. In welcher Art später die schrittweise Erweiterung des Zahlbegriffes, die Schöpfung der Null, der negativen, gebrochenen, irrationalen und komplexen Zahlen stets durch Zurückführung auf die früheren Begriffe herzustellen ist [. . . ], das habe ich wenigstens an dem Beispiele der irrationalen Zahlen in meiner früheren Schrift über die Stetigkeit (1872) gezeigt [. . . ]“ (Dedekind 1887, S. 338) Als was er diese Zahlen „erschafft“, kümmert ihn offenkundig nicht. (6) Warum verspürt D EDEKIND dieses ontologische Defizit nicht? Eine Antwort könnte in Folgendem zu suchen sein: D EDEKINDs Denken unterscheidet sich von dem seiner Zeitgenossen wesentlich. Anders als sie – namentlich W EIERSTRASS – f
Dedekind 1932, S. 431 Dedekind 1932, S. 432 h Dedekind 1932, S. 434 i Dedekind 1932, S. 428 f. j Dedekind 1932, S. 428
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872
denkt D EDEKIND nicht begrifflich („in Begriffen“), sondern systemisch („in Systemen“ oder „Mengen“): nicht ‚substanzial‘, sondern ‚relational‘. Dieses sein andersartiges Denken zeigt D EDEKIND bereits in seinem Habilitationsvortrag 1854. Dessen philosophischer Kernpunkt lautet: Wissenschaftliche Theorien entstehen nicht durch die Formulierung solcher Sätze, deren Wahrheit sich aus den sie konstituierenden Begriffen ableiten lässt. Vielmehr ist es umgekehrt die Aufgabe des Wissenschaftlers, jene geeigneten Begriffe zu finden, mit denen die („von unserm Zutun unabhängige“ j „notwendige“) Wahrheit bzw. „Gesetze“ gefasst werden können: „Dieses Drehen und Wenden der Definitionen, den aufgefundenen Gesetzen oder Wahrheiten zuliebe, in denen sie eine Rolle spielen, bildet die größte Kunst des Systematikers.“ (Dedekind 1932, S. 430)
S. 578
S. 487, 277
Warum „Wahrheiten“ „Gesetze“ seien, sagt D EDEKIND nicht. Er sagt auch nicht, woher diese „Gesetze“ oder „Wahrheiten“ ihre Geltungskraft haben sollen. Klar ist jedoch aus D EDEKINDs Darlegung, dass „Begriffe“ gegenüber den „Gesetzen“ oder der „Wahrheit“ nachrangig (sekundär) sind. Offenbar bilden bei D EDEKIND die „Begriffe“ jenes „Fachwerk“, von dem H ILBERT 1899 im Brief an F REGEk sowie im Kriegsjahr 1917 öffentlich spricht. H ILBERTs „axiomatisches Denken“l wird darlegen, dass die verwendeten Begriffe keinen Inhalt (auch nicht im Sinne etwa eines spezifizierbaren Begriffsumfangs) haben. D EDEKIND hat, so ist zu vermuten, H ILBERTs Denken wesentlich vorbereitet.
(7) Mir scheint: D EDEKIND überfordert den Mathematiker, wenn er ihm die Aufgabe zuweist, die irrationalen Zahlen zu „erschaffen“. Soviel kann der Mathematiker wirklich nicht leisten – soll es nicht unendlich viele „irrationale“ Zahlen geben (sogar „überabzählbar“ viele)? Anders gesagt: D EDEKIND kann das, was er sagt, nicht wörtlich meinen. Was aber meint er dann? Und warum sagt er es nicht? (8) D EDEKIND fordert ganz klar fachliche Methodenreinheit: Die Analysis sei aus der Arithmetik heraus zu entwickeln. Das ist eine Fortführung des B OLZANO’schen Programms. (9) Dass sich D EDEKIND bei seiner Konstruktion neuer begrifflicher Mittel bedient, die später zur „Mengenlehre“ werden („Klasse“ und „System“ sowie „Individuum“: das künftige „Element“) ist ihm sicher nicht in großer Klarheit bewusst und kann es auch nicht sein. Dergleichen zeigt sich nur dem rückschauend analysierenden Blick des Historikers. Wo bleibt die Geometrie?
S. 483 S. 601
Mit großem Aplomb hat D EDEKIND seine Schrift mit einer Parallelisierung von Eigenschaften der rationalen Zahlen mit Eigenschaften „der Punkte der geraden Linie“ begonnen. Am Schluss der Schrift aber kommt die „gerade Linie“ nicht mehr vor. Wozu also war sie gut? D EDEKIND verrät es uns nicht. (Und TANNERY, der parallel dieselbe Idee wie D EDEKIND hat, verzichtet auf jegliche Bezugnahme auf die Geometrie.) k l
Frege 1976, S. 67 = Frege 1980, S. 13. Hilbert 1917
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Die Neuschöpfung – Variante 2: Dedekind 1872 Die Erklärung könnte in Folgendem bestehen. Mit Blick auf die Geometrie formuliert D EDEKIND das „Prinzip der Stetigkeit“. Er nennt es ein „Axiom“, weil man S. 487 „außerstande“ sei, es zu beweisen. Dann überträgt er dieses „Axiom“ auf die Arithmetik. Warum aber soll ein geometrisches „Axiom“ in der Arithmetik Gültigkeit oder auch nur Bedeutung haben? Noch dazu, wenn die Arithmetik „sich aus sich selbst heraus entwickeln“ soll!? Dazu schweigt D EDEKIND. Unausgesprochen schöpft D E DEKIND die Legitimation für die Statuierung seines „Axioms“ in der Arithmetik aus dessen – von ihm behaupteten – Bedeutung in der Geometrie. Aber: Hat D EDEKIND die Bedeutung seines „Axioms“ für die Geometrie angemessen dargestellt? Mir scheinen hier Zweifel möglich. In seiner Formulierung des „Prinzips der Stetigkeit“ für die Geometrie sagt D EDEKIND zutreffend, „ein und nur ein Punkt“ teile eine gerade Linie. Was D EDEKIND jedoch nicht sagt: Dieser „eine und nur eine Punkt“ wird (mindestens seit A RISTOTELES) durch die Teilung des Kontinuum zu „zwei“ Punkten: zu End- und Anfangspunkt der beiden „Stücke“ des Kontinuums. Das haben wir noch im Jahr 1837 bei D IRICHLET gesehen. Diese Kleinig- S. 365 keit – die Verdoppelung des „einen und nur einen Punktes“ bei der Teilung des Kontinuums nach traditioneller aristotelischer Lehre – verschweigt D EDEKIND. D EDEKIND verabschiedet also den A RISTOTELES und diese langdauernde Tradition. Doch sagt er das mit keiner Silbe. – Freilich folgt er hier R IEMANN (der ein Jahr vor D EDEKIND bei G AUSS pro- S. 371 moviert hatte), auf den dieser Bruch mit der aristotelischen Lehre zurückgeht. Weiter: Wollte D EDEKIND den A RISTOTELES hier nicht verabschieden, müsste er am „irrationalen Schnitt“360 zwei neue Objekte einführen: einen „End-“ und einen „Anfangspunkt“ der beiden „Stücke“ – und also zwei verschiedene „Grenzen“, für die zwei verschiedenen Grenzprozesse, in jedem „Stück“ ein eigener. – In einem zweiten Schritt könnte er sie freilich identifizieren. Ob D EDEKIND das erwogen hat? Kaum anzunehmen. Näherliegend ist es, anzunehmen, D EDEKIND habe (wie gewiss viele andere) atomistisch gedacht, also: Das „Kontinuum“ besteht aus „Punkten“. Wer so denkt, argumentiert wie D EDEKIND. Um nicht missverstanden zu werden: Atomistisch kann man denken. (D EDEKIND und die Standard-Analysis seitdem zeigen das.) Nur: Man muss nicht so denken. Es geht auch anders, und vor (R IEMANN und) D EDEKIND haben alle maßgeblichen Mathematiker in dieser anderen Weise gedacht. Die Nichtstandard-Analysis tut das noch heute. Hier besteht ein Gestaltungsspielraum für die Theoriebildung. D EDEKINDs Konstruktion ist nicht die einzig Mögliche. Nur darauf sei hingewiesen. (Dieser Aspekt kann vertieft werden: siehe sogleich.) ab S. 519
Welche Rolle kommt D EDEKINDs „Prinzip der Stetigkeit“ in der Arithmetik zu? Es taucht dort zweimal auf: (i) als Auslöser für die „Erschaffung“ einer jeden „irrationalen“ Zahl: Immer dann, wenn ein „Schnitt“ vorliegt, der keine rationale Zahl „hervorbringt“, immer dann „erschafft“ D EDEKIND eine „irrationale“ Zahl. (ii) als beweisbarer Lehrsatz für „das System R der reellen Zahlen“. Mit seinem 360
Diesen griffigen Namen hat RUSSELL geprägt – siehe S. 505.
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 „Schnitt“ will D EDEKIND die hier in den „rationalen“ Zahlen vorfindlichen „Lücken“ geschlossen haben. Der versteckte Freiraum in Dedekinds Konstruktion Wenn D EDEKIND Recht hat und das „Prinzip der Stetigkeit“ ein „Axiom“ ist und wenn D EDEKIND dieses „Axiom“ für die Arithmetik fordert – dann kann man dieses „Axiom“ (für die Arithmetik) durch ein anderes ersetzen. Denn für die Arithmetik muss man es keineswegs so „einleuchtend finden“ wie für die Geometrie! Eher im Gegenteil. Mit anderen Worten, die Anlage von D EDEKINDs Schrift zeigt: Dem „Konstrukteur“ der „irrationalen“ Zahl steht ein Freiraum offen. Der „Konstrukteur“ kann das „Prinzip der Stetigkeit“ als „Axiom“ zugrunde legen. Er kann es aber auch bleiben lassen und stattdessen ein anderes „Axiom“ wählen. Alternative Konstruktionen . . .
S. 505
Eine Alternative zu der von D EDEKIND gewählten Möglichkeit liegt auf der Hand. Jeder irrationale Schnitt (um nochmals den griffigen Namen zu gebrauchen, den RUSSELL später einführt) könnte Anlass sein, eine „irrationale Monade“ zu erschaffen – etwa eine Kopie des „Systems R“ der rationalen Zahlen. . . . wurden vermieden Es ist hier nicht der Ort, diese (oder eine andere) Alternative zu D EDEKINDs Konstruktion auszubuchstabieren. Hier ist nur der Ort, auf das Bestehen solcher Alternativen aufmerksam zu machen – sowie darauf, dass diese Alternativen von D EDE KIND weder aufgezeigt noch gar genutzt wurden; und auch nicht von D EDEKIND s Nachfolgern. (Es sei jedoch auf den auf S. 519 beginnenden Abschnitt gedeutet.) So sehr D EDEKIND (und später C ANTOR361 ) die „schöpferische Freiheit“ (in) der Mathematik betont haben, so wenig haben D EDEKIND und C ANTOR den Spielraum dieser Freiheit aufgezeigt. Mit der von D EDEKIND und C ANTOR gern beschworenen „Freiheit“ der Mathematik war nichts weiter gemeint als ihre je eigene (D EDEKINDs und C ANTORs) konstruktive Freiheit: die Freiheit für D EDEKIND und für C ANTOR, ihre eigenen Konstruktionen vortragen zu dürfen. Inwieweit sie durch ihr Handeln solche „Freiheit“ – anderen – verwehrt haben, wäre vielleicht einer genaueren Untersuchung wert.362 361
C ANTORs Formulierung: „Das Wesen der Mathematik liegt gerade in ihrer Freiheit.“ (Cantor 1883, S. 182) wurde sprichwörtlich. 362 Es sei daran erinnert: C ANTOR, der Schöpfer „aktual“ unendlicher Kardinal- wie Ordinalzahlen in der Mathematik, hat die Unmöglichkeit von „aktual“ unendlich kleinen Größen in der Mathematik (in heutiger Sprache: die Unmöglichkeit einer Nichtstandard-Analysis) sogar für beweisbar gehalten, siehe S. 478.
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Die Neuschöpfung – Variante 2: Dedekind 1872 „Natürliche“ Zahl als Grundlage der Analysis Was wir bei R IEMANN nur in einer Andeutung gefunden haben, das kann D EDE - S. 373 KIND (dem ein mehr als doppelt so langes Leben beschieden war) ganz dezidiert konstruieren: die „natürliche“ Zahl als letzten Grund- bzw. ersten Anfangsbegriff der Analysis. D EDEKINDs „Schnitte“ führen die „irrationalen“ Zahlen auf (Gesamtheiten aus) „rationalen“ Zahlen zurück; dass sich diese wiederum von den „natürlichen“ Zahlen herleiten lassen, ist längst klar. In einer (nicht zur Publikation bestimmten) harschen Kritik des 1882 erschienenen Buches Die Allgemeine Funktionenlehre von PAUL DU B OIS -R EYMOND (1831–89)m spricht D EDEKIND diese Einsicht klar aus: „B. scheint noch immer nicht erkannt zu haben, dass jeder Satz der Analysis in letzter Instanz stets ein Satz über ganze Zahlen ist. [. . . ] Die ganze Analysis ist eine notwendige Konsequenz des Denkens überhaupt; ihre durchaus reine Ausbildung (ohne Zuziehung der Größen-Vorstellungen) befähigt uns gerade erst, den Größenbegriff in voller Schärfe aufzufassen.“ (Dugac 1976, S. 199) Dazu verweist D EDEKIND auf die Anmerkung auf S. 17363 seiner Schrift von 1872. Sie sei hier mit dem zugehörigen Ankersatz angeführt: „Die bisher übliche Einführung der irrationalen Zahlen knüpft nämlich geradezu an den Begriff der extensiven Größen an – welcher aber selbst nirgends streng definiert wird – und erklärt die Zahl als das Resultat der Messung einer solchen Größe durch eine zweite gleichartige.∗ “ (Dedekind 1872, S. 17) Da ist es klar ausgesprochen: Im Jahr 1872 ist der allgemeine Begriff der ‚analytischen‘ Zahl in der Form, wie ihn L EIBNIZ formuliert hat, überwunden und kann S. 80 für unzulänglich erklärt werden. FREGES KRITIK AN DEDEKINDS KONSTRUKTION F REGE hat auch D EDEKINDs Konstruktion der „reellen“ Zahl kritisiert. Diese Kritik aber beginnt mit einem Lob. Unter der Überschrift „Eigenschaften der rationalen Zahlen“ hatte D EDEKIND notiert: ∗
Der scheinbare Vorzug der Allgemeinheit dieser Definition der Zahl schwindet sofort dahin, wenn man an die komplexen Zahlen denkt. Nach meiner Auffassung kann umgekehrt der Begriff des Verhältnisses zwischen zwei gleichartigen Größen erst dann klar entwickelt werden, wenn die irrationalen Zalen schon eingeführt sind.
m
du Bois-Reymond 1968
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In Dedekind 1967: S. 9.
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 „Soll ausgedrückt werden, dass die Zeichen a und b eine und dieselbe rationale Zahl bedeuten, so setzt man sowohl a = b wie b = a.“ (Dedekind 1872, S. 6) Wenn D EDEKIND zwei irrationale Zahlen α, β mittels seiner „Schnitte“ „erschaffen“ hat und wenn diese beiden „Schnitte“ „gleich“ sind, sagt D EDEKIND: „[. . . ] diese beiden Schnitte sind vollständig identisch, was wir in Zeichen durch α = β oder β = α andeuten.“ (Dedekind 1872, S. 22) Nach Zitierung der ersten dieser beiden Passagen lobt F REGE: „Hier ist die Schärfe der Unterscheidung zwischen dem Zeichen und dem, was es bedeutet, erfreulich und bemerkenswert, ebenso die Auffassung des Gleichheitszeichens, die genau mit unserer übereinstimmt.“ (Frege 1893/1903, Bd. 2, S. 140, § 138) S. 481
Demzufolge kritisiert F REGE auch D EDEKINDs Behauptung, seine Darlegung stimme „dem Wesen nach“ „vollständig“ mit denen von H EINE und C ANTOR überein: „Diese Übereinstimmung ist in Wirklichkeit gar nicht vorhanden. Dagegen möchte D EDEKINDs Ansicht der C ANTORs näher stehen.“ (Frege 1893/1903, Bd. 2, S. 141, § 138) Allergrößte Bedenken jedoch erhebt F REGE gegen D EDEKINDs Methode der „Erschaffung“ der „irrationalen“ Zahlen: „Hier handelt es sich um die Frage, ob ein Schaffen überhaupt möglich sei; ob es, wenn möglich, schrankenlos möglich sei; oder ob gewisse Gesetze beim Schaffen beachtet werden müssen. Im letzten Falle wäre erst zu beweisen, dass jenen Gesetzen gemäß die Berechtigung zum Schaffen bestände, bevor man die Schöpfung vollziehen dürfte. ˜ Diese Untersuchungen fehlen hier vollständig und damit fehlt die Hauptsache; es fehlt das, wovon die Bündigkeit der Beweise abhängt, die mit irrationalen Zahlen geführt werden.“ (Frege 1893/1903, Bd. 2, S. 141, § 139) Und F REGE begründet diese Kritik im folgenden Satz so: „Dass die Schaffensmacht jedenfalls, wenn sie besteht, nicht schrankenlos sein kann, sieht man daraus, dass offenbar kein Gegenstand geschaffen werden kann, der widersprechende Eigenschaften in sich vereinigt.“ Und nochmals ganz deutlich: „Wenn man nicht weiß, ob es eine Zahl gebe, deren Quadrat −1 ist, nun so schafft man sich eine. Wenn man nicht weiß, ob es zu einer Prim-
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Die Neuschöpfung – Variante 2: Dedekind 1872 zahl eine primitive Wurzel gebe, nun so schafft man sich eine. Wenn man nicht weiß, ob es eine Gerade gebe, welche durch gewisse Punkte hindurchgehe, nun so schafft man sich eine. Dies ist leider zu bequem, als dass es richtig sein könnte. Es werden gewisse Schranken für das Schaffen anzuerkennen sein. Das Wichtigste für einen Arithmetiker, der die Möglichkeit des Schaffens im Allgemeinen anerkennt, wird sein, die Gesetze in einleuchtender Weise zu entwickeln, die dabei zu beachten sind, um dann vor jeder einzelnen Schöpfungstat zu beweisen, dass sie jenen Gesetzen gemäß erlaubt sei. Sonst wird alles ungenau, und die Beweise sinken zu einem bloßen Scheine, zu einer wohltuenden Selbsttäuschung herab.“ (Frege 1893/1903, Bd. 2, S. 142, § 140) (Es sei hier an E ULERs höchst vielfältige Welt der Zahlbegriffe erinnert und dar- ab S. 223 an, wie E ULER dazu kam.) Der Logiker F REGE wäscht den Analytikern kräftig den Kopf: Deren schöpferische Macht wird „durch den Zusatz eingeschränkt, dass jene Eigenschaften [die man dem Gegenstand beizulegen gedenkt] einander nicht widersprechen dürfen; eine selbstverständliche, aber sehr folgenschwere Einschränkung. Woran erkennt man, dass Eigenschaften einander nicht widersprechen? Kein anderes Kennzeichen scheint es dafür zu geben, als dass sich die fraglichen Eigenschaften an demselben Gegenstande vorfinden. Dadurch wird aber die Schöpfungsmacht, die viele Mathematiker sich zuerkennen, so gut wie wertlos. Denn sie müssen ja nun, bevor sie eine Schöpfungstat vollziehen, beweisen, dass die Eigenschaften einander nicht widersprechen, die sie dem zu schaffenden oder schon geschaffenen Gegenstande beilegen wollen; und das können sie wohl nur dadurch, dass sie beweisen, es gebe einen Gegenstand, welcher diese Eigenschaften sämtlich habe. Können sie aber das, so brauchen sie nicht erst einen solchen zu schaffen.“ (Frege 1893/1903, Bd. 2, S. 145, § 143) In der heutigen formalen Logik nennt man einen solchen „Gegenstand“ ein „Modell“. – F REGEs ernüchterndes Ergebnis: „Es ist uns hierbei wahrscheinlich geworden, dass ein eigentliches Schaffen dem Mathematiker versagt ist, oder dass es wenigstens an Bedingungen geknüpft ist, die es wertlos machen.“ (Frege 1893/1903, Bd. 2, S. 147, § 146) Es ist demnach dringend notwendig, D EDEKINDs Konstruktion durch eine logische Überarbeitung zu konsolidieren. RUSSELL hat eine solche Überarbeitung vorgenommen.
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 RUSSELLS GLÄTTUNG DER DEDEKIND’SCHEN KONSTRUKTION Oben wurde schon die Kritik angeführt, die B ERTRAND RUSSELL im Nachhinein S. 491 bei an D EDEKINDs Konstruktion äußert. Aber RUSSELL ist auch konstruktiv und bietet Anm. 355 eine Lösung an. Freilich hat er es fast fünfzig Jahre später auch leichter, denn die Mengensprache hat sich da längst etabliert. „Schnitte“ und „Grenze“ Der Literaturnobelpreisträger des Jahres 1950 analysiert den Begriff „Dedekindscher Schnitt“ in der Gesamtheit der rationalen Zahlen überaus prägnant und zugleich anschaulich in seiner im Gefängnis verfassten Schrift An introduction to mathematical philosophy wie folgt:364 „Mit Rücksicht auf das, was am Schnittpunkt selbst passiert, gibt es [rein logisch betrachtet] vier Möglichkeiten: (1) Die Unterklasse hat ein Maximum und die Oberklasse ein Minimum. (2) Ein Maximum bei der einen und kein Minimum bei der anderen. (3) Kein Maximum bei der einen, aber ein Minimum bei der anderen. (4) Weder ein Maximum bei der einen, noch ein Minimum bei der anderen. Ein Beispiel für den ersten Fall ist jede Folge mit aufeinander folgenden Elementen. In der Folge der ganzen Zahlen z. B. muss eine Unterklasse mit irgendeiner Zahl n enden und die Oberklasse muss dann mit n + 1 beginnen. Ein Beispiel für den zweiten Fall bildet die Folge der Brüche, wenn wir als Unterklasse alle Brüche kleiner als 1 (1 eingeschlossen) und als Oberklasse alle Brüche größer als 1 nehmen. Ein Beispiel für den dritten Fall erhalten wir, wenn wir als Unterklasse alle Brüche kleiner als 1 und als Oberklasse alle Brüche von 1 an (1 eingeschlossen) nehmen. Der vierte Fall tritt, wie wir gesehen haben ein, wenn wir in unserer Unterklasse alle Brüche nehmen, deren Quadrat kleiner ist als 2 und in unserer Oberklasse alle Brüche, deren Quadrat größer ist als 2. Den ersten unserer vier Fälle können wir außer Acht lassen. Denn er entsteht nur, wenn es aufeinander folgende Elemente gibt. Im zweiten Fall nennen wir das Maximum der Unterklasse den unteren Limes der Oberklasse oder von jeder Folge von Elementen, die aus der Oberklasse derart ausgewählt ist, dass kein Element der Oberklasse vor allen 364
Die von RUSSELL im Folgenden verwendeten Begriffe „Unterklasse“ und „Oberklasse“ sowie „oberer Limes“ hatte bereits TANNERY im Jahr 1886 verwendet (S. 3, 21) – siehe S. 601; die Sache „oberer Limes“ findet sich schon bei C AUCHY (Cauchy 1897, S. 121), „blieb indessen völlig unbeachtet, bis ihn J. H ADAMARD (Journal de mathématiques pures et appliquées (4) Bd. 8, S. 107, 1892) wiederfand.“ (Knopp 5 1964, S. 155, Anmerkung 1) – Die letztgenannte Quelle ist Hadamard 1892, S. 105. (Offenbar kannte K NOPP Tannery 1886 nicht.)
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Die Neuschöpfung – Variante 2: Dedekind 1872 andern kommt. Im dritten Fall nennen wir das Minimum der Oberklasse den oberen Limes der Unterklasse oder von jeder Folge von Elementen, die aus der Unterklasse derart ausgewählt ist, dass kein Element der Unterklasse nach allen andern kommt. Im vierten Fall sagen wir, dass eine »Lücke« existiere: Weder die Oberklasse noch die Unterklasse hat einen Limes oder ein letztes Element.
[Definition (irrationaler Schnitt).] Diesen Fall können wir auch einen ˜ irrationalen Schnitt nennen.
Denn die Klassen der Folge[n] der Brüche weisen Lücken auf, wenn sie irrationalen Zahlen entsprechen.“ (Russell 2002b, S. 80 f.) Da der Begriff „Limes“ „von der allergrößten Wichtigkeit“n ist, definiert ihn RUS SELL sogleich ganz abstrakt. Dabei verwendet R USSELL etwas, was wir heute eine „zweistellige Relation“ P nennen und einfach als Teilmenge des „kartesischen Produkts“ zweier „Mengen“ denken können: P ⊂ M ×N . Das „Inverse“ von P ist P −1 , entsteht also durch Vertauschen von M und N . (Aus der Relation < wird so die Relation >.) Die Vereinigung des „Definitions-“ und des „Wertebereichs“ der zweistelligen Relation P , also π1 (P ) ∪ π2 (P ) , nennt RUSSELL das „Feld“ von P . „Ein Element x heißt ein »oberer Limes« einer Menge α hinsichtlich einer [zweistelligen] Relation P , wenn (1) α kein Maximum in P hat, (2) jedes Element von α, das zum Feld von P gehört, dem x vorangeht, (3) jedes Element des Feldes von P , das dem x vorangeht, auch irgendeinem Element von α vorangeht (unter »Vorangehen« verstehen wir »hat die Relation P zu etwas«.) Dabei soll »Maximum« wie folgt definiert sein: Ein Element x heißt ein »Maximum« einer Menge α hinsichtlich der Relation P , wenn x ein Element von α und vom Feld von P ist und die Relation P zu keinem anderen Element von α hat. [. . . ] Das »Minimum« einer Menge bezüglich P ist ihr Maximum bezüglich des Inversen von P und der »untere Limes« bezüglich P ist der obere Limes bezüglich des Inversen von P .“ (Russell 2002b, S. 82, das Wort „Beziehung“ stets durch „Relation“ ersetzt) Nach dieser Kaskade von Definitionen (die hier noch keineswegs zu Ende ist!) kann RUSSELL den Begriff „Grenze“ in großer Allgemeinheit einfach definieren als: n
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872
Definition (Grenze). Eine „Grenze“ einer zweistelligen Relation ist ein oberer oder unterer Limes.o „Grenze“ ist hier ein eindeutig bestimmtes „Element“. „Reelle“ Zahlen und deren Anordnung Ohne ausdrückliche Nennung der betrachteten Relation < kann RUSSELL nun zügig und in sehr präziser Sprache zur Definition von „reeller“ Zahl als einem „Segment“ gelangen: ˜ „[Man beachte], dass eine Irrationalzahl durch einen irrationalen Schnitt und ein Schnitt durch seine Unterklasse dargestellt ist.
[Definition (Segment).] Beschränken wir uns auf Schnitte, bei denen die Unterklasse kein Maximum hat, so wollen wir die Unterklasse ein »Segment« nennen. Dann sind die Segmente, die den Brüchen entsprechen, diejenigen, die aus allen Brüchen bestehen, die kleiner sind als der entsprechende Bruch. Dieser ist ihre Grenze. Dagegen besitzen die Segmente, die Irrationalzahlen entsprechen, keine Grenze. Gehören zwei Segmente, mit oder ohne Grenze, zu einer Folge, so muss das eine Segment einen Teil des anderen bilden. Also können alle Segmente vermöge der Relation des Ganzen zu einem Teil [also der Relation k] in eine Folge angeordnet werden. Eine Folge mit Dedekind’schen Lücken, in der es Segmente ohne Grenze gibt, erzeugt mehr Segmente, als sie Elemente besitzt. Denn jedes Element wird ein Segment definieren, welches das betreffende Element als Grenze besitzt. Dazu kommen noch die Segmente ohne Grenze. Wir sind jetzt in der Lage, eine reelle Zahl und eine Irrationalzahl zu definieren.
[Definition (reelle Zahl).] Eine »reelle Zahl« ist ein Segment in der Folge der nach der Größe geordneten Brüche.
[Definition (irrationale Zahl).] Eine »Irrationalzahl« ist ein Segment in der Folge der Brüche, das keine Grenze besitzt.
[Definition (rationale reelle Zahl).] Eine »rationale reelle Zahl« ist ein Segment in der Folge der Brüche, das eine Grenze besitzt. Also besteht eine rationale reelle Zahl aus allen Brüchen, die kleiner sind als ein gewisser Bruch, und sie ist diejenige rationale reelle Zahl, die diesem Bruch entspricht. Die reelle Zahl 1 z. B. ist die Menge der echten Brüche.“ (Russell 2002b, S. 84 f.) o
Vgl. Russell 2002b, S. 83.
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Die Neuschöpfung – Variante 2: Dedekind 1872 Es ist auffällig, um wie vieles dichter die Sprache RUSSELLs gegenüber derjenigen D EDEKINDs ist.365 Schauen wir zurück. Bei H EINE ist die Zahl 1 das „Zeichen“ für die „Grenze“ aller S. 467 gegen 1 „konvergierenden“ Folgen aus rationalen Zahlen. Bei H EINE ist die 1 also eine sehr viel unübersichtlichere (von ihm nicht so genannte) „Gesamtheit“, als es die RUSSELL’sche 1 ist. Allerdings ist die H EINE’sche 1 analytisch sehr viel leichter zu handhaben: Wenn man eine „konvergente“ Zahlenfolge hat, dann hat man damit bereits ihre „Grenze“ – RUSSELL hingegen muss zu dieser „konvergenten“ Zahlenfolge das betreffende „Segment“ allererst konstruieren. Rechnen mit „reellen“ Zahlen Für die „Segmente“ lassen sich auch die Rechenregeln leichter fasslich bestim- S. 493 men, als wir das bei D EDEKIND gesehen haben:
„Die Definition der Addition und Multiplikation für die oben definierten reellen Zahlen macht keine Schwierigkeiten. Gegeben seien zwei reelle Zahlen µ und ν. Jede ist eine Menge von Brüchen. Man nehme irgendein Element von µ und irgendein Element von ν und addiere sie nach der Additionsregel der Brüche. Man bilde die Menge aller Summen, die durch Variation der ausgewählten Elemente von µ und ν entsteht. Dies gibt eine Menge von Brüchen, und es ist leicht zu beweisen, dass diese neue Menge ein Segment in der Reihe der Brüche ist. Wir definieren es als die Summe von µ und ν. Kürzer können wir die Definition wie folgt ausdrücken: Die arithmetische Summe von zwei reellen Zahlen ist die Menge der arithmetischen Summen eines Elements der einen und eines Elements der anderen, die auf alle möglichen Weisen gebildet sind. Das arithmetische Produkt von zwei reellen Zahlen können wir genauso definieren, indem wir ein Element der einen Menge mit einem Element der anderen auf jede mögliche Weise multiplizieren. Die Menge der so erzeugten Brüche ist als das Produkt der beiden reellen Zahlen definiert. (Bei all diesen Definitionen ist die Folge der Brüche derart zu definieren, dass 0 und Unendlich ausgeschlossen sind.) Die Ausdehnung unserer Definitionen auf die positiven und negativen reellen Zahlen, ihre Addition und Multiplikation, bietet keine Schwierigkeiten.“ (Russell 2002b, S. 86) 365
Die Begriffe „Unterklasse“ und „Oberklasse“ hatte zuvor freilich schon TANNERY verwendet: siehe S. 601.
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872
S. 462
(Dieser letzte Satz zeigt, dass auch RUSSELL die Zahlen zunächst als „absolute“ konstruiert und erst danach die positive und die negative Einheit definiert.p ) Dennoch erscheint es mir unbestreitbar, dass die C ANTOR/H EINE’sche Konstruktion der „reellen“ Zahlen algebraisch weitaus einfacher zu handhaben ist. (Insbesondere übertragen sich die Rechengesetze dort gänzlich unbesehen: Was in jeder „Komponente“ gilt, gilt deswegen auch für das aus diesen Komponenten konstruierte Objekt – und dies ist ein „Repräsentant“ der neuen „reellen“ Zahl.) N AC H T R AG : M É R AY S S K I Z Z E AU S D E M J A H R 1 8 6 9
Schon im Jahr 1869 publizierte C HARLES R OBERT M ÉRAY (1835–1911) einen zehnseitigen Artikel: „Remarques sur la nature des quantitées définies par la condition de servir de limites à des variables données“ (Bemerkungen über die Natur der Größen, welche durch die Bedingung bestimmt sind, als Grenzen gegebener S. 440, Veränderlicher zu dienen).q Wie wir bereits wissen betrachtet der seinerzeit maßPunkt 2(a)ii gebliche französische Analysisgeschichtler P IERRE D UGAC (1926–2000) dies als die früheste Erfindung des Begriffs „reelle“ Zahl – Grund genug für eine detaillierte Analyse. ZWEI PRINZIPIEN M ÉRAY formuliert anfangs folgende beiden „Prinzipien“: 1. Eine veränderliche Größe v, die nacheinander die Werte v1 ,
v2 ,
in unbestimmter Zahl annimmt, strebt gegen eine gewisse Grenze, wenn die Ausdrücke dieser Grenze immer zunehmen oder abnehmen, sofern sie im ersten Fall kleiner, im zweiten Fall größer als eine beliebige feste Größe bleiben. 2. Die Veränderliche v, wie oben definiert, genießt dieselbe Eigenschaft, falls der Unterschied v n+p − v n gegen Null strebt, wenn n unbestimmt zunimmt, welche Beziehung man auch immer zwischen n und p einrichtet.“
„1◦ Une quantité variable v, qui prend successivement les valeurs en nombre indéfini: ... ,
vn ,
...
tend vers une certaine limite, si les termes de cette limite vont toujours soit en augmentant, soit en diminuant, pourvu qu’ils restent dans le premier cas inférieurs, dans le second supérieurs à une quantité fixe quelconque. 2◦ La variable v, définie comme cidessus, jouit encore de la même propriété si la différence v n+p − v n tend vers zéro quand n augmente indéfiniment, quelque relation qu’on puisse établir entre n et p.“(Méray 1869, S. 280)
Merken wir gleich an: Das erste dieser „Prinzipien“ ist nicht sehr klar formuliert: Was sollen „die Ausdrücke dieser Grenze“ sein: verschiedene „Ausdrücke“ für p
Vgl. Russell 2002b, S. 75.
q
Méray 1869
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Nachtrag: Mérays Skizze aus dem Jahr 1869 eine „Grenze“? Verschieden sind gewiss die „Werte“ v n der Veränderlichen, aber auch die „Ausdrücke“ für diese „Werte“? Fordert „Prinzip 1◦ “ die Existenz jener einen „gewissen Grenze“, von der dort die Rede ist? Und was ist diese „Grenze“: ein „Wert“ oder eine „Größe“? Vielleicht passt folgende Deutung: Mit „Prinzip 1◦ “ wird jener Begriff bezeichnet, der hier ‚KonvergenzCy ‘ heißt, mit „Prinzip 2◦ “ der Begriff ‚KonvergenzBz ‘. Allerdings ist ein S. 321 „Prinzip“ kein „Begriff“. Ein „Prinzip“ setzt einen Gegenstand oder eine Regel. Wir müssen also genauer sein. Wir sagen: (1◦ ) Mit „Prinzip 1◦ “ wird hier verlangt: Wann immer die Bedingung der ‚KonvergenzCy ‘ erfüllt ist, soll die „Grenze“, von der dort die Rede ist, existieren. Und: (2◦ ) Wann immer die Bedingung der ‚KonvergenzBz ‘ erfüllt ist, soll eine (eindeutig bestimmte) „Grenze“ dieser Folge existieren. – Aber worin besteht dann der Unterschied zwischen diesen beiden Prinzipien? „Prinzip 1◦ “ nennt die „Grenze“ ausdrücklich; „Prinzip 2◦ “ bestimmt sie auch, lagert sie aber irgendwie aus.
M ÉRAY zufolge seien diese beiden „Prinzipien“ bisher als „Axiome“ angesehen worden, doch eine genaue Untersuchung zeige, dass das Zweite auf das Erste zurückgeführt („amener“r ) werden könne, welches von „bestimmterer Klarheit“s sei, und dass sie sogar äquivalent seien. Was heißt, „Prinzip 2◦ “ werde auf „Prinzip 1◦ “ zurückgeführt? M ÉRAY meint damit: Wenn die in „Prinzip 2◦ “ formulierten Bedingungen erfüllt sind, existiert die in „Prinzip 1◦ “ genannte „Grenze“. Dies beweist er dann im Detail: (i) Zu jeder Zahl k (M ÉRAY hat hier „n“366 ) gibt es zwei „Größen“ l k , L k sodass für alle n > k gilt: lk < vn < Lk . Der Sachverhalt ist – wie hier gedeutet – zutreffend. (ii) |l k − L k | wird mit wachsendem k kleiner. Man erhält also zwei monotone Folgen l h und L h , die sich einander „unbestimmt annähern“t . (iii) Wenn die beiden monotonen Folgen l h und L h (jede für sich) nicht konstant werden, „streben sie notwendigerweise gegen eine gewisse Grenze (limite)“t . Zur Begründung beruft sich M ÉRAY auf „das Axiom I“ – womit sein „Prinzip 1◦ “ gemeint sein dürfte. (iv) l und L sind gleich. Denn wäre l < L, könnte v n+p − v n diesen Abstand nicht unterschreiten – was in „Prinzip 2◦ “ jedoch verlangt ist. (v) Folglich gilt: Die Veränderliche v konvergiert gegen λ, den gemeinsamen Wert von l und L.
„La variable v converge vers λ, valeur commune de l , L.“ (Méray 1869, S. 283)
Diese Beweisführung ist vielleicht zur Hälfte tragfähig, die Behauptung in Schritt (iii) ist unbegründet. r
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Méray 1869, S. 281, Z. 2
s
Méray 1869, S. 281, Z. 3
t
Méray 1869, S. 282
Ich danke B ERND A RNOLD für diese Deutungsidee.
Méray
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 ad (iii): In Schritt (iii) zaubert die unklare Formulierung von „Prinzip 1◦ “ zwei „Grenzen“ l und L herbei – die als „Werte“u bezeichnet werden. Woher stammen sie? Welche „Werte“ sind hier l und L?
S. 295
Ganz konkret: Aus der Untersuchung der E ULER’schen Zahl e kennen wir die beiden ¡ ¢k nachstehenden, e monoton annähernden Folgen. l k = 1 + k1 ist eine monoton wach¢k+1 ¡ ist eine monoton fallende, nach sende, nach oben beschränkte Folge, und L k = 1 + k1 unten beschränkte Folge: Welche „Werte“ sind hier nun l und L? B OLZANO sagt an dieser Stelle, eine „Größe so genau, als man nur immer will, zu bestimmen“, sei gleichbedeutend mit dem Nachweis ihrer Existenz. Und was sagt M ÉRAY? Das: Wir werden die Grenzen dieser Folgen bzw. die konstanten Werte, die ihre Glieder schließlich beibehalten, l , L nennen.
„Nous nommerons l , L les limites de ces suites ou bien les valeurs constantes que leurs termes finissent par conserver.“ (Méray 1869, S. 282)
Aber „nennen“ ist nicht etwas konstruieren! Und der Konstruktion dieses Gegenstandes „Grenze“ bedarf es schon, will man über B OLZANO hinaus gelangen. M ÉRAY jedenfalls gelingt das hier nicht. Er wiederholt hier einfach B OLZANO 1817.
ad (iv): Dieser Schritt ist trivial. Wenn man die „Werte“ l und L als die besagten „Grenzen“ hat, können sie nicht verschieden sein. Nur hat M ÉRAY sie leider nicht. Wollte man versuchen, M ÉRAYs misslungenen Schritt (iii) dadurch zu retten, dass man ihm eine Vorwegnahme C ANTORs und H EINEs attestierte, und (gegen M ÉRAYs Worte!) sagen: In Schritt (iii) sei nicht von „Werten“ l und L die Rede, sondern von „Größen“, noch genauer: von „Zeichen“ l und L für „Größen“, dann käme man jetzt in unüberwindliche Schwierigkeiten. Denn wie könnte jetzt l = L sein? Wenn l und L doch irgendwelche „Zeichen“ wären, dann wären sie – eben als Zeichen – im Allgemeinen sicher verschieden. Und eine Ungleichung der Art „l < L“ wäre vollkommen sinnlos, denn zwischen bloßen „Zeichen“ bestehen keinerlei arithmetische Beziehungen!
ad (v): Der letzte Schritt ist nicht mehr als die Zusammenfassung des (in M ÉRAYs Augen) Erreichten. „FIKTIVE GRENZEN“ Merkwürdigerweise ist M ÉRAYs Essay hier noch nicht zu Ende! Obwohl M ÉRAY doch seines Erachtens bewiesen hat, dass „Prinzip 2◦ “ auf „Prinzip 1◦ “ „zurückgeführt“ werden könne, und das besagt wohl nichts anderes als: Jede ‚konvergenteBz ‘ Folge hat einen „Grenzwert“. Was kann man noch mehr tun? M ÉRAY bedauert jetzt die Tatsache, dass die Aussage in „Prinzip 1◦ “ nicht immer p erfüllt ist. (Eine monoton steigende rationale Näherung von 2 wie etwa auch die ¡ ¢k rationale Folge 1 + k1 hat keine rationalen Grenzen.) Und er konstatiert (schade, dass er im Folgenden von „Axiom“ spricht statt von dem doch wohl gemeinten „Prinzip 2◦ “): u
Méray 1869, S. 282, Z. −10
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Nachtrag: Mérays Skizze aus dem Jahr 1869 Nun erlauben es die durch unser Axiom hervorgebrachten Kenntnisse über die Natur der Veränderlichen allein nicht, aus sich heraus den Wert ihrer Grenze zu entdecken.
„Or les notions fournies par notre axiome sur la nature de la variable ne permettent pas à elles seules de découvrir la valeur de sa limite.“ (Méray 1869, S. 283)
Das stellt nun unser Verständnis der bisherigen Ausführungen M ÉRAYs massiv infrage. Aber immerhin problematisiert M ÉRAY jetzt den bislang misslungenen Beweisschritt, aus der ‚konvergentenBz ‘ Folge die „Grenze“ zu gewinnen: der obige Schritt (iii). Folgen wir M ÉRAY also einfach weiter! Seinen zuletzt zitierten Satz könnte man so verstehen, als wolle M ÉRAY – jetzt – strikt zwischen der „Grenze“ (als einer „Größe“) und deren „Wert“ (als einer „Zahl“) unterscheiden. Zuvor noch hatte er in Beweisschritt (iii) den „Wert“ (genauer: zunächst die „Werte“ l und L) umstandslos für existent erklärt. Wir sind also gespannt. Im Weiteren bedeutet „Zahl“ (nombre) oder „Größe“ (quantité) bei M ÉRAY „ganz(e Zahl) oder gebrochen(e Zahl)“. Als „fortschreitende Veränderliche“ bezeichnet er eine „Größe“ v, die „nacheinander verschiedene Werte in unbegrenzter Anzahl annimmt“v . (Dass „Wert“ soviel wie „Zahl“ bedeute, sagt M ÉRAY nicht, allerdings verneint er das auch nicht.) Dann wird seine Ausdrucksweise wieder unscharf: Wenn eine „fortschreitende Veränderliche“ die Eigenschaft hat, dass „der Unterschied v n+p − v n immer gegen Null konvergiert“, dann muss es keine (ganze oder rationale) „Zahl“ als „Grenze“ dieser Veränderlichen geben. Die „bemerkenswerte Eigenschaft dieses genannten Unterschiedes“w verdiene einen „besonderen Ausdruck“: Ich werde [dann] sagen, dass die fortschreitende Veränderliche v konvergent ist, falls sie eine numerisch zuordenbare Grenze hat oder nicht.
„Je dirai que la variable progressive v est convergente, qu’elle ait ou non une limite numériquement assignable.“ (Méray 1869, S. 284)
Mit „konvergent“ meint M ÉRAY wohl die genannte „bemerkenswerte Eigenschaft“ des Unterschieds v n+p − v n (also unser ‚konvergentBz ‘ ). M ÉRAY dehnt hier den Be- S. 321 griff „konvergent“ auch auf solche rationalwertigen Veränderlichen aus, die keine rationale „Grenze“ haben. Aber nur reden („ich werde sagen“) ist Blech, es muss endlich eine Konstruktion her! Das sieht auch M ÉRAY – und gibt nun die erste seiner insgesamt drei entscheidenden Definitionen: Um die Konvergenz der Veränderlichen auszudrücken, wird man einfach sagen: sie hat eine (fiktive) Grenze.
„Pour exprimer la convergence de la variable, on dira simplement: elle a une limite (fictive).“ (Méray 1869, S. 284)
Demnach haben sämtliche „konvergenten“ (rationalwertigen) Veränderlichen jetzt per definitionem eine „Grenze“: eine wirkliche (rationale) oder eine „fiktive“. (M ÉRAY sagt nicht, ob es nur dann eine „fiktive Grenze“ geben soll, wenn es keine v
Méray 1869, S. 284, § IV.
w
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 rationale gibt.) – Leider aber ist das wieder nur Rede und keine Konstruktion! Was, bitte schön, ist eine „fiktive“ Grenze? M ÉRAY verrät es uns nicht. Dann folgen die zweite und die (bei M ÉRAY nicht hervorgehobene) dritte entscheidende Definition: ˜ Man wird Wert der wirklichen oder fiktiven Grenze von v, bis auf δ angenähert, jede dganze oder rationalee Zahl λ nennen, deren Unterschied λ − v n schließlich unterhalb eines numerischen Wertes kleiner als δ bleibt. ˜ Endlich wird sprachlich irgendein Zeichen, das geeignet ist, gleichzeitig die Natur der Rechnungen, die v n definieren, und die numerischen Werte der Größen, für die man sie ausführen muss, zu ver˜ gegenwärtigen, bequem die fiktive Grenze benennen; dasselbe Zeichen wird die unbestimmte Zahl [sic] in den Formeln darstellen, die [nämlich die „unbestimmte“ Zahl] davon den Näherungswert darstellt, mit einem unbestimmt und mehr und mehr erhöhten Näherungsgrad berechnet, d. h. im Grunde: ddasselbe Zeichen wirde jede zu v äquivalente fortschreitende Veränderliche ddarstellene.
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„On pourra nommer valeur de la limite réelle ou fictive de v approchée à δ près tout nombre λ, tel que la différence λ − v n finisse par conserver une valeur numérique inférieure à δ. Enfin un signe quelconque propre à rappeler, à la fois, la nature des calculs qui définissent v n et les valeurs numériques des quantités sur lesquelles on doit les exécuter, désignera commodément dans le langage, la limite fictive; le même signe pourra représenter dans les formules le nombre indéterminé qui en représente la valeur approchée, calculée à un degré d’approximation de plus en plus et indéfiniment élévé, c’est-à-dire, au fond, toute variable progressive équivalente à v.“ (Méray 1869, S. 285)
Ist die Grenze „fiktiv“, kann sie (durch Rationalzahlen) „bis auf δ angenähert“ sowie durch ein „beliebiges Zeichen“ beschrieben werden. Dieses „beliebige Zeichen“ ist geeignet, die „Grenze“ sämtlicher Veränderlicher zu bezeichnen, die gegen sie „konvergieren“. Sollen wir sagen: Mit diesem letzten Satz habe M ÉRAY den Begriff der Äquivalenzklasse eingeführt? – Vielleicht hat er so gedacht, aber klar formuliert ist das gewiss nicht. Resultat: M ÉRAY hat jeder ‚konvergentenBz ‘ Folge eine „Grenze“ konstruiert: falls es keine Rationalzahl mit der fraglichen Eigenschaft, „Grenzwert“ zu sein, gibt, eine „fiktive“ – und das ist: irgendein „Zeichen“. Dieses beliebige „Zeichen“ steht für den Umstand, dass ein „Wert“ (der „Wert“ dieses „Zeichens“?) „bis auf δ angenähert“ bestimmt werden kann, für jedes δ > 0. Was hat M ÉRAY also mehr gesagt als B OLZANO? Doch nur dies: Wenn man eine „Größe so genau, als man nur immer will, zu bestimmen“ vermag, darf man ihr auch ein beliebiges „Zeichen“ verpassen, das „fiktive“ Grenze heißt. Dieses „Zeichen“ steht für eben jenen beliebig genau bestimmbaren „Wert“. – Wirklich viel mehr ist das nicht, oder? Eine Antwort darauf, was dieser „Wert“ sei, bleibt M ÉRAY jedenfalls eindeutig schuldig.
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Nachtrag: Mérays Skizze aus dem Jahr 1869 REKAPITULATION UND EINSCHÄTZUNG M ÉRAYs „Prinzip 1◦ “ formuliert den Begriff ‚konvergentCy ‘, sein „Prinzip 2◦ “ den Begriff ‚konvergentBz ‘. Wenn M ÉRAY sagt, er wolle „Prinzip 2◦ “ auf „Prinzip 1◦ “ „zu- S. 321 rückführen“, so will er fordern: Wenn „Prinzip 2◦ “ gilt, dann auch „Prinzip 1◦ “; oder mit unseren Worten: Wenn eine Folge (aus rationalen Zahlen) ‚konvergentBz ‘ ist, dann ist sie auch ‚konvergentCy ‘ . Natürlich weiß M ÉRAY, dass nicht jede ‚konvergenteBz ‘ Folge aus rationalen Zahlen eine rationale „Grenze“ hat. In diesen Fällen erfindet M ÉRAY „irgendein“ „Zeichen“ und nimmt dieses „Zeichen“ als die im Begriff ‚konvergentCy ‘ statuierte „Grenze“. Ein „Zeichen“ aber ist kein „Wert“. Doch M ÉRAY benötigt einen „Wert“ – er will ja rechnen. Was also ist dieser „Wert“? M ÉRAY sagt dies nicht. Stattdessen zieht er sich – wie weiland schon B OLZA - S. 295 NO – darauf zurück, dass dieser „Wert“ „mit einem unbestimmt und mehr und mehr erhöhten Näherungsgrad berechnet“ werden könne. Diese Eigenschaft hat er auch in einem Namen verankert: „numerisch zuordenbar“ hat er die „Grenze“ einer ‚konvergentenBz ‘ Folge genannt. Hat M ÉRAY etwas Vergleichbares getan wie C ANTOR/H EINE und D EDEKIND? Letztere haben klar und eindeutig den Bereich der „rationalen“ Zahlen zum Bereich der „reellen“ Zahlen erweitert, in unterschiedlicher Weise. Hat also auch M ÉRAY die Rationalzahlen erweitert? Ja und nein. Ja, denn er hat jedenfalls zusätzlich zu den Rationalzahlen „fiktive“ Grenzen definiert, die er durch „beliebige“ Zeichen beschrieben haben möchte. Aber diese „fiktiven“ Grenzen oder ihre „beliebigen“ Zeichen hat M ÉRAY (i) nicht als neuen Gegenstand (oder Gesamtheit) konstituiert. Und er hat sie (ii) auch nicht als Objekte des Rechnens und der Anordnung behandelt, somit nicht als „Zahlen“. Er hat nicht klar gesagt, welches der „Wert“ einer solchen neuen „fiktiven“ Grenze ist, sondern nur, dass man ihn berechnen könne. Er hat nur – wiederholt – betont, dass diese „fiktiven“ Grenzen beliebig genau durch Rationalzahlen angenähert werden können. Damit hat er das Thema verfehlt, denn das hatte im Jahr 1817 schon B OLZANO formuliert. Kurz: M ÉRAY ist den Nachweis schuldig geblieben, dass die von ihm definierten neuen Gegenstände wie Zahlen behandelt werden können.367 367
Ein französischer Mathematikhistoriker möchte M ÉRAY freilich mehr zubilligen. D UGAC findet „drei verschiedene Theorien der reellen Zahlen“ (Dugac 1978, S. 389), nämlich jene von W EIERSTRASS, die von D EDEKIND und schließlich „die Theorien von Charles Méray und Georg Cantor“ (Dugac 1978, S. 393). Er wertet also W EIERSTRASS’ Theorie als eine gelungene auf (das haben wir schon zitiert: siehe S. 440), lässt H ILBERTs axiomatischen Zugang (siehe ab S. 559) aus und fasst die Konstruktionen von M ÉRAY und C ANTOR irgendwie (aber doch nicht ganz) zusammen. M ÉRAYs Theorie findet D UGAC jedenfalls makellos: „Als Erster veröffentlichte 1869 C HARLES M ÉRAY eine strenge Theorie der irrationalen Zahlen.“ (Dugac 1978, S. 393) Unter Verweis auf und Zitat aus einem Lehrbuch der Mathematk von J. D IXMIER aus dem Jahr 1973 (!) analysiert D UGAC:
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 DREI JAHRE SPÄTER Im Jahr 1872 publizierte M ÉRAY ein Lehrbuch zur Analysis.x Dieser „Abriss“ gibt einen etwas genaueren Einlick in sein Denken. Im ersten Kapitel (S. 1–18) geht es dem Autor um „Vorkenntnisse“, im zweiten (S. 19–29) um „Reihen“. Daraus dürfen wir hoffentlich ableiten, dass „Reihen“ (und dazu äquivalent: „Folgen“) in seinem ersten Kapitel keine Rolle spielen. Der Grundbegriff
Als Erstes bestimmt M ÉRAY seinen Anfangsbegriff: Wir werden Wechselnde eine veränderliche Nous appellerons variante un nomZahl v m,n,... nennen (ganz oder gebrochen, bre variable (entier ou fractionaire, positiv oder negativ), deren Wert von gan- positif ou négatif ), v m,n,... dont la zen Zahlen m, n, . . . abhängt, die alle Kom- valeur dépend de nombres entiers binationen der möglichen Werte anneh- m, n, . . . qui prennent toutes les men und die wir ihre Indizes nennen wer- combinaisons de valeurs possibles den. et que nous nommerons ses indices. Zum Beispiel sind Par exemple: 1 1 1 1 +...+ + , v m.n = 2 m −1 m mn Wechselnde mit einem bzw. zwei Indizes. sont des variantes à un et deux indices. (Méray 1872, S. 1) vm = 1 +
M ÉRAYs Grundbegriff ist hier also die „veränderliche Rationalzahl“, die er kurz „Wechselnde“ (variante) nennt. Dann betrachtet er den Fall, dass es eine „Zahl“ V gibt (wir deuten: eine „Rationalzahl“) und „man m, n, . . . groß genug wählen kann, damit die Differenz x
Méray 1872 „M ÉRAY defnierte nämlich zunächst den Begriff äquivalenter Folgen aus rationalen Zahlen. [. . . ] M ÉRAYs Definition der irrationalen Zahl entspricht »einem Übergang zu Quotienten« bezüglich dieser Äquivalenzrelation. Tatsächlich behauptete er, dass ein beliebiges Zeichen den fiktiven Grenzwert einer Folge v bezeichnen könnte und dass dasselbe Zeichen jede zu v äquivalente Folge repräsentieren könnte.“ (Dugac 1978, S. 394) Im Detail wird man dieser Analyse nicht zustimmen können. M ÉRAY spricht keineswegs von einer „Äquivalenzrelation“. In ‚resultatistischer‘ Manier mag man M ÉRAY so lesen, wie es D IXMIER offenbar tut, aber damit wird in M ÉRAYs Text etwas hineingelesen, was dort nicht steht. – D UGAC schreibt dann weiter: „Eine ähnliche Theorie wurde von G EORG C ANTOR ausgearbeitet. Sie wurde 1872 zunächst von E. H EINE veröffentlicht, danach auch von C ANTOR selbst. (Wir weisen darauf hin, dass C ANTOR von 1863 bis 1866 in Berlin studierte, als W EIERSTRASS dort seine Theorie der reellen Zahlen darlegte.)“ (Dugac 1978, S. 394) Dass D UGAC die Abhängigkeit C ANTORs von W EIERSTRASS etwas zu plump sieht, haben wir schon vermerkt (siehe Anmerkung 330 auf S. 443).
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Nachtrag: Mérays Skizze aus dem Jahr 1869 V −v m,n,... für diese und alle größeren Werte der Indizes nach absolutem Wert kleiner sei als eine beliebig kleine Größe“y . Dann sagt M ÉRAY: „Die Wechselnde v m,n,... strebt oder konvergiert gegen die Grenze V .“y Ist V = 0, so heißt die betreffende Wechselnde „unendlich klein“y . Das ist unser Begriff ‚KonvergenzCy ‘ . Wenn eine „Wechselnde“ keine „Grenze“ hat und ihr „absoluter dveränderlichere Wert“ größer wird und bleibt als irgendeine gegebene Zahl, heißt sie „unendlich“z ; wenn „ihr dveränderlichere Wert numerisch[368] kleiner bleibt als eine bestimmte feste Zahl“, heißt sie „endlich“z . Demzufolge ist die „Wechselnde“ mit den beiden alternierenden Werten +1, −1 „endlich“.
Rechnen
„Ohne jegliche Schwierigkeit“, sagt M ÉRAY, beweist man dann:z I. Summe, Produkt, Potenz und Quotient (bei nicht unendlich kleinem Nenner) solcher „endlicher“ – wie auch „unveränderlicher“ – Größen sind „endliche“ Größen. II. Das Produkt einer unendlich kleinen Größe mit einer unveränderlichen oder endlichen Größe ist unendlich klein, ebenso die Summe irgendeiner Anzahl solcher Produkte, die positiven Potenzen einer unendlich Kleinen und der Kehrwert einer Unendlichen. III. [. . . ] IV. Bei den Rechnungen gemäß I kann man statt mit den Wechselnden auch mit deren Grenzen rechnen und erhält dieselben Ergebnisse. Kein einziger dieser Beweise wird ausgeführt (oder auch nur angedeutet). Kein Wunder, denn sie würden länglich.
Irrationale Zahlen
Unter der Überschrift „Inkommensurable Zahlen“ folgt nun die Definition: Wir werden konvergent jede Wechselnde v m,n,... nennen, bei der die Differenz
Nous nommerons convergente toute variante v m,n,... telle que la différence
v m+p,n+q,... − v m,n,... für beliebige p, q, . . . kleiner als eine unendlich kleine Wechselnde mit den Indizes m, n, . . . ist, oder kürzer: bei dey 368
Méray 1872, S. 1
z
soit, quels que soient p, q, . . . inférieure à variante infiniment petite, aux indices m, n, . . . ; ou bien, plus briève-
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im Sinne von: absolut betrachtet
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 nen diese Differenzen für unendliche m, n, . . . gegen Null streben, was immer p, q, . . . sind.
ment, telle que cette différence tende vers zéro pour m, n, . . . infinis que soient p, q, . . . (Méray 1872, S. 2 f.)
Dies ist offenbar unser Begriff ‚KonvergenzBz ‘ . „Zwei Wechselnde v m,n,... , v 0 m 0 ,n 0 ,... heißen äquivalent, wenn ihre Differenz v m,n,... − v 0 m 0 ,n 0 ,... , betrachtet als eine Wechselnde, mit den Indizes m, n, . . . , m 0 , n 0 , . . . unendlich klein ist.“ (Méray 1872, S. 3) Danach „beweist man leicht“a , dass Summe, Produkt, Potenz und Quotient (bei nicht unendlich kleinem Nenner) einer bestimmten Anzahl von konvergenten Wechselnden und von unveränderlichen Größen konvergente Wechselnde und äquivalent zu jenen sind, die man erhält, wenn man äquivalente Wechselnde mit zu den Anfangsgrößen rechnet. Auch diese nicht kurzen Beweise werden nicht einmal angedeutet. Um jetzt im Falle der „konvergenten“ (wohl: ‚konvergentBz ‘) Wechselnden die Rede von den „äquivalenten“ Wechselnden loszuwerden, schlägt M ÉRAY vor: „Man kann übereinkommen, bildlich (au figuré) zu sagen, dass eine Wechselnde gegen eine fiktive inkommensurable Grenze strebt, wenn sie konvergent ist und keine numerisch dexakte angebbare Grenze hat“ (Méray 1872, S. 3) Äquivalente „inkommensurable“ konvergente Wechselnde haben dann dieselbe „inkommensurable“ Grenze. – Und abschließend erklärt M ÉRAY: „Dies ist für uns die Natur der inkommensurablen Zahlen: Sie sind Fiktionen, die es erlauben, in einer gleichförmigen und sehr bildhaften Weise sämtliche Aussagen über konvergente Wechselnde auszusprechen.“ (Méray 1872, S. 4)
S. 461 S. 493
In echt französischer Art legt M ÉRAY die Betonung auf die Redeweise. Darum geht es ihm. Wenn die Mathematik eine Sprache (und sonst nichts) wäre, wäre damit alles gut. Doch C ANTOR/H EINE und D EDEKIND haben gezeigt: Der Mathematik geht es um die Konstruktion von Begriffen, und sie haben solche vorgelegt (Mengen äquivalenter Folgen aus Rationalzahlen bzw. Zweiteilungen der Rationalzahlen in Unter- und Oberklasse) – anders als M ÉRAY. Während M ÉRAY sich immer wieder mit der Floskel „man beweist leicht“ aus der Affäre zieht, können C ANTOR, H EINE und D EDEKIND konkrete Rechnungen und Existenzbeweise vorlegen – gar nicht zu reden vom Begriff des „aktualen“ Unendlich, der all diesen Konstruktionen zugrunde liegt, bei M ÉRAY aber auch nicht andeutungsweise zwischen den Zeilen hervorlugt. a
Méray 1872, S. 3
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Rückblick auf die Revolution des Zahlbegriffs R Ü C K B L I C K AU F D I E D U R C H ( M É R AY, ) C A N T O R , H E I N E UND DEDEKIND BEWIRKTE REVOLUTION DES ZAHLBEGRIFFS (M ÉRAY,) C ANTOR/H EINE sowie D EDEKIND haben um 1869/72 den ‚analytischen‘ Zahlbegriff revolutioniert. Knapp vierhundert Jahre zuvor hatte S TEVIN die Dezimalschreibweise für nicht ganze Zahlen mit Erfolg bekannt gemacht. S TEVINs S. 5 Technik war keine Theorie der Zahl. Eine solche Theorie präsentierte erst H US - ab S. 539 SERL . Aber diese Technik schuf der Mathematik Gegenstände. Diese Gegenstände waren Anknüpfungspunkte für mathematische Argumentationen. Während die „Dezimalzahlen“ im 18. Jahrhundert – namentlich bei E ULER konnten wir das sehen – keinen herausgehobenen Status hatten, sondern unter „ferner liefen“ be- S. 242 handelt wurden, hatte sich das mit dem beginnenden 19. Jahrhundert gewandelt: Beweise mittels Intervallteilungen kamen auf. Eine Intervallteilung aber ist nichts anderes als eine Bezugnahme auf eine von der Basis 10 abstrahierte (und also um das „Dezi“ – lateinisch: „Zehntel“ – beraubte) „Dezimalzahl“. Die Schöpfer der „reellen“ Zahlen um 1869/72 konstruieren in neuer Weise mathematische Gegenstände. Sie beschreiben oder benennen nicht einfach gewisse Eigenschaften, die den neuen Objekten zukommen sollen – wie etwa E ULER das getan hat –, sondern sie konstruieren diese neuen Objekte „reelle“ Zahlen als Begriffe aus anderen wohl definierten Begriffen. Jetzt wird die Differenzial- und Inte- S. 491, gralrechnung (die Analysis) zur reinen Mathematik. (Dass dies auf D EDEKIND nur Punkt 2 sehr eingeschränkt zutrifft – sondern eher: zutreffen könnte –, wurde gesagt.) In einer griffigen Formulierung RUSSELLs: „Die Verallgemeinerungen der Zahlen werden durch die reine Notwendigkeit derselben nicht geschaffen. Geschaffen werden sie durch die Definition [. . . ]“ (Russell 2002b, S. 87) Und zur Kennzeichnung seiner eigenen Vorgehensweise: „Der große Vorzug dieser Methode besteht darin, dass sie keine neuen Annahmen braucht, sondern uns erlaubt, deduktiv von den ursprünglichen logischen Daten auszugehen.“ (Russell 2002b, S. 85) (Wer RUSSELLs philosophische Position des Logizismus’ nicht teilt, wird das Wort „logisch“ aus dem letzten Satz streichen, ehe er ihm vielleicht zustimmt.) Die Konstruktionen von C ANTOR und D EDEKIND haben den Zahlbegriff der Analysis grundlegend neu gefasst. Bemerkenswerterweise geschah das in zwar unterschiedlicher Herangehensweise, jedoch mit strukturell gleichem Resultat. Dass die Konstruktionen von C ANTOR/H EINE einerseits und von D EDEKIND andererseits mathematisch dasselbe leisten, wurde nach meiner Kenntnis damals nirgendwo diskutiert – und also auch: von niemandem infrage gestellt. Aber ist das so klar? Eine direkte Beweisführung liegt gewiss nicht auf der Hand. Sie wird meines Wissens auch heutzutage nirgends gegeben, insbesondere wohl in keinem Lehrbuch Analysis 1. Kein Wunder: Denn ein solcher Beweis ist aufwendig.
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872
ab S. 559
Im Nachhinein – genauer: nach H ILBERTs Axiomatisierung der reellen Zahlen – ist ein solcher Beweis auf der strukturellen Ebene in übersichtlicherer Weise zu führen: Man zeigt, dass das Axiomensystem der „reellen“ Zahlen „kategorisch“ ist, was nichts anderes besagt als: Alle Gegenstandsbereiche, die diese Axiome allesamt erfüllen (vornehm spricht man von „Modellen“ des Axiomensystems), sind einander „isomorph“. Das wiederum heißt soviel wie: „im Wesentlichen gleich“. Es gibt im Wesentlichen nur einen einzigen „angeordneten“ und zugleich „vollständigen“ „Körper“.369 (Die Strukturmathematik verleiht also dem durch C ANTOR/H EINE und D EDEKIND geschaffenen Zahlbegriff im Nachhinein eine besondere Weihe, indem sie ihm die Auszeichnung „einzig“ attestiert.)370
Doch wenn man sich dieser Beweisführung bedient, bedient man sich erneut der Strukturmathematik und also des ‚relationalen‘ Denkens, nutzt also eine höhere Abstraktionsstufe. Es wurde, strukturell betrachtet, nur ein einziger Begriff „reelle“ Zahl geschaffen – obwohl die tatsächliche Möglichkeit bestand, konkurrierende Zahlbegriffe zu konstruieren. Das jedoch geschah nicht. Tatsächlich bestehende Konstruktionsspielräume371 wurden nicht genutzt. So konnte sich die Mathematik mit ihrer Vorzeigetheorie Analysis in der Folgezeit als eine monolithische, deduktive Lehre neu aufstellen. Die anarchische Zeit des Interregnums seit der von B OLZANO und C AUCHY verabschiedeten Algebraischen Analysis neigte sich ihrem Ende. WELCHES NEUEN KONSTRUKTIONSMITTELS BEDIENEN SICH CANTOR, HEINE UND DEDEKIND? – DIE EINFÜHRUNG DES „AKTUALEN“ UNENDLICH IN DIE MATHEMATIK S. 452
Wir haben diesen Satz H ANKELs bereits zitiert: ˜ „Die Erweiterung des Zahlenbegriffs auf das Irrationale, und wollen wir sogleich hinzufügen, das Imaginäre, [war] der größte Fortschritt, den die reine Mathematik jemals gemacht hat.“ (Hankel 1867, S. 60)
Er stammt aus dem Jahr 1867. Hinsichtlich des darin behaupteten Sachverhalts erwies er sich als eine Prognose, die im Jahr 1872 erfüllt wurde – aber hinsichtlich des 369
Gut zugänglich etwa Mainzer 3 1992, S. 42. H ILBERT selbst verfuhr, naturgemäß, noch anders: Er schloss von der – von ihm behaupteten – Tatsache, dass man aus seinem „archimedischen“ und seinem „Vollständigkeitsaxiom“ den „Verdichtungssatz“ beweisen könne, also einen zentralen Lehrsatz der Analysis, kühn auf „die Übereinstimmung unseres [d. h. des axiomatisch bestimmten] Zahlensystems mit dem gewöhnlichen Systeme der reellen Zahlen.“ (Siehe S. 564.) H ILBERT sah, artikulierte und löste also das Problem, inwieweit der unterschiedlich bestimmte Begriff der „reellen“ Zahl zur selben Theorie führte – und schloss daraus auf die Übereinstimmung der Zahlbegriffe. Das war mutig! Denn er schloss damit von der Gleichheit der Wirkungen (der „Verdichtungssatz“ ist beweisbar) auf die Gleichheit der Ursachen (die Zahlbegriffe) – bekanntlich ein logisch höchst fragwürdiges Verfahren. 371 Siehe S. 500 sowie den nächsten Abschnitt, beachte jedoch S. 538! 370
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Ausblick auf eine lange unterbliebene Revolution des Zahlbegriffs: Die Ω-Analysis 1958 darin formulierten Urteils wird man ihn heute keineswegs als abwegig bewerten. Es liegt also die Frage nahe: Wodurch wurde dieser „größte Fortschritt, den die reine Mathematik jemals gemacht hat“ möglich? Die Antwort ist: Das entscheidende Mittel, mit dessen Hilfe C ANTOR, H EINE und D EDEKIND die „reellen“ Zahlen konstruiert haben, ist das „aktuale“ Unendlich. Jede einzelne „reelle“ Zahl wird von jedem dieser Mathematiker als eine „aktual“ unendliche Gesamtheit bestimmt. (Und in einer jeden „Veränderlichen“ müssen solche Objekte ihrerseits sofort wieder in „aktual“ unendliche Gesamtheiten solcher „aktual“ unendlicher Gesamtheiten zusammengefasst werden.) Wie wir wissen, hatte L EIBNIZ ausdrücklich formuliert: S. 186 „Ich gebe die unendliche Vielheit zu, aber diese Vielheit bildet keine Zahl und kein einheitliches Ganzes.“ (HS, Bd. II, S. 381 – Quelle: GM III, 575)
Diesen ehrwürdigen Grundsatz des mathematischen Denkens372 werfen C AN TOR , H EINE wie D EDEKIND im Jahr 1872 über Bord. Sie installieren das „aktuale“ Unendlich als (neuerdings) legitimes Objekt der Mathematik, als ein wohlbestimmtes „Ganzes“ – und zwar ungeachtet der Konsequenzen, die daraus für die Mathematik folgen. (Zur Abgrenzung gegen das „Aktual-Unendliche“ der Theologen nannte C ANTOR das mathematische „Aktual-Unendlich“ das „Transfinite“b .) Hier ist nicht der Ort, dieses Thema weiter zu entfalten. Wenigstens ein einziger Hinweis aber sei gegeben – siehe dazu den letzten Abschnitt des Buches. S. 676 AUSBLICK AUF EINE L ANGE UNTERBLIEBENE R E V O LU T I O N D E S Z A H L B E G R I F F S : D I E Ω - A N A LY S I S 1958 REKAPITULATION DER HERKUNFT DES CANTOR’SCHEN ZAHLBEGRIFFS G EORG C ANTOR hat seinen Zahlbegriff sicher im Anschluss an die W EIERSTRASSschen Bemühungen um die Konstruktion eines analytischen Zahlbegriffs entwickelt. Nun war W EIERSTRASS vor 1886 (jedenfalls noch 1878) stets von der „Grund- ab S. 455 reihe“ 1 1 1 1 , , , , ... (5.8) 1, 2 3 4 5 ausgegangen. Diese Reihe divergiert. Erst 1886 schaffte W EIERSTRASS diese „Grund- S. 391 reihe“ ab und forderte stattdessen von seinen „Zahlgrößen“ grundsätzlich die Be- S. 431 dingung b 372
Cantor 1887/88, S. 378 Er ist bekanntlich viel älter und keineswegs von L EIBNIZ erfunden. Als Beispiel nur ein Satz von N IKOLAUS VON K UES (1401–64): „Unendlichkeit der Zahl und das Nichtsein von Zahl kommt ja auf das Gleiche hinaus.“ (von Kues 2002, Kapitel 5, Z. 16)
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 Es gilt
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lim |a n+1 + a n+2 + · · · + a n+r | = 0 für jedes r > 0
n=∞
(5.16)
und also die „Konvergenz“. C ANTOR hingegen startete 1872 sogleich mit der Forderung der „Konvergenz“ für seine „Zahlengrößen“: Lim (a ν+µ − a ν ) = 0 ν=∞
(bei beliebig gelassenem µ)
(6.7)
Da liegt die Frage nicht fern: Ist auch einmal die Konstruktion eines Zahlbegriffs auf der Grundlage nicht konvergierender (oder: divergierender) Reihen bzw. Folgen gelungen? Die Antwort auf diese Frage ist: Ja – aber erst 70 Jahre später. Diese Konstruktion sei jetzt betrachtet. DIE Ω-RATIONALEN Z AHLEN Aufbauend auf Vorarbeiten von C URT S CHMIEDEN (1905–91) aus den Jahren 1948– 53 formulierte D ETLEF L AUGWITZ (1932–2000) eine Abhandlung, die – es galt, einige Widerstände zu überwinden – schließlich 1958 unter dem recht farblosen Titel „Eine Erweiterung der Infinitesimalrechnung“ in Band 69 der renommierten Mathematischen Zeitschrift erschien. Darin wurde nichts weniger als eine Alternative zum seit 1872 eingeführten Begriff „reelle“ Zahl definiert. Definition In Abwandlung der C ANTOR’schen Idee wird als neuer Zahlbegriff gesetzt:
Definition (Ω-Zahl). „Wir betrachten Folgen aΩ von rationalen Zahlen (a n ) (n = 1, 2, 3 . . .). Wir sagen, die Folge (a n ) habe den Limes a Ω und bezeichnen a Ω als Ω-rationale Zahl oder kürzer als Ω-Zahl∗ . Die Folge (a n ) heißt die definierende Folge oder die Komponentenfolge von a Ω .“ (Schmieden und Laugwitz 1958, S. 4) Als Schreibweise wird vorgeschlagen: a Ω = Lim a n .
(6.12)
n=Ω
So einfach kann Revolution sein. Statt – wie C ANTOR – allein die „konvergenten“ Folgen aus rationalen Zahlen auszuwählen und daraus einen neuen Zahlbegriff zu konstruieren, schlagen S CHMIEDEN und L AUGWITZ im Jahr 1958 vor, sich die VorAuswahl zu sparen und mit allen Folgen aus rationalen Zahlen zu arbeiten. ∗
a Ω kann also aufgefasst werden als neue Bezeichnung für die Folge (a n ). Doch legen wir Wert darauf, dass man a Ω als eine Zahl (eines neuen Typs) ansieht. Unser Vorgehen ist in dieser Hinsicht nicht verschieden von der üblichen Auffassung, nach der gewisse Klassen von rationalen Zahlenfolgen als neue Zahlen eingeführt werden.
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Ausblick auf eine lange unterbliebene Revolution des Zahlbegriffs: Die Ω-Analysis 1958 Die Notation „Lim “ wirkt hier ein bisschen befremdlich. Sie würde jetzt einfacher durch die heute gewöhnliche Folgennotation ersetzt: a Ω = (a n )n∈N . Intuitiv betrachtet gibt es sehr viel mehr „Ω-Zahlen“ als „reelle“: (i) Nicht nur die „konvergenten“ Folgen aus rationalen Zahlen werden betrachtet, sondern alle; also z. B. auch (n) = (1, 2, 3, 4, 5 . . .) – diese heißt einfach Ω; oder (1, 21 , 13 , 41 . . .) – diese heißt einfach ω. (ii) Je zwei verschiedene Folgen aus rationalen Zahlen sind verschiedene „Ω-Zahlen“. Es sind also etwa Ω 6= (1, 1, 3, 4, 5 . . .) und ω 6= (0, 12 , 31 , 14 . . .). Analyse Es scheint, die Ω-Analysis nimmt F REGEs ontologische Kritik am C ANTOR/H EINE/ D EDEKIND’schen Zahlbegriff auf, wonach „Zahlen“ nicht willkürlich „definiert“ werden dürfen – und schon gar nicht als eine wie auch immer geartete Vielheit. Vielmehr sind „Zahlen“ wohlbestimmte abstrakte Gedankendinge, zwischen denen „Gleichheit“ nur als „Identität“ möglich ist. Sollte die Rechenpraxis irgendwelche weitere Gleichsetzungen verlangen, so sind diese ausdrücklich auszuweisen. Und genau so verfährt die Ω-Analysis. ab S. 524 Die Rechenoperationen Das Rechnen mit den Ω-Zahlen ist denkbar einfach – es erfolgt (wie schon bei C ANTOR und H EINE) komponentenweise: aΩ ◦ bΩ = cΩ ,
wenn
an ◦ bn = cn
für alle n,
wo „◦“ für jede der vier arithmetischen Grundoperationen steht. Die Division durch eine Ω-Zahl b Ω ist natürlich nur dann erklärt, wenn für alle n gilt: b n 6= 0. Die gewöhnlichen Rechengesetze übertragen sich von den Komponenten dann sofort auf die Ω-Zahlen. Die Algebra der Ω-rationalen Zahlen Die Eigenschaften der Ω-rationalen Zahlen werden im Jahr 1958 in der nun aktuellen Sprache der Strukturalgebra formuliert: „Die Ω-Zahlen bilden einen kommutativen Ring mit Einselement, der aber Nullteiler enthält und also jedenfalls kein Körper ist: Ist a n = 1 für gerade n, a n = 0 für ungerade n, b n = 0 für gerade n, b n = 1 für ungerade n, so gilt für die dadurch definierten Ω-Zahlen a Ω · b Ω = 0, ohne dass einer der beiden Faktoren gleich 0 wäre∗ “ (Schmieden und Laugwitz 1958, S. 4 f.) ∗
Der Ring der Ω-Zahlen enthält einen zum Körper der rationalen Zahlen isomorphen Unterring, wenn der konstanten Folge a n = a die rationale Zahl a als Limes (für n = Ω) zugeordnet wird.
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 Schon in den rationalen Zahlen ist die Division eingeschränkt: Die 0 ist dabei nicht erlaubt. Bei den Ω-Zahlen sind noch weitere Zahlen für die Division verboten: alle mit mindestens einer Komponente 0. Wieder in der inzwischen (1958) modernen Sprache der Strukturalgebra formuliert: „Eine Ω-Zahl a Ω ist dann und nur dann Nullteiler, wenn die Komponentenfolge (a n ) mindestens eine 0 enthält.“ (Schmieden und Laugwitz 1958, S. 5) QUASIRATIONALE Ω-Z AHLEN Als „besonders wichtig“ werden noch die „quasirationalen“ Ω-Zahlen eingeführt: „Wir wollen eine Ω-Zahl quasirational nennen, wenn sie sich durch endlich viele rationale Operationen (+, −, ·, :) und »quasirationale« OpePQ rationen , aus 1 und Ω herstellen lässt. P Q Dabei ist der Gebrauch der Zeichen und in der folgenden Weise erklärt: hΩ X ν=g Ω
f Ω,ν
bzw.
hΩ Y ν=g Ω
f Ω,ν
(g Ω , h Ω ganz; g n ≤ h n )
sind diejenigen Ω-Zahlen, deren Komponentenfolgen sind hn X ν=g n
f n,ν
bzw.
hn Y ν=g n
f n,ν .
Offenbar sind die folgenden Ω-Zahlen quasirational: ¶ ¶ µ µ Ω 1 1 Ω Y = ; 1+ 1+ Ω Ω ν=1
Ω X 1 ; ν=0 ν!
ΩΩ X (−1)ν .“ ν ν=1
(Schmieden und Laugwitz 1958, S. 5373 )
S. 532
(Zu beachten ist: (i) Griechische Buchstaben, etwa ν, stehen hier für Ω-Zahlen! Dabei ist die Ω-Zahl 1 = (1) gemäß Anmerkung ∗ von S. 521 als die konstante Folge (a n ) mit a n = 1 für alle n erklärt: 1 = (1) = (1, 1, 1, 1 . . .), usw. (ii) Mit f Ω,ν wird hier eine Folge aus Ω-Zahlen bezeichnet, also f Ω,g Ω , f Ω,g Ω +1 , f Ω,g Ω +2 , . . . Später werden solche Folgen aus Ω-Zahlen anders bezeichnet werden.)
ANORDNUNGEN DER Ω-RATIONALEN Z AHLEN Das Rechnen mit Ω-Zahlen ist leicht. Ihre Anordnung ist etwas diffiziler. Vor allem kann sie nicht in jedem Fall gelingen! Denn ersichtlich wird die Ω-Zahl ((−1)n ) = 373
PQ Ob die Autoren die Operationen , der Ω-Zahlen wirklich durch ein typografisch anderes Symbol bezeichnen als die der „gewöhnlichen“ reellen Zahlen, ist nicht klar erkennbar.
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Ausblick auf eine lange unterbliebene Revolution des Zahlbegriffs: Die Ω-Analysis 1958 (−1, 1, −1, 1, −1, 1 . . .) nicht mit der Ω-Zahl 0 = (0) = (0, 0, 0, 0, 0, 0 . . .) zu vergleichen sein: Die Ω-Zahlen sind nicht allesamt geordnet (fachsprachlich: sie sind nicht „total geordnet“). S CHMIEDEN und L AUGWITZ führen zwei Arten der Anordnung ein: eine „starke“ und eine „schwache“. (i) Die „starke“ Relation > ist dann erfüllt, wenn sie in jeder Komponente gilt. (ii) Die „schwache“ Relation >· ist dann erfüllt, wenn sie „schließlich für alle Komponenten“ gilt – d. h. wenn es ein Komponentennummer K gibt, ab der (also: für alle n > K ) die Relation immer erfüllt ist. Oder anders formuliert: wenn n > K nur in endlich vielen Fällen nicht erfüllt ist.374 Die Begriffsbildung „schließlich gültig“ als Kurzformel für: „Es gibt eine natürliche Zahl K , sodass für alle n > K “ die betreffende Bedingung gilt, wird in der Nichtstandard-Analysis gern und oft genutzt. Vorsicht: Die aus der obigen Definition leicht abzuleitenden Relationen = und =· haben nicht die Bedeutung „größer oder gleich“, sondern sind als „größer-gleich“ zu lesen – man nehme etwa (1, 1, 1, 1, 1 . . .) und (0, 1, 0, 1, 0 . . .), die durch =· verbunden sind, für die aber weder >· noch =· zutrifft. Eigenschaften der Relation „schwach größer“ ( >· ): unendlich große und unendlich kleine Zahlen Die grundlegende Neuigkeit bei diesem Zahlbegriff ist: Es gibt „unendlich kleine“ wie auch „unendlich große“ Zahlen: 375 „Die Zahl Ω hat die folgende Eigenschaft: Für jede natürliche Zahl N gilt Ω >· N . Es gibt also keine natürliche Zahl, die (schwach) größer wäre als Ω.“ (Schmieden und Laugwitz 1958, S. 7) (Eine Lesehilfe, gemäß dem in Fußnote ∗ von S. 521 Gesagten: Die „natürliche Zahl N “ ist die konstante Folge (N , N , N . . .).) – Ω-Zahlen dieser Art heißen „unendlich groß“: ˜ „Definition [unendlich groß]. Eine Ω-Zahl a Ω heißt unendlich groß, > wenn für jede natürliche Zahl K gilt a Ω · K .
Und entsprechend: ˜ ˜ Definition [unendlich klein]. Eine Ω-Zahl heißt unendlich klein (oder in-
finitesimal), wenn für jede natürliche Zahl K gilt |a Ω | b Ω . In der Sprache der heutigen Algebra: Der Ring der Ω-Zahlen ist nicht-archimedisch.c Aber die Ω-Analysis kennt einen Ersatz dafür:
„Satz. Zu je zwei positiven Ω-Zahlen aΩ , bΩ existiert eine positive ganze Ω-Zahl k Ω mit k Ω a Ω > b Ω .
Beweis. Die Komponenten kn werden so bestimmt, dass kn an > bn . Dabei wird also ausgenützt, dass die rationalen Zahlen archimedisch angeordnet sind“. (Schmieden und Laugwitz 1958, S. 7, „N “ durch „k“ ersetzt) (Lesehilfe: Hier ist die „ganze Ω-Zahl k Ω “ eine echte Ω-Zahl: eine der neu konstruierten: k Ω = (k 1 , k 2 , k 3 . . .), deren Komponenten k i verschiedene gewöhnliche natürliche Zahlen sind.) Also: Akzeptiert man großzügig auch „unendliche“ natürliche Zahlen, dann bleibt die Geltung des archimedischen Axioms auch im neuen Zahlsystem erhalten. Denn dann ist beispielsweise zwar 2 < Ω, und auch für alle endlichen natürlichen Zahlen K gilt K · 2 < Ω, aber es ist Ω · 2 > Ω. DREI VERSCHIEDENE ARTEN DES GRÖSSENVERGLEICHS Eine wichtige Besonderheit des neuen Zahlbegriffs ist es, die Zahlen in verschiedener Weise nach ihrer Größe unterscheiden zu können. Neben der Relation >· (bzw. 0 und |b Ω | > 0). Dann heißen a Ω und b Ω von gleicher Größenordnung, a Ω ∼ b Ω , wenn für den Quotienten baΩΩ gilt: Es gibt eine natürliche Zahl K , sodass gilt:
1 aΩ < · ersetzt werden: 5 2 5 > · 2
e> (1 + ω)Ω k
(für die Klassen), aber (für ein Paar von Repräsentanten).
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 Aus dieser Bemerkung kann man entnehmen, dass hier im Allgemeinen die Relation >· der Relation > der gewohnten Analysis entsprechen wird.“ (Schmieden und Laugwitz 1958, S. 11)
S. 522 S. 330
Es sei wenigstens angemerkt: In der oben von S CHMIEDEN /L AUGWITZ beiläufig gezeigten Formel e ∼ = (1 + ω)Ω steckt ein ganz beträchtliches algebraisches Potenzial, das sich die Nichtstandard-Analysis, namentlich die Ω-Analysis, gut zunutze machen kann. Immerhin wird hier für die „transzendente“ Zahl e ein „endlich gleicher“ Rechenausdruck gegeben: (1 + ω)Ω – eine „quasi-rationale“ Ω-Zahl. Das ist eine starke analytische Begriffsbildung. Auch wir haben uns ihrer bereits bedient.
GRENZWERTE FÜR Ω-RATIONALE Z AHLEN S. 520
S. 522
Schon bisher haben S CHMIEDEN und L AUGWITZ gelegentlich (jedoch überflüssigerweise) das Zeichen „Lim “ verwendet. Jetzt wird das anders. Da die Ω-Zahlen bereits rechts unten indiziert sind, sollten „Folgen“ von ΩZahlen anders indiziert werden. S CHMIEDEN und L AUGWITZ entscheiden sich jetzt – zuvor waren sie anders vorgegangen – für rechts oben und notieren eine Folge von Ω-Zahlen durch (p) aΩ = a Ω1 , a Ω2 , a Ω3 , . . . Damit geben sie die (p)
„Definition des Grenzwerts einer Folge von Ω-Zahlen. Sei a Ω eine Folge von Ω-Zahlen und sei g Ω eine unendlich große positive ganze Zahl; dann definieren wir eine Ω-Zahl (p)
(g )
Lim a Ω = a Ω Ω = b Ω
p=g Ω
dadurch, dass ihre definierende Folge (Komponentenfolge), wie es schon die Bezeichnung angibt, gegeben ist durch (g )
bn = an n
(n = 1, 2, 3, . . .) .
˜ ˜ ˜ Diese Ω-Zahl heißt der Limes oder Grenzwert der Folge für die unendlich große positive ganze Zahl g Ω .“ (Schmieden und Laugwitz 1958, S. 12)
Eine heutzutage konventionellere Schreibweise wäre für die Folge: (a Ω )p , sowie lim (a Ω )p
p=g Ω
¡ ¢ = (a Ω )g Ω
=
bΩ
mit b n = (a n )g n . (p)
Schnell wenigstens ein einfaches Beispiel zum Verständnis: Sei a Ω = ((−1)p ) , also die alternierende Folge −1, 1, −1, 1, . . . aus +1 und −1, diese jeweils als Ω-Zahlen
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Ausblick auf eine lange unterbliebene Revolution des Zahlbegriffs: Die Ω-Analysis 1958 gedacht, und sei g Ω = 2Ω, also (g n ) = 2, 4, 6, . . . gewählt. Dann gilt ¡ ¢ ¡ ¢ (p) Lim a Ω = Lim (−1)p = (−1)2Ω = (1) = 1, 1, 1 . . .
p=g Ω
p=2Ω
Für h Ω = 2Ω − 1, also (h n ) = 1, 3, 5, . . . gilt (p)
Lim a Ω = Lim
p=h Ω
¡
p=2Ω−1
¢ ¡ ¢ (−1)p = (−1)2Ω−1 = (−1) = −1, −1, −1 . . .
Wir sehen die Funktionsweise: Mittels der „unendlich großen positiven ganzen S. 523 (p) Zahl“ g Ω wird (wir beziehen die Komponenten der Folgenglieder a Ω in die Bep g trachtung ein:) aus der Doppelfolge (a n ) eine Diagonalfolge a nn als neue Ω-Zahl ausgewählt und „Grenzwert“ getauft. Damit ist klar: Die g n sind (obere) Indizes. Sie müssen daher natürliche Zahlen ungleich 0 sein, und sie müssen über alle endlichen Grenzen wachsen, weil sie eine unendliche Folge (aus Rationalzahlen) bestimmen müssen: „Man beachte, dass g Ω wirklich (stark) positiv sein muss und dass nicht etwa g Ω >· 0 ausreicht. Denn um die Komponenten des Grenzwerts bilden zu können, müssen alle g n positive ganze Zahlen sein.“ (Schmieden und Laugwitz 1958, S. 12) Bemerkenswerterweise können wir diese Definition auch als einen Satz formulieren: (p)
Satz. Für jede Folge aus Ω-Zahlen aΩ und für jede unendlich große positive ganze (p)
Zahl g Ω EXISTIERT der Grenzwert Lim a Ω . p=g Ω
Denn so ist der Begriff „Grenzwert“ definiert. S CHMIEDEN und L AUGWITZ formulieren dies defensiver: „Es ist aber bemerkenswert, dass jeder Limes einer Folge von Ω-rationalen Zahlen wieder eine Ω-rationale Zahl ist.“ (Schmieden und Laugwitz 1958, S. 12) Aber klar: Wenn man anfangs alle Folgen aus rationalen Zahlen als Definition einer „Ω-[rationalen] Zahl“ zulässt, dann ist natürlich jede solche Folge eine „ΩZahl“– und das heißt eben: Jede Folge von „Ω-Zahlen“ hat einen Grenzwert. Die einzige Aufgabe besteht darin, diese „solche“ Folge aus der vorliegenden Doppelfolge in geeigenter Weise (a Ω )g Ω zu gewinnen. Die kanonische Lösung dieser Aufgabe ist natürlich der Rückgriff auf die „Diagonalfolge“ daraus. Genau so sind die Autoren verfahren. Spätestens hier aber dämmert es: In der Ω-Analysis gelten manche Lehrsätze, die in der Standard-Analysis nicht gelten. Der soeben zitierte ist dafür ein erstes Beispiel: „Jede Folge hat einen Grenzwert.“ Also nicht nur die „konvergenten“.
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872
S. 523
(Aber da die Ω-Analysis, wie wir inzwischen wissen, auch „unendlich große“ „Zahlen“ kennt, ist dies beim zweiten Nachdenken nicht wirklich verwunderlich: Die in der Standard-Analysis nicht vorhandenen „Grenzen“ der „divergierenden“ Folgen sind, beispielsweise, „unendlich Große“ – und als solche in der Ω-Analysis existent.) Limessätze für Ω-rationale Zahlen Im Folgenden lassen die Autoren den unteren Index bei den Ω-Zahlen a Ω weg und schreiben stattdessen für eine Ω-Zahl einfach „a“. Sie formulieren und beweisen nun ihren „Hauptsatz über reelle Zahlklassen. Wenn Lim a (p) ∼ = r (r eine reelle p=Ω
Zahlklasse), so gilt Lim a (p) ∼ =r
p=g Ω
für jede unendlich große positive ganze Ω-Zahl g Ω .“ (Schmieden und Laugwitz 1958, S. 12) S. 523
S. 285 S. 530
Der Sache nach ist g Ω (als „positive“ und „unendlich große“ Ω-Zahl) eine Teilfolge von Ω. Folglich besagt dieser Satz für eine Folge aus rationalen Zahlenfolgen: Wenn die (Diagonal-)Folge – als diese war gerade der Lim definiert – ‚konvergiertBz ‘, dann auch jede ihrer Teilfolgen. Und so verläuft auch der Beweis: Da a (Ω) „lokalisiert“ ist, ist es auch jede Teilfolge (g Ω ) l a . Die Voraussetzung, dass der Limes in eine reelle Zahlklasse fallen muss, lässt sich nicht durch die Forderung abschwächen, statt Ω irgendeine andere (unendlich große positive ganze) Ω-Zahl zu wählen. „Dies sieht man am Beispiel der Folge a n = (−1)n : Deren Limes für die Zahl 2Ω ist reell, und zwar gleich 1, doch der Limes für n = Ω ist nicht reell.“ (Schmieden und Laugwitz 1958, S. 15) (Dabei wurde als Folge von Ω-rationalen Zahlen einfach eine Folge aus rationalen Zahlen, genauer: ganzer Zahlen (−1)n gewählt.)
Es gilt nun der sehr komfortable (und spektakuläre!)
Satz. „Das Ergebnis zweier Grenzübergänge ist von der Reihenfolge ihrer Ausführung unabhängig. Die Reihenfolge von Grenzübergängen ist [stets!] vertauschbar.“ (Schmieden und Laugwitz 1958, S. 13) (p,q)
Das sieht man ein, wenn man ein wenig über Doppelfolgen a Ω von Ω-rationap,q len Zahlen (und also: Dreifachfolgen a n aus Rationalzahlen!) meditiert: Die Auswahlen p = g Ω und q = h Ω sind voneinander unabhängig. Wir zeigen das gleich am Beispiel. l
Vgl. Schmieden und Laugwitz 1958, S. 13.
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Ausblick auf eine lange unterbliebene Revolution des Zahlbegriffs: Die Ω-Analysis 1958 Das Spektakuläre: Wenn wir den Satz über die Existenz jedes Grenzwertes außer Betracht lassen (vielleicht: weil er sich unmittelbar aus der Definition von „Grenzwert“ für Ω-rationale Zahlen ergibt?), so haben wir in der Ω-Analysis jedenfalls hier einen ersten Lehrsatz, der in der „gewöhnlichen Analysis“ [des Jahres 1958 wie auch heute] falsch ist. Zur Erhellung der Sache diskutieren S CHMIEDEN und L AUGWITZ „als ein ganz einfaches Beispiel die Doppelfolge von rationalen Zahlen 1
a (p,q) =
,
p
1+ q
für die in der üblichen Analysis gilt: lim lim a (p,q) = 0 ,
q→∞ p→∞
lim lim a (p,q) = 1 .
aber
p→∞ q→∞
Bei uns gilt hingegen (natürlich unabhängig von der Reihenfolge) Lim a (p,q) = p=g Ω q=h Ω
1 g
1 + hΩΩ
.“
(Schmieden und Laugwitz 1958, S. 14) Erst dann also, wenn das Verhältnis der Grenzprozesse (p → ∞ und q → ∞, g genauer: hΩΩ ) feststeht, wird die erhaltene Ω-rationale Zahl zu einer „reellen“ Ωrationalen Zahl. – Beispiel: Für g Ω = Ω2 und h Ω = Ω erhält man Lim a (p,q) = p=Ω2 q=Ω
1 1+
Ω2
=
Ω
1 ∼ = 0, 1+Ω
für das Umgekehrte hingegen: Lim a (p,q) = p=Ω q=Ω2
1 1+
Ω Ω2
=
1 1 1+ Ω
∼ = 1.
Setzt man g Ω = h Ω = Ω, ergibt sich sogar exakt Lim a (p,q) = p=Ω q=Ω
1 1+
1 1
=
1 . 2 g
Und so kann man durch geeignete Wahl des Quotienten Q = hΩΩ leicht jeden Wert µ ¶ 1 1 X = 1+Q von 0 bis 1 als Limes dieser Doppelfolge erhalten. p 1+ q
Rechnen mit divergenten Reihen – Verweis auf Euler Die Erlaubnis der Vertauschbarkeit von Grenzprozessen gilt natürlich auch für Reihen. Das hat zur Konsequenz, Schmieden & Laugwitz
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 „dass hier auch solche Ausdrücke einen Sinn haben, die gemäß der gewohnten Analysis divergieren, und dass mit ihnen gerechnet werden darf. Dadurch ist es z. B. möglich, mit »divergenten« Reihen so zu rechnen, wie es noch bis zu E ULERs Zeit üblich war. Wir geben nur das einfachste und bekannteste Beispiel von [J OHANN] B ERNOULLI an: Die Gleichung ∞ X 1 =1 p=1 p(p + 1) kann man nach einem Ansatz von B ERNOULLI so beweisen: ¶ Ω Ω µ1 Ω 1 Ω+1 X X X X 1 1 1 1 = − = − = 1− . p +1 Ω+1 p=1 p(p + 1) p=1 p p+1 p p=2 p Also gilt die behauptete Gleichung, und zwar nach dem Hauptsatz unabhängig von der oberen Grenze.“ (Schmieden und Laugwitz 1958, S. 15) Diese Rechnung ist in der „gewohnten Analysis“ (heute „Standard-Analysis“ genannt) nicht erlaubt: Beim mittleren Gleichheitszeichen findet eine unendliche Umordnung von Reihengliedern statt, und danach wird eine divergente Reihe von einer ebensolchen subtrahiert. Da deren Summen aber nicht (wie in der StandardAnalysis) undifferenziert jeweils als „∞“ beschrieben, sondern (in der Ω-Analysis) mittels Ω detailliert unterschieden werden, hat diese Differenz in der Nichtstandard-Analysis ein endliches Ergebnis. Algebraische Unvollständigkeit Mit den Ω-Zahlen haben wir eine Zahlenwelt kennengelernt, die, intuitiv gesprochen, sehr viel mehr „Zahlen“ enthält als die von C ANTOR/H EINE/D EDEKIND konstruierten „reellen“ Zahlen. Denn eine jede jener „reellen“ Zahlen wird durch eine Gesamtheit, eine Zusammenfassung mit anderen ‚konvergentenBz ‘ Folgen aus rationalen Zahlen bestimmt – wohingegen jede Folge aus rationalen Zahlen (und also sogar noch die nicht ‚konvergentenBz ‘) eine eigene Ω-Zahl definiert.
Dennoch gilt, scheinbar kontraintuitiv, der
Satz. Es gibt keine Ω-rationale Zahl, deren Quadrat gleich 2 ist. Denn dies müsste auch für jede ihrer Komponenten gelten, was umöglich ist. – Dazu S CHMIEDEN und L AUGWITZ: „Allerdings kann man zeigen, dass es zu jedem beliebigen positiven εΩ eine Ω-rationale Zahl gibt, deren Quadrat von 2, absolut genommen, um weniger als εΩ verschieden ist. Dies reicht für alle praktischen Zwecke sicher aus, und da man sehr einfach überlegen kann, dass Entsprechendes z. B. für alle algebraischen Zahlen gilt, darf man mit diesem
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Ausblick auf eine lange unterbliebene Revolution des Zahlbegriffs: Die Ω-Analysis 1958 ˜ Sachverhalt im Hinblick auf die Einfachheit des Aufbaus des Zahlsystems wohl zufrieden sein. Tatsächlich soll die vorliegende Arbeit auch gerade zeigen, dass man durch diese Approximation mit beliebiger unendlich kleiner Genauigkeit einen befriedigenden Aufbau der Analysis erhält, der gewisse Mängel der üblichen Analysis vermeidet.“ (Schmieden und Laugwitz 1958, S. 16)
Bekanntlich reichen fürs praktische Rechnen die rationalen Zahlen allemal aus, und auch digital lassen sich nur solche darstellen. (Dies ist übrigens der Punkt, an dem Konstruktivisten Interesse an der Ω-Analysis entwickeln können.) Der Grund für diesen scheinbaren Mangel der Ω-Zahlen ist klar: In der Ω-Analysis bedeutet „gleich“ Identität. Wenn man in der Ω-Analysis mit einer „ungefähren Gleichheit“ zufrieden sein will, dann muss man sich zuerst überlegen, was genau man mit „ungefähr“ meinen will – und dann wählt man die geeignete Äquivalenzrelation aus. (Beispielsweise hält ≈ verschiedene Rationalzahlen immer auseinan- S. 526 der.) In der Standard-Analysis hingegen bedeutet „gleich“ nicht Identität. F REGE hat das weidlich kritisiert. Mit der traditionellen, der vor-standard-analytischen Ter- S. 470 minologie gesprochen bedeutet „gleich“ in der Standard-Analysis soviel wie: „gleich bis auf vielleicht einen unendlich kleinen Fehler“. S. 466, p Insofern bedeutet der Satz „ 2 ist eine reelle Zahl.“ – auch in der Standard- Punkt ii Analysis! – rein rechnerisch nichts anderes als: „Es gibt eine ‚konvergenteBz ‘ Folge aus rationalen Zahlen (a n ), sodass es für alle ε > 0 eine natürliche Zahl N gibt und für alle n > N gilt: |a n 2 − 2| < ε.“ – Und diesen rein rechnerischen Sachverhalt hat die Ω-Analysis ebenfalls. Nur formuliert sie ihn anders: „Es gibt eine Ω-Zahl a Ω , sodass a Ω 2 ≈ 2 gilt.“ – Also: „x 2 = 2“ contra „a Ω 2 ≈ 2“ (wobei die „Gleichheit“ (=) der Standard-Analysis, wie wir wissen, keinesfalls „Identität“ ist.) Standard-Analysis und Nichtstandard-Analysis formulieren denselben rechnerischen Sachverhalt unterschiedlich: die eine als „Gleichung“, die andere als „von gleicher Größe“. Das bedeutet jedoch nicht, der Nichtstandard-Analysis mangele es an (geeigneten) „Zahlen“, sondern das besagt nichts anderes als: Die StandardAnalysis nimmt es bei dem Begriff „gleich“ nicht so genau. (Man könnte auch etwas deutlicher sagen: Sie schludert.) Es ist nur ein billiger rhetorischer p Triumph, wenn die Standard-Analysis posaunt: „Es gibt eine »reelle« Zahl 2.“ Schaut man nämlich p genauer hin (oder: rechnet man wirklich), so sieht man: Dieser Gegenstand „ 2“ ist in der StandardAnalysis ein unglaubliches Sammelsurium komplizierter mathematischer Begriffe (oder: Gegenstände). Insbesondere ist sie eine „aktual“ unendliche Menge aus „aktual“ unendlichen Gegenständen – und also ganz gewiss kein einfaches, klar
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872
S. 493
definiertes Objekt. In der Nichtstandard-Analysis382 ist a Ω einfach eine Folge gewöhnlicher rationaler Zahlen. Kurz: Die Standard-Analysis kann nur deshalb den schönen Satz sagen: „Die reellen Zahlen sind vollständig.“, weil sie mit dem Begriff „gleich“ schludert und das, was man zuvor zwei Jahrhunderte lang als einen „unendlich kleinen Fehler“ markierte, weitherzig einfach als „gleich“ tituliert. WARUM NICHT?
Man könnte denken: Alles hier unter der Überschrift „Ω-Analysis“ zum Zahlbegriff Dargelegte konnte im Jahr 1872 oder in den unmittelbaren Folgejahren formuliert werden. Man könnte weiter fragen: Warum ist das nicht geschehen? Und angesichts der just in jenen Jahren gern proklamierten „Freiheit der MathemaS. 500 bei tik“ könnte man sich über das Ausbleiben dieser Erfindung wundern. Noch daAnm. 361 zu, wenn man die fundamentale (und, wie wir gesehen haben, durch Argumente nur begrenzt abzutuende) Kritik F REGEs an den Zahlbegriffen von C ANTOR, H EINE und D EDEKIND in Rechnung stellt. Klar ist jedenfalls: Die Ω-Analysis vermeidet den Schritt von C ANTOR und H EINE, die „unendlich kleinen“ Zahlgrößen mit der Zahl 0 zu identifizieren. C ANTOR hat S. 480 diesen Schritt mit Bezugnahme auf die Geometrie legitimiert. Man könnte auch sagen: Ein solcher geometrisch motivierter Schritt ist ein arithmetischer Fremdkörper. S CHMIEDEN und L AUGWITZ vermeiden diesen Schritt. Sie nehmen keine vorschnellen Gleichsetzungen unter ihren Ω-Zahlen vor, sondern behandeln sie sämtlich als Individuen eigenen Rechts: Gleichheit bei Ω-Zahlen heißt (hier, also 1958383 ) Identität. Dieses Festhalten an der Gleichheit als Identität hat ein einfacheres Rechnen zur Folge, als es in der C ANTOR/H EINE/D EDEKIND-Analysis zulässig ist (beliebige Vertauschbarkeit von Grenzübergängen, Zulässigkeit von divergenten Reihen). Oder anders herum: Die unbequemen algebraischen Einschränkungen der StandardAnalysis sind eine Konsequenz jener Grundentscheidung bei der Konstruktion des Zahlbegriffs, sämtliche „unendlich kleinen“ Differenzen von vornherein unterschiedslos als Null zu behandeln. Der Preis, den die Standard-Analysis dafür 382
Vielleicht ist dies der geeignete Ort, um auf Folgendes hinzuweisen: Es gibt etliche verschiedene Versionen der Nichtstandard-Analysis. Die hier vorgestellte „Darmstädter Version“ von S CHMIEDEN und L AUGWITZ ist die älteste und die technisch einfachste. Sie ist für den Einstieg in die Analysis konzipiert, insbesondere soweit es um konkretes Zahlen-Rechnen geht. Für fortgeschrittenere Theoriebildungen, etwa unter Einbeziehung topologischer Begriffe, ist sie nicht geeignet – dafür müssen umfangreichere (formal-)logische Mittel bereitgestellt werden. 383 Später wurde dies etwas abgemildert: Da es bei analytischen Betrachtungen auf endlich viele Abweichungen nicht ankommt, wurde diese absolute Unterscheidung der Ω-Zahlen zugunsten einer aufgegeben, die zwei Ω-Zahlen dann identifiziert, wenn sie, mit D EDEKIND gesprochen (siehe S. 495), „definitiv“ gleich sind, d. h. wenn sie sich in nur endlich vielen Komponenten unterscheiden – siehe Laugwitz 1978, besser: Laugwitz 1986.
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Eine intensionale Fassung des Zahlbegriffs: Husserl zahlen muss, sind beispielsweise ihre „Rechenregeln“ für die Grenzwertbildung und ihr grundsätzlicher Verzicht auf die Nutzung divergenter Folgen und Reihen. Übrigens war genau dies die Motivation C URT S CHMIEDENs, die Ω-Analysis zu erfinden: Er stieß sich an dem, was er die „Paradoxien“ der Analysis nannte – eine davon ist in R IE MANN s Umordnungssatz für bedingt konvergente Reihen formuliert, wonach solche Rei- S. 418 hen jeden vorgegebenen Wert als „Summe“ haben können. Nach S CHMIEDENs Empfinden widerspreche dies dem „naiven Gefühl“m , und sein Ziel war es, „die Analysis so aufzubauen, dass sie nach ebenso festen Regeln arbeitet wie bisher, aber derartige Paradoxien, wie sie eben angedeutet wurden, nicht auftreten“n .
Offenbar bedurfte es der Erfahrung mit der konkreten Ausgestaltung der reellen Analysis, um deren Geburtsmängel aufzudecken und einen Alternativentwurf vorzulegen. Allein das angeblich so freiheitliche Wesen der Mathematik hat diese Alternative jedenfalls nicht hervorgebracht. E I N E I N T E N S I O N A L E FA S S U N G D E S Z A H L B E G R I F F S : HUSSERL Trotz langjähriger Bemühungen war es W EIERSTRASS nicht gelungen, einen zugleich strengen und für die Zwecke der Analysis auch technisch ausreichenden Zahlbegriff zu entwerfen (also das, was ich eine ‚analytische‘ Zahl nenne). Sein Doktorsohn G EORG C ANTOR jedoch war darin erfolgreich, von W EIERSTRASS’ Versuchen ausgehend. Sein Entwurf, begleitet von der strukturgleichen Konstruktion D EDEKINDs, wurde alsbald als derart überzeugend betrachtet, dass mögliche Alternativen dazu nicht aufs Tapet kamen. Doch W EIERSTRASS’ Bemühungen regten noch einen ganz anderen Entwurf an: die Philosophie der Arithmetik von E DMUND H USSERL (1859–1938). Dieser Entwurf war der Entwicklungslinie C ANTOR-H EINE-D EDEKIND-F REGE-RUSSELL diametral entgegengesetzt. Er fand bei den Mathematikern keinerlei Interesse (und folglich auch fast keines bei den Mathematikgeschichtlern).
ab S. 415 ab S. 454 ab S. 479 ab S. 519
DIE ZIELSETZUNG Die Zielsetzung seines 1891 publizierten Buches formuliert H USSERL in einer „Selbstanzeige“ so: „Für ein tieferes philosophisches Verständnis der Arithmetik tut gegenwärtig zweierlei Not: einerseits eine Analyse ihrer Grundbegriffe, andererseits eine logische Aufklärung ihrer symbolischen Methoden.“ (Hua 12, S. 287) H USSERL zielt also sowohl auf den Gegenstand als auch auf die Methoden der Arithmetik: auf den Begriff der Zahl (Teil 1) und auf die Methode des Rechnens (Teil 2 seines Buches). m
S. 1 seines Manuskriptes, das er das „Schwarze Buch“ nannte.
n
a. a. O. – vgl. Spalt 2001.
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 DER AUSGANGSPUNKT
S. 257
Den Zahlbegriff analysiert H USSERL, indem er von der traditionellen Bestimmung E UKLIDs ausgeht. Nun kann man bekanntlich nicht alles definieren: Bei irgendwelchen Begriffen muss das Definieren beginnen. Nach H USSERLs Überzeugung gehören zu diesen „einer formal-logischen Definition gänzlich unfähig[en]“ Begriffen: „Vielheit“ und „Einheit“, „Ganzes“ und „Teil“o . „Was man in solchen Fällen tun kann, besteht nur darin, dass man die konkreten Phänomene aufweist, aus oder an denen sie abstrahiert sind, und die Art des Abstraktionsvorgangs klarlegt.“ (Hua 12, S. 119) Von einer „sprachlichen Darlegung eines solchen Begriffes“ darf man nach H US SERL Folgendes verlangen: „Sie muss wohlgeeignet sein, uns in die richtige Disposition zu versetzen, dass wir diejenigen abstrakten Momente in der inneren oder äußeren Anschauung, welche gemeint sind, selbst herausheben bzw. jene psychischen Prozesse, welche zur Bildung des Begriffes erforderlich sind, in uns nacherzeugen können. Nützlich und notwendig wird dergleichen freilich nur dann sein, wenn der den Begriff bezeichnende Name allein zum Verständnisse nicht hinreicht [. . . ]“ (Hua 12, S. 119) H USSERL möchte also die mathematischen Begriffe klären, indem er jene „psychischen Prozesse“ „in uns nacherzeugt“, mit denen wir sie auffassen. Diese Betrachtungsweise ist offenkundig sehr von der Psychologie beeinflusst. Nun war die Philosophie in Deutschland ausgangs des 19. Jahrhunderts stark von der Psychologie dominiert. Daher ist diese H USSERL’sche Grundperspektive auf die Dinge wenig überraschend. Heute kann man dies zum Anlass nehmen und sagen: Mathematik darf nicht auf Psychologie begründet werden – und an dieser Stelle H USSERLs Buch zuklappen. Dies ist eine weit verbreitete Haltung. Man könnte dem jedoch entgegensetzen: Mathematik wird von Menschen gemacht (dies ist auch die These des vorliegenden Buches). Und jedenfalls müssen Menschen mathematische Begriffe verstehen, um mit ihnen arbeiten zu können – ist nicht „verstehen“ auch ein „psychischer Prozess“? – So grundsätzlich betrachtet wäre H USSERLs Ansatzpunkt denn doch nicht a priori als der Sache gänzlich fremd zu verwerfen. Gesteht man dies zu, so liegt die Prüfung nahe, ob H USSERLs Analyse mehr bietet als eine Rückführung der Arithmetik auf „psychische Prozesse“. Prüfen wir also. o
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Eine intensionale Fassung des Zahlbegriffs: Husserl DIE UNTERSCHEIDUNG VON „VIELHEIT“ UND „KOLLEKTIVE VERBINDUNG“ H USSERL unterscheidet „Vielheit“ und „kollektive Verbindung“, freilich in einer nicht ganz einfachen Weise:384 „Verstehen wir unter »Begriff« das den Namen zugrunde liegende Abstraktum, dann besteht wirklich Identität der beiderseitigen Begriffe [das sind: »Vielheit« und »kollektive Verbindung«]. Aber dies beweist nicht, dass nun auch die beiderseitigen Namen eines Sinnes sind. Verstehen wir nämlich unter den »Begriffen« die gedanklichen Korrelate der Namen, dann sind dieselben [eben: „Vielheit“ und „kollektive Verbindung“] hier tatsächlich verschieden und die trennende Terminologie gerechtfertigt.“ (Hua 12, S. 78, Z. 5–11) Versuchen wir, diese Formulierungen zu verstehen. H USSERL unterscheidet hier zwei Arten des „Begriffs“, die beide zum selben „Namen“ gehören: 1. den Begriff als „Abstraktum“ (anderswo von ihm auch „allgemeiner Begriff“ oder „Bedeutung“ genannt) – dies will ich im Folgenden ‚BegriffA ‘ nennen; 2. den Begriff als das „gedankliche Korrelat“ zum Namen – dies sei im Weiteren ‚BegriffK ‘ genannt. H USSERL sagt: Als „Abstraktum“ genommen (‚BegriffA ‘) sind die Namen „Vielheit“ und „kollektive Verbindung“ gleich: ‚BegriffA ‘ von „Vielheit“ = ‚BegriffA ‘ von „kollektive Verbindung“ Anders verhält es sich jedoch hinsichtlich der „gedanklichen Korrelate“ (‚BegriffK ‘): ‚BegriffK ‘ von „Vielheit“ 6= ‚BegriffK ‘ von „kollektive Verbindung“ Worin bestehen nun diese Verschiedenheiten? H USSERL schreibt:
Gedankliches Korrelat (‚BegriffK ‘) von „Vielheit“: „Wo immer wir den Namen Vielheit verwenden, ist, von seltenen Ausnahmen abgesehen, nicht die kollektive Verbindung als solche Gegenstand des Interesses, sondern das kollektive Ganze.“ (Hua 12, S. 78, Z. 12–14) Das besagt: Das „gedankliche Korrelat“ (‚BegriffK ‘) von „Vielheit“ ist das „kollektive Ganze“ , dieses „Ganze“ genommen ohne eine „Verbindung“ seiner Teile. – Und schließlich: 384
Die Textpassagen, auf denen die nachstehende Analyse fußt, hat H USSERL gegenüber einer früheren Fassung abgeändert (vgl. Hua 12, S. 78 mit Hua 12, S. 334 f., also das Buch mit der zuvor verfassten Habilitationsschrift). Daraus will ich schließen, dass H USSERL um diese Formulierungen gerungen hat und sie deshalb besondere Aufmerksamkeit verdienen.
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872
Gedankliches Korrelat (‚BegriffK ‘) von „kollektive Verbindung“: „Irgendwie bestimmte Einzelinhalte sind in kollektiver Verbindung gegeben; indem wir nun abstrahierend [bei jedem Einzelinhalt] zum Allgemeinbegriff übergehen, beachten wir sie nicht als so und so bestimmte Inhalte; das Hauptinteresse konzentriert sich vielmehr auf ihre kollektive Verbindung, während sie selbst nur als irgendwelche Inhalte, ein jeder als ein irgendetwas, irgendeins betrachtet und beachtet werden.“ (Hua 12, S. 79, Z. 29–35) Das „gedankliche Korrelat“ (‚BegriffK ‘) von „kollektive Verbindung“ sind also „irgendwie bestimmte Einzelinhalte in kollektiver Verbindung“. „Irgendwie bestimmt“ meint: nicht abstrakt – positiv formuliert: konkret, und somit in „psychischen Akten“ erfassbar. Zusammengefasst: Wir haben zwei Namen: „Vielheit“ und „kollektive Verbindung“. 1. Nehmen wir diese beiden Namen als „Abstrakta“ (‚BegriffA ‘), sind sie gleich.385 2. Verstehen wir diese Namen jedoch als Bezeichnungen für „gedankliche Korrelate“ (‚BegriffK ‘), so sind sie voneinander verschieden: (i) Das „gedankliche Korrelat“ von „Vielheit“ ist „kollektives Ganzes“, also eine Gesamtheit von bestimmten Einzelinhalten, die nur hinsichtlich ihres gemeinsamen Zusammen aufgefasst werden. (ii) Das „gedankliche Korrelat“ von „kollektive Verbindung“ ist demgegenüber eine Verbundenheit von bestimmten Einzelinhalten; hier kommt es auf die „Verbindung“ der Einzelnen miteinander an, nicht allein auf ihr Zusammen. Da „Vielheit“ und „kollektive Verbindung“ als Abstrakta (‚BegriffA ‘) gleich sind, leistet sich H USSERL sogar die etwas schräge Formulierung, das „gedankliche Korrelat“ der „kollektiven Verbindung“ – also die nicht abstrahierten „bestimmten Einzelinhalte“ in ihrer Verbundenheit – als den „wesentlichsten Bestandteil des Vielheitsbegriffs“ zu bezeichnen. Seine, wie mir scheint, nicht sehr präzise Formulierung hierzu lautet: „Jene [d. i. die kollektive Verbindung] repräsentiert [als ‚BegriffK ‘!?] das Abstraktum [‚BegriffA ‘], welches dem allgemeinen Begriff [‚BegriffA ‘ ] Vielheit oder kollektives Ganzes zugrunde liegt, somit wohl die »Bedeutung« des Namens Vielheit im Sinne der Logik; aber diese »Bedeutung« macht noch nicht den ganzen logischen Gehalt des Namens aus. Der ganze Begriff, der ihm entspricht, ist der eines »Etwas, das dieses abstrakte Moment der kollektiven Verbindung besitzt«. So aufgefasst, bildet der Begriff der kollektiven Verbindung den wesentlichsten Bestandteil des Vielheitsbegriffs, ohne dass beide identisch wären.“ (Hua 12, S. 78, Z. 15–23) 385
Über H USSERLs Begriff der Abstraktion hat sich F REGE weidlich lustig gemacht: Frege 2 1990c, S. 186, nicht ohne Grund. Doch besagt dies noch nicht, dass sich anstelle des von H USSERL gegebenen in seiner Denkweise ein weniger leicht anfechtbarer Abstraktionsbegriff nicht formulieren ließe.
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Eine intensionale Fassung des Zahlbegriffs: Husserl Der „ganze Begriff“, der „ganze logische Gehalt“ scheint demnach jenes Konkretum zu sein, das der „kollektiven Verbindung“ (‚BegriffK ‘) entspricht. Husserl argumentiert intensional (oder: begriffslogisch) Mit der zweimaligen Verwendung des Wortes „Logik“ im letzten Zitat macht H US SERL klar: Es geht ihm nicht um Psychologie. H USSERL sagt dort: Die „Bedeutung“ der beiden Namen „Vielheit“ und „kollektive Verbindung“ ist dieselbe – nämlich das beiden Namen gemeinsame „Abstraktum“ (‚BegriffA ‘). Aber (und auch das gehöre zur Logik!) der „logische Gehalt“ (‚BegriffK ‘, meist spricht H USSERL vom „Sinn“) der beiden Begriffe ist unterschiedlich. Die „kollektive Verbindung“ hat ein Mehr an „logischem Gehalt“ (‚BegriffK ‘) als die „Vielheit“; denn in der „kollektiven Verbindung“ sind die zu Einsen abstrahierten Einzelinhalte noch miteinander verbunden, während bei der „Vielheit“ in deren ‚BegriffK ‘ (dem „kollektiven Ganzen“) von dieser Verbundenheit abgesehen und nur die Gesamtheit erfasst ist. Aber Achtung. Betrachten wir einmal das, was H USSERL hier salopp den „ganzen Begriff“ nennt: die empirischen Gegenstände, die uns vorliegen. Diese Gegenstände sind Konkreta. Wir dürfen sie nicht mit dem verwechseln, was der „psychische Akt“ aus ihnen macht: nämlich „gedankliche Korrelate“. (Denn die „gedanklichen Korrelate“ sind Begriffe: ‚BegriffK ‘.) Fragen wir jetzt: Unterscheiden sich die jeweiligen Gegenstände, die mit den Namen „Vielheit“ oder „kollektive Verbindung“ bezeichnet werden? Nein. Denn „Vielheit“ und „kollektive Verbindung“ bezeichnen (oder: haben) dasselbe „Abstraktum“ (‚BegriffA ‘); und also fallen dieselben Gegenstände (Konkreta) unter sie. Jedoch die Art, in der der „psychische Akt“ diese Gegenstände auffasst (und so das „gedankliche Korrelat“, ‚BegriffK ‘, bildet), sind verschieden: Einmal bleibt im psychischen Akt die gegenseitigen Verbundenheit der bestimmten Einzelinhalte bestehen: der Fall der „kollektiven Verbindung“; das andere Mal wird im psychischen Akt von dieser Verbindung abgesehen: der Fall des „kollektiven Ganzen“. Der psychische Akt: die Art der Auffassung der Gegenstände ist der Unterschied. Einmal fasst der psychische Akt die Dinge so auf, ein andermal anders. Das hat eine wichtige Konsequenz: Wer „Begriffe“ als allein durch die Gesamtheit der Gegenstände bestimmt versteht, die unter ihn fallen (durch ihren „Umfang“), der wird H USSERL hier nicht folgen. Denn H USSERL sagt hier: Zwei „Begriffe“ – das Abstraktum zu „Vielheit“ wie auch zu „kollektive Verbindung“ – können den gleichen „Umfang“ haben und dennoch unterschiedlichen „logischen Gehalt“. Er argumentiert also nicht (allein) mit der Extension (dem „Umfang“) eines Begriffs, sondern auch mit dessen Intension („Sinn“ – sein ‚BegriffK ‘). Kurz: H US SERL s Denken ist nicht extensional (wie das seit C ANTOR -H EINE -D EDEKIND -F RE GE -R USSELL in der Mathematik tonangebend ist), sondern intensional (wie beispielsweise bei L EIBNIZ).
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 Die Art, in der Mathematik intensional zu denken, kann man ablehnen. Das ist die heute herrschende Auffassung. Sie hat seit dem Kulturbruch des sogenannten Ersten Weltkriegs übermächtigen Rückenwind. Doch vergisst diese Ablehnung, dass unser Alltagsdenken weiterhin intensional ist – und eine extensional strukturierte Mathematik daher dem Laien von Grund auf missverständlich sein muss. Der Gegenpol: Aussagenlogik Noch ein Zweites sei genannt: H USSERLs Logik bleibt auch insofern traditionell, als sie sich mit Begriffen befasst. Dem gegenüber steht die F REGE/P EANO’sche386 Revolution der Logik, die in B ERTRAND RUSSELL umgehend einen wirkungsmächtigen Parteigänger fand. Sie verlangt, nicht mehr Begriffe als Untersuchungsobjekte der Logik zu nehmen, sondern Sätze (Aussagen). Im „Vorwort“ seiner (ironischerweise so genannten) Begriffsschrift schreibt F REGE dazu lapidar: „Insbesondere glaube ich, dass die Ersetzung der Begriffe Subjekt und Prädikat durch Argument und [Aussagen-]Funktion sich auf die Dauer bewähren wird.“ (Frege 1879, S. VII) Und RUSSELL erläutert diesen Wechsel, wie es oft seine Art ist, sehr konkret: „In der Aussage »Sokrates ist sterblich« wird einem Subjekt, das einen Eigennamen hat, ein bestimmtes Prädikat zugeschrieben, während die Aussage »Alle Griechen sind sterblich« eine Beziehung [Relation] zwischen zwei Prädikaten zum Ausdruck bringt – nämlich »Grieche« und »sterblich«. Hinreichend genau formuliert würde sie heißen müssen »Für alle möglichen Werte von x: Wenn x ein Grieche ist, ist x sterblich«. Wir haben es hier also nicht mit einer Subjekt-Prädikat-Aussage zu tun, sondern mit zwei untereinander verknüpften Aussagenfunktionen, die bei der Einsetzung eines Eigennamens für die Variable x zu Subjekt-Prädikat-Aussagen werden. Die Aussage »Alle Griechen sind sterblich« bezieht sich also nicht speziell auf die Griechen, sondern auf alles, was es überhaupt gibt. »Wenn x ein Grieche ist, ist x sterblich« ist auch dann wahr, wenn x kein Grieche ist; ja, es wäre sogar dann noch eine wahre Aussage, wenn es überhaupt keine Griechen gäbe!“ (Russell 1973, S. 68) (Wem bei dieser letzten Behauptung Zweifel kommen, den erinnert RUSSELL an das seit alters anerkannte Beweisverfahren des Widerspruchsbeweises: Er startet mit einer Annahme, die sich am Ende als falsch herausstellt, und dennoch wird diese Argumentation von den allermeisten Mathematikern – wenn auch nicht von den Intuitionisten – als korrekt akzeptiert.387 ) „Aussagenfunktion“ und „Menge“ (bzw. „Klasse“) sind sehr verwandte Begriffsbildungen. RUSSELL erläutert dazu: „Ich hielt es lange für notwendig, explizit zwischen Klassen und Aussagenfunktionen zu unterscheiden, kam aber schließlich zu der Einsicht, dass diese Unterscheidung überflüssig ist und höchstens hin und wieder einmal als technischer Kunstgriff nützlich werden kann.“ (Russell 1973, S. 71) 386
In dem sehr nützlichen Gottwald et al. 1990, S. 360 ist leider P EANOs Sterbejahr falsch: G UISEPPE P EANO (1858–1932). 387 Vgl. Russell 2002b, S. 181.
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Eine intensionale Fassung des Zahlbegriffs: Husserl
Die Analyse des Begriffs Eins lautet in der Aussagenlogik: „»Eins« ist ein Merkmal, das nicht bestimmten Dingen, sondern bestimmten Aussagenfunktionen zukommt, nämlich genau denjenigen Aussagenfunktionen, für die gilt: Es gibt ein x, für das die Funktion zu einer wahren Aussage wird, und alle y, für die die Funktion ebenfalls zu einer wahren Aussage wird, sind mit x identisch. [. . . ] Die Zahl 1 ist die Eigenschaft, eine Eins-Funktion zu sein, die gewissen Funktionen zukommt.“ (Russell 1973, S. 71388 )
Diese (mit der Mengenlehre so gut verträgliche) „Aussagenlogik“ wurde im beginnenden 20. Jahrhundert als die Logik der Mathematik durchgesetzt – sicher ein weiterer Grund für die Wirkungslosigkeit von H USSERLs begriffslogischer Analyse.
ZUGÄNGLICHE ZAHLEN „Zugängliche“ Zahlen nennt H USSERL (sehr) kleine natürliche Zahlen: jene, die wir in einem einheitlichen „heraushebenden und zusammenfassenden Akte des Vorstellens“p in unserem Bewusstsein aufzufassen imstande sind. Bestimmung des Zahlbegriffs Unter „Zahl“ will H USSERL die Anzahl verstehen (zwei, drei, vier, . . . : die Kardinalzahl), nicht die Zählzahl (zweite, dritte, vierte, . . . : die Ordinalzahl ). Er bestimmt „Zahl“ ausgehend von der Vielheit. Der „wesentlichste Bestandteil“389 von „Vielheit“ ist, kurz gesagt, „nichts weiter als: irgendetwas und irgendetwas und irgendetwas usw.; oder kürzer: eins und eins und eins usw.“ (Hua 12, S. 80) Das „usw.“ weist „auf eine gewisse Unbestimmtheit hin“q . Wird diese Unbestimmtheit beseitigt, ergeben sich die „Zahlen“: „Es entstehen Begriffe wie: eins und eins; eins, eins und eins; eins, eins, eins und eins; usf.“ (Hua 12, S. 81) mit den „Namen zwei, drei vier usw.“q Kurz: „Zahl“ ist eine BESTIMMTE „Vielheit“.390 (So knapp formuliert H USSERL nicht.) Eine andere Fassung dafür ist: „»Die Zahl antwortet auf die Frage wie viel;« oder, um eine Ausdrucksweise zu wählen, die den Sinn [sic] desselben schärfer markiert: »Zahl p
Hua 12, S. 23
q
Hua 12, S. 81
388
Es sei an F REGEs Zahldefinition erinnert, die auf S. 175 wiedergegeben ist. Es sei an H USSERLs schräge Formulierung von S. 542 erinnert. 390 Bereits A RISTOTELES nennt die „Zahl“ eine „begrenzte Menge“: Aristoteles, Metaphysik, 1020a14, S. 136 389
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 ist jede mögliche Antwort auf die Frage wie viel«.“ (Hua 12, S. 130, mit Verweis auf H ERBART) Damit fallen weder Eins noch Null unter H USSERLs Begriff „Zahl“. Seine „Zahlen“ beginnen mit der Zwei. H USSERL steht zu dieser Konsequenz: „Eins und Keins – das sind die beiden möglichen negativen Antworten auf das Wie-viel. Sprachlich fungieren sie wiederum so wie Zahlen und daher mögen die Grammatiker sie als Zahlenbestimmungen ansehen. Aber logisch sind sie dies nicht.“ (Hua 12, S. 131) Natürlich melden sich „die Grammatiker“ dazu.391 Sie lassen es ungenannt, dass H USSERL fortfährt: „Man muss demgemäß wohl beachten, dass die Bezeichnung der Null und Eins als Zahlen eine Übertragung dieses Namens auf andersartige, wenn auch mit den eigentlichen Anzahlen in engerem Zusammenhange stehende Begriffe darstellt. [. . . ] Null und Eins sind mögliche und häufig genug vorkommende Resultate arithmetischer Aufgaben.“ (Hua 12, S. 131) So, wie „negative“ Zahlen nicht durchs Zählen entstehen, sondern durchs Rechnen,392 so sieht H USSERL auch den Titel „Zahl“ von „Zwei“, „Drei“ usw. (zwar nicht durchs Zählen, wohl aber) durchs Rechnen auf „Eins“ und „Null“ übertragen.393 Der Umfang des Begriffs „Zahl“ Das entscheidende Moment in H USSERLs Philosophie ist, auf unseren Fall gemünzt: „Die wahre und alleinige Quelle des Begriffs der Vielheit sowie der Zahlbegriffe“ bilden „erst gewisse zusammenfassende psychische Akte“r . Die „kollektive Einheit der Zahl“ ist „undenkbar“ ohne eine solche „Synthesis“s . „Vor allem die innere Erfahrung selbst“ spricht dafür, dass „die kollektivische Einigung nicht im Vorstellungsinhalte anschaulich gegeben ist, sondern nur in gewissen psychischen Akten, welche die Inhalte einigend umschließen“ (Hua 12, S. 73 (= S. 333)). r 391
Hua 12, S. 30
s
Hua 12, S. 30, Anmerkung 1
F REGE lässt auch diese Gelegenheit zum Spotten nicht aus und führt den alltäglichen Sprachgebrauch gegen H USSERLs logische Analyse ins Feld: „Es ist wirklich viel verlangt, die Antwort »einen« auf die Frage »wie viele Monde hat die Erde?« als eine negative anzusehen.“ (Frege 2 1990c, S. 189)
392 393
„Rückwärts“ zählen ist nicht bloß zählen! Übrigens behandelt selbst E UKLID beim Rechnen die „Einheit“ als „Zahl“ – etwa wenn er das Verfahren der „Wechselwegnahme“ (für Zahlen) beschreibt, siehe Euklid, VII.1; vgl. S. 82 bei Anmerkung x. Seiner Begriffsbestimmung von „Zahl“ zufolge (siehe S. 257) kann das aber nicht streng gemeint sein.
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Eine intensionale Fassung des Zahlbegriffs: Husserl H USSERL besteht also auf den „psychischen Akten“ – der bloße „Vorstellungsinhalt“ reicht ihm zum Erfassen der Zahl nicht aus. Damit sind wir wieder im Zentrum der H USSERL’schen Philosophie: „Die Schwierigkeit liegt in den Phänomenen, ihrer richtigen Beschreibung, Analyse und Deutung; nur im Hinblick auf sie ist Einsicht in das Wesen der Zahlbegriffe zu gewinnen.“ (Hua 12, S. 129)
Eine ontologische Bemerkung Diese psychischen Akte sind bei H USSERL freilich nicht „schöpferisch“: „Unsere Geistestätigkeit macht nicht die Relationen; sie sind einfach da und werden bei gehöriger Richtung des Interesses bemerkt so gut als irgendwelche andere Inhalte. Im eigentlichen Sinne schöpferische Akte, welche als ein von ihnen verschiedenes Resultat irgendeinen neuen Inhalt schaffen, sind psychologische Undinge.“ (Hua 12, S. 42 f.) Es ist zwar richtig, dass „die Zahlen auf psychischen Tätigkeiten beruhen, die wir an Inhalten üben“t . „Aber die psychischen Tätigkeiten, welche die Zahlbegriffe begründen, schaffen in ihnen doch nicht neue primäre Inhalte, die, losgelöst von den erzeugenden Tätigkeiten, nun im Raume oder in der Außenwelt wiedergefunden werden könnten.“ (Hua 12, S. 46) Damit formuliert H USSERL eine Position, die derjenigen D EDEKINDs diametral entgegengesetzt ist. Und zwar in zweierlei Weise: (i) Nach H USSERL schafft die Psyche nichts S. 490 neu – für D EDEKIND hingegen „erschafft“ der Geist „neue Zahlen“. (ii) Laut H USSERL richtet sich der psychische Akt auf die „Inhalte“ des Aufzufassenden – während es D EDEKIND allein um die „Gegenstände“ des Denkens geht. In den traditionellen Kategorien gesprochen: H USSERL geht es um die Intensionen, D EDEKIND um die Extensionen.
Diese Rückbindung des Zahlbegriffs an den psychischen Akt bei H USSERL394 hat enorme Konsequenzen für das, was eine wirkliche „Zahl“ ist: Es gibt nur sehr wenige. Als fünfte Disputationsthese seiner Habilitation formulierte H USSERL am 1. Juli 1887: „Im eigentlichen Sinne kann man kaum über drei hinaus zählen.“ (Hua 12, S. 339) In der etwas später publizierten Philosophie der Arithmetik heißt es dazu: t 394
Hua 12, S. 45 Der H USSERL-Herausgeber L OTHAR E LEY knüpft daran die Folgerung: „Die Subjektivität geht also in den Inhalt der Menge bzw. der Zahl ein.“ (Eley 1970, S. XX). Dies wird hier nicht erörtert.
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 „Nur unter besonders günstigen Umständen können wir dunse noch konkrete Vielheiten von ungefähr einem Dutzend Elementen eigentlich vorstellen, d. h. faktisch (wie es intendiert ist) jedes ihrer Glieder als ein für sich Bemerktes mit allen andern zusammen in einem Akte befassen.“ (Hua 12, S. 192, mit Verweis auf W UNDT) „Doch gut fünf Dutzend Seiten später schreibt er dann“u : „[. . . ] und so wird es begreiflich, warum wir mit einer sicheren Zahlschätzung in der Regel nicht über fünfgliedrige Mengen hinaus kommen, es sei denn durch fortgesetzte und methodische Übung.“ (Hua 12, S. 254) Husserl knüpft eng an Weierstraß an H USSERLs Analyse des Zahlbegriffs lässt sich vielleicht so darstellen: Wir richten unser „Interesse“ auf gewisse Gegenstände. Diese fassen wir in einem „psychischen Akt“ unseres Geistes in einer „kollektiven Verbindung“ auf, „abstrahieren“ dabei von gewissen Merkmalen der Dinge und gelangen so zu einer bestimmten „Verbindung“ von „Einsen“; diese bestimmte Verbindung von Einsen ist die „Zahl“. H USSERL hat bei W EIERSTRASS Vorlesungen gehört, darunter im Winter 1880/81 die „Theorie der analytischen Funktionen“. Aus der ersten Stunde dieser Vorlesung (am 25.10.1880) notierte sich H USSERL W EIERSTRASS’ Worte so: „Wir haben einen bestimmten Begriff und suchen nun aus einem Aggregat von Dingen heraus diejenigen, in denen sich dieser Begriff verwirklicht, die diesem Begriff entsprechen. Dabei verfahren wir so. Wir fassen die verschiedenen Dinge, die im Aggregat vorhanden sind, der Reihe nach auf und wir finden z. B. eines, welches das betreffende Merkmal an sich trägt. Bei diesem verweilen wir in unserer Vorstellung, wir gehen dann zu den übrigen über, finden noch eines, welches dasselbe Merkmal an sich trägt. Dieses fixieren wir je in der Vorstellung und reihen es dem Ersten an. So gehen wir weiter. Auf diese Weise erhalten wir eine Aufeinanderfolge von Wahrnehmungen. Wenn wir nun auf diese Weise aus dem betreffenden Aggregat von Dingen diejenigen, die das in Rede stehende Merkmal haben, herausheben und sämtliche herausgehobenen Dinge in unserer Vorstellung vereinigen, so kommen wir zum Begriffe der Zahl. Die Zahl ist also nichts anderes demnach als eine bestimmte Vielheit gleichartiger Dinge.“ (Husserl 1970a, S. XXIV, Anmerkung 1) Wir erkennen: Sämtliche maßgeblichen Momente des H USSERL’schen Zahlbegriffs von 1891 finden sich der Formulierung nach bei (H USSERLs Verständnis von) u
Tyradellis 2006, S. 57
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Eine intensionale Fassung des Zahlbegriffs: Husserl W EIERSTRASS im Oktober 1880: (i) zuerst das Verweilen unseres Geistes (bei H US SERL : das „Interesse“), um die verschiedenen Dinge „aufzufassen“; (ii) dann das Selektieren nach bestimmten „Merkmalen“ (der „psychische Akt“) und (iii) die „Vereinigung“ der Dinge (bei H USSERL das „Abstrahieren“ der „Einzelinhalte“ zu den „Einsen“), dabei ganz ausdrücklich nochmals die psychische Aktivität betonend: „in unserer Vorstellung“; (iv) schließlich macht die Forderung der „Bestimmtheit“ die betreffende „Vielheit“ zur „Zahl“. Es ist offenkundig: H USSERL erweist sich mit seiner späteren Analyse des Zahlbegriffs als getreuer W EIERSTRASS-Schüler. SYMBOLISCHE ZAHLEN Wir haben gesehen: Für H USSERL gibt es nur sehr wenige „zugängliche“ Zah- S. 548 len: die von 2 bis maximal 12. Dies liegt an den (ohne „fortgesetzte methodische Übung“) sehr beschränkten Fähigkeiten unseres Geistes, getrennte Dinge in einem einigenden Bewusstseinsakt aufzufassen. Aber natürlich benötigt und hat die Mathematik mehr und größere Zahlen. „Wie kann man aber von Begriffen sprechen, die man eigentlich nicht hat, und wie ist es nicht absurd, dass auf solchen Begriffen die sicherste aller Wissenschaften, die Arithmetik, gegründet sein soll? Darauf ist zu anworten: Wenn wir die Begriffe auch nicht in eigentlicher, so haben wir sie doch in symbolischer Weise gegeben.“ (Hua 12, S. 192) Eine „symbolische Vorstellung“ ist „eine Vorstellung durch Zeichen“:
Bestimmung (symbolische Vorstellung): „Ist uns ein Inhalt nicht direkt gegeben als das, was er ist, sondern nur indirekt durch Zeichen, die ihn eindeutig charakterisieren, dann haben wir von ihm statt einer eigentlichen eine symbolische Vorstellung.“ (Hua 12, S. 193, mit Verweis auf B RENTANO) Eine solche „wohlbegründete symbolische Vorstellung“ erlangen wir „überall, wo wir innerhalb einer einheitlichen Erscheinung anschaulich gesonderte Teile vorfinden, deren Gesamtheit, in einem sukzessiven Prozess von Einzelauffassungen herausgehoben, das Ganze schließlich erschöpft [. . . ]“ (Hua 12, S. 202 f.) Auch bei der Konstituierung der „symbolischen Zahlen“ ist also ein psychischer Akt beteiligt. Aber die Probleme und die Feinheiten der (frühen) phänomenologischen Methode können uns hier nicht interessieren. Wir bescheiden uns mit H US SERL s Ergebnis. In einer längeren Betrachtung nennt H USSERL das „Aggregat“ a0 + a1 X + a2 X 2 + a3 X 3 + . . .
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872
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eine „symbolische Zahl“v . Dies ist eine klare Reminiszenz an seinen Lehrer W EI ERSTRASS , der die Potenzreihen in den „Funktionselementen“ zur Basis seiner Analysis nahm – aber selbstverständlich denkt H USSERL die Formelzeile oben als eine endliche, auch wenn er dies nicht sagt. (Und H USSERLs „X “ ist irgendeine bestimmte Zahl, im Falle das dekadischen Systems ist es die 10.) H USSERL gelangt zu folgendem Ergebnis: „Ein Zahlensystem, wie es z. B. unser dekadisches ist, kann demnach als die vollkommenste Gegenspiegelung des Reiches der Zahlen an sich, d. i. der uns im Allgemeinen unzugänglichen wirklichen Zahlen, angesehen werden [. . . ] Mit Recht dürfen wir also die indirekten Bildungen des Systems als die symbolischen Surrogate für die Zahlen an sich betrachten.“ (Hua 12, S. 260) Damit hat H USSERL das „dekadische Zahlensystem“ als das Gebiet der „Zahlen an sich“ aufgewiesen. – Dazu zwei wichtige Anmerkungen: (1) Das Gesagte bedeutet nicht, die dekadischen Zahlzeichen seien die „Zahlen“ der Arithmetik. H USSERL formuliert: „Die Methode der sinnlichen Zeichen ist also die logische Methode der Arithmetik.“ (Hua 12, S. 257) Es geht H USSERL nicht um einfache Zeichen, sondern es geht ihm um die Methode der dekadischen Zahlzeichen. Nicht von „Schreibfiguren“ ist die Rede, sondern von einer Methode des Zeichen-Schreibens. „Nur ein kleines Anfangsstück der [Zahlen-]Reihe ist uns gegeben“w – alles Weitere muss „konstruiert“ werden. H USSERL leistet diese Konstruktion, wir geben sie hier nicht wieder.x Ein mögliches Ergebnis dieser Konstruktion ist das dekadische System. Das dekadische System ist „nicht eine bloße Methode, gegebene Begriffe zu signieren, als vielmehr, neue Begriffe zu konstruieren und mit der Konstruktion zugleich zu bezeichnen.“y Das dekadische Zahlensystem ist eine Konstruktions- und zugleich eine Bezeichnungsmethode. Frage an H USSERL: Wenn auch „die psychischen Akte“ nicht schöpferisch sind, so ist es „das dekadische System“ als eine „Methode“? (2) Was meint H USSERL mit der Formulierung „die Zahlen an sich“? Nach dem soeben Ausgeführten konstruiert H USSERL die „unzugänglichen Zahlen“ methodisch mittels einer Systematik der Zeichenbildung, ausgehend von den „zugänglichen Zahlen“. Was haben konstruierte Zahlen mit „Zahlen an sich“ zu schaffen? Eine einfache Antwort lautet: Mit den „Zahlen an sich“ meint H USSERL die zwar „konstruierten“, aber „unzugänglichen“ Zahlen (die er gleichwohl als „wahre“z , gleichbedeutend: „wirkliche“) Zahlbegriffe bezeichnet. Eine etwas weiter ausholende Antwort führt zum selben Ergebnis: v
Hua 12, S. 232
w
Hua 12, S. 233
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Vgl. Hua 12, S. 229–233.
y
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Eine intensionale Fassung des Zahlbegriffs: Husserl „Die Zahlensystematik bietet, wie wir sahen, eine gleichförmige und (bei idealisierender Abstraktion von gewissen Schranken unserer Fähigkeiten) unerschöpfliche Methode der Fortsetzung des Zahlgebietes über jede Grenze hinaus. Da mittels ihrer scharf gesonderten Begriffsbildungen jede denkbare Vielheit abzählbar ist, so kann es auch keine wirkliche Zahl geben, die nicht im System ihr symbolisches Korrelat fände, und zwar jeweilig nur eines, da verschiedene systematische Zahlsymbole notwendig auf verschiedene wirkliche Zahlen hindeuten.“ (Hua 12, S. 260) H USSERL leistet sich im Jahr 1891 den Luxus, jede Unendlichkeit selbstverständlich für abzählbar zu halten.395 Demzufolge kann seine „unerschöpfliche Methode“ der Zahlkonstruktion „jede denkbare Vielheit“ – „bei idealisierender Abstraktion“ betrachtet – ausschöpfen. Dieses „kann ausschöpfen“ nennt H USSERL „an sich“. Jedenfalls wäre es völlig verfehlt, wollte man H USSERLs „Zahlen an sich“ in einem platonistischen Sinne deuten, sie also in einer Seinssphäre ansiedeln, die dem denkenden Menschen unabhängig gegenübersteht.396 Halten wir jedoch fest: H USSERL betont hier zu Recht etwas, das in der Arithmetik (seiner Zeit wie auch gegenwärtig) in aller Regel unbeachtet bleibt: Die natürliche „Zahl“ ist nicht ihre Darstellung (z. B. im dekadischen System).397 RECHNEN Die Wissenschaft von den Eigenschaften der Zahlen ist die Zahlentheorie. Sie handelt von den Eigenschaften der einzelnen Zahlen. Allerdings versteht auch die 395
Im Jahr 1874 hatte C ANTOR erstmals einen Beweis dafür gegeben, dass dem nicht so sei (Cantor 1874, S. 117 f., noch ohne den Begriff „abzählbar“), im Jahr 1879 erneut (Cantor 1879, S. 142 f. jetzt mit „abzählbar“). Den berühmten „Diagonalbeweis“ (den zweiten; der erste zeigt die „Abzählung“ der „rationalen“ Zahlen) gab C ANTOR dann im Jahr 1890 (Cantor 1890/91, S. 278 f.) Allerdings funktioniert dieser Beweis für im Dualsystem geschriebene reelle Zahlen offenkundig nicht (denn viele Dualzahlen haben eine doppelte Darstellung: mit wie ohne endende Einerperiode). Darf aber die Gültigkeit eines Beweises über Zahlen von der Art ihrer Darstellung abhängen? Doch wohl kaum. (In einem etwas anderen Zusammenhang sagt Finsler 1964, S. 195: „Eine Menge ist überabzählbar, wenn es keine Abzählung ihrer Elemente gibt, und nicht schon dann, wenn man mit bestimmten Methoden keine Abzählung erhalten kann.“) Der zweite „Diagonalbeweis“ beweist also keineswegs das, was man ihm gewöhnlich andichtet. C ANTOR führt diese Beweise in dem Sinne, der heute Standard-Analysis genannt wird. Eine Nichtstandard-Analysis kann selbstverständlich die Menge der (standard-analytisch) reellen Zahlen – und also: das „Überabzählbare“ der Standard-Analysis – abzählen: Laugwitz 1986, S. 225 f. 396 Auf etwas anderem Weg zum gleichen Ergebnis gelangt Schmit 1981, S. 30–33. Er hebt auf erste Spuren (oder: Keime) der „Unterscheidung der objektiven Bedeutungen von den subjektiven Vorstellungen“ (Schmit 1981, S. 32) in der Philosophie der Arithmetik ab – ein Aspekt, der in H USSERLs späterem philosophischen Werk breit entfaltet wird. – Siehe dazu auch das H USSERLZitat auf S. 552 (von dessen S. 261). 397
Es sei auf die Bedenken zu C ANTORs (zweitem) „Diagonalbeweis“ in Anmerkung 395 verwiesen.
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 Zahlentheorie unter „Eigenschaften“ der Zahlen Aussagen über das Verhältnis verschiedener Zahlen zueinander. Von Zahlentheorie ist jedoch bei H USSERL keine Rede, sondern von der Arithmetik: „Die einzelnen Zahlen für sich betrachtet geben zu einer erkenntnismäßigen Behandlung keinen Anlass [. . . ] Nur aus den Beziehungen der Zahlen zueinander entspringen Aufgaben für eine logische Behandlung. Besser wäre demnach die Definition der Arithmetik als der Wissenschaft von den Zahlbeziehungen.“ (Hua 12, S. 256) Die „gemeinüblichste“a Umgangsweise mit den Zahlen ist das Rechnen: Der Begriff des Rechnens „umfasst jede symbolische Herleitung von Zahlen aus Zahlen, welche der Hauptsache nach auf geregelten Operationen mit sinnlichen Zeichen beruht.“ (Hua 12, S. 257 f.) Zieht man noch in Betracht, „dass der Mechanismus der symbolischen Methodik sich von seinen begrifflichen Anwendungssubstraten völlig loslösen lässt“b , kann man den Begriff des Rechnens „fassen als jede geregelte Art der Herleitung von Zeichen aus Zeichen innerhalb irgendeines algorithmischen Zeichensystems nach den diesem System eigentümlichen »Gesetzen« – oder besser: Konventionen – der Verknüpfung, Sonderung und Umsetzung.“ (Hua 12, S. 258) Ausdrücklich nennt H USSERL hier das Rechnen einen „Mechanismus“ nach „Konventionen“, betont also sowohl das äußerliche wie das konstruktive Moment daran. Für H USSERL sind dies zwei verschiedene Begriffe des Rechnens: Die eine ist reine „Technik“, „reine Rechenmechanik“ oder „Rechenkunst“c , die andere ist die begriffliche Auffassung, die „Kunst arithmetischer Erkenntnis.“c Normalzahlen H USSERL unterscheidet die „unsystematischen“ von den „systematischen“ Zahlsymbolisierungen: „Wie viel ist 18 + 48? Wir antworten 66 und haben damit die Einordnung dieser Summenzahl in die Zahlenreihe vollzogen. Aus diesen Gründen werden dann die systematischen Zahlen, obgleich selbst nur Vertreter anderer, uns aber unzugänglicher Begriffe, in der Arithmetik wie die letzten Zahlbegriffe angesehen, auf welche alle anderen Zahlformen nur hinweisen und welche aus ihnen noch zu konstruieren sind. In Wahrheit fungieren sie aber nur als die Normala c
Hua 12, S. 257 Hua 12, S. 259
b
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Eine intensionale Fassung des Zahlbegriffs: Husserl zahlen, gleichsam als feste Etalons[398] , auf welche alle anderen vergleichend zurückbezogen werden zu dem Zwecke ihrer exakten Vergleichung nach Mehr und Weniger. Und so ersehen wir, dass durch die Zahlenreihe das Ideal einer allgemeinen und exakten Zahlenklassifikation in vollkommenster Weise realisiert wird.“ (Hua 12, S. 261) Die im dekadischen System notierten Zahlen sind die Normalformen der Zahlen: die „Normalzahlen“. (Diese „Normalzahlen“ bezeichnen oder sind „zugängliche“ oder „symbolische“ Zahlen.) Daraus ergibt sich für H USSERL ein „Allgemeines arithmetisches Postulat: Von den systematischen Zahlen sind verschiedene symbolische Bildungen, wo immer sie auftreten, auf die ihnen gleichwertigen systematischen als ihre Normalformen zu reduzieren. Demgemäß erwächst als die erste Grundaufgabe der Arithmetik, alle erdenklichen symbolischen Bildungsweisen von Zahlen in ihre verschiedenen Typen zu sondern und für einen jeden dTypuse sichere und möglichst einfache Methoden jener Reduktion aufzufinden.“ (Hua 12, S. 262) Demnach wäre die Arithmetik als eine Methodenlehre zu konzipieren, die „systematische“ Zahlen in „sicherer“ Weise auf „Normalzahlen“ reduziert. Und es wird unter den „arithmetischen Operationen nichts anderes zu verstehen sein [. . . ] als Methoden der Ausführung dieser Reduktion.“d Allerdings „ändert hiermit der Begriff der Zahlenoperation, wie er aufgrund des eigentlichen Zahlbegriffs sich ergibt, ganz wesentlich die ursprüngliche Bedeutung“d des Zahlbegriffs. Geht es „ursprünglich“ um den kolligierenden Bewusst- S. 546 seinsakt, in dem die betreffende Operation (natürlich nur an „zugänglichen“ Zahlen) vorzunehmen ist, so konstruiert der neue Operationsbegriff „mechanisch“ an den „symbolischen Zahlen“. Doch „offenbar bleiben die beiden Operationsbegriffe noch in einem leicht erkennbaren Zusammenhang.“d Das hat seinen einfachen Grund darin, dass wir im Allgemeinen die Zahlen nicht rein in kolligierenden Akten betrachten (können), sondern gewöhnlich mit „scharf bestimmten symbolischen Surrogatbegriffen“e hantieren. H USSERLs Arithmetik ist von allem Anfang an im Wesentlichen nicht allein auf konstituierende psychische Akte gestützt, sondern auf „durch Zeichen eindeutig charakterisierte“ „konstruierte“ „symbolische Vorstellungen“ verwiesen. Diese symbolischen Vorstellungen haben im dekadischen Zahlensystem ihr „Ideal“, und so können der Rechenkünstler und der Philosoph ihrem jeweiligen (sehr unterschiedlichen) Geschäft nachgehen – aber wunderbarerweise kommt es, was die Zeichen angeht, auf dasselbe hinaus. d e 398
Hua 12, S. 262 Hua 12, S. 263 Etalon heißt: Eichmaß.
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 Die arithmetischen Operationen Addition
Die Addition ist die Vereinigung mehrerer Zahlen zu einer neuen. Ihrem Begriff nach ist die Summe „von einer Ordnung der Summanden unabhängig“f . Problematisch wird die Addition erst, nachdem die „Zahlen“ auf die „Normalzahlen“ standardisiert wurden: „Mehrere Zahlen a, b, c, . . . addieren bedeutet jetzt, die ihrer Summe entsprechende systematische Zahl 〈zu〉 finden.“ (Hua 12, S. 264) Die Lösung des Problems erfolgt erwartbar, indem zur Addition a + b von a im Zahlensystem ausgehend und „der festen Ordnung desselben folgend“f um b Glieder „weitergezählt“ wird. „Da das Zählungsresultat von der konkreten Natur der gezählten Objekte unabhängig ist, so kann jedes am konkreten Beispiel gewonnene Resultat alsbald für jede erdenkliche Art gezählter Einheiten in Anspruch genommen werden, mag im Übrigen das Zählen ein eigentliches oder symbolisches gewesen sein.“ (Hua 12, S. 265) H USSERL beruft sich hier also auf ein empirisches Faktum. Die Technik der schriftlichen Addition im dekadischen System bietet „immense Vorteile“g und wird „in praktischer Betätigung von selbst zu einem rein äußerlichen Rechnen“h,399 . Sie verlangt nur die „stets verfügbaren Sätze des »Eins und Eins«“h . Dennoch bedarf die Richtigkeit dieser Methode „noch der logischen Untersuchung“h,400 . Nach Durchführung dieser Untersuchung hält H USSERL fest: „Damit ist allen einzelnen Schritten nach die streng eindeutige Korrespondenz zwischen der in Begriffen denkenden und der in Zeichen rechnenden Additionsmethode nachgewiesen, und wir dürfen der Letzteren volles Vertrauen schenken.“ (Hua 12, S. 267) „Die ungeheure Ersparung psychischer Arbeit, welche das blindmechanische Rechnen ermöglicht“h , steht außer Frage. f g
399 400
Hua 12, S. 264 Hua 12, S. 266
h
Hua 12, S. 267
Und also zu einer Tätigkeit, wie sie die Rechenmeister der frühen Neuzeit lehrten: siehe ab S. 39. Dieses Problem hatten die Rechenmeister seinerzeit freilich nicht.
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Eine intensionale Fassung des Zahlbegriffs: Husserl
Multiplikation
Die Multiplikation fasst H USSERL als eine Sonderform der Addition. Das zugehörige Verfahren verlangt „nur die Reproduktion von Sätzen der »Eins und Eins« sowie der »Ein mal Eins«“i . Es transformiert wiederum „die begrifflich operierende Multiplikation [zur] rein mechanisch rechnenden“i . Zutreffenderweise bemerkt H USSERL, dass die Gleichwertigkeit der Produkte a·b und b · a „aus dem Begriff der multiplikativen Verbindung folgt“j . Das heißt, sie ist beweisbar. Subtraktion und Division
Die „gegenüberstehenden“j Grundoperationen haben, wenn man sie allgemein fasst, „nicht immer Sinn und Lösung“j bzw. sind „in ihrer Ausführbarkeit beschränkt“k . Eine nähere Erörterung solcher Fälle hält H USSERL offenbar nicht für angezeigt. Nicht einmal die Tatsache, dass 2 − 1 keine „wirkliche“ Zahl ist, findet hier eine Bemerkung. Das Wesen der vier Grundoperationen
H USSERLs Ergebnis lautet: Die vier Spezies „sind Rechnungsoperationen, denn sie hantieren mit bloßen Zeichen; arithmetische Operationen, denn sie dienen der Herleitung von Zahlen. Sie repräsentieren logische Methoden, um symbolische Zahlkompositionen (Summen, Produkte, Differenzen, Quotienten) auszuwerten, d. h. die ihnen entsprechenden symbolischen Normalgebilde als die logisch berufenen Vertreter der wirklichen Zahlbegriffe zu bestimmen. Es sind indirekte Methoden der klassifikatorischen Subsumtion jener Kompositionen unter den zugehörigen stellvertretenden Zahlbegriff.“ (Hua 12, S. 271 f.) Das „Rechnen“ geschieht mittels „Zeichen“. Die „Arithmetik“ hat „Zahlen“ zu Gegenständen. Die „rechnende“ und die „denkende“ „Methode“ (sofern sich Letztere aufs „Rechnen“ bezieht) stehen in „streng eindeutiger Korrrespondenz“. Insofern ermöglichen die Rechnungsoperationen „logische Methoden“. Ist es nicht frappierend, wie geschmeidig sich das „Denken“ dem „Rechnen“, jenem „Mechanismus der symbolischen Methodik“l anzupassen weiß? Die „imaginären“ Zahlen
Nach H USSERLs Bestimmung sind 2, 3, 4, usw. „wahre“ oder „wirkliche“ Zahlen – andere gibt es nicht. Alle anderen in der Mathematik gebräuchlichen Zahlen nennt H USSERL „imaginär“. In einem Text aus dem Jahr 1901 formuliert er klar, er fasse i l
Hua 12, S. 268 Hua 12, S. 258
j
Hua 12, S. 269
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 „den Titel »imaginär« möglichst weit, wonach auch das Negative, ja selbst die Brüche, die Irrationalzahl und dergleichen als imaginär gelten kann.“ (Hua 12, S. 432 f.) Mit historischer Berechtigung, zumindest für die Negativen, die Irrationalen und die Komplexen, erläutert H USSERL: „Die in der algebraischen Rechnung angelegte Tendenz zur Formalisierung führte zu Operationsformen, die arithmetisch sinnlos waren, aber die merkwürdige Eigentümlichkeit zeigten, dass sie trotzdem rechnerisch verarbeitet werden durften. Es stellte sich nämlich heraus, dass, wenn die Rechnung nach den Operationsregeln mechanisch durchgeführt wurde, als ob alles sinnvoll wäre, dass dann mindestdense in weiten Sphären von Fällen jedes Rechnungsresultat, das von den Imaginaritäten frei war, als richtig in Anspruch genommen werden konnte, wie man durch direkte Verifikation empirisch nachweisen könnte.“ (Hua 12, S. 432) In der Tat sind die negativen, die irrationalen und die komplexen „Zahlen“ geschichtlich zunächst als rein symbolisch konstruierte Zeichen beim konkreten Rechnen entstanden, und diese Zeichen wurden zunächst mit großen Vorbehalten genutzt. Sie in mathematischer Begrifflichkeit zu fassen gelang erst den Mathematikern des 19. Jahrhunderts. Üblich wurde seitdem ein „Stufenaufbau“ des Zahlsystems: Zuerst werden die „natürlichen“ Zahlen – irgendwie – bestimmt, dann die „negativen“, dann die „rationalen“ usw. Im Jahr 1901 (in Kontakt mit H ILBERT) erkennt H USSERL sogleich das hier auftretende logische Problem der Vollständigkeit: Er denkt sich ein Axiomensystem mitsamt „formaler“ Definitionen von Begriffen und Sätzen, und er denkt sich dieses Axiomensystem erweitert. Nun ist es plausibel, dass ein im erweiterten System korrekt abgeleiteter Satz in keinem Widerspruch zu dem engeren System stehen wird. Die Frage lautet dann jedoch: „Aber woher wissen wir, dass, was widerspruchslos ist, auch wahr ist“m ? Oder auch: „Woher wissen wir also, dass ein den engeren Axiomen nicht widerstreitender Satz ein Folge dieser Axiome ist?“ (Hua 12, S. 439) Wir nennen dies heute die Frage nach der (logischen) „Vollständigkeit“ des engeren Systems. Diese Thematik kann hier nur als bei H USSERL präsent aufgezeigt, aber nicht vertieft werden. Für unser Thema wichtig ist die Feststellung: H USSERL hat sich zwar an der mathematischen Konstruktion von in seinem Sinne „imaginären“ Zahlen versucht,401 war damit jedoch nicht erfolgreich. m 401
Hua 12, S. 439 Am 18.07.1891 schreibt H USSERL an F REGE zum Thema „Imaginäres“:
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Eine intensionale Fassung des Zahlbegriffs: Husserl ZUR BEDEUTUNG DES DEKADISCHEN ZAHLENSYSTEMS H USSERL hat das dekadische Zahlensystems als einen Zahlbegriff konstituiert. Seit S IMON S TEVIN ausgangs des 16. Jahrhunderts erfolgreich die Verwendung dieses Systems propagiert hat, wird es von den Mathematikern zwar immer häu- S. 5 figer benutzt, jedoch nicht auf seinen begrifflichen Status befragt. C AUCHY nimmt es als ganz selbstverständliche Darstellung für den von ihm in die Grundlagen der Analysis eingeführten Begriff des Wertes. Das dekadische Zahlensystem ist die (nicht theoretisierte) Folie, vor deren Hintergrund ganz selbstverständlich eine „beliebig genau“ bestimmbare Zahl als „bestimmte“ Zahl argumentierend unterstellt werden konnte.402 Das dekadische Zahlensystem fungierte als wohlfeiler Existenzgrund für „Werte“, ohne dass sich irgendjemand (vor dem Jahr 1872) imstande gezeigt hätte, ein anderes (begriffliches) Argument für die „Existenz“ des fraglichen „Wertes“ zu formulieren. Doch niemals wurde der Begriff „Zahl“ mittels des dekadischen Systems definiert. H USSERL ändert das. H USSERL bestimmt das dekadische Zahlensystem als ein System aus Begriffen – und darüber hinaus analysiert er es als einen Mechanismus, als ein Instrument: ein Instrument des Denkens. H USSERL betont (vielleicht als Erster; er wandelt damit auf Spuren, die D ESCARTES gelegt und L EIBNIZ sehr vertieft S. 28 hat), „dass die Anwendung sinnlicher Zeichen überhaupt eine eminente Bedeu ab S. 128 tung für das arithmetische Gebiet besitzt“n . Ausführlicher: „Ein systematisches Schriftzeichen kann, ohne seine Übersichtlichkeit zu verlieren, unvergleichlich umfassender sein als ein systematisches Wortzeichen; es ist leichter zu handhaben und stellt[ ,] durch seine dauernde Fixierung[ ,] an unser Gedächtnis keine besonderen Anforderungen. [. . . ] Ein Schriftzeichen hält fest und kann in jedem Moment von n
Hua 12, S. 243
„Der Weg, den ich nach vielen vergeblichen Bemühungen als zum Ziele führend erkannt habe, wurde von Ihnen, »Über formale Theorien der Arithmetik« S. 8 diskutiert, aber für nicht gangbar erachtet.“ (Frege 1976, S. 100 = Frege 1980, S. 38) An der genannten Stelle argumentiert F REGE gegen die Methode, beim Aufbau der Arithmetik „nicht die Zahlen, sondern die Rechnungsarten“ zu definieren (Frege 2 1990b, S. 108). F REGEs Argument an seinem Beispiel: „Die Addition der Brüche z. B. muss allgemein erklärt werden, etwa so: Die Summe +c·b von ba und dc ist a·db·d . Auf diesem Wege kann man nun niemals beweisen, dass die 1 Summe von 2 und 12 1 ist; denn man erhält 1·2+1·2 . 2·2 Dies ist eine leere Figur und nicht die Zahl 1.“ (Frege 2 1990b, S. 108) 402
Diese Betrachtung hätte B OLZANO bei seiner Arbeit an RZ sicher sehr interessiert. Paradigmatisch hat dies bereits L EIBNIZ mit der Formulierung des nach ihm benannten Konvergenzkriteriums getan – siehe S. 102.
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 neuem aufgefasst werden. [. . . ] Die besten Zeichen sind also leicht fixierbare, möglichst übersichtlich gebildete und dabei möglichst kurze und deutliche Schriftzeichen.“ (Hua 12, S. 243 f.403 ) Dabei entfalten diese Schriftzeichen404 ihre Wirksamkeit in dem dekadischen Regelsystem, jenem Mechanismus, den das dekadische Zahlensystem darstellt. Freilich: Die „Abazisten“, also jene (menschlichen) Rechner, die sich eines Rechenbrettes bedienen (vom Altertum bis in die Gegenwart),405 handelten schon immer nach solcher Systematik, auch ohne speziell das dekadische System kennen oder benötigen zu müssen: Sie wussten, dass sich die arithmetischen Probleme rein mechanisch lösen lassen, ganz ohne zu denken. H USSERL hat für die „Algorithmiker“ – die seit der Neuzeit zu den Abazisten in Konkurrenz getreten sindo und diese schließlich verdrängt haben – dasselbe für deren Schreibtechnik nachgewiesen. „Ein für allemal gebildete Regeln ersparen die immer wieder erneute Mühe schwieriger Überlegungen und gestatten auch hier, ein rein mechanisches Operieren anstelle des wirklichen Denkens zu setzen. Auch die Regeln für die Verbindung, Anordnung und Umsetzung der Operationen schließen sich zu einem lückenlosen Rechenmechanismus zusammen sowie die spezielleren Regeln für die Auswertung der einzelnen Operationen.“ (Hua 12, S. 280) Die Regeln beziehen sich natürlich auf die verwendeten Mittel. Daraus zieht H USSERL (unter Verweis auf H ANKELs Buch Zur Geschichte der Mathematik 406 ) folgende Konsequenz: „Es ist eine logisch beachtenswerte Tatsache, dass auch die äußeren Bezeichnungsmittel, welche die jeweilige Kultur dem Arithmetiker aufdrängt, von wesentlichstem Einfluss werden können auf die Ausbildung der Algorithmen; sodass die spezielle Methodik und damit der ganze Habitus der Wissenschaft durch Momente bedingt erscheint, o
Siehe etwa Menninger 3 1979, Teil 2, S. 162.
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Es sei darauf hingewiesen, dass sich H USSERL sehr intensiv der Stenografie bedient hat – also der Anwendung eines speziellen Schriftzeichensystems, das zur direkten Aufzeichnung der gesprochenen Rede wie zur raschen Fixierung von Texten geeignet ist. – Die Ausübung der Kulturtechnik Stenografie verlangt vom Einzelnen ein gewisses Maß an, mit H USSERL gesprochen, „methodischer Übung“ und verliert wohl aus diesem Grund derzeit ihre Träger. Den schriftlichen Rechentechniken ergeht es nicht anders. Allerdings lässt sich deren Wirken durch technische Geräte ersetzen, das stenografische Tun nicht. 404 Wir erinnern uns an D ESCARTES’ Regeln 14 und 15 seiner Anleitung zur Ausrichtung der Erfindungskunst (S. 8, 10). 405 H USSERL kommt selbst auf das Abakus-Rechnen zu sprechen: Hua 12, S. 273 f. 406 Er nennt es in einem Brief an F REGE vom 18.07.1891 freilich „in logischer Beziehung ganz konfus“ (Frege 1976, S. 100 = Frege 1980, S. 39).
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Die Axiomatisierung der reellen Zahlen durch Hilbert deren Bedeutung zu unterschätzen der meist auf die höchsten Abstraktionen achtende Logiker nur zu sehr geneigt sein möchte.“ (Hua 12, S. 275) Von hier aus ist es nicht mehr weit zu den kämpferischen Formulierungen des O SWALD S PENGLER (1880–1936), zuerst gedruckt 1918: „Eine Zahl an sich gibt es nicht und kann es nicht geben. Es gibt mehrere Zahlenwelten, weil es mehrere Kulturen gibt. [. . . ] Es gibt demnach mehr als eine Mathematik.“ (Spengler 1918/1922, Bd. 1, S. 85 f.) Und nochmals prägnant: „Es gibt keine Mathematik, es gibt nur Mathematiken.“ (Spengler 1918/1922, Bd. 1, S. 88) Mit diesem Verweis soll nicht S PENGLERs Weltsicht insgesamt gepriesen werden.407 Doch auch neuere Forschungen, etwa zur Erfindung der Zahlen und der Arithmetikp zeitigen derartige Konsequenzen, und unbestreitbar zielt das vorliegende Buch auf die Festigung der These: Es gibt nicht die Analysis, es gibt nur verschiedene Fassungen (oder: Weisen) von Analysis.
AUSBLICK H USSERL hat seine philosophische Betrachtungsweise nach 1891 im Grundsätzlichen weiterentwickelt. Daraus ergeben sich Konsequenzen allgemeiner Art auch für die Mathematik. Dies kann hier nicht dargestellt werden. Stattdessen sei wenigstens auf den Versuch D IETRICH M AHNKEs verwiesen, die reifere H USSERL’sche Philosophie als Korrektiv des offenkundig defizitären Zahlbegriffs der H ILBERT’schen Metamathematik zu deuten: siehe M AHNKEs Aufsatz „Von Hilbert zu Husserl. Erste Einführung in die Phänomenologie, besonders der formalen Mathematik“q . D I E A X I O M AT I S I E RU N G D E R R E E L L E N Z A H L E N D U RC H HILBERT Der Wechsel zum 20. Jahrhundert markiert auch für die Mathematik den Beginn eines epochalen Wandels: die Hinwendung zu dem, was nach dem Zweiten Weltkrieg „Strukturmathematik“ heißt. Für deren heilige Schriften wird seit diesem Krieg ein Phantom namens N ICOLAS B OURBAKI zeichnen. p 407
Damerow und Lefèvre 1981, Nissen et al. 1990, Høyrup und Damerow 2001
q
Mahnke 1923
Das verbietet sich schon angesichts etlicher verwerflicher S PENGLER’scher Positionen wie etwa: „Wahrheiten gibt es nur in Bezug auf ein bestimmtes Menschentum.“ (Spengler 1918/1922, Bd. 1, S. 65)
Husserl – Hilbert
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 Im Jahr 1899 erschien die Schrift Die Grundlagen der Geometrie von D AVID H IL BERT (1862–1943). Die „Einleitung“ lautet: „Die Geometrie bedarf – ebenso wie die Arithmetik – zu ihrem folgerichtigen Aufbau nur weniger und einfacher Grundtatsachen. Diese Grundtatsachen heißen Axiome der Geometrie. Die Aufstellung der Axiome der Geometrie und die Erforschung ihres Zusammenhanges ist eine Aufgabe, die seit E UKLID in zahlreichen vortrefflichen Abhandlungen der mathematischen Literatur sich erörtert findet. Die bezeichnete Aufgabe läuft auf die logische Analyse unserer räumlichen Anschauung hinaus. Die vorliegende Untersuchung ist ein neuer Versuch, für die Geometrie ein einfaches und vollständiges System voneinander unabhängiger Axiome aufzustellen und aus denselben die wichtigsten geometrischen Sätze in der Weise abzuleiten, dass dabei die Bedeutung der verschiedenen Axiomgruppen und die Tragweite der aus den einzelnen Axiomen zu ziehenden Folgerungen möglichst klar zutage tritt.“ (Hilbert 1899, S. 3)
S. 485
Als Aufgabe der Mathematik benennt H ILBERT hier „die logische Analyse unserer [. . . ] Anschauung“. Damit nimmt er jenes anti-K ANT’sche Programm auf, das C ANTOR/H EINE/D EDEKIND in Jahr 1872 so erfolgreich an dem von ihnen neu geschaffenen Begriff „Stetigkeit (einer unabhängig Veränderlichen)“ in einem ersten Schritt realisiert haben: eine „Anschauung“ in einen mathematischen „Begriff“ zu transformieren. H ILBERT allerdings packt die Sache grundlegend anders an. „18 AXIOME“ Im dritten Kapitel seines Buches – es trägt die Überschrift „Die Lehre von den Proportionen“ – findet sich in § 13 unter dem Titel „Komplexe Zahlensysteme“ die erste axiomatische Fassung des Begriffs „reelle“ Zahl. Die „komplexen Zahlensysteme“ Dabei ist der Name „komplexes Zahlensystem“ der W EIERSTRASS’schen Traditi-
S. 389, on entnommen. Das lässt sich an der Anfangssentenz von H ILBERTs 1896 erschieAnm. 279 nener Abhandlung „Zur Theorie der aus n Haupteinheiten gebildeten komplexen
Größen“ erkennen, die folgendermaßen lautet: „Im Anschluss an die in diesen Nachrichten[408] vom Jahre 1884 veröffentlichten Untersuchungen von K. W EIERSTRASS über komplexe Zahlensysteme hat R. D EDEKIND in diesen Nachrichten vom Jahre 1885 einen Satz aufgestellt und bewiesen, dessen wesentlicher Inhalt sich wie folgt aussprechen lässt: 408
Nachrichten der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, dem Erscheinungsort dieser H IL -
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Die Axiomatisierung der reellen Zahlen durch Hilbert Man denke sich e 1 , . . . ,e n als n komplexe Haupteinheiten eines Zahlengebietes A, und es sei die lineare Verbindung α = α1 e 1 + . . . + αn e n mit beliebigen reellen oder imaginären Koeffizienten α1 , . . . αn der allgemeinste eindeutige Ausdruck einer Zahl jenes komplexen Zahlengebietes A.“ (Hilbert 1896, S. 371) Der Name „komplex“ steht also hier noch immer für „zusammengesetzt“. (Wir bemerken in Klammern: Für H ILBERT ist es selbstverständlich, dass man einen Lehrsatz eines anderen Autors nicht wörtlich so wiedergeben muss, wie ihn jener formuliert hat, sondern dass man ihn in eigenen Worten „aussprechen“ darf. Selbstverständlich ist dagegen dem Grunde nach nichts einzuwenden. Unsere bisherigen Untersuchungen zu den Grundbegriffen der Analysis haben freilich gezeigt, dass bei solchen Umformulierungen unter Umständen die verwendeten Begriffe besondere Aufmerksamkeit verdienen.409 – Im hier vorliegenden Fall ist eine solche besondere Aufmerksamkeit nach allem, was wir bisher wissen, nicht erforderlich: Zur „Theorie der komplexen Zahlensysteme“ wurden bislang keine mathematisch divergierenden Deutungen der verwendete Begriffe aufgezeigt.) „17 Sätze“ Im dritten Kapitel der Grundlagen der Geometrie trägt § 13 die schon genannte Überschrift „Komplexe Zahlensysteme“. Er sei nun in Gänze zitiert: „Am Anfang dieses Kapitels wollen wir einige kurze Auseinandersetzungen über komplexe Zahlensysteme vorausschicken, die uns später insbesondere zur Erleichterung der Darstellung nützlich sein werden. Die reellen Zahlen bilden in ihrer Gesamtheit ein System von Dingen mit folgenden Eigenschaften: Sätze der Verknüpfung (1–12): 1. Aus der Zahl a und der Zahl b entsteht durch »Addition« eine bestimmte Zahl c, in Zeichen a +b = c
oder
c = a +b.
2. Es gibt eine bestimmte Zahl – sie heiße 0 –, sodass für jedes a zugleich a +0 = a und 0+a = a ist. 409
BERT ’schen Abhandlung. Es sei insbesondere an den Abschnitt zu S EIDEL erinnert: ab S. 355.
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 3. Wenn a und b gegebene Zahlen sind, so existiert stets eine und nur eine Zahl x und auch nur eine Zahl y, sodass a+x =b
beziehungsweise
y +a =b
wird. 4. Aus der Zahl a und der Zahl b entsteht noch auf eine andere Art durch »Multiplikation« eine bestimmte Zahl c, in Zeichen ab = c
oder
c = ab .
5. Es gibt eine bestimmte Zahl – sie heiße 1 –, sodass für jedes a zugleich a ·1 = a und 1·a = a ist. 6. Wenn a und b beliebig gegebene Zahlen sind und a nicht 0 ist, so existiert stets eine und nur eine Zahl x und auch eine und nur eine Zahl y, sodass ax = b
beziehungsweise
ya = b
wird. Wenn a, b, c beliebige Zahlen sind, so gelten stets folgende Rechnungsgesetze: a + (b + c) = (a + b) + c 7. a +b = b +a 8. a(bc) = (ab)c 9. a(b + c) = ab + ac 10. (a + b)c = ac + bc 11. ab = ba. 12. Sätze der Anordnung (13–16) 13. Wenn a, b irgend zwei verschiedene Zahlen sind, so ist stets eine bestimmte von ihnen (etwa a) größer (>) als die andere; die Letztere heißt dann die Kleinere, in Zeichen: a >b
und
b b und b > c, so ist auch a > c. 15. Wenn a > b ist, so ist stets auch a +c > b +c
und
c +a > c +b.
16. Wenn a > b und c > 0 ist, so ist auch stets ac > bc
und
c a > cb .
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Die Axiomatisierung der reellen Zahlen durch Hilbert Archimedischer Satz (17): 17. Wenn a > 0 und b > 0 zwei beliebige Zahlen sind, so ist es stets möglich, a zu sich selbst so oft zu addieren, dass die entstehende Summe die Eigenschaft hat a + a +...a > b . Ein System von Dingen, das nur einen Teil der Eigenschaften 1–17 besitzt, heiße ein komplexes Zahlensystem oder auch ein Zahlensystem schlechthin. Ein Zahlensystem heiße ein archimedisches oder ein nichtarchimedisches, je nachdem dasselbe der Forderung 17 genügt oder nicht. Von den aufgestellten Eigenschaften 1–17 sind einige Folgen der Übrigen. Es entsteht die Aufgabe, die logische Abhängigkeit dieser Eigenschaften zu untersuchen. [. . . ]“ (Hilbert 1899, S. 26–28) Diese 17 „Sätze“ sind, wie gesagt, in der Schrift Grundlagen der Geometrie enthalten. Der Zahlbegriff ist nicht Gegenstand der Geometrie. Vielleicht erklärt sich daraus die Unvollständigkeit dieser Zusammenstellung (über die sich H ILBERT übrigens bereits bei der Veröffentlichung der Schrift im Klaren gewesen sein dürfter ). Und übrigens gibt H ILBERT keine Beweise für diese „Sätze“! Aus „17 Sätzen“ werden „18 Axiome“ In einer mit „12. Oktober 1899“ datierten kleinen Abhandlung „Über den Zahlbegriff“ verbessert H ILBERT seine Darstellung des Begriffs der reellen Zahl aus der Festschrift: (i) Zum einen spricht er nicht mehr von „Sätzen“, sondern von „Axiomen“ – und bezieht auch zu dem Begriff „Axiom“ Stellung. (ii) Zum anderen ergänzt er das ursprünglich fehlende Vollständigkeitsaxiom, nachdem er die anderen siebzehn „Axiome“ (bzw. „Sätze“) wortgleich wiedergegeben hat: „Axiom der Vollständigkeit. Es ist nicht möglich, dem Systeme der Zahlen ein anderes System von Dingen hinzuzufügen, sodass auch in dem durch die Zusammensetzung entstehenden Systeme die Axiome [1– 17] sämtlich erfüllt sind; oder kurz: die Zahlen bilden ein System von Dingen, welches bei Aufrechterhaltung sämtlicher Axiome keiner Erweiterung mehr fähig ist.“ (Hilbert 1900, S. 183) Sodann erläutert H ILBERT einige der zwischen den Axiomen bestehenden Abhängigkeiten. Beispielsweise könne „das kommutative Gesetz der Multiplikation“ nur dann aus den Übrigen gefolgert werden, wenn man das „archimedische Axiom“ hinzunehme, sonst hingegen nicht: „Diese Tatsache hat für die Grundlagen der Geometrie eine besondere Bedeutung.“ (Hilbert 1900, S. 183) r
So Toepell 1986, S. 54.
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 Vom archimedischen und dem Vollständigkeitsaxiom und ihrem Zusammenwirken sagt H ILBERT: „[Sie] sind voneinander unabhängig; sie enthalten keine Aussage über den Begriff der Konvergenz oder über die Existenz der Grenze, und dennoch folgt, wie man zeigen kann, aus ihnen der B OLZANO’sche Satz von der Existenz einer Verdichtungsstelle. Wir erkennen mithin die Übereinstimmung unseres Zahlensystems mit dem gewöhnlichen Systeme der reellen Zahlen.“ (Hilbert 1900, S. 184) PRO UND CONTRA AXIOMATISCHE METHODE Pro: Vom Vorzug der axiomatischen vor der genetischen Methode Einleitend in seine Abhandlung „Über den Zahlbegriff“ kontrastiert H ILBERT die „axiomatische“ und die „genetische“ Methode der Einführung des Zahlbegriffs. Letztere „erzeuge“ den „allgemeinsten Begriff der reellen Zahl durch sukzessive Erweiterung des einfachen Zahlbegriffs“: „Ausgehend von dem Begriff der Zahl 1, denkt man sich gewöhnlich durch den Prozess des Zählens zunächst die weiteren ganzen rationalen positiven Zahlen 2, 3, 4, . . . entstanden und ihre Rechnungsgesetze entwickelt; sodann gelangt man durch die Forderung der allgemeinen Ausführung der Subtraktion zur negativen Zahl: man definiert ferner die gebrochene Zahl, etwa als ein Zahlenpaar – dann besitzt jede lineare Funktion eine Nullstelle –, und schließlich die reelle Zahl als einen Schnitt oder eine Fundamentalreihe – dadurch erreicht man, dass jede ganze rationale indefinite, und überhaupt jede stetige indefinite Funktion eine Nullstelle besitzt.“ (Hilbert 1900, S. 180) Dem stellt H ILBERT die „axiomatische“ Methode gegenüber: „Wesentlich anders verfährt man beim Aufbau der Geometrie. Hier pflegt man mit der Annahme der Existenz der sämtlichen Elemente zu beginnen, d. h. man setzt von vornherein drei Systeme von Dingen, nämlich die Punkte, die Geraden und die Ebenen, und bringt sodann diese Elemente – wesentlich nach dem Vorbilde von E UKLID – durch gewisse Axiome, nämlich die Axiome der Verknüpfung, der Anordnung, der Kongruenz und der Stetigkeit∗ , miteinander in Beziehung. Es entsteht dann die notwendige Aufgabe, die Widerspruchslosigkeit und Vollständigkeit dieser Axiome zu zeigen, d. h. es muss bewiesen werden, dass die Anwendung der aufgestellten Axiome nie zu Widersprüchen führen kann, und ferner, dass das System der Axiome zum Nachweis aller geometrischen Sätze ausreicht.“ (Hilbert 1900, S. 181) ∗
Vergl. H ILBERT, Grundlagen der Geometrie, Festschrift zur Enthüllung des G AUSS-W EBER-Denkmals in Göttingen. Leipzig 1899.
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Die Axiomatisierung der reellen Zahlen durch Hilbert Beide „Methoden“ gegeneinander abwägend (deren eine zunächst für die „Erweiterung“ des Zahlbegriffs, deren andere hingegen für den „Aufbau“ der Geometrie geschaffen scheint) gelangt H ILBERT zu einem klaren Urteil: „Meine Meinung ist diese: Trotz des hohen pädagogischen und heuristischen Wertes der genetischen Methode verdient doch zur endgültigen Darstellung und völligen logischen Sicherung des Inhaltes unserer Erkenntnis die axiomatische Methode den Vorzug.“ (Hilbert 1900, S. 181) Mit dieser höflichen Verbeugung komplimentiert H ILBERT das ‚substanziale‘ Denken aus der Mathematik hinaus, um es durch das ‚relationale‘ Denken zu ersetzen. Und das sogar mit einer irreführenden Rechtfertigung, nämlich dem Hinweis auf die angebliche Sorge um den „Inhalt unserer Erkenntnis“. Dabei sind dem ‚relationalen‘ Denken doch gerade die „Inhalte unserer Erkenntnis“ erklärtermaßen gleichgültig. (Ob das „archimedische Axiom“ (Satz) ohne den Zahlbegriff in seiner „eigentlichen Zählbedeutung“s formuliert ist, wurde alsbald bezweifelt.) Die ursprünglich für den „Aufbau“ der Geometrie entwickelte Methode übernimmt H ILBERT für die Arithmetik und die Analysis. Dabei versteht H ILBERT unter „Axiom“ nicht, wie das alte Denken, eine inhaltsreiche (‚substanziale‘) Aussage. Sein gern zitierter Ausspruch: „Man muss jederzeit anstelle von »Punkte, Geraden, Ebenen« »Tische, Stühle, Bierseidel« sagen können“410, stammt bereits aus den frühen 1890er Jahren. Deswegen konnte er sich auch bei seinen „17 Sätzen“ über die „reellen“ Zahlen darauf beschränken, die so bestimmten Zahlen als bloße „Dinge“ S. 561 (mit den betreffenden Eigenschaften) zu behaupten. Erschafft die axiomatische Methode mathematische Gegenstände?
Die Widerspruchslosigkeit seines Axiomensystems für den Begriff der reellen Zahlen sieht H ILBERT in einer „geeigneten Modifikation bekannter Schlussmethoden“t garantiert. Das Wichtige daran: „In diesem Nachweise erblicke ich zugleich den Beweis für die Existenz des Inbegriffs der reellen Zahlen oder – in der Ausdrucksweise G. C ANTORs – den Beweis dafür, dass das System der reellen Zahlen eine konsistente (fertige) Menge ist.“ (Hilbert 1900, S. 184) s 410
Hölder 1924, S. 324
t
Hilbert 1900, S. 184
So Blumenthal 1935, S. 403. – Aus H ILBERTs Feder verbürgt ist jedenfalls die Triade „Liebe, Gesetz, Schornsteinfeger“, und zwar aus einem Brief an F REGE vom 29.12.1899: „Wenn ich unter meinen [sic] Punkten irgendwelche Systeme von Dingen, z. B. das System: Liebe, Gesetz, Schornsteinfeger . . . , denke, und dann nur meine sämtlichen Axiome als Beziehungen zwischen diesen Dingen [sic] annehme, so gelten meine Sätze, z. B. der Pythagoras auch von diesen Dingen. Mit andern Worten: eine jede [solche] Theorie kann stets auf unendlich viele Systeme von Grundelementen angewandt werden. Man braucht ja nur eine umkehrbar eindeutige Transformation anzuwenden und festzusetzen, dass die Axiome für die transformierten Dinge die entsprechend gleichen sein sollen.“ (Frege 1976, S. 67 = Frege 1980, S. 13)
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 Und nochmals ganz deutlich: „Unter der Menge der reellen Zahlen haben wir uns hiernach nicht etwa die Gesamtheit aller möglichen Gesetze zu denken, nach denen die Elemente einer Fundamentalreihe[411] fortschreiten können, sondern vielmehr – wie eben dargelegt ist – ein System von Dingen, deren gegenseitige Beziehungen durch das obige endliche und abgeschlossene System von Axiomen [1–17 sowie die „Vollständigkeit“] gegeben sind, und über welche neue Aussagen nur Gültigkeit haben, falls man sie mittelst einer endlichen Anzahl von logischen Schlüssen aus jenen Axiomen ableiten kann.“ (Hilbert 1900, S. 184)
S. 458 S. 466
Dies ist eine höchst bemerkenswerte Verkehrung der Fakten: H ILBERT schreibt es hier dem ‚substanzialen‘ Denken zu, sich an der „Gesamtheit aller möglichen Gesetze“ zu orientieren – und reklamiert für sein ‚relationales‘ Denken die Konzentration auf sein „System von Dingen“. Tatsächlich aber ist es genau umgekehrt: C ANTOR und H EINE haben konkrete „Dinge“ konstruiert (C ANTOR die „Zahlengröße im weiteren Sinne“, H EINE die „allgemeinere Zahl“)wohingegen H ILBERTs Axiome allein „Eigenschaften“ formulieren, von deren Trägern (und das sind dann „Dinge“) sie jedoch gänzlich absehen. H ILBERT interessiert sich nicht mehr für die einzelne Zahl, nicht mehr für ihr Bildungsgesetz. H IL BERT interessiert sich für das „System“. Dieses „System“ ist zwar ein System von „Dingen“, doch auf das, was diese „Dinge“ sind, kommt es ihm gar nicht an. Allein wichtig sind deren „gegenseitige Beziehungen“. Contra: Vom Sinn der Definitionen Im 1893 erschienenen ersten Band der Grundgesetze der Arithmetik hatte F REGE „Grundsätze“ für Definitionen formuliert: „1. Jeder aus den definierten Namen rechtmäßig gebildete Name muss eine Bedeutung haben. [. . . ] 2. Daraus folgt, dass nie dasselbe doppelt definiert werden darf, weil dann zweifelhaft bliebe, ob diese Definitionen im Einklange miteinander wären. 3. Der definierte Name muss einfach sein; d. h. er darf nicht aus [un]bekannten oder noch zu erklärenden Namen zusammengesetzt sein; denn sonst bliebe zweifelhaft, ob die Erklärungen der Namen miteinander im Einklange wären. 4. Wenn wir in der Definitionsgleichung links einen Eigennamen haben, der aus unsern Urnamen oder definierten Namen rechtmäßig gebildet ist, so hat dieser immer eine Bedeutung, und wir werden rechts ein einfaches noch nicht verwendetes Zeichen setzen können, das nun durch die Definition als gleichbedeutender 411
Damit ist C ANTORs Begriff der reellen Zahl angesprochen: siehe S. 460.
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Die Axiomatisierung der reellen Zahlen durch Hilbert Eigenname eingeführt wird, sodass wir in Zukunft dieses Zeichen überall, wo es [selbst] vorkommt, durch den links stehenden Namen ersetzen dürfen. [. . . ] [. . . ] “ (Frege 1893/1903, Bd. 1, S. 51, § 33) In Band 2 dieses Werkes – nach seiner Diskussion mit H ILBERT (siehe den gleich folgenden Abschnitt) – schließt F REGE ausdrücklich „implizite“ Definitionen aus: „Dass durch die Bedeutung eines Ausdrucks und eines seiner Teile die Bedeutung des übrigen Teils nicht immer bestimmt ist, leuchtet ein. Man darf also ein Zeichen oder Wort nicht dadurch erklären, dass man einen Ausdruck erklärt, in dem es [selbst] vorkommt, während die übrigen Teile bekannt sind. Denn es wäre erst eine Untersuchung nötig, ob die Auflösung für die Unbekannten – ich bediene mich eines wohl verständlichen algebraischen Bildes – möglich sei, und ob die Unbekannte eindeutig bestimmt werde. Es ist aber, wie oben schon gesagt, untunlich, die Rechtmäßigkeit einer Definition von dem Ausfall einer solchen Untersuchung abhängig machen,[412] die überdies vielleicht gar nicht einmal durchführbar wäre. Vielmehr muss die Definition den Charakter einer für die Unbekannte aufgelösten Gleichung haben, auf deren anderer Seite nichts Unbekanntes mehr vorkommt.“ (Frege 1893/1903, Bd. 2, S. 79, § 66)
S. 24, 210
Schließlich: „Noch weniger geht es an, mit einer einzigen Definition zweierlei zu erklären, sondern jede Definition muss ein einziges Zeichen enthalten, dessen Bedeutung durch sie festgesetzt wird. Man kann ja auch nicht mit einer einzigen Gleichung zwei Unbekannte bestimmen.“ (Frege 1893/1903, Bd. 2, S. 79, § 66) Demzufolge akzeptiert F REGE kein Axiomensystem, das zum Zwecke der Definition seiner maßgeblichen Begriffe aufgestellt ist – wie etwa H ILBERTs Axiomensystem für die „reellen“ Zahlen. ab S. 561 Die Kontroverse zwischen Hilbert und Frege F REGE und H ILBERT haben sich über ihre unterschiedlichen Standpunkte ausgetauscht. F REGE trug H ILBERT seine Bedenken in einem Brief vom 27.12.1899 vor (F REGEs Beispiele beziehen sich auf solche Axiome in H ILBERTs Schrift, welche geometrische Objekte betreffen; oben wurden nur jene wiedergegeben, welche die Zahlen betreffen): 412
Eine halbe Generation später ist PAUL F INSLER (1894–1970) konzilianter und billigt auch einigen „zirkelhaften“ Definitionen (Mengen) sehr wohl Geltung zu – wie ja auch (nur) eine der beiden Gleichungen x = a ± x, a 6= 0, sinnvoll und lösbar ist. Siehe auch Anmerkung 480 auf S. 678.
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 „Ganz anderer Art sind wohl die Erklärungen der §§ 1 und 3, bei denen die Bedeutungen der Wörter »Punkt«, »Gerade«, »zwischen« nicht angegeben, sondern als bekannt vorausgesetzt werden. Wenigstens scheint es so. Man ist aber auch im Unklaren darüber, was Sie Punkt nennen. Zunächst denkt man an die Punkte im Sinne der euklidischen Geometrie, worin man bestärkt wird durch den Satz, dass die Axiome Grundtatsachen unserer Anschauung ausdrücken. Nachher aber (S. 20) denken Sie sich ein Paar Zahlen als einen Punkt. Bedenklich sind mir die Sätze (§ 1), dass die genaue und vollständige Beschreibung von Beziehungen durch die Axiome der Geometrie erfolge, und dass (§ 3) Axiome den Begriff »zwischen« definieren. Damit wird etwas den Axiomen aufgebürdet, was Sache der Definitionen ist. Dadurch scheinen mir die Grenzen zwischen Definitionen und Axiomen in bedenklicher Weise verwischt zu werden und neben der alten Bedeutung des Wortes »Axiom«, die in dem Satze hervortritt, dass Axiome Grundtatsachen der Anschauung ausdrücken, eine andere, aber mir nicht recht Fassbare aufzutauchen. Jetzt schon ist eine Verwirrung hinsichtlich der Definitionen in der Mathematik eingerissen, und manche scheinen nach der Regel zu handeln:
S. 560
Was man nicht recht beweisen kann, Das sieht man als Erklärung an. Angesichts dessen scheint es mir nicht gut, die Verwirrung noch dadurch zu steigern, dass man auch das Wort »Axiom« in schwankendem Sinne und zum Teil ähnlich wie »Definition« gebraucht. Es wäre an der Zeit, meine ich, dass man sich einmal darüber verständigte, was eine Definition ist und leisten soll, und welche Grundsätze beim Definieren demgemäß zu befolgen sind (meine Grundgesetze der Arithmetik Bd. I § 33). Jetzt scheint mir darin eine völlige Anarchie und subjektives Belieben obzuwalten.“ (Frege 1976, S. 61 f. = Frege 1980, S. 7 f.)
S. 566
H ILBERT widerspricht F REGE postwendend und geschmeidig in einem Brief zwei Tage später: „Ich wollte die Frage beantworten, ob der Satz, dass in zwei gleichen Rechtecken mit gleicher Grundlinie auch die Seiten gleich sind∗ , bewiesen werden kann, oder vielmehr wie bei E UKLID ein neues Postulat ist. Ich wollte überhaupt die Möglichkeit schaffen, dass man solche Fragen verstehen und beantworten kann, warum die Winkelsumme im Dreieck zwei Rechte ist und wie diese Tatsache mit dem Parallelenaxiom zusammenhängt. Dass mein System von Axiomen solche Fragen in ganz bestimmter Weise zu beantworten gestattet und dass ∗
Dieser Satz ist doch die Grundlage der ganzen Flächenmessung.
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Die Axiomatisierung der reellen Zahlen durch Hilbert man auf viele dieser Fragen sehr überraschende und sogar ganz unerwartete Antworten erhält, lehrt, glaube ich, meine Festschrift, sowie weitere von meinen Schülern hieran geschlossene Arbeiten [. . . ] Dies also ist meine Hauptabsicht. [. . . ] Sie sagen, meine Erklärung in § 3 sei keine Definition des Begriffes »zwischen«. Denn es fehlen die Merkmale. Ja, diese Merkmale sind ja ausführlich in den Axiomen II 1–II 5[413] angegeben. Wenn man aber das Wort Definition genau im hergebrachten Sinne nehmen will, so hat man zu sagen: „Zwischen“ ist eine Beziehung für die Punkte einer Geraden, die folgende Merkmale hat: II 1 . . . II 5. Sie sagen weiter: »Ganz anders sind wohl die Erklärungen in § 1, wo die Bedeutungen Punkt, Gerade, . . . nicht angegeben, sondern als bekannt vorausgesetzt werden.« Hier liegt wohl der Kardinalpunkt des Missverständnisses. Ich will nichts als bekannt voraussetzen; ich sehe in meiner Erklärung in § 1 die Definition der Begriffe Punkte, Gerade, Ebenen, wenn man wieder die sämtlichen Axiome der Axiomgruppen I–V als die Merkmale hinzunimmt. Wenn man nach andern Definitionen für »Punkt«, etwa durch Umschreibungen wie ausdehnungslos etc. sucht, so muss ich solchem Beginnen allerdings aufs Entschiedenste widersprechen; man sucht da etwas, was man nie finden kann, weil nichts da ist, und alles verliert sich und wird wirr und vage und artet in Versteckspiel aus. Wollen Sie meine Axiome lieber Merkmale der in den »Erklärungen« gesetzten und dadurch vorhandenen Begriffe nennen, so würde ich dagegen gar nichts einzuwenden haben, außer etwa, dass das der Gewohnheit der Mathematiker und Physiker widerspricht – freilich muss ich auch mit dem Setzen der Merkmale frei schalten können. Denn sobald ich ein Axiom gesetzt habe, ist es vorhanden und »wahr«; [. . . ] Also, um die Hauptsache noch einmal zu sagen: Die Umnennung »Merkmale« statt »Axiome« etc. ist doch nur eine Äußerlichkeit und überdies Geschmackssache – ist aber jedenfalls leicht zu bewerkstelligen. Dagegen in drei Zeilen eine Definition des Punktes geben zu wollen, ist meines Erachtens eine Unmöglichkeit, da vielmehr erst der ganze Aufbau der Axiome die vollständige Definition gibt. Jedes Axiom trägt ja zur Definition etwas bei und jedes neue Axiom ändert also den Begriff. »Punkt« in der euklidischen, nicht-euklidischen, archimedischen, nicht-archimedischen Geometrie ist jedesmal was anderes. Nach vollständiger und eindeutiger Festlegung eines Begriffes ist die 413
Diese Angaben beziehen sich auf die geometrischen Axiome in H ILBERTs Schrift. Sie sind hier nicht wiedergegeben.
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 Hinzufügung irgendeines Axioms meiner Ansicht nach etwas durchaus Unerlaubtes und Unlogisches – ein Fehler, der sehr häufig, besonders von Physikern gemacht wird. [. . . ] Ein Hauptzweck meiner Festschrift sollte es sein, diesen Fehler zu vermeiden.“ (Frege 1976, S. 65 ff. = Frege 1980, S. 11 ff.)
S. 487
Hier prallen offenkundig zwei Denkwelten aufeinander, dass die Funken stieben. Ähnlich wie zuvor D EDEKIND verunglimpft hier H ILBERT die Gegenposition mit knappen Worten. Bemerkenswert sind hier vor allem H ILBERTs Worte: „Sobald ich ein Axiom gesetzt habe, ist es vorhanden und »wahr«.“ Das „Vorhanden“ sei ihm gern zugegeben – was aber ist „»wahr«“? Also: „wahr in Anführungszeichen“? Gewiss haben diese Anführungszeichen eine Bedeutung; und sehr wahrscheinlich sollen sie anzeigen, dass H ILBERT hier „wahr“ in einem anderen als dem traditionellen Sinn meint (also, grob gesprochen, anders als: übereinstimmend mit den Tatsachen). Aber wie meint H ILBERT es dann? Das sagt er hier nicht. (In H ILBERTs Sinne dürfte man wohl sagen: natürlich nicht.) F REGE hält standhaft dagegen. In seinem Erwiderungsbrief vom 6. Januar 1900 heißt es: „Die Merkmale, die Sie in Ihren Axiomen angeben, sind wohl sämtlich höherer als erster Stufe; d. h. sie antworten nicht auf die Frage »Welche Eigenschaften muss ein Gegenstand haben, um ein Punkt (eine Gerade, Ebene usw.) zu sein?«, sondern sie enthalten z. B. Beziehungen zweiter Stufe, etwa des Begriffes Punkt zum Begriffe Gerade. Es scheint mir, dass Sie eigentlich Begriffe zweiter Stufe definieren wollen, aber diese von denen erster Stufe nicht deutlich unterscheiden.“ (Frege 1976, S. 74 = Frege 1980, S. 18) Sowie: „Am schroffsten stehen sich wohl unsere Ansichten gegenüber hinsichtlich Ihres Kriteriums der Existenz und der Wahrheit. [. . . ] Nehmen wir an, wir wüssten, dass die Sätze »1. A ist ein intelligentes Wesen. 2. A ist allgegenwärtig. 3. A ist allmächtig.« mit ihren sämtlichen Folgen einander nicht widersprächen; könnten wir daraus schließen, dass es ein allmächtiges, allgegenwärtiges, intelligentes Wesen gäbe[414] ? Mir will das nicht einleuchten. [. . . ] Dieses Prinzip ist mir nicht einleuchtend und würde wahrscheinlich auch nutzlos sein, wenn es wahr wäre. Gibt es hierbei ein anderes Mittel, die Widerspruchslosigkeit nachzuweisen, als dass man einen Gegenstand 414
Da es an dieser Stelle wichtig ist, sei es angemerkt: Dieser Konjunktiv II ist sicher falsch und von F REGE nicht gemeint.
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Die Axiomatisierung der reellen Zahlen durch Hilbert aufweist, der die Eigenschaften sämtlich hat? Hat man aber einen solchen Gegenstand, so braucht man nicht erst auf dem Umwege der Widerspruchslosigkeit nachzuweisen, dass es einen gibt.“ (Frege 1976, S. 74 f. = Frege 1980, S. 18 f.) In seinem letzten Antwortbrief an F REGE ist H ILBERT sehr knapp. Am 22. September 1900 formuliert er ein Glaubensbekenntnis (und begründet die Kürze seiner Antwort mit aktueller Arbeitsüberlastung): „Meine Meinung ist eben die, dass ein Begriff nur durch seine Beziehungen zu anderen Begriffen logisch festgelegt werden kann. Diese Beziehungen, in bestimmten Aussagen formuliert, nenne ich Axiome und komme so dazu, dass die Axiome (eventuell mit Hinzunahme der Namengebungen für die Begriffe) die Definitionen der Begriffe sind. Diese Auffassung habe ich mir nicht etwa zur Kurzweil ausgedacht, sondern ich sah mich zu derselben gedrängt durch die Forderung der Strenge beim logischen Schließen und beim logischen Aufbau der Theorie. Ich bin zu der Überzeugung gekommen, dass man in der Mathematik und den Naturwissenschaften subtilere Dinge nur so mit Sicherheit behandeln kann, andernfalls sich bloß im Kreise dreht.“ (Frege 1976, S. 79 = Frege 1980, S. 23) Hier also H ILBERTs klare Aussage: „Axiome“ sind die „Definitionen“ der Begriffe – und ein Begriff kann „nur“ durch seine Beziehungen zu anderen Begriffen „logisch“ festgelegt werden. H ILBERT erläutert die Herkunft seiner „axiomatischen Methode“ (aus der Untersuchung des „logischen Aufbaus“ einer Theorie), erhebt gleichwohl aber den Anspruch, auf diese Weise auch naturwissenschaftliche Gegenstände behandeln zu wollen, und zwar „subtilere Dinge“ dort. Der Gegensatz Folgende Punkte seien festgehalten: (1) F REGE möchte die Anwendbarkeit der Mathematik sicherstellen. Deshalb geht es ihm um die Formulierung von „Gedanken“, und zwar von „wahren“ Gedanken.415 415
Damit knüpft F REGE unausgesprochen an B OLZANO an, der 1837 in seiner Wissenschaftslehre das Reich der Wahrheiten als das der „Sätze an sich“ beschreibt – siehe S. 279. Bei F REGE wird die Gesamtheit dieser B OLZANO’schen „Sätze an sich“ zum „dritten Reich“, das neben den äußeren Dingen und den Bewusstseinsinhalten „anerkannt werden“ müsse: „So scheint das Ergebnis zu sein: Die Gedanken sind weder Dinge der Außenwelt, noch Vorstellungen. Ein drittes Reich muss anerkannt werden. Was zu diesem gehört, stimmt mit den Vorstellungen darin überein, dass es nicht mit den Sinnen wahrgenommen werden kann, mit den Dingen aber darin, dass es keines Trägers bedarf, zu dessen Bewusstseinsinhalte es gehört. So ist z. B. der Gedanke, den wir im pythagoreischen Lehrsatz aussprachen, zeitlos wahr, unabhängig davon wahr, ob irgendjemand ihn für wahr hält. Er bedarf keines Trägers. Er ist wahr nicht erst, seitdem er entdeckt worden ist, wie ein Planet, schon bevor jemand ihn gesehen hat, mit andern Planeten in Wechselwirkung gewesen ist.“ (Frege 2 1990d, S. 353 f.)
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872
S. 560
(2) Für F REGE formulieren die „Axiome“ wie seit alters „Grundtatsachen“. Diese Formulierung gebraucht H ILBERT zwar in seinen Grundlagen der Geometrie noch, doch revidiert er das später drastisch – künftig sind „Axiome“ für ihn „frei“ „gesetzte“ „Merkmale“. (3) H ILBERT nennt als Zweck seiner axiomatischen Methode das Ergründen von logischen „Zusammenhängen“: Was kann aus welchen Voraussetzungen „bewiesen“ werden? Es geht ihm um die „logische Sicherung“ der „Erkenntnis“. (4) Zu diesem Zweck vollzieht H ILBERT eine „Umnennung“: Manche „Merkmale“ nennt er „Axiome“. Diese „Umnennung“ sei „doch nur eine Äußerlichkeit“. Die Benennung von „Merkmalen“ (insbesondere: in den „Axiomen“) sind nach H IL BERT „Definitionen“. Diese „Definitionen“ durch „Axiome“ sind offenkundig implizite „Definitionen“ – nach F REGE sind sie verboten.
S. 497
(5) In der „Setzung“ der „Merkmale“ bzw. „Axiome“ müsse der Mathematiker, so H ILBERT, „frei schalten und walten“ können. D EDEKIND spricht in diesem Zusammenhang ausdrücklich von „Willkür“. (6) Sobald ein „Axiom“ (ein „Merkmal“ also) „gesetzt“ ist, ist es nach H ILBERT „»wahr«“, also „wahr in Anführungszeichen“. Wir sehen die Übereinstimmung und die Diskrepanzen: Beiden geht es um den Nutzen der Mathematik für die Naturwissenschaften. F REGE möchte die Mathematik auf die wirklichen „Grundwahrheiten“ stützen und sucht die richtigen „Definitionen“. F REGE möchte gewisse (Aussagen über) „Tatsachen“ in Mathematik überführen. H ILBERT hingegen geht es um die „Sicherung“ des logischen Schließens, und dabei sind ihm die Gegenstände der Theorie herzlich egal (nämlich „frei“ „gesetzt“).
S. 175
Eine genauere Entfaltung dieser Kontroverse ergibt ein eigenes Buch. Stattdessen formuliere ich als Quintessenz: Zwar hat F REGE den altehrwürdigen Grundbegriff der Mathematik, die „Zahl“, als einen ‚relationalen‘ Begriff bestimmt, aber dennoch beharrt er grundsätzlich auf dem traditionellen, dem ‚substanzialen‘ Denken.416 H ILBERT hingegen verabschiedet diese Tradition und verpflichtet die Mathematik auf ein grundsätzlich ‚relationales‘ Denken: Allein die „Beziehungen“ von – völlig beliebig „gesetzten“ – „Merkmalen“ seien zu prüfen. Dazu setzt F REGE noch die Anmerkung hinzu: Man sieht ein Ding, man hat eine Vorstellung, man fasst oder denkt einen Gedanken. Wenn man einen Gedanken fasst oder denkt, so schafft man ihn nicht, sondern tritt nur zu ihm, der schon vorher bestand, in eine gewisse Beziehung, die verschieden ist von der des Sehens eines Dinges und von der des Habens einer Vorstellung. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde dieser Gegenstand durch K ARL R AIMUND P OPPER (1902–94) zunächst als „dritte Welt“, später als „Welt 3“ populär gemacht – siehe etwa die Aufsatzsammlung Popper 1972. (Eine die Realgeschichte einbeziehende Reflexion der Frage „Kannten die Babylonier den Satz des Pythagoras?“ bietet übrigens Damerow 2001.) 416 Ein Etwas, das tatsächlich eine Relation ist (wie vielleicht die „Zahl“), kann vom ‚substanzialen‘ Denken natürlich nur als das gefasst werden was es wirklich ist: als eine „Relation“ eben.
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Frege ↔ Hilbert
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Standortbestimmung zum Zahlbegriff und Ausblick S TA N D O RT B E S T I M M U N G Z U M Z A H L B E G R I F F U N D AUSBLICK C ANTOR und H EINE haben die „reellen“ Zahlen konstruiert, D EDEKIND hat sie „erschaffen“. Alle drei haben die „rationalen“ Zahlen zugrunde gelegt. C ANTOR und H EINE haben daraus unendliche „Folgen“ (genauer: Mengen solcher Folgen) gebildet, davon die „konvergenten“ (genauer: ‚konvergentenBz ‘ ) herausgehoben und S. 321 diese als neue Gegenstände definiert oder zum Anlass für solche Definitionen genommen. D EDEKIND hat die „rationalen“ Zahlen auf alle möglichen Arten in je eine „Unter-“ und eine „Oberklasse“ zerlegt und aus diesen Zerlegungen seine „irrationalen“ Zahlen „erschaffen“. Alle drei haben sie sich bei ihren Konstruktionen „aktual“ unendlicher Gesamtheiten bedient. Was ist da geschehen? Sind die „reellen“ Zahlen eine Abstraktion von „Größe“? Eine Antwort auf die Frage nach der Bedeutung des Geschehens will H ANS VON M ANGOLDT (1854–1925) im 1911 erschienenen ersten Band seiner Einführung in die höhere Mathematik für Studierende und zum Selbststudium geben. (Dieses Buch wurde – in seiner Überarbeitung durch KONRAD K NOPP (1882–1957) – zu einem Standardwerk, das noch nach dem Zweiten Weltkrieg Wiederauflagen erlebte.) Dort äußert sich M ANGOLDT ausführlich zum Begriff „Größe“: „In der Literatur werden die Worte »Größe« und »Zahl« vielfach in demselben Sinne gebraucht. Gleichwohl haben sie verschiedene Bedeutungen, die bei sorgfältiger Beachtung des Ausdruckes wohl auseinanderzuhalten sind. Der Begriff einer Größe ist nämlich gleichbedeutend mit dem einer benannten Zahl wie z. B. 13 Meter; 0, 56 Winkeleinheiten im Bogenmaß; 7, 2 Kilogramm usw. Unter einer Zahl schlechthin versteht man dagegen eine unbenannte Zahl. Der Begriff Zahl steht zu dem der Größe in der gleichen Beziehung wie ein Bild zu seinem Original, indem jede Zahl in mannigfach verschiedener Weise als Bild einer Größe angesehen werden kann, z. B. die Zahl 3 als Bild einer Länge von 3 Meter, einer Stromstärke von 3 Ampère, eines Gewichts von 3 Gramm usw. Nun gibt jedes Bild gewisse Eigenschaften seines Originales wieder und andere nicht, und je nach Vollkommenheit der Abbildung sind bald mehr, bald weniger Eigenschaften des Originales auf das Bild übertragen. So gibt z. B. ein Modell eines Gegenstandes eine möglichst getreue Darstellung nicht nur seiner äußeren Erscheinung, sondern auch seiner inneren Beschaffenheit. Dagegen gibt ein Gemälde nur noch den äußeren Eindruck wieder, einschließlich der Farben, eine Fotografie die Letzteren nicht mehr,[417] wohl aber noch die Verteilung 417
Die längst in Gang gebrachte Erfindung der Farbfotografie war offenbar noch nicht zu M AN GOLDT s Kenntnis gelangt. Auch Schlote 2002 verzeichnet erst im Jahr 1911 die Erteilung eines
von Mangoldt
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 von Licht und Schatten, endlich ein Schattenbild oder eine flüchtige Skizze nur noch die Umrisse. Und manche andere Eigenschaften des Originales, wie z. B. die augenblicklichen Temperaturen seiner einzelnen Teile, finden bei keiner dieser Darstellungen Berücksichtigung. Entsprechendes gilt von der Abbildung einer Größe durch eine Zahl. Nur ist diese Abbildung insofern die denkbar Unvollkommenste, als bei ihr von allen Eigenschaften des Originales nur eine Einzige auf das Bild übertragen wird: Die Zahl gibt nur das Größenverhältnis des Originales zu derjenigen Einheit wieder, durch die man sich das Original gemessen denkt. Alle anderen Eigenschaften des Letzteren bleiben außer Acht. Diese Unvollkommenheit der Abbildung hat den Nachteil, dass die Sätze der reinen Arithmetik, wie z. B. drei mal vier ist zwölf, zunächst leere Formen ohne greifbaren Inhalt werden und daher dem ungeschulten Verstande schwer verständlich sind; aber sie hat den großen Vorteil, dass diese leeren Formen durch Einführung von Benennungen mit dem allerverschiedenartigsten Inhalt angefüllt und in die mannigfaltigsten Aussagen über wirklich vorhandene Dinge verwandelt werden können (z. B. drei Gewichte von je vier Gramm können auf einer Waagschale zwölf Gewichte von je ein Gramm ersetzen, usw.). Gerade deswegen sind die Ergebnisse der Arithmetik so vielfacher Anwendungen fähig.“ (von Mangoldt 1911, 1912, Bd. 1, S. 278 f.) Hier hat M ANGOLDT in einfachen Worten und sehr ausführlich dem angehenden Ingenieur den Begriff der Abstraktion erklärt. M ANGOLDT sagt hier, knapp vierzig Jahre nach der Neuerfindung der „irrationalen“ Zahl: „Irrationale“ Zahl ist eine Abstraktion von „Größe“ (der „extensiven“ Größe, wohlgemerkt, also etwa der „Ausdehnung“) – und zwar eine Abstraktion hinsichtlich des „Maßes“. Ist das aber im Jahr 1911 noch wahr? DAS NEUE AM ZAHLBEGRIFF SEIT 1872 S. 196, 228, Wie wir gesehen haben, gibt es den Begriff „irrationale“ Zahl bereits bei E ULER. 231 (Womit nicht gesagt sein soll, E ULER habe ihn erfunden; die Geschichte des Zahl-
begriffs kann hier nicht nebenbei miterledigt werden. Den Namen „irrationale“
S. 100, Anm. Zahl haben wir bereits bei den Rechenmeistern gefunden.) Schon lange vor 1872 75; S. 229 bei Anm. 146 also kannte die Mathematik, die Analysis die „irrationale“ Zahl. Insofern kann
nicht mit Anspruch auf geschichtliche Geltung argumentiert werden, die „irrationale“ Zahl sein an die Stelle der „Größe“ getreten, habe den Begriff „Größe“ abstraPatents für ein Verfahren zur Herstellung von Farbfotografien (S. 654, Sp. 2), zugleich aber den Nobelpreis für Physik 1908 an G ABRIEL L IPPMANN (1845–1921) für die „Interferenzmethode zur fotografischen Wiedergabe der Farben“ (S. 940). Die Britannica 15 1998, Bd. 25, S. 778, Sp. 1 f. hat die erste praxistaugliche Farbfotografie in Frankreich im Jahr 1907 durch die Brüder AU GUSTE L UMIÈRE (1862–1954) und L OUIS L UMIÈRE (1864–1948). Genaueres in Tillmanns 1981, S. 239–255 mit einem Farbfoto aus dem Jahr 1877 (S. 240).
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von Mangoldt
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Standortbestimmung zum Zahlbegriff und Ausblick hiert. Neu ist 1872 nicht der Begriff „irrationale“ Zahl, neu ist 1872 die Weise, in der er konstituiert wird. Spätestens seit S TEVINs De Thiende von 1585/6 ist eine Zahl – in der Form der „Dezimalzahl“ – in manchen Fällen (etwa 31 = 0, 3 . . .) ein „potenzielles“ Unendlich und in dieser Form nur „beliebig genau“ bestimmbar. Seit B OLZANO und C AU CHY zu Beginn des 19. Jahrhunderts den Wertbegriff in die Grundlagen der Analysis eingeführt haben, ist die ‚Beliebig-genaue-Bestimmbarkeit‘ – ein „potenzielles“ (oder: „synkategorematisches“) Unendlich – das theoretische Charakteristikum des Zahlbegriffs geworden. Unter Rückgriff auf diese Eigenschaft der Zahl konnten Existenzsätze wie der Zwischenwertsatz streng bewiesen werden. C ANTOR, H EINE und D EDEKIND haben im Jahr 1872 das Kennzeichen ‚Beliebiggenaue-Bestimmbarkeit‘ des Zahlbegriffs ersetzt durch das Kennzeichen: „vollständige“ Bestimmtheit. (W EIERSTRASS ist an diesem Unternehmen gescheitert.) Dies ist die große Neuerung am Zahlbegriff im ausgehenden 19. Jahrhundert: „Reelle“ Zahl ist jetzt ein Gegenstand, der „vollständig“ bestimmt ist – sofern es sich dabei wirklich um einen „Gegenstand“ handelt; F REGE hat dies mit gewichtigen Argumenten bestritten. Also formulieren wir vorsichtiger: „Reelle“ Zahl ist etwas „vollständig“ Bestimmtes, und lassen wir hier offen, was dieses Etwas sei. (Dass diese Inanspruchnahme des Titels „vollständig bestimmt“ tatsächlich bloß rhetorischer Natur ist und eine wirkliche Unbestimmtheit begrifflich kaschiert, haben wir bereits bemerkt.) Das mächtige Konstruktionsmittel, das C ANTOR/H EINE bzw. D EDEKIND hierbei eingesetzt haben, ist das „aktuale“ Unendlich. Erst durch die Eingliederung des „aktualen“ Unendlich in die mathematisch akzeptierten Begriffe gelingt es, die „reellen“ Zahlen als „wohlbestimmte“ Gegenstände begrifflich zu fassen. SIND DIE Ω-ZAHLEN DIE MODERNEN INKOMMENSURABLEN? Ab S. 519 haben wir die Erfindung der Ω-Zahlen durch S CHMIEDEN und L AUGWITZ im Jahr 1958 behandelt. Eine der Besonderheiten dieses Zahlbegriffs ist es, dass er auch unbequeme Objekte enthält: Von der Ω-Zahl (−1)Ω etwa kann nicht gesagt werden, dass sie < 0 oder > 0 sei. In diesem Sinne ist die Ω-Zahl (−1)Ω nicht (mit reellen oder rationalen Zahlen) „messbar“. Fast könnte man hier eine gewisse Analogie zu der antiken Situation sehen: Im −6./−5. Jahrhundert ging es um die Erfindung des „Inkommensurablen“, also eines Verhältnisses gerader „Strecken“, das nicht mit Hilfe natürlicher Zahlen bestimmbar ist.418 (Die jeweils ergriffenen Gegenmaßnahmen sind unterschiedlich: Das antike Problem wurde wohl von E UDOXOS in einer Weise gelöst, die in Buch V von E UKLIDs 418
Übrigens hat auch C ANTOR seine „transfiniten“ (d. h.: „aktual“ unendlichen) Zahlen „neue Irrationalitäten“ genannt (Cantor 1887/88, S. 395).
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S. 5
S. 296, 305 S. 477 S. 434
S. 471 ff., 501 f.
S. 537
6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 „Elementen“ wiedergegeben ist. Das durch die Nichtstandard-Analysis aufgeworfene Problem wird durch eine algebraische Begriffsbildung namens „Ultrafilter“ zu zähmen versucht: Die Einbeziehung eines solchen „Ultrafilters“ als Konstruktionsmittel garantiert, dass eine der beiden Relationen (−1)Ω < 0 oder (−1)Ω > 0 zwingend wahr wird und die andere falsch – freilich bleibt bei dieser „Lösung“ offen, welche dieser Alternativen tatsächlich zutrifft.419 ) DAS VERSCHWINDEN DER „UNENDLICH KLEINEN“ GRÖSSEN AUS DER ANALYSIS Diese neuen Gegenstände (sofern es „Gegenstände“ sind) haben auch neue Eigenschaften: Das Rechnen mit und das Anordnen von je zweien solchen „irrationalen“ Zahlen verlangt nicht mehr nur einen einzelnen Rechen- oder Ordnungsakt, sondern jeweils unendlich viele: einen Akt für jedes ihrer unendlich vielen Glieder. Diese neuen Gegenstände – jedenfalls in der Form, die ihnen C ANTOR und H EINE gegeben haben – verlangen nach einer neuen Art von „gleich“: Zwei solche „irrationale“ Zahlen („Fundamentalfolgen“) können auch dann „gleich“ sein, wenn sämtliche ihrer Bestandteile (Glieder) ungleich sind! Zwei „Fundamentalfolgen“ sind genau dann „gleich“, wenn ihre Differenz eine „Nullfolge“ ist – in der althergebrachten Sprache (die freilich ab sofort nicht mehr gesprochen wird): wenn sie sich um eine „unendlich kleine Größe unterscheiden“. Auf diese Weise bringen C ANTOR und H EINE das unendlich Kleine zum Verschwinden aus der Analysis: Sie definieren es als Null. Man könnte auf E ULER zeigen: „Eine unendlich kleine Größe aber ist nichts anS. 235 deres als eine verschwindende Größe, und folglich in der Tat = 0.“ Doch wäre es offenkundiger Unsinn, wollte man sagen: Genau das, was C ANTOR und H EINE formuliert haben, hat E ULER gedacht. E ULER dachte nicht einmal an „RationalzahS. 227, 224 len“ (sondern an „Brüche“ wie auch an „negative“ Zahlen), geschweige denn an aus ihnen gebildete „Folgen“ (noch nicht einmal C ANTOR gelang es, diesen Begriff ab S. 245 „Folge“ zu bilden) – und schon gar nicht an diese Art der „Konvergenz“, wie sie 252 ↔ 459 C ANTOR und H EINE hier zugrunde legen! Festzuhalten ist jedenfalls: Das Verschwinden der „unendlich kleinen“ Größen verdankt sich nicht irgendeiner ominösen „Strenge“, derer sich die Analytiker des ausgehenden 19. Jahrhunderts plötzlich befleißigt hätten – etwa der große W EIER STRASS . Vielmehr ist das Verschwinden der „unendlich kleinen“ Größen die unausweichliche sachlogische Folge zweier Entwicklungen: (i) der Konstituierung des Begriffs „reelle“ Zahl als einem angeblich „vollständig bestimmten“ Gegenstand; (ii) der Definition der Repräsentanten der „reellen“ Zahl als rationalen „Folgen“, 419
Beispielsweise Laugwitz 1986, S. 102 diskutiert diesen Sachverhalt. – Das dort definierte U ist jedoch nicht, wie behauptet, ein „Ultrafilter“ (denn U enthält weder die Menge der geraden Zahlen noch deren Komplement), sondern nur ein so genannter „freier“ Filter, der einen Ultrafilter erzeugt. – Im Übrigen zeigt jene gesamte Passage das Versteckspiel, das der Autor in diesem Buch mit der Leserschaft treibt: Entgegen der Suggestion der Bezeichnung ist „Ω K “ kein Körper (siehe dort S. 101)!
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Standortbestimmung zum Zahlbegriff und Ausblick bei denen es auf „unendlich kleine“ Unterschiede nicht ankommt. In der Konstruktion von C ANTOR und H EINE ist es klar sichtbar: Sämtliche „unendlich klei- S. 460, 466 nen“ Veränderlichen, wie sie die Tradition seit L EIBNIZ (mit den mutmaßlichen Ausnahmen E ULER und J OHANN B ERNOULLI) verstanden hat, werden – als „Folgen“; und genau so haben die Früheren ihre „Veränderlichen“ gedacht! – mit der Zahl 0 identifiziert. Seit Langem420 gängig ist das Urteil, die Analysis habe ausgangs des 19. Jahrhunderts eine „endgültige Transformation“ in eine „rigorose mathematische Theorie“u erfahren. Diese Formulierung stammt aus der jüngsten deutschsprachigen Darstellung der Geschichte der Analysis.421 Sie beruht nicht auf einem Verständnis der tatsächlichen Entwicklung der Analysis. Diese tatsächliche Entwicklung ist eine der Änderung der Grundbegriffe: Es wird ein neuer mathematischer Gegenstand geschaffen („reelle“ Zahl), und indem dieser zu einem Grundbegriff der Theoriebildung genommen wird, wird selbstverständlich diese Theorie eine Neue. (Ganz abgesehen davon, dass W EIERSTRASS, wie wir gelesen haben, diese Neugestaltung S. 415–435 der Analysis nicht bewirkt hat.) DIE ABDANKUNG DES BEGRIFFLICHEN DENKENS Anders als C ANTOR und H EINE konstruiert D EDEKIND: nichts. D EDEKIND spricht nur vom Konstruieren („erschaffen wir“), doch er tut es nicht: Er sagt nicht, was seine „irrationale“ Zahl sei. Wir, die wir heute D EDEKIND lesen, sind verleitet, zu denken, er „erschaffe“ die „irrationale“ Zahl als „Menge“, genauer: als „Paarmenge“ („Schnitt“). Und auch RUSSELL versteht D EDEKIND offenkundig so (und vereinfacht ihn, indem er aus D EDEKINDs „Schnitt“ ein „Segment“ macht). Aber D EDEKIND selbst sagt das nicht. Ohne Zweifel hätte er es sagen können – nichts hinderte ihn, die sprachlichen wie die logischen Mittel standen ihm zu Gebote. Deshalb müssen wir bei dem Faktum bleiben: D EDEKIND sagt nicht, was seine „irrationalen“ Zahlen sind. Vielleicht, weil er axiomatisch (‚relational‘) denkt, nicht begrifflich (‚substanzial‘). u
420
Sonar 2011, S. 521 Nehmen wir das Urteil eines Ausländers. B ERTRAND RUSSELL schreibt im Jahr 1901: „Aber schließlich entdeckte W EIERSTRASS, dass das unendlich Kleine gar nicht nötig sei und dass alles ohne es ginge.“ (Russell 1952b, S. 84)
Dabei ging es RUSSELL um ein „aktual“ unendlich Kleines – von dem wir wissen, dass allenfalls J OHANN B ERNOULLI und E ULER (sowie in einem seinerzeit unpublizierten Manuskript B OLZA NO ) damit rechneten. (Für R USSELL war es ganz selbstverständlich, „aktual“ Unendliches zu bilden.) 421 Diese Erwähnung mag undankbar erscheinen – ist doch Sonar 2011 ein Buch, in dem der Name S PALT tatsächlich gelegentlich und in freundlicher Weise vorkommt, was alles andere als üblich ist. Aber es kann hier nicht um persönliche Neigungen gehen (auch wenn dies im Fach Mathematikgeschichte seit Jahrzehnten in unerträglichem Ausmaß – in Deutschland – selbstverständlich ist), sondern die Sache muss im Mittelpunkt stehen.
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S. 490
S. 506
S. 497, Punkt 6
6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872
S. 568 f.
H ILBERT sagt es auch nicht. Allerdings rechtfertigt H ILBERT dieses Nichtsagen. H ILBERT zufolge ist es gar nicht wichtig, was eine „reelle“ Zahl sei. Für H ILBERT kann alles „reelle“ Zahl sein – solange es nur die richtigen Eigenschaften hat, und diese richtigen Eigenschaften (Beziehungen) werden durch seine 18 „Axiome“ formuliert. Also: Nicht mehr die Eigenschaften des Objektes sind, H ILBERT zufolge, wichtig, sondern allein die Eigenschaften des Systems. H ILBERTs Interesse gilt nicht dem mathematischen Objekt, sondern den Beziehungen des Systems (der „Menge“) dieser Objekte. Ein gewaltiger Schritt! Er verdient ohne Zweifel eine nähere Betrachtung. Sie sei wenigstens kurz angesprochen. WILLKÜRLICHES DENKEN
Vierzehn Monate vor dem Ende jenes Großereignisses, das den Zusammenbruch der „abendländischen Kultur“ markiert, am 11. September 1917, hält H ILBERT in Zürich einen Vortrag, dessen Text unter dem Titel „Axiomatisches Denken“ erscheint. Im Jahr 1935 nimmt H ILBERT diesen Text in den dritten und letzten Band seiner Gesammelten Abhandlungen auf. In dieser kurzen Abhandlung bezeichnet H ILBERT die axiomatische Methode als „allgemeine Forschungsmethode“v der Mathematik. Und er wiederholt dort den S. 498 bei höchst aufschlussreichen Topos vom „Fachwerk der Begriffe“, den er bereits 1899 Anm. k im Brief an F REGE verwendet hat: „Wenn wir die Tatsachen eines bestimmten mehr oder minder umfassenden Wissensgebietes zusammenstellen, so bemerken wir bald, dass diese Tatsachen einer Ordnung fähig sind. Diese Ordnung erfolgt jedesmal mit Hilfe eines gewissen Fachwerkes von Begriffen in der Weise, dass dem einzelnen Gegenstande des Wissensgebietes ein Begriff dieses Fachwerkes und jeder Tatsache innerhalb des Wissensgebietes eine logische Beziehung zwischen den Begriffen entspricht. Das Fachwerk der Begriffe ist nichts Anderes als die Theorie des Wissensgebietes.“ (Hilbert 1917, S. 146)
S. 498
H ILBERT dürfte hier D EDEKIND beerben – es sei an dessen Formulierung vom „Drehen und Wenden der Definitionen, den aufgefundenen [. . . ] Wahrheiten zuliebe“ erinnert. H ILBERT zufolge ist Wissenschaft eine Theorie logischer Beziehungen. Diese logischen Beziehungen konstituieren ein „Fachwerk“, und dieses „Fachwerk“ „ordnet“ die „Tatsachen“ der Wissenschaft. Im „Fachwerk“ spielen die Tatsachen selbst keine Rolle, sondern nur ihre „logischen“ Beziehungen. Die logischen, wohlgemerkt, nicht die wirklichen. Das H IL BERT ’sche „Fachwerk von Begriffen“ sieht von den wirklichen Tatsachen und ihren wirklichen Eigenschaften ab und „ordnet“ diese Tatsachen allein nach ihren „logischen“ Eigenschaften. v
Hilbert 1917, S. 146, Z. 14 f.
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Standortbestimmung zum Zahlbegriff und Ausblick Ist der logische Charakter der „Eigenschaften“ der „Tatsachen“ das für die Wissenschaft allein Ausschlaggebende? Jedenfalls die von der Mathematik unterschiedenen Wissenschaften dürften dies völlig anders sehen. (Hier ist nicht der Ort, diese Fragen zu vertiefen.) In seiner Abhandlung beschreibt H ILBERT die axiomatische Methode so: Zunächst lege sie „einige wenige ausgezeichnete Sätze des Wissensgebietes zugrunde“w , aus denen „nach logischen Prinzipien das ganze Fachwerk aufzubauen“ ˜ sei. Grundlegend sind also „Sätze“. Durch den „weiteren logischen Ausbau des w schon aufgeführten Fachwerkes der Begriffe“ mittels einer „kritischen Prüfung“ der „»Beweise«“x gelangt man zu einer „Tieferlegung der Fundamente der einzelnen Wissensgebiete“x . Also: Das, worum es in der Mathematik zweieinhalb Jahrtausende lang ging, die „Begriffe“ (die „Gegenstände“ der Mathematik sind traditionell Begriffe), die einzelnen Bestandteile der mathematischen Konstruktion, das wird abserviert und zählt nicht mehr. An dessen Stelle treten „Sätze“. Diese Sätze müssen nicht „wahr“ sein (sie können es gar nicht: woher sollte ihre „Wahrheit“ rühren?), sondern sie müssen geeignet sein, „nach logischen Prinzipien das ganze Fachwerk aufzubauen“. Nach H ILBERT geht es jetzt um Rationalität und nicht mehr um Wahrheit. (Daraus entstehen ein paar Probleme mit der Logik – auch das kann hier nicht vertieft werden.) Der Hohepriester D AVID H ILBERT endet seinen Vortrag 1917 mit einem expliziten Glaubensbekenntnis: „Ich glaube: Alles, was Gegenstand des wissenschaftlichen Denkens überhaupt sein kann, verfällt, sobald es zur Bildung einer Theorie reif ist, der axiomatischen Methode und damit mittelbar der Mathematik. Durch Vordringen zu immer tiefer liegenden Schichten von Axiomen im vorhin dargelegten Sinne gewinnen wir auch in das Wesen des wissenschaftlichen Denkens selbst immer tiefere Einblicke und werden uns der Einheit unseres Wissens immer mehr bewusst. In dem Zeichen der axiomatischen Methode erscheint die Mathematik berufen zu einer führenden Rolle in der Wissenschaft überhaupt.“ (Hilbert 1917, S. 156) Damit formuliert H ILBERT einen grundsätzlichen Führungsanspruch für die Mathematik – und zwar für jene Mathematik, die das „Fachwerk der Begriffe“ für das jeweilige Wissensgebiet bereitstellt: für die (RUSSELL hat es gern betont) ‚relatio- S. 90 nale‘ Mathematik, jene Mathematik also, die sich von konkreten Gegenständen („Substanzen“) als ihrer Grundlage verabschiedet hat. Mit dem „Fachwerk der Begriffe“ hat H ILBERT für die Mathematik das benannt, was H EIDEGGER später (seit H EGEL wissen wir: die Philosophen kommen eher zu spät) philosophisch das „Gestell“y nennen wird: die industrielle Produktion. Mit w
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6. Konsolidierung (1) – Die Erfindung der reellen Zahlen im Jahr 1872 zutreffender Begrifflichkkeit benennt H ILBERT im Jahr 1917 öffentlich die gerade stattfindende Zeitenwende: den Untergang der Kultur (in der bekannten Formulierung S PENGLERs: „des Abendlands“) und den Aufgang der Technik. Diese neue Zeit verlangt nach H ILBERT eine neue Mathematik: „axiomatisches Denken“. Wobei – wir erinnern uns – „Axiom“ nichts anderes heißen soll als „Definition“. „Axiom“ ist nur ein beschönigender Titel für: willkürliche422 Setzung. DIE NEUGRÜNDUNG DER MATHEMATIK
ab S. 122
H ILBERTs Programm ist nichts weniger als eine revolutionäre Umgestaltung der Mathematik. Dieser Akt ist weit tiefgehender als etwa jener L EIBNIZ’sche Befreiungsschlag, als dieser jene Fesseln sprengte, die D ESCARTES der Mathematik auferlegt hatte, indem L EIBNIZ die von D ESCARTES als „mechanisch“ bezeichneten und aus der Mathematik ausgeschlossenen Kurven in „Transzendente“ umtaufte und für die Mathematik vereinnahmte. H ILBERTs radikale Diskreditierung des ‚substanzialen‘ Denkens ist der Todesstoß für jene Mathematik, die seit ihrer Erfindung bei den frühen griechischen Philosophen etwa zweieinhalb Jahrtausende lang betrieben wurde.423 Nicht mehr um Sachverhalte soll es der nach-H ILBERT’schen Mathematik gehen, sondern um Verfahrensweisen, um die „Strenge beim logischen Schließen und beim logischen Aufbau der Theorie“. Der neue Gegenstand der Mathematik ist die Verfahrenssicherung. Damit ist die Mathematik reif für die Mitwirkung an den neuartigen gesellschaftlichen Aufgaben: als Universalinstrument zur „gestaltenden, formenden Produktion der Dinge“z , nicht zuletzt auch in der Form der Organisation industrieller Techniken. Und zwar Techniken beliebiger Art, auch solcher zum Weh des Menschen. Denn im ‚relationalen‘ Denken der nach-H ILBERT’schen Mathematik ist ausdrücklich kein Platz mehr für Inhalte. B ERTRAND RUSSELL hat das (übrigens bereits im Jahr 1901) in ein heute populäres Wort gefasst: Man könnte „Mathematik als den Gegenstand definieren, bei dem wir niemals wissen, worüber wir reden, noch ob das, was wir sagen, wahr sei.“ (Russell 1952b, S. 77424 ) Schelmisch auf einen größeren Personenkreis als explizit angesprochen zielend fügte RUSSELL hinzu: „Leute, die sich über die Anfangsgründe der Mathematik den Kopf zerbrochen haben, werden hoffentlich Trost in dieser Definition finden und sie wahrscheinlich billigen.“ (Russell 1952b, S. 77) z
Givsan 2011, S. 34, verbunden mit dem Hinweis auf K ANT, der „das transzendentale Vorbild geliefert [hat]. Deshalb spreche ich bei K ANT von der transzendentalen Industrie. Die naturwissenschaftliche Grundlagenforschung ist aber die reelle Industrie.“
422
Es sei nochmals an D EDEKINDs Formulierung von S. 497 erinnert. Dazu auch Breger 1992, S. 253. 424 Im Original: 423
„Thus mathematics may be defined as the subject in which we never know what we are talking about, nor wether what we are saying is true.“ (Russell 1901, S. 4)
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Russell
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Kapitel 7: Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff
R IEMANN hat den Begriff „Funktion“ seines überkommenen Inhalts als eine „veränderliche“ „Größe“ beraubt und „Größe“ wohl nur als bloßen Namen behalten. S. 375 W EIERSTRASS hat diese Vorgehensweise fast sein gesamtes Leben lang bekämpft (bis 1884), um in seiner letzten Vorlesung zur Funktionenlehre seinen Widerstand aufzugeben (denn jetzt kann W EIERSTRASS aus der „Stetigkeit“ – in einem Intervall – einer nach R IEMANN als reine ‚Wert-zu-Wert‘-Zuweisung gegebenen „Funktion“ ihre „Darstellbarkeit“ als eine Potenzreihe beweisen). Wie haben sich andere S. 409 Mathematiker des späteren 19. Jahrhunderts entschieden? Sehen wir zuerst bei jenen Autoren nach, die sich erfolgreich am neuen Begriff „reelle“ Zahl bewährt haben! Dabei werde ich bei D EDEKIND nicht fündig. (Eine mögliche Erklärung dafür habe ich in Punkt 6 auf S. 497 gegeben.) Doch H EINE hat sich genaue Gedanken um den Funktionsbegriff und dessen Zusammenpassen mit seinem neuen Zahlbegriff gemacht. HEINE: FUNKTIONENLEHRE ÜBER DEM NEUEN ZAHLBEGRIFF An seine Konstruktion des Begriffs „reelle“ Zahl schließt H EINE eine erste Behandlung des Themas an, das der Titel seiner Abhandlung nennt: „Die Elemente der Functionenlehre“. Dazu definiert er zuerst:
„Definition. Einwertige Funktion einer Veränderlichen x heißt ein Ausdruck, der für jeden einzelnen rationalen oder irrationalen Wert von x eindeutig definiert ist.“ (Heine 1872, S. 180) Hier wird „Funktion“ so gefasst wie schon bei E ULER: als „Rechenausdruck“. Das S. 199 aber ist keineswegs H EINEs letztes Wort zum Funktionsbegriff, denn später in dieser Abhandlung schreibt er: „Eine Funktion ist nur ein Aggregat von einzelnen Werten; ein Zusammenhang zwischen denselben, sodass ein Wert sich aus den Werten in der Umgebung ergibt, wird erst durch die Kontinuität hergestellt.“ (Heine 1872, S. 182)
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7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff Meint H EINE damit den R IEMANN’schen Funktionsbegriff? – Der entscheidende Punkt beim Funktionsbegriff ist, wie wir wissen, der Begriff „Funktionswert“. Das ist H EINE bewusst: „Erläuterung. Der Wert der Funktion für einen irrationalen Wert der Veränderlichen darf also nicht so definiert sein, dass er von der speziellen Zahlenreihe abhängt, durch die gerade jener irrationale Wert gegeben wird, er muss vielmehr derselbe bleiben, welches von den gleichen Zahlzeichen auch zur Feststellung des irrationalen Wertes x gewählt war.“ (Heine 1872, S. 180) Hier müssen wir sorgfältig zwei Ebenen auseinanderhalten: i. die Definition der „allgemeineren“ Zahl und ii. die Definition des Begriffs „Funktionswert“. S. 466
S. 309
Beide Ebenen sind voneinander unabhängig. H EINEs Begriff der „allgemeineren Zahl“ (i.) (bzw. seine Definition der Gleichheit zweier solcher Zahlen) verlangt das, was er oben „Erläuterung“ nennt. Davon unabhängig jedoch ist die Definition des Begriffs „Funktionswert“ (ii.). Auch unter Anerkennung von H EINEs Forderung für die „Zahlen“ (Ebene i.) ist es möglich, den Funktionswert (Ebene ii.) anders zu definieren – etwa als die Gesamtheit der „Funktionenlimites“, wie es C AUCHY getan hat. Die (natürlich zwingend erforderliche) eindeutige Bestimmheit der „Zahl“ (Ebene i.) zieht keineswegs notwendigerweise die eindeutige Bestimmheit des Funktionswerts (Ebene ii.) nach sich. EINE ERSTE KONSEQUENZ FÜR DIE FUNKTIONENLEHRE ÜBER DEM NEUEN ZAHLBEGRIFF Nach den von H EINE zugrunde gelegten Prinzipien gilt der425
„Lehrsatz. Eine kontinuierliche Funktion f (x) ist für jedes x {d. h. für jeden Wert von x} bekannt, wenn sie für jeden rationalen Wert dieser Veränderlichen gegeben ist.
Beweis. Es sei X eine irrationale, durch die Reihe x 1 , x 2 , x 3 , etc. gegebene Größe; ferner mögen y 1 , y 2 , y 3 , etc. rationale Zahlen vorstellen, die sich von x 1 , x 2 , x 3 , etc. um weniger als 1, 12 , 13 , etc. unterscheiden. Da die x von den gleichnamigen y nur um Glieder einer Elementarreihe verschieden sind, so ist auch {. . . } X gleich [y 1 , y 2 , etc.], also {. . . } £ ¤ f (X ) = f (y 1 ), f (y 2 ), . . . , folglich bekannt.“ (Heine 1872, S. 183 f.) 425
Da H EINE eckige Klammern als syntaktische Zeichen verwendet, kennzeichne ich bei seinen Texten meine Ergänzungen oder Auslassungen durch geschweifte Klammern.
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Heine: Funktionenlehre über dem neuen Zahlbegriff H EINE zeigt: Die Forderung der „Stetigkeit“ an eine „Funktion“ bedeutet eine drastische Einschränkung ihrer ‚Wert-zu-Wert‘-Bestimmung: Damit ist diese Bestimmung keineswegs mehr ganz beliebig. (Diese Tatsache ist es, die W EIERSTRASS letztlich zur Aufgabe seines Beharrens auf einem ‚substanzialen‘ Funktionsbegriff S. 409 bewog.) In C AUCHYs Denken gibt es die Begriffsbildung der „rationalen“ Zahlen als einer „Veränderlichen“ nicht. C AUCHY kennt, ganz traditionell, nur „diskrete“ und „kontinuierliche“ („stetige“) unabhängig Veränderliche. Letztere sind dadurch gekennzeichnet, dass sie gegen die Bildung von „Grenzen“, wie wir heute sagen: „abgeschlossen“ sind. Die „rationa- S. 304 len“ Zahlen aber sind das genaue Gegenteil davon.
EINE ZWEITE KONSEQUENZ Zum Glück gibt es mit den elementaren Funktionen kein Problem. Die Stetigkeit der Multiplikation (wenn wir die „Multiplikation“ als eine „Funktion“ zweier Veränderlicher auffassen) hat die Stetigkeit der ganzzahligen Potenzen zur Folge. Somit können ganzzahlige Potenzen mittels ihrer rationalen Argumente definiert werden, und dann kann die Potenz von diesen Werten stetig auf die Werte für irrationale Argumente erweitert werden.426 Anders gesagt: Die ganzzahlige Potenz ist eine in H EINEs Aufbau zulässige Funktion.a Daraus ergibt sich die Zulässigkeit (bzw. Existenz) der Polynome als „Funktionen“, und daraus wiederum (im Falle ihrer Konvergenz) die Zulässigkeit (bzw. Existenz) der Potenzreihen als „Funktionen“. Damit lässt sich die Existenz der trigonometrischen Funktionen für H EINEs Funktionenlehre sichern – in seinen Worten:
„Lehrsatz. Es sind sin x und cos x Funktionen von x. Beweis der ersten Behauptung. Als Erklärung von sin x gilt die bekannte Potenzreihe, was man so fassen muss, dass sin x das Zeichen ist, welches der Zahlenreihe x,
x−
x3 , 6
x−
x3 x5 + , 6 120
etc.
angehört. Jedes Glied, wie weit man auch geht, ist eine ganze Funktion von x, hat also unabhängig von der Entstehung von x, einen völlig bestimmten Wert. Sind die Glieder der Zahlenreihe vollständig bestimmt, so ist es auch das zu ihr gehörende Zeichen, nämlich sin x.“ (Heine 1872, S. 181) Zu diesem Beweis betont H EINE: a 426
Heine 1872, S. 181 So war auch schon C AUCHY verfahren, siehe die in Punkt c auf S. 312 angesprochenen Sachverhalte.
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7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff „Es sollte hier kein Mittel gegeben werden, sin x für einen irrationalen Wert von x, etwa durch Annäherung, zu berechnen, indem man Näherungswerte sin x 1 , sin x 2 etc. bildet, wo x 1 , x 2 , etc. Glieder der Zahlenreihe für den irrationalen Wert vorstellen. Bisher wurde noch nicht einmal untersucht, ob der Sinus dieses Wertes mit sin x 1 , sin x 2 etc. zusammenhängt. {. . . } Wie eine irrationale Zahl eine völlig bestimmte Bedeutung besitzt, so kommt auch dem Sinus jeder Zahl eine solche zu, – nur dies ist bisher bewiesen. Es hat also einen Sinn, wenn man von der Summe einer F OURIER’schen Reihe, in welche man eine endliche Funktion entwickelt hat, auch an den Sprungstellen handelt. Der Einwand, dass ein Wert doch existiere, wenn die Abszisse, durch π geteilt, eine irrationale Zahl ist, konnte nur so lange als berechtigt gelten, als man den Irrationalitäten nicht eine selbstständige Existenz beilegte. (Durch die numerische Berechnung der Summe wird man sich übrigens bei Berücksichtigung einer geringeren Anzahl n von Gliedern dem Mittelwerte, bei einer beliebig großen dem Werte vor oder nach dem Sprunge nähern. Die Annäherung an den Mittelwert kann man durch ein größeres n nur dann vergrößern, wenn man für die kritische irrationale Abszisse einen solchen rationalen Wert gesetzt hat, der dem wahren Werte derselben hinlänglich nahe kommt.)“ (Heine 1872, S. 181 f.) Die H EINE’sche Funktionenlehre erzeugt also neue Perspektiven. H EINE muss sich der Frage stellen: Wenn ξ eine „irrationale“ Zahl ist, wie wird dann η = sin ξ „vorgestellt“? Explizieren wir diese Frage! Wenn x ein „rationaler“ Wert ist, dann ist die Folge ! Ã 2k−1 n X x (−1)k−1 (2k − 1)! k=1 n∈N
‚konvergentBz‘ , d. h. es existiert die „allgemeinere“ Zahl "Ã ! # 2k−1 n X k−1 x sin x = (−1) (2k − 1)! k=1 n∈N
Betrachte nun sin ξ = η. Im Allgemeinen wird ξ eine „irrationale“ Zahl sein, also £ ¤ ξ = (x i )i ∈N ,
x i rational.
Nun existiert für jedes Glied x i dieser Folge der Wert "Ã sin x i =
n X k=1
(−1)
k−1
x i2k−1 (2k − 1)!
!
# .
n∈N
Freilich werden die so bestimmten „allgemeineren“ Zahlen sin x i im Allgemeinen
584
Heine
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Heine: Funktionenlehre über dem neuen Zahlbegriff nicht „rational“ sein. Dann aber kann diese „allgemeinere“ Zahl sin x i durch eine ‚konvergenteBz‘ Folge „rationaler“ Zahlen (x (ij ) ) j ∈N bestimmt werden: ·³
´
¸
·³
´
x (ij ) j ∈N
,
sodass gilt sin x i =
x (ij ) j ∈N
¸ .
(7.1)
Die Frage lautet jetzt: Wie erhält man zu der nach 7.1 gebildeten Folge (sin x i )i ∈N aus den rationalen Folgen (x (ij ) ) j ∈N die „allgemeinere“ Zahl sin ξ? Nahe liegt die Vermutung: durch die Bildung der Diagonalfolge h³ ´ i sin ξ = x i(i ) , n∈N
doch H EINE äußert sich dazu nicht. DER ZWISCHENWERTSATZ Den Zwischenwertsatz (in der Form des Nullstellensatzes) beweist H EINE ganz ausführlich. Das benötigt eineindrittel große Druckseiten. Warnend schreibt er zuvor: „Es schien zweckmäßig, selbst auf Kosten der Kürze, beim Beweise geometrische Anschauung auszuschließen.“ (Heine 1872, S. 185, Anmerkung) Nach unserer Erörterung von B OLZANOs Beweis des Zwischenwertsatzes ist uns S. 296 klar, wie H EINEs Beweis funktionieren wird: H EINE wird die Nullstelle durch „rationale“ Näherungen eingrenzen – und eine solche Näherung ist dann (weil sie eine ‚konvergenteBz‘ Folge ist) die gesuchte Nullstelle. Auch wenn der Beweis technisch nicht ganz einfach ist, so ist sein begrifflicher Aspekt jetzt, mit dem neuen Zahlbegriff, trivial. DIE GLEICHMÄSSIGE STETIGKEIT Ergänzen wir noch beiläufig, dass in dieser Abhandlung H EINE als Erster den Namen „gleichmäßige“ Stetigkeit vergibt: „Definition. Eine Funktion f (x) heißt kontinuierlich von x = a bis x = b, wenn sie bei jedem einzelnen Werte x = X zwischen x = a und x = b, mit Einschluss der Werte a und b, kontinuierlich ist; sie heißt gleichmäßig kontinuierlich von x = a bis x = b, wenn für jede noch so kleine gegebene Größe ε eine solche positive Größe η 0 existiert, dass für alle positiven Werte η, die kleiner als η 0 sind, f (x ±η)− f (x) unter ε bleibt. Welchen Wert man auch x geben möge, nur vorausgesetzt, dass
Heine
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7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff x und x ±η dem Gebiete von a bis b angehören, muss d a s s e l b e η 0 das Geforderte leisten.“ (Heine 1872, S. 184)
S. 370 bei Anm. k
Die Sache hatten bereits (unpubliziert) B OLZANO427 und (in der Vorlesung vorgetragen) D IRICHLET. NACH RIEMANN LANGE NICHTS NEUES DER GEGENSATZ ZWISCHEN WEIERSTRASS’ UND RIEMANNS FUNKTIONSBEGRIFF
S. 370 S. 372
ab S. 403
S. 409 S. 409
R IEMANN hat den Begriff der Funktion revolutioniert. Für ihn ist eine „Funktion“ schon und immer dann bestimmt, wenn „jedem Wert von x ein einziger Wert von y entspricht“. Dabei sollen „x“ und „y“ „Größen“ sein – jedoch ohne dass R IEMANN diesen Begriff „Größe“ irgendwo näher bestimmt. Damit ist der Sache nach „Funktion“ durch R IEMANN allein als eindeutige ‚Wert-zu-Wert‘-Bestimmung definiert; die begleitende Rede von „Größe“ ist nur schmückende Prosa ohne sachlichen Gehalt. Aus diesem Grund hat W EIERSTRASS die R IEMANN’sche Bestimmung von „Funktion“ hartnäckig und ausdauernd bekämpft. Denn ein solches Objekt hat (eben: qua Definition – eine ‚relationale‘ Definition!) keinerlei weiteren mathematischen Eigenschaften. Damit ist ein solches Objekt mathematisch vollkommen uninteressant – wenn man unter „Mathematik treiben“ eben das versteht, was man schon immer – genauer: bis D EDEKIND und H ILBERT – darunter verstanden hatte: gegebene Objekte auf ihre (mathematischen) Eigenschaften hin zu erforschen. Untersuchungen solcher Art lassen sich mit einer allein nach R IEMANNs Bedingungen angegebenen „Funktion“, also an einer bloßen ‚Wert-zu-Wert‘-Bestimmung, nicht anstellen. Deswegen beharrte W EIERSTRASS so hartnäckig auf einem ‚substanzialen‘ Funktionsbegriff: Er wollte „Funktionen“ als mathematische Gegenstände mit interessanten Eigenschaften konstituieren, die der Forscher ergründen kann. Allerdings: Nachdem W EIERSTRASS im Jahr 1885 seinen Approximationssatz formuliert und bewiesen hatte, änderte er seine Position. Denn nun konnte er beweisen, dass eine im Sinne R IEMANNs gegebene eindeutige ‚Wert-zu-Wert‘-Bestimmung, wenn sie denn nur „stetig“ ist, als „konvergente“ Potenzreihe „darstellbar“ ist – und das heißt: in einer mathematisch substanziellen Weise. Denn eine konvergente Potenzreihe ist ein ordentliches mathematisches Objekt, das interessante Untersuchungen zulässt. Beispielsweise kann man erforschen, unter welchen Bedingungen eine solche konvergente Potenzreihe eine „Ableitung“ besitzt. Auf diese Weise hat W EIERSTRASS ab 1886 die „stetige“ Funktion als maßgeblichen Grundbegriff der Analysis vorgeschlagen. 427
Vgl. Bolzano 1930, I. § 13 = Bolzano 2000, f. 16v ; C AUCHY hatte diese Sache übrigens nicht – und konnte sie nicht haben: denn sie lässt sich nur ‚epsilontisch‘ fassen, nicht aber in der von C AU CHY verwendeten ‚Grenzwertsprache‘ – siehe S. 382.
586
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Nach Riemann lange nichts Neues War dieser W EIERSTRASS’sche Vorschlag im Jahr 1886 dem Entwicklungsstand der Mathematik angemessen? Waren im Jahr 1886 „unstetige“ Funktionen für die Analysis total uninteressant? Aus W EIERSTRASS’ Sicht dürfte die Antwort auf die eben gestellte Frage vielleicht „Ja!“ gelautet haben. Denn immerhin hatte W EIERSTRASS bewiesen, dass auch eine „stetige“ Funktion total unerwartete Eigenschaften haben kann – so kann es etwa sein, dass sie für keinen einzigen ihrer Werte „differenzierbar“ ist. (Freilich bleibt S. 413 es bei dieser Betrachtungsweise unberücksichtigt, dass W EIERSTRASS’ ‚kapriziöse‘ Funktion gerade keine Potenzreihe ist, sondern eine trigonometrische Reihe, und dies ist eine substanzielle Kritik an der eben formulierten Position.) F OURIER hatte zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Methode angegeben, um S. 364 „beliebige“, insbesondere auch: (für einzelne „Werte“) „unstetige“ „Funktionen“ als „konvergente“ trigonometrische Reihen darzustellen. Dies bedeutete gleich zwei Neuerungen: Zum einen gewannen damit die trigonometrischen Reihen an Aufmerksamkeit (während zuvor die Potenzreihen das Feld der Interessen beherrschten). Zum anderen wurden damit (zunächst: für einzelne „Werte“) „unstetige“ „Funktionen“ für mathematische Untersuchungen zugänglich und interessant. Beide Neuerungen fanden Beachtung und wurden erforscht: (i) R IEMANN zeigte mit seiner kapriziösen Funktion, dass „unstetige“ Funktio- S. 373 nen auch dann integrierbar sind, wenn sie nicht nur an vereinzelten „Werten“ „unstetig“ sind: vielmehr dürfen sie in einem endlichen Intervall sogar unendlich viele solcher Unstetigkeitswerte haben – vorausgesetzt, die Funktionswerte verhalten sich an diesen Unstetigkeitswerten nicht gar zu ungesittet. Man muss dazu freilich den durch C AUCHY konstituierten Integralbegriff ein wenig verändern. (ii) Die andere Forschungsrichtung nahm die trigonometrischen Reihen ins Visier. Sie zielte darauf, solche Bedingungen an die Koeffizienten einer trigonometrischen Reihe zu formulieren, welche die „Konvergenz“ dieser Reihe im gesamten Intervall garantieren. Diesem Problem widmete sich der junge C ANTOR ab 1870,b und diese Untersuchungen führten ihn schließlich zur Entwicklung der Mengenlehre – und andere Analytiker dann zum Begriff der „messbaren“ Menge. Die Reaktion der Analytiker Was tun die Analytiker jener Zeit nun mit dem Funktionsbegriff? Welchen von beiden akzeptieren sie: den R IEMANN’schen oder den von W EIERSTRASS? Bei dieser Alternative fällt die Entscheidung nicht schwer: (i) Zum einen war der W EIERSTRASS’sche Funktionsbegriff nicht klar und deutlich publiziert, keinesfalls vor dem Jahr 1876,c und auch danach mangelte es an einer klaren Festlegung W EI ERSTRASS ’ in dieser Angelegenheit.d Der mündliche Vortrag in Vorlesungen – noch dazu eines nicht einfachen Gegenstandes – bietet keinen genügend sicheren An S. 452 lass zur Rezeption. (Das genau war H EINEs Kritik.) b c
Vgl. Cantor 1870. Weierstraß 1876
d
Siehe die Sammlung Weierstraß 1886.
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7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff (ii) Zum anderen ist der W EIERSTRASS’sche Funktionsbegriff für den Anfangsunterricht der Analysis nicht geeignet. Sein Verständnis erfordert bereits Kenntnisse der Analysis. Diese aber sollen doch gerade erst erworben werden. Diese einfache Überlegung macht klar, was die Lektüre der Analysisbücher aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestätigen wird: Der W EIERSTRASS’sche Funktionsbegriff findet dort keinen Widerhall.
S. 306 S. 370
S. 364
Damit hatten die Analytiker der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Auswahl nur zwischen zwei Funktionsbegriffen: (a) zwischen C AUCHYs Begriff der „Funktion“ als einer (von „unabhängig“ „Veränderlichen“) „abhängigen“ „Veränderlichen“, deren „Werte“ sich aus den „Werten“ jener „erschließen lassen“; (b) und R IEMANNs Begriff der „Funktion“ als pure ‚Wert-zu-Wert‘-Bestimmung. C AUCHYs Funktionsbegriff war von D IRICHLET (dem Lehrer R IEMANNs) übernommen worden, allerdings mit einer analytisch grundlegenden Modifikation: Beim „Funktionswert“ war D IRICHLET weit weniger strikt und klar als C AUCHY – und vor allem verlangte er anders als jener keinesfalls sämtliche „Funktionenlimites“ als „Funktionswerte“. Sehen wir also zu, wie sich die Analytiker des ausgehenden 19. Jahrhunderts entschieden: C AUCHY oder R IEMANN? – oder ob sie eine neue Idee entwickelten. (Eine systematische Studie dazu kenne ich nicht. Das Folgende ist ein erster kursorischer Überblick, dessen Basis sich zu einem Teil dem sicher nicht ganz systematisch zustande gekommenen Bestand der Bibliothek des Mathematischen Seminars der Universität Frankfurt verdankt – einer Institution also, die es zu der in Rede stehenden Zeit noch gar nicht gab.) DIE TRADITION DER DEUTSCHSPRACHIGEN LITERATUR FOLGT RIEMANN Lipschitz In seinem 1877 erschienen Buch Grundlagen der Analysis erklärt RUDOLF L IPSCHITZ (1832–1903), „dass meine Absicht darin besteht, im Folgenden das System der Größenlehre auf die Lehre von den Zahlen oder auf die Arithmetik zu gründen.“ (Lipschitz 1877, S. 2) Konsequent behandelt er daher zunächst nur „algebraische“ Funktionen. Erst in § 101 kommt er auf den allgemeinen Funktionsbegriff zu sprechen: „Wenn zu jedem reellen Wert einer Variable x, der zwischen zwei bestimmten Werten a und b liegt, das heißt, die Bedingung a 5 x 5 b erfüllt, eine bestimmte Größe zugeordnet ist, welche durch die Ausführung gegebener Vorschriften gefunden wird und für andere und andere
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Lipschitz
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Nach Riemann lange nichts Neues Werte der Variable x andere und andere Werte annehmen kann, so sagt man, dass der Wert der betreffenden Größe von der variablen Größe x abhängt, oder, dass diese Größe eine Funktion der Variable x ist.“ (Lipschitz 1877, S. 484 f.) L IPSCHITZ besteht in seinem Lehrbuch also auf der Berechenbarkeit des „Funktionswertes“. Und: Er spricht zwar von der „Funktion“ als einer „variablen Größe“ – jedoch steht jene Bestimmung im Vordergrund, dass jedem „Wert“ von x „eine bestimmte Größe“ „zugeordnet“ ist, und diese „bestimmte Größe“ kann „andere und andere Werte annehmen“. Also: Nicht die Abhängigkeit der Größen ist für L IPSCHITZ das Entscheidende, sondern das „Annehmen“ von „(anderen und anderen) Werten“. Der Anlage nach ist hier dennoch C AUCHYs Funktionsbegriff S. 306 erkennbar. In seinem drei Jahre später erschienen Buch Differential- und Integralrechnung bestimmt L IPSCHITZ den Gegenstand dieses Buches wie folgt: „Die Aufgabe der Differenzial- und Integralrechnung besteht darin, die Beziehungen von Größen, die stetig veränderlich sind, zu erforschen. Differenzial- und Integralrechnung unterscheiden sich durch die besondere Art der zu lösenden Probleme wie durch den Charakter der hierbei zu überwindenden Schwierigkeiten und ergänzen einander; sie werden unter dem gemeinsamen Namen der Infinitesimalrechnung zusammengefasst. Die Infinitesimalrechnung ruht auf dem allgemeinen Boden der Größenlehre und bedarf keiner aus anderen Gebieten entlehnten Prinzipien.“ (Lipschitz 1880, S. 4) So erfreulich diese Gegenstandsbestimmung des Sachgebietes ist, so schmerzlich vermisst man dort irgendeinen Versuch, den angeblichen Grundbegriff dieser Lehre: die „Größe“, zu bestimmen. Es finden sich lediglich Redeweisen wie die von den „reellen bestimmten Größen“e , und alsbald geht es um die „geometrische Deutung einer stetigen Funktion einer veränderlichen Größe“f . Eine Bestimmung des Begriffs „Größe“ jedoch habe ich bei L IPSCHITZ nicht gefunden. Eindrucksvoll ist jedoch der ‚substanziale‘ Duktus, den L IPSCHITZ hier pflegt: Ihm geht es um die „Erforschung“ der „Beziehungen der Größen“ und nicht, wie schon eine Generation zuvor von D EDEKIND formuliert, um das „Drehen und Wenden der Definitionen, den aufgefundenen Gesetzen oder Wahrheiten zuliebe“g . S. 498 Harnack Größe
A XEL H ARNACK (1851–88) erläutert den Begriff „Größe“ zwar, aber doch nur beiläufig: e g
Lipschitz 1880, S. 2 f Lipschitz 1880, S. 14 Dedekind 1932, S. 430
Lipschitz – Harnack
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7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff „Das genaue Vergleichen oder Messen der Größen in der Sinnenwelt führt stets auf Maßzahlen.“ (Harnack 1881, S. 1) Unter „Größe“ versteht er „alles Messbare in der Natur“h . Anders gesagt: „Größe sein“ und „messbar sein“ sind für ihn dasselbe. Ziehen wir daraus eine Konsequenz, die H ARNACK nicht gezogen, jedenfalls nicht hinzugesetzt hat: „Größe sein“ heißt für H ARNACK „reelle Zahl sein“; oder kurz: „Größe“ ist für H ARNACK „reelle“ Zahl. (Stetig) Veränderliche
H ARNACK sieht „Veränderung“ als im einfachsten Fall stetig an: „Die Natur weist in ihren Erscheinungen fortwährende Veränderungen auf; die einfachsten Veränderungen, welche wir äußerlich wahrnehmen, sind Ortsveränderungen, Bewegungen. Mit der Vorstellung der Bewegung ist zugleich die der Stetigkeit, d. h. eines ununterbrochenen Zusammenhanges (räumlich) und einer ununterbrochenen Aufeinanderfolge (zeitlich) notwendig verbunden. Bewegungserscheinungen in ihrem ganzen Verlaufe beschreiben heißt jeden Zustand in Maßzahlen angeben. Soll also die Zahlenreihe auch zur Beschreibung der Bewegung dienlich sein, so muss sie eine stetige oder kontinuierliche Reihe von Größen enthalten. Es fällt der Analysis vor allem die Aufgabe zu: den Begriff und die Eigenschaften der kontinuierlichen Zahlenreihe zu entwickeln.“ (Harnack 1881, S. 1)
S. 487
H ARNACK bedient sich hier noch immer des von D EDEKIND ein knappes Jahrzehnt zuvor diskreditierten Begriffs von der Stetigkeit (der unabhängig Veränderlichen) als einem „ununterbrochenen Zusammenhang“ in kleinsten Teilen. Auch seine Rede von der „kontinuierlichen Zahlenreihe“ ist sehr bemerkenswert; man könnte auch sagen: widersprüchlich – und zwar sowohl in sich als auch zur Rede vom „ununterbrochenen Zusammenhang“ in kleinsten Teilen: Denn die „Zahl“ ist gewiss ein „diskretes“ Objekt – und wie soll eine Vielheit davon diesen Charakter der Diskretheit der einzelnen Zahl ändern? Den Begriff „Veränderliche“ erläutert H ARNACK ausführlich: „Um den Begriff aller möglichen Zahlen innerhalb eines Intervalles, d. h. zwischen zwei festen Werten, zu überschauen, führt man in die Analysis, auch wenn man sich von dem Bilde einer bestimmten Bewegung auf der Geraden freimacht, die Vorstellung der Veränderung ein. Diese Vorstellung ist zuerst von N EWTON in allgemeinster Weise verwertet worden; durch die Geometrie, besonders seit [D ESCARTES] war h
Harnack 1881, S. 15
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Harnack
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Nach Riemann lange nichts Neues sie vorbereitet. Eine Größe heißt veränderlich oder variabel, wenn sie verschiedene Zahlenwerte anzunehmen vermag. (Wie wir bei rein arithmetischen Untersuchungen nicht mehr daran denken, was für Dinge der Zahl nach gegeben sind, so haben wir uns bei dem Begriffe der »veränderlichen Größe« auch ganz frei zu machen von dem Gedanken an das, was diese Größe vorstellt. Die Entfernung eines beweglichen Punktes, die Temperatur, die Dampfspannung, kurz alles Messbare in der Natur wird in die Rechnungen als veränderliche Größe eingehen können.) Eine Größe heißt innerhalb eines Intervalles d. h. zwischen zwei Zahlen kontinuierlich oder stetig veränderlich, wenn zwischen zwei noch so nahen Zahlen x 0 und x 0 + δ kein Zahlenwert liegt, den sie bei der Veränderung von x 0 zu x 0 + δ nicht annimmt. Der Ausdruck: eine Größe ändert sich stetig vom Werte a bis zum Werte b, besagt also, die Größe durchläuft alle Zahlen zwischen a und b, und in der Aufeinanderfolge der Zahlen findet kein Sprung statt.“ (Harnack 1881, S. 15) Wir halten dreierlei fest: (1) H ARNACK hat – hierin wohl D EDEKIND folgend – den Begriff „stetig“ allge- S. 487, 493 mein für „Veränderliche“ bestimmt – und also auch für die „unabhängig“ Veränderliche. (2) H ARNACK verbindet den Begriff „stetig“ mit „keinen Sprung aufweisen“, anders gesagt: mit der Geltung des Zwischenwertsatzes. (3) Offenbar gelingt es H ARNACK, die Kennzeichnungen „keinen Sprung aufweisen“ und „die Zahlenreihe“ miteinander in Einklang zu bringen. Mit der von ihm verwendeten Bestimmung der „ununterbrochenen Aufeinanderfolge“ lässt sich das wohl allenfalls dann verbinden, wenn dieses „Aufeinander-Folgen“ als gleichbedeutend mit „dicht“ gedacht wird, also als: „zwischen-je-Zweien-gibt-es-immer-ein-Drittes“. Diese Eigenschaft haben freilich schon die Rationalzahlen (oder auch: die Brüche428 ).
Funktion
H ARNACKs Begriff der Funktion: „Wenn der Wert einer Veränderlichen y durch den Wert einer Veränderlichen x derart bestimmt ist, dass sich zu jedem Werte von x ein oder auch mehrere Werte von y berechnen lassen, oder, um nichts über die Art der Bestimmung auszusagen, wenn zu jedem Werte von 428
Dies wusste 1484 schon C HUQUET, der sich der Erfindung einer bestimmten Fassung dieses Sachverhalts rühmte: seiner „Regel der mittleren Zahlen“ (Chuquet 1880/1881, S. 653 f. bzw. fs. 44r , 44v ).
Harnack
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7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff x in einem Intervalle zugehörige Werte von y tabellarisch angebbar ˜ sind, so heißt y eine Funktion von x. ˜ ˜ Man nennt y auch die abhängige Variabele, x die unabhängige oder ˜ das Argument der Funktion. Die Funktion selbst heißt im ersten Falle einwertig (oder eindeutig), im zweiten mehrwertig. (Bei den Problemen der Naturforschung, welche von messbaren Größen handeln, hat man es stets mit der durch Beobachtung ermittelten Abhängigkeit veränderlicher Größen, mit Funktionen, zu tun.)“ (Harnack 1881, S. 18 f.) Nach Lektüre der ersten Hälfte des ersten Satzes scheint C AUCHYs Funktionsbegriff durchzuklingen, insbesondere angesichts der von H ARNACK ausdrücklich angesprochenen Möglichkeit der Mehrwertigkeit für einen einzelnen Wert x – doch die dann folgende Vokabel „tabellarisch angebbar“, der kein Moment eines „Erschließens“ eines „Funktionswertes“ mehr anhaftet, zeigt H ARNACKs Funktionsbegriff als einen in der Nachfolge R IEMANNs. Bemerkenswert ist hier auf jeden Fall H ARNACKs betontes Verlangen nach einer „stetigen“ unabhängig Veränderlichen. Stetigkeit einer Funktion
Da H ARNACK (i) den Begriff „stetig“ für „Veränderliche“ definiert sowie (ii) die „Funktion“ eine „Veränderliche“ genannt hat, ist damit festgelegt, wann eine „Funktion“ „stetig“ ist: nämlich immer dann, wenn y mit je zwei „Zahlen“ a, b auch jede „auf a folgende Zahl 5 b“ dem „Intervall“ (a, b) angehört, also zwischen a und b „kein Sprung stattfindet“. Diese Konsequenz aus seinem Begriff „Stetigkeit“ einer „Veränderlichen“ sieht H ARNACK jedoch nicht, Vielmehr fühlt er sich frei, den Begriff „stetig“ für „Funktionen“ ausdrücklich neu zu definieren! „Die explizite Funktion: y = f (x) sei definiert als einwertige Funktion für ein bestimmtes Intervall von x = a bis x = b, d. h. zu jedem Werte von x soll ausnahmslos ein und nur ein bestimmter Wert der Funktion gehören. Die Funktion wird zu beiden Seiten einer Stelle x in diesem Interva˜ le stetig genannt werden müssen, wenn keine sprungweisen Änderungen der Funktionswerte vorkommen, indem man nach der einen oder anderen Seite von dieser Stelle sich entfernt, also die Funktionswerte bildet, welche zu den Werten gehören, die beliebig wenig größer oder kleiner als x sind. In eine für die Berechnung geeignete Form gefasst, lautet die Forderung: Für diesen Wert von x muss es möglich sein, eine von Null verschiedene endliche Zahl h (die erst mit δ = 0 nach Null konvergiert) ausfindig zu machen, welche die Eigenschaft hat, dass die Differenz der Funktionswerte f (x ± θh) − f (x)
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Nach Riemann lange nichts Neues ihrem absoluten Betrage nach kleiner wird als eine vorgegebene beliebig kleine Zahl δ, während θ eine Veränderliche zwischen den Grenzen 1 und Null bedeutet.“ (Harnack 1881, S. 24 f.) H ARNACK vermischt hier unzulässigerweise zwei Begriffe, die auseinanderzuhalten sind. PASCH formuliert diesen Unterschied später ganz klar. S. 648 Stolz In den Jahren 1885 und 1886 erscheinen die beiden Bände Vorlesungen über allgemeine Arithmetik von OTTO S TOLZ (1842–1905). Größe
Unter Berufung auf H ERMANN G RASSMANN (1809–77) bestimmt S TOLZ dort als den „weitesten Begriff“ der Größe so: „Geben wir ihm den Namen »Größe«, so wird ein Größenbegriff ein Begriff von der Art sein, dass je zwei der darunter enthaltenen Dinge entweder als gleich oder als ungleich erklärt sind. Mit andern Worten: »Größe heißt ein jedes Ding, welches mit einem anderen gleich oder ungleich gesetzt werden soll.«∗ “ (Stolz 1885, 1886, Bd. 1, S. 1) S TOLZ war sehr um die Würdigung der Verdienste seines österreichischen Landsmanns B OLZANO bemüht.i Daher wäre er gewiss begeistert gewesen, hätte er gewusst, dass B OLZANO fünfzig Jahre zuvor genau dieselbe Bestimmung gegeben S. 289 hat; doch sehe ich keinen Hinweis darauf, dass ihm B OLZANOs Manuskripte bekannt waren. Veränderliche
Den Begriff der „Veränderlichen“ bestimmt S TOLZ im Jahr 1885 wie folgt: „Unter einer reellen Veränderlichen versteht man eine Zahl, die unbegrenzt viele reelle Werte annehmen kann, deren jeder völlig bestimmt sein muss. Die Gesamtheit dieser Werte heißt der Bereich der Veränderlichen.“ (Stolz 1885, 1886, Bd. 1, S. 149) Das ist eine offenkundig zirkuläre Formulierung. Denn eine „Zahl“ ist gewiss auch ein „Wert“, sodass nach dieser Bestimmung eine „Veränderliche“ eine „Zahl“ ist, die (unbegrenzt) viele „Zahlen“ „annehmen“ kann: alles andere als eine klare Bestimmung! ∗ i
H. G RASSMANN, Lehrbuch der Arithmetik, 1861, p. 1 Stolz 1881
Harnack – Stolz
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7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff Daher ist es nicht verwunderlich, wenn S TOLZ es in dem 1893 erschienenen Lehrbuch Grundzüge der Differential- und Integralrechnung anders versucht. Dort bringt der Verfasser „die Grundbegriffe aus der Theorie der reellen Funktionen“j wie folgt „kurz in Erinnerung“: „Unter einer reellen Veränderlichen versteht man ein Zeichen, welches unbegrenzt viele reelle Zahlen, wovon jede genau angegeben sein muss, bedeuten kann. Diese Zahlen bilden den Bereich der Veränderlichen. Als solche Zeichen werden in der Regel die letzten Buchstaben des Alphabets benutzt.“ (Stolz 1893, S. 2) S. 466
Damit hat S TOLZ seinen Definitionszirkel zwar aufgelöst – allerdings um den Preis der Akzeptanz des H EINE’schen Formalismus. Stetigkeit
Auch S TOLZ macht beim Begriff der Stetigkeit keinen Unterschied gemäß dem zugehörigen Gegenstand – „unabhängig“ Veränderliche oder „abhängig“ Veränderliche – und definiert für beide gleichermaßen: „Die Veränderliche x heißt in dem endlichen Intervalle (a, b) stetig, wenn sie alle reellen Werte a 5 x 5 b annimmt. Sie heißt im Intervalle (a, b) allenthalben überall dicht, wenn in jedem aus dem Intervalle (a, b) herausgehobenen Intervalle (a 0 , b 0 ) – a 5 a 0 < b 0 5 b – mindestens ein Wert derselben vorkommt.“ (Stolz 1885, 1886, Bd. 1, S. 152) Die „Erinnerung“ in Grundzüge der Differential- und Integralrechnung fällt kürzer aus, hat aber denselben Sinn: „x heißt eine im Intervalle (a, b) stetige Veränderliche, wenn x alle Zahlen zwischen a und b, sowie a und b selbst bedeuten kann.“ (Stolz 1893, S. 3) Funktion
S TOLZ’ Bestimmung des Funktionsbegriffs:
„Ein- und mehrdeutige Funktionen einer reellen Veränderlichen. Wenn jedem Werte x einer genau definierten Veränderlichen x ein und nur ein Wert y zugeordnet ist, so heißt y eine eindeutige Funktion der unabhängigen Veränderlichen x, in abgekürzter Schreibweise y = f (x). Da der Bereich der Letzteren unbegrenzt viele bestimmte Werte umfasst, so kann eine solche Bestimmung nur durch eine arithmetische j
Stolz 1893, S. 2
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Nach Riemann lange nichts Neues Vorschrift erfolgen, welche lehrt, wie zu irgendeinem Werte von x das zugehörige y berechnet werden kann.∗ Werden in derselben Art jedem Werte der unabhängigen Veränderlichen x zwei oder mehrere Werte y zugeordnet, so nennt man y eine zwei- oder mehrdeutige Funktion von x. – Die unabhängige Veränderliche x heißt auch das Argument der Funktion.“ (Stolz 1885, 1886, Bd. 1, S. 152) (1) Auch S TOLZ frönt hier ganz ungerührt jener Ungenauigkeit mit Tradition, die „Veränderliche“ und ihre „Werte“ in gleicher Weise mit „x“ bzw. „y“ zu bezeichnen.429 (2) Hier bedient sich S TOLZ noch generell der Rede vom „Wert“ der „Veränderlichen“. Im späteren Text ändert sich das – jedenfalls bei der „abhängig“ Veränderlichen:
„Eindeutige Funktionen einer Veränderlichen. Wenn jedem Werte x einer genau definierten Veränderlichen x eine und nur eine Zahl y zugeordnet ist, so heißt die auf diese Art erklärte Veränderliche y eine eindeutige Funktion der unabhängigen Veränderlichen oder des Argumentes x, wofür man kurz schreibt: y = f (x). Die Vorschrift der Zuordnung von y zu x, die hier eine arithmetische sein soll, muss von der Art sein, dass gleichen Werten von x gleiche von y entsprechen.“ (Stolz 1893, S. 3) Der letzte Satz ist etwas mysteriös und ohne Rückgriff auf die Anmerkung im früheren Lehrbuch wohl kaum verständlich. Sie klingt wie eine Anleihe bei H EINE. S. 582 (3) Allerdings haben wir bei S TOLZ erstmals den bislang in diesem Buch nur von mir in beschreibender Absicht verwendeten Begriff „Zuordnung“ im Zusammenhang mit dem Funktionsbegriff. (4) Klar ist: S TOLZ nimmt R IEMANNs Funktionsbegriff auf. S. 370 Stetigkeit einer Funktion
In derselben Weise, wie wir es eben bei H ARNACK erörtert haben, erkennt auch S. 591 S TOLZ nicht, dass er mit seiner Definition der „Stetigkeit“ – nämlich ebenfalls: für jede Veränderliche – schon die „Stetigkeit“ einer „Funktion“ (die er doch als eine „Veränderliche“ bezeichnet hat) festgelegt hat. S. 595 Stattdessen fühlt sich auch S TOLZ wie schon H ARNACK frei, den Begriff der „Stetigkeit“ einer „Funktion“ neu zu definieren. Dies geschieht in seinen Vorlesungen über allgemeine Arithmetik wie folgt: ∗
429
Die Vorschrift muss von der Art sein, dass man für einen gegebenen Wert von x jede arithmetim sche Darstellung setzen kann, ohne dass der ihm zugeordnete von y sich ändert, z. B. a n wird mit Hilfe der beiden ganzen Zahlen m n definiert, jedoch so, dass, wenn sie durch mk nk ersetzt werden, eine Änderung nicht eintritt. Siehe S. 281 bei Anmerkung 183.
Stolz
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7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff
„Definition: Die eindeutige Funktion f (x), definiert für alle Werte x eines Intervalles (a − d , a + d ) – d > 0 –, heißt für den endlichen Wert x = a stetig, wenn bei stetigem Grenzübergange lim x = a ± 0
lim f (x) = f (a) ,
d. h. zu jeder Zahl ε > 0 muss eine Zahl δ > 0 gehören, derart dass | f (x) − f (a)| < ε , wenn nur |x − a| < δ.∗ “ (Stolz 1885, 1886, Bd. 1, S. 179)
S. 648
Nicht, dass S TOLZ hier „stetig“ durch „stetig“ erklärt, wie man im ersten Augenblick meinen könnte! Vielmehr greift S TOLZ bei seiner Definition der „Stetigkeit“ einer „Funktion“ der Sache nach auf den Begriff der „Stetigkeit“ einer „unabhängig“ Veränderlichen zurück. Er definiert also „stetig2 “ (für „abhängig“ Veränderliche) mittels „stetig1 “ (für „unabhängig“ Veränderliche). Freilich sagt er das nicht ausdrücklich (und dies dürfte man schon kritisieren) – möglicherweise ist es ihm nicht einmal bewusst. Wie H ARNACK vermischt S TOLZ hier zwei Begriffe, die PASCH später ganz klar auseinanderzuhalten weiß. Auch in seinem Buch Grundzüge der Differential- und Integralrechnung begeht S TOLZ diesen Fehler und definiert aufs Neue: „Wenn für alle Werte von x im Intervalle (a − d , a + d ) – d > 0 – eine Funktion f (x) eindeutig definiert und bei stetigem Grenzübergange lim x = a lim f (x) = f (a) x=a
ist, so heißt f (x) stetig für den (oder bei dem) Wert x = a. Diese Formel besagt, dass jeder positiven Zahl ε eine andere δ so entsprechen muss, dass für jeden Wert x, wofür |x − a| < δ ist, | f (x) − f (a)| < ε ist. Zur Stetigkeit von f (x) im Punkte x = a gehört somit vor allem, dass f (x) für x = a definiert (endlich) ist.“ (Stolz 1893, S. 8) S. 382
Seine Stetigkeitsdefinition zeigt, dass sich S TOLZ gern der ‚Grenzwertsprache‘ bedient. In diesem Sinne hat er zuvor ausführlich den Begriff „Grenzwerte der Funktion“k definiert (unsere heutigen „Funktionenlimites“) und ausführlich „allgemeine Sätze über Grenzwerte der Summen, Produkte und Quotienten von Funktionen“l behandelt. ∗
B OLZANO l. c. [= Bolzano 1817] p. 11.
k
Stolz 1893, S. 4 Stolz 1893, S. 6 f.
l
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Nach Riemann lange nichts Neues DIE FRANZÖSISCHE TRADITION Serret Das Lehrbuch Cours de calcul différentiel et intégral von J OSEPH -A LFRED S ERRET (1819–85) aus dem Jahr 1868 wurde im Jahr 1884 von H ARNACK ins Deutsche übersetzt. Es beginnt unmittelbar mit der Überschrift „Funktionen“ („Des fonctions“) und dann wie folgt: „Die Größen, welche den mathematischen Untersuchungen zu Grunde liegen, sind von zweierlei Art; die einen besitzen einen bestimmten festen Wert, die anderen können mehrere verschiedene Werte annehmen. Jene nennt man konstante, diese veränderliche oder variable Größen. Hat man bei einer Aufgabe mehrere Variabele zu betrachten, so kann man einigen derselben willkürliche Werte beilegen, und alsdann erhalten die anderen Variabelen bestimmte Werte. Erstere heißen die unabhängigen Veränderlichen, die anderen die abhängigen Veränderlichen oder die Funktionen der Unabhängigen.“ (Serret 1884, S. 1)
„Parmi les quantités qui interviennent dans une recherche mathématique, il y a lieu de distinguer celles dont la valeur est déterminée et celles qui sont susceptibles de prendre plusieurs valeurs différentes. Les premières sont désignées sous le nom de constantes, les autres sont dites des variables. Dans toute question où il y a lieu de considérer plusieurs variables, on peut attribuer à quelques-unes de ces variables des valeurs arbitraires, et alors les autres variables prennent des valeurs déterminées. Les premières sont nommées variables indépendantes, les autres sont dites variables dépendantes ou fonctions des variables indépendantes.“ (Serret 1868, S. 1 f.)
Auch in der von G. B OHLMANN „durchgesehenen“ neuen Auflage von 1897 blieben diese Formulierungen unangetastet.m Es ist klar: S ERRET hat den C AUCHY’schen Funktionsbegriff. Der Übersetzer H AR- S. 306 NACK hat zu dieser (von der seinen abweichenden, nämlich R IEMANN folgenden) Definition der Funktion keine Anmerkung hinzugefügt. Camille Jordan Von C AMILLE J ORDAN (1838–1922) liegen mir die zweite und die dritte Auflage seines Cours d’analyse aus den Jahren 1893 und 1909 vor. Sie enhalten dieselbe Definition von „Funktion“, die nun wiedergegeben sei. Dies bedarf allerdings der Vorbereitung.
m
Vgl. Serret 1897, S. 4 f.
Serret
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7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff
Unabhängig Veränderliche
Der Begriff „Veränderliche“ wird von J ORDAN dort nicht erklärt, sondern beiläufig anlässlich der Definition des „Grenzwerts“ eingeführt:
Grenzwerte.
Sei x eine veränderliche Größe, der man nacheinander eine unbegrenzte Folge von Werten x 1 , . . . , x n , . . . gibt. Man sagt, die Folge x 1 , . . . , x n , . . . – oder in abgekürzterer Weise: die Veränderliche x – strebt oder konvergiert gegen den Grenzwert c, wenn man für jeden Wert der positiven Größe ε eine ganze Zahl ν bestimmen kann, sodass
„Limites. – Soit x une quantité variable, à laquelle on donne successivement une suite illimitée de valeurs x 1 , . . . x n , . . . On dit que la suite x 1 , . . . x n , . . . , ou, d’une manière plus abrégée, la variable x tend ou converge vers la limite c si, pour toute valeur de la quantité positive ε, on peut assigner un entier ν, tel que l’on ait
|x n − c| < ε für alle Werte von n gilt, die größer sind als ν.
pour toutes les valeurs de n supérieures à ν.“ (Jordan 3 1909, S. 8)
Verlangt J ORDAN wirklich jede „Veränderliche“ als eine „Folge“? Dann hätte er den altehrwürdigen Begriff der „stetigen“ „unabhängig“ Veränderlichen abgeschafft! Wohl kaum.
Punkte, Menge
Den Begriff „Menge“ führt J ORDAN ganz beiläufig ein, und zwar für „Punkte“. Daher zunächst dieser Begriff: Seien x, y, . . . veränderliche Größen; wir nennen ein diesen Veränderlichen entsprechend zugeordnetes Wertesystem a, b, . . . einen Punkt [. . . ] bei Anm. n
„Soient x, y,. . . des quantités variables; nous appellerons point un système de valeurs simultanées a, b, . . . donné à ces variables; [. . . ]“ (Jordan 3 1909, S. 18)
Ein „Punkt“ ist bei J ORDAN also ein „Wertesystem“; gleich wird er (wie noch wir heute in der Analysis430 ) von „Koordinaten“ sprechen. Diese „Punkte“ werden durch „p = (a, b, . . .)“ bezeichnet. Sogleich wird für „Punkte“ ein „Abstand“ definiert: pp 0 = |a 0 − a| + |b 0 − b| + . . . Dann folgt der Begriff „Grenze“ (limite) einer Punktfolge und sodann der Begriff der Menge: 430
In der Algebra sprechen wir eher vom „n-Tupel“.
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Nach Riemann lange nichts Neues Menge nennt man jede Ansammlung von Punkten, sei sie endlich oder unendlich. Eine Menge wird ebenso viele Dimensionen haben, wie sie in der Definition der Veränderlichen x, y, . . . vorkommen.
„On nomme ensemble toute collection de points, en nombre fini ou infini. Un ensemble aura autant de dimensions qu’il figure de variables x, y, . . . dans la définition de ses points.“ (Jordan 3 1909, S. 19)
J ORDAN beschränkt sich also bei seinem Mengenbegriff auf das für die Grundlagen der Analysis Notwendige: auf „Mengen“ aus, wie wir heute sagen, „Koordinaten“, in der Nachfolge C ANTORs (auch heute noch) „Punkte“ genannt. S. 468
Unabhängig Veränderliche, Funktion
Veränderliche Größen x, y, . . . , heißen unabhängig, wenn zwischen ihnen keine Verbindung besteht, sodass jede von ihnen noch alle Werte, die für sie möglich sind, annehmen kann, nachdem man die Werte der anderen festgelegt hat. Sei demgegenüber u eine neue Veränderliche, die mit den vorigen derart verbunden ist, dass jeder Punkt (x, y, . . .) aus einer gewissen Menge E einem bestimmten Wert von u entspricht. Man sagt, dass diese Beziehung u als Funktion von x, y, . . . auf der Menge E definiert.
„Des quantités variables, x, y, . . . , sont dites indépendantes, s’il n’existe entre elles aucun lien, de telle sorte que chacune d’elles puisse encore prendre toutes les valeurs dont elle est susceptible, après qu’on a fixé la valeur des autres. Soit, au contraire, u une nouvelle variable, liée aux précédentes de telle sorte qu’à chaque point (x, y, . . .) appartenant à un certain ensemble E , corresponde une valeur déterminée de u. On dira que cette relation définit u comme fonction de x, y, . . . dans l’ensemble E .“ (Jordan 3 1909, S. 31)
Eine autographierte Mitschrift einer Vorlesung von J ORDAN an der Ecole Polytechnique von 1901/02 beginnt mit der Definition eines „Punktes“ (x, y, . . .) der „Veränderlichen“ x, y, . . . , die dann die „Koordinaten“ dieses „Punktes“ heißen.n Das „System“ der „Werte“, die man jenen „Veränderlichen“ „beilegen“ kann, heißt „Bereich“ (domaine).o Ein solcher „Bereich“ D hat ein „Inneres“ (intérieur), ein „Äußeres“ (extérieur) und einen „Rand“ (frontière). D heißt „vollständig“ (complet), wenn er alle „Punkte“ seines „Randes“ enthält. Er heißt „beschränkt“ (borné), wenn die (also: alle) Koordinaten aller seiner „Punkte“ kleiner als eine feste Zahl bleiben.o n
Vgl. Jordan 1901–02, S. 1.
o
Vgl. Jordan 1901–02, S. 2.
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7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff Nach den beiden Beispielen des Inneren des Einheitskreises und eines offenen Intervalls auf einer Geraden folgt schließlich die Definition: An jedem Punkt (x y) eines Bereichs D bringen wir eine bestimmte Zahl Z x y an. Die Menge dieser Zahlen de˜ finiert im Bereich D eine Funktion Z der unabhängig Veränderlichen x, y. Diese Funktion wird im Bereich D ˜ nach oben (unten) beschränkt sein, wenn sämtliche Werte Z x y unterhalb (oberhalb) einer festen Zahl N liegen. S. 370
„A chaque point (x y) d’une domaine D appliquons un nombre déterminé Z x y . L’ensemble de ces nombres définira dans le domaine D une fonction Z des variables indépendantes x, y. Cette fonction sera bornée supérieurement (inférieurement) dans le domaine D si les valeurs Z x y sont toutes inférieures (supérieures) à un nombre fixe N .“ (Jordan 1901–02, S. 2)
J ORDAN steht also klar in der Tradition von R IEMANN: „Funktion“ ist eine eindeutige ‚Wert-zu-Wert‘-Bestimmung. Im direkten Anschluss an die obige Passage bringt J ORDAN als „Postulat“ jenes Axiom, das D EDEKIND „Prinzip der Stetigkeit“ genannt hat,431 ohne weitere Erörterung.
Tannery Mit seinem 1886 erschienenen Lehrbuch Introduction à la théorie des fonctions d’une variable (Einführung in die Funktionenlehre einer Veränderlichen) begründet J ULES TANNERY (1848–1910) eine langwirkende Tradition französischer Begriffsbildungen. Sehr bemerkenswert ist TANNERYs programmatischer Satz im Vorwort: „Man kann die gesamte Analysis auf den Begriff der natürlichen (entier) Zahl und die betreffenden Begriffe der Addition natürlicher Zahlen begründen.“ (Tannery 1886, S. VIII) Im deutschen Sprachraum nennt man dieses Programm „Arithmetisierung“ (der Analysis). Und mit der kämpferischen Formulierung „die Worte »die Teile der Einheit« haben keinen Sinn mehr; ein Bruch ist eine Menge aus zwei natürlichen Zahlen in einer bestimmten Anordnung“ (Tannery 1886, S. VIII) S. 391, 420
scheint TANNERY eine Fundamentalkritik an W EIERSTRASS zu äußern. 431
Vgl. Jordan 1901–02, S. 2; siehe S. 487.
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Nach Riemann lange nichts Neues
Irrationale Zahlen
Die „irrationale“ Zahl führt TANNERY in derselben Weise ein wie D EDEKIND,432 jedoch knapp und ohne Pomp. Nachdem er bewiesen hat, dass keine „rationale“ Zahl die Gleichung x2 − 3 = 0 löst, heißt es schlicht: Es ist also diese Möglichkeit, die Gesamtheit der rationalen Zahlen in zwei Klassen zu zerlegen, die sich gewisser Eigentümlichkeiten erfreut, auf die ich soeben aufmerksam machte und die mir als Ausgangspunkt dienen werden. Jedesmal, wenn man ein genau beschriebenes Mittel hat, die Gesamtheit der positiven und negativen rationalen Zahlen in zwei Klassen zu teilen, sodass jede Zahl der ersten Klasse kleiner ist als jede Zahl der zweiten Klasse und dass es außerdem in der ersten Klasse keine Zahl gibt, die größer ist als alle anderen derselben Klasse, und in der zweiten Klasse keine Zahl, die kleiner ist als alle anderen, werde ich ˜ sagen, dass man eine irrationale Zahl ˜ definiert hat; die erste Klasse wird Unterklasse hinsichtlich der irrationalen ˜ Zahl heißen, die zweite Klasse Oberklasse. 432
„C’est cette possibilité de décomposer ainsi la totalité des nombres rationnels en deux classes jouissant des propriétés sur lesquelles je viens d’appeler l’attention, qui me servira de point de départ. Toutes les fois qu’on aura un moyen défini de séparer la totalité des nombres rationnels positifs et négatifs en deux classes telles que tout nombre de la première classe soit plus petit que tout nombre de la seconde classe, telles en outre qu’il n’y ait pas dans la première classe un nombre plus grand que les autres nombres de la même classe et, dans la seconde classe, un nombre plus petit que les autres nombres de la même classe, je dirai qu’on a défini un nombre irrationel; la première classe sera dite classe inférieure relative au nombre irrationnel; la seconde classe, classe supérieure.
In seinem Vorwort verweist TANNERY auf D EDEKINDs Schrift (S. IX), erklärt jedoch, er habe sie noch nicht zur Verfügung. In dem auf den 5. Oktober 1887 datierten Vorwort zu seiner Schrift Was sind und was sollen die Zahlen? kommentiert D EDEKIND den Sachverhalt so: „Dieselbe, auf die Erscheinung des Schnittes gegründete Theorie der irrationalen Zahlen findet man auch dargestellt in der Introduction à la théorie des fonctions d’une variable von J. TANNERY (Paris 1886). Wenn ich eine Stelle der Vorrede dieses Werkes richtig verstehe, so hat der Herr Verfasser diese Theorie selbstständig, also zu einer Zeit erdacht, wo ihm nicht nur meine Schrift, sondern auch die in derselben Vorrede erwähnten Fondamenti von D INI noch unbekannt waren; diese Übereinstimmung scheint mir ein erfreulicher Beweis dafür zu sein, dass meine Auffassung der Natur der Sache entspricht, was so auch von anderen Mathematikern, z. B. von Herrn M. PASCH in seiner Einleitung in die Differential- und Integralrechnung (Leipzig 1883) anerkannt ist.“ (Dedekind 1887, S. 340)
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7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff Eine irrationale Zahl wird durch einen Buchstaben dargestellt werden können, und dieser Buchstabe bezeichnet nichts anderes als eine definierte Weise der Klassifizierung der rationalen Zahlen, so wie sie eben beschrieben wurde. S. 496 f.
Un nombre irrationnel pourra être représenté par une lettre, cette lettre ne signifiant rien autre chose qu’un mode défini de classification des nombres rationnels, tel que celui qui vient d’être décrit.“ (Tannery 1886, S. 2 f.)
Ersichtlich behandelt TANNERY die Sache wesentlich nüchterner als D EDEKIND, vor allem ohne jegliche Bezugnahme auf die Geometrie. Anders als D EDEKIND prägt er die Begriffe „Unterklasse“ (classe inférieure) und „Oberklasse“ (classe supérieure). Allerdings verfährt TANNERY begrifflich in genau derselben Weise wie D EDEKIND: Es ist von „Klasse“ (classe) die Rede sowie davon, dass eine solche Einteilung eine „irrationale“ Zahl „definiere“ (D EDEKIND „erschafft“ sie). Bei TAN NERY ist die „irrationale“ Zahl diese beschriebene „Klassifizierung der rationalen Zahlen“. Im Anschluss erläutert TANNERY im Detail die Anordnung seiner „Zahlen, rational oder nicht“. Dann bildet er den Begriff „α-genauer Näherungswert einer Zahl A“ (valeur approchée par défaut du nombre A, à α près)433 . Mit ihm gelangt er zügig von der durch einen „Schnitt“ definierten „irrationalen“ Zahl zu deren Darstellung durch einen Dezimalbruch. Das Ergebnis seiner Konstruktion nennt TAN NERY eine „vollständige Definition“ der „irrationalen“ Zahl durch die Folge der n1 1 , 100 ,. . . 101p , . . . genau“p . (Die Begriffe „Folge“, stelligen Dezimalzahlen „bis auf 10 „Grenzwert“, „Konvergenz“ führt TANNERY jedoch erst später, auf S. 27, ein.) Danach behandelt TANNERY die Grundoperationen und die Gültigkeit der elementaren Rechengesetze für seine „Zahlen, rational oder nicht“.q Menge
Den Begriff „Zahlenmenge“ führt TANNERY ganz beiläufig ein: Ich werde sagen, eine Menge von Zahlen ist definiert, wenn man das Mittel angibt, um festzustellen, ob eine beliebige Zahl der betrachteten Menge zugehört oder nicht; das sind beispielsweise die Menge der natürlichen Zahlen [. . . ] oder die Menge der rationalen Zahlen, deren Quadrat kleiner ist als 3 [. . . ] p
433
Tannery 1886, S. 9
q
„Je dirai qu’un ensemble de nombres est défini, si l’on donne le moyen de reconnaître si tel nombre que l’on veut appartient ou n’appartient pas à l’ensemble considéré: tels sont, par exemple, l’ensemble des nombres entiers [. . . ] ou l’ensemble des nombres rationnels dont le carré est plus petit que 3 [. . . ]“ (Tannery 1886, S. 21)
Vgl. Tannery 1886, S. 9–20.
Tannery 1886, S. 7; übrigens finden sich die (zugegeben: nicht sehr spezifischen) Formulierungen „valeur approchée“ und „approchée à α près“ auch bei M ÉRAY: siehe S. 512.
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Nach Riemann lange nichts Neues Es scheint klar: TANNERY geht es (jedenfalls zunächst) allein um Zahlenmengen. Als Bezeichnung dafür verwendet TANNERY: „(E )“r . Funktion
Seinen Funktionsbegriff erklärt TANNERY im dritten Kapitel, das auf Seite 99 beginnt. Zunächst definiert er den Begriff des Intervalls: Seien a, b zwei beliebige Zahlen, a die kleinere von beiden. Ich werde die Zahlenmenge aus a, b und allen Zahlen, rational oder nicht, die zwischen a und b enthalten sind, Intervall (a, b) nennen; ich werde von einer beliebigen dieser Zahlen sagen, dass sie dem Intervall (a, b) zugehört; die zwei Zahlen a, b sind die Grenzen des Intervalls; die Differenz b − a ist die Weite des Intervalls; ein Intervall (a 0 , b 0 ) ist im Intervall (a, b) enthalten, wenn die Zahlen a 0 , b 0 in ihm enthalten sind.
„Soient a, b deux nombres quelconques, a étant le plus petit des deux, j’appellerai intervalle (a, b) l’ensemble des nombres a, b et de tous les nombres rationnels ou non qui sont compris entre a et b; je dirai de l’un quelconque de ces nombres qu’il appartient à l’intervalle (a, b); les deux nombres a, b sont les limites de l’intervalle; la différence b − a est l’étendue de l’intervalle; un intervalle (a 0 , b 0 ) est contenu dans l’intervalle (a, b) si les nombres a 0 , b 0 appartiennent à cet intervalle.“ (Tannery 1886, S. 99)
Dann die wichtige Bestimmung, unscheinbar: ˜ Eine Funktion y ist im Intervall (a, b) definiert, wenn jedem diesem Intervall zugehörendem Wert von x ein bestimmter Wert von y entspricht.
„Une fonction y est définie dans l’intervalle (a, b) si à chaque valeur de x appartenant à cet intervalle correspond une valeur déterminée de y.“ (Tannery 1886, S. 99)
Wir bemerken: (1) In dieser Definition ist die Rede von „x“ überflüssig und könnte problemlos entfallen. (2) Statt „Wert“ könnte weit besser „Zahl, rational oder nicht“ stehen. (3) TANNERYs „Wert“ von x ist eine „Zahl, rational oder nicht“, aus einem „Intervall“. Dieses „Intervall“ hat er also als eine Zahlen-„Menge“ bestimmt. Damit nimmt er sofort jenen Begriff auf, den C ANTOR erst kurz zuvor (im Jahr 1882s ) geprägt hat, aber erst ein Jahrzehnt später in prägnanter Weise publiziert. S. 138 (4) Klar ist: TANNERY übernimmt R IEMANNs Funktionsbegriff, ergänzt aber um einen klar geforderten Definitionsbereich (der freilich ein „Intervall“ sein soll). TAN NERY betont sogleich die Allgemeinheit dieser Begriffsbildung: Der so erweiterte Begriff der Funktion ist von äußerster Allgemeinheit; er würde die Einführung von völr
Tannery 1886, S. 21
s
„La notion de fonction, ainsi entendue, est extrêmement générale; elle paraîtrait autoriser l’introduction de fonction à défini-
Cantor 1882
Tannery
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7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff lig beliebig definierten Funktionen zuzulassen scheinen; so wird eine Funktion im Intervall (2, 3) definiert, wenn man vereinbart, dass y = x für alle rationalen Zahlen von x ist, die dem Intervall zugehören, und y = x1 für alle irrationalen Werte dort.
tion tout à fait arbitraire: ainsi, ce serait définir une fonction dans l’intervalle (2, 3) que de convenir qu’on prendra y = x pour toutes les valeurs rationnelles de x qui appartiennent à cet intervalle et y = x1 pour toutes les valeurs irrationnelles.“ (Tannery 1886, S. 100)
TANNERY hat also von Anfang an auch die ‚kapriziösen‘ Funktionen als völlig legitime Gegenstände der Analysis im Blick. Goursat Anders jedoch sieht es im 1902 erschienenen Cours d’analyse von É DOUARD G OURSAT (1858–1936) aus. Dieser Autor orientiert sich offenkundig stärker an C AUCHY , denn er beginnt sein Lehrbuch mit dem Begriff „Grenzwert“ (limite). Als Zweites definiert er den Begriff „Funktion“:
Funktionen. –
Wenn zwei veränderliche Größen in der Weise verbunden sind, dass der Wert der einen vom Wert der anderen abhängt, sagt man, dass sie Funktionen voneinander sind. Betrachtet man die eine von ihnen als beliebig veränderlich, nennt man sie die unabhängig Veränderliche. Sei x diese Veränderliche, die beispielsweise alle Werte zwischen zwei gegebenen Zahlen a und b (a < b) annehmen kann. Bezeichnen wir durch y eine andere Veränderliche, sodass jedem Wert von x zwischen a und b sowie auch den Grenzen a und b ein wohlbestimmter Wert von y entspricht; man sagt, dass y eine definierte Funktion von x auf dem Intervall (a, b) ist, und man bezeichnet diese Abhängigkeit durch die Gleichung y = f (x). Beispielsweise kann es geschehen, dass der Wert von y das Ergebnis gewisser arithmetischer Operationen mit dem Wert von x ist; das ist der Fall bei den einfachsten Funktionen, die man im Anfangsunterricht studiert, etwa die Polynome, die rationalen Funktionen, die Wurzeln usw.
Fonctions. – Lorsque deux quantités variables sont liées de telle façon que la valeur de l’une dépend de la valeur de l’autre, on dit qu’elles sont fonctions l’une de l’autre. L’une d’elles étant considérée comme variant arbitrairement, on l’appelle la variable indépendante. Soit x cette variable qui pourra prendre, par exemple, toutes les valeurs comprises entre deux nombres donnés a et b (a < b). Désignons par y une autre variable telle que, à toute valeur de x comprise entre a et b corresponde une valeur bien déterminée de y, ainsi qu’aux valeurs limites a et b; on dit que y est une fonction définie de x dans l’intervalle (a, b), et l’on indique cette dépendance par l’égalité y = f (x). Par exemple, il peut se faire que la valeur de y soit le résultat de certaines opérations arithmétiques effectuées sur la valeur de x; tel est le cas des fonctions les plus simples que l’on étudie dans les éléments, comme les polynomes, les fonctions rationnelles, les radicaux, etc.
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Der offizielle Entwicklungsstand des Funktionsbegriffs am 10. August 1899 Eine Funktion kann auch graphisch definiert sein. Wenn in einer Ebene zwei Koordinatenachsen Ox, O y gegeben sind und man zwei Punkte A und B der Ebene durch eine Kurve AC B beliebiger Gestalt verbindet, sodass jede Parallele zur Achse O y diese Kurve in höchstens einem Punkt treffen kann, so ist die Ordinate des Punktes der Kurve eine Funktion der Abszisse. Übrigens kann der Bogen der Kurve AC B aus mehreren verschiedenen Teilen, die zu verschiedenen Kurven gehören, zusammengesetzt sein, wie etwa Teile der Geraden, Kreisbögen usw. Kurz, man kann ein vollkommen willkürliches Gesetz geben, um den Wert von y aus dem Wert von x abzuleiten. Das Wort Funktion in seiner weitestmöglichen Auslegung bedeutet nichts anders als dies: Einem Wert von x entspricht ein Wert von y.
Une fonction peut aussi être définie graphiquement. Étant donnés, dans un plan, deux axes de coordonnées Ox, O y, si l’on joint deux points A et B de ce plan par un arc de courbe AC B de forme arbitraire, tel qu’une parallèle à l’axe O y ne puisse rencontrer cet arc de courbe en plus d’un point, l’ordonnée d’un point de cette courbe sera une fonction de l’abscisse. Cet arc de courbe AC B peut d’ailleurs se composer de plusieurs portions distinctes appartenant à des courbes différentes, telles que des portions de droite, des arcs de cercle, etc. Bref, on pourrait se donner une loi absolument arbitraire pour déduire la valeur de y de celle de x. Le mot de fonction, pris dans son acception la plus large, ne signifie pas autre chose que ceci: à une valeur de x correspond une valeur de y. (Goursat 5 1943, S. 2 f.)
G OURSAT vermischt hier munter die Bestimmung dessen, was eine „Funktion“ sei, mit der, wodurch eine „Funktion“ beschrieben werde. Das Was der „Funktion“ bestimmt G OURSAT als die „Veränderliche“ (oder als „veränderliche Größe“). Freilich sagt er nicht, was das denn sei: eine „Veränderliche“ (eine „veränderliche Größe“). Somit bleibt „Veränderliche“ ein bloßer Name für ein Etwas, das entweder allbekannt oder unbestimmbar ist. Anders gesagt: G OURSAT bleibt die Bestimmung schuldig, was die „Funktion“ sei. G OURSATs Funktionsbestimmung ist sehr derjenigen von C AUCHY ähnlich – wo- S. 306 bei Letztere deutlich präziser ist (und C AUCHY sich auch, anders als G OURSAT, zur S. 301, 303 Bestimmung der Begriffe „Größe“ und „Veränderliche“ geäußert hat). G OURSAT macht nochmals deutlich, dass die Bestimmung der „Funktion“ als „Veränderliche“ den Vorzug hat, nicht nur ‚Wert-zu-Wert‘-Bestimmungen zu umfassen, sondern auch ‚Abszisse-zu-Ordinate‘-Bestimmungen. Also der Status, der bei D IRICHLET erreicht war. S. 364 f. Am Schluss seiner Darlegung verwirft G OURSAT allerdings seine erste Funktionsbestimmung, denn er erklärt „Funktion“ nun doch als reine ‚Wert-zu-Wert‘Bestimmung. (Vermutlich meint er es nicht so: dass er seine erste Bestimmung verwerfe; doch wenn man seinen Text ernst nimmt, dann tut er genau das.) Bemerkenswert vielleicht noch seine Formulierung „vollkommen willkürliches Gesetz“. Also noch im Jahr 1902 besteht G OURSAT darauf, dass eine „Funktion“ bestimmt sein: ein „Gesetz“ sein muss; wenn auch ein „vollkommen willkürliches“.
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7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff
D E R O F F I Z I E L L E E N T W I C K LU N G S S TA N D D E S FUNKTIONSBEGRIFFS AM 10. AUGUST 1899 Mit der Wende zum 20. Jahrhundert erschienen die ersten Lieferungen des Großunternehmens Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften. Dieses Gemeinschaftswerk der Mathematiker in Deutschland beanspruchte quasi-offiziell, den aktuellen Stand der Mathematik darzustellen. Die „Einleitung“ dazu stammt von WALTHER VON DYCK (1856–1934) und enthält die folgende Zielbestimmung des Werkes: „Aufgabe der Encyklopädie soll es sein, in knapper, zu rascher Orientierung geeigneter Form, aber mit möglichster Vollständigkeit eine Gesamtdarstellung der mathematischen Wissenschaften nach ihrem gegenwärtigen Inhalt an gesicherten Resultaten zu geben und zugleich durch sorgfältige Literaturangaben die geschichtliche Entwicklung der mathematischen Methoden seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts nachzuweisen. Sie soll sich dabei nicht auf die sogenannte reine Mathematik beschränken, sondern auch die Anwendungen auf Mechanik und Physik, Astronomie und Geodäsie, die verschiedenen Zweige der Technik und andere Gebiete mit berücksichtigen und dadurch ein Gesamtbild der Stellung geben, die die Mathematik innerhalb der heutigen Kultur einnimmt.“ (von Dyck 1904, S. IX) S. 609
Ein großer Teil dieses Werkes wurde alsbald ins Französische übersetzt. Darauf wird bald zurückzukommen sein. Veränderliche Den Beitrag „Grundlagen der allgemeinen Funktionenlehre“ hat A LFRED P RINGS HEIM (1850–1942) als ersten Artikel in Band 2 des Werks mit dem Titel „Analysis“ verfasst. Das „Heft 1“ dieses zweiten Bandes trägt das Auslieferungsdatum 10. August 1899. Nach einer geschichtlichen Einleitung und einigen Erläuterungen gibt P RINGS HEIM folgende beiden Definitionen (verbunden mit der Anmerkung, sie „dürften im Wesentlichen aus W EIERSTRASS’ Vorlesungen in die Literatur übergegangen sein“): „Reelle Veränderliche. Unter einer reellen Veränderlichen (Variablen) versteht man ein Zeichen, gewöhnlich einen der letzten Buchstaben des Alphabetes, dem sukzessive verschiedene Zahlenwerte (z. B. alle möglichen zwischen zwei bestimmten, alle rationalen, alle ganzzahligen) beigelegt werden. Die Gesamtmenge der Letzteren, welche endlich, abzählbar-unendlich oder von der Mächtigkeit des Linearkontinuums sein kann, wird der Bereich der Veränderlichen genannt und mag, wenn diese selbst x heißt, mit (x) bezeichnet werden.“ (Pringsheim 1899, S. 8)
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Der offizielle Entwicklungsstand des Funktionsbegriffs am 10. August 1899 Und weiter heißt es: „Da mit Annahme des C ANTOR-D EDEKIND’schen Axioms das Gebiet der reellen Zahlen ein-eindeutig den Punkten einer Geraden zugeordnet werden kann, so erscheint eine gewisse lineare Punktmenge als geometrisches Abbild eines solchen Bereiches. Die Bezeichnungen Punkt oder Stelle x werden infolgedessen als synonym mit Zahlenwert x gebraucht, und zur Charakterisierung der möglichen Gestalten eines Bereiches bedient man sich mit Vorteil der in der C ANTOR’schen Mengenlehre geschaffenen Terminologie.“ (Pringsheim 1899, S. 8) Bisher haben wir die Rede vom „Zeichen“ – bei H EINE – und die von der „Menge“ – bei C ANTOR und D EDEKIND – als eine Alternative verstanden. Hier nun findet S. 474 sich beides vereint nebeneinander. Da gibt es manches Bedenkliche. (1) Der mathematische Gegenstand (Begriff) „Veränderliche“ ist als „Zeichen“ bestimmt – als ein „Zeichen“, das „Zahlenwerte“ bestimmt. Diese Vorgehensweise hatte schon F REGE aufs Heftigste kritisiert. S. 472 (2) Was „Zahlenwerte“ – oder „Zahlen“ – seien, wird in diesem Text nicht behandelt, und auch in keinem anderen Beitrag dieses ersten Bandes Analysis der Encyklopädie. Demzufolge gehört diese Frage nicht zur Analysis! (In Band 1 der Encyklopädie mit dem Titel „Arithmetik und Algebra“ hat P RINGSHEIM den Beitrag „Irrationalzahlen und Konvergenz unendlicher Prozesse“ verfasst.) Wäre dies zutreffend, so wäre die Analysis durch diese P RINGSHEIM’sche Bestimmung als eine Zeichenlehre deklariert. Somit wäre das zur Herrschaft gelangt, was H EINE als den „rein formalen Standpunkt“ bezeichnet hat und das alsbald von F REGE scharf S. 465 angegriffen worden war. (3) So gänzlich aber soll der Zahlbegriff der Analysis nicht außen vor bleiben: Immerhin nennt P RINGSHEIM nebenbei die Gesamtheit aller Zahlen eine „Menge“; und von dieser „Menge“ heißt es gleich, sie sei von der „Mächtigkeit“ des „Linearkontinuums“. (4) Dann wird der Mengenbegriff noch als ein „geometrisches Abbild“ der „Veränderlichen“ herangezogen. Wobei diese „Abbildung“ des arithmetischen auf den geometrischen Bereich unversehens sogar zur Identität gerät, denn es werden die „Punkte“ sogar als mit dem „Zahlenwert“ „synonym“ bezeichnet! Wir sehen: Die Mengenlehre ist für den Analytiker P RINGSHEIM im Jahr 1899 durchaus attraktiv – doch ist sie bislang kein von ihm (bzw. von der Redaktion der Encyklopädie) in den Grundlagen der Analysis akzeptiertes begriffliches Instrumentarium. Sie ist vielmehr ein außerhalb der Analysis liegender Bereich, welcher der „Geometrie“ zuzuordnen sei.434 (5) P RINGSHEIM konstituiert die Analysis im Jahr 1899 als eine Zeichenlehre. Die Berufung auf W EIERSTRASS als Urheber dafür ist, wie wir in unserem Kapitel 5 lesen konnten, sicher unzutreffend. 434
Der Artikel „Mengenlehre“ für die Encyklopädie wurde von A RTHUR M ORITZ S CHÖNFLIES (1853– 1928) verfasst. Er ist 23 Seiten lang und in Band 1 der Encyklopädie enthalten. Dieser Band erschien in mehreren Lieferungen in den Jahren 1898–1904.
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7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff (6) Merken wir noch an, dass das Wort „sukzessive“ („sukzessive Beilegung der Zahlenwerte“) in der französischen Übersetzung entfallen wird.t Funktion Nach etlichen Windungen über eine halbe Druckseite, begleitet von Anmerkungen über mehr als eine halbe Druckseite, gelangt P RINGSHEIM „etwa zu folgender Definition“: „y heißt eine im Bereiche (x) eindeutige Funktion von x, wenn für jeden einzelnen zu (x) gehörigen Wert x ein bestimmter Wert y arithmetisch definiert ist∗ . Man nennt sodann x die unabhängige Veränderliche oder das Argument der Funktion y = f (x), welche auch als abhängige Veränderliche bezeichnet wird.“ (Pringsheim 1899, S. 11) Auch dies verdient einige Kommentare. S. 281, (1) Merken wir zuerst wieder die offenbar nicht ausrottbare Schlamperei an, y Punkt 1 als eine „Funktion“ und zwei Zeilen danach als einen „Wert“ zu bezeichnen, um zwei weitere Zeilen danach wieder zur Bedeutung „Funktion“ für y zurückzukehren. (2) Während das „x“ als ein „Zeichen“ (für einen „Zahlwert“) bestimmt war, ist das „y“ hier der (Funktions-)Wert selbst, nicht mehr dessen „Zeichen“? (Freilich ist in dieser Definition auch das „x“ ein „Wert“ – entgegen der vorher gegebenen Festlegung, ein „Zeichen“ zu sein!) (3) Die Ein- bzw. Mehrdeutigkeit einer „Funktion“ ist offenbar eine schwierige Sache: (i) Definiert wird (zunächst) die „eindeutige Funktion“. (ii) Dann wird in der Anmerkung gleich gesagt, es gebe auch „mehrdeutige Funktionen“ – jedoch ohne, dass dieser Begriff bestimmt wird. Offenbar soll es der Leserschaft klar sein, was damit gemeint sei. – Aber ist es das? Ist eine „mehrdeutige Funktion“ eine, die für nur einen „Wert“ (von) x mehr als einen „Wert“ y hat (wie auch immer dieser „arithmetisch“ bestimmt sei)? Oder liegt eine „mehrdeutige Funktion“ erst dann vor, wenn sie für (fast?) jeden „Wert“ (von) x mehrere „Werte“ y hat? P RINGSHEIM sagt dazu nichts. (iii) Ergebnis: Was eine „mehrdeutige Funktion“ sei, sagt der Text nicht explizit. (iv) Schließlich wird der Begriff „Funktion“, der nach klassischer Begriffslehre natürlich der gemeinsame Oberbegriff von „eindeutige Funktion“ und „mehrdeutige Funktion“ sein sollte, als einer seiner erwarteten Unterbegriffe festgelegt: „Funktion“ soll „im Folgenden“ soviel wie „eindeutige Funktion“ heißen. Für einen quasi-offiziellen Text der Fachgemeinschaft der Mathematiker ist dies eine beachtlich unscharfe Bestimmung des in der Analysis seit E ULER als maßgeblich betrachteten Grundbegriffs „Funktion“! ∗
Entsprechend für mehrdeutige Funktionen. – Im Folgenden soll unter Funktion schlechthin immer eine eindeutige Funktion in dem oben angegebenen Sinne verstanden werden.
t
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Der offizielle Entwicklungsstand des Funktionsbegriffs am 10. August 1899 (4) Die Mengenbezeichnung „(x)“ hat P RINGSHEIM offenbar der französischen Tradition entlehnt, er hat also nicht den C ANTOR’schen Vorschlag „{m}“ aufge- S. 603, 138 nommen. (5) Den Begriff „arithmetische Definition“ hat P RINGSHEIM zuvor wie folgt bestimmt: als „eine geeignete Rechenvorschrift∗ im weitesten Sinne“u . Und er fügt sogleich hinzu: „Die Letztere kann übrigens für verschiedene Intervalle oder Zahlklassen von (x) verschieden sein, sogar aus einer abzählbar-unendlichen Menge von Einzelvorschriften bestehen† .“ (Pringsheim 1899, S. 10) Wie liberalisiert auch immer – an einer „arithmetischen“ Definition des „Funktionswerts“ hält P RINGSHEIM fest. Von einer „beliebigen“ ‚Wert-zu-Wert‘-Bestimmung ist bei ihm ausdrücklich nicht die Rede. Der Sache nach ist dies weniger allgemein als B OLZANOs Funktionsbegriff!
S. 288
Funktion – die französische Fassung im Jahr 1909 Die französische Übersetzung dieses Bandes der Encyklopädie erschien im Jahr 1909 unter der Herausgeberschaft von J ULES M OLK (1857–1914). Dort wurde die Bestimmung des Funktionsbegriffs abgeändert:435 Nach dem Vorstehenden ergibt sich, wenn man mit G. L EJEUNE D IRICHLET sagt: Eine (reelle) Veränderliche y ist in einem Bereich (x) eine eindeutige (reelle) Funktion einer (reellen) Veränderlichen x, wenn jedem Wert von x aus dem
„De tout ce qui précède il résulte que quand on dit, avec G. L EJEUNE D IRI CHLET , qu’une variable (réelle) y est une fonction univoque (réelle) d’une variable (réelle) x, dans un domaine (x), lorsqu’à chaque valeur de x, faisant
∗
Die Rechenvorschrift muss so beschaffen sein, dass f (x) für einen irrationalen Wert x = a nicht von der speziellen Wahl der zur Definition von a benützten Zahlenfolge (a n ) abhängt: E. H EINE, Journal für die reine und angewandte Mathematik 74 (1872), p. 180 [oben, S. 582]. † Setzt man z. B. fest, dass für
1=x >
1 , 2
y =x,
1 1 =x> 2 3 x y= , 2
... ...
1 1 =x> n n +1 x y= n
...
x = 0,
...
y = 0,
(wo n jede natürliche Zahl bedeutet), so ist durch diese abzählbare Vorschriftenmenge y für jeden Wert des Intervalls 0 5 x 5 1 eindeutig definiert. – Eine ausführliche Untersuchung der bezüglich der Definition von y bestehenden Möglichkeiten hat neuerdings T. B RODÉN angestellt: Acta Lund. 8 (1897), p. 1–7. u
435
Pringsheim 1899, S. 10 „M OLK hatte als Ziel der Encyclopédie angegeben, eine möglichst verbesserte Redaktion der deutschen Ausgabe zu bringen.“ (Eneström 1914, S. 337, Anmerkung 3)
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7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff Bereich (x) ein bestimmter Wert von y entspricht – dass man nicht davon befreit ist∗ , anzunehmen, dass dieser bestimmte Wert von y, sei es direkt oder indirekt, mit Hilfe des entsprechenden Wertes von x durch irgendein Rechenverfahren† definiert wird; übrigens begrenzt nichts die Art, sich vorzustellen, wie der Wert von y sich mittels des Wertes von x berechnet.‡
partie du domaine (x), correspond une valeur déterminée de y, on ne peut pas se dispenser∗ de supposer que cette valeur déterminée de y est, que ce soit directement ou indirectement, définie à l’aide de la valeur correspondante de x par quelque procédé de calcul† ; rien ne limite d’ailleurs la façon dont on peut s’imaginer que la valeur de y se calcule au moyen de celle de x ‡ .
Die Abhängigkeit zwischen der Verän- On indique la dépendance de la variaderlichen x und der Funktion y zeigt ble x et de la fonction y en écrivant man an durch y = f (x) . Man nennt oft x das Argument der Funktion y. Wenn man die Veränderliche x nicht als Funktion einer anderen Veränderlichen betrachtet, nennt man x unabhängig Veränderliche.
∗
†
‡
On dit souvent que x est l’argument de la fonction y. Lorsqu’on n’envisage pas la variable x comme fonction d’une autre variable on dit que x est une variable indépendante.“ (Pringsheim und Molk 1909, S. 22)
Die gegenteilige Meinung vertritt P HILIP E D WARD B ERTRAND J OURDAIN (1879–1919), Journal für die reine und angewandte Mathematik 128 (1905), Anmerkung auf S. 185.
L’opinion contraire est énoncée par P H . E. P. [sic] J OURDAIN, Journal für die reine und angewandte Mathematik 128 (1905), p. 185 en note.
Diese Definition lässt sich unmittelbar auf Funktionen mehrerer Veränderlicher übertragen. Wenn wir im Folgenden von Funktion (ohne Beiwort) sprechen, handelt es sich stets um eindeutige Funktionen im Sinne des eben Bestimmten.
Cette définition s’étend immédiatement aux fonctions de plusieurs variables. Dans ce qui suit, quand on parlera de fonctions (sans épithète) il s’agira toujours de fonctions univoques au sens que l’on vient de fixer.
Sie muss jedenfalls so beschaffen sein, dass der Wert von y, der einem irrationalen Wert a von x entspricht, nicht von jener Folge rationaler Zahlen
Elle doit toutefois être telle que la valeur de y correspondant à une valeur irrationelle a de x ne dépende pas de celle des suites de nombres rationelles
a1 ,
a2 ,
... ,
abhängt, die man zur Definition der irrationalen Zahl a gewählt hat 〈vgl. H. E. H EINE, Journal für die reine und angewandte Mathematik 74 (1872), S. 180 [oben S. 582]; siehe dort auch die Anmerkung auf S. 181〉.
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an ,
...
que l’on choisit pour définir le nombre irrationel a 〈cf. H. E. H EINE, Journal für die reine und angewandte Mathematik 74 (1872), p. 180; voir aussi p. 181 en note〉.
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Klein: Mathematik als Theorie der Naturerscheinungen Diese das Original korrigierende Übertragung durch M OLK kann man als sachlich gelungen betrachten. Sie übergeht die Rede von „Zeichen“ für den „Zahlwert“ (den sie zuvor bei der getreuen Übersetzung der Definition der „Veränderlichen“ gleichwohl hat) und bestimmt „Funktion“ als (eindeutige) ‚Wert-zu-Wert‘-Bestimmung, wie sie R IEMANN (und nicht D IRICHLET!) gab, dabei den Begriff „Bereich“ S. 370 (im Allgemeinen gleichbedeutend mit „Menge“) verwendend. Allerdings lässt auch sie die Frage: „Was ist eine Funktion?“ unbeantwortet. Denn die ‚Wert-zu-Wert‘-Bestimmung beschreibt nur, was eine „Funktion“ „tut“ (welcher Bedingung eine Bestimmung einer „Funktion“ genügen muss), nicht aber, was sie ist – es sei denn, man ist bereit, eine rein ‚relationale‘ Bestimmung als zulässig zu akzeptieren. Das aber haben die Mathematiker 1899/1909 noch nicht zur Sprache gebracht. Die Nennung des Begriffs „Bereich“ („Menge“) bleibt beiläufig und auf den „Definitionsbereich“ beschränkt; vom „Wertebereich“ ist nicht die Rede. K L E I N : M AT H E M AT I K A L S T H E O R I E D E R N AT U R E R S C H E I N U N G E N F ELIX K LEIN (1849–1925)436 genießt als Mathematiker wie als Mathematikhistoriker und als Wissenschaftspolitiker hohes Ansehen (und hat übrigens auch Wesentliches zu dem Projekt der Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften beigetragen). Seine im Sommersemester 1901 in Göttingen gehaltene Vorlesung Anwendungen der Differential- und Integralrechnung auf Geometrie – eine Revision der Prinzipienv erschien in der autographierten437 Ausarbeitung von C ONRAD M ÜLLER im Jahr 1902 und in neuem Abdruck 1907. Die Formulierung „eine Revision der Prinzipien“ zeigt, dass es dem Vortragenden bei dieser Vorlesung um eine bewusste Abkehr vom Üblichen geht. Daher werden wir sie uns näher ansehen. Vorwarnung Es ist jedoch eine Warnung auszusprechen: Bei diesem Text handelt es sich weder um eine Monographie noch um ein ausgearbeitetes Lehrbuch, sondern eher um die Mitschrift einer Vortragsreihe. Dies äußert sich schon darin, dass die Hörer-/Leserschaft im Text gelegentlich direkt angesprochen wird. Der Text hat etwa den Charakter von Lernmaterial, zumindest stellenweise. Genaues Lesen zeigt: Manche Passagen darin stehen in direktem Widerspruch zueinander! Ob dies nun pädagogische Absicht oder einer unzulänglichen Konzeption dieser Vorlesung geschuldet ist, müssten K LEIN-Spezialistinnen oder -Spezialisten beantworten. Jev
436 437
Klein 1902 neuerdings Thiele 2011 Es war K LEINs Initiative, dass Ausarbeitungen seiner Vorlesungen zunächst in dem von ihm in Göttingen für Studierende eingerichteten mathematischen Lesezimmer ausgelegt, später in autographierter Form – und also zu einem günstigeren Erwerbspreis – publiziert wurden.
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7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff
S. 614 ab S. 597
denfalls dürfen nicht sämtliche Formulierungen dieses Textes auf die mathematische Goldwaage der exakten Formulierung gelegt werden, will man nicht den Gesamttext als in sich widersprüchlich bewerten müssen. Bei der Erörterung von K LEINs Zahlbegriff wird darauf zurückzukommen sein. Der begrifflichen Präzision eines Cours d’analyse von C AMILLE J ORDAN, wie er zeitgleich gelesen wurde, kann K LEINs Text jedenfalls das Wasser nicht reichen. Doch zunächst zur Grundanlage dieses Textes! MATHEMATIK VOM ERKENNTNISTHEORETISCHEN STANDPUNKT AUS Die Einleitung dieser K LEIN’schen Vorlesung beginnt wie folgt: „Durch die neuzeitliche mathematische Literatur geht ein tiefgreifender Zwiespalt, der Ihnen allen entgegengetreten sein muss: die Interessen und Gedankengänge der Theoretiker sind von denjenigen Methoden, deren man sich bei den Anwendungen tatsächlich bedient, außerordentlich verschieden. Hierunter leidet nicht nur die wissenschaftliche Ausbildung der Einzelnen, sondern die Geltung der Wissenschaft selbst. Es erscheint außerordentlich wichtig, den hieraus entstehenden Missständen entgegenzuarbeiten. Die Vorlesung, die ich hier beginne, will einen Beitrag liefern, indem sie darauf ausgeht, die verschiedenen Arten mathematischer Fragestellung, wie sie hier und dort naturgemäß sind, sozusagen vom erkenntnistheoretischen Standpunkt aus, gegeneinander in klare Beziehung zu setzen. Sie sollen nach der einen Seite die Interessen der modernen Theoretiker verstehen lernen, und nach der andern Seite aber ein Urteil darüber gewinnen, welche Teile der mathematischen Spekulation für die Anwendungen unmittelbare Bedeutung haben.“ (Klein 1902, S. 1 f.) Ein Mathematiker (ein sehr angesehener sogar), der mit seiner Analysisvorlesung einen philosophischen, wenigstens einen erkenntnistheoretischen Anspruch formuliert! Das ist jedenfalls im Jahr 1901 eine Besonderheit.438 Besonders auffällig ist hier K LEINs Rede von der „Naturgemäßheit“ mathematischer Fragestellungen sowie die Titulierung der modernen mathematischen Theorie als „Spekulationen“. Zu dem von K LEIN hier Benannten können wir sagen: Dieser „Zwiespalt“ zwischen den „Gedankengängen der Theoretiker“ und den „Methoden“ der Praktiker 438
Nachdem sich im 20. Jahrhundert in der Analysis verschiedene Sonderrichtungen – oft „Schulen“ genannt – etablierten, wurde ein solcher philosophischer Grundansatz zumindest dort üblich. Noch heute findet sich dergleichen, etwa im „Intuitionismus“ oder in der „Constructive Analysis“.
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Klein: Mathematik als Theorie der Naturerscheinungen hat sich bis auf den heutigen Tag erhalten. Es dürfte sich dabei um eine Dauererscheinung der Mathematik in einem Zeitalter ihrer Bestimmung durch die Erfordernisse der technischen Zivilisation handeln. Der Gegensatz von Ideal und Empirie (1): Das Beispiel des Zahlbegriffs K LEIN präzisiert den die Mathematik betreffenden Aspekt dieses Gegensatzes im Jahre 1901 wie folgt: „Bedient man sich beim Messen der heutzutage erreichbaren äußersten Präzision, so kann man beim Messen von 1 m die Genauigkeit bis auf 1 µ (µ = 1/1000 m/m) steigern. Wollte man noch weiter gehen, so droht die Lichtwirkung in den verschärften Mikroskopen (wegen Auftretens der Beugung) zu versagen, sowie auch die Molekularstruktur der Materie in ihre Rechte einzutreten (da die Molekulardistanzen 1/50 µ sind), sodass also die physikalischen Gesetze, denen Licht und Materie unterworfen sind, eine größere Genauigkeit beim Messen zu verbieten scheinen. In Metern ausgedrückt ist 1/10 µ = 0, 000 000 1, sodass also die Längenangaben in Metern im günstigsten Falle bis zur siebten Dezimalen zuverlässig sind. Ähnlich liegen die Verhältnisse beim Zeichnen und Messen durch Augenmaß, nur dass hier der Schwellenwert, d. h. der Wert, jenseits dessen sich die Beobachtung nicht mehr ausdehnen lässt, natürlich viel höher liegt. [. . . ] In allen diesen praktischen Gebieten gibt es einen Schwellenwert der Genauigkeit. [. . . ] Vergleichen Sie nun mit diesen empirischen Verfahrungsweisen zur Festlegung der Zahl x ihre arithmetische Definition, wie dieselbe zurzeit in den Lehrbüchern gegeben wird, so bemerken Sie, dass bei Letzterer die Genauigkeit unbegrenzt ist. Wir verständigen uns zunächst über diese arithmetische Definition einer Zahl x, kurz gesagt, über den modernen Zahlbegriff. Um nicht zu weit ausholen zu müssen, werden wir sagen, dass wir ˜ eine Zahl als durch einen Dezimalbruch definiert ansehen, dabei aber auch noch einen unendlichen Dezimalbruch als Definition einer bestimmten Zahl gelten lassen. Wird nun auch umgekehrt jede Zahl durch einen bestimmten Dezimalbruch vorgestellt? Hier ist zunächst eine allgemeine Verabredung zu betonen, die man hinsichtlich der beiden Dezimalbrüche: 1, 000 000 . . .
(7.2)
0, 999 999 . . .
trifft. Man setzt nämlich fest, dass beide dieselbe Zahl vorstellen sollen.
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7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff Dies ist an sich eine willkürliche Festsetzung, bei der daher nichts zu beweisen ist; wohl aber kann man nach dem Prinzip dieser Festsetzung fragen.“ (Klein 1902, S. 6–9) Diese in mehrfacher Hinsicht erstaunlichen Formulierungen bedürfen der Erörterung.
Klein zum Begriff der Zahl
S. 557
S. 5
S. 623
Halten wir als Erstes fest: K LEIN definiert „Zahl“ hier als „Dezimalzahl“. Ist das ein dem Entwicklungsstand der Analysis des Jahres 1901 angemessener Zahlbegriff? Gewiss nicht: Die im Jahr 1872 durch C ANTOR/H EINE bzw. durch D EDEKIND erfolgte Neubestimmung des Begriffs „Irrationalzahl“ wird an dieser Stelle von K LEIN ignoriert, ebenso der 1891 von H USSERL erreichte Erkenntnisstand – der zwischen „Zahl“ und „Zahldarstellung“ (z. B. der dezimalen) strikt unterscheidet. „Zahl“ als „Dezimalzahl“: das ist der Entwicklungsstand des Zahlbegriffs von, sagen wir, 1585, dem Erscheinungsjahr von S IMON S TEVINs De Thiende. Und in der Tat belässt es K LEIN auch nicht dabei: (a) Auf S. 10 kommt er auf die „irrationalen“ Zahlen zu sprechen. Er erläutert sie dort jedoch nicht, sondern empfiehlt stattdessen – nicht D EDEKIND, sondern J ULES TANNERYs Buch Introduction à la théorie des fonctions d’une variable von 1886.439 Außerdem verweist er auf P RINGSHEIMs Beitrag „Irrationalzahlen und Konvergenz unendlicher Prozesse“ in der Encyclopädie.w In welchem Verhältnis nun die „Dezimalzahlen“ zu den in dieser Weise angesprochenen „irrationalen“ Zahlen stehen, lässt K LEIN in seiner Vorlesung offen (womöglich weil er sich auf TANNERYs Buch bezogen hatte und damit diesem das Problem zuschieben konnte). (b) Auf S. 25 formuliert K LEIN zwei wichtige Lehrsätze über „Punktmengen“. Beide Lehrsätze beweist er mittels Intervallschachtelungen, wobei stets Zehnteilungen des Intervalls vorgenommen werden, eben wegen des zugrundegelegten Zahlbegriffs „Dezimalzahl“.x Inmitten des ersten Beweises führt K LEIN plötzlich D EDEKINDs Schrift Stetigkeit und irrationale Zahlen an und daraus den Begriff des „Schnitts“.y Sofort jedoch schränkt K LEIN ein: „Diese Idee des D EDEKIND’schen Schnittes kommt allerdings hier bei uns nicht in ihrer rein abstrakten Formulierung zur Geltung, da wir – hierin von D EDEKIND abweichend – der Einfachheit halber die Defini˜ tion der Zahl an ihre Darstellung durch einen Dezimalbruch anschlossen.“ (Klein 1902, S. 29 f.) w
439
Vgl. Klein 1902, S. 10 f.
x
Vgl. Klein 1902, S. 26–32.
y
Klein 1902, S. 29
Siehe S. 601; – wohl deswegen, weil TANNERY dort so zügig aus der „Schnitt“-Definition der „irrationalen“ Zahl deren Darstellung als „Dezimalzahl“ herleitet: siehe S. 602.
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Klein: Mathematik als Theorie der Naturerscheinungen K LEIN ersetzt hier also ausdrücklich die „Definition“ der Zahl durch ihre „Darstellung“! (c) Bei seinem Beweis des zweiten eben erwähnten Satzes gelangt K LEIN wie- S. 623 derum zu einer Intervallschachtelung. Daraufhin beschließt er diesen Beweis mit folgender Wendung: „Sie sehen, wie wir zu immer kleineren Intervallen kommen und schließlich ein Intervall x 0 erhalten, dessen Grenzen sich beliebig wenig voneinander unterscheiden. Dieses Intervall nennen wir die Zahl ˜ x 0 und der zugehörige Punkt x 0 heißt dann ein Verdichtungspunkt. Sie bemerken also auch hier: Die Existenz eines Verdichtungspunktes x 0 wird in der Weise gezeigt, dass man das x 0 durch einen nach bestimmten Regeln verlaufenden Prozess als Dezimalbruch gewinnt, womit wir ˜ auf unsere Grund DEFINITION der Zahl als einen in allen seinen Stellen bestimmten Dezimalbruch zurückfallen.“ (Klein 1902, S. 31 f.) (c–i) K LEIN nennt hier ein „Intervall“ eine „Zahl“, und er unterscheidet dieses „Intervall“ (und also: diese „Zahl“) von dem „Verdichtungspunkt“ der Intervallschachtelung. Leider bezeichnet er das soeben Unterschiedene – „Intervall“ und „Punkt“ – dann doch in gleicher Weise: durch „x 0 “. Das ist nicht schön. (Möglicherweise erklärt sich diese wenig schöne Vorgehensweise durch die zuvor erklärte, aber an dieser Stelle überdeckte Unterscheidung zwischen dem „empirischen“ und dem „theoretischen“ Zahlbegriff.) (c–ii) Während K LEIN direkt zuvor den Dezimalbruch als „Darstellung“ der Zahl bezeichnet hat, nennt er ihn hier eine „Definition“ der Zahl. Ja, was denn nun? Sind eine Sache und deren Darstellung dasselbe? Doch allenfalls dann, wenn die Sache ein Zeichen ist! (d) Der Sache nach (wenn auch keineswegs ihrer Formulierung nach, da war B OLZANO genauer) sind diese Beweise durch Intervallschachtelung der Erkenntnisstand, den B OLZANO im Jahr 1817 formuliert hat. Die im Jahr 1901 knapp dreißig Jahre alte Neufassung des Zahlbegriffs durch D EDEKIND (bzw. TANNERY) wird von K LEIN zwar angesprochen, aber nicht genutzt. Eine pädagogische Erklärung liegt nahe: F ELIX K LEIN hält eine Vorlesung; er schreibt kein Lehrbuch! Die Hörer sollen an die Analysis herangeführt, nicht jedoch mit den letzten Forschungsergebnissen der „Präzisionsmathematik“ (zu diesem Begriff gleich) überfallen werden.
Klein zur Konvergenz
Äußerst irritierend (um es sehr milde zu sagen) sind K LEINs auf S. 613 bei 7.2 wiedergegebene Äußerungen zur Konvergenz. K LEIN sagt dort nichts weniger als: Die Gleichung 1 = 0, 9 . . . sei unbeweisbar (nämlich eine „Verabredung“).
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S. 616; 618
S. 284; 294
7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff
S. 248 nach Gl. 3.7
Selbstverständlich ist K LEIN die Summenformel der geometrischen Reihe 1 + q + q2 + q3 + ... =
1 . 1−q
bekannt. Im vorliegenden Fall ergibt diese Formel: µ ¶ 1 1 9 1 9 1 0, 9 + 0, 09 + 0, 009 + . . . = 0, 9 · 1 + + +... = · = · =1 1 9 10 100 10 1 − 10 10 /10 und also eine strenge Gleichheit. Was kann also K LEINs eben zitierte Aussage anderes bedeuten als: Er stellt die Summenformel für die geometrische Reihe als nicht a priori überzeugend dar, sondern erklärt sie als eine „Festsetzung“, eine Konvention?! Es wäre interessant, die Gründe dafür zu erfahren! Meines Erachtens müssen pädagogische Gründe an dieser Stelle als Erklärung ausscheiden, da eine mathematische Vorlesung zur Differenzial- und Integralrechnung (und sei es nur deren Anwendung) für Mathematikstudierende im Jahr 1901 am Konvergenzbegriff nicht vorbeigehen kann und ihn selbstverständlich von Anfang an korrekt erörtern muss. Das am Ende des vorletzten Abschnitts auf S. 614 abgebrochene Zitat hat sogar folgende erstaunliche Fortsetzung: „Subtrahiert man die beiden Dezimalbrüche, so ergibt sich 0, 000 000 . . . mit einer 1, die stets weiter nach rechts rückt, je mehr Stellen man bei der Rechnung nimmt; diese Differenz wird also im Limes kleiner als jede noch so kleine vorgegebene Zahl. Man mache nun ausdrücklich folgende Verabredung, die K. W EIER STRASS in seinen Vorlesungen stets als solche hervorhob: ˜ Zwei Zahlen sollen GLEICH heißen, wenn sie sich von einander um weniger als eine noch so kleine vorgegebene Größe unterscheiden. Dann folgt in der Tat 1, 000 000 . . . = 0, 999 999 . . . und überhaupt werden wir für einen endlichen Dezimalbruch sagen dürfen: Jeder endliche Dezimalbruch kann so abgeändert werden, dass man die letzte Ziffer um eine Einheit vermindert und dann lauter Neunen folgen lässt. Dies ist aber die einzige Unbestimmtheit, auf die wir stoßen. Also: Jeder endliche oder unendliche Dezimalbruch liefert eine Zahl und jede Zahl, von dem gerade erwähnten Ausnahmefall abgesehen, nur einen Dezimalbruch.“ (Klein 1902, S. 9 f.) K LEIN wiederholt hier seine Formulierung, die Gleichheit 1 = 0, 9 . . . werde „festgesetzt“ bzw. „verabredet“ – was, wie gerade gezeigt, sachlich falsch ist. Dabei beruft er sich jetzt dafür auf die damals unzweifelhaft höchste Autorität in Sachen
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Klein: Mathematik als Theorie der Naturerscheinungen Analysis: auf den noch nicht lange verstorbenen W EIERSTRASS.440 Will K LEIN mathematische Geltung statt durch Beweis durch Anrufung von Autoritäten sichern? Das wäre eine äußerst anrüchige Vorgehensweise (die in diesem konkreten Fall auch nicht funktioniert: Für W EIERSTRASS war die fragliche Gleichung sicher keine „Verabredung“, sondern streng beweisbar). Ergo: K LEIN hat an dieser Stelle mathematischen Unsinn vorgetragen.441 Wie das möglich war, bedürfte einer Aufklärung. Der Gegensatz von Ideal und Empirie (2): Präzisions- und Approximationsmathematik K LEINs weitere Darlegungen gehen wieder auf den Zahlbegriff ein: „Und nun der Punkt, auf den es mir besonders hier ankommt: Ein solcher Dezimalbruch hat eine unbegrenzte Genauigkeit d. h. der Schwellenwert, von dem wir oben sprachen, sinkt hier in der abstrakten Arithmetik unter jede Grenze. Damit haben wir den fundamentalen Gegensatz zwischen Empirie und Idealisierung, den ich in diesem besonderen Falle so formuliere: Im idealen Gebiet der Arithmetik gibt es keinen endlichen Schwellenwert, wie im empirischen Gebiet, sondern die Genauigkeit, mit der die Zahlen definiert werden oder doch als definiert angesehen werden, ist unbegrenzt. Der hier im speziellen Falle zwischen der empirischen Festlegung einer Größe in der praktischen Geometrie und der genauen Definition in der abstrakten Arithmetik konstatierte Unterschied von begrenzter und unbegrenzter Genauigkeit findet sich nun immer wieder, wenn man irgendein Gebiet der äußeren Wahrnehmung oder der praktischen Betätigung mit der abstrakten Mathematik vergleicht. Er gilt für die Zeit, für alle mechanischen und physikalischen Größen und namentlich auch für das numerische Rechnen.“ (Klein 1902, S. 11. f.)
S. 613
Unter Bezugnahme auf H EINRICH B URKHARDT (1861–1914) und K ARL H EUN (1859–1929)z führt K LEIN nun eine Dualität ein, die sich dauerhaft mit seinem Namen verbunden hat: „Diese Unterscheidung zwischen absoluter und beschränkter Genauigkeit, die sich als roter Faden durch die ganze Vorlesung ziehen wird, bedingt nun eine große Zweiteilung der gesamten Mathematik. Wir unterscheiden: z 440 441
Vgl. Klein 1902, Vorwort, sowie Burkhardt 1902. Es sei an K LEINs Eloge von 1895 auf den verstorbenen W EIERSTRASS erinnert: S. 443. Dies ist natürlich keine Distanzierung von Spalt 1981, Anhang 3.
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7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff 1) Präzisionsmathematik (Rechnen mit absolut genauen Zahlen) 2) Approximationsmathematik (Rechnen mit Zahlen von begrenzter Genauigkeit). In dem Worte Approximationsmathematik soll keine Herabsetzung dieses Zweiges der Mathematik liegen, wie sie denn auch nicht eine approximative Mathematik, sondern die Mathematik der approximativen Beziehungen ist. Wir haben erst die ganze Wissenschaft, wenn wir die beiden Teile umfassen: Die Approximationsmathematik ist derjenige Teil unserer Wissenschaft, den man in den Anwendungen tatsächlich gebraucht; die Präzisionsmathematik ist sozusagen das feste Gerüst, an dem sich die Approximationsmathematik emporrankt.“ (Klein 1902, S. 12 f.) Bekanntlich hat sich diese Dualität und deren Beachtung nicht allgemein in der Mathematik etablieren können. Stattdessen betonte die weitere Entwicklung der Mathematik einseitig die von K LEIN hier so genannte „Präzisionsmathematik“. Die Tradition von D EDEKIND und H ILBERT gewann die Oberhand, und der Bezugsgegenstand der Mathematik wurde aus der Mathematik verbannt. Doch die Sache, der „Zwiespalt“ zwischen den „Gedankengängen der Theoretiker“ und „den Methoden, derer man sich bei den Anwendungen tatsächlich bedient“, blieb natürlich erhalten. Dafür etablierten sich in den letzten Jahrzehnten • im Wissenschaftsbetrieb vielerlei neue Disziplinen, beginnend mit „Wissenschaftliches Rechnen“ und „Finanzmathematik“, • im Fach Mathematik Gebiete wie „Fuzzy logic“ und „Fuzzy set theory“. Einer großen Zahl der von den Universitäten in die außeruniversitäre Praxis Entlassenen wird jedoch solches von K LEIN 1901 gefordertes Wissen noch im Jahr 2015 eher im Ausnahmefall mitgegeben. Beispiele für diesen Gegensatz von Ideal und Empirie: Analysis K LEIN packt nun den Stier bei den Hörnern – immer noch beim Zahlbegriff: „Ich illustriere zunächst diese Zweiteilung der Mathematik an dem Zahlenrechnen, bei dem der genannte Gegensatz nicht durch verwickelte psychologische Verhältnisse verdunkelt wird, sondern unmittelbar hervortritt. In der Präzisionsmathematik operieren wir mit genauen Zahlen, wie sie oben durch endliche oder unendliche Dezimalbrüche definiert wurden. Wie lässt sich nun in der Sprache der Präzisionsmathematik eine ungenaue Zahl x [442] , sagen wir x = 6, 437 528 4 . . . bis auf 7 Dezimalen bezeichnen?“ (Klein 1902, S. 13) 442
Der Sinn der Überstreichung erschließt sich aus späteren Passagen dieses Textes (S. 18, 33): Eine „ungenaue Zahl“ x ist eine „Strecke“ (siehe S. 620) bzw. ein „Intervall“ (siehe S. 625).
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Klein: Mathematik als Theorie der Naturerscheinungen Präzisions- und Approximationsmathematik sind demnach keineswegs gleichberechtigte oder symmetrische Gebiete. Vielmehr soll die Letztere nach den Maßstäben der Ersteren untersucht werden. Direkt ausgesprochen findet sich dies im dritten Satz des folgenden Zitats: „Die Mathematik hat bereits aus dem 18ten Jahrhundert das Funktionszeichen E als Abkürzung des französischen Wortes »entier«. E(x) ist die größte ganze Zahl, die in x enthalten ist. Mit Hilfe dieses Zeichens drückt sich obige Zahl offenbar als E(1 000 000 0 x) aus, sodass wir also beim Rechnen mit siebenstelligen 1 000 000 0 000 0 x) Dezimalen statt mit der genauen Zahl x mit der Zahl E(11 000 000 000 0 operieren.∗ Nehmen wir die Ideenbildungen der Präzisionsmathematik als Maßstab, so können wir hiernach sagen: Wir arbeiten bei dem approximativen d. h. dem wirklichen Zahlenrechnen gar nicht mit den abstrakten Zahlen x, sondern mit den den abstrakten Zahlen x zugehörigen E-Funktionen.“ (Klein 1902, S. 13 f.)
Daran schließen sich Überlegungen K LEINs zum „Unterschied von empirischer und abstrakter Geometrie“a an. Die brauchen uns hier nicht zu interessieren. Konsequenzen aus diesem Gegensatz: die postulierte Übereinstimmung von Geometrie und Analysis – der Begriff der Zahl aufs Neue Ein weiteres Mal greift K LEIN den Zahlbegriff auf: „Ich gehe nun zum Ausgangspunkt dieser ganzen Betrachtung zurück, wo wir davon sprachen, dass wir die Zahlen als Punkte einer Abszissenachse deuteten und hinzufügten, dass dieses praktisch nur mit beschränkter Genauigkeit geschehen kann. Wollen wir genaue Übereinstimmung haben, so kann dies nur durch ein Axiom geschehen. Wir postulieren, dass jede abstrakte Zahl x (genau im Sinne unserer obigen Definition[443]) einem und nur einem Punkte der Abszissenachse und ebenso jedem Punkt x eine und nur eine Zahl zugehören soll. Dieses Postulat ist die Grundlage für die analytische Geometrie, sofern wir dieser präzisionstheoretischen Charakter beilegen wollen, sagen wir kurz für die Präzisionsgeometrie.“ (Klein 1902, S. 17) (1) K LEIN referiert hier das Ergebnis von D EDEKINDs Analyse des Verhältnisses zwischen den „Punkten“ einer „Geraden“ und den „reellen“ Zahlen, ohne D EDE KIND zu nennen. Wie berichtet verweist K LEIN später ausdrücklich auf D EDEKIND s S. 614 Schrift. ∗
Bricht man den Dezimalbruch nicht einfach ab, sondern rundet ihn auf, so behält alles seine Gültigkeit, wenn man E(x) als die im Intervalle 1/2 + x bis [−]1/2 + x enthaltene größte ganze Zahl definiert. [Statt des letzten „x“ hat die Vorlage „z“. – D. D. Sp.]
a
Klein 1902, S. 14
443
Dies kann wohl nur die Definition: „Zahl“ ist „Dezimalzahl“ sein – siehe S. 613 sowie 614, Punkt b.
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7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff
ab S. 566
(2) Die Berechtigung dieses „Postulats“ erörtert K LEIN hier nicht. Bei D EDEKIND war die Erörterung dieser Berechtigung eine Essenz seiner Untersuchung, da D E DEKIND daraus seine Berechtigung zog, weitere „irrationale“ Zahlen zu „erschaffen“. K LEIN begnügt sich hier mit einem einfachen „Postulieren“. Den zuvor von F REGE formulierten logischen Anforderungen ans Postulieren wird damit in keiner Weise genügt. Mengensprache und Anschauung Eher beiläufig kommt K LEIN nun auf die Mengenlehre zu sprechen: „Nun bestreite ich nicht, dass uns die Anschauung treibt, eine solche Festsetzung zu treffen, ich behaupte aber, dass wir mit unserer Festsetzung über die Anschauung hinausgehen. Was ich damit meine, mache ich an zwei Beispielen klar, die ich aus dem Gebiete der sogenannten »Mengenlehre« nehme, die in der heutigen Mathematik bekanntermaßen eine bedeutsame Rolle spielt (Menge, franz. ensemble, engl. aggregate)∗ .“ (Klein 1902, S. 17 f.)
ab S. 597
Die Anmerkung K LEINs zeigt aufschlussreich, wie er C ANTORs (oder TANNERYs?) neue Lehre deutet: als eine Lehre von der Gestaltung der – in heutiger Sprache formuliert – Definitionsbereiche der Funktionen. Diese Deutung folgt klar der französischen Tradition, die wir bei J ORDAN und TANNERY gesehen haben. „Eine Zahlenmenge und also infolge unserer Definition auch eine Punktmenge (welche der Abszissenachse angehört) ist ein Inbegriff irgendwelcher Zahlen und Punkte x, so definiert, dass wir von jeder vorgegebenen Zahl oder jedem Punkte x entscheiden können, ob er zu dem Inbegriff gehört oder nicht.“ (Klein 1902, S. 18)
S. 619 S. 614
S. 138
(1) Ob die identifizierende Rede von „Zahl“ und „Punkt“ in dem genannten „Axiom“ oder aber auf K LEINs Identifikation von „Intervall“ und „Punkt“ begründet ist, muss wohl offen bleiben. Beides passt. (2) K LEINs Formulierung nimmt C ANTORs berühmte, sieben Jahre ältere naive „Definition“ des Begriffs Menge auf. Jene C ANTOR’schen Bestimmungen des Mengenbegriffs sind jedoch weitaus allgemeiner als die in der soeben angesprochenen und offenbar von K LEIN hier aufgegriffenen französischen Tradition. Nun zu den beiden von K LEIN angekündigten Beispielen: „Lassen Sie uns zwei einfache Punktmengen als Beispiele wählen: von 0 bis 1. a) alle rationalen Zahlen oder Punkte x = m n ∗
Die »Mengenlehre« der moderenen Mathematik kann geradezu als eine Lehre von der unabhängigen Variablen aufgefasst werden.
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Klein: Mathematik als Theorie der Naturerscheinungen Diese liegen auf der Strecke M »überall dicht«. Nehmen Sie ein noch so kleines Teilintervall, so enthält es immer noch rationale Zahlen in unendlicher Zahl, und doch ist diese Strecke (wenn eine so grobe Ausdrucksweise statthaft ist) noch durchlöchert wie ein Sieb, da ja unbeschränkt viele irrationale Zahlen, die nach der Definition unserer Punktmenge nicht angehören, noch auf ihr Platz finden sollen! Hier frage ich: Kann man sich dies räumlich vorstellen, eine überall dichte Punktmenge, die das Kontinuum noch nicht erschöpft? Die abstrakte Definition ist klar, die Vorstellung jedenfalls für mich unmöglich. b) alle Zahlen von 0 bis 1 mit Ausschluss der Grenzen 0 und 1 d. h. eine Strecke, von der die Endpunkte abgetrennt sind. Unsere räumliche Vorstellung scheint uns doch zu lehren, dass man keine Strecke aufhören lassen kann, ohne das Ende auch wirklich der Strecke zuzuzählen. Also auch den Inbegriff aller Zahlen von 0 bis 1 mit Ausschluss der beiden Grenzpunkte wird man sich räumlich kaum vorstellen können, so gewiss damit eine wohl definierte Menge gegeben wird.(Klein 1902, S. 18 f.) Mit bemerkenswerter Klarheit formuliert hier ein namhafter Mathematiker des frühen 20. Jahrhunderts, seine „räumliche“ Vorstellungskraft versage an Stellen, die heutzutage jedem Erstsemester selbstverständlich abverlangt werden. Damit ruft K LEIN – unter b) – nochmals genau jenen historischen Bruch mit A RISTOTE - S. 371 LES auf, den R IEMANN herbeigeführt hat. Vielleicht wäre es ratsam, diese Probleme mit der „räumlichen Vorstellung“, die F ELIX K LEIN im Jahr 1902 artikulierte und die jahrhundertelang für die Mathematik selbstverständlich waren, auch im heutigen Analysisunterricht zu thematisieren – und also: zuzulassen. (Allerdings hätte dies eine Delegitimation der heute geltenden Lehre zur Folge.)
K LEIN zieht dann die Konsequenz: „Diese Bemerkungen haben eine wichtige methodische Folge, die ich so formuliere: Da die Gegenstände der abstrakten Geometrie nicht als solche von der räumlichen Anschauung scharf erfasst werden, kann man einen strengen Beweis in der abstrakten Geometrie nie auf bloße Anschauung gründen, sondern muss auf eine logische Ableitung aus de[n] als exakt vorausgesetzten Axiomen zurückgehen.∗ ∗
Dieser Forderung wird heutzutage vermutlich jeder theoretische Mathematiker zustimmen; überzeugend erscheint mir dieselbe aber in der Tat erst, wenn sie so, wie im Texte geschehen, aus der Ungenauigkeit unserer räumlichen Auffassung begründet wird.
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7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff Darum behält aber auf der anderen Seite die Anschauung auch in der Präzisionsmathematik ihren großen und nicht durch logische Überlegungen zu ersetzenden Wert. Sie hilft uns die Beweisführung leiten und im Überblick zu verstehen, sie ist außerdem eine Quelle von Erfindungen und neuen Gedankenverbindungen.“ (Klein 1902, S. 19 f.)
S. 278 S. 623
K LEIN sieht hier die Notwendigkeit „strenger“ Beweise als in der „Ungenauigkeit“ der „räumlichen Anschauung“ begründet – und demnach nicht als eine grundsätzlich methodische Anforderung an die Mathematik! 90 Jahre nach B OL ZANO s „Rein analytischer Beweis . . . “ eine wirklich niederschmetternde Tatsache. Womöglich erklärt sie sich aus K LEINs Überzeugung, die Mathematik sei im Grunde „überhaupt die Wissenschaft von den selbstverständlichen Dingen“. Vom Verhältnis zwischen Präzisions- und Approximationsmathematik K LEIN erläutert den Unterschied und das Verhältnis zwischen „Präzisions-“ und „Approximationsmathematik“: „In dieser Hinsicht hat das Altertum uns bekanntlich drei fundamentale Aufgaben als vermutlich unlösbar hinterlassen, deren Unlösbarkeit dann in der Tat von [sic] der Neuzeit bewiesen wurde. Es sind dies: a) die Dreiteilung eines beliebigen Winkels p 3 b) die Verdoppelung des Würfels d. h. die Konstruktion von 2, c) die Quadratur des Kreises d. h. die Konstruktion der Zahl π = 3, 1415926 . . . aus der Einheitsstrecke. Worauf ich an gegenwärtiger Stelle aufmerksam zu machen habe, ist dieses, dass die ganze Behauptung: es sei unmöglich die Aufgaben a)–c) durch eine endliche Anzahl von Anwendungen des Zirkels und Lineals zu lösen, der Präzisionsmathematik und nicht der Approximationsmathematik angehört. Praktisch kann man jede der Aufgaben mit beliebig begrenzter Genauigkeit mit Zirkel und Lineal lösen. So lässt sich π z. B. leicht durch Konstruktion der einem Kreise einund umgeschriebenen Vielecke annähern; es sind aber auch weit einfachere und oft sehr sinnreiche Approximationen gegeben. Auch ist das rein praktische Verfahren oft am Platze. Um praktisch einen Winkel in drei gleiche Teile zu teilen, wird man solange probieren bis die Teilung mit hinreichender Genauigkeit glückt, eine Methode, die praktisch viel besser ist, als wenn man bis auf einige Dezimalen erst die Sache ausrechnet und dann die Lösung in die Figur einträgt; (vergl. die Konstruktion der Kreisteilungsmaschinen).“ (Klein 1902, S. 23 f.) K LEIN widerspricht hier also dem Vorrang der Präzisionsmathematik vor der Approximationsmathematik, wie er zu seiner Zeit sicher bestand und sich heute etabliert hat.
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Klein: Mathematik als Theorie der Naturerscheinungen ZWEI GRUNDLEGENDE SÄTZE IN DER SPRACHE DER MENGENLEHRE K LEIN formuliert zwei zentrale analytische Lehrsätze in der Sprache der Mengenlehre, verbindet jedoch beide jeweils mit einer Figur: „Ich knüpfe nunmehr wieder an unsere Entwicklungen über die Punktmengen an. Wir waren zu dem Schluss gekommen, dass wir bei Beweisen der Präzisionsmathematik uns nicht kurzweg auf die Anschaulichkeit berufen dürfen, so wichtig die Figur sein mag, um uns über die generellen Voraussetzungen der jeweiligen Beweise zu orientieren. Ich gebe jetzt zwei sehr einfache Sätze über Punktmengen, bei denen dies bereits zur Geltung kommt; es wird darauf ankommen zu verstehen, was die bezüglichen Beweise eigentlich leisten. 1) Es sei eine Punktmenge gegeben, die nicht über den auf der Abszissenachse fest gegebenen Wert A [444] hinausgeht (sie braucht nicht bis zu A heranzugehen). Die Behauptung lautet dann: Es gibt einen oberen Grenzpunkt der Menge. 2) Es sei eine Punktmenge gegeben derart, dass zwischen A und B unendlich viele Punkte der Menge liegen, so gibt es zwischen A und B sicher eine Verdichtungsstelle d. h. eine Strecke, an der sich die Punkte der Menge unbegrenzt häufen.
S. 620
S. 621
Wenn man zuerst solche Sätze hört, so erscheinen einem dieselben vielleicht selbstverständlich. Allerdings sind sie selbstverständlich, aber in dem höheren Sinne, der die Summe aller mathematischen Einsicht ist, dass nämlich die Mathematik im Grunde überhaupt die Wissenschaft von den selbstverständlichen Dingen ist. Wir wollen und können [sic] bei unseren Sätzen nichts Überraschendes bringen, sondern haben nur deutlich zu sehen, wie sich die Sätze klar an den Zahlbegriff anschließen, den wir bei unsern Entwicklungen an die Spitze gestellt haben.“ (Klein 1902, S. 25 f.) Wir bemerken: (1) Obwohl K LEIN für sich eine erkenntnistheoretische Reflexion der Mathema- S. 612 tik in Anspruch nimmt, ist oder gibt er sich hier doch ontologisch naiv – ganz an- S. 452 ders, als wir das eine Generation zuvor bei H EINE gesehen haben. (2) K LEIN nennt keine weiteren mengentheoretischen Voraussetzungen für seine beiden Sätze. Insofern kommt er nicht umhin, seinen Beweisen (stillschweigend) anschaulich wahre Voraussetzungen zu unterlegen. Von einer topologischen Argumentation kann bei K LEIN keine Rede sein. Das findet sich erst bei H AUS - ab S. 650 DORFF . 444
Das „Dach“ über den Punktbezeichnungen in den Bildern deute ich als Pfeilspitze, da es im Text nicht vorkommt.
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7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff
S. 413 S. 633 S. 635
(3) An dieser Stelle wäre K LEINs Meinung über z. B. W EIERSTRASS’ ‚kapriziöse‘ Funktion von Interesse, ist sie doch ohne Zweifel ein Muster einer „Überraschendes bringenden“ Funktion. Natürlich kennt K LEIN diese Funktion, ja er diskutiert sie im späteren Verlauf dieser Vorlesung sehr ausführlich. Ich sehe K LEINs Meinug nicht klar ausgespochen, aber jedenfalls fällt W EIERSTRASS’ Funktion nicht in jene Kategorie, die K LEIN dann „vernünftige“ Funktionen nennt. Innerhalb seiner Beweisführung gibt K LEIN die folgende ˜ Definition (oberer Grenzpunkt). „Der Punkt x heißt der obere Grenz-
punkt, auch wenn er selbst der Menge nicht angehört, falls nur im Intervall x und x − ε, wie klein auch ε sein mag, immer noch Punkte der Menge gefunden werden.∗ “ (Klein 1902, S. 27) Das Schlussargument dieses Beweises haben wir bereits gesehen und diskutiert.
S. 615, Punkt c
DIE UNABHÄNGIG VERÄNDERLICHE Der erste Abschnitt dieser gesamten K LEIN’schen Vorlesung ist überschrieben mit „Erläuterungen über die einzelne unabhängige Veränderliche“. Er reicht von Seite 5 bis Seite 32. Alles bisher Zitierte stammt aus diesem Teil! Der zweite Abschnitt heißt „Funktionen y = f (x) von x“ und reicht von Seite 32 bis Seite 103. (Es folgen noch weitere sieben Abschnitte sowie ein Anhang, alles auf den restlichen 382 Seiten.) Dieser zweite Abschnitt enthält den Funktionsbegriff. Ehe wir ihn betrachten (können), ist der Begriff der „unabhängig“ Veränderlichen nachzutragen. Auf ihn zielt auch gleich der allererste Satz des Vorlesungstextes (nach der „Einleitung“). Er lautet: „Ich beginne systematisch in der Weise, dass ich zunächst gar nicht von Funktionen spreche, sondern vorab die unabhängige Veränderliche x selbst ins Auge fasse, die ich mir geometrisch auf einer Abszissenachse mit fest gewähltem Anfangspunkt 0 als Punkt dadurch deute, dass ich demselben den Betrag der Abszisse als Zahlenwert x beilege.“ (Klein 1902, S. 5) Und der zweite Abschnitt des Skriptes beginnt wie folgt: „Alles Bisherige bezog sich nur erst auf die Definition der unabhängigen Veränderlichen x.“ (Klein 1902, S. 32) Was also versteht K LEIN unter der „(unabhängig) Veränderlichen“? Offenbar eine „beliebige Zahl“ – die er als einen „beliebigen Punkt“ auf der „Abszissenachse“ „gedeutet“ denkt. Zu der „beliebigen Zahl“ sagt K LEIN nur, sie sei als „Dezimalzahl“ „dargestellt“. Und er entwickelt im Weiteren – wie oben dargelegt – den unterschiedlichen Bestimmtheitsgrad des Begriffs „Zahl“ (bzw. „Punkt“) in der Präzisions- und in der Approximationsmathematik. ∗
Da a beliebig klein sein darf, so werden zwischen x und x −ε bei gegebenem ε dann noch immer
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Klein: Mathematik als Theorie der Naturerscheinungen D E R B E G R I FF D E R F U N K T I O N ... Den Funktionsbegriff entwickelt K LEIN zunächst in zweierlei Weise (später wird S. 635 noch eine Art dritter Funktionsbegriff hinzutreten): „Gehen wir jetzt zu den Funktionen y = f (x) über und fragen uns, was ist hierdzue vom Standpunkte der Präzisionsmathematik, was vom Standpunkte der Approximationsmathematik zu sagen.“ (Klein 1902, S. 32) Das ist nach E ULER nun der zweite Fall: ABSICHTSVOLL zwei verschiedene Funkti- S. 214 onsbegriffe für zwei verschiedene Zwecke – bei K LEIN klar ausgesprochen: für zwei verschiedene Erkenntnisinteressen. (1): . . . in der Präzisionsmathematik Zunächst also die hohe Theorie: „Die allgemeinste Definition der Funktion über die wir in der modernen Mathematik verfügen, beginnt damit, festzulegen, welche Werte die unabhängige Veränderliche x annehmen soll. Wir setzen fest, x soll eine gewisse »Punktmenge« durchlaufen, (wobei die Sprechweise also geometrisch ist, aber durch das zentrale geometrische Axiom (S. [619]) festgelegt ist, was damit arithmetisch gemeint ist). y heißt dann eine F˜ UNKTION von x (y = f (x)) innerhalb der Punktmenge, wenn zu jedem x der Menge ein bestimmtes y gehört (dabei x und y als scharf definierte [Zahlen445 ] d. h. als Dezimalbrüche mit wohl definierten Ziffern gefasst). Gewöhnlich ist die Menge, die x durchläuft, das Kontinuum d. h. sämtliche Punke zwischen zwei festen Punkten m und n. Man nennt in anderer Sprechweise ein solches Kontinuum ein Intervall mn. Wir erhalten damit die ältere Definition einer Funktion, wie sie z. B. P. G. L EJEUNE-D IRICHLET gebrauchte: y heißt eine Funktion von x in einem Intervall, wenn zu jedem Zahlenwerte x, der in dem Intervalle liegt, ein wohldefinierter Zahlenwert y zugehört. Dies wäre die allgemeinste Definition des Funktionsbegriffes in der Präzisionsmathematik.“ (Klein 1902, S. 32 f.) Wir erkennen wieder R IEMANNs Funktionsbegriff, ergänzt freilich um den Be- S. 370 griff eines – bei K LEIN: namenlosen – „Definitionsbereichs“, also den Variationsbereich der „unabhängig“ Veränderlichen. Er gehört für K LEIN notwendigerweise unendlich viele Punkte der Menge liegen. 445
Leider fehlendes Wort ergänzt.
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7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff
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zum Funktionsbegriff und ist zu dieser Zeit nicht mehr notwendigerweise – sondern nur „gewöhnlich“ – ein Intervall, darf aber grundsätzlich eine beliebigere „Punktmenge“ sein. Die Bedeutung und die Tragweite dieser Veränderung reflektiert K LEIN hier nicht. Er verweist lediglich auf den betreffenden Artikel „Allgemeine Funktionentheorie“ in der Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften, Bd. 2, S. 1 ff., den P RINGSHEIM verfasst hatb – wir haben das bereits erörtert. (2): . . . in der Approximationsmathematik Nun wendet sich K LEIN den Anwendungen zu. Er tut das mit einer Frage: „Wie mag uns in der empirischen Geometrie eine solche Gleichung y = f (x) entgegentreten? Wir legen ein rechtwinkliges Koordinatensystem fest und fragen, wie weit uns y als F˜ UNKTION von ˜ x durch eine K URVE gegeben ist, die wir uns entweder durch einen kontinuierlichen Federstrich zeichnen oder uns auch durch einen Registrierungsapparat, (der etwa die Temperatur als Funktion der Zeit liefert) gegeben denken.“ (Klein 1902, S. 35) Um die physikalischen Begriffe bereinigt bleibt die Frage: „In welcher Weise wird vermöge einer empirischen Kurve y als Funktion von x bestimmt? Wir antworten, x und y sind beide nur bis auf einen Schwellenwert genau festgelegt. Daher:
S. 613
[Definition (der empirische Funktionsbegriff – Funktionsstreifen).] Die empirische Kurve legt y nicht als scharfe Funktion von x fest, sondern definiert das einem x zugehörige y nur mit einem begrenzten Grade von Genauigkeit. Wir schreiben dies etwa: y = f (x) ± ε, wo das unbestimmt bleibende ε (das wir uns gegebenenfalls wieder als eine Funktion von x denken mögen) der Ungleichung genügen wird: |ε| < δ d. h. der absolute Be˜ trag dieser kleinen Größe ε liegt unterhalb des Schwellenwertes δ. Ein solches Gebilde y = f (x) ± ε, von gewisser Breite, habe ich in [meiner] Arbeit (1873)[446] einen »Funktionsstreifen« genannt, sodass wir auch kürzer sagen können[:] Die empirisch gegebene Kurve defib 446
Vgl. Klein 1902, S. 33 f. Wiederabdruck: Klein 1883
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Klein: Mathematik als Theorie der Naturerscheinungen niert uns nicht eine Funktion, sondern einen F˜ UNKTIONSSTREIFEN.“ (Klein 1902, S. 38) K LEINs approximationsmathematisches Pendant zum präzisionsmathematischen Begriff „Funktion“ ist „Funktionsstreifen“, dessen geometrische Veranschaulichung die „empirische Kurve“. Diese „Kurve“ hat „eine beschränkte Genauigkeit und entspricht also nicht dem scharfen Funktionsbegriff der Präzisionsmathematik, sondern der Idee des Funktionsstreifens.“ (Klein 1902, S. 39) Damit hat K LEIN also zwei verschiedene Funktionsbegriffe für zwei verschiedene Zwecke etabliert: für die Theorie (die „Präzisionsmathematik“) den R IEMANNschen Funktionsbegriff der eindeutigen ‚Wert-zu-Wert‘-Bestimmung und für die Empirie (die „Approximationsmathematik“) den „Funktionsstreifen“ als analytische Fassung einer Kurve von „gewisser“ Breite. In gewisser Weise ist dies eine Neuaufnahme der E ULER’schen Vorgehensweise. Dieser hatte für die Zwecke der „Analysis“ die ‚AFunktion‘ und für die Zwecke der Anwendungen die ‚GFunktion‘ S. 214 genutzt. STETIGKEIT Zwei verschiedene Funktionsbegriffe könnten auch zwei verschiedene Begriffe der Stetigkeit mit sich bringen. Als Erstes nimmt sich K LEIN den Stetigkeitsbegriff für die „Approximationsmathematik“ vor. Ihm vorgeschaltet ist jedoch ein Exkurs über Naturphilosophie Dieser Exkurs beginnt mit folgender Fragestellung: „Wenn wir eine scharfe Funktion y = f (x) weder empirisch realisieren, nicht einmal uns ideell vorstellen können, wie steht es dann mit der Schärfe der sogenannten Naturgesetze? Sind sie exakt oder approximativ?“ (Klein 1902, S. 42) Im Folgenden gebe ich die Quintessenzen der K LEIN’schen Betrachtungen. „Es kommt hier ein [. . . ] Prinzip in Betracht, das sogenannte Prinzip der Einfachheit der Naturerklärung oder der Ökonomie des Denkens (M ACH), das sich im vorliegenden Falle so aussprechen lässt: Bei der Aufstellung der Naturgesetze greift man (nicht erst auf Grund ausdrücklicher Überlegung, sondern unwillkürlich) nach den einfachsten Formeln, die die Erscheinung mit hinreichender Genauigkeit darzustellen vermögen. [. . . ]
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7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff Auch unsere allgemeinsten und für die Weltauffassung wichtigsten Naturgesetze sind immer nur in einem beschränkten Bereich mit beschränkter Genauigkeit experimental bewiesen. Man möchte sagen: Die genaue Formulierung der Naturgesetze durch einfache Formeln beruht nur auf dem W UNSCHE die äußere Erscheinung durch möglichst einfache Hilfsmittel zu beherrschen. Vom wissenschaftlichen Standpunkte aus sollte man bei jedem Naturgesetze – damit dasselbe nicht zu einem Dogma wird d. h. einem Satze, den wir für unumstößlich richtig halten, ohne mehr nach den Beweisgründen zu fragen – allemal die Frage stellen: Innerhalb welcher Genauigkeitsgrenzen ist dasselbe durch die Beobachtung erwiesen? Meist wird man finden, dass dies mit viel weniger Genauigkeit statthat, als man gewöhnlich glaubt. [. . . ] Die Genauigkeit mit der die allgemein geltenden Naturgesetze zwingend durch das Experiment bewiesen sind, ist selbst im Falle des N EWTON ’schen Anziehungsgesetzes nur eine sehr beschränkte.“ (Klein 1902, S. 42–46) Nach einer kurzen Erörterung der beiden konkurrierenden Auffassungen von der Materie – der „Kontinuitätstheorie“ nach z. B. F. O STWALD einerseits und andererseits der „extremen Atomtheorie“ nach z. B. L APLACE und H ELMHOLTZ sowie, zu K LEIN zeitnäher, W. K. C LIFFORD und L. B OLTZMANN – fasst K LEIN zusammen: „Die verschiedenen Voraussetzungen werden gegebenfalls mit Rücksicht auf die ungenaue Natur unserer sinnlichen Wahrnehmung gleich gute Erklärungen abgeben können, weil es sich bei der sinnlichen Wahrnehmung in der Tat nicht um Beziehungen der Präzisionsmathematik, sondern der Approximationsmathematik handelt. Die so aufgestellte Formulierung wird gern akzeptiert werden. Aber im Grunde nimmt sie das Resultat ernster mathematischer Betrachtung vorweg. Der Mathematiker hat weder die Fähigkeit noch die Aufgabe zu entscheiden, was der »Fall der Natur« ist, er muss das, soweit es überhaupt möglich ist, hier zu einem bestimmten Resultate zu kommen, dem berufenen Naturforscher oder Philosophen überlassen. Er kann aber entscheiden und soll entscheiden, wie weit die verschiedenen Prämissen auf Grund geeigneter Voraussetzungen gegebenenfalls nahezu zu denselben Resultaten führen. In der Tat eine große Aufgabe der Approximationsmathematik!“ (Klein 1902, S. 49 f.) Formuliert K LEIN hier eine erkenntnistheoretische Rechtfertigung für H ILBERTs „axiomatische“ Methode? Wobei klar sein dürfte, dass K LEIN dieser „axiomatischen“ Methode selbst sehr fern steht: siehe die auf S. 623 nach dem zweiten mengentheoretischen Satz wiedergegebenen Formulierungen.
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Klein: Mathematik als Theorie der Naturerscheinungen Stetigkeit in der Approximationsmathematik Zurück zur „Approximationsmathematik“. Wenden wir uns dem ihr angemessenen Begriff der Stetigkeit zu. „Jedermann verbindet mit der Idee der empirischen Kurve gewisse Attribute; ist es möglich den Begriff der exakten Kurve d. h. im vorliegenden Zusammenhange die Funktion y = f (x) der Präzisionsmathematik so einzuschränken, dass wir analoge Attribute bei ihr wiederfinden?“ (Klein 1902, S. 50) Beim Folgenden ist zu beachten, dass K LEIN den Begriff „stetig“ noch nicht definiert hat. – Das Zitat hat folgende Fortsetzung: „Ich führe die Attribute, an welche ich dabei denke, hier der Reihe nach auf: 1). Ein erstes Attribut, welches wir der empirischen Kurve tatsächlich beilegen, ist die Kontinuität d. h. wir haben die Vorstellung, dass sie in den kleinsten Teilen zusammenhängt.[447] Dem wird entsprechen, dass f (x) durch alle Zwischenwerte geht, oder genauer: Ist f (a) = A und f (b) = B , so sollen alle Werte zwischen A und B von f (x) im Intervalle x = a bis x = b wirklich angenommen werden. Wir werden lernen, dass die sogenannten »stetigen« Funktionen die entsprechende Eigenschaft haben. 2). Das zweite Attribut, das wir dem empirischen Verhalten der Kurve entnehmen, ist die Eigenschaft, ihrer Kontinuität entsprechend einen bestimmten Flächeninhalt abzugrenzen. Hieraus ergibt sich für die stetige Funktion f (x) keine neue Einschränkung. Wir werden vielR mehr finden, dass f (x) dx bei jeder stetigen Funktion wohldefiniert ist, mit andern Worten, dass jede stetige Funktion integrierbar ist. 3). Wir achten nun auf den Allgemeinverlauf der empirischen Kurve d. h. auf das Anwachsen respektive Abnehmen der Ordinate und finden, dass eine empirische Kurve notwendig in einem endlichen Intervall eine endliche Anzahl von Maximis und Minimis darbietet. 447
Eine Generation zuvor hat D EDEKIND diese traditionelle Kennzeichnung des Kontinuums (natürlich: für die „Präzisionsmathematik“!) bereits verabschiedet: siehe S. 487.
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7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff Die stetige Funktion y = f (x) schwankt auch zwischen Maximis und Minimis. Diese können aber in einem endlichen Intervall unendlich dicht liegen. Ist z. B. y = sin 1/x , so schwankt die Funktion in dem Intervall x = 2/π bis x = −2/π unendlich oft zwischen y = +1 und y = −1 hin und her (die Anzahl der Oszillationen wächst bei Annäherung an den Nullpunkt unbeschränkt.) Oder wir wählen y = x sin 1/x , so hat diese Funktion wiederum in einem endlichen Intervall zwischen y = +x und y = −x unendlich viele Maxima und Minima. Dies zweite Beispiel hat den Vorzug, dass die Funktion nicht nur rechts und links von Null, sondern auch im Nullpunkt selbst stetig ist. Da also bei einer stetigen Funktion y = f (x) keineswegs ausgeschlossen ist, dass dieselbe in einem endlichen Intervalle unendlich viele Maxima und Minima hat, so müssen wir, wollen wir in dieser Hinsicht eine Übereinstimmung mit der empirischen Kurve herstellen, dieses als eine besondere Bedingung ihr auferlegen. Wir drücken dies gelegentlich so aus: Die Funktion y = f (x) soll im gerade betrachteten Intervalle in eine endliche Zahl monotoner Stücke zerfallen. 4). Wir legen einer empirischen Kurve eine Richtung bei. Was verstehen wir da unter Richtung? Wir wollen hier eine möglichst unbefangene Antwort geben d. h. nichts in die Definition hineinmengen, was wir etwa bereits aus der Differenzialrechnung wissen. Es repräsentiere uns die gezeichnete Kurve einen Strom von endlicher Breite d. h. die Ordinate y ist nur bis auf einen Schwellenwert δ bestimmt. (Ist die Breite des Stromes zu bedeutend, so müssen wir das Folgende auf einen Mittelstreifen desselben beziehen.) Um nun die Richtung festzulegen, verfahren wir in praxi folgendermaßen: Man nimmt auf der Abszissenachse ein Stück ∆x, welches groß gegen die Breite des Stromes (Streifens) ist, aber klein gegenüber dem Gesamtverlauf des Streifens, sucht für die Abszissenwerte x und x +∆x die Ordinaten y bzw. y +∆y und verbindet deren Endpunkte durch eine gerade Linie. Diese ist dann natürlich nicht scharf bestimmt, denn die beiden Punkte, die sie verbindet, sind es ja nicht. Aber diese gerade Linie gibt das, was wir in praxi die Richtung des Streifens an der
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Klein: Mathematik als Theorie der Naturerscheinungen betrachteten Stelle nennen (und was nur mit mäßiger Genauigkeit bestimmt ist). Wir messen dieselbe durch den Differenzenquotienten ∆y ∗ . Wir können also kurz sagen: ∆x Eine empirische Kurve hat an jeder Stelle eine Richtung, festgelegt innerhalb eines im Einzelfalle zu bestimmenden Spielraums durch den ∆y Differenzenquotienten ∆x , unter ∆x eine Größe von bestimmter Größenordnung verstanden, d. h. klein gegenüber dem Gesamtverlauf, groß gegenüber dem Schwellenwert des Streifens. Die empirische Kurve stimmt erfahrungsgemäß mit der Verbindungsgeraden von x, y nach x + ∆x, y + ∆y annähernd überein. [. . . ] 5). Ebenso ist es bei jeder empirischen Kurve keine Frage, dass sie eine Krümmung besitzt. Die Krümmung einer Kurve wird dabei durch den reziproken Wert 1/% des Radius % eines Kreises gegeben, der durch drei zweckmässig gewählte, sogenannte »aufeinanderfolgende« Punkte der Kurve geht. Sind die drei Punkte x, y
x + ∆x, y + ∆y
x + 2∆x, y + 2∆y + ∆2 y ,
so kommt wesentlich für die Krümmung die zweite Differenz ∆2 y, oder wenn wir durch (∆x)2 dividieren, der zweite Differenzenquotient ∆2 y in Betracht. Er gibt das Maß der Abweichung von der geraden Li(∆x)2 nie (∆2 y = 0) beim Weiterverlauf. Durch Einsetzen der Funktionswerte können wir ihn auch in der Form schreiben: f (x + 2∆x) − 2 f (x + ∆x) + f (x) . (∆x)2 Wie werden wir die drei Punkte praktisch wählen? [. . . ] Bei der strengen Kurve müssen wir natürlich wieder, um die Analogie mit der empirischen Kurve aufrecht zu erhalten, die Existenz des zweiten und der höheren Differenzialquotienten postulieren. Die Punkte 4) und 5) zusammenfassend folgt also: Damit diejenigen Attribute, die wir einer empirisch gegebenen Kurve betreffend Richtung und Krümmung (erster und höherer Differenzialquotienten) beilegen, bei einer scharf definierten Funktion sich in sinngemäßer Weise wiederfinden, werden wir die Funktion nicht nur als stetig und mit einer endlichen Anzahl von Maximis und Minimis im endlichen Intervall behaftet voraussetzen, sondern ausdrücklich annehmen, dass sie einen ∗
∆y
y −y
Noch allgemeiner könnte man ∆x = x11 −x22 setzen, wo x 1 und x 2 links und rechts von x in geeignetem gegenseitigem Abstand genommen sind.
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7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff ersten und eine Reihe höherer Differenzialquotienten (soviel man gerade benutzen will) besitzt.∗ “ (Klein 1902, S. 50–54, 56–59) Hier macht K LEIN klar: Etliche der in der Analysis mittlerweile üblichen Begriffsbildungen sind für die Zwecke seines Begriffs der empirischen Kurve nicht erforderlich. Gleichwohl äußert sich K LEIN hier nicht kritisch über diese Begriffe, sondern betrachtet sie wohl als innerhalb der „Präzisionsmathematik“ völlig legitim. Exkurs über Grenzwerte: der Differenzialquotient Im obigen Zitat fügt sich an das Ende von Punkt 4 nahtlos an: „Hat nun auf der andern Seite jede stetige Funktion einen Differenzialquotienten? ³ ´ ˜ Wir definieren den Differenzialquotienten als Lim dy
∆y und schrei∆x ∆x=0
ben dafür abkürzend dx , wo die kleinen d andeuten sollen, dass wir uns den Grenzübergang gemacht denken. Dabei müssen wir aber bedenken, dass der Differenzialquotient aus dem gerade besprochenen Differenzenquotienten durch einen DOPPEL TEN Grenzübergang entsteht, der in ganz bestimmter Reihenfolge vollzogen werden soll, indem wir erstlich die Breite des Streifens und dann das Stück ∆x der Abszisse unendlich klein werden lassen. Als allgemeinen Grundsatz über Grenzübergänge flechte ich hier ein: Was bei einem Grenzübergang herauskommt, kann a priori schlechterdings nicht gesagt werden, sondern muss jedesmal genau überlegt werden. Insbesondere aber ist bei einer Mehrzahl von Grenzübergängen deren Reihenfolge genau zu beachten.“ (Klein 1902, S. 55) Es folgt ein historischer Exkurs mit folgendem Beginn: „Indem die Mathematiker früher diesen Grundsatz nicht immer befolgten, glaubten sie an die Existenz eines Differenzialquotienten jeder stetigen Funktion. Man weiß aber jetzt seit den Untersuchungen ∗
Man könnte natürlich an die Übereinstimmung noch weitere Forderungen stellen. Bei einer empirischen Kurve ist durch die zu einem Punkte gehörige Richtung, Krümmung usw. ein Stück des weiteren Verlaufs vorausbestimmt (was insofern selbstverständlich ist, als wir die zu einem Punkte gehörige Richtung, Krümmung usw. erst aus diesem Verlauf festlegen). OTTO KÖPKE aus Ottensen (den ich gelegentlich der Hamburger Naturforscherversammlung ausführlich sprach) hält es für zweckmäßig, auch diese Vorausbestimmung bei den in erster Linie zu betrachtenden Funktionen y = f (x) als eine Forderung festzuhalten. Er kommt dadurch natürlich zu Funktionsklassen, die enger sind, als die im Texte betrachteten. Für die so ausgesonderten Funktionen möchte Herr KÖPKE einen höheren Grad von Anschaulichkeit in Anspruch nehmen als für die anderen. Ich mache demgegenüber natürlich geltend, dass nach meiner Auffassung überhaupt keine Funktionen anschaulich sind, sondern immer nur Funktionsstreifen. (Zusatz vom 3. Oktober 1901.)
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Klein: Mathematik als Theorie der Naturerscheinungen von B. R IEMANN und K. W EIERSTRASS (um 1860), dass stetige Funktionen als solche gar keinen bestimmten Differenzialquotienten zu ha∆y ben brauchen d. h. dass für ∆x gegebenenfalls gar kein solcher Limes, wie wir ihn gerade definierten, existiert. Wir werden das weiterhin noch ausführlicher erläutern.“ (Klein 1902, S. 55) K LEIN diskutiert dann, wie bereits erwähnt, die überall stetige, nirgends differenzierbare Weierstraß-Funktion sehr ausführlich auf den Seiten 83–101 seiner Vorlesung. Stetigkeit in der Präzisionsmathematik Nicht ohne Berufung auf C AUCHY’s Cours d’analyse sowie auf B OLZANO (durch Stolz 1881)c erhält K LEIN schließlich den Stetigkeitsbegriff der Präzisionsmathematik: ˜ Definition (Stetigkeit). „Eine Funktion y = f (x) heißt stetig in einem
Intervall, wenn man um jede einzelne Stelle des Intervalls herum einen Bereich so abgrenzen kann, dass innerhalb desselben die Schwankung der Funktion kleiner ist, als eine noch so kleine vorgelegte Größe η. Oder in Formeln: Ist ξ eine hinreichend kleine Größe und |x 0 − x| < ξ,
so ist | f (x 0 ) − f (x)| < η ,
d. h. wenn eine noch so kleine Größe η gegeben ist, dann soll man immer eine Größe ξ so wählen können, dass für die Argumentendifferenz (Klein 1902, S. 60) kleiner als ξ auch die Funktionsdifferenz kleiner als η ist.“ Wer den roten Faden der K LEIN’schen Vorlesung aus den Augen verloren hat, könnte auf die Idee kommen, zu fragen: Definiert K LEIN hier den Begriff „stetig“, oder definiert er den Begriff „gleichmäßig stetig“ unter dem Namen „stetig“? Da – wie wir sogleich lesen werden – K LEIN der Name „gleichmäßig stetig“ (natürlich) bekannt bzw. geläufig ist, ist es aber klar: K LEIN geht hier – nämlich in der „Präzisionsmathematik“! – grundsätzlich von „ ABGESCHLOSSENEN “ Intervallen aus. Man könnte es auch so sagen: K LEIN zieht tatsächlich die Konsequenz aus seiner S. 621, erklärten Unfähigkeit, sich ein „offenes“ Intervall „räumlich vorstellen“ zu kön- Punkt b nen, und lässt diese Objekte außerhalb seiner Betrachtungen. Das ist insofern unschädlich, als auf „abgeschlossenen“ Intervallen die beiden S. 370 bei Begriffe „Stetigkeit“ und „gleichmäßige Stetigkeit“ gleichbedeutend sind. Freilich Anm. k kann K LEIN diesen Grundsatz nicht durchhalten; etwa W EIERSTRASS’ ‚kapriziöse‘ Funktion existierte sonst für ihn gar nicht. Nun der angekündigte Beleg für K LEINs Bekanntschaft mit dem Begriff „gleichmäßige Stetigkeit“: Bei seiner Untersuchung des Begriffs „bestimmtes Integral“ c
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7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff (nach R IEMANN) studiert K LEIN das „Maß der Stetigkeit [einer Funktion], wenn x 0 das Intervall durchläuft“d . Dabei gelangt er zu folgendem Resultat: „Durch die Annahme, dass eine Funktion in einem jeden einzelnen Punkte des Intervalls stetig ist, ist zunächst noch nicht ausgeschlossen, dass die Stetigkeit über das Intervall hin ungleichmäßig ist, d. h. dass es Stellen [im Intervall] gibt, wo das [ξ 448 ] kleiner wird als eine noch so kleine vorgegebene Größe. Wir haben dagegen eine gleichmäßige Stetigkeit in dem Intervall, wenn die ξ-Kurve wohl auf- und abschwankt, doch jener Ausnahmefall [dass nämlich der Wert ξ – betrachtet in Abhängigkeit von der unabhängig Veränderlichen x – an einer oder mehreren Stellen der Null beliebig nahe kommt449 ] nicht eintritt, d. h. wenn wir bei vorgegebenem η eine Größe ξ derartig angeben können, dass für alle Punkte x 0 des Intervalls gleichzeitig, sobald nur |x − x 0 | < ξ ist, auch | f (x) − f (x 0 )| < η ist.“ (Klein 1902, S. 70) K LEIN beschreibt hier also sehr klar die nicht „gleichmäßige“ Stetigkeit. Freilich „übergeht“ K LEIN den Beweis seines folgenden Satzes. An der eben unterbrochenen Stelle geht es nämlich wie folgt weiter: „Jetzt kommt der Punkt, dessen Beweis ich der Kürze halber übergehe. Man zeigt, dass die schlimme Eventualität der ungleichmäßigen Stetigkeit, an die wir beiläufig dachten, in Anbetracht unserer Definition der Stetigkeit von vornherein in Wegfall kommt. Es gilt also der Satz: Jede Funktion, die in allen Punkten eines Intervalls stetig ist, ist in dem gegebenen Intervall auch gleichmäßig stetig. Wegen des Näheren verweise ich auf meine Vorlesung über Funktionentheorie∗ (W. S. 1898/99) oder auf J. TANNERY: Introduction à la Théorie des fonctions d’une variable, Paris 1886 und A. P RINGSHEIM: „Allgemeine Funktionentheorie“, Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften Bd. 2 p. 18† Ich habe hier auf die Möglichkeit einer ungleichmäßigen Stetigkeit deshalb so ausführlich aufmerksam gemacht, weil wir später bei Fragen der Reihenkonvergenz mit analogen Möglichkeiten zu rechnen haben werden.“ (Klein 1902, S. 71) ∗ †
d 448
Nicht autographiert. Vgl. für die sämtlichen hier in Betracht kommenden Entwicklungen auch H ARTENESS und M ORLEY: A treatise of the theory of analytic functions, London 1893, sowie die Introduction derselben Verfasser, London 1898.
Klein 1902, S. 68 Die Vorlage hat hier: „ξ0 “.
449
Vgl. Klein 1902, S. 69
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Klein: Mathematik als Theorie der Naturerscheinungen Dass die „Möglichkeit“ der „ungleichmäßigen“ Stetigkeit daran gebunden ist, dass ein „offener“ Definitionsbereich betrachtet wird, macht K LEIN leider nicht deutlich. Unter anderem (darunter der Zwischenwertsatz) beweist K LEIN dann aus der für „stetige“ Funktionen gültigen Gleichung f (lim x) = lim f (x) den folgenden Satz: „Eine stetige Funktion ist in allen Punkten eines Intervalls definiert, wenn sie für alle Punkte einer das Intervall überall dicht erfüllenden Menge definiert ist, speziell also, wenn sie für alle rationalen Zahlen definiert ist.“ (Klein 1902, S. 64) Diesen Satz kennen wir bereits von H EINE.
S. 582
DAS BESTIMMTE INTEGRAL Auch den Begriff „bestimmtes Integral“ bildet K LEIN nicht nur für die „Präzisionsmathematik“e , sondern auch für die „Approximationsmathematik“f . Für uns muss hier aber dieser Hinweis genügen. Dafür sei abschließend für K LEIN dessen Begriff der „vernünftigen“ Funktion betrachtet – sein dritter Funktionsbegriff also. (3): DIE VERNÜNFTIGEN FUNKTIONEN Der Begriff der vernünftigen Funktion Aller guten Dinge sind drei. Neben der „Funktion“ und dem „Funktionsstreifen“ S. 625, 626 prägt K LEIN noch einen dritten Funktionsnamen: „vernünftige“ Funktion. Was meint er damit? „Blicken wir auf die Entwicklungen dieses Abschnitts zurück, so ergibt sich Folgendes: Wir legten einer empirischen Kurve gewisse Attribute: 1) Zusammenhang 2) Maxima und Minima in endlicher Anzahl in einem endlichen Intervall 3) Richtung und 4) Krümmung usw. von Hause aus bei. Damit etwas Analoges bei dem Funktionsbegriff der Präzisionsmathematik stattfand, mussten wir bei diesem sukzessive die Attribute: e
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f
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1) Stetigkeit, 2) endliche Anzahl von Maximis und Minimis im endlichen Intervall, 3) ersten Differenzialquotienten, 4) zweiten Differenzialquotienten usw. ausdücklich postulieren. Es wird so aus der Gesamtheit der Funktionen eine ganz bestimmte Klasse von Funktionen ausgeschieden, die aber allgemeiner als die analytischen sind, da wir nicht die Existenz beliebig vieler Differenzialquotienten bzw. die Geltung der Taylor’schen Reihe verlangen. Ich nenne diese Funktionen mit J ACOBI die »vernünftigen Funktionen«. (Das Wort vernünftig ist hier nur so zu verstehen, dass die Funktionen das Maß für die Vernunft des Subjekts, das mit ihnen operiert, ergeben.∗ ) Mit Akzeptierung dieses Ausdrucks können wir also sagen: Qualitativ (d. h. der Art nach) finden sich die Attribute, welche man populärerweise den empirischen Kurven beilegt, bei denjenigen Funktionen y = f (x) der Präzisionsmathematik wieder, welche wir hier die ˜ VERNÜNFTIGEN F UNKTIONEN nennen. Damit ist noch nichts über die Frage der quantitativen Übereinstimmung gegeben, über die wir jetzt in dem folgenden Abschnitt etwas sagen wollen.“ (Klein 1902, S. 101 ff.) Der Name „vernünftige“ Funktion ist somit eher Programm denn Begriff. Offenbar soll es dabei um „präzisionsmathematische“ Begriffe gehen, aber ausdrücklich soll dieser Begriff „allgemeiner als die analytischen“ Funktionen sein (also als jene Funktionen, die sich „genau“ als Taylor’sche Reihe darstellen lasseng ). Annäherung empirischer Kurven durch vernünftige Funktionen K LEIN formuliert die Aufgabe wie folgt: „Es sei eine empirische Kurve gegeben. Die Frage ist: Können wir eine Funktion y = f (x) der Präzisionsmathematik so bestimmen, dass sie hinsichtlich der Ordinaten, Richtung und Krümmung hinreichend mit der empirischen Kurve übereinstimmt? Oder anders ausgedrückt: ∗
Weiter unten sprechen wir in demselben Sinne von »regulären« Funktionen oder »regulären« Kurven.
g
Vgl. Klein 1902, S. 128.
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Zwischenbilanz im Jahr 1913 Wie weit kann ich eine empirische Kurve durch vernünftige Funktionen in der angedeuteten Bedeutung approximieren? Da wir praktisch bei der Approximation keine komplizierten Funktionen benutzen werden, sondern Funktionen von einfacher analytischer Bauart, so reiht sich an obige Fragestellung sofort die andere: Wie weit kann ich eine empirische Kurve sei es nach Gesamtverlauf, Richtung und Krümmung durch einfache analytisch definierte Funktionen annähern?“ (Klein 1902, S. 103 f.) Im Ergebnis läuft dies auf die Angabe der Lagrange’schen bzw. der Taylor’schen Formel hinaus. – Daran schließt K LEIN die Behandlung der „analytischen“ Funktionen an, also die Darstellung einer Funktion durch ihre (konvergente) Taylorreihe. Selbstverständlich ist es, „dass der Begriff der analytischen Funktion nur der Präzisionsmathematik angehört“h . ZWISCHENBILANZ IM JAHR 1913 In der mathematischen Literatur in Deutschland wie in Frankreich ist es ab vielleicht 1870 eine ausgemachte Sache: „Funktion“ im allgemeinsten Sinne ist gegeben durch eine grundsätzlich beliebige ‚Wert-zu-Wert‘-Bestimmung: nach R IE - S. 370 MANN s Definition. (Dies gilt freilich nicht für einen logisch interessierten Mathematiker wie F REGE, sondern für die Praktiker der Analysis.) Gewöhnlich wird eine „Funktion“ als eine „Veränderliche“ bezeichnet – jedoch ohne dass dieser Begriff der „(abhängig) Veränderlichen“ näher bestimmt wird. Demgegenüber wird der Begriff der „unabhängig“ Veränderlichen durchaus be- S. 591 stimmt, und zwar als „Zahl in einem gewissen Intervall“. Was eine „Funktion“ jedoch sei, bleibt in diesem – langen! – Zeitraum unausgesprochen, wohl auch unreflektiert. In meiner Darstellung dieses Geschehens habe ich eine solche Deutung bereits vorgenommen, indem ich von der ‚Wert-zu-Wert‘Bestimmung gesprochen habe. Damit ist nichts anderes gesagt als: Die Analysis jener Zeit hat die „Funktion“ als eine grundsätzlich beliebige „Relation“ zwischen „Werten“ behandelt. Einzig W EIERSTRASS hielt (jedenfalls bis 1885) hartnäckig an seiner Überzeugung fest, der Begriff „Funktion“ müsse inhaltlich, als eine Substanz, bestimmt werden, damit ihr nach traditioneller Denkweise gewisse „Attribute“ eignen; Aufgabe des Mathematikers sei es, eben diese „Attribute“ zu erforschen. Diesem ‚substanzialen‘ Denken hatte R IEMANN mit seiner ‚relationalen‘ Bestimmung von „Funktion“ eine Absage erteilt – und die Mathematiker folgten R IE MANN auf breiter Linie. h
Klein 1902, S. 128
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7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff Eine Neuerung in der ontologischen Bestimmung – Was ist eine Funktion? – gab es erst im Jahr 1914, dann jedoch durch gleich zwei Mathematiker: durch M ORITZ PASCH und F ELIX H AUSDORFF. VORSPIEL: GEORG CANTOR 1895 NACHTRAG: CANTORS MENGENBEGRIFF
S. 138
Die berühmte Bestimmung des Begriffs „Menge“ durch C ANTOR stammt aus seiner in zwei Teilen 1895 und 1897 erschienenen letzten Abhandlung zur Mengenlehre. Sie wurde bereits zitiert. Zwölf Jahre zuvor hatte C ANTOR in einer Anmerkung gesagt: „Unter einer »Mannigfaltigkeit« oder »Menge« verstehe ich nämlich allgemein jedes Viele, welches sich als Eines denken läßt, d. h. jeden Inbegriff bestimmter Elemente, welcher durch ein Gesetz zu einem Ganzen verbunden werden kann, und ich glaube, hiermit etwas zu definieren, was verwandt ist mit dem platonischen eÚdoc oder Êdèa wie auch mit dem, was P LATON in seinem Dialoge »Philebos oder das höchste Gut« miktìn nennt.“ (Cantor 1883, Anmerkung 1 zu § 1, S. 204) Wir erkennen hier wieder C ANTORs Gegenposition zu L EIBNIZ, indem C ANTOR das „aktuale“ Unendlich als Konstruktionsmittel für neue Begriffe akzeptiert. „FUNKTION“ ZWISCHEN „MENGEN“ In der genannten letzten Abhandlung C ANTORs zur Mengenlehre findet sich auch eine erste Beschreibung einer „Funktion“ als einer „Menge“, freilich wenig klar und prägnant: „Unter einer »Belegung der Menge N mit Elementen der Menge M « oder einfacher ausgedrückt, unter einer »Belegung von N mit M « verstehen wir ein Gesetz, durch welches mit jedem Elemente n von N je ein bestimmtes Element von M verbunden ist, wobei ein und dasselbe Element von M wiederholt zur Anwendung kommen kann. Das mit n verbundene Element von M ist gewissermaßen eine eindeutige Funktion von n und kann etwa mit f (n) bezeichnet werden; sie heiße »Belegungsfunktion von n«; die entsprechende Belegung von N werde f (N ) genannt. Zwei Belegungen f 1 (N ) und f 2 (N ) heißen dann und nur dann gleich, wenn für alle Elemente n von N die Gleichung erfüllt ist f 1 (n) = f 2 (n) , sodass, wenn auch nur für ein einziges besonderes Element n = n 0 diese Gleichung nicht besteht, f 1 (N ) und f 2 (N ) als verschiedene Belegungen von N charakterisiert sind. [. . . ]
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Cantor
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Pasch: Die Funktion als Menge (1) Die Gesamtheit aller verschiedenen Belegungen von N mit M bildet eine bestimmte Menge mit den Elementen f (N ); wir nennen sie die »Belegungsmenge von N mit M « und bezeichnen sie durch (N | M ). Es ist also (N | M ) = { f (N ) } .“ (Cantor 1895–1897, S. 287 f.) Dies Letztere, die „Belegungsmenge von N in M “, in die heute übliche Schreibweise übersetzt: (N | M ) = M N . C ANTOR nutzt hier also den Begriff „Funktion“, um ein Bestimmungs-„Gesetz“ zwischen den Elementen zweier Mengen N und M zu beschreiben. Er definiert den Begriff „Funktion“ aber nicht als dieses „Gesetz“. PASCH: DIE FU NKTION AL S ME NGE (1) M ORITZ PASCH (1843–1930) bestimmt im Jahr 1909 den Begriff „Analysis“ ganz im B OLZANO’schen Geist der logischen Methodenreinheit wie folgt: S. 278 „Die Beziehungen zwischen [den Zahlen] bilden den Gegenstand der ˜ ˜ Arithmetik (Zahlenlehre), die auch Analysis heißt zur Unterscheidung von der Arithmetik im engeren Sinn (Lehre von den ganzen, überhaupt den rationalen Zahlen). Die Analysis ist ein Teil der Mathematik, und zwar der Teil, der die anderen Teile nicht voraussetzt.“ (Pasch 1909, S. 2) Insbesondere: „Während aber die Analysis unabhängig dasteht, müssen in der Geometrie die Begriffe der Analysis vorausgesetzt werden.“ (Pasch 1909, S. III) (Natürlich konnte PASCH im Jahr 1909 nicht ahnen, welchen weiteren Entwicklungsweg die Geometrie nehmen würde – beispielhaft sei nur die Spiegelungsgeometrie genannt,i die ganz ohne die „Analysis“ in PASCHs Sinne auskommt. Für eine umfassendere Darstellung der Geschichte der Geometrie seit H ILBERT siehe Karzel und Kroll 1988.) PASCHS ANFANGSBEGRIFFE Aussagen der Analysis müssen „verwirklicht werden können“ PASCH zählt die Mengenlehre (seiner Zeit!) zur Philosophie, ebenso wie „die Untersuchung des mathematischen Folgerungsverfahrens und der einzelnen Vorgänge, i
Bachmann 1959
Pasch
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7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff die sich dabei vollziehen“j – also das, was alsbald „Metamathematik“ und später dann einfach „(mathematische) Logik“ heißt. Er gesteht zwar der reinen Mathematik (Analysis) ihre Berechtigung zu, besteht aber gleichwohl auf der Einbeziehung der Anwendbarkeitsfrage: „Vom rein analytischen Standpunkte aus kann man Erklärungen eines Begriffs, welche auf dessen Anwendung keine Rücksicht nehmen, als genügend anerkennen und sie sogar andern Erklärungen vorziehen; nur wird dann in gewissen Fällen – und hierher gehört der Begriff der irrationalen Zahlen – eine besondere Auseinandersetzung darüber notwendig, wie der zunächst für die Benutzung innerhalb der Analysis zubereitete Begriff zu seiner tatsächlichen Anwendung außerhalb der Analysis gelangt.“ (Pasch 1892, S. 149) Für PASCH bestehen keine Zweifel: „[Die] Berechtigung [der Aussagen der Analysis] beruht einzig [sic] darauf, dass sie außerhalb der Analysis – unter Hinzufügung von Benennungen – verwirklicht werden können.“ (Pasch 1892, S. 149 f.) Hier trifft sich PASCH also mit F REGE.
S. 470
Dinge, Eigennamen, Gemeinnamen, Angaben und Folgen PASCH will nur von „Dingen“ handeln – sogar nur von wirklichen: ˜ „Als Ding gilt zunächst nur Wahrgenommenes oder Wahrnehmbares. ˜ Ein dem Ding und nur ihm zukommender Name heißt Eigenname des ˜ Dinges. Unter einer Angabe des Dinges verstehen wir eine Bezeichnung des Dinges mit einem Eigennamen oder einem anderen Hinweis auf das Ding.“ (Pasch 1909, S. 1)
Wenn PASCH in seinem ersten Beispiel – und er ist mit Beispielen mehr als sparsam – die „Dinge“: „Punkte“ und „Strecken“ betrachtet,k erkennen wir: Er ist hinsichtlich seines Verständnisses von „Ding“ wenig engherzig. „Ein Name kann Name verschiedener Dinge sein; ein solcher heiße ein ˜ Gemeinname.“ (Pasch 1914, S. 1) Nahe liegend ist: ˜ „Das Ding angeben heißt in diesem Fall: es mit seinem Eigennamen bezeichnen.“ (Pasch 1909, S. 1)
Dabei ist „dieser Fall“ eine implizite Definition des „Dinges“: j
Pasch 1914, S. 33
k
Vgl. Pasch 1909, S. 1.
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Pasch: Die Funktion als Menge (1) „Auf dem Wege der Definition kann ein Hauptwort (D), das nicht [Eigenname450 ] des Wortes »Ding« in dem bis dahin gültigen Sinn ist, mit der Wirkung eingeführt werden, dass es ganz so behandelt werden darf, als wäre es Eigenname eines Dinges (des Dinges D). Die Definition (implizite Definition) muss angeben, in welchen Aussagen zunächst das Wort gebraucht werden darf, und was solche Aussagen bedeuten sollen.“ (Pasch 1909, S. 1, in Verbindung mit Pasch 1914, S. VI, Zeile −14) Anders als F REGE hat PASCH also nichts gegen implizite Definitionen einzuwen- ab S. 566 den. Ganz wichtig ist nun, dass PASCH das „Angeben“ von „Dingen“ als ein wirkliches Tun ansieht. Als ein solches aber vollzieht es sich unausweichlich in der Zeit. Dies wiederum hat die ganz selbstverständliche Konsequenz, dass sämtliche „Angaben“ der „Dinge“ notwendigerweise in zeitlicher Abfolge und also in einer „Reihenfolge“ geschehen (mit der Zeit sind von selbst die Verhältnisse „früher“ und „später“ gegeben):
„Grundsatz 1. Ist a Angabe eines Dinges, b ebenfalls, b von a verschieden, so ist entweder a früher als b, oder b früher als a, und zwar schließt jede dieser Möglichkeiten die andere aus.“ (Pasch 1909, S. 2) PASCHs letzter Anfangsbegriff (in dem späteren Buch Veränderliche und Funktion) ist: ˜ ˜ „Folge, und zwar in der Verbindung: Folge von Angaben.“ (Pasch 1914, S. 1)
Dazu die Erläuterung: „Wer bestimmte Angaben (die Angaben A) gemacht hat und festhält, kann sie zu einem Ganzen (dem Ding A) zusammenfassen (daher Satz 8 des § 3); er kann alsdann das Ganze – ich nenne es eine »Folge« – zum Gegenstand einer Angabe machen (daher Satz 10 des § 3). Die Folge A ist durch die Angaben A bestimmt; zu ihrem Begriff gehört nicht die besondere Gestalt, in der die Folge dem Vorstellenden im Einzelfall erscheint. Es kann demnach nur von einer Folge der Angaben A die Rede sein (daher Satz 9 des § 3).“ (Pasch 1914, S. 1 f.) Für PASCH ist das „Ganze“ eine „Folge“ (im Sinne der zeitlichen Abfolge) von „Angaben“, eine in der Zeit erfolgte Zusammenstellung. – Die von PASCH angeführten Sätze seien nachgetragen:
„Satz 8. Es kann ein Ding angegeben werden, das Folge der A ist. Bezeichnung [. . . ]. Es sei A Folge der A. Satz 9. Kein Ding außerdhalb vone A ist Folge der A. Satz 10. Jede Angabe von A ist später als jedes A.“ (Pasch 1914, S. 3 f.) 450
PASCH möcht hier „Sinn“ haben, doch das scheint unpassend.
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7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff
ab S. 617
Anders als K LEIN will PASCH die Mathematik nicht in „reine“ und „angewandte“ aufteilen. Vielmehr ist PASCH bestrebt, die Analysis als eine auf die Empirie bezogene Lehre zu konstituieren. REIHE UND MENGE Wenn die „Folge“ aus „Angaben“ verschiedener „Dinge“ mit dem Gemeinnamen „D“ besteht, heißt diese „Folge“ eine „Reihe“:
„Definition 26. Sind die A Angaben verschiedener Dinge, der Dinge D, so soll A eine Reihe der D heißen.“ (Pasch 1914, S. 17) Eine „Reihe“ ist also eine „Folge“ aus „Angaben“ von „Dingen“ mit demselben „Gemeinnamen“ D. Im Folgenden wird der Begriff „konforme“ Reihe benutzt, jedoch nicht wesentlich; daher brauchen wir ihn für unsere Zwecke hier nicht zu lernen: „Aus dem Begriff: Reihe A der Dinge A, d. i. Folge A der Angaben A verschiedener Dinge, der Dinge A, entwickelt sich der Begriff: Menge M der Dinge A. Zuerst werden [. . . ] diese Dinge einzeln wahrgenommen, es geschehen die Angaben A der A, es entsteht die Reihe A. Ich kann aber neue und immer wieder neue Reihen derselben Dinge bilden, und zwar nicht bloß mit A konforme Reihen, sondern auch nicht konforme [. . . ]; für alle möglichen Reihen der A werde ein Gemeinname B eingeführt. In dem Begriff Menge, Menge der A, Menge M, ist nun das festgehalten, was sich in den B wiederholt, während die Besonderheiten der einzelnen B abgestoßen sind; diese abzustoßen ist eben der Zweck, dem das Wort »Menge« zu dienen hat. Wird vom Ding a ausgesagt, dass es in der Menge M enthalten ist, so bedeutet das: a ist in der Reihe A enthalten, überhaupt in jeder Reihe B. Tritt auch das Ding b als ein in der Menge M Enthaltenes auf, so sind a und b in jeder Reihe B enthalten; aber die Möglichkeit einer Gegenüberstellung, durch die etwa a als das Frühere, b als das Spätere erschiene, fällt fort [. . . ]. Auf diesen Tatbestand gründen wir die Definition des Dinges M.
Definition 30. Statt: Das Ding a ist in der Reihe A enthalten, kann man sagen: a ist in dem Ding M enthalten; statt a ist in A früher als b, kann man jedoch nicht sagen: a ist in M früher als b, oder: a ist in M später als b. M heißt eine Menge (Vielheit, Mehrheit), und zwar die Menge der A, wenn die A die Glieder von A sind; die A nennen wir die Stücke der Menge M.“ (Pasch 1914, S. 19)
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Pasch: Die Funktion als Menge (1) Wir lassen jetzt die Erörterung der Frage beiseite, ob eine solche „Menge“ etwas „Wahrgenommenes“ oder wenigstens etwas „Wahrnehmbares“ ist. Stattdessen halten wir fest: Für PASCH ist die „Menge“ ein Abstraktum, das aus einer „Reihe“ entsteht, indem von JEDER „Reihenfolge“ der Reihenglieder abgesehen wird. Die „Menge“ ist ein aus Anderem abgeleitetes „Ding“. Die „Menge“ entsteht, indem gewisse „Besonderheiten“ „abgestoßen“ werden. Zu der Frage, welche „Besonderheiten“ wie „abgestoßen“ werden, damit eine „Menge“ entsteht, sagt PASCH jedenfalls das: Das „Früher“ und das „Später“ werden „abgestoßen“ und also das, was wir heute als die „Ordnung“ der vorgelegten „Dinge“ verstehen.451 Was heute „Element“ einer „Menge“ heißt, nennt PASCH „Stück“. WERT UND VERÄNDERLICHE PASCH betrachtet den „Summenausdruck“ „12 + 7“. Ersetzt man darin die 12 (den „ersten Addenden“) durch 15, so geht das „Ergebnis“ 19 in 22 über: „Man kann aber nicht sagen: die Zahl 12 ist gewachsen, obwohl man es vom »ersten Addenden« sagt. Anders, wenn man statt des festen Zahlennamens 12 einen willkürlich gewählten a, der Eigenname etwa für eine beliebige absolute ganze Zahl sein soll, benutzt und die Summe a + 7 bildet [sic]. Man denkt bei einem solchen Namen nicht an eine unverrückbare Zahl, wie bei dem Namen 12, und spricht daher unbedenklich von einem Wachsen, von einem Abnehmen, überhaupt von einer Veränderung der Zahl a oder des »ersten Addenden der Summe a + 7«. Die einzelnen Zahlen, die der Name a soll bedeuten können, heißen die Werte von a. Obgleich weder der Name a noch der einzelne Wert von a einer Veränderung fähig ist, nennt man a eine veränderliche Zahl, eine Veränderliche (Variable). Bis der Name a wieder freigegeben oder über ihn anders verfügt wird, muss er jedoch als Eigenname gelten. Es ist also bis dahin zwar erlaubt, unter a jeden beliebigen seiner Werte zu verstehen; doch muss es durchweg derselbe Wert sein.“ (Pasch 1914, S. 41) Einfacher gesagt: „Veränderliche“ (oder: „veränderliche Zahl“) ist ein „Gemeinname“ für mehrere Zahlen, die dann „Werte“ heißen. „Veränderliche“ ist die Wahl eines „Namens“ für mehrere „Dinge“. Diese „Dinge“ müssen natürlich keine Zahlen sein: „Der geschilderte Vorgang ist nicht auf Zahlen beschränkt, sondern überall möglich, wo eine Menge von irgendwelchen Dingen vorliegt 451
Übrigens hat B OLZANO 77 Jahre vor PASCH den Begriff „Menge“ in fast derselben Weise bestimmt: nämlich als abgeleiteten, abstrahierten Begriff – siehe WL, § 84, S. 399 f.; dazu Spalt 1990a sowie van Rootselaar 1990.
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7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff [. . . ]. Er beruht auf der Freiheit der Namengebung [. . . ]. Er wäre nicht möglich, wenn wir nur auf die Namen angewiesen wären, die dem Sprachschatz fest angehören.“ (Pasch 1914, S. 41, textliche Querweise, wie auch im Folgenden, weggelassen)
S. 287
Damit wiederholt PASCH B OLZANOs etwa 80 Jahre alte, damals jedoch unbekannte Analyse. – Sodann bestimmt PASCH den Begriff „Wert“: „Wird x als Veränderliche, deren Gebiet eine gewisse Menge ist, eingeführt, so bietet sich der Gemeinname »Wert von x« für die Stücke der Menge dar; es kann natürlich auch irgendein anderer Gemeinname D gewählt werden.“ (Pasch 1914, S. 41) Der „Wert“ ist demnach die zu dem „Gebiet“ gehörige „Zahl“. Wobei PASCH nicht ausdrücklich sagt, dass ein „Gebiet“ gerade jene „Menge“ ist, welche sämtliche „Werte“ einer „Veränderlichen“ umfasst. Wenn das betreffende „Gebiet“ nur ein einziges „Stück“ enthält, ist (oder heißt?) die betreffende Veränderliche: „Konstante“. Interessanterweise sagt PASCH das nicht so, sondern er bestimmt die „Konstante“ als Name eines einzigen „Dinges“l . Damit meistert er (im Jahr 1914!) nicht die Klippe der Unterscheidung einer „Menge“, die aus einem einzigen „Stück“ besteht, und diesem „Stück“. Er unterscheidet also, in heutiger Notation, nicht „x“ von „{x}“. (Zugegeben: Diese Unterscheidung ist diffizil.) Dafür betont PASCH, „dass das Gebiet einer Veränderlichen eine Konstante sein muss.“l Das soll wohl heißen: Es muss bestimmt sein. A R G U M E N T, A B H Ä N G I G K E I T U N D F U N K T I O N Zunächst der Begriff „Ausdruck“: „Unter einem (arithmetischen, analytischen, mathematischen) Ausdruck versteht man [. . . ] einen zusammengesetzten Namen, in dem einer oder mehrere Namen vorkommen. Statt Ausdruck wollen wir [auch] Bild sagen. Das Bild kann Eigenname oder Gemeinname sein.“ (Pasch 1914, S. 11) In einem Ausdruck treten Eigennamen „natürlich“ nur in endlicher Anzahl auf. „Diese Eigennamen heißen die Argumente des Ausdrucks.“m Man kann mehrere „Veränderliche“ betrachten, also mehrere „Namen“ für „Zahlen“, wobei es zu jeder dieser „Veränderlichen“ ein „Gebiet“ geben muss. Ist weiter nichts bestimmt, so heißen solche Veränderliche „frei“n . l m
Pasch 1914, S. 42 Pasch 1914, S. 43
n
Pasch 1914, S. 49
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Pasch: Die Funktion als Menge (1) Betrachtet man zusätzlich einen „Ausdruck“, in dem diese „Veränderlichen“ vorkommen, so werden sie „unfreie Veränderliche“n , denn der Ausdruck bindet sie aneinander, macht sie „voneinander abhängig“n . Ein Beispiel: Wenn die Veränderliche x durch die „Forderung“ 0 5 x 5 1 und die Veränderliche y durch die „Forderung“ 0 5 y 5 2 mittels des „Ausdrucks“ 4x 2 + y 2 = 4 aneinander gebunden sind, dann wird „die Freiheit von x und y [. . . ] so sehr eingeschränkt, dass man, wenn ein Wert von x beliebig [= 0 und 5 1] angenommen wird, für y nur einen einzigen Wert wählen kann, und umgekehrt.“ (Pasch 1914, S. 49) In einem solchen Fall (in dem also mit jedem „Wert“ von x nur ein einziger „Wert“ von y „verbunden werden“ kann) steht „in vielen Fällen [. . . ] für diesen Wert ein fester Name zu Gebote, der sich auf die besondere Abhängigkeit der Zahl y von der Zahl x bezieht, z. B. Quadrat von x [. . . ]“ (Pasch 1914, S. 52) Freilich kann es für jenen „Ausdruck“, der die beiden „Veränderlichen“ „aneinander bindet“, „beliebig viele äquivalente, wenn auch umständlichere, Ausdrücke“o geben. „Das Feste ist immer die Menge der Paare x|y [452] , die eine Konstante ist.∗ Bezeichnet man diese Menge mit f , so kann man y, wenn es eine Zahl bedeutet, etwa die f -Zahl von x, bei beliebiger Bedeutung kurz das f von x nennen und zu der Schreibung f x oder f (x) weitergehen [. . . ]. Eine solche Schreibung hat man in der Tat eingeführt und dadurch ein Mittel geschaffen, das in verwickelten Fällen Kürze ermöglicht, aber auch in einfachen Fällen, wo feste Zeichen vorhanden sind, angewendet werden darf. Die Eigennamen von der Form »das f von x« werden durch den Gemeinnamen Funktion von x umfasst. Statt »das f von x« kann man daher sagen: »die f -Funktion von x«. In diesen Ausdrücken heißt f das Funktionszeichen, der Funktionsbuchstabe, die Charakteristik. [. . . ] In dem Namen f (x) der von x abhängigen Veränderlichen y heißt x die unabhängige Veränderliche, die Independente; f (x) hat für jeden aus dem Gebiet von x beliebig entnommenen Wert einen Sinn. Die ∗
Eine solche Menge ist die der Paare x|u wo u der Logarithmus von x für die Grundzahl a [ist] [. . . ].
o
Pasch 1914, S. 52
452
Dies ist PASCHs Bezeichnung eines geordneten Paares, also unser heutiges „(x, y)“.
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7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff etwa benutzten relativen oder absoluten Konstanten werden, obwohl sie auf die Bedeutung des Funktionszeichens Einfluss haben, darin zunächst nicht ersichtlich gemacht.“ (Pasch 1914, S. 52 f.) Damit hat PASCH die „Funktion“ in der Tat als eine „Menge“ bestimmt: als eine „Menge“ von „Paaren“ x|y, wo x und y „Namen“ für „Zahlen“ aus einem je bestimmten „Gebiet“ sind (das ebenfalls je eine „Menge“ ist). Dabei ist die „Menge“ ein abgeleiteter Begriff (PASCH sagt: ein „Ding“), und zwar abgeleitet aus einer „Reihe“. Eine „Reihe“ wiederum ist eine „Folge“ aus „Angaben“ verschiedener „Dinge“; und eine „Folge“ ist (als eine „Folge“ von „Angaben“) in der Zeit nach „früher“ oder „später“ geordnet. Das scheint in aller wünschenswerten Klarheit definiert. Probleme Allerdings gibt es in diesem schönen System einen Pferdefuß! Denn: Wenn eine „Funktion“ eine „Menge“ ist, und wenn diese wiederum aus einer „Folge“ (von „Angaben“ von „Dingen“) abgeleitet ist – dann ist zu fragen: Welches ist denn jene „Folge“, aus welcher die „Funktion“, die eine „Menge“ ist, abgeleitet ist? (i) Im Falle der „Funktion“ „von einer Veränderlichen“ mag diese Frage eine Antwort haben. Die „unabhängige Veränderliche“ x könnte durch eine „Forderung“ wie 0 5 x 5 1 als eine „Reihe“ gegeben gelten – obwohl schon dies problematisch ist: Darf diese „Ordnung der Größe nach“ als eine „Angabe“ in der Zeit genommen werden? Im ganz strengen Wortsinn sicher nicht! Denn es könnte immerhin sein, dass die Möglichkeiten der „Angaben“ in der Zeit ein striktes Nacheinander haben – was bei den Zahlen in ihrer „Ordnung der Größe nach“ ganz sicher nicht der Fall ist; selbst dann nicht, wenn wir uns auf die „rationalen“ Zahlen beschränken. (ii) Ganz problematisch aber ist es natürlich bei den „Funktionen“ „von mehreren Veränderlichen“. Lesen wir, was PASCH dazu sagt! Einfach nur das: „Der Begriff der Funktion ist auf Veränderliche in beliebiger (endlicher) Anzahl auszudehnen. Nehmen wir etwa zwei freie Veränderliche x, x 0 und eine Veränderliche y, die mit jenen durch eine oder mehrere Bedingungen so verknüpft ist, dass für y nur ein einziger Wert möglich bleibt, wenn die Werte von x und x 0 gewählt [sic] sind, jedoch nicht immer schon dann, wenn der Wert von x gewählt ist, auch nicht immer schon dann, wenn der Wert von x 0 gewählt ist. Dadurch entstehen »Systeme« x|x 0 |y, die eine Menge f bilden. Man nennt y die f -Funktion von x und x 0 : y = f (x, x 0 ) , wobei f (x, x 0 ) und f (x 0 , x) im Allgemeinen zu unterscheiden sind; x und x 0 heißen die Independenten (Erste, Zweite).“ (Pasch 1914, S. 55) Woher kommt in diesem Falle die „Menge“ f , aus welcher „Reihe“ bzw. „Folge“?
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Pasch: Die Funktion als Menge (1) Es ist nicht zu erkennen, dass sich PASCH dieses Problems in seinem Denksystem bewusst war. PASCH hat genau jene Bestimmung des Begriffs einer „Funktion“ „von mehreren Veränderlichen“ gegeben, wie sie der Analytiker denken möchte. Es ist jedoch nicht zu erkennen, dass er sich über die damit verbundenen begrifflichen Probleme auf der Ebene der Mengenbildung Gedanken gemacht habe. Zwar lehnt PASCH sicherheitshalber eine Analyse der „Mengenlehre“ für sich ab, aber er beansprucht dennoch: „Die Darstellung in den Grundlagen der Analysis und hier bezweckte ˜ den Nachweis, dass in der Analysis, wenn man von der Mengenlehre absieht, alles aus den erwähnten Grundlagen fließt; hinter diese gehen wir aus den gegen Ende des § 23 ausgesprochenen Gründen nicht zurück.“ (Pasch 1914, S. 138) Und jene dort ausgesprochenen Gründe lauten: „Das [in der Mathematik beim Beweisen geübte Folgerungs-]Verfahren selbst gehört nicht zu den Gegenständen der mathematischen Forschung. Zwar wird die Untersuchung des mathematischen Folgerungsverfahrens und der einzelnen Vorgänge, die sich dabei vollziehen, nur befriedigen, wenn sie sich auf erschöpfendes Nachprüfen aller Einzelheiten der betreffenden mathematischen Gedankengänge gründet. Sie ist aber ein Gegenstand von selbstständiger und allgemeiner Bedeutung und gehört zum Bereich der Philosophie.“ (Pasch 1914, S. 33) Aber es ist eben keine Frage der „Philosophie“, sondern eine der Mathematik, ob PASCHs Begriffsbestimmung der „Funktion“ zutreffend ist oder nicht. Denn immerhin hat PASCH eine Definition von „Funktion“ gegeben – und also muss er es sich gefallen lassen, wenn diese seine Definition auf ihre Richtigkeit, ihre Haltbarkeit geprüft wird. Im Falle einer „Funktion“ „von mehreren Veränderlichen“ ist es aber nicht zu sehen, wie seine Definition haltbar sein könnte. Welche „Folge“ (von „Angaben“) soll es sein, aus der jene „Menge“, die diese „Funktion“ „von mehreren Veränderlichen“ sein soll, „entsteht“? Die „Stücke“ (heute: „Elemente“) der „Menge“ „Funktion“ „von mehreren Veränderlichen“ sind „Permutationen“ (PASCHs Name für unser heutiges „n-Tupel“) x|x 0 |x 00 | . . . – aber woher rührt DEREN „Folge“? Vielleicht lässt sich eine solche „Folge“ herstellen (definieren) – aber darum geht es nicht! Diese „Folge“ muss PASCHs System zufolge bestehen. Sie muss, streng genommen, sogar „angegeben“ sein. Eine solche „Angabe“ aber fehlt klarerweise, und von ihr ist bei PASCH auch keine Rede. PASCH jedenfalls hat sie nicht „angegeben“.
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7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff Die Wurzel des Übels Das Problem liegt natürlich in den von PASCH gewählten Grundbegriffen. Sein Erster ist „Ding“, sein Zweiter „Angabe“ – und mit dieser „Angabe“ nimmt er ausdrücklich die Zeit in seine Begriffe auf (mittels „früher“ und „später“ definiert er die „Folge“ usw.). Doch die Zeit gehört nicht in die Begriffsbildungen der Mathematik. Das kann man hier gut sehen. So sympathisch PASCHs Bildung seiner Grundbegriffe und darunter besonders die „Angabe“ vielleicht erscheinen mag (beschreibt sie nicht genau das Tun der Mathematikerin und des Mathematikers?), so unangemessen ist es in der Sache – es sei denn, PASCH wollte eine Analysis darstellen, die den handelnden, den Mathematik treibenden Menschen, genauer: das Tun des Mathematik treibenden Menschen, in seine Begriffsbildung einbezieht. So, wie das Spätere453 versucht haben (Intuitionisten, Konstruktivisten). Davon aber ist bei PASCH nichts zu erkennen. Für ihn sind, sagen wir: die „Zahlen“ nicht etwas, das durch „Angaben“ zustandekommt, sondern sie sind (in irgendeiner platonischen Art) gegeben. Denn er hat ja die Irrationalzahlen,p und für diese hat er ganz gewiss kein Verfahren der „Angabe“ im Sinne eines zeitlichen Früher und Später! Damit teilt PASCHs Werk jenes Schicksal, das auch W EIERSTRASS (wie wir gesehen haben: gleich mehrfach; von F REGE gar nicht zu redenq ) ereilt hat: Sein hart erarbeitetes Begriffssystem weist Lücken auf, die nicht in erkennbarer Weise zu schließen sind. ZWEIERLEI STETIGKEIT S. 147 S. 483 S. 591, 594
Während zwischen C HRISTIAN W OLFF (im Jahr 1720) und R ICHARD D EDEKIND (im Jahr 1872) der Begriff der „Stetigkeit“ einer „unabhängig“ Veränderlichen eher unbeachtet blieb, wurde er danach gelegentlich aufgegriffen, etwa von H ARNACK und S TOLZ. Dem schließt sich auch PASCH an. In seinen 1909 erschienen Grundlagen der Analysis heißt es (unter dem „unbestimmten Unendlich“ versteht PASCH den Oberbegriff von +∞ und −∞, den er 1909 durch „±∞“ und 1914 durch „Ω“ beschreibtr,454 ):
„Definition 138. Eine Zahlenmenge, die das unbestimmte Unendlich ˜ nicht enthält, heißt stetig, wenn jede zwischen Zahlen der Menge ein˜ geschlossene Zahl der Menge angehört, sonst unstetig. Auf andere Zahlenmengen werden diese Begriffe zunächst nicht angewendet. p
453 454
Vgl. etwa Pasch 1892.
q
Vgl. Frege 1893/1903, Bd. 2, S. 253 ff. r Pasch 1909, S. 103, Pasch 1914, S. 27
und der Absicht nach vielleicht sogar PASQUICH: siehe S. 280, Anmerkung 181. ∞ bestimmt PASCH zunächst als das „Zahlwort“ „unendlichviele“ (Pasch 1909, S. 79), muss dafür aber ganz eigene Rechenregeln aufstellen (Pasch 1909, S. 80 f.). Später „ersetzt“ PASCH diese „Definition“ durch einen „Lehrsatz“ (Pasch 1914, S. 25) und meint damit die Bestimmung: ∞ oder +∞ ist jene Zahl, die größer ist als jede „natürliche“ Zahl.
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Pasch: Die Funktion als Menge (1) ˜ Eine Veränderliche heißt stetig, wenn ihre Werte eine stetige Zahlen˜ menge bilden, sonst unstetig. (Pasch 1909, S. 104)
(Fügen wir in Klammern hinzu, dass PASCH im direkten Anschluss auch den Begriff „überall dicht“ für „Mengen“ bestimmt und erläutert.s ) In seinem späteren Buch Veränderliche und Funktion behandelt PASCH die Sache ausführlicher. Zunächst lässt er den Begriff „stetig“ für eine „unabhängig“ Veränderliche offen und bestimmt den Begriff der „Stetigkeit“ für „Funktionen“ mit einer hübschen Formulierung: „Es sei nun x irgendwie als stetige Veränderliche eingeführt, f (x) eine Funktion von x, a ein Wert von x. Hat dann f (a) einen endlichen Wert, und wird f (a) beliebig genau durch f (x) dargestellt, wenn man a hinreichend genau durch x darstellt, so heißt die Funktion stetig (kontinuierlich) bei x = a, anderenfalls unstetig (diskontinuierlich) bei x = a.“ (Pasch 1914, S. 92) Das ist in Prosa die ‚epsilontische‘ Bestimmung des seit B OLZANO und C AUCHY S. 281, 314 traditionell gewordenen Stetigkeitsbegriffs. Darauf gibt PASCH ein Beispiel, anhand dessen er den Unterschied zwischen den Begriffen „Stetigkeit“ für „unabhängig“ und für „abhängig“ Veränderliche demonstrieren will. Betrachte folgende Funktion:455 ( ϕ(x) =
x 2 + 1 für 2
x + 2 für
−∞ < x 5 1 x > 1.
Das Bild dieser Funktion zeigt also die um 1 nach oben verschobene Normalparabel für alle Werte x 5 1 sowie die um 2 nach oben verschobene Normalparabel für alle Werte x > 1. Diese Funktion ϕ(x) ist bei x = 1 unstetig, denn: „dadurch, dass man x der Zahl 1 hinreichend nahe bringt, kann man nicht bewirken, dass ϕ(x) beliebig nahe bei dem Wert ϕ(1) = 2 bleibt, etwa zwischen 2 − ε und 2 + ε, wo 0 < ε < 1. Denn wie klein auch die positive Zahl δ gewählt wird, so ist ϕ(x) = x 2 + 2 > 3 > 2 + ε für alle x zwischen 1 und 1 + δ.“ (Pasch 1914, S. 92) s 455
Pasch 1909, S. 105 Vgl. Pasch 1914, S. 92 f.; in der Definition der Funktion macht PASCH nicht ausdrücklich klar, dass er auch die negativen Werte von x einbeziehen will.
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7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff Nun gilt: „Der Wert ϕ(x) durchläuft alle Zahlen = 1, während x von 0 bis −∞ variiert; für 0 < x 5 1 ist 1 < y 5 2; für x > 1 ist y > 3. Als Werte von y treten also alle Zahlen = 1 auf, zum Teil zweimal; die Werte von y bilden eine stetige Zahlenmenge, erfüllen stetig das Gebiet von 1 bis [+]∞. Hiernach ist in unserem Beispiel y stetig als Veränderliche, aber nicht überall stetig als Funktion von x.“ (Pasch 1914, S. 93) S. 643
Mit „Veränderliche“ meint PASCH, wie erinnerlich, den „Gemeinnamen“ für mehrere Zahlen; hier ist „y“ der „Gemeinname“ für alle Zahlen von 1 bis +∞. – Realistisch, aber auf seiner Sache beharrend fährt PASCH fort: „Wie hier bezüglich des Wortes »stetig«, so hat in vielen Fällen der Sprachgebrauch sich derart gestaltet, dass ein und dasselbe Wort für verschiedene Erscheinungen angewendet wird. Obwohl hierunter das Aneignen und Auseinanderhalten der Begriffe leiden muss, wird dem eingebürgerten Sprachgebrauch doch nur selten mit Erfolg entgegengearbeitet werden. Um jedoch bezüglich des Wortes »stetig« an den oben erkannten Unterschied zu erinnern, werde ich gelegentlich die stetige Zahlenmenge eine massive Zahlenmenge oder ein Massiv nennen und eine stetige, d. h. deinee ein Massiv durchlaufende Veränderliche als eine massive Veränderliche der »stetigen Funktion« gegenüberstellen, sodass in dem obigen Beispiel y eine massive Veränderliche ist und zugleich eine nicht durchweg stetige Funktion.“ (Pasch 1914, S. 93)
S. 591, 594
Dieser Sprachgebrauch hat sich in der Tat nicht durchgesetzt. Statt von einer „massiven“ (unabhängig) „Veränderlichen“ sprechen wir heute von einer „dichten“ „Menge“. Jedenfalls hat PASCH damit die bei Harnack 1881 und Stolz 1885 zu findende Begriffsverwirrung zur „Stetigkeit“ einer „Veränderlichen“ aufgelöst. H AU S D O R F F : D I E E R F I N D U N G D E R M E N G E N - A N A LY S I S (UND ALSO: DIE FUNKTION ALS MENGE (2)) RICHTIGKEIT VOR PLAUSIBILITÄT Das erste erfolgreiche Lehrbuch zur Mengenlehre stammt von F ELIX H AUSDORFF (1868–1942, von deutschen Staatsorganen in den Tod getrieben). Es erschien unter dem Titel Grundzüge der Mengenlehre im Jahr 1914 und wurde 35 Jahre später in den USA nachgedruckt. Sein Vorwort ist auf den 15. März 1914 datiert und weist den Autor auch als Literaten aus: „In einem Gebiet, wo schlechthin nichts selbstverständlich und das Richtige häufig paradox, das Plausible falsch ist, gibt es außer der lückenlosen Deduktion kaum ein Mittel, sich und den Leser vor Täuschungen zu bewahren.
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Hausdorff: Die Erfindung der Mengen-Analysis – die Funktion als Menge (2) Ich habe, um von dem menschlichen Privileg des Irrtums einen möglichst sparsamen Gebrauch zu machen, nichts ungeprüft übernommen und manches von der Wiedergabe ausgeschlossen, was mir nur auf persönlichen Kredit hin glaubwürdig erschien; aber selbst fertige und im ganzen einwandfreie Darstellungen, die ich meinem Plane einzugliedern hatte, musste ich häufig einer gründlichen Umarbeitung unterziehen, bis sie sich den mir vorschwebenden Forderungen an Präzision fügten.“ (Hausdorff 1949, S. V) Der erste Satz dieses Zitats mutet an wie eine Verfeinerung des unmittelbar zuvor von PASCH publizierten Satzes in dessen Buch Veränderliche und Funktion: „Überall ist es verhängnisvoll, etwas für selbstverständlich zu halten.“t Bereits im Jahr 1901 hatte B ERTRAND RUSSELL pointiert formuliert: „Selbstverständlichkeit ist immer ein Feind der Korrektheit.“u sowie: „Selbstevidenz ist oft nur ein Irrlicht, das uns mit Sicherheit vom richtigen Wege abführt, wenn wir uns seiner Führung anvertrauen.“v Diese Formulierungen sind seismografische Zeichen. Sie zeigen: Die Analysis, die Mathematik insgesamt ist auf dem Weg, sich von Grund auf zu verändern. Die „axiomatische Methode“, derer sich H AUSDORFF (nicht jedoch PASCH!456 ) bedient und die D EDEKIND zufolge „willkürliches Denken“ ist, verändert die Mathematik ab S. 578 in ihrem Wesenskern. (Für einen weiteren Kommentar dazu siehe den letzten Ab- ab S. 671 schnitt dieses Buches.) DER MENGENTHEORETISCHE BEGRIFF „FUNKTION“ Das zweite Kapitel seines Buches beginnt H AUSDORFF mit der Definition des Begriffs „Funktion“; zuvor war das „geordnete Paar“ p = (a, b) zweier beliebiger „Elet
Vgl. Pasch 1914, S. 126 f. Russell 1952b, S. 79; im Original: „Obviousness is always the enemy to correctness.“ (Russell 1901, S. 85) v Russell 1952b, S. 79; im Original: „Self-evidence is often a mere will-o’-the-wisp, which is sure to
u
456
Obwohl PASCH ausdrücklich das befürwortet, was er „Formalismus“ nennt und worunter er Folgendes versteht: „Das Folgerungsverfahren, mittels dessen die Mathematik von Satz zu Satz fortschreitet, habe ich als einen Formalismus bezeichnet, und zwar als einen Formalismus, gegen den nicht der leiseste Verstoß gestattet ist. Dieser Formalismus ist der Lebensnerv der Mathematik. Wie aber schon [. . . ] erörtert wurde, findet man diesen Formalismus äußerst selten bis zur deutlichen Kenntlichkeit bloßgelegt. Diejenige Folgerungskunst, die in der Mathematik im Gegensatz zu den übrigen Denkgebieten die Alleinberechtigte ist – man kann sie die mathematische (arithmetische, deduktive, formale) Logik nennen –, pflegt der Mathematiker in abgekürztem, oft in außerordentlich abgekürztem Verfahren auszuüben. Geht dadurch die Zuverlässigkeit der Ergebnisse nur in verhältnismäßig geringem Umfang verloren, so wird doch der Nichtmathematiker ˜ durch die Beschaffenheit, in der er die Literatur vorfindet, über das Wesen der Mathematik irregeführt, und auch der Mathematiker ist nicht davor sicher, dass das Gefühl dafür sich in ihm abschwächt.“ (Pasch 1914, S. 121 f.)
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7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff mente“ a, b einer „Menge“ als die zweielementige „Menge“ p = { {a, 1}, {b, 2} } definiert wordenw . Dann setzen wir „zwei nicht verschwindende Mengen A, B “x voraus und betrachten „eine Menge P solcher Paare, und zwar von der Beschaffenheit, dass jedes Element a von A in einem und nur einem Paare p von P als erstes Element auftritt. Jedes Element a bestimmt auf diese Weise ein und nur ein Element b, nämlich dasjenige, mit dem es zu einem Paare p = (a, b) verbunden auftritt; dieses durch a bestimmte, von a abhängige, dem a zugeordnete Element bezeichnen wir mit b = f (a) und sagen, dass hiermit in A (d. h. für alle Elemente von A) eine eindeutige Funktion von a definiert sei.“ (Hausdorff 1949, S. 33)
S. 370
Damit ist die noch heute geläufige Definition des Begriffs „Funktion“ in der Sprache der Mengenlehre erstmals457 im Druck erschienen. Der Sache nach handelt es sich um den R IEMANN’schen Funktionsbegriff. Der Unterschied besteht darin, dass R IEMANN seinen Funktionsbegriff auf den Begriff „Größe“ gründete (den er freilich nicht näher zu kennzeichnen wusste), während sich H AUSDORFF des Begriffs „Menge“ bedient, den er zuvor als Konstruktionsmittel entfaltet hat.y Trotz der 1908 von E RNST Z ERMELO (1871–1953) vorgelegten Axiomatisierung der Mengenlehre erachtete H AUSDORFF im Jahr 1914 „diese äußerst scharfsinnigen Untersuchungen noch nicht als abgeschlossen“z und beschränkte sich auf die Zugrundelegung des „naiven Mengenbegriffs“. Die Gleichheit zweier Funktionen ist jetzt keine Frage der Festsetzung mehr, sondern bereits durch die Definition des Funktionsbegriffs als eine Konsequenz der Mengenlehre bestimmt und also beweisbar: „Zwei solche Funktionen f (a), f 0 (a) sehen wir dann und nur dann als gleich an, wenn die zugehörigen Paarmengen P , P 0 gleich sind, wenn also für jedes a, f (a) = f 0 (a) ist.“ (Hausdorff 1949, S. 33) H AUSDORFF nennt das von a „abhängige“ Element f (a) (jetzt als „Funktionswert“ gedacht!) auch das diesem „zugeordnete“ Element: „Zuordnen“ ist eine neue Vokabel bei der Bestimmung des Funktionsbegriffs,458 die in der Mengenlehre zum Fachbegriff geworden ist. w 457 458
lead us astray if we take it as our guide.“ (Russell 1901, S. 86) Hausdorff 1949, S. 32 x Hausdorff 1949, S. 33 y Vgl. Hausdorff 1949, S. 2–31.
z
Hausdorff 1949, S. 2
So jedenfalls deute ich Ebbinghaus 2007, S. 89, Anmerkung 225. Es sei jedoch an S TOLZ erinnert: siehe S. 595, im Anschluss an Anmerkung 429.
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Hausdorff: Die Erfindung der Mengen-Analysis – die Funktion als Menge (2) Bemerkenswerterweise nennt H AUSDORFF die Funktion nicht „ f “ (oder „ f ( )“), sondern „ f (a)“. Er identifiziert somit „Funktion“ und „Funktionswert“ auf der symbolischen Ebene. Das steht in alter Tradition,459 erleichtert aber das Denken nicht. In einem Nachtrag seines Buches hat sich H AUSDORFF nochmals zum Funktionsbegriff geäußert: „Das geordnete Paar (a, b) ist die natürliche Grundlage der Funktionsbeziehung. Wenn man es vermeiden und nur mit Mengen operieren will, so kann man die Funktion b = f (a) zunächst nur dann definieren, wenn die von a, b durchlaufenen Mengen A, B kein gemeinsames Element haben, und erst durch Vermittlung zweier solcher Funktionen den allgemeinen Fall realisieren; so verfährt E. Z ERME LO , »Untersuchungen über die Grundlagen der Mengenlehre I«, Math. Ann. 65 (1908). Da aber schon bei der grundlegenden Relation »a ist Element von b« (a²b, Z ERMELO) die Reihenfolge von a, b wesentlich ist, so scheint mir die Ausschaltung des geordneten Paares illusorisch.“ (Hausdorff 1949, S. 453) Der logische Aufbau der Mathematik von Anfang an ist nicht trivial, denn jedes Definieren setzt notwendigerweise gewisse syntaktische Regeln bei der Handhabung der Zeichen voraus. DREI VERSCHIEDENE BEGRÜNDUNGSWEISEN DER ‚MENGEN-ANALYSIS‘: JE NACH GESCHMACK Die ‚Mengen-Analysis‘ lässt sich H AUSDORFF zufolge in drei verschiedenen Weisen begründen: „Man kann eine Menge rein als System ihrer Elemente behandeln, ohne dass Beziehungen zwischen diesen Elementen in Frage kommen [. . . ] Zweitens aber kann man Relationen zwischen den Elementen in Betracht ziehen, und dafür gibt die Theorie der geordneten Mengen [. . . ] ein fundamentales Beispiel. [. . . ] [1.] Zu den speziellen Beispielen aber, die ein erhöhtes Interesse beanspruchen, gehört neben der Theorie der geordneten Mengen gerade die Lehre von den Punktmengen im Raume, und zwar ist die grundlegende Beziehung hier wieder eine Funktion der Elementpaare, nämlich die Entfernung zweier Punkte: eine Funktion, die aber jetzt unendlich vieler Werte fähig ist. So angesehen, subsumiert sich die Theorie der Punktmengen mitsamt der Theorie der geordneten Mengen unter das allgemeine Sche459
Es sei an S. 595 bei Anmerkung 429 sowie den dortigen Verweis erinnert.
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7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff ma einer Lehre von solchen Mengen, in denen binäre Relationen, Relationen zwischen je zwei Elementen der Menge, definiert sind. [2.] Andererseits ist dies nicht die einzig mögliche Auffassung. Auf Grund des Begriffs Entfernung lässt sich z. B. der Begriff einer konvergenten Punktfolge und ihres Limes definieren, und diesen Begriff kann man wieder, mit Ausschaltung des Begriffs Entfernung, zum Fundament der Punktmengentheorie wählen. Es würde sich dann formal um eine Menge M handeln, in der eine Funktion f (a 1 , a 2 , . . . , a n , . . .) der Elementfolgen definiert, nämlich gewissen Folgen (den konvergenten) ein Element von M selbst (der Limes) zugeordnet ist. [3.] Drittens lassen sich auf Grund der Entfernung jedem Punkt gewisse Teilmengen des Raumes zuordnen, die wir Umgebungen dieses Punktes nennen; und wieder lässt sich dieses System der Umgebungen zur Grundlage der ganzen Theorie machen, mit Elimination des Begriffs Entfernung. Hier wird also eine Menge M unter dem Gesichtspunkt einer Bestimmung zwischen Elementen und Teilmengen betrachtet [. . . ] Welchen der drei oben genannten Grundbegriffe Entfernung, Limes, Umgebung man zur Basis der Betrachtung wählen will, ist bis zu einem gewissen Grade Geschmacksache. Mit Hilfe von Entfernungen kann man, wie gesagt, Umgebungen und Limites definieren, mit Hilfe von Umgebungen Limites, aber im allgemeinen nicht Entfernungen, mit Hilfe von Limites im allgemeinen weder Umgebungen noch Entfernungen. Danach scheint die Entfernungstheorie die Speziellste, die Limestheorie die Allgemeinste zu sein;[460] auf der andern Seite bringt der Limesbegriff sofort eine Beziehung zum Abzählbaren (zu Elementfolgen) in die Theorie hinein, worauf die Umgebungstheorie verzichtet.“ (Hausdorff 1949, S. 209–211) ab S. 297 ab S. 276
Wir erinnern uns: C AUCHY hatte die Analysis auf den Begriff des Limes gegründet, B OLZANO auf die Epsilontik, also den Entfernungsbegriff. Jetzt, im neuen Begriffsrahmen der Mengenlehre, ergibt sich eine neue Sichtweise: Der von C AUCHY gewählte Begriffsaufbau ist – übersetzt in die ‚Mengensprache‘ – verallgemeinerungsfähiger als der B OLZANO’sche. TOPOLOGIE ALS UMGEBUNGSSYSTEM H AUSDORFF entscheidet sich ohne nähere Erläuterung „aus verschiedenen Gründen“a für die „Umgebung“ als Grundbegriff. Den Begriff „Umgebung“ bestimmt a 460
Hausdorff 1949, S. 211 Offenkundig denkt H AUSDORFF extensional: Das begrifflich Reichhaltigere nennt er „spezieller“. Wer intensional denkt, wird die Entfernungstheorie als die „Allgemeinste“ beurteilen, weil sie in den beiden anderen enthalten ist.
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Hausdorff: Die Erfindung der Mengen-Analysis – die Funktion als Menge (2) er axiomatisch (den Durchschnitt zweier Mengen A und B bezeichnet er in der Nachfolge C ANTORsb mit D (A, B )): „Unter einem topologischen∗ Raum verstehen wir eine Menge E , worin den Elementen (Punkten) x gewisse Teilmengen U x zugeordnet sind, ˜ die wir Umgebungen von x nennen, und zwar nach Maßgabe der folgenden Umgebungsaxiome: (A) Jedem Punkt x entspricht mindestens eine Umgebung U x ; jede Umgebung U x enthält den Punkt x. (B) Sind U x , Vx zwei Umgebungen desselben Punktes x, so gibt es eine Umgebung Wx , die Teilmenge der beiden ist (Wx j D (U x ,Vx )). (C) Liegt der Punkt y in U x , so gibt es eine Umgebung U y , die Teilmenge von U x ist (U y j U x ). (D) Für zwei verschiedene Punkte x, y gibt es zwei Umgebungen U x , U y ohne gemeinsamen Punkt (D (U x ,U y ) = 0).“ (Hausdorff 1949, S. 213) Die letzte Bedingung wurde später als eine der „Trennungseigenschaften“ bezeichnet („T2 “)461 und kennzeichnet die heute so genannten „Hausdorff-Räume“. Wer sich nicht schon vorher mit wenigstens den Anfängen des topologischen Denkens befasst hat, sollte sich an dieser Stelle keine allzu große Mühe mit dem Verständnis dieser Begriffsbildung geben. Sie ist nur jenen zugänglich, die mehr als zwei Minuten Zeitaufwand auf das Verständnis der Sache verwenden und auch anhand von Beispielen in diese Denkweise eindringen können. Die Topologie ist wohl die erste von Anfang an rein axiomatisch (und also mit dem Wort D EDEKINDs: „willkürlich“) entwickelte mathematische S. 497 Lehre. Das Entscheidende ist: Eine „Umgebung“ U x eines „Punktes“ x (x ein „Element“ einer „Menge“ M ) ist eine „Menge“ (und damit eine „Teilmenge“ der Gesamtmenge M : U x j M ). Sie enthält jedenfalls x (x ∈ U x ). In der Regel aber enthält U x noch weitere Elemente. Zu jedem x in M gibt es mindestens eine „Umgebung“ U x ; in der Regel aber sind es weit mehr, oft unendlich viele, manchmal sogar „überabzählbar viele“ U x zu einem einzigen x. (Ganz intuitiv kann man bei einer Umgebung U x von x an eine „ε-Umgebung“ von x denken: an „die Menge aller y, für die gilt: |x − y| < ε.“ Doch ist dieses Bild nur sehr vordergründig passend, da es in einem Umgebungssystem keineswegs eine „Metrik“ geben muss und daher ein „Abstand“ |x − y| gar nicht definiert sein muss.) ∗
Der Ausdruck ist in einem verwandten Sinne bereits üblich; wir wollen damit andeuten, daß es sich um Dinge handelt, die ohne Maß und Zahl ausdrückbar sind.
b
Vgl. Cantor 1879, S. 145.
461
Der Begriff des Trennungsaxioms wurde 1923 von H EINRICH T IETZE (1880–1964) eingeführt: Tietze 1923.
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7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff
Die „Umgebungsaxiome“ regeln nun die Eigenschaften dieser „Umgebungen“ U x , U y sämtlicher „Punkte“ („Elemente“) x, y der „Menge“ M . So besagt etwa Axiom (D), dass es möglich ist, je zwei beliebige „Punkte“ x, y der Menge M durch zwei geeignet gewählte „Umgebungen“ U x und U y zu „trennen“. Das heißt, es wird die Existenz zweier solcher „Umgebungen“ (U x von x und U y von y) gefordert, die zwar ihre jeweiligen „Punkte“ enthalten (x ∈ U x und y ∈ U y ), die jedoch untereinander keinen „Punkt“ gemeinsam haben (U x ∩U y = ∅) – ausführlich: Zu je zwei „Punkten“ x , y
in M
gibt es stets zwei „Teilmengen“ U x , U y sodass x ∈ U x
und
y ∈ Uy
von M ,
und zugleich U x ∩U y = ∅ .
Diese beiden „Umgebungen“ U x , U y „trennen“ die beiden „Punkte“ x, y voneinander. Dass es zu je zwei „Punkten“ x, y „Umgebungen“ U x , U y mit dieser Eigenschaft U x ∩U y =
∅ gibt, wird durch Axiom (D) gefordert. „Beweisbar“ ist diese Eigenschaft nur in speziellen „Topologien“, nicht aber grundsätzlich in jeder. Man kann („axiomatisch“, also „willkürlich“) auch „Topologien“ definieren, in denen dieser Sachverhalt nicht besteht. (Einfaches Beispiel dafür: Sei M die Menge der natürlichen Zahlen, einschließlich der 0, und sei zu jeder natürlichen Zahl x als „Umgebung“ U x jedes Intervall U x = [0, a] mit x 5 a definiert. Diese „Topologie“ genügt den Axiomen (A) bis (C), nicht aber Axiom (D).)
AUS EINS MACH ZWEI: VON DER „GRENZE“ ZU „LIMES“ UND „HÄUFUNGSPUNKT“ Gemäß seiner Grundauffassung „Alles ist Menge!“ muss H AUSDORFF den Begriff der Grenze („Limes“) für „Mengen“ definieren. So geschieht es: ˜ „Der Punkt x heißt ein Limes der unendlichen Menge A, wenn jede Umgebung U x fast alle Punkte (d. h. alle bis auf höchstens endlich viele) der Menge A enthält.“ (Hausdorff 1949, S. 232)
S. 523
Der Begriff „fast alle“ ist raffiniert. Er erweist sich, wie bereits verraten, später in der Nichtstandard-Analysis als wichtig. Hier sagt H AUSDORFF: „Limes“ ist der alte Begriff „Grenze“ – und zwar im Sinne von R IEMANN: ein eindeutig bestimmtes Objekt. H AUSDORFF erläutert seine Definition unter Rückgriff auf den von ihm zuvor bestimmten Begriff „β-Punkt“, das ist „Häufungspunkt“: ˜ „x heißt ein β-Punkt (Häufungspunkt) von A, wenn in jeder Umgebung U x unendlich viele Punkte von A liegen.“ (Hausdorff 1949, S. 219)
Achtung: „unendlich viele“ ist nicht dasselbe wie „fast alle“: Es gibt „unendlich viele“ gerade Zahlen, doch keineswegs sind „fast alle“ natürlichen Zahlen gerade. Kurz: „Häufungspunkt“ ist inhaltsgleich mit dem Begriff „Grenze“ (limite) bei C AUCHY bzw. bei W EIERSTRASS. H AUSDORFF bezeichnet die Menge der Häufungspunkte („β-Punkte“) der Menge A durch „A β “.
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Hausdorff: Die Erfindung der Mengen-Analysis – die Funktion als Menge (2) Nun H AUSDORFFs Erläuterung des Begriffs „Limes“: „Der Begriff Limes ist also eine Verschärfung des Begriffs Häufungspunkt; ist x ein Limes von A, so ist er gewiss β-Punkt von A. Er ist aber sogar der einzige β-Punkt von A; denn ist y 6= x und wählt man nach Axiom (D) U x und U y fremd, so enthält U x fast alle, U y also nur endlich viele Punkte (eventuell keinen) von A und y ist kein Häufungspunkt von A. Umso mehr ist x der einzige Limes von A. Eine Menge A hat also entweder einen einzigen Limes x oder keinen; im ersten Fall nennt man sie konvergent (sie konvergiert nach x) und schreibt x = lim A . Dies zieht die Gleichung {x} = A β nach sich; umgekehrt braucht eine Menge mit einem einzigen Häufungspunkt aber nicht konvergent zu sein [. . . ], z. B. auf der geraden Linie die Menge der Punkte 1, 2, 12 , 3, 13 , . . . “ (Hausdorff 1949, S. 232) (Denn in jeder beschränkten „Umgebung“ des „Punktes“ 0 sind immer unendlich viele natürliche Zahlen nicht enthalten. Es gibt also keine einzige Umgebung von 0, die „fast alle“ „Punkte“ 1, 2, 21 , 3, 13 , . . . enthält.) Der lim-Operator erhält bei H AUSDORFF eine fundamental neue Bedeutung: Er wirkt jetzt nicht mehr auf „Veränderliche“ (aus „Zahlen“ oder „Werten“), sondern auf „Mengen“. Mit „Limes“ und „β-Punkt“ (beides entspricht der früheren „Grenze“) unterscheidet H AUSDORFF die beiden Grenz-Begriffe von R IEMANN einerseits und von S. 382 C AUCHY und W EIERSTRASS andererseits.462 Die ‚Mengen-Analysis‘ hat jetzt beides S. 304, 349; auf eine gleiche begriffliche Ebene gebracht, sodass die Begriffe bequem mitein- 393 ander vergleichbar sind, statt eine grundlegende Alternative darzustellen. „STETIGKEIT“ ALS TOPOLOGISCHER BEGRIFF Die geschichtlich erste präzise Definition der (lokalen) Stetigkeit erfolgte in ‚epsilontischer‘ Sprache. Was wird bei H AUSDORFF daraus? Zunächst erinnert H AUS - S. 281 DORFF an diese klassische Definition: „Bekanntlich nennt man eine reelle Funktion f (x) einer reellen Variablen an der Stelle a stetig, wenn sich zu jedem vorgeschriebenen ε > 0 ein δ > 0 derart wählen lässt, dass aus |x − a| < δ stets | f (x) − f (a)| < ε folgt. 462
Eine Generation vor ihm hat dies TANNERY in derselben Klarheit getan. TANNERY spricht von „Grenze“ (limite) (S. 25) und vom „Grenzwert einer Menge“ (valeur limite de l’ensemble) (Tannery 1886, S. 42).
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7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff Diese beiden Ungleichungen definieren die Umgebung U a des Punktes a mit dem Radius δ und einen Teil der Umgebung Vb des Punktes b = f (a) mit dem Radius ε; die Stetigkeitsforderung besagt also, dass zu gegebenem Vb ein U a so gewählt werden kann, dass die Bilder aller Punkte von U a in Vb liegen. Dies nehmen wir ebenfalls zur allgemeinen Definition der Stetigkeit, wobei zunächst also A, B nur als topologische Räume vorausgesetzt zu werden brauchen, in denen die Umgebungsaxiome gelten.“ (Hausdorff 1949, S. 359, σ/% durch ε/δ ersetzt) Diese haben wir bereits wiedergegeben. Nun kommt das Neue:
S. 655
˜ „Definition [stetig]. Die Funktion y = f (x) heißt im Punkte a stetig, wenn zu jeder Umgebung Vb des Punktes b = f (a) eine Umgebung U a des Punktes a existiert, deren Bild in Vb liegt: F (U a ) j Vb .[463] “ (Hausdorff 1949, S. 359)
Wie schon der Begriff „Grenzpunkt“ so wird auch der Begriff „Stetigkeit“ von H AUSDORFF auf den Umgebungsbegriff zurückgeführt. Wir sehen: Die ‚Epsilontik‘ – eine Technik – geht in den topologischen B EGRIFF „Umgebung“ ein. Oder: Die Argumentationstechnik ‚Epsilontik‘ wird im Begriff „Umgebung“, genauer: im Mengensystem der „Umgebungen“, aufgefangen. Vollständig? Wo in H AUSDORFFs Begriffssystem steckt der Begriff, der von B OL erfunden wurde und den wir hier ‚KonvergenzBz‘ genannt haben?
ZANO
WAS DER PUNKTMENGEN-ANALYSIS NACH HAUSDORFF F E H LT
‚KonvergenzBz‘ S. 285, 246
Den Begriff, den wir hier ‚KonvergenzBz‘ genannt haben, gibt es bei H AUSDORFF nicht! Das ist jedoch keine Nachlässigkeit H AUSDORFFs, sondern in der Sache begründet. Denn die ‚KonvergenzBz‘ ist kein topologisch invarianter Begriff. Anders gesagt, dieser Begriff wird von den „topologisch natürlichen“ „Funktionen“ – das sind selbstverständlich die „stetigen“ Funktionen – wider Erwarten nicht transportiert. Zwei Beispiele mögen dies zeigen, ein diskretes und ein kontinuierliches: • Die für x > 0 definierte stetige Funktion x 7→ x1 bildet die ‚konvergenteBz‘ Folge ( n1 )n∈N in die Folge (n)n∈N ab. Offenbar ist Letztere keine ‚konvergenteBz‘ Folge. • Dieselbe Funktion464 bildet die identische Funktion x 7→ x (die natürlich 463
H AUSDORFF bezeichnet durch „F (X )“ das, was wir heute salopp durch „ f (X )“ bezeichnen: F (X ) = { f (x) | x ∈ A} – vgl. Hausdorff 1949, S. 43. 464 Diese Formulierung „dieselbe Funktion“ ist, mit PASCH gesprochen, „außerordentlich abge-
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Hausdorff: Die Erfindung der Mengen-Analysis – die Funktion als Menge (2) „gleichmäßig stetig“ ist: wähle δ = ε) auf die auf diesem Intervall nicht „gleichmäßig stetige“ Funktion x 7→ x1 ab. Daher lässt sich die ‚KonvergenzBz‘ nicht in allgemeinen topologischen Räumen definieren, sondern dazu bedarf es einer Spezialkonstruktion. Eine solche ist keineswegs trivial oder nahe liegend, und es wurden erst lange nach dem Erscheinen von H AUSDORFFs Grundzüge der Mengenlehre verschiedene Lösungen dafür vorgeschlagen. Eine stammt von A NDRÉ W EIL (1906–98), publiziert im Jahr 1937, und von J OHN W. T UKEY (1915–2000), publiziert im Jahr 1940. Sie beruht auf dem Begriff „Uniformität“ bzw. dem des „uniformen Raumes“ oder der „uniformen Überdeckung“.465 Ein anderer Lösungsvorschlag ist der „Proximitäts-Raum“, 1952 von WADIM A RSENJEWITSCH E FREMOWITSCH (1903–89) durch eine Axiomatisierung des Begriffs „benachbarte Mengen“ eingeführt und 1952–55 von J URI M ICHAILOWITSCH S MIRNOW (1921–2007) weiterentwickelt.466 Diese Konstruktionen werden aufgrund ihrer Komplexität als Begriffsrahmen für die Differenzial- und Integralrechnung bislang als untauglich angesehen. METRISCHER RAUM Die derzeit anerkannte topologische Struktur, in der Differenzial- und Integralrechung (oder: Analysis) umfassend entwickelt werden kann, ist der „metrische Raum“. Er geht auf F RIGYES R IESZ (1880–1956) und dessen Dissertation aus dem Jahr 1906 zurück, und H AUSDORFF entfaltet diese Theorie in seinem Buch. Ein Analysislehrbuch im Begriffssystem der metrischen Räume ist etwa das achtbändige, ab 1960 erschienene Grundzüge der modernen Analysis von J EAN D IEU DONNÉ (Originaltitel: Éléments d’analyse). Zur Zielsetzung dieses Werkes schreibt D IEUDONNÉ unter anderem: „Es wird dem Leser sehr bald auffallen, dass ich überall den begrifflichen Aspekt betont habe, während der rechnerische Aspekt, der das kürzt“. Ganz streng genommen handelt es sich um Folgendes: Die Menge der stetigen Funktionen, die ]0, 1] in die Menge R der reellen Zahlen abbilden, werde in sich selbst abgebildet. Diese Menge von Abbildungen heiße R]0,1] , die Selbstabbildung heiße ϕ. Dann ordnet ϕ jeder stetigen Abbildung f : ]0, 1] → R eine neue stetige Abbildung ϕ ◦ f : ]0, 1] → R zu. (Die Hintereinanderausführung zweier stetiger Abbildungen ist stetig.) Diese Abbildung ϕ ◦ f ist natürlich wie folgt erklärt: Sie bildet jedes x ∈ ]0, 1] auf die reelle Zahl ϕ( f (x)) ab. – Als dieses ϕ wird nun die Abbildung gewählt, deren Wirkung auf eine reelle Zahl x durch x 7→ x1 definiert ist. Auf diese Weise lässt sich tatsächlich eine Abbildung von R]0,1] in sich erklären: R]0,1] f : ]0, 1] → R x 7→ f (x)
ϕ
−−−−−−−−→ ϕ
Z −−−→ − ϕ
Z Z−−−→
R]0,1] ϕ ◦ f : ]0, 1] → R x 7→ ϕ( f (x))
Sie bildet die identische Abbildung f = id ab auf ϕ ◦id = ϕ, und das soll hier die Abbildung x 7→ x1 sein. 465 Siehe etwa Kelley 1955, Chapter 6; von Querenburg 1973, S. 191 f.; Herrlich 1986, S. 180. 466 Nach von Querenburg 1973, S. 191; Herrlich 1986, S. 180.
Dieudonné
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7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff Hauptanliegen der klassischen Analysis war [. . . ], zurücktritt. [. . . ] [. . . ] Die Grundbegriffe [im Sinne von: Anfangsbegriffe] der Differenzial- und Integralrechnung und der Funktionentheorie werden im Rahmen einer Theorie dargelegt, die hinreichend allgemein ist, um den Zweck, die Kraft und das wahre Wesen dieser Begriffe weit besser erkennen zu lassen, als dies unter den üblichen Beschränkungen auf die »klassische Analysis« möglich ist.“ (Dieudonné 3 1985, S. 7) Wir registrieren D IEUDONNÉs priesterliche Rede vom „wahren Wesen“ der analytischen Begriffe. – Die Begriffe „Grenzwert“ und „Cauchyfolge“ definiert D IEU DONNÉ in seinen Abschnitten 3.13 und 3.14: „Es sei E ein metrischer Raum, A eine Teilmenge von E und a ein Berührpunkt von A. Wir wollen zunächst annehmen, a gehöre nicht zu A. Es sei nun f eine Abbildung von A in den metrischen Raum E 0 . Wir sagen, f habe einen Grenzwert (Limes) a 0 ∈ E 0 für gegen a strebendes x ∈ A (oder auch, a 0 sei Grenzwert von f bezüglich A im Punkt a ∈ A), falls die vermöge g (x) = f (x) für x ∈ A, g (a) = a 0 definierte Abbildung g von A ∪ {a} in E 0 im Punkt a stetig ist. Wir schreiben dann a 0 = lim f (x). Gehört a zu A, so benutzen wir in diesem Fall die x→a, x∈A
gleiche Terminologie und Bezeichnung, um auszudrücken, dass f im Punkt a stetig ist und a 0 mit f (a) zusammenfällt.“ (Dieudonné 3 1985, S. 59) (Die Formulierung „für gegen a strebendes x ∈ A“ gehört hier zum definierten Begriff!) Der Begriff „Limes“ wird von D IEUDONNÉ also mittels des Stetigkeitsbegriffs definiert, den er zuvor in der Weise von H AUSDORFF bestimmt hat.c Demnach handelt es sich dabei um einen allgemeinen topologischen Begriff. Nicht so bei der „Cauchyfolge“, bei deren Definition die „Metrik“ bzw. die sie definierende „Abstandsfunktion“ d benötigt wird (die „natürlichen“ Zahlen heißen, wie in der französischen Tradition üblich, bei D IEUDONNÉ „ganz“): „Eine Folge (x n ) von Elementen eines metrischen Raumes E heißt Cauchyfolge, wenn sie folgender Bedingung genügt: zu jedem ε > 0 existiert eine ganze Zahl n 0 derart, dass aus p = n 0 und q = n 0 die Ungleichung d (x p , x q ) < ε folgt.“ (Dieudonné 3 1985, S. 62) S. 284
Also der Sache nach noch immer der Begriff ‚konvergentBz ‘, nur die „Änderung“ wurde auf „Abstand“ verallgemeinert, also als eine Abbildung d von E × E in die Menge der reellen Zahlen R gefasst, die nicht negativ und symmetrisch ist, der Dreiecksungleichung genügt und je zwei verschiedenen Punkten aus E einen Abstand > 0 gibt. c
Vgl. Dieudonné 3 1985, S. 55.
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Dieudonné
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Nach dem großen Kulturbruch EIN FAZIT FÜR ‚EPSILONTIK‘ UND ‚GRENZWERTSPRACHE‘ Die letzten beiden Abschnitte zeigen, anknüpfend an unsere früheren Ausführungen ab S. 382: Die ‚Epsilontik‘ ist ihrem Wesen nach anspruchsvoller als die ‚Grenzwertsprache‘, denn es bedarf zusätzlicher Begriffe, um sie zu erfassen. Inwieweit die bereits den Analytikern des mittleren 19. Jahrhunderts klar gewesen sein könnte, darüber kann wohl nur spekuliert werden. Das wollen wir hier nicht tun. N A C H D E M G R O S S E N K U LT U R B R U C H EINE ERSTE MONOGRAPHIE: HAHN 1921 Im Jahr 1921 erschien die erste Auflage des Buches Theorie der reellen Funktionen von H ANS H AHN (1878–1934). Im Vorwort heißt es dort: „Im Jahre 1914 war diese Darstellung nahezu beendet.“d Somit haben wir hier eine frühe Monographie nach der Publikation des mengentheoretischen Funktionsbegriffs. Werfen wir einen Blick hinein. Abbildung und Funktion Gleich auf S. 1 findet sich der Begriff „Abbildung“: „Sei jedem Element b der Menge B ein Element der Menge A zugeordnet, das wir mit a b bezeichnen können. Eine solche Bestimmung heißt eine Abbildung von B in die Menge A, oder auch eine Belegung von B mit Elementen aus A.“ (Hahn 1921, S. 1) Die Bezeichnungsweise „Belegung“ lässt ahnen, was sich sogleich bestätigt: H AHN wird den Begriff „Folge“ zu seinem analytischen Ausgangsbegriff machen. Den Begriff „Funktion“ bestimmt H AHN wie folgt: „Sei A eine Menge irgendwelcher Elemente. Ist jedem Elemente a von A eine reelle Zahl zugeordnet, die mit f (a) bezeichnet werde, so sagen wir, es sei durch diese Bestimmung eine (einwertige) reelle Funktion f (a) auf A definiert∗ . Eine reelle Funktion auf A ist also (Einleitung § 1, S. 1) nichts anderes als eine Abbildung der Menge A in die Menge aller reellen Zahlen (eine Belegung von A mit reellen Zahlen). Ist insbesondere A eine Punktmenge des euklidischen Rk : a = (x 1 , x 2 , . . . , x k ) , ∗
Versteht man unter A ein Intervall des R1 , so ist dies der Funktionsbegriff, wie er von G. L EJEU NE -D IRICHLET formuliert wurde: Repertorium der Physik 1 (1837), 152; Werke 1, 135; Ostwalds Klassiker Nr. 116, 3. [Wir wissen, dass dieser Verweis unzutreffend ist: siehe S. 365. – D. D. Sp.]
d
Hahn 1921, S. III
Dieudonné
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7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff so schreibt man: f (a) = f (x 1 , x 2 , . . . , x k ) , und nennt f (a) eine auf A definierte Funktion der reellen Veränderlichen x 1 , x 2 , . . . x k .“ (Hahn 1921, S. 113)
S. 653
Wir sehen: Nach kurzem Zögern bedient sich H AHN doch der ‚Mengensprache‘. Und: Die „Funktion“ bezeichnet er zunächst als „ f (a)“, also durch ihren (veränderlichen) Wert, genau wie H AUSDORFF. Grenzwert und Stetigkeit Den „Grenzwert“ einer „Zahlenfolge“ – die H AHN durch „{a n }“ bezeichnet – bestimmt er so: „Die Zahl a heißt der Grenzwert der Zahlenfolge {a n }, in Zeichen: a = lim a n , n=∞
wenn Folgendes stattfindet: Ist p < a, so ist an > p
für fast alle n;
an < q
für fast alle n.“
ist q > a, so ist (Hahn 1921, S. 31) Diese etwas merkwürdig anmutende Definition begründet H AHN sogleich: „In dieser Form gilt die Definition bei endlichem wie bei unendlichem a. Ist a = +∞ (= −∞), so reduziert sie sich auf: Es ist lim a n = +∞
n=∞
(= −∞) ,
wenn für jedes p (für jedes q): an > p
(a n < q)
für fast alle n .
Ist a endlich, so kann die Definition ersetzt werden durch: Ist (p, q) ein a enthaltendes Intervall, so gilt an
in (p, q) für fast alle n.“
(Hahn 1921, S. 31) Da H AHN den „Grenzwert“ als grundlegenden Begriff gewählt hat, definiert er auch die „Stetigkeit“ mit dessen Hilfe:
662
Hahn
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Nach dem großen Kulturbruch „Die auf der Punktmenge A definierte Funktion f heißt stetig auf A im Punkte a von A, wenn für jede Punktfolge {a n } aus A mit lim a n = a n=∞
auch: lim f (a n ) = f (a)
n=∞
ist. Ist die Funktion f nicht stetig in a auf A, so heißt sie unstetig in a auf A. Jeder Punkt, in dem f stetig (unstetig) auf A ist, heißt ein Stetigkeits- (Unstetigkeits-)punkt von f auf A.“ (Hahn 1921, S. 122) Hier wird die „Funktion“ nun durch „ f “ bezeichnet. – Ein kennzeichnender Lehrsatz H AHNs lautet dann:
„Satz V. Damit f stetig sei in a auf A, ist notwendig und hinreichend, dass es zu jedem p < f (a), sowie zu jedem q > f (a) ein % > 0 gebe, sodass, wenn U(a; %) die Umgebung % von a in A bedeutet: f (a 0 ) > p
bzw.
f (a 0 ) < q
für alle a 0 von U(a; %).“
(Hahn 1921, S. 124) Dies ist in der Sache die topologische Fassung der „Stetigkeit“ mittels des Umgebungsbegriffs. – Wir sehen: Die Fachliteratur nimmt die ‚Mengen-Analysis‘ sofort an, wenn auch nicht sogleich als Anfangsbegrifflichkeit. KURZE BEMERKUNGEN ZUR LEHRBUCHLITERATUR In der Lehrbuch-Literatur liegen die Verhältnisse natürlich anders. Deutschsprachige Lehrbuchliteratur Hierzulande hält sich bis zum nächsten Weltkrieg (der auch die Geburt der B OURBAKI ’schen Strukturmathematik brachte) R IEMANN s Begrifflichkeit: die „Funktion“ als „Wert-zu-Wert“-Bestimmung.467 Auch in der im Jahr 1931 erschienenen „5. und 6. Auflage“ des M ANGOLDT’schen Lehrbuchs, das inzwischen von KONRAD K NOPP (1882–1957) „vollständig neu bearbeitet und erweitert“ worden war, wird (in § 171!) die „Funktion“ noch immer wie folgt definiert: „Wenn jedem Wert einer Veränderlichen x, der zu dem Wertbereich dieser Veränderlichen gehört, durch eine eindeutige Vorschrift je ein bestimmter Zahlenwert y zugeordnet ist, so sagt man, y sei eine Funktion der Veränderlichen x oder kürzer, y sei eine Funktion von x. Den Wertbereich der Veränderlichen x bezeichnet man auch als Definitionsbereich dieser Funktion. Die Gesamtheit der Werte y, die dabei den 467
Das gilt selbstverständlich für von Mangoldt 1911, 1912, Bd. 1, S. 285 oder etwa Fricke 1918, S. 15 f.
Knopp
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7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff Werten x zugeordnet werden, nennt man den Wertevorrat der betreffenden Funktion, und von jedem einzelnen Werte desselben sagt man, er werde von dieser Funktion a n g e n o m m e n . Da die den verschiedenen Werten von x zugeordneten Werte von y im Allgemeinen auch verschieden sein werden, so bezeichnet man y auch als eine von x abhängige Veränderliche und nennt im Gegensatz dazu x eine unabhängige Veränderliche oder das Argument der Funktion.“ (Knopp 5&6 1931–33, Bd. I, S. 349 f.) Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde diese Definition weiterhin gedruckt.e Der Sache nach nicht anders verfahren R ICHARD C OURANT (1888–1972) in seinem erstmals 1927 und in vierter Auflage 1971 erschienenen zweibändigen Lehrbuch Vorlesungen über Differential- und Integralrechnung f und A DALBERT D USCHEK (1895– 1957) in seinen Vorlesungen über höhere Mathematik g . Noch im Wintersemester 1970/71 wurde mir der Funktionsbegriff in dieser Weise unterrichtet.h Man könnte denken, dies sei dem Umstand geschuldet, dass sich jene Grundvorlesung „Analysis I“ an der Technischen Hochschule Darmstadt auch an Ingenieurstudierende richtete, doch wurde an der Technischen Hochschule Aachen damals offenbar schon anders verfahren.i Es benötigte also wirklich die beeindruckende Zeitspanne von einem guten halben Jahrhundert, bis die ‚Mengen-Analysis‘ allgemein im Universitätsunterricht durchgesetzt war. Amerikanische Lehrbücher Die nicht durch langjährige wissenschaftliche Tradition geprägte amerikanische Lehrbuchliteratur kann leichter aktuelle Neuentwicklungen aufnehmen. Schon 1957 (und dies ist nur ein Zufallsgriff ins Regal und kein Ergebnis systematischer Suche) legt T OM M IKE A POSTOL (*1923) in seinem Mathematical analysis – a modern approach Wert auf „eine genaue Formulierung des Funktionsbegriffs“j . Er definiert die „Relation“ als „eine Menge geordneter Paare“k und gibt dann anstandslos die ˜ Definition. Eine Relation F heißt eine Funktion, falls gilt:
(x, y) ∈ F
und (x, z) ∈ F
impliziert
y =z.
Eine Funktion ist daher eine Menge geordneter Paare mit der besonderen Eigenschaft: Wann immer zwei Paare (x, y) und (x, z) aus der Menge dasselbe erste Element haben, müssen sie auch dasselbe zweite Element haben. e
Siehe etwa Knopp 9 1950, Bd. I, S. 349 f. f Courant 4 1971, S. 10 Duschek 2 1956, S. 57 f. h Martensen 1969, S. 7 i Erwe 2 1968, Bd. I, S. 19 j Apostol 1957, S. v k Apostol 1957, S. 27
g
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Knopp
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Standortbestimmung zum Funktionsbegriff und Ausblick Intuitiv kann eine Funktion als eine Tabelle mit zwei Spalten gedacht werden. Jeder Eintrag in der Tabelle ist ein Paar der Gestalt (x, y), wobei die Spalte der x der Definitionsbereich (domain) und die Spalte der y der Wertebereich (range) sind. Die Elemente des Wertebereichs sind als Funktionswerte bekannt. [. . . ] Wir schreiben y = F (x) für (x, y) ∈ F . [. . . ] (Apostol 1957, S. 27 f.) Noch auf derselben Seite folgt das Beispiel der komplexen Funktion F (z) = z 2 . Auch E DWIN H EWITT (1920–99) definiert in seiner ambitionierten Theory of functions of a real variable von 1960 die „Funktion“ als „einwertige Relation“l , nachdem er vorausgeschickt hat: Wir beginnen mit den Begriffen Relation und Funktion, in verschiedenen Weisen aus der elementaren Analysis bekannt. (Hewitt 1960, S. 7) Das sehr viel ausführlichere Lehrbuch The elements of real analysis von R OBERT G ARDNER B ARTLE (1927–2003) aus dem Jahr 1964 verfährt ebenso. Zuvor jedoch stellt B ARTLE zwei termgegebene Funktionen (eine allgemeine Parabel, eine Wurzelfunktion) sowie die Betragsfunktion vor und erörtert die Definition Eine Funktion f von einer Menge A in eine Menge B ist eine Zuordnungsregel (rule of correspondence), die jedem x in einer gewissen Teilmenge D von A ein eindeutig bestimmtes Element f (x) von B zuordnet. (Bartle 1964, S. 12) in folgender Weise: Wie anregend diese vorgeschlagene Definition auch sein mag, so hat sie jedoch einen erheblichen und verhängnisvollen (fatal) Fehler: Sie ist nicht klar. Sie verschiebt die Schwierigkeit [der Bestimmung des „Funktionswertes“] auf die Deutung des Ausdrucks »Zuordnungsregel«. (Bartle 1964, S. 12) Die mengensprachliche Definition sei die „befriedigendste Lösung“: Sie hat den Nachteil, künstlicher zu sein und einiges an intuitivem Gehalt zu verlieren, doch der Gewinn an Klarheit wiegt diese Nachteile auf. (Bartle 1964, S. 12) Mir ist beim (zugegeben: kurzen) Stöbern kein amerikanisches Lehrbuch der gegenwärtigen Nachkriegszeit untergekommen, das eine andere Bestimmung von „Funktion“ gibt als: eine bestimmte „Relation“. l
Hewitt 1960, S. 8
Apostol, Bartle
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7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff S TA N D O RT B E S T I M M U N G Z U M F U N K T I O N S B E G R I F F UND AUSBLICK RÜCKBLICK AUF DIE ENTWICKLUNG DES FUNKTIONSBEGRIFFS IN DER ZWEITEN HÄLFTE DES 19. JAHRHUNDERTS
S. 370
S. 574
S. 519
ab S. 639 ab S. 650
Rekapitulieren wir knapp die Entwicklung des Funktionsbegriffs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (bis 1914). R IEMANN bestimmt klipp und klar: Eine „Funktion“ liegt vor, wenn jedem „Wert“ der „Größe“ z eindeutig ein „Wert“ der „Größe“ w „entspricht“. Allerdings sagt R IEMANN weder klipp und klar, was ein „Wert“ ist, noch was eine „Größe“ ist. Insofern ist seine Definition nur dann klar, wenn man sie als eine wohlbestimmte (zweistellige) Relation versteht; denn die Bestimmung der beiden Relata ist unklar. Gleichwohl erfreut sich R IEMANNs Funktionsbegriff in der Folgezeit großer Beliebtheit und weiter Verbreitung. C ANTOR, H EINE und D EDEKIND konstituieren 1872 den Begriff der vollkommen bestimmten „reellen“ Zahl. C ANTOR, D EDEKIND und auch TANNERY kommen als Analytiker gar nicht umhin, derartige vollkommen „bestimmte“ Objekte zu einer „Menge“ zusammenzufassen. (Wer diesen Schritt nicht tut, behandelt die „reellen“ Zahlen als bloße „Zeichen“.) Damit sind die – von R IEMANN unbestimmt gelassenen – beiden Relata seines ‚relationalen‘ Funktionsbegriffs bestimmt: Es sind „Mengen“. (Vom Zusatztitel „Größe“ befreit sich die Analysis jetzt. Sie zieht sich aufs mathematische Kerngeschäft zurück und entlässt die Physik in die „Angewandte Mathematik“, in der Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften mit Einschluß ihrer Anwendungen in die hinteren Bände verbannt.) Es braucht nur noch jemanden, der diese Konsequenz expliziert. Das besorgen etwa zeitgleich M ORITZ PASCH und F ELIX H AUSDORFF, der Jüngere mit größerer Prägnanz und in einem wissenschaftlichen Bestseller – der diese Idee also weit verbreitet. ONTOLOGISCHE STANDORTBESTIMMUNG DER HEUTIGEN ANALYSIS Die ‚Mengen-Analysis‘ mit dem Begriff der „reellen“ Zahl als einer „Menge“ und der „Funktion“ als einer „Abbildung“ genannten „Menge“ (zwischen „Mengen“) war im Jahr 1914 formuliert. Damit ist eine fundamental andere Art der Analysis konzipiert als in der Epoche von N EWTON/L EIBNIZ bis etwa 1914. Denn die Mengenlehre gilt bekanntlich allgemein als nur axiomatisch begründbar. Das aber bedeutet: Der neuen – und damit: der heutigen – Analysis, soweit sie in der ‚Mengensprache‘ formuliert ist, geht es nicht länger um ‚substanziale‘ Begriffe, sondern sämtliche ihrer Gegenstände sind ‚relational‘ gefasst.
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Standortbestimmung zum Funktionsbegriff und Ausblick Willkürliche Mathematik und ihre Strategie Die Geschichte der Mengenlehre kann nicht hier nebenbei miterzählt werden. Doch die Akzeptanz der Mengensprache in der heutigen Analysis ist eine Tatsache. Dies will ich zum Anlass nehmen und in aller Kürze einen spektakulären Vorgang aus der Konstituierung der axiomatischen Mengenlehre benennen, der offen legt, dass nicht allein sachliche Argumente darüber entscheiden, WELCHE A RT von Mathematik durch die Wissenschaftsgemeinde statuiert wird. (Dies ist offenkundig ein Grundthema des vorliegenden Buches.) Im Gründungsjahrzehnt der axiomatischen Mengenlehre publizierte die Zeitschrift für Mathematik – ein erstrangiges Fachjournal – unter dem Titel „Über die Grundlegung der Mengenlehre. Erster Teil – Die Mengen und ihre Axiome“ einen einunddreißigseitigen Aufsatz von PAUL F INSLER.m Darin schlug der Autor eine inhaltliche (axiomatische) Mengenlehre vor. Er setzte sich somit in den Gegensatz zur herrschenden Strömung, gemäß der H ILBERT’schen Marschrichtung die Mathematik formal zu begründen. F INSLERs Konstruktion ist sachlich einwandfrei.468 Und eine Besonderheit: In seinem Aufsatz reflektierte F INSLER sogar seine Konstruktion, indem er dagegen einen „Einwand“ formulierte und diesen entkräftete.n Zwei Jahre später geschah etwas ganz Außerordentliches: Dasselbe Fachjournal publizierte den vierseitigen Aufsatz „Über ein Vollständigkeitsaxiom in der Mengenlehre“ von R EINHOLD B AER (1902–79).o Gegenstand dieses Aufsatzes war (neben einer Umformulierung der F INSLER’schen Symbolik, mit der B AER zeigte, dass er F INSLERs Betrachtungs- S. 138, weise entweder nicht verstanden hatte oder nicht teilen wollte) eine namensgleiche Wie- Anm. 103 derholung des von F INSLER bereits erwogenen und widerlegten Einwandes gegen seine Konstruktion – allerdings unter Weglassung seiner Widerlegung. Und zugleich gab die Zeitschrift F INSLER die Gelegenheit zur Erwiderung. Dieser reagierte – vorhersehbar – mit einem Lamento: er halte seinen „Beweis vollständig aufrecht.“p B AERs „Bemerkung zu der Erwiderung von Herrn Paul Finsler“q sprach dann milde von einem „Missverständnis“ F INSLERs. Welches Stück wurde hier aufgeführt? Es war das Spektakel einer öffentlichen sozialen Abwertung einer mathematischen Konstruktion als „erledigt“ – ohne dafür einen SACHLI CHEN Grund ins Feld zu führen: (1) Der (junge) Autor B AER startet ein doppeltes Betrugsmanöver, indem er (a) ein mathematisches Argument von F INSLER unter eigenem Namen (nämlich ohne den Hinweis, dass es von F INSLER stammt) zur Publikation unter seinem Namen vorlegt, und dabei (b) dieses Argument F INSLERs von einem „Einwand“ in eine „Widerlegung“ umwertet: indem er F INSLERs Widerlegung dieses Arguments VERSCHWEIGT. (2) Die Mathematische Zeitschrift unterstützt B AERs Betrug, statt ihrer Aufgabe der Qualitätssicherung zu genügen: Sie hätte B AER auffordern müssen, F INSLERs Widerlegung dieses Arguments (bei F INSLER: „Einwand“, bei B AER: „Widerlegung“) nicht zu verschweigen, sondern sich mit ihm auseinanderzusetzen; erst wenn es B AER gelungen wäre, F INSLERs Widerlegung des A RGUMENTS seinerseits zu widerlegen, hätte für sie die sachliche Berechtigung bestanden, B AERs Text zu publizieren: weil erst dann B AER etwas Neues vorzutragen hätte. Und das ist doch gerade die Selbststilisierung einer Fachzeitschrift: Sie publiziere m p 468
Finsler 1926b – siehe auch Anmerkung 480 auf S. 678. Finsler 1928, S. 540 q Baer 1928b
n
Finsler 1926b, S. 700
o
Baer 1928a
Einen kleinen Fehler (auf S. 694) korrigierte er umgehend (Finsler 1928, S. 540 f., Fußnote 1).
Finsler
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7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff
etwas Neues. Stattdessen schickt sie sich hier an, alten Wein in neue Schläuche zu füllen: die Umwertung eines alten Arguments von einem (alten und widerlegten!) „Einwand“ in eine (vorgeblich: neue) „Widerlegung“. – Zur Bemäntelung ihrer Komplizenschaft gibt die Zeitschrift F INSLER „Gelegenheit“ zu einer Erwiderung auf B AER. (3) F INSLER tappt brav in die ihm gestellte Falle: (a) Er begeht den strategischen Fehler, als Gutachter zu reagieren: indem er – zutreffenderweise – sagt: B AER trage nichts Neues vor, sondern nur etwas, das er (F INSLER) bereits gesagt habe. – Doch F INSLER ist hier nicht Gutachter, sondern Partei, nämlich die angegriffene, und als Partei hätte er parteiisch reagieren und sagen müssen: B AERs Argument ist falsch, wie man folgendermaßen sieht: . . . Dann nämlich – und nur dann! – hätte F INS LER die ihm von der Zeitschrift gebotene Gelegenheit angemessen genutzt: indem er heute (1928) das von B AER 1928 vorgetragene Argument gegen seine Theorie von 1926 widerlegt und damit erledigt. (b) Stattdessen lamentiert F INSLER nur und sagt: Ich habe heute, 1928, nichts Neues (gegenüber 1926) vorzutragen. (4) Indem die Zeitschrift diese beiden Texte 1928 publiziert, qualifiziert sie beide als „neu“. Und das bedeutet: B AERs doppelt betrügerischer Text wird von der Mathematischen Zeitschrift 1928 als „neu“ in Szene gesetzt – während F INSLER sich mit seiner Weigerung, 1928 dieses Argument (erneut . . . ) zu widerlegen, mit seinem bloßen Verweis auf seinen alten Text von 1926 selbst als geschlagen darstellt: ein strategischer, kein sachlicher Fehler. Ergebnis: Die Mathematische Zeitschrift widerrief 1928 ihren Abdruck des F INSLERschen Aufsatzes von 1926 – ohne dafür einen sachlichen Grund vorweisen zu können. Mit diesem Widerruf des F INSLER’schen Aufsatzes wurden die INHALTLICHE Mengenlehre AUTORITATIV aufs Abstellgleis geschoben und die FORMALE Mengenlehre inthronisiert. F INSLERs allgemein unbezweifelte Meriten in der Differenzialgeometrie boten seiner inhaltlichen Mengenlehre keinen Schutz vor Verunglimpfung. Da aber bis heute eine Entkräftung der F INSLER’schen Widerlegung seines Einwandes meines Wissens469 nicht publiziert ist, muss man urteilen: Diese Inthronisierung einer formalen anstelle einer inhaltlichen Mengenlehre erfolgte unter Missachtung der fachlichen Standards. Denn es wurde eine sachlich einwandfreie 470 Theorie mittels eines widerlegten und also für ungültig entlarvten Arguments beiseite geschoben. Mit welchen Mitteln? – Durch Stillschweigen: B AER verschwieg, dass das von ihm vorgetragene Argument bereits von F INSLER a) publiziert und b) sogleich widerlegt worden war. Und F INSLER benannte dieses Verschweigen nur, statt es als die Partei, die er war, zu bekämpfen: es durch Wiederholung zu aktualisieren. Kurz: Ab 1928 verschwiegen alle Autoren – außer F INSLER – F INS LER s Widerlegung des von B AER zur „Widerlegung“ umgewerteten „Einwandes“ F INSLER s. Noch heute ist das Verschweigen – oft brachial, als Zensur: die sachlich unbegründete Nicht-Veröffentlichung – ein gängiges Mittel der Herrschaftssicherung einer Denkrichtung.471
Die ‚Mengensprache‘ ist nicht bloß eine bequeme Redeweise. Sie hat eine folgenreiche Konsequenz für das Denken: Sie lehrt, die Gegenstände der Theoriebildung außer Betracht zu lassen. 469
So auch Breger 1992, S. 262 – siehe dazu S. 674 bei Anmerkung u. „Sachlich einwandfrei“ bedeutet nicht unbedingt: leicht handhabbar. 471 Wer das gesamte Buch gelesen hat, erinnert sich etwa an Anmerkung 224 von S. 314. 470
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Standortbestimmung zum Funktionsbegriff und Ausblick In den 1960er Jahren nutzte man den Kampfbegriff „Entontologisierung“, um H ILBERTs „axiomatische Methode“ als Grundkonzept aller Mathematik durchzusetzen. Das war plumpe Rhetorik, die hervorragende Mathematiker leicht durchschauten: „H ILBERTs Grundlagen der Geometrie bedeuten keineswegs eine Entontologisierung; es wird vielmehr eine andere Ontologie eingeführt. Während, grob gesprochen, vor H ILBERT eine nach unserem heutigen Gefühl verschwommene inhaltliche Interpretation der Grundbegriffe vorherrschte, wird bei und nach H ILBERT ebenso selbstverständlich vorausgesetzt, dass (widerspruchsfreie) Axiomensysteme eine ideelle Realisierung besitzen. Es wird über die Axiomensysteme so gesprochen, als ob es sicher sei, dass in einem vulgärplatonischen Ideenhimmel die mathematischen Gegenstände bereitliegen, deren Entdeckung den Mathematikern obliege.“ (Laugwitz 1966, S. 20 f.) (Dass die „verschwommene inhaltliche Interpretation“ harte Gedankenarbeit der früheren Mathematiker war, ist auch im vorliegenden Buch nachzulesen.) Der unbestreitbar sehr erfolgreich schöpferisch tätige Mathematiker D ETLEF L AUGWITZ warnte ausdrücklich: „Die Gefahr der axiomatischen Ontologie sehe ich darin, dass sie die Folgerung nahe legt: Es ist alles schon da, man braucht es nur zu entdecken. Eine wesentliche Komponente schöpferischer Mathematik würde vernachlässigt, wenn man diesem Fehlschluss folgte; das selbstständige Finden von Mathematik, ja geradezu das Erfinden, macht unsere Wissenschaft zu einer fortschrittlichen Disziplin, die sich nicht im Wiederholen von Bekanntem erschöpft.“ (Laugwitz 1966, S. 21) Diese Perspektive führt rasch zu der Betonung: „Mathematik ist ein Fach, das wesentlicher Bestandteil demokratischer Erziehung sein kann.“ (Laugwitz 1966, S. 36 f.) Die „Ontologie der Axiomatik“ hat jedoch noch einen weiteren Aspekt, der mir mindestens ebenso wichtig und gefährlich zu sein scheint: Sie präsentiert die Mathematik, im hier betrachteten Fall konkret: die Analysis, als eine Wissenschaft, die grundsätzlich von den behandelten Gegenständen, ihren Eigenarten, Eigenheiten – und also: ihrer Individualität – absieht. Sie lehrt ein Denken, dem das Sein der Gegenstände seines Denkens gleichgültig sein muss. Die Frage, ob ein solcher Unterricht verantwortbar ist, darf sicher gestellt werden: auch dann, wenn dieser Unterricht längst praktiziert wird – und hilft, den jetzt hundert Jahre alten Kulturbruch in den Köpfen der Lernenden zu verankern. Das Wissen um diesen fundamentalen ontologischen Umbruch der Analysis (und in der Folge: praktisch der gesamten Mathematik) ist wenig verbreitet. Als
Laugwitz
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7. Konsolidierung (2) – Die Suche nach einem Substrat für den Funktionsbegriff Konsequenz daraus wird er auch nicht reflektiert – so jedenfalls mein Kenntnisstand.
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Kontroversen gab es wohl um die Zulässigkeit der axiomatischen Methode in der Mathematik und auch speziell in der Analysis. Ein bekannter Kritiker der axiomatischen Vorgehensweise war der frühe PAUL L ORENZEN (1915–94). Ursprünglich angestoßen wurde diese Debatte von L UITZEN E GBERTUS J AN B ROWER (1881–1966) im frühen 20. Jahrhundert, alsbald unterstützt von H ERMANN W EYL (1885–1955). In ihr ging es um die Berechtigung oder die Zulässigkeit des „axiomatischen“ Vorgehens in der Analysis bzw. der Mathematik, und es wurde vorgeschlagen, stattdessen in „konstruktiver“ Weise vorzugehen. (Bis in die jüngere Zeit hat die Constructive Analysis ihre Vertreter.r ) Doch diese Systemdebatte blendet nach meiner Kenntnis die grundlegende philosophische Frage nach dem Wesen der mathematischen Gegenstände aus. Insbesondere haben diese Debatten nicht dazu geführt, den durch das „axiomatische Denken“ bewirkten fundamentalen ontologischen Wandel der Analysis bewusst zu machen oder gar ihn zu reflektieren.472 Mir scheint jedoch: Zum Verständnis des Wesens der heutigen Analysis und also auch der Möglichkeiten und der Gefahren, die sie mit sich bringt, ist eine ausdrückliche Einbeziehung dieses Aspektes ihres ontologischen Umbruchs nach H IL BERT unverzichtbar. (Wie angesprochen hat sich dieser Umbruch in den Lehrbüchern jedenfalls der Alten Welt interessanterweise ausgesprochen schleppend gestaltet.) Klar ist: Das immer aufs Neue beliebte anekdotische Einstreuen angeblich historischer Bemerkungen in Lehrbücher (nicht nur) der Analysis behauptet ohne jegliche Reflexion, einen Wandel der mathematischen Begriffe, gar einen substanzialen, habe es nicht gegeben. Denn nur so ist eine solch beiläufige Herangehensweise an die Geschichte der Analysis zu verstehen und zu legitimieren.473 Dem ist jedoch nicht so. Als Beleg wurde dieses Buch geschrieben. r 472
Vgl. etwa Bishop 1967, Bishop und Bridges 1985. Der späte L ORENZEN allerdings sieht hier kein großes Problem, wenn er anlässlich seiner „Skizzierung“ einer „konstruktiven Theorie [. . . ], die an die Stelle der naiven klassischen Analysis treten“ und der axiomatisch begründeten Analysis Paroli bieten soll, meint: „Da bis in unser Jahrhundert die Analysis niemals eine axiomatische Theorie gewesen ist, sondern in naiver Weise konstruktiv, sollte man erwarten dürfen, dass keine artifiziellen Konstruktionen zu ersinnen sind, sondern dass die in der Tradition der Analysis intendierten Konstruktionen nur explizit zu machen sein werden.“ (Lorenzen 1965, S. 106 f.) Der ontologische Aspekt der Sache bleibt bei dieser Betrachtung freilich außen vor.
473
Dass der Geschichte der Mathematik heutzutage kein anderer Raum als der für anekdotische Einstreuungen in Lehrbüchern gewährt wird (die sich der Fachmathematiker mühsam, möglichst rasch und in der Regel mit nicht ganz reinem Gewissen abringt), sagt auch etwas Wesentliches über die aktuelle Verfasstheit der Wissenschaft Mathematik aus. Mir scheint: nichts Gutes.
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Brouwer, Weyl, Lorenzen
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Ausklang: Das aktuale Unendlich – der philosophische Joker in der heutigen Mathematik
U M B R Ü C H E D E S M AT H E M AT I S C H E N D E N K E N S R ENÉ D ESCARTES gelangen zwei fundamentale mathematische Erfindungen: Er hat die rein symbolische Formel geschaffen, und er hat die Geometrie arithmetisiert. Mit der rein symbolischen Formel wurde die Mathematik, wie wir sie heute kennen, überhaupt erst möglich: in Form einer rein rational konstruierten Sprache. Diese D ESCARTES’sche Erfindung ermächtigt uns, Begriffe (Verstandesdinge also) als Zeichen zu vergegenständlichen, zu materialisieren. (L EIBNIZ wird daraus seine Idee der „Characteristica universalis“ entwickeln.) Die Arithmetisierung der Geometrie gelang D ESCARTES, indem er die „Multiplikation“ von ‚Streckenlängen‘ radikal neu fasste und das „Produkt“ nicht mehr, wie schon immer: als Fläche, sondern radikal neu: als neue ‚Streckenlänge‘ deutete. Allerdings verlangte dies die vorgängige Festsetzung einer „Einheit“: die Deutung irgendeiner endlichen geraden Linie als die Zahl „Eins“. Ein kühner Schritt! Durch die Arithmetisierung der Geometrie machte sich das rechnende: das kapitalistische474 Denken die klassische Mathematik untertan. Das Marktgeschehen wartete darauf.
S. 25 ab S. 18
S. 128 S. 18
G OTTFRIED W ILHELM L EIBNIZ knüpfte unmittelbar an D ESCARTES’ Schöpfungen an und erfand die geometrischen Kalküle der Differenzial- und der Integralrechnung. (Und zwar nicht „irgendwie“ und „ungefähr“, sondern in aller – zu sei- S. 111–122 ner Zeit – denkbaren Präzision.) Durch L EIBNIZ wurde das Rechnen auf eine gänzlich neue Abstraktionsstufe gehoben: Nicht mehr nur Einzelnes wurde jetzt dem Rechnen unterworfen, sondern ganze Systeme: unendlich vieles. Mit der „stetig“ Veränderlichen gab L EIBNIZ dem ersten „aktual“ unendlichen Begriff Bürgerrecht im mathematischen Den- S. 70 ken. Freilich nur als abstraktem Begriff, nicht jedoch als konkretem Resultat des S. 187 Rechnens. 474
Wenn man den Kapitalismus über den Gebrauch der Kapitalrechnung definiert, beginnt er mit der doppelten Buchführung und also mit L UCA PACIOLI (um 1445–1517) und dessen 1494 erschienener Summa de arithmetica, geometria, proportioni et proportionalita – siehe etwa Chiapello 2007, S. 91. Wenn man den Kapitalismus definiert als den „Versuch, eine monetäre Anfangsschuld durch Ausnutzung [sic] von Arbeitskräften aus der Welt zu schaffen“ (Türcke 2015, S. 187), dann beginnt er bekanntlich im Florenz des 14. Jahrhunderts mit den dortigen Manufakturbetrieben zur Verarbeitung englischer Wolle.
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Ausklang J OHANN B ERNOULLI kombinierte D ESCARTES’ Strategie mit L EIBNIZ’ Erfindungen: Er arithmetisierte (oder: „algebraisierte“) den Differenzial- wie den IntegralS. 167–179 kalkül. Gegenstand des Rechnens waren jetzt nicht mehr geometrische Objekte (wie bei D ESCARTES und L EIBNIZ), sondern sogenannte „Größen“. Was eine „Größe“ genau sei, bleibt dabei offen. J OHANN B ERNOULLIs Schüler L EONHARD E ULER S. 217–253 expandierte die Konzeption des Rechnens seines Lehrers soweit irgend möglich. J OHANN B ERNOULLI wie E ULER fanden nichts dabei, L EIBNIZ’ Einführung des S. 180, 219 „aktualen“ Unendlich von den „Größen“ auf die „Zahlen“ auszudehnen; allerdings begnügten sie sich dabei mit intuitiven Grundideen im Einzelfall und formulierten S. 173 ff. dafür keine Prinzipien. 234 ff. Weder für die „Größe“ noch für die „Zahl“ hatten J OHANN B ERNOULLI und E U LER eine mathematische Konzeption. Ihnen ging es – gleichsam als akademischen S. 194 Rechenmeistern – mehr um kunstvolles Rechnen als um Klärung der mathemaS. 167 tischen Begriffe. Bei J OHANN B ERNOULLI gab es für dieses Rechnen noch „PrinziS. 238 pien“, E ULER verzichtete darauf und rechnete einfach. Sein Wirken nur an Akademien hielt ihn von den aktuellen Erfordernissen der Entwicklungen des gesellschaftlichen Alltags fern. Dass es den auf dem Markt Tätigen immer und nur um den „Wert“ geht, drang nicht zu den Akademikern durch. Sie hielten daran fest, die Welt durchs Rechnen: durch kluge Politik also, regieren zu können. Kapitel 4
S. 348
B ERNARD B OLZANO und AUGUSTIN -L OUIS C AUCHY erdeten die Analysis – der eine als Autodidakt, der andere als zwar akademisch ausgebildet, aber dann eine Zeitlang als Ingenieur im Kanalbau tätig. Beiden war es sonnenklar: Markt wie Technik waren nicht mit bloß abstrakten „Größen“ zu befriedigen, sondern verlangten nach deren genauer Bestimmung durch konkrete „Werte“. Seit dem heroischen Zeitalter L EIBNIZ’ mit dessen Erfindung der allgemeinen „Veränderlichen“ waren eineinhalb Jahrhunderte ins Land und die gesellschaftliche Entwicklung in großen Schritten weitergegangen. Ohne „Werte“ war die Analysis im neuen gesellschaftlichen Alltag unbrauchbar. B OLZANO und C AUCHY wandten sich von der akademischen Analysis (bekannt als „Algebraische Analysis“) ab und gründeten die Analysis – auch, nicht allein – auf den Begriff „Wert“. Dabei folgte jeder seinen Ideen, und die waren (wen wunderts?) fundamental verschieden voneinander. Der eine – C AUCHY – war stockkonservativ und versuchte demgemäß, die bisherige Lehre an das anzupassen, was er als neues Erfordernis sah (eben die Bindung an den Begriff „Wert“). Der andere – B OLZANO –, schon in seinen jungen Jahren vom monarchischen System als revolutionärer Geist gebrandmarkt und der akademischen Wirkmacht beraubt, konstruierte in Abgeschiedenheit seine Gedankensysteme, frei nach dem Motto: „Was hindert mich, zu denken, dass . . . ?“s Je mehr die Analysis von „Werten“ handelte, desto mehr Nutzen warf sie ab: in einer Gesellschaft, in der es um Wertbestimmung ging, in der Arbeit des Ingenieurs wie auf dem Markt. Ein „Wert“ musste möglichst klar bestimmt werden können. s
Etwa FL, I. § 36 = FLGA , f. 28r : „Was hindert uns z. B. festzusetzen [. . . ]“.
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Umbrüche des mathematischen Denkens Diesen Grundsatz führte B ERNHARD R IEMANN als Grundprinzip in die Analysis ein: Ein „Funktionswert“ muss eindeutig sein. (Und wo er das a priori nicht sein S. 370 kann – Stichwort: komplexe Analysis –, dort wird er durch einen Kunstgriff eindeutig gemacht. Der Name für diesen Kunstgriff ist: „R IEMANN’sche Fläche“.) Nach der Ablösung der Differenzial- und der Integralrechung von der Geometrie durch J OHANN B ERNOULLI blieben die Grundbegriffe (ich sage dazu gern: die Anfangsbegriffe) der neuen Lehre unbestimmt: Was ist „Größe“? Was ist „Zahl“? Weder J OHANN B ERNOULLI, noch E ULER (aber auch nicht die anderen Größen der mathematischen Zunft wie D ’A LEMBERT und L AGRANGE) konnten oder wollten etwas dazu sagen. B OLZANO und C AUCHY allerdings, die den Begriff „Wert“ ins Rampenlicht schoben, sahen hier Klärungsbedarf. C AUCHY versuchte sich daran (darauf wurde oben kurz eingegangen), und B OLZANO rang intensiv darum, wie sich in seinen Manuskripten (die inzwischen weitgehend ediert sind) nachlesen lässt. Zu befriedigender begrifflicher Klarheit jedoch gelangte keiner von beiden. Und erst einmal auch kein anderer (G AUSS eingeschlossen). Das größte Desaster erlebte diesbezüglich K ARL W EIERSTRASS: Trotz seiner enormen Fachkompetenz und trotz jahrzehntelangen Ringens gelang ihm an dieser Front kein wirklicher Durchbruch. Erst sein Doktorsohn G EORG C ANTOR fand einen Weg, W EIER STRASS ’ Grundidee zu einer – zunächst: nur technisch – schlüssigen Konstruktion umzuformen. Als es ihm dann auch noch gelang, mit der „Menge“ einen für diese Konstruktion geeigneten Anfangsbegriff zu formulieren, war der Erfolg perfekt: Die Analysis hatte einen sauberen und zugleich technisch schlagkräftigen Begriff von „Zahl“ (und damit: „Wert“). Und – das war der Knüller – mit der „Menge“ auch einen Begriff, der geeignet war, den seit J OHANN B ERNOULLIs Zeit unklaren Begriff „Größe“ zu ersetzen. Zwei Durchbrüche auf einen Streich. Was im Pulverdampf der Kämpfe jeder Gegenwart (jedes aktuell erreichten Standes der Wissenschaft) oft nicht zu erkennen ist, kann manchmal die rückblickende Analyse klären: Worin bestand das Problem, an dem z. B. W EIERSTRASS (aber das gilt auch für alle anderen seiner Zeit) scheiterte? Offenbar darin, jenen Weg weiterzugehen, den L EIBNIZ beschritten hatte, als er das „aktuale“ Unendlich in die Mathematik einführte. Ja, die „Veränderliche“ war als „aktual“ Unendliches sofort akzeptiert – freilich nur als Gedachtes, nicht jedoch als wirkliches Rechenobjekt. Aber das Unendliche etwa als konkrete Zahl – und wenn als eine Zahl, dann natürlich zwingend gleich als ganz viele, als unendlich viele Zahlen? Dagegen focht selbst ein L EIBNIZ erbittert, wie wir oben nachlesen konnten. J OHANN B ERNOULLI und E ULER wollten schon, schenkten der Sache aber keine besondere Aufmerksamkeit – und die anderen, insbesondere die Späteren, wollten nicht mehr. (Der unerschrockene Denker B OLZANO versuchte es, wie es in seiner Reinen Zahlenlehre dokumentiert ist, kam aber nicht zum Erfolg.) Erst G EORG C ANTOR und – aus einer ganz anderen Richtung kommend – R I CHARD D EDEKIND überwanden diese Hürde und gestanden dem „aktualen“ Unendlich ein volles Bürgerrecht in der Mathematik zu. Erst G EORG C ANTOR und R I -
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S. 301 S. 288
S. 415–435 S. ab 458 S. 138
S. 187
S. 184
S. 463 S. 487
Ausklang CHARD D EDEKIND verstanden es, die – unmögliche – konkrete Berechnung
S. 580
des Unendlichen abzutrennen von seiner – möglichen – strengen begrifflichen Klärung. Mit einem klaren (D ESCARTES: „distinkten“) Begriff kann das mathematische Denken konstruieren – einen (konkreten) „Wert“ braucht es dafür nicht. Kurz: C ANTOR und D EDEKIND gelang es, sich wieder ein Stück weit vom Zwang zur Bindung der Analysis an den „Wert“ zu lösen. Und damit funktionierte es: Eine logisch strenge Bestimmung des ‚analytischen‘ Zahlbegriffs gelang. Damit war – endlich – der Bann gebrochen. Jetzt wurde es möglich, die Mathematik (Analysis) der Neuzeit in einer logisch stringenten Weise zu formulieren, die es mit dem antiken Vorbild E UKLID (für die damalige Hochform der Mathematik: die Geometrie) aufnehmen konnte. Dies war das Projekt der „Strukturmathematik“ des Phantoms N ICOLAS B OURBAKI, das sich ab dem Zweiten Weltkrieg ans Werk machte. Es schwamm im Kielwasser des H ILBERT’schen Formalismus’. Nach dessen Vorgabe wischte es die gesamte Mathematik seit ihrer Erfindung im alten Griechenland beiseite und setzte die ‚relationale‘ Mathematik als Standard. Unbeachtet blieb dabei, dass eine „klassische“ – also eine ‚substanziale‘ – axiomatische Mengenlehre nicht nur denkbar ist, sondern bereits im Jahre 1926 auch vorgelegt wurde:t Entgegen der ersten aufgeregten Reaktion konnte sie bislang nicht wirklich als unhaltbar erwiesen werden, sondern wurde einfach nur als „unmodern“u übergangen.475 Es ist eine – ganz selbstverständliche – Tatsache, dass es nach der Erfindung des Begriffs „reelle“ Zahl (und ergänzend: des Begriffs „Menge“) durch C ANTOR und D EDEKIND (D EDEKIND sprach vom „System“v ) möglich, ja notwendig wurde, die Analysis in neuer Weise aus diesen neuen Anfangsbegriffen herzuleiten. (Ich nenne dies die ‚Mengen-Analysis‘).476 Wer seine (oder: ihre) Analysis in diesem Denksystem der ‚Mengen-Analysis‘ gelernt hat und dann einen früheren Analysistext aufschlägt, versteht erst einmal: . . . sehr wenig. Klar, denn sie bzw. er hat die Analysis doch ganz anders gelernt, als sie früher konzipiert war. In dieser Lage gibt es die Möglichkeit, das Lernen aufzuhören und zu sagen: Was ich nicht verstehe, ist falsch – das Alte muss ich nicht lernen. Wer so reagiert, bleibt Mathematiker/in mit wenig Verständnis für die unendliche Arbeit, in aller Regel frucht- und ergebnislos – auch bei den „allergrößten“ Geistern –, die geleistet werden muss, bis es einem der Akteure schließlich doch gelingt, der Sache einen neuen Dreh zu geben. In dieser Perspektive braucht es bloß begnadete Sonntagskinder (vorzugsweise „Genies“ getauft), denen kraft ihrer „Genialität“ unversehens ein paar Früchte vom Baum der Erkenntnis in den Schoß fallen. t
475 476
Finsler 1926b
u
Breger 1992, S. 262– es sei an S. 667 erinnert.
v
Dedekind 1887, S. 334
Eine solche Theorie zieht nicht allein rational Denkende an: Röschert 1985. Einen vergleichbaren Umsturz der seinerzeit herkömmlichen Analysisform hatten B OLZANO und C AUCHY an der Algebraischen Analysis vollzogen – siehe Kapitel 4.
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Wie ist es um die Strenge der Mathematik bestellt? Die andere Reaktion ist es, sich der Geschichte zu öffnen. Aufgabe der Historiker ist es, die ganze Geschichte zu erzählen: mitsamt ihren Brüchen, Fehlversuchen und Misserfolgen: den gern versteckten Schmuddelkindern im intellektuellen Alltagsgeschäft. Letzteres muss niemand wollen. Aber wer es mag, kann viel erfahren: in seinem Kopf – und erst recht im richtigen Leben, wenn sie oder er versucht, daraus eine ehrbare wissenschaftliche Laufbahn zu machen. Doch kommen wir abschließend auf das Neue zurück, das C ANTOR und D EDE im Jahr 1872 der Mathematik erfunden haben: das „aktuale“ Unendlich als legitimer Alltagsbegriff der Mathematik. Geht das denn so einfach: ein neuer („genialer“) Begriff – und alles ist gut? Nein, wiederum ist es so einfach nicht, selbst dann nicht, wenn man sich einen intellektuellen Ruck gibt und diesen Begriff grundsätzlich akzeptiert. (Und das tun, wie erwähnt, nicht alle Mathematiker.) KIND
W I E I S T E S U M D I E S T R E N G E D E R M AT H E M AT I K B E S T E L LT ? Die Mathematik gilt gemeinhin477 als strenge Wissenschaft. Die Vertreterinnen und Vertreter des Faches erklären das, die anderen glauben es. Worauf aber bezieht sich diese Strenge? Auf die Begriffe, auch auf die Anfangsbegriffe? Wie wir gesehen haben, haben sich die Mathematiker keine Skrupel daraus gemacht, mit Begriffen zu arbeiten, die alles andere als klar bestimmt waren. Das schlagendste Beispiel, das uns untergekommen ist, ist der Begriff der Irrationalzahl: 350 Jahre lang wurde er genutzt, wurde gar eine Theorie der stetigen Bewegung darauf gegründet – übrigens die mächtigste Theorie der Mathematik vor der Erfindung des Computers –, ohne dass er hätte klar bestimmt werden können. 350 Jahre lang fungierte die unabhängig „stetige Größe“ als eine genuine „Anschauung“, in der in einer nicht näher begrifflich bestimmbaren Weise die „Irrationalzahl“ gründete. L EIBNIZ’ allgemeine Bestimmung funktioniert aus internen Gründen nicht, und der 1720 gestartete Ansatz W OLFFs zur Lösung dieses Problems wurde nicht weiter verfolgt. Noch im Jahr 1867 war H ERMANN H ANKEL fest davon überzeugt: ˜ „Jeder Versuch, die irrationalen Zahlen formal, und ohne den Begriff der dextensivene Größe selbst zu behandeln, muss auf höchst abstruse und beschwerliche Künsteleien führen, die, selbst wenn sie sich in vollkommener Strenge durchführen ließen, wie wir gerechten Grund haben zu bezweifeln, einen höheren wissenschaftlichen Wert nicht haben.“ (Hankel 1867, S. 46 f.) 477
Und zwar seit (und schon vor) den Zeiten des E UKLID und also seit mindestens zwei Jahrtausenden. Wer anderes behauptet, kann damit natürlich Aufsehen erregen (beispielhaft: Grabiner 1974; dazu Anmerkung 167 auf S. 265), vergewaltigt dazu jedoch umfassend die Quellen.
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S. 100, Anm. 75
S. 81 S. 147 S. 451
Ausklang
S. 458, 479
S. 442
Fünf Jahre später wurde diese Überzeugung umgestürzt (heute ist sie vollkommen vergessen). Im Jahr 1872 kam der doppelte Paukenschlag von C ANTOR (und H EINE) einerseits und von D EDEKIND andererseits, mit dem zwei verschiedene, jedoch zueinander mathematisch äquivalente konkrete Bestimmungen des Allgemeinbegriffs „Irrationalzahl“ vorlegt wurden. Das eben noch für unmöglich Erklärte wurde wirklich. Wie war das möglich? So unterschiedlich diese beiden Entwürfe auch waren, gemeinsam ist ihnen eines: die maßgebliche Verwendung des „aktualen“ Unendlich,478 und zwar – das war das Neue, gegen das sich L EIBNIZ mit Händen und Füßen gewehrt hatte – als ein konkretes Rechenobjekt, als einen völlig legitimen Konstruktionsbegriff der Mathematik; bald gefolgt von der Einführung der ‚Mengensprache‘.479 Anders formuliert: Solange das „aktuale“ Unendlich nicht als allgemeiner mathematischer Begriff anerkannt wurde, war der Begriff der Irrationalzahl nicht klar bestimmt. Dieser Schritt: die Einführung des allgemeinen „aktualen“ Unendlich in die Mathematik – also die grundsätzliche Zulassung dieses Begriffs als einen echt mathematischen, vollkommen klaren und bestimmten Begriff, über die besonderen Fälle der „Veränderlichen“ und der „Dezimalzahl“ hinaus –, gar in die Grundlagen der Mathematik, war derart revolutionär, dass ihn traditionelle Denker wie W EI ERSTRASS lebenslang schlicht ignorierten (und also: ablehnten). Ist das nun die Lösung? Ist es der allgemeine Begriff des „aktualen“ Unendlich, der die Mathematik auf eine neue Stufe der begrifflichen Strenge und Bestimmtheit hebt – nachdem L EIBNIZ mit der „Veränderlichen“ bereits ein erstes „aktuales“ Unendlich als mathematischen Grundbegriff etabliert hatte? Merkwürdigerweise ist das nicht der Fall. Merkwürdigerweise wohnt dem „aktualen“ Unendlich eine wesentliche Unbestimmtheit inne. W E LC H E E I G E N S C H A F T E N H AT D A S A K T UA L E UNENDLICH? Welche kennzeichnende(n) Eigenschaft(en) hat das „aktuale“ Unendlich? Fatalerweise ist dies völlig unklar! Genauer gesagt: Die kennzeichnende(n) Eigenschaft(en) des „aktualen“ Unendlich sind im Widerstreit. Es gibt dazu (mindestens) zwei grundverschiedene Auffassungen. Beide Auffassungen sind gleichermaßen denkmöglich, aber sie schließen einander wechselseitig aus. Je nachdem, für welche dieser beiden Auffassungen man sich entscheidet, gestaltet sich die weitere Konstruktion der mathematischen Theorie: so oder so. Mit T HOMAS P YNCHON 478
Wer diese Konstruktionen ablehnte, der lehnte das „aktuale“ Unendlich ab; die daraus entstandenen Schulgründer wurden bereits angesprochen: siehe S. 670. 479 H EINEs Konstruktion, die sich nicht der ‚Mengensprache‘ bediente, krankte am Mangel eines begrifflichen Substrats für den Zahlbegriff. H EINE vermochte daher die Zahlen nur als „Zeichen“ zu konstituieren (siehe S. 466) – eine philosophisch ganz unzulängliche Position, die auch sofort von F REGE genüsslich zerpflückt wurde (siehe S. 473).
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Welche Eigenschaften hat das aktuale Unendlich? gesprochen: Es handelt sich um „mathematische Glaubensrichtungen“w . BEISPIEL LOGIK Je nachdem, für welche der beiden möglichen Versionen man sich entscheidet: Entweder behält man den ehrwürdigen Satz ∗
Satz. Das Ganze ist größer als sein Teil.
als generell wahren Satz bei; oder aber man gibt ihn als im Allgemeinen falsch auf und nutzt sogar seine Verneinung als Definition des „aktualen“ Unendlich:
Definition. Eine Menge heißt unendlich, wenn es einen echten Teil von ihr gibt, in welchen sie sich 1 : 1 abbilden lässt.x Mit anderen Worten: Dann gilt der
Gegen-Satz: Es gibt mathematische G EGENSTÄNDE, die ebenso groß sind wie ein echter Teil von ihnen. BEISPIEL ARITHMETIK Je nachdem, für welche Auffassung des „aktualen“ Unendlich man sich entscheidet, gilt entweder der eine oder der andere der beiden folgenden Sätze:
Satz. Es gibt genauso viele ohne Rest durch 2 teilbare Zahlen wie natürliche Zahlen. (Oder: Der echte Teil „alle geraden Zahlen“ der natürlichen Zahlen enthält ebenso viele Zahlen wie die Gesamtmenge „alle Zahlen“.)
Beweis: Das Doppelte jeder Zahl (n 7→ 2n) schöpft diese bezeichnete Zahlenmenge („ohne Rest durch 2 teilbar“) aus. Also enthält dieser echte Teil (2n) genauso viele Zahlen wie die gesamte Menge (n). – Was zu zeigen war. Wer will, kann dies als ein gültiges mathematisches Argument betrachten. Gegenwärtig tut dies die Mehrheit der Mathematiker. Allerdings ist dies keineswegs zwingend! Denn genauso gut kann man die Sache umgekehrt betrachten: ∗
Gegen-Satz. Es gibt halb so viele ohne Rest durch 2 teilbare Zahlen wie natürliche Zahlen. (Oder: Der echte Teil „alle geraden Zahlen“ enthält nur halb so viele wie die Gesamtmenge „alle Zahlen“.) Beweis: Nur jede zweite natürliche Zahl (2n 7→ n) ist gerade. – Ausführlicher: Wenn man irgendeinen Anfang der Reihe der ohne Rest durch 2 teilbaren Zahlen betrachtet: 2, 4, 6, . . . , n (n gerade), so enthält dieser genau halb so viele Zahlen wie der betreffende Anfang der Reihe aller natürlicher Zahlen: 1, 2, 3, 4, 5, 6, . . . , n − 1, n. Das gilt für jedes n. Also gibt es nur halb so viele gerade wie natürliche Zahlen. – Was zu zeigen war. Wir sehen den Unterschied: Das eine Mal werden die ohne Rest durch 2 teilbaren Zahlen als „Doppelte“ betrachtet, das andere Mal als „gerade“ Zahlen. w
Pynchon 2010, S. 149
x
Vgl. Dedekind 1887, S. 356, Anmerkung *.
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Ausklang Beides ist möglich, und beides ist zulässig. Und also ist keine dieser beiden Betrachtungsweisen zwingend. Wenn aber keine dieser Betrachtungsweisen zwingend ist, dann kann von „Strenge“ keine Rede sein! Vielmehr steht es im Belieben der Mathematikerin oder des Mathematikers, sich für eine dieser beiden Auffassungen zu entscheiden. Und: Eine solche Entscheidung muss getroffen werden – es sei denn . . . EIN DRITTES GIBT ES NICHT Vielleicht wollen Sie einer Entscheidung für die eine oder andere Auffassung ausweichen? Sie könnten auf die Idee kommen und bei H ILBERTs Axiomensystem für S. 559 die „reellen“ Zahlen Zuflucht suchen: Wer die „reellen“ Zahlen so definiert, hat auch die „irrationalen“ dabei – und muss nicht übers „aktuale“ Unendlich reden. Doch von F REGE haben wir gelernt: Wer „implizit“ definiert, definiert gar480 S. 502 nicht. Wer nur Axiome formuliert, hat noch lange keine Gegenstände, die dazu passen. Mit H ILBERT zu sprechen: der (oder die) kann nicht zwischen Punkte/Geraden/Ebenen einerseits und Liebe/Gesetz/Schornsteinfeger andererseits unterS. 565, scheiden. Wer eine Mathematik dieser Art (unterrichten) will, wer also die „reelAnm. 410 len“ Zahlen nach H ILBERT s Vorbild axiomatisch einführen will, der oder die legt S. 497, – wie wir gesehen haben – das mathematische Denken von Grund auf als „willPunkt 4 kürliches“ Denken an, dem es um den je behandelten Gegenstand gar nicht zu tun ist. S. 100, Der Sache nach handelt H ILBERT also so, wie es der große Rechenmeister C HRI Anm. 75 STOPH R UDOLFF aus Wien im Jahr 1525 (und der große Akademiker E ULER ein Vierteljahrtausend später) getan hat: Er arbeitet mit einem Etwas als „Zahl“, von dem er nichts weiß (im Falle H ILBERT: nichts wissen will) – außer einigen nützlichen Eigenschaften. Vom Rechenmeister C HRISTOPH RUDOLFF aus Wien wissen wir: Zur Buchhaltung taugt das allemal (und von E ULER wissen wir: berühmt werden kann man damit auch). 480
Wie bereits in Anmerkung 412 von S. 567 erwähnt hat F INSLER hier eine Liberalisierung vorgeschlagen. Er erlaubt neben „zirkelfreien“ auch „zirkelhafte“ Definitionen (Mengen), sofern diese einen „erfüllbaren“ Zirkel enthalten (Finsler 1926b, S. 702). – Dabei ist der Begriff „zirkelfrei“ zirkelhaft definiert. . . und muss dies sein, weil andernfalls die Menge (sic) aller zirkelfreien Mengen, „sofern sie nur vom Begriff »zirkelfrei« unabhängig ist“, nicht zirkelfrei wäre, was „nach Definition nicht sein kann.“ (Finsler 1975, S. 128). Übrigens kann F INSLER hier leicht die Unendlichkeit der natürlichen Zahlenreihe beweisen (üblicherweise wird sie einfach behauptet – doch warum soll es keine größte natürliche Zahl geben? In einer endlichen Welt gibt es nicht mehr als alle Dinge!): Zu jeder zirkelfreien Menge m gibt es eine zirkelfreie Menge n, die m als einziges Element enthält: n = {m}: „Dies zeigt, dass es zu jeder natürlichen Zahl eine folgende gibt, dass also die Zahlenreihe unendlich ist.“ (Finsler 1975, S. 128) Es sei noch angefügt, dass F INSLER die „Mengen“ als „eine Verallgemeinerung der natürlichen Zahlen“ (Finsler 1975, S. 127) betrachtet – und es sei daran erinnert (siehe Anmerkung 103 auf S. 138), dass F INSLER die Enthaltensrelation durch „β“ bezeichnet: Die Mengen „unterscheiden sich von den natürlichen Zahlen dadurch, dass sie nicht nur einen, sondern beliebig viele Vorgänger besitzen können. Hier kann also M β a, M β b mit a 6= b gelten; man schreibt dann auch M = {a, b, . . .} und nennt die Vorgänger die Elemente der Menge.“
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Frühere Betrachtungsweisen Das mag vielleicht den gesellschaftlichen Anforderungen der Gegenwart Genüge tun und in der Lehre das Denken der Absolventen der Hochschule aufs Formale zurichten. Es markierte, wenn es allgemeiner Stil würde, jedoch den – keineswegs zwingenden – Übergang zu einer grundlegend neuen Gestalt der Mathematik, die S. 674 Abkehr von einer jahrtausendealten Tradition – und wäre als ein solcher Gestaltwandel der Mathematik wohl zu reflektieren. FRÜHERE BETRACHTUNGSWEISEN BOLZANO Im Jahr 1837 argumentierte B OLZANO in seiner Wissenschaftslehre in der Weise des arithmetischen „∗ Gegen-Satzes“, wonach es nur halb so viele gerade wie natürliche Zahlen gibt.y Und selbstverständlich war B OLZANO auch von der Geltung des S. 677 oben angeführten logischen „∗ Satzes“ überzeugt. Er verteidigte diese Position sogar ausdrücklich gegen ihren „Gegen-Satz“.z In seinen erst im späteren 20. Jahrhundert veröffentlichten Manuskripten findet sich ein Versuch B OLZANOs, einen brauchbaren ‚analytischen‘ Zahlbegriff zu konstruieren.481 Dort nutzt B OLZANO den Begriff des „aktualen“ Unendlich zur Konstruktion von „unendlichen“ Größenbegriffen.a Dabei unterscheidet B OLZA NO zwei verschiedene „unendliche“ Größenausdrücke auch dann in ihrer Größe, wenn sie beide „unendlich groß“ sind: (a) Wenn q und b „natürliche“ Zahlen sind (B OLZANO nennt sie „wirkliche“ Zahlen), gilt: „Da nun qb eine wirkliche Zahl ist; so besteht der Unterschied (1 + 1 + . . . in inf:) − qb aus einer Summe unendlich vieler Einheiten, weil, wenn von einer unendlichen Menge (1 + 1 + . . . in inf:) eine bloß endliche Menge qb [von Einheiten] abgezogen wird, der Rest noch immer eine unendliche Menge von Einheiten enthält.“ (RZ, f. 80v ) B OLZANO spricht hier vom „Unterschied“ der beiden „Zahlen“ 1 + 1 + . . . in inf: und 1 + 1 + . . . in inf: − qb. Dieser „Unterschied“ ist qb. Augenscheinlich bezieht sich B OLZANO hier auf die „Größe“ der betreffenden „Zahlen“. Mit anderen Worten: Für B OLZANO sind 1 + 1 + . . . + in inf: und 1 + 1 + . . . +in inf:−qb der Größe nach voneinander verschieden. (Sonst hätte er anders formulieren müssen, denn dann wäre dieser „Unterschied“ – mit ihm gesprochen – „gleichgeltend“ mit 0. Doch qb ist sicher nicht gleichgeltend mit 0.) Dabei beruft sich B OLZANO auf einen Lehrsatz seines Manuskripts „Einleitung zur Größenlehre“: ˜ (b) „Lehrsatz. Wenn von einer unendlichen konkreten Vielheit von A nicht bloß ein einziges A, sondern ein Inbegriff mehrerer A, doch immer eine y 481
WL, 1, § 102.1, dazu Spalt 1990a.
z
AG, fs 19r , 19v
a
Vgl. dazu Spalt 1990a, Spalt 1991a.
RZ; darauf bin ich in diesem Buch nicht näher eingegangen (siehe jedoch S. 241), weil diese Idee im 19. Jahrhundert unveröffentlicht blieb und somit keine Wirkung entfalten konnte.
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Ausklang bloß endliche konkrete Vielheit derselben, ja auch wohl mehrere dergleichen Vielheiten, in bloß endlicher Menge abgezogen werden; so ist der Rest noch immer eine unendliche konkrete Vielheit.
Beweis. Denn eine endliche Vielheit gäbe hinzugesetzt zu demjenigen, was abgezogen wurde, nur eine endliche Vielheit.“ (EG, fs 154v , 155r ) Also ein indirekter Beweis. Und es ist keine Rede davon, dass die beiden Vielheiten, die unendliche und die – vielleicht nur um „ein einziges“ A – verminderte, doch eigentlich „gleich groß“ seien. Wann, wenn nicht hier, hätte B OLZANO das sagen müssen, wenn er so gedacht hätte?
DEDEKIND UND CANTOR
S. 133 S. 179–187 S. 235
Merkwürdigerweise haben sich D EDEKIND482 und C ANTOR483 für die andere Betrachtungsweise entschieden.484 Und merkwürdigerweise war die denkerische „Freiheit“ der Mathematik485 nicht Anlass für einen Aufstand der Anständigen gegen solche Zumutung an das Denken,486 das den Satz „Das Ganze ist größer als sein Teil.“ als generell wahren Satz ad acta legte.487 Es war also fehlende Kreativität: der ausbleibende Vorschlag einer alternativen Konstruktion der „reellen“ Zahlen in den 1870er Jahren, was den Konstruktionen von C ANTOR und D EDEKIND in der Mathematik zur heute herrschenden Meinungsführerschaft verhalf – und damit notwendig einhergehend ihrer zugrundegelegten anstößigen Auffassung vom „aktualen“ Unendlich. Hinsichtlich des logischen Aspekts hätte sicher L EIBNIZ gegen D EDEKINDs und C ANTORs Position Stellung bezogen, hinsichtlich des arithmetischen Aspekts hätten wohl J OHANN B ERNOULLI und E ULER dagegen opponiert. S TA N D A R D - U N D N I C H T S TA N D A R D - A N A LY S I S Klar ist: Keine dieser beiden Auffassungen vom „aktualen“ Unendlich ist zwingend, sondern jede ist möglich. Zwei Glaubensbekenntnisse. Schönheit liegt bekanntlich im Auge des Betrachters, und so obliegt es jeder und jedem Einzelnen, 482
Bei D EDEKIND ist es klar: Ihm geht es um das „Drehen und Wenden der Definitionen“ als „der größten Kunst des Systematikers“ (siehe S. 498), nicht also um die Sachgerechtheit seiner Definitionen. 483 Hier wäre noch zu klären, warum C ANTOR diese anti-traditionelle Denkweise pflegte. 484 Es sei an S. 677 bei Anmerkung x erinnert. 485 So frei, wie manche es gerne behaupten, ist das mathematische Denken gar nicht: Das haben wir auf S. 478 gezeigt und auf S. 538 kurz angesprochen. 486 Zwar schreibt WALLACE mit Blick auf die Identifizierung der „Größe“ einer unendlichen Menge mit ihrer Hälfte von einer „irren Äquivalenz“ (Wallace 2007, S. 58; im Original: „freaky equivalence“ – Wallace 2003, S. 122), doch hält ihn das nicht davon ab, dieses „irre“ Denken kritiklos zu feiern. Apologeten gewährt man gerne Narrenfreiheit. 487 Die allgegenwärtige, aber dumme Popularsierung, die die Verneinung dieses Satzes als eine „Erkenntnis“ der modernen Mathematik feiert, will die Sache nicht wahrhaben.
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Strenge in der Mathematik: eine auf Willkür gegründete Notwendigkeit sich für die eine oder für die andere zu entscheiden. Die Betrachtungsweise ohne * ist die heute so genannte „Standard“-Sicht, jene mit * die „Nichtstandard“-Sicht. S. 677 In jedem Falle ist die getroffene Entscheidung zwischen den beiden eines: nicht zwingend, sondern willkürlich. Strenge ade. (Dass manche Mathematiker das „aktuale“ Unendlich gänzlich ablehnen und die Analysis daher ganz anders aufbauen, wurde bereits erwähnt.) S. 670 Natürlich schließen beide Auffassungen einander gegenseitig aus: Man muss sich schon entscheiden, welche Art der Argumentation man für eine Theorie als gültige anerkennen will – und im Weiteren konsequent dabei bleiben. Sonst entstehen Widersprüche und keine Mathematik. Erst seit 1958 ist es klar488 , dass die von D EDEKIND und C ANTOR propagierte Betrachtungsweise nicht die einzig mögliche ist.b Diese Alternative ist jedoch bis heute nur wenig verbreitet. (Ihre größte Wirkung erzielt sie fatalerweise in der Geschichtsschreibung der Analysis, denn sie wird gern in die Texte von L EIBNIZ, J O HANN B ERNOULLI und E ULER hineingelesen.) S T R E N G E I N D E R M AT H E M AT I K : E I N E AU F W I L L K Ü R GEGRÜNDETE NOTWENDIGKEIT Das „aktuale“ Unendlich lässt sich in (mindestens) zwei grundlegend verschiedenen Weisen (auf-)fassen. Jede dieser beiden Betrachtungsweisen hat eine spezifische Form der Theoriebildung zur Folge (heute „Standard-“ und „NichtstandardAnalysis“ genannt; ohne dass Letztere eine einzige einheitliche Theorie wäre, vielmehr tritt sie ihrerseits in unterschiedlichen Varianten auf). Die Konsequenz daraus ist: Heutzutage dürfen wir nicht anders, als die mathematischen Lehrsätze streng zu beweisen – wenn wir für sie Geltung beanspruchen wollen. Und zwar strenger, als es gemeinhin üblich ist. Insbesondere muss die vom „aktualen“ Unendlich zugrunde gelegte Auffassung expliziert werden: einfach weil es dazu eine Alternative gibt. Die intellektuelle Redlichkeit verlangt dies. Freilich geschieht dies in der Regel nicht. Wer dies aber nicht tut, setzt sich grundlegender Kritik aus. Theologisch gesprochen muss sie oder er sich den Vorwurf des Dogmatismus gefallen lassen. Denn dann wird eine einfache Schulzuschreibung vollzogen – und die andere Auffassung (zunächst ungenannt) als Häresie ausgegrenzt. (Dass es „überabzählbar“ viele reelle Zahlen gebe, ist ein Lehrsatz nur der Standard-Analysis, die Nichtstandard-Analysis kann die reellen Zahlen selbstverständlich „abzählen“.c – Es versteht sich von selbst: Dies sind unterschiedliche Begriffe der „reellen“ Zahlen. – b
Schmieden und Laugwitz 1958, Laugwitz 1986; Robinson 1961, Robinson 1963, Robinson 1966; Luxemburg 1962, Machover und Hirschfeld 1969, Machover 1977; Nelson 1977; Robert 1985, Robert 1988; mit neuer Zielsetzung Palmgren 1995, Palmgren 1996, Palmgren 1998, Schuster et al. 2001 c Laugwitz 1986, S. 225 f.
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Dies gilt trotz Skolem 1934 und Chwistek 1948 – siehe dazu auch Spalt 2001.
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Ausklang Gleichwohl wird dieser Satz mit Vorliebe als eine „geniale“ „definitive“d – und was dergleichen genialen Definitive mehr sind – „Erkenntnis“ der Mengenlehre abgefeiert.489 ) DIE MACHT DER GESCHICHTE Die vielen Mühen, die sich die früheren Mathematikerinnen und Mathematiker gemacht haben, bürden uns Späteren eine beträchtliche Last auf: Wir können nur jene Mathematik weiterentwickeln, die sie uns erarbeitet haben. Wir erben nicht nur die grandiosen Resultate der Früheren, sondern auch deren Formierungsbedingungen: die diesen Resultaten zugrunde liegenden grandiosen begrifflichen Formierungen. Das Erstere gibt es nicht ohne das Letztere, nur wird dies am liebsten vergessen gemacht. Es sei denn, wir erfinden eine gänzlich neue Mathematik, von Grund auf. (Doch auch dies wird nicht anders als auf dem Boden der vorherigen Theoriebildungen geschehen können und müsste gegebenenfalls auch von dieser Warte aus akzeptiert werden.) EINE LEHRE
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Was also ist bis heute in den Grundlagen der Analysis erreicht? Das lange Ringen um den Begriff der Irrationalzahl ist zu einem ersten Abschluss gebracht (der natürlich in Wahrheit nicht einer ist, wie wir durch die Nichtstandard-Analysis gelernt haben): Heute ist dieser Begriff rein mathematisch bestimmbar. Diese Bestimmungsweise jedoch gründet auf dem Begriff des „aktualen“ Unendlich – und also einem, der seinerseits alles andere als „klar“ (und, mit D ES CARTES gesprochen: „distinkt“) bestimmt ist. Der vorgänge Streit um die richtige Auffassung der „Irrationalzahl“ ist entschieden (nicht alle sind dieser Ansicht) – doch ist dieser Streit in den die Irrationalzahl heute formierenden Begriff „aktual“ Unendlich übergegangen. „Strenge“ in der Analysis gibt es heute nur unter dem Vorbehalt einer Entscheidung hinsichtlich der Auffassung vom „aktualen“ Unendlich. Leider steht das noch in keinem Lehrbuch der Standard-Analysis. (MATHEMATISCHE) WAHRHEITEN Wie ist es nun um die mathematische Wahrheit bestellt? Ist das Ganze größer als sein Teil – oder nicht? Sind die reellen Zahlen abzählbar – oder nicht? Nach dem heutigen Stand der Mathematik ist die Antwort: „Wie du willst! Beides kann mit gleichem Recht als wahr genommen werden: das Erste oder das Zweite (aber natürlich nicht zugleich; und auch nur jeweils das Erste oder jeweils das Zweite).“ Keine der beiden Perspektiven kann für sich Exklusivität beanspruchen. d 489
Wallace 2007, S. 326 = Wallace 2003, S. 256 Es sei an die Anmerkung 395 auf S. 551 erinnert.
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Strenge in der Mathematik: eine auf Willkür gegründete Notwendigkeit Aber beide Perspektiven stehen natürlich „in Rivalität zueinander [und sind] nicht vollständig in eine Totalität integrierbar.“e Hier trifft sich unser Resultat mit jenem, zu dem F RANÇOIS J ULLIEN in seinen Studien gelangt ist, in denen er das chinesische Denken mit dem hebräischen und dem hellenischen vergleicht, denn er resümiert unter dem Titel „Über eine Mutation der Wahrheit“: Das Wahre müsse nicht als referenziell begriffen werden, sondern als wirkend: „Wahr ist, was Denkbares konfiguriert und Zugriff darauf verschafft. Anders gesagt: »Wahr« ist, was Intelligibles entfaltet – erzeugt –[ ,] fördert und es dienen und arbeiten lässt.“ (Jullien 2015, S. 132) Hingegen: Bei der „Befürwortung Gottes oder des S EINs [. . . ] handelt es sich um Erfordernisse oder Effekte, die aus unserer (europäischen) Syntax stammen, der linguistischen und der logischen zugleich.“ (Jullien 2015, S. 110) ZUM ABSCHIED Damit sind wir zum Beginn der Einleitung zurückgekehrt. Dort hatte B RECHTs li- S. xix terarischer G ALILEI das Wort. Möge es zum Schluss der reale G ALILEI erhalten. G A LILEI leitet das Ende seines 1632 erschienen Dialog[s] über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme, das ptolemäische und das kopernikanische wie folgt ein: Da es nunmehr an der Zeit ist, unsere Untersuchungen zu beschließen, so habe ich nur noch eine Bitte an Euch zu richten. Wenn Ihr bei größerer Muße noch einmal meine Ausführungen prüft und dabei auf Schwierigkeiten und Bedenken stoßt, die keine treffende Widerlegung gefunden haben, so entschuldigt meinen Fehler teils mit der Neuheit der Idee, teils mit der schwachen Kraft meines Geistes, teils mit der Größe des Gegenstandes, teils endlich damit, dass ich anderen nicht zumute noch jemals zugemutet habe, dieser phantastischen Meinung Beifall zu zollen, welchen ich selbst ihr versage. Ich würde kaum etwas dagegen einzuwenden haben, wenn man sie als eine nichtige Chimäre, als ungeheuerliches Paradoxon bezeichnete. (Galileo Galilei: Dialog . . . , übersetzt von E MIL S TRAUSS – Galilei 1987, S. 326)
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Literatur Eine Angabe wie „Gottfried Wilhelm Leibniz (1702?) 1846“ im Verzeichnis bedeutet: Der fragliche Text stammt vermutlich aus dem Jahr 1702 und wurde im Jahr 1846 erstmals publiziert. Bei E ULER unterscheidet man vor dem Druckdatum zumeist noch das Datum der Abfassung des Textes und den Termin seiner Präsentation in der Akademie. „René Descartes (1637) 2013“ ist die 2013 erschienene deutsche Übersetzung eines erstmals 1637 publizierten Textes. „Bertrand Russell (1919; 1923) 2002“ bezeichnet einen Text, den RUSSELL 1919 publizierte, der 1923 ins Deutsche übersetzt wurde und der nach der (deutschen) Ausgabe des Jahres 2002 zitiert wird. Die Jahreszahlen in Klammern sind also autorenspezifisch zu deuten. Im Text oben ist in den Quellenverweisen stets nur das Publikationsdatum genannt. Die Notwendigkeit einer einheitlichen Zitierweise (gewählt: [Autor] [Publikationsdatum]) bringt bei der Spezialliteratur ungewohnte, auch unbequeme Formen mit sich; die Verwendung (und etwa bei L EIBNIZ und C AUCHY: eigenmächtige Erweiterung) der in den jeweiligen Fachzirkeln üblichen Sigel mildert diesen Effekt. Die Zahlen nach der Quellenangabe geben die Seiten vorne an, auf denen die Quelle genannt wird. Für die wichtigsten Werke sind unten auch URL-Adressen angegeben; leider sind nicht alle frei zugänglich, und die SUB Göttingen möchte sich die Herausgabe der Dateien sogar bezahlen lassen. Da die Digitalisierung der vorhandenen Texte noch voranschreitet, kann hier wohl niemand exakt den jeweils aktuellen Stand markieren. Dass die Zeitschriften weitestgehend (retro)digitalisiert sind, wurde nicht extra vermerkt.
A m·(m−1) 2 m·(m−1)·(m−2) Niels Henrik Abel 1826, Untersuchungen über die Reihe 1+ m ·x + · 1 x+ 1·2 1·2·3 3 x + . . . u. s. w. Journal für die reine und angewandte Mathematik, 1: S. 311–339, siehe auch Abel 1881, Bd. 1, S. 219-250.490 351, 354 — 1829, Précis d’une théorie des fonctions elliptiques. Journal für die reine und angewandte Mathematik, 4: S. 236–277, siehe auch Abel 1881, Bd. 1, S. 326–408. 405 — 1830, Fernere mathematische Bruchstücke aus Herrn N. H. Abel’s Briefen – Schreiben des Herrn N. H. Abel an Herrn Legendre zu Paris. Journal für die reine und angewandte Mathematik, 6(1): S. 73–80, siehe auch Abel 1881, Bd. 2, S. 257-263. 405 — 1881 (Hg.: L. Sylow und S. Lie), Œuvres Complètes de Niels Henrik Abel. Nouvelle Édition, 2 Bde. (Grøndahl & Søn, Christiania). 354, 685 Maria Gaetana Agnesi 1748, Instituzioni analitiche. (Regia-Ducal Corte, Mailand). 193 — 1775, Traités élémentaires de calcul différentiel et de calcul intégral. (Claude-Antoine Jombert, Paris). 193 Jean-Baptiste le Rond d’Alembert 1747/49a, Recherches sur la courbe que forme une corde tenduë mise en vibration. Historie de l’Academie Royale des Sciences et Belles Lettres, 1749: S. 214–219, URL http://bibliothek.bbaw.de/bbaw/ 490
Die folgenden Zahlen nennen die Seiten, auf denen die vorstehende Quelle zitiert ist.
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Literatur A
bibliothek-digital/digitaleque%llen/schriften/anzeige/index_html? band=02-hist/1747&seite:int=243. 216 — 1747/49b, Suite des recherches sur la courbe que forme une corde tenduë, mise en vibration. Historie de l’Academie Royale des Sciences et Belles Lettres, 1749: S. 220– 249, URL http://bibliothek.bbaw.de/bbaw/bibliothek-digital/digitaleque% llen/schriften/anzeige/index_html?band=02-hist/1747&seite:int=249. 216 — 1754, Différentiel. In: Encyclopédie, ou Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers, S. 985–989 (Paris, Bd. 4). 312 — 1757, Grandeur. In: Encyclopédie, ou Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers, S. 855 (Paris, Bd. 7). 255, 256, 258 — 1764, Fonction. In: Encyclopédie, ou Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers, S. 50–51 (Paris, Bd. 7). 216 — 1765a, Infiniment petit. In: Encyclopédie, ou Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers, S. 703 f. (Neufchastel [= Paris], Bd. 8, 1765). 259 — 1765b, Limite. In: Encyclopédie, ou Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers, S. 542 (Neufchastel [= Paris], Bd. 9, 1765). 259 — 1771, Quantité. In: Encyclopédie, ou Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers, S. 855 (Paris, Bd. 13). 289 Kirsti Andersen 1985, Cavalieri’s method of indivisibles. Archive for History of Exact Sciences, 31: S. 291–367. 141, 142, 143, 144, 146, 713 Tom Mike Apostol 1957, Mathematical analysis. (Addison-Wesley Publishing Company, Reading, Mass. usw., 4 1971). 664, 665 Louis François Antoine Arbogast 1791, Mémoire sur la nature des fonctions arbitraires qui entrent dans les intégrales des équations aux différentielles partielles. (Académie Impériale des Sciences, St. Pétersbourg). 212 G. Arendt 1904, Gustav Lejeune Dirichlets Vorlesungen über die Lehre von den einfachen und mehrfachen bestimmten Integralen. (Vieweg, Braunschweig 1904, Reprint VDMVerlag Dr. Müller, 2006). 364, 365, 367, 368, 369, 370 Aristoteles, Metaphysik, Schriften zur ersten Philosophie. Zitiert nach: Franz F. Schwarz (Hg.) Bd. 7913 der Reihe Universal-Bibliothek (Philipp Reclam jun., Stuttgart, 1970). 79, 96, 257, 545 — Nikomachische Ethik. Zitiert nach: Franz Dirlmeier (Hg.) Bd. 8586 der Reihe UniversalBibliothek (Philipp Reclam jun., Stuttgart, 1969). — Physik, Vorlesung über Natur. Zitiert nach: Hans Günter Zekl (Hg.) Bd. 380, 381 der Reihe Philosophische Bibliothek (Verlag von Felix Meiner, Hamburg, 1988). 93, 112, 124 — Politik. In: Wilhelm Nestle (Hg.), Aristoteles – Hauptwerke (Alfred Kröner Verlag, Stuttgart, 1977), S. 283–335. 138 Richard T. W. Arthur 2013, Leibniz’s syncategorematic infinitesimals. Archive for History of Exact Sciences, 67: S. 553–593. 111, 112, 121
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Literatur B
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Literatur B
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FLGA = Bolzano 2000 RaB = Bolzano 1905 RZ = Bolzano 1976
WL = Bolzano 1837
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Personen
A Abel, Niels Henrik (1802–29) 210, 275, 351–355, 387, 405 Agnesi, Maria Gaetana (1718–99) 193 d’Alembert, Jean-Baptist le Rond (1717– 83) 211, 212, 216, 222, 255–261, 269, 273, 289, 312, 444, 673 Andersen, Kirsti xxvii, 141, 143, 146 Apostol, Tom Mike (*1923) 664 Arbogast, Louis Francois Antoine (1759– 1803) 212 Archimedes, (um −287–um −212) 110, 113, 142, 143, 563 Aristoteles, (−384–−322) Einsen 96 491 Formalprinzip 33 Ganzes 138 492 Größe 116, 257 Jetzt 150 Kontinuum 124, 371, 499, 621 Teilung des -s 112 mathematische Dinge 79 Möglichkeit 93, 112 Seiendes 37 Zahl 545 145 Arnauld, Antoine (1612–94) Arnold, Bernd xxvi, 14, 509 112 Arthur, Richard T. W.
B Baer, Reinhold (1902–79) Baire, René (1874–1932) Barany, Michael J. 491
667, 668 362 297
Hier wird nicht das Sachregister verdoppelt, sondern nur eine Grundorientierung gegeben. 492 Kursive Seitenzahlen bei den Sachverweisen in den Registern nennen Fußnoten.
... Bartle, Robert Gardner (1927–2003) 665 Becker, Oskar (1889–1964) xix, xxiii, 50 Beeckman, Isaac (1588–1637) 24 Berg, Jan (*1928) 451 Berkeley, George (1685–1753) 154, 156 Bernoulli, Jakob (1654–1705) 110, 135, 136, 163, 167, 247, 385 Bernoulli, Johann (1667–1748) xxiii, 102, 272, 530, 672, 673, 680 Differenzialregeln 163, 164, 167–179, 187, 188 207, 221, 260, 268, 269, 271, 525 Funktion 136, 161, 193, 194, 200,208, 212, 214, 270 Größe 222, 257, 258 Integral 110, 339 Reihe 247, 385, 536 Unendlich, aktuales 478 unendlich Kleine 180–187, 189,190, 192, 236, 239, 240, 444, 526, 577 Ungleichungen 105 Zahlen, unendlichkleine, ˜ große 86, 180–187, 234, 238, 270, 311,353, 478 Björling, Emanuel G. (1808–1872) 362, 363 Bleser, J. vii Bohlmann, G. 597 Bois-Reymond siehe du Bois-Reymond Bolognetti, Pompeo (†1568) 45 Boltzmann, Ludwig (1844–1906) 628 Bólyai, János (1802–60) 299 Bolzano, Bernard (1781–1848) xxv, 226, 298, 299, 315, 319, 362, 369, 372, 382, 402, 403, 407, 434, 435, 437, 441, 470, 478, 518, 593, 615, 633, 654, 672–674
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https://doi.org/10.5771/9783495807859 .
Personen
... Funktion 288, 307, 345, 346, 348,375, 380, 381, 609 kapriziöse 290–292, 410 Funktionenlehre 292, 293 Gewissmachung 278–280 Grenze 285, 293, 323, 349, 510, 512, 513 Größe 288, 289, 302, 303, 348 unendliche 679, 680 Kontinuum 396, 397 Konvergenz 284, 285, 320, 321, 326, 347, 387, 454, 477, 658 Menge 643 Methode 277–279, 348, 349, 487, 498, 622, 639 Nullstellensatz 276, 277 Satz von Bolzano-Weierstraß 293– 296, 564 Satz an sich 571 Stetigkeit 281, 282, 283, 347, 387, 596, 649 ungleichmäßige 586 Veränderliche 287, 288, 644 Wert 344, 348, 575 Zahl 127, 241, 242, 286, 287, 444, 451, 557, 577 Bos, Henk J. M. xxvii, 111, 122, 386 Bourbaki, Nicolas 174, 560, 663, 674 Bourguet, Louis (1678–1742) 84, 91 Bradwardinus, Thomas (um 1295–1349) 140 Breger, Herbert xxvi 75, 83, 84, 90, 98, 110, 123, 124, 127, 132, 146, 232 Brentano, Franz (1838–1917) 549 Brodén, T. 609 Brower, Luitzen Egbertus Jan (1881–1966) 486, 670 Buchenau, Artur (1879–1946) 11, 27, 28, 71 Burkhardt, Heinrich (1861–1914) 617 Burn, Robert P. 314 Busch, Thomas xxvi
C Cajori, Florian (1859–1930)
155
... Cantor, Georg (1845–1918) xx, 287, 383, 388, 399, 435, 447, 452, 491,500, 500, 510, 521, 530, 543, 587, 599, 620, 655 abzählbar unendlich 125, 551 äquivalent 174 Bestimmtheit 575 definieren 458, 502, 517, 566, 573 Grenzpunkt 468 Kontinuum 396, 397 Konvergenz 384, 385, 386, 387 Menge 138, 289, 565, 603, 607, 609, 638, 639, 655 Stetigkeit 560 Unendlich, aktuales 673–675, 679, 680 Zahl Kardinal ˜ 186 Ordinal ˜ 186 reelle 236, 305, 432, 440–444, 454– 457, 458, 459–465, 469–482,485, 486, 496, 497, 508, 513, 513, 520, 536, 538, 539, 666 Capelle, Wilhelm (1871–1961) 79 Carathéodory, Constantin (1873–1950) 328 112 Cassirer, Ernst (1874–1945) Cauchy, Augustin-Louis (1789–1857) xxii, xxiii, xxvii, 267, 275, 290, 296,349, 379, 403, 408, 441, 442, 442, 455, 494, 518, 557, 604, 672–674 Ableitung 333–336 Differenzenverhältnis 331–333 Differenzial 118, 122, 336–339 Fundamentalsatz der Funktionenlehre 315, 316, 367, 368 Funktion 266, 306–309, 345, 346,364, 365, 380, 381, 402, 586–588, 589, 592, 593 Funktionswert 309–311, 330, 362,363, 374, 582 Grenze 303, 304, 305, 348, 349, 365, 370, 394, 395, 447, 467, 654, 656, 657 obere 504 Grenzwertsprache 382–387
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Personen
...
...
Größe 301, 605 Integral 339–344, 375 Konvergenz 284, 285, 320–331, 347, 430, 434, 454, 459, 477 stetige 327, 328 Methode 297–300 Reihe 319 Stetigkeit 314–319, 347, 633, 649 ˜sübertragung 316–319, 369 Summensatz 292, 323–327, 351–361 unendlich Kleine 311–313, 444 Veränderliche 303, 605 stetige 583 unabhängig ˜ 209, 306 Wert 309, 344, 345, 477, 478, 575 Zahl 300, 305, 306, 459 Cavalieri, Buonaventura (1598?–1647) 140–146 siehe van Ceulen Ceulen Chabert, Jean-Luc xxiii Chuquet, Nicolas (1445/55–1487/8) 41, 591 Clifford, William Kingdon (1845–79) 628 Condillac, Etienne Bonnot de (1714–80) 448 Coriolis, Gaspard Gustav de (1792–1843) 315 Courant, Richard (1888–1972) 664 Crelle, August Leopold (1780–1855) 195, 263, 264, 448 siehe Nikolaus von Kues Cusanus Czermak, Johannes xxvii
Grenzwert 495 Konvergenzsatz 495, 496 Kontinuum 629 Schnitt 488, 489, 491, 492, 494, 500, 501, 614 Stetigkeit 147, 483–486, 487, 488,492, 493, 499, 590, 591, 600, 648–650 Unendlich, aktuales 519 vollständig bestimmt 575 willkürliches Denken 497, 572, 578, 580, 651, 655 Zahl natürliche 501 irrationale 305, 388, 440–442, 447, 452, 478, 481, 489, 490, 491–494, 501, 517, 521, 536, 573, 577, 615 Zahlenmenge 496–498, 666 Descartes, René (1596–1650) xx, 45, 63, 64, 70, 71, 160, 590, 671, 672, 674, 682 Algebra 3, 61–63 Arithmetik 34, 35 Bewegung 35–38 Gleichung, formale 21, 22, 23, 24, 25, 26–28, 30, 31, 45–48, 52–59, 65, 66, 134, 140, 175, 197, 200 Größe, (eingebildete, imaginäre, reelle, wirkliche) 57, 58, 114 Großheit 9 Konstruktion von Gleichungslösungen 28–30 Koordinatensystem 30, 31 130, 137, 166 Linie, kontinuierliche 66-69, 124,125 Mathematik 68, 69, 122, 123,148, 162, 580 Ontologie 31–38, 75, 80, 279, 388 Rechnen mit Großheiten 11-16 mit Streckenlängen 17, 18, 19–21, 139, 161, 162, 164, 179, 223, 481 Symbole 21–25, 48, 51, 60, 106, 128, 140, 198, 448, 557, 558 Dieudonné, Jean (1906–92) 659–660 Dini, Ulisse (1845–1918) 601
D Damerow, Peter (1939–2011) 51 Dauber, Adolf 481, 483–486 siehe Gandt de Gandt de Volder, Burcher (1643–1709) 72, 90 Dedekind, Richard (1831–1916) 395, 459, 504, 507, 513, 531, 538, 539, 543, 560, 570, 586, 589, 607, 619, 620, 666, 673–675, 680 definitiv 495, 496, 523, 528 erschaffen 490, 491, 497–500, 502, 503, 516–518, 547, 573, 577, 602 Funktion 581
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Personen
... Dirichlet, Johann Peter Gustav (Lejeune) xxii, (1805–59) Epsilontik 382, 444 Funktion 291, 364–366, 374, 377, 378, 402, 403, 410, 588, 609, 611, 625, 661 Funktionswert 365, 366, 367, 371 geometrische Auffassung 342, 365, 605 Grenze 365, 499 Integral 369, 370, 375 Konvergenz 356 Stetigkeit 367–369 gleichmäßige 370, 586 Dixmier, J. 513, 514 du Bois-Reymond, Paul (1831–89) 9, 290, 412 413, 501 Dugac, Pierre (1926–2000) 376, 482 zu Abels Grenzwertsatz 354 zu Cantor 440, 443, 513 zu Dedekind 440, 513 zu Eulers Funktionsbegriff 213 zu Heine 440 zu Méray 440, 508, 513, 514 zu Weierstraß 417, 418, 439, 440, 513 215 Dulac, Henri (1870–1955) 481 Durège, Heinrich (1821–1893) Duschek, Adalbert (1895–1957) 664 Dyck, Walther von (1856–1934) 606
E Eckermann, Matthias vi Efremowitsch, Wadim Arsenjewitsch 659 (1903–89) Eley, Lothar 547 Engel, Friedrich (1861–1941) 275 Englund, Robert K. 51 Ersch, J. S. 258 Eudoxos, (−397/390–−345/338) 113, 141, 575 Euklid, (um −300) 2, 20, 70, 275, 674, 675 I. Definition 14 (Figur) 59, 64, 149, 160 I. Postulat 5 (Parallelenpostulat) 298 I.1 17, 18 I.43 13
... II.2 145 III.16 (Kontaktwinkel) 133 III.36 30 V. (Größenlehre) 132, 142, 452, 575 VI.2 (Strahlensatz) 19, 21 VI. Definition 3 126 VI.13 (Höhensatz) 19, 21 VII. Definition 1 (Einheit) 85, 98 VII. Definitionen 1–3 (Einheit, Zahl, Teil) 94, 257, 540 VII.1 (Wechselwegnahme von Zahlen) 82, 546 X. Definition 3 (irrationale Strecken) 124, 232 X.2 (Wechselwegnahme von Größen) 82, 86 X.7 82 Algebra 62, 343 Axiome 560, 564, 568 Konstruktion 63 Parabel 16 Euler, Leonhard (1707–83) xxv, 272, 273, 275, 390, 517, 530, 672, 673, 678, 680 Algebraische Analysis 255, 270, 344 Differenzialrechnung 235–242, 270, 345 Funktion 153, 198–216, 263–266, 271, 280, 299, 300, 307, 308, 346, 347, 364, 365, 378, 380, 381, 407, 581, 608, 625, 627 Grenzwert 237–242, 247, 465, 525, 576 Größe 194, 195, 216–223, 258, 266, 289, 301 unendliche 235–242 Konvergenz 245, 246, 247–253, 536 Reihe 205–207, 219–222, 262, 299, 300, 304, 366 Stetigkeit 253–255, 281, 283 Summe 247–252 Unendlich 187, 271, 311, 345, 353, 444, 478, 576, 577 Veränderliche 194, 195, 196, 197, 198, 303, 409, 444, 576, 577
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Personen
... Wert 197, 198, 200, 201, 265, 266 Zahl 126, 223–245, 271, 272, 311, 353, 451, 478, 503, 510, 574
F Fermat, Pierre de (1607–65) 146 Fibonacci siehe Leonardo 84, 85, 88, 98 Fichant, Michel Finsler, Paul (1894–1970) 138, 551, 567, 667, 668, 678 Fischer, Joachim xxvi Flasch, Kurt xix xxvi, 116 Flath, John Fourier, Jean-Baptiste-Joseph de (1768– 1830) 299, 300, 356, 364, 402, 411, 427, 584, 587 Franz I., (∗ 1768, 1804–35) 276 Frege, Gottlob (1848–1925) xxv, 278, 407, 468, 498, 539, 544, 556–558, 565, 578, 607, 637, 640, 648, 676, Abstraktion 542 definieren 367, 476, 491, 502, 503, 566–568, 570–572, 620, 641,678 extensional 543 Gleichheit 470, 471, 475, 537 gleichzahlig 175, 461 logisches System 100 Zahl 98, 469–474, 477, 501, 502, 521, 538, 545, 546, 575 Friedrich von Braunschweig-Calenburg, Johann (1625–79) 101 Friedrich II., (∗ 1194, 1212–50) 39
G Galilei, Galileo (1564–1642) 1–4, 8, 11, 141, 143, 683 de Gandt, François 145, 150 Gauß, Carl Friedrich (1777–1855) 275, 364, 449, 564, 673 Parallelenproblem 298, 299 Zahl 415, 427, 449 Zwischenwertsatz 295 Gericke, Helmuth (1909–2007) 47 Gerver, Joseph 412, 413 Girard, Albert (1595–1632) 20 Givsan, Hassan xxvi, 92
... Goursat, Édouard (1858–1936)
604, 605
Grabiner, Judith 265 Graßmann, Hermann (1809–77) 448, 593 Gregorius a St. Vincentio S. J., (1584– 1667) 159 Grosholz, Emily 76, 94–96, 98, 99, 127 Gruber, J. G. 258 Gudermann, Christoph (1798–1852) 405 19, 160, 161, 314 Guicciardini, Niccolò Guldin, Paul (1577–1643) 143 Gutenberg, Johannes (vor 1400–1468) 40
H Hadamard, Jaques (1865–1962) 504 Hahn, Hans (1878–1934) 661–663 Hamborg, Otto 101 Hamilton, William Rowan (1805–65) xxv, 154, 278 13, Hankel, Hermann (1839–73) 376, 379, 403, 441, 447–452, 474, 483–485, 518, 558, 675 Hardy, Godefrey Harold (1877–1947) 412, 413 Harnack, Axel (1851–88) 589–593, 595–597, 648 Hattendorf, Karl (1834–82) 371 623, 638, Hausdorff, Felix (1868–1942) 650–662, 666 Hecht, Hartmut 77 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm (1770– 1831) 579 Heidegger, Martin (1889–1976) xix, 579 Heine, Heinrich Eduard (1821–81) 362, 388, 432, 440, 442, 444, 447, 460, 468, 469, 470, 476–478, 481, 482, 485, 486, 502, 507, 508, 510, 513, 514, 516–518, 521, 530, 536, 538, 539, 543, 560, 576, 595, 614, 623, 635, 666, 675 Elementarreihe 465, 471 Funktion 581–585 Funktionswert 582, 609, 610 Geltung von Sätzen 452, 453, 587 gleich 466, 475
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Personen
... Irrationalitäten höherer Ordnung 467 konstruieren 566, 573, 577 Stetigkeit, gleichmäßige 585, 586 Unendlich 519 vollständig bestimmt 575 Zahl ist Zeichen 465, 466, 473, 474, 594, 607, 676 Helmholtz, Hermann Ludwig Ferdinand (1821–94) 628 Heraklit, (ca. −540–−480) 78 Herbart, Johann Friedrich (1776– 1842) 546 427 Hermite, Charles (1822–1901) Heun, Karl (1859–1929) 617 Hewitt, Edwin (1920–99) 665 Hilbert, David (1862–1943) xxii, 639, 677, 678 Axiomatik 498, 560, 564, 565, 566– 572, 578, 579, 580, 586, 618, 628, 667, 669, 670 Formalismus 128, 407 Zahl 442, 513, 518, 556, 559, 560,561– 564 zu Weierstraß 435, 436, 443 Hofmann, Joseph Ehrenfried (1900–73) 89 l’Hospital, Guillaume François Antoine, Marquis de (1661–1704) 26, 166–193, 207, 222, 269 Høyrup, Jens 49–51 Humboldt, Alexander Freiherr von (1769– 1859) 364 Hurwitz, Adolf (1859–1919) 417, 421, 425, 430 Husserl, Edmund (1859–1938) 99, 389, 470, 491, 517, 539–559, 614, 699 Huygens, Christiaan (1629–95) 101, 146
I Iamblichos, (ca. 250–ca. 330)
79
J Jacobi, Carl Gustav Jacob (1804–51) 364, 365, 636
... Jarník, Vojtˇech (1897–1970)
292
Jašek, Martin (1879–1945) 292 Jefremoviˇc siehe Efremowitsch Jones, William (1675–1749) 126, 155 Jordan, Camille (1838–1922) 597–600, 612, 620 Jourdain, Philip Edward Bertrand (1879– 610 1919) 683 Jullien, François Jungius, Joachim (1587–1657) 132, 133
K 37, 452, Kant, Immanuel (1784–1804) 485, 560, 580 Kartmann, Norbert xxvi Kästner, Abraham Gotthelf (1719–1800) 244, 260, 261, 269, 283, 286, 382 Kastrup, David vi Klein, Christian Felix (1849–1925) 214, 312, 443, 487, 611–637, 642 Klein, Jacob (1899–1978) 58 Knobloch, Eberhard xxvi, 101, 104, 109, 115, 396 Knopp, Konrad (1882–1957) 377, 504, 573, 663 Koenigsberger, Leo (1837–1921) 410–412 Kohm, Markus vi Kopfermann, Klaus 439 Kopke, Otto 632 Kossak, Ernst (1839–92) 440, 441 Kostrikin, Alexej Iwanowitsch (1929– 2000) 61, 62 Kronecker, Leopold (1823–91) 415 Kues siehe Nikolaus von Kuhn, Thomas S. (1922–96) 455
L Lacroix, Sylvestre François (1765–1843) 267, 268, 277, 310, 312, 322, 345, 444 Lagrange, Joseph Louis (1736–1813) 195, 448, 673 Algebraische Analysis 255, 276, 344 Funktion 200, 263, 275, 280, 307, 308, 380
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Personen
...
... Darstellbarkeit einer ˜ 262–267 Funktionswert 264–267, 280, 307, 308 Zwischenwertsatz 277 Lakatos, Imre (1922–74) 353, 454, 455 Lang, E. vii Laplace, Pierre Simon (1749–1827) 628 Laugwitz, Detlef (1932–2000) konstruktive Nichtstandard-Analysis 185 Omega-Analysis 183, 184 Omega-(rationale )Zahl 520–538, 575 Grenzwerte für ˜ 532–535 reelle ˜ 529–532 Ontologie der Axiomatik 669 zu Cantor 383, 387 zu Cauchy 334, 335 zu Dirichlet 367, 368 zu Euler 272, 273 zu Riemann 383, 384, 387 zu Weierstraß 386, 387 Lebesgue, Henri (1875–1941) 377, 410 Legendre, Adrien-Marie (1752–1833) 405 Leibniz, Gottfried Wilhelm (1646–1716) vi, xxi–xxv, 160, 161, 163, 167,193, 198, 200, 212, 220, 222, 272, 353, 444, 478, 523, 666, 671–673 Differenzialrechnung 111, 116, 117– 122, 164–166, 173, 206, 260, 268, 269, 337, 338 Einheit 84, 85–89, 94–97, 186, 287, 519 Epsilontik 102–111 Funktion 134–136 Gleichheitszeichen 46, 129 Grenze 104, 304 Größe 75–77, 85, 86, 94–96, 130–134 Integral 105–111, 143, 339 Kontinuitätsgesetz 111–113, 269 Kontinuum 124–127 Konvergenz 101, 102–105 Koordinaten 130 Logik 98–100, 448, 470, 543 Mathematik 122–127, 148, 162, 270, 580
Ontologie 71–73, 80 Reihe 261 Stetigkeit 137–139, 147, 148, 161, 485 Symbole 128, 129, 262, 557 Unendlich, aktuales 638, 676, 680 unendlich Kleine 113–116, 155, 157, 169, 179–188, 278, 311, 466, 577 Ungleichungen 104 Veränderliche 61, 76, 77, 136–139, 238, 303 Veränderung 73–75 Zahl 79, 80–100, 179–188, 245, 459, 463, 469, 501, 675 natürliche ˜ 94 Zeit 78, 79 Lenzen, Wolfgang 99, 100 Leonardo Fibonacci (um 1170–um 1250) 21, 39, 41, 100, 224, 228 Lippmann, Gabriel (1845–1921) 574 Lipschitz, Rudolf (1832–1903) 588, 589 Lobatschweski, Nikolai Iwanowitsch (1792–1856) 299 71 Locke, John (1632–1704) Lorenzen, Paul (1915–94) 670 Lumière, Auguste (1862–1954) 574 574 Lumière, Louis (1864–1948) Lützen, Jesper 410, 440
M Mach, Ernst (1838–1916) 627 MacLaurin, Colin (1698–1746) 154, 161, 162 Mäenpää, Petri 17 Maestro Neri, 40 Mahnke, Dietrich (1884–1939) 102, 128, 559 Mangoldt, Hans von (1854–1925) 573, 574, 663 Marie, Maximilien (1819–91) 140 Marshall, David J., Jr. 32, 33, 36 Martin, Gottfried 90 Menger, Karl (1902–85) 404 Méray, Charles Robert (1835–1911) 440, 508–517, 602 Mersenne, Marin (1588–1648) 14
727
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Personen
... Michelsen, Johann Andreas Christian 235, 236, 239 (1749–97) Mittag-Leffler, Magnus Gustav (1846– 1927) 440 Molk, Jules (1857–1914) 609, 611 404 Monna, F. A. Montel, Paul (1876–1975) 378 Morawski, Jens-Uwe vi de Morgan, Auguste (1806–71) 154 611 Müller, Conrad (1878–1953)
N Nemorarius, Jordanus (um 1220) 140 Newton, Isaac (1643–1727) xxi, xxv, 71, 145, 628, 666 Alchemie 162 Fluxion, Fluente 149, 150 Fluxionsmethode (= Methode der verschwindenden Größen) 150– 161 Funktion 161 Genita 152, 153 Grenze 159 Größe 148, 149 Produktregel 152–154 Stetigkeit 161 unendlich Kleine (= verschwindende Größen) 155–159, 278, 311 Veränderliche 154–161, 590 zu Descartes 148 Nikolaus von Kues (1401–64) 140, 519
O Ostwald, Friedrich Wilhelm (1853–1932) 628
P Pacioli, Luca (um 1445–1517) 126, 671 66, 67 Pappos, (4. Jh.) Parmenides, (−520/15–−460/55) 36, 37 Parmentier, Marc 101 Pasch, Moritz (1843–1930) 593, 596, 601, 638–651, 658, 666 Pasquich, Johann (1753–1829) 280, 648 Paur, H. siehe Wagner, Ulrich Peano, Guiseppe (1858–1932) 407, 544
... Petrie, Bruce J. 243 Petzensteiner, Hinrik 41 Platon, (−447–−327) 111, 638 427 Poinsot, Louis (1777-1859) 572 Popper, Karl Raimund (1902–94) Pringsheim, Alfred (1850–1942) 378, 606–609, 614, 626, 634 Pynchon, Thomas 676 79, 80 Pythagoras, (ca.−570–ca.−500)
R Raichle, Bernd vi Recorde, Robert (1510–58) xx, 45, 46 47 Reich, Karin Rescher, Nicholas 89, 90 Reynaud, Charles René (1656–1728) 193 Richenhagen, Gottfried 404 Riemann, Bernhard Georg Friedrich xxii, xxiii, 112, 299, (1826–66) 300, 366, 447, 450, 499, 621, 633 Arithmetisierung 372, 373, 501 Epsilontik 109, 374, 382, 387, 444 Funktion 314, 370–376, 381, 402,407, 408, 410-413, 415, 445, 581, 582, 586–588, 592, 595, 597, 600, 603, 611, 625, 627, 637, 652, 663, 666 Funktionswert 370, 371 673 Grenze 395, 656, 657 Größe 372, 373 Integral 117, 374, 375, 634 Konvergenz 383, 384, 386 gleichmäßige 376–380, 406 Umordnungssatz 418, 419, 434, 539 Ries, Adam (1492–1559) 43, 44 Riesz, Frigyes (1880–1956) 659 Roberval, Gilles Personne de (1602–75) 146 Rootselaar siehe van Rootselaar Rudolff, Christoph (1499?–1545?) 43, 44, 100, 229, 229, 678 Russell, Bertrand Arthur William (1872– 278, 539, 579 1970) Dedekind’scher Schnitt 504, 505 irrationaler 499, 500, 505, 506 definieren 491, 517, 580 extensionale Logik 543
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Personen
... Formalismus 407 [Aussagen-]Funktion 544, 545 Grenze 506 Limes (oberer, unterer) 504, 505 Maximum, Minimum 505 Russell’sche Menge 138 Segment 492, 506 Selbstevidenz 651 Symbol 60 unendlich Kleine 577 Zahl (reelle) 494, 506–508 zu Leibniz: (Person) 71 Ganzes 186 Kontinuitätsgesetz 74 Logik 100 Ontologie 72 Zahl 90–93 Zeit 78, 79
S Salomon, Joseph (1793–1856) 216, 217 Schafarewitsch, Igor (*1923) 62 Schepers, Heinrich 73, 74, 78 Schlesinger, Ludwig (1864–1933) 23, 53, 54, 275 Schmieden, Curt (1905–91) 575 konstruktive Nichtstandard-Analysis 185 Omega-Analysis 520–538, 575 Motivation zur ˜ 539 Schmitz, Markus (1963–2009) 67 Schneider, Ivo xxiii Scholtz, Lucie (1903–42) 101, 106, 107, 109–112 Schönflies, Arthur Moritz (1853–1928) 607 Schüller, Volkmar 152, 156 Schwarz, Herman Amandus (1842–1921) 290, 388, 414, 415 Seidel, Philipp Ludwig (1821–96) 355– 361, 378, 379, 405, 561 Seip, Christa 101 Serret, Joseph-Alfred (1819–85) 597 Shafareviˇc siehe Schafarewitsch
... Siegmund-Schultze, Reinhard 393, 400, 427 Smirnow, Juri Michailowitsch (1921– 2007) 659 Sonar, Thomas xxii, 273, 441, 442 Sover, Bartholomeus 143 Spalt, Birgit (1964-2013) iii, xxvii Spengler, Oswald (1880–1936) 559, 580 Stephenson, Neal (*1959) 407 Stevin, Simon (1548/9–1620) 5, 20, 21, 242, 517, 557, 575, 614 43 Stifel, Michael (1487?–1567) Stolz, Otto (1842–1905) 59, 239, 593–596, 648, 652 Strömberg, Fredrik 363 Sylow, Peter (1832–1918) 354 Szabó, Árpád (1913–2001) 37
T 159 Tacquet S. J., Andreas (1612–60) Tannery, Jules (1848–1910) 634, 666 Arithmetisierung 600 Funktion 603, 604 Funktionswert 603, 604 Grenzwert 495, 602, 657 Häufungswert 657 Konvergenz 495, 602 Limes (oberer, unterer) 504 Oberklasse, Unterklasse 504, 507 Zahl 498, 601, 602, 614, 615, 620 Zahlenmenge 602, 666 261, 262 Taylor, Brook (1685–1731) Thiele, Rüdiger xxvi Thomas von Aquin, (um 1225–74) 140 Thureau-Dangin, François (1872–1944) 50, 51 655 Tietze, Heinrich (1880–1964) Torricelli, Evangelista (1608–47) 142–146 Trabert, Lukas vii Tropfke, Johannes (1866–1939) 54, 58 659 Tukey, John W. (1915–2000) Tyradellis, Daniel xxvii, 407, 474, 548
U Ullrich, Peter
425
729
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Personen
...
V van Ceulen, Ludolph (1540–1610) 126 van der Waerden, Bartel Leendert (1903– 96) 59 van Rootselaar, Bob (1927–2006) 292 115, 132 Varignon, Pierre (1654–1722) Viète, François (1540–1603) 46–48, 59, 60 Volder siehe de Volder von Dyck siehe Dyck von Kues siehe Nikolaus
... Whiteside, Derek Thomas (1932–2008) xxv, 153, 155 Widman, Johannes (1460/5–um 1505) 41–43 Wieleitner, Heinrich (1874–1931) 44, 53, 54, 58 Wohlers, Christian 53, 54, 57 Wolfers, Jakob Philipp (1803–78) 152, 156 Wolff, Christian (1679–1754) 147, 483, 648, 675 Wundt, Wilhelm (1832–1920) 548
Y
W 41 Wagner, Ulrich († 1489/90) Wallace, David Foster (1962–2008) 407, 680 Wallis, John (1616–1703) 126, 145, 160, 224 Weierstraß, Karl Theodor Wilhelm (1815– 97) xxi, xxiii, 196, 360, 497, 576, 577, 600, 617, 648, 676 Approximationssatz 408, 409 Bedeutung 202, 390 Funktion 371, 381, 402–415, 586–588, 637, 581, 583 kapriziöse 290, 410–415, 624, 633 Grenze 305, 393–395, 656, 657 Größe 389 Kontinuum 395, 397, 399 Konvergenz 383, 385–387, 418 gleichmäßige 379, 405, 406, 407 Satz vom Verdichtungspunkt 399– 402 ˜ und Husserl 548–550 Stetigkeit 484 Veränderliche 606, 607 Zahl 127, 127, 230, 415–445, 449–451, 453, 454, 459, 460, 468–471 513, 514, 519, 539, 560, 575, 616, 673 Zahlgröße 389–393, 416–445, 455– 457, 463 Weil, André (1906–98) 659 670 Weyl, Hermann (1885–1955) Whitehead, Alfred North (1861–1947) 90
Yakira, Elhanan
76, 94–96, 98, 99, 127
Z Zekl, Hans Gunter Zermelo, Ernst (1871–1953) 468, 479, 652, 653
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93 456, 458,
Te c h n i k
A
...
Algebra passim mit ‚Streckenlängen‘, 17 alles siehe ‚Grenze‘; →„Sachen“: Menge, Zahl ‚AAnalysis‘ 276 ‚WAnalysis‘ 147, 276 ‚analytisch‘ 127 Aussage →„Sachen“ ‚substanziale‘, 565
B Begriff passim ‚relationaler‘, 572 ‚substanzialer‘, 435, 666 -swandel, ‚substanzialer‘, 669 541, 541–543 ‚BegriffA ‘ ‚BegriffK ‘ 541, 541–543 Bestimmbarkeit, ‚beliebige genaue‘, 575 433 ‚Bestimmtheitssatz‘
D Definition →„Sachen“ ‚C AUCHY’sche‘, 312 ‚relationale‘, 403 ‚substanziale‘, 224, 403, 403 Denken →„Sachen“ ‚relationales‘, 435, 436, 498, 518, 565, 566, 572, 580 ‚substanziales‘, 419, 435, 436, 498, 565, 566, 572, 580, 637 A ‚ Divergenz‘ 246 ‚WDiverenz‘ 247
E ‚Epsilontik‘ xxiii, 137, 158, 160, 230, 244, 260, 269, 293, 322, 325, 349, 368, 370, 379, 382, 383, 384, 386, 387,
388, 394, 441, 444, 477, 495, 586, 649, 657, 658, 661
F ‚fast-gleich‘ 239, 304 ‚Fundamentalsatz der Funktionenlehre‘, 315, 316, 363, 367, 368 für mehrere Veränderliche, 317 Funktion →„Sachen“ ‚algebraische‘, 205, 208, 214, 233 ‚geometrische‘, 207, 214, 254 ‚kapriziöse‘, 290, 290–293, 314, 366, 373–376, 381, 410–415, 587, 604, 624, 633 -sbegriff, →„Sachen“ ‚relationaler‘, 371, 407, 410 ‚substanzialer‘, 403, 407, 410, 445, 583, 586 A ‚ Funktion‘ 207, 213, 214, 214, 215, 246, 254, 263, 299, 307, 627 G ‚ Funktion‘ 207, 213, 214, 215, 254, 299, 307, 627 ‚AFunktionenlehre‘ 254
G Geometrie ‚verschwindender Größen‘, 139, 179 Gleichung ‚algebraische‘, 170 ‚analytische‘, 170 ‚Grenzwertsprache‘ 325, 349, 368, 383, 386, 387, 441, 586, 596, 661 ‚Grobgleichheit‘ 175, 269, →„Sachen“: Größenklasse Größe siehe ‚Mess-‘, ‚Rechen-‘, ‚Zähl-‘ ‚Größengleichheit‘ 192, 240
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Technik
... Redeweise, ‚metaphorische‘
...
I Identität ‚bis auf eine unendlich Kleine‘, 466
K ‚AKonvergenz‘ 246, 252, 267, 268, 284 ‚WKonvergenz‘ 246, 249, 252, 253, 285, 295 ‚KonvergenzBz ‘ 285, 295, 320, 321, 325–327, 432, 459, 459, 461, 462, 495, 509–513, 516, 534, 536, 537, 573, 584, 585, 658, 659 ‚KonvergenzCy ‘ 321, 323, 325–328, 330, 331, 347, 352, 379, 459, 509, 513, 515 ‚Konvergenzheute‘ 347 Konvergenzbedingung, ‚allgemeine‘, 432 ‚Kürzungsregel‘ 176, 238, 272
M Mathematik →„Sachen“, passim ‚relationale‘, 579, 674 ‚substanziale‘, 477, siehe Denken, Mengenlehre ‚Mengen-Analysis‘ 289, 393, 653, 657, 663, 664, 666 Mengenlehre, ‚substanziale‘ 674 ‚Mengensprache‘ 31, 473, 497, 654, 662, 666–668, 676, 676 ‚Messgröße‘ 422
N ‚näherungsgleich‘
238, 239, 240, 525
O Operation passim arithmetische, für ‚Streckenlängen‘, 18 ‚ordnungsgleich‘ 175, 177, 178, 179, 240, 526, →„Sachen“: Gleichheit für Ω-Zahlen von gleicher Größe, Größenklassen
Q Quadratwurzel als ‚Streckenlänge‘, 21
R ‚Rechengröße‘
422
312
Reihe, ‚Normalform‘ einer 430, 431 ‚Reihenanfang‘ 249, 250 ‚relational‘ 78, 82, 161, 169, 477, siehe Begriff, Denken, Denker, Funktionsbegriff, Mathematik relationale ‚Bestimmung‘ 449 ‚Resultatismus‘ 51, 51, 451, 514
S Satz von der ‚Stetigkeitsübertragung‘, 293, 316, 369 ‚AStetigkeit‘ 254 W 255, 283, 484 ‚ Stetigkeit‘ ‚StetigkeitCy ‘ 318 ‚Stetigkeitheute‘ 318 ‚Streckenlänge‘ 19, 27, 3–123, 163– 166, 199, 223, 289, 392, 470, 575, siehe Algebra mit ˜ , Operation mit ˜ , Quadratwurzel als ˜ unbekannte, 70 unbestimmte, 70 ‚substanzial‘ 78, 82, 161, 169, 439, 449, 477, 589, siehe Aussage, Begriff, Definition Denken, Denker, Funktionsbegriff; →„Sachen“ ‚ASumme‘ 248, 249–253 W ‚ Summe‘ 249, 250, 251, 253 ‚Summensatz‘ 323, 323, 325, 352
V Veränderliche ‚abhängig‘, 161 ‚unabhängig‘, 154, 161 ‚Vergleichbarkeit‘, schließliche (für ΩZahlen), 530
W 249 ‚Wert-Summe‘ ‚Wert-zu-Wert‘-Bestimmung 333, 345, 366, 370, 375, 378, 381, 410, 415, 445, 583, 586, 588, 600, 605, 609, 611, 627, 637, 663 ‚Werte-Analysis‘ 246, 252, 276, 289, 296, 314, 350, 363, 382, 484
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Technik
...
Z →„Sachen“ Zahl ‚analytische‘, 82, 99, 257, 443, 444, 501, 539, 678 ‚Zählgröße‘ 422 Zahlgröße →„Sachen“ ‚allgemeine‘, 195, 431, 432–435, 454 ‚beliebig zusammengesetzte‘, 423, 424, 425, 427–429, 431, 432, 436 ‚beliebige‘, 391, 392, 416–423, 427
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Sachen
A
...
abgezählt 395, 396 Ableitung 153, 209, 261, 262, 266, 292, 310, 331, 333–338, 345, 348, 410–412, 586 logische, 621 partielle, 152 stetige, 334 Abstraktion siehe idealisierende Abszisse 68, 117, 130, 134, 135, 167, 188, 212, 213, 254, 261, 299, 365, 368, 380, 479, 605, 624, 632 Abszissenachse, 371, 619, 619, 620, 623, 624, 630 wert, 630 abzählbar 125, 395, 609, 654 unendlich, 606, 609 395 Abzählbarkeit Achse 130, 277, 308, 605 siehe Abszisse, Ordinate Achsen konjugierte, 130 -schnittpunkt, 308, 318 Addieren 15, 305 Addition passim -smethode, 554 -sregel der Brüche, 507, 557 aktual siehe Unendlich, Zahl Alchemie 162 Algebra 22, 26, 31, 41, 42, 51, 51, 58–64, 129, 148, 149, 149, 278, 295, 349, 450, 607 Allgemeinheit der, 297 antike, 62 aus positiven Größen, 31 babylonische, 51, 51 der Figuren, 17 der Geometrie, 14
formale, 31, 35, 59 Fundamentalsatz der, 53–55 geometrischer Großheiten, 15 heutige, 61–63, 272, 524 mit geometrischen Gebilden, 3 moderne, 59 Wert-freie, 31 siehe Analysis, Gesetze, algebraisch passim alle Linien, 141, 142 Potenzen, 142 Probleme der Geometrie, 17, 31, 67 Umkreise, 142 Alles 133 alles 473, 578, 579, siehe Menge, sonst nichts, Zahl, →„Technik“ fließt, 78 in der Analysis, 270 ist Grenze, 362, 467 ist Zahl, 79 Messbare, 11, 223, 590, 591 messen, 19 Allgemeinbegriff 291, 542 Allgemeinheit, größtmögliche 212 Analysis 194, 538, 539, 559, 565, 574, 577, siehe ‚Mengen-‘, Omega-Analysis, Werte-Analysis, passim 3000 Jahre ˜ , 276 akademische, 345 Algebraische, 163–273, 276, 276, 284, 297, 299, 307, 344–346, 351, 381, 382, 465, 474, 518 axiomatische, 670 Bolzanos, 276–296, 344–350 Cantor/Heine/Dedekinds, 538
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Sachen
... Cauchys, 297–350, 352, 362, 363, 367, 368, 379 der Indivisibeln, 140 der unendlich Kleinen, 167 des Unendlichen, 194, 239, 260 endlicher Größen, 283 erste Definition der ˜ , 195, 243 Eulers, 194–255 Fassungen der ˜ , 559 Geschichtsschreibung der ˜ , xx, xxi, xxiii, 121, 275, 313, 443, 577, 681 heutige, 70, 254, 261, 265, 270, 285, 297, 314, 316–318, 326, 355, 537 komplexe, 208 Neugestaltung der ˜ , 577 Paradoxien der ˜ , 539 reelle, 208, 539 Revolution der ˜ , 276, 289, 376 Standard-, 529–532, 535, 536, passim analysis, real 665 70, 84, 85, 87, 98, 138, Anfangsbegriff 138, 139–141, 162, 169, 170, 179, 282, 300, 381, 388, 474, 484, 501, 514, 660 Anschauung 8, 10, 34, 138, 269, 374, 431, 448, 452, 484–486, 540, 560, 568, 585, 620–622 -svermögen, 128 Anzahl siehe unbestimmte, passim unbegrenzte, 511 unendliche, 205, 356, 438, 468 Approximationsmathematik 617–637 Approximationssatz 408, 408–410, 445, 586 äquivalent 174, 420 -e Folge, 514, 516 Äquivalenzklasse, 174–176, 477, 512, 528 klassenbildung, 174–175 relation, 174, 175, 461, 477, 514, 514, 526–529, 537 Arbeit 46, 280, 343, 416, 484, siehe Handeln, Tun am Begriff, 348, 410, 491 psychische, 554 Theorie in ˜ , 441
... Arbeitende 267 Arbeiter 64 archimedisch siehe Axiom, Punkt, Satz, Spirale, Zahlensystem Argument 310, 363, 368, 406, 413, 414, 436, 437, 544, 592, 595, 608, 610, 644, 664 bestimmtes, 311 einziges, 310 irrationales, 583 rationales, 406, 410, 583 reelles, 408 zusammengesetztes, 213, 216 -endifferenz, 633 -wert, 373, 406 Arithmetik 565, siehe Elemente der Gegenstände, 96 der Zahlen, 96 formale, 470, 474 inhaltliche, 470, 474 mit Realia, 96 Philosophie der ˜ , 470, 539, 547, 551 arithmetisch 102, siehe Erkenntnis, Weg Arithmetisierung der Analysis 600 Arkuscosinus 123 128 Ars characteristica artgleich 80–83, 88, 92, 94, 127, siehe artverwandt, homogen artverwandt 48, 75, 83, siehe artgleich, homogen Attribut 16, 32, 33, 76, 81, 94, 203 wesentliches, 33 auflösbar 85, 91, 98, 210 85, 91, 93, 298 auflösen Auflösung 91, 451, 567 Ausdehnung 8, 32, 33–35, 75, 77, 80, 88, 256, 448, siehe res extensa stetige, 396 Ausdruck algebraischer, 124, 307, siehe Rechenausdruck eindeutiger, 561 ausgedehnt 12, 32, 95, 223, 372, 468, 486 Ausgedehntes 9, 67, 75, 87, 300, 301 Ausnahmen zu einem Lehrsatz 351
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Sachen
... Aussage
11, passim
erträglich wahre, 132 falsche, 279 rein formale, 25–31 Subjekt-Prädikat-, 544 wahre, 99, 128, 279, 544, 545 Aussagen der Analysis, 640 -funktion, 544, 545 -logik, 99, 128, 132, 544, 545 Äußeres 599 Axiom 480, siehe Trennungs-, Umgebungs-, passim archimedisches, 113, 114, 114, 524, 563, 564 Bedeutung des Wortes, 568 axiomatisch siehe Analysis, Definition, Denken, Geometrie, Mengenlehre, Methode, Weg Axiomatisierung der Mengenlehre, 652, 667, 668 von „benachbarte“ Menge, 659 Axiomensystem, kategorisches 518
B Bedeutung, reale 420 Begriff siehe entgegengesetzter, passim eindeutiger, 569 einfacher, 76 idealer, 116 reichhaltiger, 76 unmöglicher, 227 -ssystem, 100, 138, 312, 339, 344, 648, 658, 659 Belegung 638, 639, 661 -sfunktion, 638 -smenge, 639 beliebig genau angenähert, 107, 513 annähern, 108 annährend, 477 bestimmbar, 83, 104, 435, 454, 477, 478, 512, 557, 575 bestimmt, 104 messbar, 420
... beliebig klein siehe Bruch, Teil Änderung wird ˜ , 386 gemacht werden können, 359, 418, 433 sein, 401 verbleiben, 291 werden, 246, 247, 259, 330, 419 werden und verbleiben, 324, 325 Wert wird ˜ , 378 Beschaffenheit 288 Beschreibung algebraische Form der ˜ , 136 bestimmte, 60 der Bewegung, 590 der Funktion, 199, 255, 381 der Phänomene, 547 des Funktionsverlaufs, 244 einer Funktion, 202, 209, 210, 307, 308, 347, 638 eines mathematischen Gegenstands, 200 mittels algebraischer Formeln, 307 mittels Vorgabe einer Kurve, 307 richtige, 1 unbestimmte, 60 von Beziehungen, 568 287, 288, 471, sieBestimmung he eindeutig, Funktion, Gesetz, Wesens-; →„Technik“: Wert-zuWert-; passim arithmetische, 145 der Funktionswerte, 332 der Sonderwerte, 311 des Flächeninhalts, 102, 137 entgegengesetzte, 37 explizite, 155 extensionale, 394 geometrische, 152 intensionale, 394 ontologische, 638 paradoxe, 393 relationale, 611, 637 (symbolische Vorstellung), 549 Unterschieds-, 108 Wert-, 104, 165, 303, 308, 333, 373, 375, 381, 438
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... 3, 11, 32, 35–37, 68, 69, 74, Bewegung 75, 77, 79, 80, 140, 141, 148–150, 153, 158, 161, 277, 278, 453, 590, 675 stetige, 36, 68, 148, 149, 161 Bildungsgesetz 319, 383, 392, 434, 435, 458, 484, 566 Binomialreihe 123, 267, 387 siehe Dezimalbruch, passim Bruch beliebig kleiner, 218 Buchstabe 2, 3, 106, 128, 160, 165, 178, 190, 194, 215, 226, 264, 283, 298, 522, 601 unbestimmter, 165 Buchstaben 22, 2–59 als Namen, 24 letzte ˜ des Alphabets, 196, 594, 606 -arten, 47 -rechnen, 4 -symbol, 3 -symbole, 24, 45, 48 -zeichen, 59
C 313, siehe Cauchy-Widerleger Kreisquadrierer Cauchyfolge 347 Characteristica universalis 128 645 Charakteristik consensus 128 Cosinus 102, 123, 244, 378 Coss 24, 42–45
D 124, 408 Darstellbarkeit als Potenzreihe, 581, 586 Darstellung 59, 158, 160, 233, 565, 573, 574, 615 arithmetische, 595 des Grundes, 278, 279 durch eine Reihe, 356 einer Funktion, 262, 378, 404, 637 einer Größe, 160 einer Zahl, 242, 551, 557, 563, 602, 614, 614, 615 einer Zahlgröße, 431
... eines Ausdrucks, 24 eines Begriffs, 128 geometrische, 447 symbolische, 449 Definition siehe Zirkel, passim arithmetische, 609, 613 axiomatische, 82 implizite, 334, 567, 572, 640, 641, 678 -sbereich, 298, 299, 308, 327, 404, 505, 603, 611, 620, 625, 663, 665 endlicher, 409 offener, 635 -ssystem, 98 Deltafunktion 409 Denken 32, 33, 37, 64, 138, 245, 485, 501, 555, 565, siehe res cogitans Alltags-, 544 atomistisches, 499 axiomatisches, 498, 578, 580, 670 Bolzanos, 241, 286, 290, 348, 403 Dedekinds, 497, 498 Descartes’, 13 Dirichlets, 364 esoterisches, 162 Eulers, 239, 245, 249 Hilberts, 498, 543 Instrument des ˜ s, 557 Johann Bernoullis, 269 mathematisches, 678 Ökonomie des ˜ s, 627 philosophisches, 445 rationales, 162 Riemanns, 371 topologisches, 655 Weierstraß’, 381, 388, 389 willkürliches, 497, 578, 580, 651 wissenschaftliches, 579 dezimal 5, 220 Dezimalbruch, 203, 231, 242, 244, 296, 602, 613–616, 618, 619, 625 endlicher, 616 unendlicher, 613, 616, 617 darstellung, 83, 84, 218 e 613, 618, 619, 622
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Sachen
...
... komma, 50, 229, 242 reihe, 434 schreibweise, 5, 242, 517 stellen, 126 system, 242 zahl, 224, 401, 438, 454, 517, 575, 602, 614, 614, 619, 624, 676 Diagonalbeweis 551 dicht 290, 291, 396, 410, 412, 415, 486, 591, 594, 621, 635, 649, 650 Differenz 131, 494, passim Differenzial 117, 120, 121, 139, 189, 191, 193, 207, 213, 222, 236, 259, 260, 270, 272, 336, 337–339, siehe Kettenregel, Produktregel bei Cauchy, 336 bei Euler, 236 bei Johann Bernoulli, 179 bei Leibniz, 118 Divisionsregel für ˜ e, 120 einer Wurzel, 178 eines Produkts, 139, 165, 171–177, 190– 192, 337 höherer Ordnung, 122 Multiplikationsregel für ˜ e, 119, 173, 260 verschwindendes, 119 Differenzial- und Integralrechnung 99, 113, 124, 127, 137, 194, 245, 252, 258, 262, 278, 451, 466, 485, 616, 659, 660, siehe Differenzialrechnung Differenzialform 209 Differenzialgleichung 214 partielle, 270, 371 Differenzialkalkül 162, 180, 187, 192, 193, 259, 266, 268–270, 312, siehe Differenzialregeln von Leibniz, 164 Differenzialkoeffizient 337, 414 Differenziallehre von Euler 240 334, 345 Differenzialquotient Differenzialrechnung 111, 117, 164, 188, 199, 206, 208, 222, 235–237, 248, 251, 262, 270, 336, siehe Differenzial- und Integral-
rechnung Differenzialregeln 117, 122, 137, 163, 179, 207, 260, siehe Differenzialkalkül bei l’Hospital, 192 von Johann Bernoulli, 167–179 von Leibniz, 118–122, 164–166 Differenzialzeichen 129 Dilemma Johann Bernoullis ˜ , 182 Seidels ˜ , 359–360 Weierstraß’ ˜ , 428 Weierstraß’ neues ˜ , 434–435 siehe Sinnesding, passim Ding Eigenschaft der ˜ e, 81 einfachstes, 7 Element des ˜ es, 71, 76, 77 gezähltes, 33–35 stetiges, 147 System von ˜ en, 561, 563, 564, 565, 566 Vergleichung von ˜ en, 9 wirkliches, 80, 87, 90, 95–97 Dividieren 15, 305, 531 12, 15, 17, 18, 26, 46, 47, 120, Division 152, 165, 225, 227, 228, 233, 247, 249, 250, 373, 431, 435, 449, 450, 462, 521, 522 -salgorithmus, 251 Dorfbarbier 138 Dreieck 2, 8, 9, 29, 31, 54, 144, 145, 190 einbeschriebenes, 145 gemischtliniges, 190 gleichseitiges, 17, 18 gleichwinkliges, 81 rechtwinkliges, 13, 29, 30, 118 Winkelsumme im ˜ , 568 -sungleichung, 406, 660 Dreisatz 41 Durchgang, gerader und schiefer 141, 142, 144 Durchschnitt zweier Mengen 655
E Eigenschaft unmögliche, 233 ein-eindeutig
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80, passim 128, 366, 607
Sachen
... 209, 367, siehe Ausdruck, eindeutig Begriff, Grenze, umkehrbar berechenbar, 366 bestimmt, 366, 369, 417, 656 Element, ˜ ˜ es, 506, 665 Grenze, ˜ ˜ e, 285, 311, 349, 509 Grenzwert, ˜ ˜ er, 327 Integral, ˜ ˜ es, 341, 343 Unbekannte, ˜ ˜ e, 567 Wert, ˜ ˜ er, 335, 363, 370, 433 Bestimmung, ˜ e, 586, 600, 611, 627 charakterisiert, 549, 553 definiert, 581, 609 Funktion, ˜ e, 207, 367, 412, 414, 592, 594–596, 608, 609, 609, 610, 638, 652 Funktionswert, ˜ er, 310, 315, 317, 367, 373 Grenzwert, ˜ er, 332 Korrespondenz, ˜ e, 554, 555 Transformation, ˜ e, 433, 565 Wert, ˜ er, 330, 666 zugeordnet, 175 Zuordnung, ˜ e, 586 Eines 72, 116, 133, 257, 287, 638 eingebildet 57, 58, 121, 427, siehe Größe, Wert, Zahl Eingebildete 125, 127, 196, 198, 201, 202, 209, 223, 224, 232, 233, 245, 272, 349 Einheit 14, 18–20, 23, 25, 27, 27, 34, 36, 48, 50, 80–85, 87, 88, 91–98, 127, 129, 218, 219, 248, 257, 264, 286, 287, 287, 306, 391, 398, 420, 421, 424, 449, 454, 456, 457, 485, 540, 546, 554, 574, 600, siehe Haupt-, Maß-, Strecken-, Unterentgegengesetzte, 423, 457 komplexe, 421 negative, 508 teilbar, 91 transzendentale, 485 unbenannte, 424 Vervielfachung der ˜ , 87, 94, 96 -slänge, 83
... -sstrecke, 622 Eins 95, 96, 98, 227, 257, 521, 543, 545, 546, 548, 549 mal Eins, 555 und Eins, 95, 96, 554, 555 und etwas anderes, 96 und Keins, 546 Element passim entgegengesetztes, 424 negatives, 429, 430 positives, 429, 430, 432 rationales, 457 unendlich kleines, 408 von, 138, 138, 643, 653, 678 Elementarreihe 465–467, 481, 582 Elemente der Arithmetik, 441 der Dinge, 71, 76 der Funktionenlehre, 452, 581 der Funktionentheorie, 408 der Natur, 184 Ellipse 102, 122 Empirie siehe Ideal empirisch 35, 64, 78, 128, 227, 448, 473, 485, 543, 554, 556, 613, 615, 617, 627, 642, siehe Größe -e Rechtfertigung der negativen Zahl, 225, 226, 233 entgegengesetzt siehe Einheit, Element, Größe, Grundreihe, Resultat, Richtung, Strecke, Vorzeichen, Wert, Zahlgröße, Zeichen einander ˜ , 421 -er Begriff, 302 Entgegengesetzte 421, 424 Entität einfache, 435 intensive, 77 Entontologisierung 669 Erfindungskunst 6, 133, 558 Erinnerung 32 Erkenntnis 6, 8, 16, 37, 38, 87, 485, 565, 572, 680, 682, 745 arithmetische, 552
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Sachen
...
... -interesse, 20, 625 -kraft, 6 -lehre, 7 259 Exhaustion Existenz 38, 63, 86, 92, 93, 112, 182, 225, 230, 271, 564, 570 aktual unendlich kleiner Größen, 500 beliebig vieler Differenzialquotienten, 636 der Differenz, 425 der Eingebildeten, 234 der Irrationalen, 584 der Materie, 34 der reellen Zahlen, 565 des bestimmten Integrals, 341, 343 einer Ableitung, 335, 412 einer allgemeineren Zahl, 584 einer Größe, 346, 382, 400 einer Grenze, 296, 309, 320, 323, 326, 332, 334, 342, 349, 394, 430, 437, 509, 510, 564, 633 einer Infinitesimalen, 181–183 einer Irrationalen, 230, 453 einer Nullstelle, 439 einer Omegazahl, 524, 533 einer Potenzreihe, 583 einer Summe, 249, 250, 253 einer Umgebung, 656, 658 einer unveränderlichen Größe, 296 einer Verdichtungsstelle, 564 einer Verdichungsstelle, 615 einer Zahl, 272, 295, 305, 465, 473, 477, 660 einer Zahlgröße, 340, 392, 425 entgegengesetzten, 422 eines Begriffs, 265 eines Differenzialquotienten, 632 höheren, 631 eines Grenzwerts, 250, 285, 321, 327, 431, 436, 477 eines Grenzwerts bei Ω-Zahlen, 535 eines Maximums, 361 eines Polynoms, 583 eines unendlich Kleinen, 181 eines unendlichsten Gliedes, 184
eines Wertes, 477, 557 mathematische, 295, 375, 394, 401, 422, 425 reale mathematische, 422 reale, 488 soziale, 271 trigonometrischer Funktionen, 583 unendlich kleiner Größen, 183 unendlicher Zahlen, 186 -beweis, 425, 478, 490 -gedanken, 112 -grundlage, 63 -kriterium, 422 -satz, 575 37, 38, 60, 64, 93, 181–184, existieren siehe Existenz Existierendes 92 Experiment 123, 233 160 Explikation explizieren 182, 213, 415, 441, 584, 666, 670 Exponent 122, 152, 162, 172, 217, 218, 264, 312, 378, siehe Potenz negativer, 192 veränderlicher, 123, 162, 203 Exponential siehe Funktion, Größe Exponenzieren 305 expressio analytica 198 Extension 543, 547 extensional 76, 82, 90, 98–100, 543, 654, siehe Bestimmung extensiv siehe Ausdehnung, Größe, Moment Extremwertsatz 293
F Fallgesetz 1–3, 300 Farbfotografie 574 Fehler 103, 104, 113, 126, 139, 172, 173, 246, 249, 250, 382, 406 kleiner als . . . , 254 logischer, 457 unendlich kleiner, 240, 248–250, 537, 538 Figuren, mechanische 68 Fiktion 116, 516
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Sachen
... fiktiv
... 114, siehe Grenze
Filter freier, 576 Ultra-, 576 Fläche 106–110, 115, 117, 126, 137, 141, 142, 144–149, 189, 222 Flächeninhalt, 83, 102, 107, 137, 140, 629 messung, 568 raum, 136 stück, 108, 393 teil, 108 fließen 206 Fließen, stetiges 148, 149, siehe Fluente, Fluxion Fluente, Fluxion 149, 149–162, 259, siehe Fließen, stetiges Folge siehe äquivalent, Cauchy-, Null-, Punkt-, Reihen, passim alternierende, 533 aus Ω-rationalen Zahlen, 533, 534 aus Ω-Zahlen, 522, 523, 532, 533 aus rationalen Zahlen, 384, 507, 513, 514, 516, 520, 521, 522, 529, 533, 534, 536–538 aus rationalen Zahlenfolgen, 534 aus Zahlen, 383 beschränkte, 294, 510 definierende, 520, 530, 532 Diagonal-, 534 Doppel-, 533, 534 Dreifach-, 534 Komponenten-, 532, 533 konstante, 522, 523, 529 monotone, 509 stetige, 147, 437 Folgerungskunst 651 Form, Subjekt-Prädikat78 Formalismus 651, 651 Fourieranalyse 299, 366 Freiheit 307, 329, 488, 497, 500, 500, 538, 644, 645 Fundamentalbegriff, 303, 305, 306, 380, 387 eigenschaft, 370
folge, 576 reihe, 460, 469, 471–473, 475, 564, 566 satz, siehe →„Technik“: ‚Fundamentalsatz der Funktionenlehre‘ der Algebra, 53–55 [der Analysis], 411, 453 Funktion siehe Aussagen-, eindeutig, einwertig, Exponential-, Kreis-, Parabel-, Stamm-, unbestimmt, Unentwickelte; →„Technik“; passim algebraische, 202, 203, 407, 407, 588 bei Bolzano, 291 Bestimmung einer ˜ , 364, 366 charakteristische, 377 eindeutige, siehe eindeutig Eins-, 545 einwertige, 367 entwickelte, 202 Exponential-, 203, 204, 244, 271, 272 ganze, 202, 203 gebrochene, 202, 203, 205 indefinite, 564 irrationale, 202, 203, 205, 207, 210 kapriziöse, →„Technik“ komplexe, 376, 665 mehrdeutige, 207, 608 mehrwertige, 363, 592 rationale, 202, 203 reelle, 401, 408, 657, 661 Riemann-, 373–376, 411, 415 Stamm-, 346 stetige, 293, 370 transzendente, 202–206 trigonometrische, 102, 123, 261, 583 unendliche, 363 unentwickelte, 202, 211 wirkliche, 202, 211 Funktionenfolge, 319, 327, 328 reelle, 327 lehre, 117 komplexe, 202, 208, 209 theorie, siehe Elemente
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Sachen
... Funktionsbegriff, 208 bei Apostol, 664 bei Bartle, 665 bei Bolzano, 288 bei Cantor, 638 bei Cauchy, 306, 307 bei Dirichlet, 364 bei Euler, 199, 213, 194–216, 266, →„Technik“: ‚AFunktion‘, ‚GFunktion‘ bei Goursat, 604 bei Hahn, 661 bei Harnack, 592 bei Hausdorff, 652 bei Heine, 453, 581 bei Jakob Bernoulli, 135–136 bei Johann Bernoulli, 136, 193 bei Jordan, 599 bei Klein, 625, 626, 636 bei Knopp, 663 bei Lagrange, 263, 266 bei Leibniz, 134, 135 bei Lipschitz, 589 bei Pasch, 645 bei Riemann, 370, 586–587 bei Serret, 597 bei Stolz, 594 bei Tannery, 603 bei Weierstraß, 402–410, 586–587 der Encyklopädie, 608 der Encyclopédie, 609 empirischer, 626 heute, 209 bezeichnung, 136 element, 404, 550 streifen, 626, 627 wert, 309, 326, 348, siehe eindeutig
G 88, 90, 91, 94, 94, 96, 98, 138, 140, 186, 189, 198, 486, 506, 519, 540–543, 549, 638, 641, 676, siehe unendliche, Zahl Gattung 196, 197, 266, 300, 305 Gebrochene 244 Ganzes
... Gedächtnis
10, 28, 136, 194, 212, 557
Gegenstand 8, 38, 60, 63, 64, 70, 98, 110, 124, 143, 202, 287, 288, 289, 291, 302, 415, 461, 464, 476, 502, 503, 543, 570, 571, 573, 578, 579, siehe Objekt abstrakter, 472 der Mathematik, 34, 36, 58, 61–64, 70, 124, 127, 221, 313, 372, 486, 563, 580, 639 des Denkens, 35, 37, 435 einfacher, 396 empirischer, 222, 258 logischer, 98, 174, 472, 572 mathematischer, passim vollständig bestimmt, 576 Unendlich, 234 465, 480 gegenstandlos Gegenstandsdefinition 475 Geist 6, 7, 10, 26–28, 32, 38, 48, 279, 415, 457, 484, 485, 547–549 -estätigkeit, 547 Gemeinsinn, innerer 128 Genita 152, 153 Geometrie siehe Infinitesimal-, →„Technik“, passim Algebraische, 20 Analytische, 18–20, 31, 68, 112 antike, 20, 83, 239, 277 axiomatische, 560, 561, 563–565, 572 empirische, 626 Geschichtsschreibung siehe Analysis Geschwindigkeit 11, 149–152, 155, 160 letzte, 158 Gesetz 36, 48, 117, 243, 273, 319, 483, 492, 498, 638, 639, 678, siehe Bildungs-, Fall-, Homogenitäts-, KontinuitätsBestimmungs-, 639 der Abhängigkeit einer Zahl, 290 der Stetigkeit, 281, 283 kommutatives der Multiplikation, 563 vollkommen willkürliches, 605
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... Gesetze 498, 502, 503, 589 algebraische, 272 alle möglichen, 566 der Arithmetik, 88 der Gleichheit, 470 der Rechnungen, 487 der Verknüpfungen, 450, 552 formale, 450, 474 physikalische, 613 Glaubensrichtung 676 Gleichheit 28, →„Technik“: ‚größengleich‘, ‚näherungsgleich‘, ‚ordnungsgleich‘ bis auf eine Elementarreihe, 481 für Ω-Zahlen, 521, 537, 538 endlich gleich, 525, →„Technik“: ‚näherungsgleich‘ von gleicher Größe, 526, →„Technik“: ‚ordnungsgleich‘ von gleicher Größenordnung, 528 für Fundamentalfolgen, 576 für Schnitte, 502 für Zahlenreihen, 466, 475 für Zahlzeichen, 466, 475 in der Standard-Analysis, 537 ist Identität, 470, 538 ist nicht Identität, 27, 236, 460, 466, 471 keine strikte ˜ , 269 Komponenten schließlich gleich, 528 nicht als Gleichung, 168, 169 unendlich kleiner Größen, 237 von Proportionen, 129 von Quotienten, 129 von Veränderlichen, 118, 139, 157, 158 weitere, 176 -srelation, 139 weitere, 175, 240 -szeichen o , 24 , 24 ∞, 24 ========, 45 , 129 =, 192
... ≈, 175, 269, 526 ∼ =, 237–240, 248, 530 Gleichung 24–28, 51, 130, 134, 144, 148, 150, 151, 160–162, passim algebraische, 122, 123 differenziale, 165 dritten Grades, 53 (falsche) symbolische, 192 fünften Grades, 210 formale, 25–28, 45, 47, 52, 53, 58, 60 Gebrauch der ˜ , 24 Grad der ˜ , 55 Normalform einer ˜ , 55 quadratische, 28–30, 54 siebten Grades, 210 symbolische, 70 vierten Grades, 16, 52, 56 -ssystem, 11, 39, 128 -stransformation, 56 Glied passim infinitesimales ˜ nicht möglich, 182 Gnomon 144, 145, 145 Grad 26, 115, siehe Gleichung, Größe der Anschaulichkeit, 632 der Erträglichkeit, 133 der Genauigkeit, 626 der Vollkommenheit, 210 unmerklicher, 316 -bestimmung, 258 -messer, 348 -Notation, 50 siehe Großheit grandeur Grenze siehe alles, eindeutig, existieren, Kontinuum, unbestimmte, passim 0, 118, 311, 332, 343 als Wert, 382 angebbare, 322 bei Bolzano, 285, 293 bei Cantor, 458 bei Cauchy, 304, 349 bei Dirichlet, 365 bei Gregorius, 159 bei Hausdorff, 656 bei Heine, 467
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∝ e
Sachen
...
...
bei Riemann, 372
bei Leibniz, 112 bei Newton, 159 bei Riemann, 382 bei Russell, 506 bei Tannery, 657 bei Weierstrass, 393 der Reihe, 354 der Summe, 156, 157 der Veränderlichen, 304 Eindeutigkeit der, 311, 342, 349 fiktive, 511–513 inkommensurable, 516 in der Topologie, 395 Konstruktion der ˜ , 339 letzte, 112 wirkliche, 511, 512 112, 294, 298, passim Grenzen Übergang zu den, 338 einer Linie, 112 Grenzfunktion 327, 330, 352, 377 stetige, 327, 328, 331, 360, 361 Grenzprozess, möglicher 326 Grenzpunkt, 113 siehe Grenze; →„Technik“: Grenzwert ‚Grenzwertsprache‘; passim bei Dedekind, 495 bei Dieudonné, 660 bei Hahn, 662 einer Folge von Ω-Zahlen, 532, 533 fiktiver, 514 oberer, 496 Größe siehe Länge; →„Technik“: ‚Mess-‘, ‚Rechen-‘, ‚Zähl-‘; passim absolute, 30, 130 allerkleinste, 113 allgemeine, 196 bei d’Alembert, 256 bei Bolzano, 289 bei Cauchy, 301 bei Descartes, 27 bei Euler, 195, 221 bei Hankel, 452 bei Johann Bernoulli, 169 bei Leibniz, 75
bei Stolz, 593 beliebig klein anzunehmende absolute, 358 beliebig kleine, 357, 515 beliebig kleine positive, 496 bestimmbare, 133 differenziale, 165 eingebildete, 114 empirische, 168, 426 entgegengesetzte, 54 Exponential-, 204, 217–221, 281 extensive, 169, 258, 425, 426, 451, 452, 485, 486, 501, 574, 675 fließende, 150 geometrische, 125, 126, 135, 138 im engeren Sinn, 288 im weiteren Sinn, 288 intensive, 258 irrationale, 100, 124, 126 kleiner als irgendeine ˜ , 109, 110, 137– 140, 157, 158, 162 komplexe, 402, 428 konstante, 136 kontinuierliche, 257, 289, 486 letzte, 158, 159 messbare, 592 mögliche, 372 negative, 131–134, 137, 166, 224 nicht zusammenhängende, 258 physikalische, 617 positive, 30, 130–134 potensive, 258 reelle, 372, 411 stetig veränderliche, 136, 137 stetige, 258, 288 transzendente, 124, 127, 217 unbekannte, 25, 26, 55 unbestimmte, 136, 153, 370 unendlich kleine, passim unstetige, 258, 288 unvergleichlich kleinere, 116 veränderliche, passim
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... verschwindende, 114, 118–122, 137– 139, 155–160, 576 Methode der ˜ n ˜ n, 157 wachsende, 149 wirkliche, 116, 119 zuordenbare, 119 zusammenhängende, 258 Größen heterogene, 50 -grad, 115 -klasse, 169, 175–176, 191, 192, 221, 260, 269, 527, siehe Größenordnung; →„Technik“: ‚Grobgleichheit‘ für Ω-Zahlen, 526–528 -ordnung, 258–260, 269, 270, 272 für Ω-Zahlen, 528–529 von gleicher ˜ , 240 Großes, unbestimmt ˜ 113 Großheit 8, 9, 15, 16, 20, 27, 31, 46, 48, 67, 75–77, 87, 97, 141, 142, 158, 234, 252, 300, 301 ausgedehnte, 12 geometrische, 16, 22 heterogene, 48 homogene, 48 inkommensurable, 20 kontinuierliche, siehe kontinuierlich unbekannte, 11, 46 Grundbegriff 514, 539, 561, 572, 577, siehe Anfangsbegriff, passim Grundoperationen siehe Wesen Grundreihe 390, 391, 417, 420, 421, 427, 432, 434, 456, 519 entgegengesetzte, 428 Standard-, 418, 428
H Handeln 63, 64, 74, 78, siehe Arbeit, Tun Handwerk 40, 63 Häufungspunkt, 113, 294, 305, 327, 349, 395, 397, 397, 411, 656, 657 wert, 293, 294, 349
... Haupteinheit 390, 391, 394, 401, 420–423, 425, 427, 428, 432, 456, 457, 560, 561 entgegengesetzte, 421, 423, 457 positive, negative, 423 heterogen 48, 492, siehe inhomogen Höhensatz 19, 21, 21 15, 48, 75, 127, 486, siehe homogen artgleich, artverwandt Homogenitätsgesetz 15, 23, 47, 48, 50 102, 122 Hyperbel
I Ideal 128, 553 der Mathematik, antikes, 277 613–614, 617–620 Ideal und Empirie Ideale 80, 93 Ideales 90, 91, 186 und Reales, 92, 93 idealisierende Abstraktion 551 Idealisierung 617 Idee 10, 28, 84, 87, 92, 128, 255, 619 algebraische, 61 Dedekinds ˜ , 489 des Lebewesens, 99 des Menschen, 99 des Unendlichen, 182 einfache, 92 endliche, 182 Heines ˜ , 474 platonische, 88, 669 Weierstrass’ ˜ , 454 98, 470, 471, 521, 607, siehe Identität Gleichheit bis auf eine unendlich kleine Größe, 461 vergröberte, 526 von Materie und Raum, 34 imaginär 57, 58, 405, 428, 555, siehe Wert, Zahl rein ˜ , 428 Imaginäres 427, 452, 518 imaginaire 57, 58, 427 imaginaires 57 imaginari 198 Imaginaritäten 556
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... imaginarius
... 114
imaginatio 128 incrementum 153 indefinite magna 113 indefinite parva 113 207, 320, 360, 385 Index wachsender, 419, 465 -notation, 106, 128 Indivisibel 140–146, 155–157, 160 -nmethode, 107, 110 88 Induktion, vollständige infinita 113 infinite magna 113 infinite parva 113, 155, 156 infinitesimal -er Kalkül, 262 -es Glied, 181–186 Infinitesimalgeometrie, 139 rechnung, 101, 163, 206, 411, 520, 589 Infinitesimale 140, 146, 161, 162, 181, 182, 197, siehe Zahl inhomogen 128, siehe heterogen 86 inkommensurabel Inkommensurable, moderne 575–576 Inneres 599 86 integer (Zahl) Integral 110, 348, siehe Existenz (des bestimmten -s) als Veränderliche, 339 bestimmtes, 299, 341, 364, 410, 633, 635 Cauchy-, 341, 343, 346, 587 gewöhnlichstes, 356 Kurven-, 209 nach Dirichlet, 369 nach Leibniz, 105–111 Riemann-, 109, 374, 377, 382 unbestimmtes, 410 -darstellung, 409 -rechnung, 101, 117, 123, 177, 206, 208, 214–216, 217, 270, 275, 339, 408 Mittelwertsatz der ˜ , 380 -sinus, 356, 357
-zeichen, 129 167 Integrale, Methode der Integration partielle, 213 unbestimmte, 214, 270, 339 integrierbar 374, 410 543, 547 Intension intensional 82, 90, 99, 99, 543, 544, 654, siehe Bestimmung 293, 298, 299, 300, passim Intervall abgeschlossenes, 370, 436, 633 als Punkt, 620 beschränktes, 377 bestimmtes, 592 Definitions-, 364 endliches, 399, 409, 411, 587, 594, 629– 631, 635, 636 gesamtes, 587 in keinem, 410, 412, 415 jedes, 468, 656 noch so kleines, 413, 415 offenes, 371, 599, 633 unendliches, 356 Weite des -s, 603 -grenzen, 354, 603 -länge, 379 -schachtelung, 614, 615 -teilung, 399, 517 Irrationale 27, 196, 198, 223, 244, 245, siehe Wesen, Zahl Irrationaliäten, neue 575 Irrationalität höherer Ordnung 465, 467
J Jetzt
140, 150, 160, 161
K Kapitalismus 4–5, 38, 362, 671 Kardinal-Premier 271, 273 Kardinalzahl siehe Zahl, kardinale Kategorientheorie 31 Kaufmann 5, 40, 41 Kegelschnitt 26, 66, 68, 122
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Sachen
... Kettenregel 192 für Ableitungen, 335, 338 für Differenziale, 337, 338 Kippformulierung 113 Klammern 129, 215, 385, 458 klar 7, 8, 10, 16, 17, 28, 33, 35, 36, 38, 59, 67, 68, 675, 680, 682 kleiner als eine unendlich kleine Größe, 515 ε, 460, 512, 585 jede angebbare Größe, 429 jede beliebig vorgegebene Größe, 443, 634 jede gegebene Größe, 281, 283, 311, 349, 406 jede gegebene Zahl, 320, 593, 616 jede Großheit, 169 jede Zahl aus, 482, 601 jeder gegebene Bruch, 282 nichts, 53, 54, 97, 132, 133, 165, 232 Null, 97, 132 unendlich ˜ , 175, 176, 182, 241 284, 285, 295, 321, kleiner verbleiben 599 Kleines, unbestimmt 113 181 Kleinheit, jede beliebige 256 koexistieren Kombinatorik 128 120, 129, 319, 454, 459, siehe Komma Dezimalkommensurabel 82, 126 siehe Analysis, komplex Funktionen, Größen, Potenzreihe, Reihen, Veränderliche, Wert, Zahl Konchoide 68 kongruent 75, 76, 85, 87, 94–97 Konstruierbarkeit 124 Konstruieren arithmetisches, 577 geometrisches, 4, 5, 63 Konstruktion 7, 62, 67, 88, 93, 97, 107, 133, 162, 228, 270, 420, 421, 622 algebraische, 54 begriffliche, 485, passim
... einer Zahl, 622 geometrische, 18–21, 21, 24, 30, 31, 52, 54, 115, 117, 143, 260, 269, 622 mengentheoretische, 174, 477 -sebene, 393 Kontaktwinkel 133 kontinuierlich 9, 27, 72, 74, 125, 626, siehe Ordnung, Tätigsein, Veränderung gleichförmig ˜ , 75, 77 wirklich ˜ , 91 kontinuierliche Großheit 9, 12 Kontinuierliches 74, 257 Kontinuität 74, 629 -sgesetz, 74, 78, 111, 112, 117–122, 137, 139, 147, 179, 269 -stheorie, 628 Kontinuum 37, 80, 91, 124–125, 127, 138–141, 147–148, 331, 389, 395–397, 397, 484, 485, 487, 499, 621, 625 bei Bolzano, 397 bei Weierstraß, 397 Definition des ˜ s, 396 Grenzen eines ˜ s, 371 Kennzeichnung des ˜ s, 395 Teilung des -s, 499 -sbegriff, aristotelischer, 371, 499 Kontraposition 360, 363 Konvention 428, 552, 616 Konvergenz siehe Punktfolge, →„Technik“, passim absolute, 439 bei Abel, 354 bei Bolzano, 284 bei Cantor, 385 bei Cauchy, 319, 384 bei Seidel, 359 beliebig langsame, 360 gleichmäßige, 360, 361, 379, 380, 404– 408 stetige, 327, 352 -bereich, 404, 407, 436 -kriterium, 383, 557 allgemeines (Leibniz), 103, 104, 137
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Sachen
...
...
-radius, 405 -satz, 321, 418, 494–496 Koordinate 130, 135, 308, 480, 480, 481, 599 Koordinaten krummlinige, 123 -achse, 164, 605 -system, 30, 130, 166, 213, 626 -ursprung, siehe Achsenschnittpunkt Körper 87, 88, 96, 97, 149, 158, 202, 479, 576 135 Korresecta Kreis 2, 8, 16, 18, 26, 29–31, 126, 134, 243, 631, siehe Quadratur quadratischer, 60 -bögen, 605 -funktionen, 204, 244 -kettenverfahren, 397 -quadratur, arithmetische, 180 -quadrierer, 313, siehe Cauchy-Widerleger -teilungsmaschinen, 622 siehe Konvergenz-, Kriterium SummationsKritik siehe ontologische der reinen Vernunft, 485 135, 142 Krümmung -sradius, 135 16, 22, 23, 231 Kubikwurzel Kubus 25, 146, 153 Kurve passim ageometrische, 134 empirische, 626–637
Längenangabe, 613 einheit, 84, 483 283 lege continui Lehrsatz passim binomischer, 218, 219, 281 Leibniz-Reihe 105, 125 letzte/r/s siehe Grenze, Ort, Verhältnis Liebe, Gesetz, Schornsteinfeger 565, 678 lim 304, passim passim Limes für Mengen, 656, 657, 660 inferior, 328 oberer, 504, 505, 506, siehe Grenzwert unterer, 504–506 von Ω-Zahlen, 520, 522, 530, 532–535 -kalkül, 349 -regeln, 272 -theorie, 654 limite passim Lineal 69 passim Linie gerade, 123, 138, 139, 142, 146, 157, 162 kontinuierliche, 67, 278 krumme, 66, 68, 83, 125, 134, 135, 145, 146, 157, 162 unbekannte, 24, 25, 29 wirkliche, 56 zeichnen, 67, 69 Linien siehe alle 305 Logarithmieren Logarithmus 123, 203, 204, 219, 242–244, 281, 335, 494, 645 siehe RelationenLogik extensionale, 99 formale, 31 intensionale, 99 mit Relationen, 78 Subjekt-Prädikat-, 78, 78
L Lösung, reelle 57 Länge siehe Einheits-, unendlich klein, passim irrationale, 5 niemals verschwindende, 120 Richtungs-, 471 Strecken-, passim unbestimmte, 162 veränderliche, 118, 139, 162 verschwindende, 118
M Mannigfaltiges
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... 372, 638 Mannigfaltigkeit einfache, 399, 401 n-fache, 401, 402 zweifache, 399 -en, zusammenhanglose, 486 19, 20, 26, 36, 41, 68, 76, Maß 84, 85, 87, 97, 137, 141, 142, 168, 169, 179, 300, 301, 483, 574, 655 äußeres, 85 wirkliches, 84 -angabe, 50 -einheit, 59, 300, 479 -größe, 50 -stab, 68, 75, 76, 84, 110, 142, 372, 619 -system, 48–51, 64 -zahl, 223 -zeichen, 48, 49, 51 -system, 49 131 Masse (moles) Materie 32–34, 180, 613, 628, siehe Teilung erste, 33 Mathematik siehe Sprache, →„Technik“; passim extensionale, 544 formale, 128, 559 intellektuelle, 448 intensionale, 543 intuitive, 128 reine, 517 Mehr oder Weniger 91 mehrdeutig 316, siehe Funktionen Menge 138, 643, 667, 668, 678, siehe Punkt-; Zahl, reelle; →„Technik“; passim aller Mengen, 138 alles ist ˜ , 656 messbare, 587 Mengenlehre 138, 372 axiomatische, 479, 666, 667, 668 inhaltliche, 668 Mesolab 69 messbar 19, 35, 116, 189, 257, 290, 295, 449, 575, 590, siehe Menge, Größe, Zahlenvorstellung
... beliebig genau ˜ , 420 Metaphysik 78, 98 der unendlich kleinen Zahlgrößen, 312 des Aristoteles, 79, 93, 112, 124, 257 des Differenzialkalküls, 447 des Unendlichen, 312 von Wolff, 147 wahre ˜ des Differenzialkalküls, 259 80, 200 metaphysisch -e Anfangsgründe der Mathematik, 74 -e Grundfigur, 80 -e Notwendigkeit, 72, 73 -e Streitfragen, 115 -e Teilung der Materie, 180 -es Denken, 71, 93 6, 7, 9, 10, 31 Methode axiomatische, 564–566, 571, 572, 578, 579, 628, 651, 669, 670 denkende, 555 der Begriffe, 99 der Individuen, 99 der Integrale, 167 der verschwindenden Größen, 157– 161 genetische, 564, 565 indisch-arabische, 40 Indivisibeln-, 146 rechnende, 555 -nreinheit, 277–280 503 Modell -theorie, 185, 272, 313 415, 588 Modifikation Modus 9, 32, 89, 92, 186 einfacher, 88, 89, 91, 92 möglich 8, 20, 26, 35, 296, 323, 373, 483, 502, 628, siehe Größenbegriff, Grenzprozess, Prädikat, Recheneregbnis, Welt, Wert, Zahl schrankenlos ˜ , 502 so oft wie ˜ , 85, 86 Mögliches 92 Möglichkeit 37, 48, 80, 90, 92, 93, 93, 112, 170, 296, 307, 308, 412, 420, 484, 503, 518, 568, 601, 609, 646
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...
...
Bedingung der, 448 der Erkenntnis, 485 150–153, 155, 161 Moment extensives, 77 Monade 73, 71–74, 76, 78, 78, siehe Substanz, einfache Zustand der, 72 108, 630, siehe Folge monoton fallen, 246, 510 in keinem Intervall ˜ , 291 steigen, 510 Monsterfunktion siehe 290, Anmerkung 201 Multiplikation passim -spunkt, 129 -sregeln, 226 15, 305 Multiplizieren
teiler, 521, 522 zahl, 528 Numerus 44, 80 243 numerus generalis, 76 integer, 87, 94 26, 66, 128, 133, 388, 497, 572 Nutzen
N 205, siehe Elemente Natur Buch der, 1 Negative 198, 223, 224, 226, 244, 245, siehe Exponent, Wert, Zahl -n, Begriff des ˜ , 373 -s, 555, 556 Nichts 52, 151, 168, 236, 239, 421, siehe kleiner als ˜ , weniger als ˜ in der Tat ˜ , 239 reales, 422 nichts 225, 232, 234, 243, 246, 251, siehe sonst ˜ zu ˜ werden, 121 Nichtsein 37, 519 Nichtstandard-Analysis passim nominalistisch 448 117, 130, 135 Normale Null 57, 168, passim absolute, 155 (cyphra), 198 wirklich ˜ , 235 Nullen 236, 237, 239, 270, 272, 345 Nullfolge, 105, 267, 530, 576 punkt, 630 stelle, 374, 439, 564, 585 stellensatz, 276, 277, 402, 437–439, 585
O Objekt
30, 100, 116, 122, 124, 196, 228, 271, 314, 381, 382, 431, 459, 485, 513, 519, 554, 578, siehe Gegenstand algebraisches, 179 analytisches, 252, 375 aus Zeichen, 230 geometrisches, 94, 166, 567 ideales, 63, 196 klar definiertes, 538 legitimes, 519 Menge der -e, 578 neues, 230, 231, 422, 450, 461, 462, 476, 482, 491, 499, 517 reales, 448 traditionelles, 428 unbequemes, 575 unserer Anschauung oder Denkens, 138 wohlbestimmtes, 435 -bereich, 27 okkult 160 Omega-Analysis 175, 183, 220, 479, 519–539 Omega-Zahl = Ω-Zahl siehe Zahl omnes siehe alle Omnes-Konzepte 141–146 Ontologie 32, 76, 669, siehe Entontologisierung axiomatische, 669 der Axiomatik, 669 der Zahl, 80, 90, 474 ontologisch 90, 92, 99, 114, 121, 149, 199, 345, 422, 465, 471, 478, 497, 623, 638, 669, 670 ontologische/r/s Defizit, 477
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... Kritik, 477, 521 Umbruch, 669 Operation 13, 19, 35, 88, 449, 452, 483, 494, 522, 552, 553, 558 (Grenzwertbildung als ˜ ), 382 algebraische, 61 arithmetische, 11, 17, 305, 420, 436, 553–555, 604 Begriff der, 553 quasirationale, 522 rationale, 522 -sform, 556 -sregeln, 474, 556 -ssymbole, 48 -szeichen, 129, 154 arithmetische, 46–48 Erfindung der, 38–43 Ordinalzahl siehe Zahl, ordinale 68, 107–109, 117, 118, 130, Ordinate 134–136, 147, 164–167, 188, 193, 212, 213, 254, 261, 278, 365, 367, 370, 371, 380, 605, 629, 630, 636 Ordnung 7, 78, 79, 147, 554, 578, 643, siehe Irrationalität, unendlich Kleine der Faktoren, 245 der Größe nach, 646 der Summanden, 417–419, 554 der Zeit, 78 des Raumes, 78 herrschende, 280 kontinuierliche, 78 -sakt, 576 -srelation, 77, 475, 477 -szahl, 391, 420 Ort 37, 92, 300 letzter, 158 -sveränderung, 590
P Parabel 3, 16, 17, 117, 122, 145, 188, 261, 414, 665 -funktion, 329 -kurve, 3 37, 168, 393, 396, 416, 539, Paradoxie 650
... Parallelenaxiom, 568 postulat, 298 problem, 298 Parameter 66 321, 377 Partialsumme passabel 133 Perzeption 73 36, 124, 127, 223, 606, 661, 666 Physik physikalisch 36, siehe Gesetz, Größe -e Begriffe, 626 Physiker 5, 569, 570 472 physisch platonistisch 551 153, 604, siehe Existenz Polynom als Funktion, 583 Popularisierung des Unendlich-Kleinen 115–116 Postulat 167–170, 172, 175, 177–180, 187, 189, 221, 260, 269–271, 273, 298, 553, 568, 600, 619, 620 Potenz 136, 146, 152, 156, 172, 178, 205, 216, 231, 494, 515, 516, siehe Exponent binomische, 206 einer unendlich Kleinen, 312, 515 fünfte, 25 Grade der, 48 höhere, 231 -regel für negative Exponenten, 192 -reihe, 217–221, 261–268, 550, 581, 583, 587 komplexe, 404 konvergente, 586 Theorie der formalen -n , 209, 270 -reihenentwicklung, 272 potenziell siehe Unendlich Potenzieren 305 Potestät 231 Prädikat 27, 33, 78, 147, 162, 169, 175, 176, 192, 221, 236, 239, 244, 476, 479, 544, siehe Aussage, Logik, Relation; →„Technik“: ‚größengleich‘ Begriffs-, 98 mögliches, 476
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... 617–637 Präzisionsmathematik Prinzip siehe Durchgang, Kontinuitätsgesetz, Stetigkeit Cavalieris, 142 der Einfachheit der Naturerklärung, 627 Erzeugungs-, 112 Formal-, 33 Führer-, 89 inneres, 73 Konstitutions-, 36 Konstruktions-, 348 Leibniz’sches, 183, 184 Material-, 33 Rechen-, 269 Prinzipien logische, 579 Vernunft-, 92, 186 zwei ˜ von Méray, 508–513 Problem siehe Dilemma, schwingende Saite, Vervielfachung der Einheit, passim algebraisch unlösbares, 124 Descartes’, 68–70 Divisions- für Zahlgrößen, 431 dritten Grades, 15 höheren Grades, 15 isoperimetrisches, 135, 136, 193 quadratisches, 30, 39 von Pappos, 66 Produkt siehe Differenzial, passim kartesisches ˜ , 505 mit einer unendlich Kleinen, 151 mit Unendlichen, 220, 336, 515 negativer Zahlen, 226 reeller Zahlen, 461, 507 unendlicher Zahlgrößen, 419 unendliches ˜ , 83 von Ω-Zahlen, 521 von Vorzeichen, 302–303 von Zahlgrößen, 305, 340, 341 zweier Strecken, 13, 18 -regel Newtons, 152–154, 162 Proportion 48, 126, 129, 132, 560 göttliche, 126
... Proportionale mittlere, 19, 25, 152 vierte, 19, 20 11 propositio proposition 102, 105, 142 Punkt 66, 68, 69, 125, 130, 135, 140, 142, 161, 468, 479–501, 564, 565, 568, 569, 570, 598–606, 607, 640, 653–660, passim als Element, 655 beliebig auf der Linie genommen, 66 der Menge, 623 Verdichtungs-, 615 -folge, 399, 598, 663 konvergente, 654 -menge, 607, 614, 620–626, 653–661, 663 -notation Newtons, 160 565, 678 Punkte, Geraden, Ebenen Punkte, praktische Wahl der 631
Q Quadrant 130 erster, 130 Quadrat 9, 15, 21, 23, 35, 47, 126, 131, 146, 153, 228, 229, 232, passim -diagonale, 5, 27, 83, 126 -fläche, 50 -seite, 5, 51, 85, 153 -wurzel, 15, 16, 18, 22, 29, 50, 228– 234, 414 von −1, 362, 502 -zahl, 100 Nicht-, 100, 490 Quadratrix 68, 69 102, 145, 149 Quadratur arithmetische, 102, 105–111, 115 des Kreises, 102, 622 Qualität 33, 75, 81, 260, 381 einer Substanz, 73 wirkliche, 73 Quantität 33, 35, 54 quantité 188, 297, 303, 306, siehe Größe composée de quelque maniere, 193 quantitas 9 Quantum 133, 257, 288
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Sachen
...
... Quotient
passim
Quotientenreihe, vergleichende 89
85, 86,
R raciocinatio(nem communem) 112 Radkurve 68, 122, siehe Zykloide Rand 599 siehe Zahl, rationale Rationale Raum 33, 34, 75, 77, 77, 78, 90, 136, 137, 141, 277, 396, 415, 486, 488, 547, siehe Identität erzeugter, 78 gemischtliniger, 190 ist veränderlich, 77 leerer, 34 metrischer, 294, 659–660 objektiver, 79 Ordnung des, 78 Proximitäts-, 659 Punktmengen im, 653 subjektiver, 79 Teilmengen des -es, 654 topologischer, 655 uniformer, 659 unstetiger, 488 -größe, 486 -inhalt, 110 8, 132 real Reale 450, 451 Reales 92, 95, 96, 484, siehe Ideales Realteil 531 Rechenausdruck, 199–207, 209–211, 214, 214, 215, 249, 252–255, 263–265, 270, 273, 288, 307, 308, 347, 364–366, 380, 381, 407, 410, 581, siehe unendlicher ergebnis, mögliches, 204 gesetze, 115, 117 meister, 5, 15, 21, 40, 43, 82, 83, 99, 100, 100, 229, 678 regeln, 162, 209, 238, 245, 507, 538, 648 bringen Zahlenarten hervor, 245 für Unendliche, 115, 238, 272
gewöhnliche, 121, 220, 234, 245, 349 zeichen, 3, 22, 26, 31, 228, 229, 233 Rechnen 59–64, 130, 131, 133, 245, 245, 555 kaufmännisches, 38–45 schriftliches, 130 Wesen des -s, 64 reell 8, 57, 58, 362, 427, 428, siehe Argument, Funktion, Größe, Veränderliche, Wert, Zahl, Zahlgröße (wirklich), 57, 114, 217 -e Lösung, 57 Reelles 427 reflexiv 176 Regel passim goldene, 41 Regeln siehe Differenzial-, Ketten-, Limes-, Multiplikations-, Produkt-, Rechen-, Vorzeichen-; →„Technik“: ‚Kürzungs- ‘; passim der Infinitesimalrechnung, 163 sichere und einfache, 6 von Rudolff, 100 regula 141 siehe Elementar-, Grund-, Reihe Taylor-, passim komplexe, 202, 384 trigonometrische, 299, 364, 366, 411, 413, 587 konvergente, 356, 587 Theorie der -n -n , 458 unendliche, siehe unendliche Reihen bestimmte, 432 der Glieder, 457 in der Formel, 385 nicht erforderlich, 390 unabhängig von der ˜ , 535 von Grenzübergängen, 534, 632 wesentlich, 432 -folge, 385, 395, 458, 495, 641, 643, 653 -rest, 249, 352 Rektifikation 83
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Sachen
... 134 relatio Relation 27, 78, 80, 90, 91, 128, 130, 138, 165, 169, 308, 435, 448, 449, 464, 465, 505, 506, 544, 547, 653, siehe Prädikat, Zahlen als Menge geordneter Paare, 664 Anzahl-, 49 beliebige, 637 binäre, 654 einwertige, 665 „gleich“, 27, 175 Identität, 27 intensionale, 90, 138 „ist Element von“, 653, 678 zweistellige, 505, 666 Relationen 80 -logik, 90 Relationsbegriff 269 relativ unendlich groß/klein gegen, bei ΩZahlen 525 res cogitans 71, siehe Denken res extensa 71, siehe Ausdehnung 135 Resecta Resektenkurve 106 passim Resultat entgegengesetztes, 276 revera esse 97 =, 237 = 0, 235, 237 cyphram, 235 Reversionspunkt 107 Richtung, entgegengesetzte 54, 165, 166, 482 RiemannIntegral siehe Integral Summe 117, 375
S Satz
siehe Algebra, Approximations-, Bestimmtheits-, Drei-, Extremwert-, Höhen-, Integralrechnung (Mittelwert-), Konvergenz-, Lehr-, Nullstellen-, Schranken-, Strahlen-, Umordnungs-; →„Technik“: ‚Bestimmtheits-‘, ‚Summen-‘, Satz von der ‚Stetigkeitsübertragung‘; passim an sich, 279
... archimedischer, 563 des Pythagoras, 313, 571 falscher ˜ von Riemann, 376–380 Haupt- über reelle Zahlenklassen, 534 vom Verdichtungspunkt, 394, 399, 399–402, 438, 439 allgemeiner, 401 von Abel, 354–355 von Bolzano-Weierstraß, 293–296, 389, 399, 402, 438, 564 topologische Fassung des -es ˜ , 468 von der Existenz der Ableitung, 411 von der Stetigkeit der Ableitung, 334– 335 von Lagrange, 265–267 von Seidel, 357, 360–361 willkürlicher, 281 Zwischenwert-, 276, 293, 294–296, 321, 342, 407, 436–438, 575, 585, 591, 635, siehe Satz von BolzanoWeierstraß bei Weierstraß, 436–439 Schaffensmacht 502 Schnitt Dedekind’scher, 488–508, 564, 577, 601, 602, 614, siehe Gleichheit goldener, 126 irrationaler, 505 293, 436, 494 Schrankensatz Schwankung 328, 633 schwingende Saite 211, 212, 214, 216, 273 Segment 492, 506–508, 577 Seiendes 36–37 Sein 36, 37, 64, 93, 95, 99, 296, 669 -können, 93 -ssphäre, 551 Sekante 117 Semantik 28, 70 Sinne 10, 28, 128 -sding, 79 Sinus 102, 142, 204, 207, 244, 584, siehe Integralsonst nichts 474, 516, siehe alles
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Sachen
... Spirale
... 68, 69
archimedische, 142 Sprache →„Technik“: ‚Grenzwert-‘, ‚Mengen-‘; passim der Mathematik, 1–4, 8, 31 Sprung 137, 217, 330, 371, 584, 591, 592 -höhe, 330, 374 -stelle, 374, 377, 584 Stammfunktion siehe Funktion Standard-Analysis xxii, 185, 237, 272, 339, 499, 523, 533, 534, 536–538, 551, 681, 682 Standpunkt 628 anderer, 453 arithmetischer, 425 erkenntnistheoretischer, 612 philosophischer, 465 rein analytischer, 640 rein formaler, 465, 607 wissenschaftlicher, 628 Steigung 117 Stelle 98, 261, 355, 357, 391, 393–401, 403, 404, 413, 420, 438, 453, 495, 592, 607, 631, 633, 634, 657 dezimale, 126, 204, 243, 615, 616 etwas an die ˜ setzen, 56, 574 Verdichtungs-, 564, 623 -nzahl, 386 558 Stenografie siehe Ausdehung, Folge, stetig Veränderliche (stetig) Stetigkeit 137–138, 147–148, 161, 283, 314–331, 347–350, 380, 592–597, 662–663, →„Technik“; passim ε-δ-Definition der, 283 bei Bolzano, 281–283 bei Cauchy, 314, 316 bei Dirichlet, 367–369 bei Euler, 253–255, 270 bei Hausdorff, siehe topologische Fassung bei Klein, 627–635 bei Leibniz, 109 bei Pasch, 648–650 bei Wolff, 147
der geraden Linie, 483–486 der Multiplikation, 583 der Summenfunktion, 360 des Kontinuums, 147–148 einseitige, 283 für Funktionen mehrerer Veränderlicher, 292, 293, 316–319, 346 gleichmäßige, 315, 370, 585 heute, 254–255 lokale, 283, 368 Prinzip der ˜ , 493, 492–494, 499, 500, 600 punktweise, 368 topologische Fassung, 658, 657–658, 663 und Nicht-Differenzierbarkeit, 410– 415 ungleichmäßige, 634 Unterbrechung der, 366 Wesen der, 482, 487–488 -sbegriff der Präzisionsmathematik, 633 -übertragung, →„Technik“: Satz von der ˜ Strahlensatz 18, 19, 21 Strecke siehe Linie, gerade endliche, 401, 411 entgegengesetzte, 105 gerichtete, 422 Grenze einer, 425, 621 Teilung der, 399 Streckenlänge →„Technik“ Strenge 161, 275, 275, 276, 343, 388, 476, 571, 576, 580, 675–682 Weierstraß’sche, 437, 443 Strukturmathematik 61, 174, 175, 269, 372, 518, 559, 663, 674 Subnormale 135 subsistieren 93 Substanz 9, 32, 32–34, 58, 71–80, 396, 579, 637 denkende, 32 einfache, 71–73, 76, 77 zusammengesetzte, 76 substanzial →„Technik“
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Sachen
... 151, 219, 452 substituieren Substitution 56, 188 Subtangente 135 Subtrahieren 15, 131, 305 12, 13, 17, 18, 25, 54, 97, Subtraktion 103, 152, 153, 164, 165, 171, 224, 225, 228, 231, 233, 418, 425, 431, 435, 440, 482 Summationskriterium 417 Summe 87, 88, 96, 125, 126, 142, 515, 516, 555, siehe Riemann-, unendliche; passim mögliche, 302 wahre, 247–253, 255 →„Technik“ Summensatz Supremum 294, 349 244, siehe Zahl, surdische Surdische Symbol 4, 26, 28, 45, 60, 128–129, 148, 154, 159–161, 448, passim β, 138, 678 ∈, 138 π, 126 als Veränderliche, 60 Semantik des -s , 70 Wandel des -s , 70 Wurzel-, 229 zur Kennzeichnung einer Zahlart, 229 symbolisch siehe Zahl Symbolismus 262 synkategorematisch siehe Unendliches Syntax 28
T Tangente 107, 109, 117–119, 121, 134, 135, 145, 165 Tätigkeit, 5, 62–64, 72–74, siehe Geist des Rechnens, 421 des Zählens, 421 innere, 73 psychische, 547 schöpferische, 497 sein, 63 kontinuierliches, 74, 78 Taylorreihe 207, 245, 261–267, siehe Satz von Lagrange
... konvergente, 637 Teil
140, 189
beliebig kleiner, 181 Teilung 112, 126, 146, 342, 343, 401, 622, siehe Kontinuum beliebige, 341, 342 der Materie aktuelle unendliche, 180, 181 wirkliche, 184 stetige, 126 Verfeinerung der, 343 -spunkt, 112 Terme siehe unendliche, passim 557 Theorien der Arithmetik, formale Tische, Stühle, Bierseidel 565 Transformation 408, 416, 424, 433, 435, 577 -sregeln, 430 transitiv 176 transitus obliqui/recti 141, 142 transzendent 134 Transzendente 125, 127, 196, 198, 223, 224, 580 Transzendentes 124 Transzendenzbeweis 427 Trennungsaxiom, 655 zeichen, 129 Trigonometrie ohne Tafeln 102 trigonometrisch siehe Funktion, Reihe Tun 62–64, 200, 280, 558, 641, 648, siehe Arbeit, Handeln schaffendes/zerstörendes ˜ , 421
U überabzählbar 125, 395, 491, 498, 551, 655 Überstreichung 129 Umgebung 316, 357, 396–398, 401, 468, 654, 655, 656–658, 663 hinreichend kleine, 395, 397, 401, 438 -saxiom, 655, 656, 658 -ssystem, 654–656 umkehrbar eindeutig 530, 565 418, 539 Umordnungssatz unausgedehnt 486
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Sachen
... unbegrenzt
... „unendlich“ (Wort)
abnehmen, 159 häufen, 623 oft, 413 teilbar, 141 verkleinern, 158 viele, 467, 593–595 unbegrenzte Anzahl, 511 Folge, 598 Genauigkeit, 613, 617 Unbegrenztes 113, 400 Unbekannte 25–27, 43, 45, 56, 65, 567, siehe Großheit, Linie; →„Technik“: ‚Streckenlänge‘ eindeutig bestimmt, 567 Exponent der, 53, 55 im Exponenten, 123 Potenzen der, 45 unbekannter Posten 52 Unbekanntes 11, 24, 25, 27, 567 Quadrat des -n, 25 unbestimmt siehe Größe, Integration, Kleines, Unendlich, Wert 66, 70 Unbestimmte unbestimmte Anzahl, 393 Funktion, 193 Grenze, 410 Größe, 196, 197, 264 Vielheit, 59 Zahl, 508, 512 Zahlgröße, 195 Unbestimmtes 393 Unendlich 22, 98, 126, 184, 246, 256, 282, 287 aktuales, 67, 84, 86, 116, 187, 241, 451, 458, 478, 516, 518–519, 573, 575, 675–682 diskretes, 133 kardinales, 182, 183 kontinuierliches, 133 ordinales, 182, 183 potenzielles, 116, 187, 391, 478, 575 synkategorematisches, 116, 234, 575 unbestimmtes, 648
unendlich siehe auch unendliche abnehmen, 357 annähern, 374 der Zahl nach ˜ , 182, 183 dicht, 630 groß, 115 großer Wert, 321 große Größe, 113–116 große Zahl, 133, 134, 219, 222, 234– 242 großer Wert, 217, 219, 380 Großes, 411 klein, 114, 115, passim Kleine, 151, 155–160, 179–187, 311– 313, 332, siehe Popularisierung; passim bei d’Alembert, 259 gebrochener Ordnung, 261 höherer Ordnung, 261 verschiedener Ordnung, 238, 259– 261 von der ersten Ordnung, 261 kleine, siehe ˜ kleinere Differenz, 332, 338 Größe, 113–122, 167–193, 576–577, passim Länge, 118 Ω-Zahl, 524 Stücke, 167 Teile, 150, 189 Veränderliche, passim Zahl, 121, 133, 134, 218, 219, 234– 242, 519–539, siehe Ω-Zahl Zahlgröße, passim Zeitabschnitte, 151 Zeiträume, 151 Zuwächse, 151, 315, 323, 331 kleinere Größe, 167–169, 175, 176, 179, 189–192, 524–532 Kleines, 116, 259–260, 353, 411, 523– 539 kleines Element, 408 kleines Zeitteilchen, 154 kurze Linie, 133, 155 lange Linie 133
185
757
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Sachen
... nahe, 480 oft, 373, 495, 496, 630 vieldeutig, 207, 209 viele, 167, 648, passim Großheiten, 67 Punkte, 66, 67, 69 Welten, 92 vieles, 11 wenig, 218 245, 355 Unendliche ins ˜ abnehmen, 102, 294, 368 ins ˜ wachsen, 109 Paradoxien des -n, 396 siehe Anzahl, Funktion, unendliche Zahl (kardinale, ordinale) Ganze, 186 Größe, 116 Kardinalzahl, 186 Linie, 133 Menge, 287, 294, 460 Rechenvorschrift, 204–206 Reihe, 85, 86, 102, 104, 180, 184, 186, 205–206, 247–253, 255, 295, 354, 375, 384, 404, 409, 412, 458, 459, 463 Summe, 83, 142, 417–419, 428–432, 435, 458 Terme, 205 Vielheit, 186 Zahl, 116, 185, 186, 523–539 unendlicher Rechenausdruck 83 Unendlichkeit 146 der Reihe der natürlichen Zahlen 678 -sordnung, 259, siehe Größenordnung unendlichmal kleiner 182 unendlichstes Glied 180, 182–184 Unentwickelte 202, 210–211 Unmittelbarkeit 74 unmöglich 2, 30, 79, 210, 622, siehe Begriff, Eigenschaft, Glied (infinitesimales), Vorstellung, Zahl Unmögliches, das in der Zahl vorkommt 233 Unmöglichkeit 124, 295, 296, 323, 569, siehe Existenz
... Unterbrechung der Stetigkeit, Untereinheit ununterbrochen Unvergleichbares
366
390, 391, 454, 456 591 115
V 665 variable, real Variationsrechnung 135, 161 70, 114, siehe Größe, Veränderliche passim abhängig, 199 differenziale, 166 freie, 644, 646 Gleichheit der -n, 139 komplexe, 404 reelle, 362, 408, 411, 413, 657, 662 stetig, 137, 147 unabhängig, 147–148, passim unfreie, 645 verschwindende, 114 Veränderung 72–74, 74, 78, 139 kontinuierliche, 91, 112, 138 Verdichtungspunkt, siehe Punkt, Satz vom ˜ satz, 402, 518 stelle, siehe Stelle Verhältnis, letztes 159 448 Verhältnisse, reale Vernunft 128, siehe Prinzipien 99 Verständlichkeit Verstand 8, 34, 35, 79, 80 göttlicher, 92, 279 menschlicher, 84, 85, 88, 91, 95, 126, 233, 279, 574 verstehen 361, 540 Vervielfachung der Einheit, 87, 96 des Begriffs, 95 Vervollständigung 464 siehe unendlich vieldeutig Vielecke, ein- und umbeschriebene 622 Vieles 638 Vielheit siehe Menge, unbestimmte
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Sachen
... 483 Vollständigkeit analytische, 493 Axiom der, 563 logische, 476, 556, 564, 566 -saxiom, 563, 564 335, 336, 365, 411, 427, 436, Vorlesung 439, 440, 442, 447, 593, 596, 664 Vorschrift, arithmetische 595 Vorstellung, unmögliche 621 Vorurteil 361 Vorzeichen entgegengesetzte, 302 -regel, 131, 227, 301–303
W 149 Wachstum wahr siehe wirklich wahres Wesen der analytischen Begriffe 660 Wahrheit 6, 7, 8, 38, 92, 95, 111, 128, 279, 280, 313, 448, 453, 476, 497, 498, 559, 570, 571, 578, 579, 589, 682, 683, siehe Gesetz allgemeine, 280 an sich, 279 bei Descartes, 7 einfache, 279, 280 Folge-, 279, 453 geometrische, 278 Grund-, 278–280, 572 notwendige, 498 -skriterium, 38 73, 78 Wahrnehmung Wechselwegnahme 82, 85, 90, 546 Weg 369 arithmetischer, 473, 490 axiomatischer, 185, 473 elementar-konstruktiver, 185 indirekter, 154 natürlicher, 71 zusammenhängender, 398 Wegnahme 95 Welt mögliche, 79, 92, 92 wirkliche, 79 -Körper, 93
... weniger als nichts
225
Wert 114, 114, 143, siehe Argument, beliebig klein, Bestimmung, eindeutig, unendlich großer; →„Technik“: ‚Werte-Analysis‘ eingebildeter, 57–58, 201, 203, 217 entgegengesetzter, 54 imaginärer, 405 irrationaler, 217 komplexer, 393 möglicher, 60, 263, 324, 348, 356, 370, 544 negativer, 217, 218 reeller, 370, 393, 405 unbestimmter, 197, 287 wirklicher, 57–58, 217, 218 -ebereich, 293, 298, 308, 329, 505, 611, 665 Wesen 32, 33, 64, 72, 74, 76, 77, 95, 125, 196, 199, 202, 205, 223, 236, 279, 396, 473, siehe Stetigkeit, wahres der Funktion, 199, 307, 364 der heutigen Analysis, 670 der Irrationalzahl, 305 der Mathematik, 500, 539, 651, 651 der mathematischen Gegenstände, 670 der Stetigkeit, 482, 487–488 der vier Grundoperationen, 555 der Zahlbegriffe, 547 der Zahlgröße, 393 des wissenschaftlichen Denkens, 579 -heit, 78, 80, 88, 92, 93, 145 -sbestimmung, 199, 244, 245, 258, 263, 403 -seigenschaft, 140 wesentlich 160 Wesentliches der Addition 430 Widerspruchsbeweis, 110, 157, 544 prinzip, 95 widerspruchsfrei, 185, 236, 669 los, 37, 239, 556, 564, 565, 570, 571 voll, 100, 185
759
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Sachen
... Winkel, geradliniger
... -zeichen, 129, 188, 201, 207, 210, 229 -ziehen, 15, 17, 152, 305
133
wirklich 58, 97, 112, 133, 224, 422, 427, 574, siehe Ding, Funktion, Grenze, Größe, kontinuierlich, Linie, Maß, Null, reell, Qualität, Teilung, Welt, Zahl, Zahlbegriffe, Zweifel angebbar, 431 durchführen, 494 wahr, 133 wirklich (stark) positiv 533 wirkliche Deduktion, 487, 489 Durchführung, 494 Existenz, 453 Identität, 541 -r Beweis, 494 -r Sinn, 428 Wirkliches 80, 91, 92, 186, 225, 448 Wirklichkeit 37, 80, 93, 93, 159, 201, 297, 422, 475, 502 Wissen, kaufmännisches 39 Wollen 32 Wurzel 16, 18, 53–55, 57, 65, 66, 100, 100, 124, 153, 178, 229, 231, 490, 494, 604, siehe Kubik-, Quadrataus einer negativen Zahl, 232 einer Gleichung, 30, 31, 52, 53, 55– 57, 65, 66, 114, 130, 276 eingebildete, 57, 58 falsche, 53, 55–57, 65 gewisse, 65, 130 höhere, 17, 231 Kubik-, 16, 22, 23, 231 primitive, 503 reelle, 276 wahre, 55–57, 65, 130 Wert einer, 55–57 wirkliche, 57 -art, 229 -ausdruck, 264 -ausziehung, 218, 373 -exponent, 178 -funktion, 665 -größe, 178, 264 -wert, 264, 266, 308
Z siehe alles, Bestimmung, Ordnungs-, unbestimmte, passim aktual unendliche, 575, siehe Kardinal-, Ω-, Ordinalalgebraische, 125, 395, 536 allgemeine, 76 als Punkt, 619, 620 bejahende, 224 beliebig kleine rationale, 460 denkbare, 197 Dezimal-, 242–243 Eigenschaft der Dinge, 80 eingebildete, 127, 197, 209, 232–234, 238, 241, 252 Euler’sche, 218–221, 330, 510, 522, 531– 532 ganz ungeschickte, 100 ganze, 86, 94, 197, 245 gebrochene, 81, 197, 227–228, 245, 497 größte, 185 größte aller, 184, 678 imaginäre, 58, 127, 202, 232, 427, 497, 555, 556, 561 infinitesimale, 114, siehe Infinitesimale, unendlichstes Glied irrationale, 5, 100, 100, 197, 228–232, 245, 490, 497, 506, passim ist Zeichen, 466 kardinale, xx, 174, 469, 472, 545 unendliche, 186, 500 komplexe, 82, 202, 313, 389, 390, 427, 497, 501, 531, 556 laterale, 427 mögliche, 232, 233, 450, 590 natürliche, passim endliche, 416 größte aller, 678 kleine, 545 negative, 82, 97, 98, 105, 130, 197, 217, 224, 224–227, 245, 497 noch so kleine, 453
Zahl
760
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Sachen
...
... Null, 197, 497, siehe Null
dekadisches, 550, 553, 557–559
Ω-Zahl, 520–539 unendlich große, 523 unendlich kleine, 524 ordinale, 88 endliche, 416, 545 unendliche, 186, 465, 500 Ordnungs-, 81 positive, 197, 224–227, 245 rationale, 5, 81, 125, 147, 197 reelle, 506 reelle, 58, 82, 125, 127, 290, 305, 427, 506, 680–682, passim Bestimmungen der, 442 Erfindung der, 447–580 Konstruktion der, 441, 442 Konzept der, 441 surdische, 81–83, 230, 231, 245 symbolische, 549–551 taube, 21 transzendente, 81, 82, 84, 99, 125–127, 197, 204, 243–244 unbenannte, 390 unmögliche, 127, 232–234, 244, 450 ganz und gar, 233 unzugängliche, 550 verneinende, 224 wirkliche, 127, 201, 209, 233, 245, 288, 547, 550 -begriffe, wirkliche, 550 Zahlen Menge der reellen, 440, 566, 661 Reich der, 96, 96 sind Relationen, 80 System der, 565 Theorie der, 440 -folge, passim -gebiet, 561 -größe, 456, 458, 461–465, 471, 476, 478–481, 486, 520, 566 im weiteren Sinn, 475, 476, 478 -paar, 564, 568 -reihe, kontinuierliche, 590 -system, 563, 564 archimedisches, 563
komplexes, 447, 560–564 nicht archimedisches, 479 pseudo-archimedisches, 524 Stufenaufbau des -s, 305, 556 -systematik, 551 -vorstellung, messbare, 295 -welten, 559 Zahlgröße algebraische, 217 allgemeine, 195, 431, 432–435, 454 beliebig zusammengesetzte, 423, 424, 425, 427–429, 431, 432, 436 beliebige, 391, 392, 416–423, 427 eingebildete, 204 entgegengesetzte, 301, 302, 420, 421, 422–424, 428 im engeren Sinn, 389, 391 negative reelle, 301 positive reelle, 301 wirkliche, 297 Zahlsystem, siehe Zahlensystem zeichen, 27, 28, 39, 466, 467, 469, 473, 475, 582 dekadische, 550 Zeichen 128, 130, 138, siehe Maß-, Zahlentgegengesetztes, 437 sinnliches, 550, 552, 557 Zeit 70, 78, 80, 140, 150, 151, 154, 157, 160, 278 objektive, 79 subjektive, -punkt, 140, 150 79 Zensur 212, 244, 668 Zirkel 69, 622 Definitions-, 94, 96, 138, 416, 594 zirkelhaft, -frei 296, 567, 678 Zissoide 68 zu- oder abnehmen 139, 153, siehe unbegrenzt, unendlich, Unendliche Zuordnen 652 Zuordnung siehe Gesetz Zusammenfassung 138
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Sachen
... Zusammenhang 145, 365, 480, 581, 635 ununterbrochener, 487, 590 Zuwachs 146, 149, 154, 236, 282, 290, 290, 301, 324, 411, siehe unendlich kleine Zwei 95, 96 Zweifel 31, 35, 64, 181, 225, 246 methodischer/wirklicher, 35 Zweistromland 48, 51, 64 siehe Satz Zwischenwertsatz Zykloide 68, 122, 123, 134, 148, siehe Radkurve
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